WWW.HUBERT-BRUNE.DE |
Neuere
Akademie oder schon Jüngerer Skeptizismus? Karneades oder schon Ainesidemos? Neuerer Idealismus oder schon Jüngere Lebensphilosophie ? |
Oder doch Älterer Skeptizismus? |
|
Warum ein dickes Buch? Heraklitische Meditationen Anderskommen 3 Tendenzen 2 Alternativen 3 Axiome Mesmerismus 9. November Kant Hegel Schopenhauer Nietzsche Spengler Heidegger Heideggers Lichtung Leichte und Schwere Zusammen-Sein Globalistisches Insulierungen Übung statt Religion Einsamkeitstechniken Maligne Wiederholungen Spaßmacher Elemente
|
Warum eine »Kritik der zynischen Vernunft«?Wie entschuldige ich mich gegenüber dem Vorwurf, ein dickes Buch geschrieben zu haben, in Zeitem, wo schon dünnere Bücher als Zumutung empfunden werden? Unterscheiden wir, wie sichs gehört, Anlaß von Grund und Motiv.Der Anlaß:Es jährt sich heuer (1981) zum zweihundertsten Mal das Erscheinen von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft - ein weltgeschichtliches Datum. Der Grund: Wenn Unbehagen in der Kultur ist, was Kritik hervorreizt, wäre keine Zeit so sehr zu Kritik aufgelegt wie die unsere. Das Motiv: Zur »nackten Wahrheit« wollen ist ein Motiv der verzweifelten Sinnlichkeit, die den Schleier der Konventionen, Lügen, Abstraktionen und Diskretionen zerreißen will, um zur Sache zu kommen, Dieses Motiv will ich verfolgen. ....Der Grund:.... Weil alles problematisch wurde, ist auch alles irgendwo egal. Dieser Spur gilt es zu folgen. Sie führt dorthin, wo von Zynismus und »zynischer Vernunft« die Rede sein kann. ....Das Motiv:Man wird es bemerkt haben - die Begründung ist eine Spur zu überlegt, um ganz wahr sein zu können. ....Auf dem Grund meiner Antriebe finde ich eine kindliche Verehrung für das, was in einem griechischen Sinn Philosophie hieß - woran im übrigen eine familiäre Überlieferung der Ehrfurcht mit schuld ist. Oft gab meine Großmutter, eine Lehrerstochter aus idealistischem Haus, stolz und respektvoll zum besten, daß Kant es war, der die Kritik der reinen Vernunft geschrieben hat, und Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung. Und vielleicht gäbe es in der Welt noch mehr solcher magischer Bücher, die man ... bewundern muß wie etwas vom ganz Großen. .... Gibt es keine Philosophie, bei der uns nicht die »alte knöcherne Hand« das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopf dreht? Der Traum, dem ich folge, ist der, den sterbenden Baum der Philosophie noch einmal blühen zu sehen - in einer Blüte ohne Enttäuschung, übersät mit bizarren Gedankenblumen, rot, blau und weiß schimmernd in den Farben des Anfangs, wie damals im griechischen Frühlicht - als die theoria begann und als, unglaublich und plötzlich wie alles Klare, das Verstehen zu seiner Sprache fand. Sind wir kulturell wirklich zu alt, um solche Erfahrungen zu wiederholen? Der Leser ist eingeladen, eine Weile unter diesem Baum, den es eigentlich nicht geben kann, Platz zu nehmen. Ich verspreche, nichts zu versprechen, vor allem keine Neuen Werte. Die Kritik der zynischen Vernunft will - um Heinrich Heines Charakteristik der aristophanischen Lustspiele zu zitieren - der »tiefen Weltvernichtung« folgen, auf der die Fröhliche Wissenschaft beruht - »und die darin, wie ein phantastisch ironischer Zauberbaum, emporschießt mit blühendem Gedankenschmuck, singenden Nachtigallennestern und kletternden Affen« (Heinrich Heine, Die Bäder von Lucca, in: Sämtliche Schriften, Band II, postum, S. 466).München, Sommer 1981. (Zitat-Ende).Heraklitische MeditationenMit den folgenden Überlegungen möchte ich eine Art Achsendrehung im heute die Erkenntnistheorie beherrschenden kritischen Pragmatismus (Ch. S. Peirce, J. Habermas, K.-O. Apel) bewirken. Wenn es das Verdienst dieser pragmatischen Erkenntnistheorie war, die Zusammenhänge von Erkenntnis und Interesse, Theorie und Praxis von Grund auf und plausibel, ohne metaphysische Hypotheken, dargestellt zu haben, so ist sie doch noch, so meine ich, mit der Schwäche eines zu schematischen Praxisbegriffs behaftet. Die vorangegangenen Überlegungen dürften klargemacht haben, wieso man mit einer Erkenntnistheorie nicht zufrieden sein kann, die einerseits nur ein apriorisches Interesse des Typus Arbeit, andererseits ein zweites vom Typus Kommunikation (Interaktion) annimmt. Denn die hier herausgearbeitete polemisch-strategische Dimension (ebenso wie die entgegengesetzte des erotischen und des versöhnenden Interesses) kann bei diesem Versuch, den Pragmatismus zu begründen, allenfalls implizit mitgedacht werden. Das rächt sich durch ein Defizit an Realismus und Konkretheit. Die transzendentale Polemik (ebenso wie die Erotik, die ich in diesem Buch nicht darstelle) für zusätzliche Dimensionen ein in das Netzwerk der »apriorischen« erkenntnisleitenden und -formenden Interessen. Im Krieg begegnet uns eine Motivkombination von Arbeit und Interaktion, die sich logisch mit dem bis herigen Schematismus gar nicht richtig begreifen läßt. Ich behaupte, daß das polemisch-strategische Handeln und Denken, das von den genannten Autoren nur zu sätzlich und nebenbei in ihre Überlegungen einbezogen worden ist, in Wahrheit eine Dimension bildet, die so wohl das Arbeits- und Regierungshandeln als auch das kommunikative Handeln übergreift. Dem wird weder von der älteren noch von der jüngeren Kritischen Theorie Rechnung getragen. Weder eine Kritik der instrumentellen noch eine der funktionalistischen Vernunft erschließt den Zusammenhang von Strategie und Zynismus, den wir hier als philosophische Signatur der Moderne vorführen.
Arbeit und Interaktion werden von Anfang an durchkreuzt von Krieg und Eros, Verfeindungen und Versöhnungen, Vernichtungen und Schöpfungen. Was immer im Interesse von Arbeit oder Interaktion erkannt werden soll: es erhält von vornherein und immer schon eine vom Polemischen oder vom Erotischen her mitgeprägte »Theorieform«; welche Art von »Objektivität« man wählt, ist eben keine unschuldige Alternative; auch macht es einen kategorischen Unterschied, zu welcher Form von Genauigkeit man sich entschließt, zu der Genauigkeit des Polemikers oder der des Liebhabers*; wenn das tatsächlich eine apriorische Alternative ist, so müßte es von allen Dingen eine zweifache Wissenschaft geben (und nicht eine an sich neutrale Theorie, die dann erst sekundär, wie man so sagt: für gute oder böse Zwecke verwendet würde). (* Wer das nicht rechtzeitig versteht, gerät in vielen Wissenschaften auf die falsche Bahn. Wie viele Forscher, z.B. Kunst- und Literarhistoriker, haben als wirkliche Liebhaber der »Gegenstände« diese zu studieren begonnen und agieren, als Professoren, dann nur noch ihren Haß gegen sie aus, weil sie durch die Wahl des falschen Exaktheitstyps in die Haltung der Polemik, der Nichthingabe an die Sachen gerieten.) Während der Pragmatismus formal mit einer homogenen »Forschergemeinschaft« rechnet, erlaubt die transzendentalpolemische Sicht, den »Krieg der Forscher« als Bedingung dessen, was sie als Wahrheiten ausarbeiten, zu untersuchen. Die Forschung bedeutet dabei sinngemäß weniger ein Mittel zur neutralen Aufhellung der Wirklichkeit als vielmehr ein Wettrüsten in theoretischen Formen. Die Erkenntnisse erscheinen dann nicht so sehr als geistige Instrumente im Dienst von Arbeit und Verständigung, sondern eher als Waffen, und bilden in ihrer Summe nicht einen intellektuellen Schatz, eine Enzyklopädie, sondern ein Arsenal, ein Munitionsdepot (intelligenter Geschosse). Wollte man sich mit apriorischen Interessen wie »Arbeit« und »In teraktion« begnügen, so müßte man darauf verzichten, diese »Arbeit« unddiese »Interaktion« daraufhin zu befragen, welchem Kampf sie dienen und welche Versöhnungen sie ermöglichen, anders ausgedrückt, ob das Forscher-Ich dem »Objekt« in der Haltung von Generalisierung, Distanzierung und Beherrschung gegenübertritt oder in der von Individualisierung, Nähe und Hingabe. Aus dieser Sicht ergibt die Unterscheidung der »Zwei Kulturen«* - wieder Sinn. (* Es gibt eine lange Tradition von Versuchen. jeweils zwei Typen von Wissenschaften oder Wissensformen zu konfrontieren: verstehende oder erklärende Wissenschaften; exakte oder inexakte; Wissenschaften vom Allgemeinen oder vom Individuellen; Wissenschaften von Geistesgegenständen oder Naturgegenständen; Scientiae oder Artes. Diese Gegensätte haben zwar etwas »Plausibles«, doch die Wissenschaftsgeschichte zeigt. daß sie sich verwischen; der Trend führt zur Einheitswissenschaft [vom Typ polemischer Objektivierung]).In der »Ersten Kultur« (die die Hegemonie besitzt) beobachten wir einen Primat der Methode, der Prozedur, des Forschungsverfahrens über die Gegenstände; Objekt kann hier nur sein, was in den Bereich fällt, den die Methoden und Modelle erfassen. Rechnen wir alles Methodische dem Subjekt zu, so dürfen wir von einem Wissenschaftstyp sprechen, der aus der Überhebung der Erkennenden über das Erkannte hervorgeht: Primat des Subjekts (daß dies kurioserweise für die exakten und »objektiven«, besser objektivistischen Disziplinen gilt, illustriert den Zusammenhang zwischen Objektfeststellung und Subjektverstellung). Diese Überhebung ist der Preis der »Objektivität«; sie wird zugleich mit einer methodischen Stillstellung oder Normierung dessen erkauft, was das Subjekt beim »Erkennen« darf oder nicht darf. Die Vorstellung, daß alle wirklichen Wissenschaften am Ende zu einem Problem nur noch eine richtige Theorie haben werden, setzt zugleich die Erwartung voraus, daß die sogenannte Forschergemeinschaft in the long run zu einer homogenen Armee von Subjekten zusammenwachsen wird, die alle von derselben methodischen Ver-Stellung angesichts der »Sachen« geprägt sein werden. Erst wenn die Subjekte erkenntnistheoretisch uniformiert sind (gleiches »Interesse« , gleiche Begriffe, gleiche Methoden), gerinnen auch die Sätze über die Objekte in ihre endgültige, und zwar (im Sinn dieser Vorannahmen) richtige Gestalt. Eines wird ohne das andere nicht zu haben sein. Wo noch mehrere Hypothesen nebeneinanderstehen, verrät sich eine Schwäche auf der Subjektseite - und diese subjektive Schwäche gibt den Dingen eine Chance, sich in ihrer Mehrdeutigkeit zu zeigen. Pointiert gesprochen hieße das: Je schwächer unsere Methoden, desto besser für die »Sachen«. Solange es eine Mehrzahl von »Interpretationen« gibt, sind die Dinge in Sicherheit vor dem Wahn der Erkennenden, sie hätten die Objekte - als erkannte - ein für allemal festgestellt. Solange noch »interpretiert« wird, wird die Erinnerung daran wachgehalten, daß die Dinge auch etwas »an sich« sind, das mit dem Erkannt werden durch uns nichts zu tun hat.Verfolgen wir diesen Gedanken in sein Extrem, so kommen wir an den entgegengesetzten Pol der Erkenntnisformen. Hier gilt, was Adorno den »Vorrang des Objekts« nannte. Muß beim Primat des Subjekts notwendigerweise eine agonale Theorie entstehen, so wächst aus einem Umgang mit den Dingen, der den Vorrang des Objekts anerkennt, etwas hervor, was den Namen erotische Theorie tragen darf. Wo Eros im Spiel ist, dort und nur dort lebt die »Zweite Kultur«, und wo sie am Leben ist, nimmt sie eher die Gestalt einer Kunst als die einer Technik an. Der Künstler und Erotiker lebt unter dem Eindruck, daß eher die Dinge etwas von ihm wollen als er von ihnen, und daß sie es sind, die ihn in das Abenteuer der Erfahrung verwickeln. Er geht zu ihnen hin, liefert sich ihrem Eindruck aus und fühlt sich, als wahrer Forscher, unter ihrem Bann.* (* So entspringen die ungeheuren Verwerfungen, die heute in der physikalisch kosmologisch-biologischen Grundlagenforschung aufgebrochen sind, eben keineswegs irgendwelchen methodologischen Überlegungen, sondern ergeben sich aus dem Hineingerissensein der Forscher in die faszinierende Eigenwilligkeit der »Sachen selbst«.) Sie sind für ihn der Fluß, in den er nach Heraklit nicht zweimal steigen kann, weil sie, obwohl dieselben, in jedem Augenblick neu sind, weitergeflossen in einen neuen Bezug. Wenn die Liebe jeden Morgen neu ist, sind es die Gegenstände der Liebe mit ihr. An ihnen ist nichts »bekannt«, allenfalls vertraut; es gibt mit ihnen keine »Objektivität«, sondern nur Intimität; nähert sich ihnen der Erkennende, so nicht als Forsch-Herr, sondern als Nachbar, als Freund, als Hingezogener. Für ihn sind die Dinge schön, und er weiß, daß die »Beziehung« vorbei ist, wenn eines Tages alles aussieht, als wäre es immer dasselbe gewesen, konstant, alltäglich, identisch, prognostizierbar. Wo der Sinn für Schönheit aufhört, beginnen der Krieg, die Gleich-Gültigkeit oder der Tod; zu Recht haben Philosophen gelehrt, die Dimension des Ästhetischen sei für den Wahrheitsgehalt von Erkenntnissen konstitutiv. Gemeint sind freilich Erkenntnisse, die sich dem Vorrang des Objekts gefügt haben. Solchen zu mißtrauen hat uns die Aufklärung jedoch am tiefsten eingeschärft. Denn für sie sind, wenn sie sich nicht ständig an der erotischen (ästhetischen) Erfahrung korrigiert, die Objekte ja der Inbegriff dessen, dem man sich nicht anvertrauen und ausliefern soll, weil beide, Vertrauen und Hingabe, Haltungen bilden, die die Kampfzwänge des Lebens und der aufgeklärte Realismus uns austreiben. Vorrang der Objekte würde heißen: mit einer Macht über uns leben müssen, und weil wir alles, was über uns ist, quasi automatisch identifizieren mit dem, was uns unterdrückt, so kann es dagegen im Sinne dieser unaufgeklärten Aufklärung nur eine Haltung polemischer Distanz geben. Doch existiert eine andere Art von Vorrang, die nicht auf Unterwerfung beruht; der Vorrang, den das Objekt im sympathetischen Verstehen genießt, verlangt von uns nicht, daß wir uns mit einer Unterlegenheit und einer entfremdeten Position abfinden; sein Vorbild ist die Liebe. Die Fähigkeit, dem Objekt einen Vorrang einzuräumen, wäre gleichbedeutend mit der Fähigkeit, zu leben und leben zu lassen (statt live and let die), ja in letzter Konsequenz auch zu sterben und leben zu lassen (statt dem Impuls zu folgen, alles mit hinunter in den Tod zu reißen). Nur durch den Eros werden wir fähig, dem »Objekt« einen Vorrang zuzugestehen. Und selbst wenn Ich nichts mehr sein werde, wird der Eros wollen, daß Etwas bleibe*. (* Der für die Aufklärung typische Konflikt zwischen Intellekt und Gefühl leitet sich zum Teil her vom Widerstreit der beiden Tendenzen: Distanzierung und Hingabe, Vorrang des Subjekts, Vorrang des Objekts. Alle Distanzphilosophen von Descartes bis Sartre haben daher die so monströse wie charakteristische Frage ernsthaft erörtert, wie das Ich überhaupt feststellen könne, ob es im Bereich des Nicht-Ich auch andere Iche gebe; also die Problematik der »fremden Subjektivi tät«.) (Zitat-Ende).Vormoderne Mentalitäten waren von keiner anderen Evidenz so tief durchdrungen wie von der: daß es immer anders kommt, als man denkt.Die Unvermeidlichkeit
einer postmodernen Überschichtung der Moderne springt inzwischen jedem Passanten
ins Auge. Sie ergibt sich aus der Beobachtung, daß auch modern ganz anders
kommt, als gedacht – nicht weil der Mensch denkt und Gott andere Pläne hatte,
sondern weil ein unserem Denken und Tun innewohnendes unbegriffenes Anderskommenmüssen
durch das Projekt mit unaufhaltsamer Ironie hindurchschlägt. Es kommt anders,
als man denkt, weil man die Rechnung ohne die Bewegung gemacht hat. Es kommt unweigerlich
anders, weil man beim Herbeidenken und Herausbringen dessen, was kommen soll,
immer auch etwas ins Laufen bringt, was man nicht gedacht, nicht gewollt, nicht
berücksichtigt hat. |
Da mochte Goethe am 3. April 1787 zu Palermo in seinem Tagebuch der Italienischen Reise notieren: |
»Hat man sich nicht
ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von seinem Verhältnis zur Welt« |
- die europäischen Gelehrten, fast
alle von Territorialstaten und Landesherren ausgehalten und geduckt, zogen es
doch in ihrer großen Mehrheit vor, sich von Schulmauern, von Bibliothekswänden,
allenfalls von städtischen Prospekten umgeben zu sehen. Auch Hegels
scheinbar großgesonnene Würdigung des Meeres als des natürlichen
Elements der völkerverbindenden Industrie in dem berühmten § 247
seiner Rechtsphilosophie ()
- »dies größe Medium«,»das
größte Bildungsmittel« - ist in der Sache nicht mehr als eine
Verwaltungsnotiz und gewinnt für die Begriffskultur und die Schreibweise
des habituell thronenden und nicht-vagierenden Philosophen keine Bedeutung.
Wenn man sich an die Kantsche Definition der Erhabenheit erinnert, wonach nur die sittliche Erhebnug des Subjekts angesichts der Möglichkeit seiner Vernichtung durch eine Übermacht erhaben heißen darf, dann ist das Bataillesche Unsagbare dieser Definition benachbart - allerdings mit verkehrtem Vorzeichen, denn da, wo das Kantsche Subjekt auf sich beharrt und sich angesichts des Überwältigenden selbst bewahrt, dort würde das Bataillesche Subjekt sich hingeben oder, wie er sagt, sich verschwenden.Kants Imperativ bietet die äußerste Formalisierung des Glaubens an die moralische Produktivität von Fernspannung durch Arbeitsteilung. Er drückt zugleich die Annahme aus, daß der vernünftige Einzelne der imaginäre Gesamtmensch sei, der in seiner eigenen Person die Gattung vertrete und ihre Berufung zur Selbstgestaltung respektiere.Die Ökonomie des Stolzes gründet in der Überzeugung ihrer Teilnehmer, sie tätigten die sinnvolleren Investitionen - oft freilich erst, nachdem die anderen Geschäfte zu ihrem Recht gekommen sind. .... Aus Sicht der erfahrenen Geber kann das Festhalten am geerbten oder erworbenen Reichtum nur als versäumte Gelegenheit zur Verausgabung bewertet werden. Wo Geschäftsleute des alltäglichen Typs im günstigen Fall ihr eigenes Vermögen oder das ihrer Shareholder vermehren, fügen die Investoren der anderen Art dem Glanz der Welt neue Lichter hinzu. Indem sie handeln, wie sie handeln, bringen sie ihr Dasein selbst dem Glanze näher. Wer diesen erfährt, versteht, daß Wert als solcher nur entsteht, wenn man durch Verausgabung seiner selbst und seiner Mittel für die Existenz von Dingen zeugt, die über jedem Preis stehen, »... das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d.i. Würde.« (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, S. 68). Die Reichen der zweiten Art verweigern sich dem Trübsinn der Akkumulation ohne Ziel und Ende. Sie tun mit ihrem Vermögen Dinge, die ein bloß immer-mehr-haben-wollendes Tier niemals ausführen könnte. Sie verbünden sich mit der Antigravitation und kehren den Lauf der Dinge um, bei dem die vulgären Handlungen stets die höhere Wahrscheinlichkeit besitzen. .... Anregungen zu einer Allgemeinen Ökonomie ... wollen keineswegs einen Kommunismus der reichen Leute einführen, auch weisen sie keinem aristokratischen Weg zur Umverteilung von Gütern im sozialdemokratischen oder sozialistischen Verständnis. Ihre wirkliche Bedeutung liegt darin, den Kapitalismus zu spalten, um den radikalsten Gegensatz zu ihm - und den einzig fruchtbaren - aus ihm selbst zu schaffen, ganz anders, als die klassische, vom Miserabilismus überwältigte Linke es sich träumen ließ.Die Religion der Philosophen glaubt im Grunde an nichts anderes als an die Erlösung vom Zufall. .... Weniger als ein Vergleich mit einem Weltbildumsturz reicht nicht aus, um den Tiefgang der Revolution zu vergegenwärtigen, die im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte zu einer philosophischen Rehabilitierung des Zufälligen geführt hat. Die ältere Metaphysik war verliebt in das Ewige und Notwendige, das durchs Wirkliche hindurchscheint wie reines Licht durch ein trübes Medium. Hingegen hat sich das moderne Denken der Sucht nach Wirklichem hingegeben; dieses wird nun auf einen Hintergrund von unendlichen Möglichkeiten des Auch-anders-sein-Könnens gesetzt. .... Seither muß die Philosophie alle Aussagen über Sein und Seiendes brechen in Aussagen über den Menschen. Das spielt an auf jene unabsehbar folgenreiche Wendung zum Subjekt, die sich verbindet mit dem Werk Immanuel Kants, mit dem Begriff der Transzendentalphilosophie und mit dem unwiderstehlichen Aufstieg einer neuen philosophischen Disziplin, die sich Anthropolgie nennen wird. Diese Wende zeitigt bedeutsame Folgen im geistigen Haushalt der modernen Welt. .... Mit der anthropologischen Wende brechen die Dämme, die den Zufall hinter dem Wesentlichen aufstauen sollten, und das moderne menschliche Subjekt sieht sich überflutet von einer neuen Vielfalt von Zuständigkeiten fürs Zufällige, Faktische, Historische, Lokale, Einmalige. (Zitat-Ende).Was Hegel als sein logisches Programm ausgegeben hatte: die Substanz als Subjekt zu entwickeln, erwies sich zugleich als die machtvollste politische Maxime der Epoche, die noch immer die unsere zu sein scheint – die Masse als Subjekt zu entfalten. Sie gibt dem, was man das Projekt der Moderne genannt hat, seinen Inhalt und sein Ziel.Weil heute die Masse über das Stadium ihrer Versammlungsfähigkeit hinaus ist, hat das Programm-Prinzip das Führer-Prinzip ersetzen müssen. Folglich genügt es, den Unterschied zwischen einem Führer und einem Programm zu erklären, um offenzulegen, was die klassisch-moderne versammelte schwarze Masse von der post-modernen mediatisierten, aufgesplitterten bunten Masse unterscheidet. Es geht hier um den Unterschied der Entladung und der Unterhaltung.Wenn die moderne Welt, wie manche Hegel-Interpreten mit guten Argumenten dargelegt haben, eine Arena von generalisierten Kämpfen um Anerkennung ist, so muß sie unausweichlich auch eine Welt sein, in der die Verachtung epidemisch wird – zum einen deswegen, weil Anerkennung – wie Aufmerksamkeit - eine Ressource ist, deren Wert mit ihrer Knappheit korreliert; zum anderen weil die Prätendenten auf Anerkennung, indem sie sich unaufhörlich vermehren, sich notwendigerweise gegenseitig überfordern; und schließlich weil die Masse als solche ein Pseudosubjekt darstellt, zu dem man sich nicht in Beziehung setzen kann, ohne ein Element von Verachtung ins Spiel zu bringen, wobei ich die Schmeichelei als eine invertierte Verachtung mitrechne.Wer ein moderner Mensch ist, definiert sich als Mitglied der glaubenslosen Konsumenten-Internationale, die jedem Absolutismus und Fundamentalismus abgeschworen zu haben vorgibt.Nach Hegel
heißt philosophisch denken |
»Dies Ineinandergehen, an das man zunächst nicht glaubt, weil alles der Willkür des Einzelnen anheimgestellt scheint, ist vor allem bemerkenswert und hat Ähnlichkeit mit dem Planetensystem ...« |
Hegel schrieb im Januar 1807 im großen zeitdiagnostischen Ton nieder: |
|
Gerade der »mündliche Hegel« bezeugt die unauflösliche Verbundenheit zwischen dem Deutschen Idealismus () und der Ersten Tiefenpsychologie. Schopenhauers Hochschätzung der neuen Disziplin ergab sich aus der Möglichkeit, die puységuristische Deutung des magnetopathischen Agens als Willen für seine eigene Willensmetaphysik () zu reklamieren. |
Noch Schopenhauer
erwähnt ein Rundschreiben der Römischen Inquisition an die Bischöfe
aus dem Jahr 1856, in dem sie zum Kampf gegen die Ausübung des animalischen
Magnetismus aufgerufen werden.
Nur der große Solitär Schopenhauer vollzog, abseits der Universitäten und Kirchen, den überfälligen Durchbruch zu einem Denken, das einen verflüssigten Grund an den Anfang stellte: Sein Wille ist die erste Manifestation eines Ozeans der Philosophen - auf dem navigiert das Subjekt auf der Nußschale des principium individuationis, geborgen in den rettenden Illusionen von Raum, Zeit und Ichheit. An diese Entdeckung knüpfen Nietzsche und jene Vitalisten an, die die Wiederverflüssigung der verhärteten Subjekte zur eigentlichen Aufgaben einer recht verstandenen Philosophie erklären.»Dasjenige, was alles erkennt und von keinem erkannt wird, ist das Subjekt.« (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Teil, § 2, S. 29 **).Der aktuelle Ansturm auf die Gesundheitsbasis - im philosophischen Feld durch Schopenhauer vorgedacht - geschieht also aus dem plausibelsten Antrieb. Woran denn, wenn nicht an dem vermeintlichen inneren biologischen Fundament, soll sich die Suche nach dem Eigenen, mehr noch, dem Kern des unentäußerbar mir Zugehörigen ausrichten? Ist nicht die Existenz des eigenen Körpers der schlagende Beweis für die Evolution als Erfolgsgeschichte - und kann ich etwas Vernünftigeres tun, als mich an seinem Gesundseinkönnen zu orientieren? Dennoch entgeht diese Suche nach dem inneren Soliden nicht der Ironie.Ohne ein vorheriges psychotopisches Tuning wären die Versammelten nicht versammelbar - oder ihre Assoziationen wären nie etwas anderes als Autistenkongresse, den Gruppen frierender Igel vergleichbar, als welche Schopenhauer die »bürgerliche Gesellschaft« charakterisiert hat.»Wie aber auf der Erdkugel überall oben ist, so ist auch die Form alles Lebens GEGENWART ....« (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, § 54, S. 296 **).Bei Schopenhauer vollzieht sich ein Durchbruch, nach dem der Weltgrund selbst, der Wille, als unmittelbar musikalischer vorgestellt wird.Schopenhauer ist der erste Denker ersten Ranges gewesen, der aus der abendländischen Vernunftkirche ausgetreten ist.Das Allerwirklichste hatte für ihn aufgehört, ein göttliches vernünftig-gerechtes Geistwesen zu sein. Mit seiner Willenslehre springt die Theorie des Weltgrundes um vom frommen Rationalismus ... zu einer von Grauen und Staunen geprägten Anerkennung des Arationalen. Schopenhauer statuiert zuerst die vernunftfreie Energie- und Triebnatur des Seins. Darin ist er einer der Väter der des psychoanalytischen Jahrhunderts; er könnte sich künftig auch als entfernter Schutzherr und Verwandter eines chaostheoretischen und systemischen Zeitalters erweisen. Daß er den asiatischen Weisheitslehren, dem Buddhismus zumal, mit höchstem Respekt die europäischen Türen geöffnet hat: darin könnte auf lange Sicht seine wichtigste geistesgeschichtliche Wirkung liegen.Mag sein, daß seine Lehre von der Resignation des Willens für den Lebenshunger der Menschheit in der heutigen Ersten Welt noch befremdlicher klingen muß als für Schopenhauers Zeitgenossen ...; doch erinnert sie auch heute daran, daß der entfesselte Lebenshunger die Probleme, die sein freier Auslauf schafft, nicht durch seine weiteren Steigerungen wird lösen können.Von Schopenhauer könnte der Satz stammen: Nur die Verzweiflung kann uns noch retten; er hatte freilich nicht von Verzweiflung, sondern von Verzicht gesprochen. Verzicht ist für die Modernen das schwierigste Wort der Welt. Schopenhauer hat es gegen die Brandung gerufen. (Zitat-Ende).- (Cave canem oder: Vorsicht - furchtbare
Wahrheit!) - Der Zwang zur Lüge gründet in der Natur der Wahrheit selbst, so wie der junge Nietzsche sie mit der unbefangenen Bekenntniswilligkeit des ungebrochenen Genius hinzuschreiben wagt; auch mit der gelösten Rezeptivität eines Mannes, der es für eine Auszeichnung hält, Schüler eines bedeutenden Geistes - Schopenhauers - zu sein. Aber was ist Wahrheit, in deren Natur es liegt, uns lügen zu machen? Nietzsche spricht es frei nach Schopenhauer aus: die Wahrheit besteht im Urschmerz, den das Faktum der Individuation über jedes Leben verhängt.Die Depression als existentielle Erfahrung der Schwere ist kein psychiatrisches, sondern ein philosophisches ThemaNietzsche hat selbst gelegentlich über den Horizont des motivationalen Nihilismus hinausgesehen. Am weitesten ging sein Blick in der berühmten Formulierung, die den modernen Nihilismus als einen unheimlichen Gast bezeichnet - den unheimlichsten aller Gäste. Das Bild vom Gast läßt ahnen, daß das Nichts doch mehr ist als Produkt oder Ziel der Verneinung des Lebens durch schlecht Lebende. Es suggeriert, daß bewußtes Leben sich grundsätzlich auf furchtbare Besucher gefaßt machen muß. Dem Dasein selbst haftet eine Unheimlichkeit an, die nicht erst aus menschlichem Neinsagen zum Gegebenen entspringt. Mächtiger und älter als jedes gesprochene Ja und Nein, taucht uns das Unheimliche von vornherein in sein Medium ein. Der unheimliche Gast, der die Modernen heimsucht, ist ein Abkömmling des Unheimlichen, in dem wir durch die Tatsache des Existierens immer schon zu Gast sind. Darum ist das Nichts nicht so sehr der Gast als der Gastgeber. Nietzsche meinte jedoch, daß das Unheimliche eher zu uns kommt als wir in es, und verfiel auch darum in die heroische Tonart. Er ließ glauben, »gefährlich leben« sei ein Ethos des vornehmeren Subjekts und nicht eine jeder Leistung vorausgehende gemeinsame Lage.Der Wille zur Macht - ich lese ihn als eine selbsttherapeutische, wenn man will: allopathische Rezeptur, die mit den Mitteln des radikalsubjektivistischen Jargons bereits das fundamentalontologische Motiv der Gelassenheit verfolgt. Denn der Willenskern des Willens zur Macht meint ja etwas, was aus dem Willen herausführte; er will Gelassenheit - im Sinne eines Sichüberlassenkönnens an die Bedingtheiten seines Lebens und im Sinne eines Sichgehenlassendürfens, das in ein pures intelligentes Seinkönnen mündet. Um aber zu dürfen, was er will, braucht er - aus Erfahrung böse geworden - die Aufrüstung einer subjektivistisch geprägten Souveränität, die es nicht mehr nötig hätte, sich Urteilen und Hemmungen auszusetzen.Apollo und Dionysos vertragen sich, wie Nietzsche darlegt, so ausgezeichnet, daß ihr historischer Kompromiß synonym werden könnte mit jeder Form von höherer Kultur; die Freudsche Kultur- und Neurosentheorie ist ja nur die Fortschreibung des Nietzscheschen Kompromißgedankens.Seit jeher nimmt er auch die wilde Seite für sich in Anspruch und heißt nicht zuletzt deswegen der kommende Gott, weil er so mitreißend ist wie die sexuelle Ekstase, die das kommendste ist, was Menschen kennen. Sein Herrschaftsbezirk ist die rauschhafte Wildnis - sofern diese auch für Menschen in der Kultur eine lebensnotwendige Erfahrung darstellt;Kultur ist nur dann möglich, wenn das, was älter ist als sie und sie trägt, in ihr aufbewahrt bleibt.Nietzsche war der Chefdesigner des mächtigsten Mentalitätsstroms der Moderne: des Individualismus.Der Ansatz Freuds führte zur Ausfaltung eines Latenzbereichs besonderen Typs, der mit einem von der idealistischen Philosophie (), namentlich von Schelling, Schubert, Carus und den Lebensphilosophien () des 19. Jahrhunderts, besonders Schopenhauer und Hartmann, übernommene Ausdruck »das Unbewußte« benannt wurde. Er umschrieb eine subjektive Dimension der Unentborgenheit, indem er innere Latenzen und unsichtbar eingefaltete Voraussetzungen für ichhafte Zustände zur Sprache brachte.Kurz bevor Emil von Behring und Schibasaburo Kitasato, Assistenten von Robert Koch in Berlin, im Jahre 1890 mit der gemeinsamen Entdeckung und Benennung der »Antitoxine«, einer ersten Manifestation der Antikörper, einen entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der medizinischen Immunologie gaben, war Nietzsche in seinen Grundlagenforschungen über die Funktionsweise des menschlichen Bewußtseins auf die Existenz eines mentalen Abwehrsystems aufmerksam geworden, von dem er erkannte, wie es sich unauffällig-effizient in den Dienst eines herrschenden Selbst-Zentrums und seiner Sinnbedürfnisse stellt. Unter diesem Blickwinkel darf Nietzsche, nach Vorbereitungen bei Mesmer, Fichte, Schelling, Carus und Schopenhauer, als der eigentliche Entdecker des operativen Unbewußten gelten.Das Erscheinen der Traumdeutung im Jahr 1900 markierte aber, wie jüngst im Jahrhundertrückblick sich zeigte, nicht nur den epistemisch-propagandistischen Gründungsakt der psychoanalytischen Bewegung, es war einer der Ausgangspunkte für die Subversion des tradierten Ernst-Systems und des Bewußtseins vom Schwergewichtigen überhaupt. Was den Ernst verrückt und das Decorum revidiert, verändert die Kultur im ganzen. Durch ihre Mitwirkung an der von der Romantik () vorbereiteten Rehabilitation der Dimension Traum trat die Wiener Psychoanalyse in einen Zusammenhang ein, in dem nicht weniger auf dem Spiel stand als eine Neuverteilung der Akzente auf dem Feld des Primären, Grundgebenden, Bedeutung Stiftenden - ein Vorgang von kulturumstürzender Tragweite: In ihm strömten die Schockwellen aus Nietzsches Interventionen gegen den metaphysischen Idealismus () zusammen mit den Irritationen, die von den marxistischen wie den positivistischen Überbau-Kritiken ausgingen. Die neue Lesekunst für kaum bemerkte Zeichen intimer wie öffentlicher Sinnzusammenhänge integrierte die privatesten Einfälle, Tics, Ausschläge und Fehlleistungen in subversiv erweiterte Bedeutungsvermutungen. Indem diese Revision die Grenzen zwischen Sinn und Nicht-Sinn, Ernst und Nicht-Ernst neu vermaß, gab sie dem kulturellen Raum eine entschieden veränderte Formatierung. Nun konnte das Unbedeutende mit dem Bedeutenden alte Rechnungen begleichen. Seither sind Träume kein Schäume mehr () - sie indizieren allenfalls ein endogenes Schäumen der psychischen Systeme und liefern Anlaß zur Formulierung von Hypothesen über die Gesetze, denen die Ausbildung von Symptomen und das Aufsprudeln innerer Bilder unterliegen.Die Begeisterung der Surrealisten für die Psychoanalyse beruhte auf ihrer Verwechslung des Freudschen Begriffs vom Unbewußten mit dem der romantischen Metaphysik. (). Aus schöpferischer Falschlektüre entsprangen Deklarationen wie Dalís Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit von 1939 .... Wenn Dalís Performance im Juli 1936 damit endete, daß seine Helfer ihm durch das Abreißen des Taucherhelms die Rückkehr in die gemeinsame Luftatmosphäre der Londoner Galerie ermöglichten, so ist für die zivilisatorische Lage im ganzen diese im Einzelfall sinnvolle Lösung unbrauchbar, weil der Prozeß der Atmosphärenexplikation kein Zurück zum bisher implizit Voraussetzbaren mehr erlaubt. Die Verhältnisse technischer Zivilisation lassen es nicht mehr zu, daß wie bei Dalís Experiment das Entscheidende vergessen würde.In Totem und Tabu ging Freud davon aus, daß das Tabu seiner »psychologischen Natur« nach ein Äquivalent zu Kants kategorischen Imperativ sei, der in der Art eines unbewußten Zwangs wirke.Wir nennen das human-insulare Wünsche-Feld das Erototop, weil das erotische Begehren das Paradigma dafür bietet, wie der affektive Wettbewerb in den Gruppen das Wunschleben der Zusammenlebenden zugleich stimuliert und kontrolliert. .... Von vorneherein ist zu erwarten, daß Lebewesen mit augeprägten uterotopischen () und thermotopischen () Konditionierungen in einem Reizklima existieren, das hinsichtlich der Vorzüge des Hinzugehörens und der Verteilung von Komfortchancen eine erhöhte Wachheit provoziert. .... Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt, sobald ich annehmen darf, daß ein anderer dich liebt und deine schöne Gestalt ihn genügend reizt, um dich in Besitz nehmen zu wollen. .... Sobald auf der anthropogenen Insel () nicht mehr die frühesten und frugalsten Verhältnisse herrschen, differenzieren sich ihre Bewohner zunehmend unter den Gesichtspunkten: Von dem, was einer mehr ist; von dem, was einer mehr hat; und dem, was einer mehr darstellt. Folglich gehört zur Gruppen-Lebensweisheit ein Eifersuchtsmanagement, das dreidimensional ansetzt. Sollen die Selbstirritationen der Gruppe in einem lebbaren Tonus gehalten werden, braucht das Kollektiv ausreichende Diskretionen für die Seinsdifferenzen, die Besitzdifferenzen und die Statusdifferenzen in seinem Inneren. Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll. .... Nichtsdestoweniger ist zu erwarten, daß in allen Gruppen okkasionell oder periodisch der Eifersuchtsfuror den Sieg über die Diskretion davonträgt. In solchen Momenten tritt das Verlangen, die Träger auszurauben und zu erniedrigen, aus der Latenz; für die Leidenschaft der Umverteilung schlägt die Stunde der Genugtuung. Dann kommt »jene abscheuliche Mischung aus Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche Hexentrank erschienen ist«, zu voller Wirkung, von der Nietzsche in seiner Schrift über die Geburt der Tragödie festgehalten hatte, daß sie die Essenz der von der apollinischen Kultur noch nicht gezähmten primitiven und abzulehnenden Dionysien ausmache.Die reifste Gestalt einer Ethik der Desinteressierung ist ohne Zweifel in der buddhistischen Lehre von den Anhaftungen und ihrer Auflösung durch das Schwert der Einsicht erreicht worden. Mit seiner subtilen Analyse der Kausalkette, die zu leid-erzeugenden Fixierungen führt, versucht der Buddhismus wenigstens eine Minderheit von Menschen aus der Begehrens-Arena und von dem Gefühl des unvermeidlichen Verliererseins zu emanzipieren. Es war nicht zufällig Friedrich Nietzsche, der im Buddhismus die vornehmste Form einer affektiven Hygiene zu erkennen vermochte - derselbe Nietzsche, dem die Analyse des Ressentiments bis heute so gut wie alles verdankt. Dank ihm wissen wir, daß die Natur der Rückschlagsgefühle in der Bindung des Verlierers an das Objekt besteht, mit dem er sich zum Nachteil vergichen sieht; aus der Wunde, die der Vergleich hinterläßt, fließt das kaum zu stillende Bedürfnis nach der Erniedrigung des erfolgreichen Objekts.Nietzsche ... hatte die Synthese aus den Errungenschaften der buddhistischen Abstinenzpsychologie und den weltkindlichen Qualitäten spielerischen Wettbewerbs im Sinn - mit dem Ziel, das altabendländische Erototop durch diese Wendung zu einer Ethik der Großzügigkeit zu entgiften. Von der Tragweite dieses Versuchs kann sich einen Begriff bilden, wer zur Kenntnis nimmt, daß das Experiment der Moderne, soweit es die Konsum- und Konkurrenzverhältnisse betrifft, zu einer nahezu schrankenlosen Deregulierung des Erototops geführt hat. Noch in keiner vorangehenden sozialen Formation ist die systematische Aufreizung des Begehrens nach allem, was andere besitzen, so explizit für die Motivierung des Verhaltens eingespannt worden. Die Feuer des Neides werden in der Konsumgesellschaft zu kraftwerk-analogen Energiekreisen zusammengeschaltet. Auch die politischen Systeme der Demokratie sind ganz auf die Freisetzung des Mißtrauens aller gegen alle angewiesen. Bereits in den Kentucky Resolutions von 1798 hatte Thomas Jefferson statuiert: »Die freie Regierung ist auf die Eifersucht und nicht auf das Vertrauen gegründet.« Dürfte die Kulturtheorie eine Frage an das 21. Jahrhundert formulieren, es wäre. die, wie die Mo- derne ihr Experiment mit der Globalisierung der Eifersucht unter Kontrolle bringen will.Weil der irritierende Eros die Hinzugezogenheit zu den Vorzügen des positiv unterschiedenen Objekts bedeutet, drückt sich diese »Liebe« im Verlangen nach einem Stück von der Beute und - wenn die Teilung nicht möglich ist - nach Enteignung der Besitzer aus. Der Objektbereich dieser Liebe erstreckt sich auf Geschlechtspartner, Haus- und Grundbesitz, Tiere und Kapital, geistige und körperliche Vorzüge in nahezu gleicher Weise. Aus dieser ersten rohen Kunst des Liebens entsteht die Neidkultur, die sich mit dem Ehrentitel Kritik zu schmücken pflegt.
|
Spenglers
Aufforderung an die Denker, das seltsame Gehäuse wahrzunehmen wie zum
ersten Mal, impliziert die Zumutung an die Intelligenz, einen Standort außerhalb
der städtischen Erbaulichkeit, Wohnlichkeit und Verwöhnung zu
wählen. Eben dies haben bisherige Urbanisten und Stadthistoriker, benommen
von urbanen Sitten und vom gedanklichen und zivilisatorischen Komfort ihres
Objekts, fast durchweg zu tun versäumt. Was Städte ursprünglich
sind und wollen, läßt sich nach Spengler
nur verstehen, wenn die Städter par excellence, die Philosophen,
sich außerhalb der Mauern stellen und die Erscheinung Stadt meditieren,
als hätten sie an deren Bergungskaft und ihrer Verführung noch
keinen Anteil. Die Stadt denken heißt folglich zunächst: die
Verwöhnung durch die Stadt rückgängig machen und sich der
Blendung durch ihre Selbstdeutungen entziehen. Weil gerade die mächtige
Stadt immer auch eine Organisationsform des Wirklichkeitsverlusts oder des
losgelösten Verfügens über Materialien und Zeichen ist, können
Städter, die nichts als Städter sein wollen, die Bedingungen ihrer
eigenen Möglichkeit und Wirklichkeit nie zureichend verstehen.
Ein Gestalt-Historiker Spenglerschen Typs, der die Stadt als von Grund auf erstaunliche Erscheinung betrachtet, müßte ein Phänomenologe sein, der die begnadete Angst eines Denkens von außen auf sich nimmt - hierin ist Spengler der unmittelbare Vorgänger von revolutionären Strukturhistorikern wie Foucault, Deleuze und Guattari. Wenn er vorschlägt, sich zurückzuversetzen in das Staunen des Frühmenschen, der das unfaßbare Riesengehäuse mit seinen Mauern und Türmen am Horizont aufragen sieht, so folgt er der Intuition, daß die Wahrheit über alles, was im äußeren Raum erscheint, nur durch eine initiatische Raum-Angst erfahren werden kann. Diese Angst schlägt die Brücke zwischen archaischer Welt und Moderne, weil sie den zu keiner Zeit ganz absorbierbaren Überschuß der Ekstase über die Geborgenheit bezeugt. Wird dieser Überschuß für die Theorie fruchtbar gemacht, so liegt das Feld des genuin modernen Denkens offen. In dem Maß, wie Spengler aus diesem Überschuß oder dieser Ekstase - man könnte auch schlichter sagen aus dieser Unsicherheit - denkt, ist seine Zugehörigkeit zum Abenteuer des wesenhaft zeitgenössischen Denkens unbestreitbar. Die Sehkraft, die er in seiner Kulturen-Phänomenologie aufbietet, entstammt der Erfahrung entsicherten Existierens in einer überdehnten, nie mehr im ganzen heimatlich verklärbaren Welt. Spenglers Morphologie der Weltgeschichte hat ihr philosophisches Momentum in einer Theorie der schöpferischen Raum-Angst, die den Menschen der Hochkulturen eine Offenbarung der dritten Dimension als »Tiefe«, das heißt als Herkunftsraum des Unumgänglichen, gewährt. Der kühle Morphologe und sein Schatten, der dem verstörten Urmenschen ähneln will, sollen sich einig werden in einem Staunen, das in Wahrheit ein Nicht-ganz-glauben- Können, ein Entsetzen ist. Tatsächlich, was wäre eine mit Urmenschen-Augen angeschaute Stadt vom Typus der mesopotamischen Gott- Königs-Metropolen anderes als eine Erläuterung zu der These, daß in den Hochkulturen das Ungeheure als Menschenwerk in Erscheinung tritt? Und was sind diese Gehäuse von seltsamster Form, von außen gesehen, anderes als Bergungsmaschinen, mit denen Menschen ihre spezifische Offenbarung von Weltangst abgearbeitet und ihrem Willen zum Nicht-außen-Sein monströse Denkmäler errichtet haben?Spenglers Schritt zurück vor die Stadt hat also nichts zu tun mit neuzeitlicher Zivilisationskritik, auch nichts mit dem anti-babylonischen Ressentiment der Juden, das von den Christen kopiert wurde und seit der Marginalisierung des Christentums als anonymes Ferment in der Niveaumüdigkeit der Gegenwartskulturen allgegenwärtig umherspukt. Er bedeutet vielmehr einen Akt der theorie-ermöglichenden epoché im Hinblick auf ein kaum noch distanzierbares Milieu und dient der Abstandnahme des Denkenden von den Blendungen des immer schon städtisch gelebten Lebens, mitsamt seinen unthematisierten Ansprüchen an Selbsterhöhung, Raumangst-Überwindung, Entlastung und Reizzufuhr. Die Theorie der Stadt kann nur beginnen mit der Entwöhnung von den Verwöhnungen, die durch die Stadt erst möglich geworden sind. Die Stadt denken heißt also über das verwöhnende Wohnen in ihr so reflektieren, als könnte man anderswo als in ihr zu Hause sein, ja, als ließe sich das Verlangen, überhaupt irgendwo Wurzeln zu schlagen, im ganzen einklammern. Wohnen, als wohnte man nicht. Leben, als hätte man weder Haus noch Stadt im Rücken. Denken wie im freien Fall.Was ist es, was einem Phänomenologen, der seinen eigenen Sehgewohnheiten abgestorben wäre und der das Urmenschen-Staunen angesichts der ersten Stadterscheinung nachspielen wollte, beim Anblick einer frühen Großmachtstadt wie Uruk, Kisch, Babylon oder Ninive zuerst zu denken geben würde? Er müßte wohl vor allem darüber ins Staunen geraten, daß die Erscheinung am Horizont einem zweiten Blick standhält und sich als etwas behauptet, was durchaus keine Sinnestäuschung sein will. Der unverwöhnte Blick auf die Stadt wird gefangengenommen von deren Beharrung auf ihrem Aufragen; er sieht sich konfrontiert mit einem nachdrücklichen Willen zum Erscheinen. Hier ist eine Höhe in die Welt getreten, deren Gewalt nicht vormenschliche Kräfte hergewälzt haben. Alles an der großen Stadt, der frühen wie der späten, ist Menschenwerk und Herrenmutwille.Es gibt in politischen Dingen kein Zurück zu dem »euklidischen Gefühl« - ein Ausdruck, mit dem Oswald Spengler sehr treffend die völlige Absorbierung der antiken Menschen durch ihre Geschlechter- und Stadtgeister charakterisiert hat.Durch die politische Raumsorge der Menschen an der Schwelle zum imperialen Staat wirkt ein Motiv hindurch, das man mit Oswald Spengler die archaische kosmologische Raumangst nennen könnte - eine Angst, die Spengler für ein Merkmal allen wachen und freibeweglichen Lebens und für ein Movens aller höheren Kulturschöpfungen hat halten wollen. »Die Weltangst ist sicherlich das schöpferischste aller Urgefühle.« (). Sie ist es, die in jeder ursprünglichen »Symbolisierung des Ausgedehnten, des Raumes und der Dinge« () gebannt werden will. Uns scheint es plausibler, anzunehmen, daß die spezifische Angst vor der unabschließbaren Weite des Erd- und Himmelsraums erst als Nebenfolge von Sphärenstörungen bei der gewaltsamen Einschmelzung von Gruppen und Stämmen in größere imperiale Strukturen und bei der Entsicherung der Städte aufgebrochen ist. Es ist nicht notwendigerweise die natürlich erfahrbare Weite der Himmelskuppel, die den Menschen das Gefühl von Verlorenheit im überdehnten Raum einflößt. Kulturanthropologen und Charakterologen haben gezeigt, daß manche Kulturen und Individuen von Raumangst wenig wissen; Frobenius hat das Welterlebnis der weite-suchenden Kulturen gefeiert, und Balint hat in seinem Porträt des Philobaten das individualpsychologische Gegenstück dazu geliefert. Die kosmophobische Empfindungsart ist eher ein abgeleitetes Phänomen, das gescheiterte Immunisierungen und kollabierte Narzißmen zur Voraussetzung hat. Menschen mit geringen traumatischen Altlasten assoziieren zum Anblick des heiteren Himmels von alters her eher Bilder von Zelten und Zaubermänteln, in der Architektenzeit auch die von Domen, Kuppeln und Palästen; sie erkennen in seiner Weite eine Komplizin ihres Mutes und in seiner Höhe eine Vorzeichnung der Möglichkeiten ihrer Intelligenz. Das Erlebnis hingegen, daß der Weltraum undicht ist und zum Hinausstürzen einlädt, jenes Gefühl einer ernsten und schlimmen Tiefe, über die Spengler in seiner Raumtheorie unvergeßliche Seiten verfaßte - oder das zornige Bewußtsein, beim Aufschauen zum Himmel den Rand einer vermauerten Wüste zu sehen -, gehören zu den psychopathologischen Errungenschaften von Zeiten, in denen immer größere Zahlen von Einzelnen sich als Ausgesetzte und Verlorene erlebten, als von den Menschen Abgestoßene und von den Göttern Vergessene. Vielleicht mischen sich in diese Erlebnisweise auch Reste einer archaischen Panik-Religion ein, die sich unter dem Eindruck kosmischer Katastrophen gebildet haben könnte.»Der Zirkel ist der Meißel dieser zweiten bildenden Kunst.« (). Ihr Ziel ist es, zu beweisen, daß die Seele in jeder Schicksalslage und an jedem Punkt der Erdoberfläche sich auf ihr unverlierbares Privileg berufen kann, eine Bürgerin des fürsorglichen Kosmos zu sein. Das Bürgerrecht in der absoluten Stadt bleibt das Eigentum des Weisen, auch wenn ihm alles übrige Umwälzung, Pest, Exil beschert. Das ist das kosmische Cogito, das jede menschliche Lage muß begleiten können: Das Universum ist ein Haus, und das Haus verliert nichts, auch nicht mich selbst, wie verlegen und verloren ich mich fühlen mag.Etwas von der Aura esoterischer Einsamkeit, die dieses großartig hochgesinnte und zugleich schrankenlos zugängliche Gebäude umgibt, hat Oswald Spengler in seiner genialischen Bemerkung eingefangen, das Pantheon sei »die früheste aller Moscheen« gewesen. (). Mit dieser Wendung verband Spengler seine dunkle These, daß Rom im Jahr 125 nach Christus längst im Begriff gewesen sei, aus dem Kreis des antiken »Seelentums« auszutreten und in den Bann jener »magischen Kultur« zu geraten, die sich im Vorderen Orient unter zahlreichen pseudomorphotischen Anverwandlungen an fremde Volks- und Kulturkörper zu entfalten begann. (Kenner der Spenglerschen Hauptschrift wissen, daß der Autor zu diesem Komplex unter der Überschrift »Probleme der arabischen Kultur« ein Buch im Buche vorgelegt hat, von dem man nicht zuviel sagt, wenn man es als Kulmination spekulativer Kulturphilosophie im 20. Jahrhundert bezeichnet.) Der Akzentwechsel vom antiken zum magischen Seelentum sei es letztlich gewesen, der für die Durchdringung des römischen Reiches durch eine pseudomorphotische Religion, das frühe Christentum in seiner hellenisierten Form, verantwortlich war (welches seinerseits ein Seelengeschwister des späteren Islam darstellte, des Prototyps einer Religion der unterwerfungfordernden und hingabegewährenden Unübersichtlichkeit). An Spenglers Hinweis ist sicher soviel richtig, daß Rom in der Pantheon-Zeit einen Sinnwandel der Immanenz durchlebte und daß sich der Modus, in dem die Götter ihre innerweltliche Präsenz bekundeten, einer folgenschweren Veränderung unterworfen war. Es spricht vieles dafür, daß die spätantiken Massen beim Eintritt ins Pantheon nur wenig noch von dem erfuhren, was in dem Gipfelgespräch zwischen Caesarismus, Philosophie und Architektur erwogen und verwirklicht worden war. Die Zeit gehörte mehr und mehr den Mystagogen und den Aposteln, die eine Entmathematisierung des Himmels betrieben - man würde heute von einer Wiederverzauberung der Welt sprechen. Diesen Agenten eines völlig veränderten, bekennend alogischen, telepathischen, mirakelsüchtigen Immanenzgefühls ist es zu verdanken, daß die späteren Kuppeln, insbesondere die des byzantinischen Ostens, nicht mehr die pantheologische Bauform wiederholen, die der noetischen Partizipation des Menschen am Gestaltoptimum des Welthauses ein Denkmal setzen wollte, dauerhaft wie opus caementitium, sondern zunehmend die allseitige Umschlossenheit des menschlichen Raumes durch ein undurchdringliches Weltgeheimnis bezeugen; Oswald Spengler hat das am raumphilosophisch relevanten Zentralsymbol der magischen Kultur, dem Welthöhlenempfinden, suggestiv erläutert. Diesen Wandel macht der Unterschied zwischen dem Pantheon und der Kirche der Hagia Sophia zu Konstantinopel vollendet klar. Wo der römische Kugeltempel dem Weltgedanken der antiken Philosophie zu seiner ultimativen Selbsterklärung in bautechnischer Kristallisation verholfen hatte (in einem Gebäude, das man als Weltkind aus irgendeiner Provinz betrat, um es als Grieche und als Neophyt der Philosophie zu verlassen), dort setzte die Kirche der Heiligen Weisheit ein Empfinden von numinos durchleuchteter und magisch umzingelter Immanenz ins Werk (so daß man es nicht betreten konnte, ohne auf der Stelle zum Araber ante litteram, zum verzückten Debütanten in Gotteszaubersachen zu werden).Die arabische Kultur bleibt problematisch, weil sie nie einen eigenen Körper ausbilden, sich nie überzeugend territorialisieren konnte und darum nur als höhere Gespenstergeschichte möglich war - Spengler nennt das vornehm eine Pseudomorphose. Vergessen wir nicht, daß nach ihm das Christentum in seinem ersten Zyklus nur eine Metastase der übervölkisch herumspukenden arabischen Seele gewesen sein soll.Was die Weitergabegewalten zuletzt immer über den Geist der Freisprüche siegen läßt, ist die Positivierung der Versprechen und die Nationalisierung der Universalien. Eben dies ist das Prinzip der magischen Nationen (), die Oswald Spengler entdeckt und benannt hat - und die man auch Taufnationen oder Religionsnationen nennen könnte.Das überseeische Imperium Karls V. () war auf Krediten flämischer und Augsburger ... Bankhäuser errichtet (), deren Besitzer Globen drehten, um sich von den Hinwegen ihrer Kredite und den Rückwegen ihrer Zinsen ein Bild zu machen. Von Anfang an verstrickte das ozeanische Abenteuer seine Akteure in einen Wettlauf um verhüllte Chancen auf undurchsichtigen fernen Märkten. Schon für sie war das berüchtigte Wort Cecil Rhodes gültig: »Ausdehnung ist alles« (Oswald Spengler hat diesen Satz zum Axiom der zivilisatorischen Epochen erklärt: »Expansion ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt ... und verbraucht ....« ). Was Ökonomen im Gefolge von Marx die ursprüngliche Akkumulation genannt haben, war wohl - wie unser Beispiel ahnen läßt - häufig eher eine Anhäufung von Eigentumstiteln, Optionen und Nutzungsansprüchen als der Betrieb von Produktionsanlagen und Kapitalbasis. Die Entdeckung und förmliche Inbesitznahme von fernen Territorien begründete für die fürstlichen und bürgerlichen Mandanten der Überseeschiffahrt die Erwartung künftiger Einkommen, sei es in Form von Beute oder Tribut, sei es durch reguläre Handelsgeschäfte, bei denen es nie verboten war, von märchenhaften Gewinnspannen zu träumen.Das Axiom der individulalistischen Immun-Ordnung greift in den Massen selbstzentrierter Einzelner wie eine neue Evidenz um sich: daß letztlich niemand für sie tun kann, was sie nicht für sich selber leisten. Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch ... zum Ziel geführt hat - zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich dekadent sind. (). Jenseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische Differenz, die von Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit und Gemeinheit, ihre Kontur, und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und groß erschien, verschwände wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.Nach dem bekannten scholastischen Lehrsatz hat das Endliche mit dem Unendlichen kein gemeinsames Maß. Operationen mit dem Wert unendlich sind seither als eine ständige Selbstgefährdung der menschlichen Intelligenz hintergründig präsent. Im Grunde geht es hier nicht mehr um das Unvorstellbare als das Unsagbare, weil eben das Unendliche per definitionem das ist, was das Vorstellen übersteigt. Zugleich ist unsere Intelligenz so organisiert, daß wir dennoch versuchen, das Unvorstellbare vorzustellen. Ein gewisses Maß an Unendlichkeitsstreß gehört zum modus operandi der europäischen Intelligenz. Über Fragen dieser Art hat Spengler aufschlußreiche Bemerkungen zu Papier gebracht, als er die Kulturen im Hinblick auf ihre mathematischen Stile unterschied. Er hat etwa gezeigt, daß für die Antike die Quadratur des Kreises ein charakteristisches Problem war, also der Versuch, den Abgrund zwischen zwei endlichen geometrischen Figuren zu überbrücken. Hingegen hat sich der Geist der abendländischen Kultur in der Infinitesimalrechnung des Leibnizschen oder des Newtonschen Typs manifestiert, also in Rechnungen mit dem Wert Unendlich. Leibniz hat vormachen können, wie man den Unendlichkeitsdämon mathematisch zähmt, indem man einen diskreten Sprung ins unendlich Große oder unendlich Kleine vollzieht und trotzdem so tut, als sei man in einem rechnerisch kontrollierten Kontinuum geblieben.Spengler ist mir mit seinen raumphilosophischen Überlegungen ... nahe gekommen. Er hat den Versuch gemacht, ... die Kulturen nach dem Modus der Raumbildung zu bestimmen. Dabei kommt ihm etwas in den Blick, was man gewissermaßen als Impfung einer Kulturseele mit einer spezifischen Herausforderung, mit einem initialen Schock bezeichnen könnte. Spengler redet in solchen Zusammenhängen ganz nietzscheanisch, wobei man wissen muß, daß Nietzsche in seinen besten Augenblicken als Immunologe spricht, wie ein Kulturarzt, der weiß, daß Kulturen und ihre Träger, die Menschen, Wesen sind, die mit dem Ungeheuren geimpft werden und eigensinnige Immunreaktionen entwickeln, aus denen verschiedene kulturelle Temperamente hervorgehen. In diesem Sinne muß man Spenglers These auffassen, daß es nur acht Hochkulturen im eigentlichen Wortsinn gegeben habe. (). Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen Immunreaktionen vollzogen, von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß. Die acht hohen Kulturen wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen. .... Man darf sich von Spenglers botanischen Metaphern nicht in die Irre führen lassen. Seine Kulturen sind nicht so sehr Pflanzen höchster Ordnung, wie er vorgibt, sondern Generationsprozesse über dem Input einer schöpferischen Immunantwort, die sich immer mehr formalisiert, bis zur Erstarrung. .... Spengler gibt sein Bestes, darüber sind sich auch seine skeptischen Leser einig, wenn er über die faustische und die arabische Kultur spricht. Spenglers zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, daß Formen ein Eigenleben haben - sein ganzes Genie steckt in diesem Motiv. .... Die Form, die Spengler vor allem interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt. Nun ist Spenglers Formbegriff, der über Goethes Idee der Urpflanze bis auf die aristotelische Zoologie zurückgeht, durch und durch organologisch geprägt, er gehört zu einem lebensphilosophischen Sprachspiel (), in dem das Leben als Substanz betrachtet wird und die Individuen als Akzidentien. Nur darum konnte Spengler die von ihm so genannten Kulturen als »Lebewesen höchsten Ranges« bezeichnen. Er meint damit, daß es ein Gestaltgesetz gibt, ein strukturelles Muß, welches bewirkt, daß in einer Kultur an dieser oder jener Stelle ihres Gestaltbogens nur Ereignisse, Akteure und Institutionen von einer gewissen formal vorherbestimmten Qualität auftreten müssen und keine anderen. Man kann dieser Idee eine gewisse logische Mächtigkeit nicht absprechen ... Man sollte Spengler progressiv fruchtbar machen und ihn als einen Experten in Primärraumfragen hören. Seit dem Heraufkommen der metaphysischen Weltbilder vor zweieinhalbtausend Jahren, mit denen nach Weber, Spengler, Jaspers () und anderen, sei es zu Recht oder Unrecht, Begriffe wie Hochkultur und Hochreligion assoziiert werden, verlagert sich die Sache der Immunsystemvorgänger aus dem kombattanten Kraftherden in einen Bereich des erlebten Innen, das als psyche neu beschrieben wird. Wo im metaphysischen Sinn von Seele die Rede ist, hat sich bereits ein Motivwandel bei der Auslegung der inneren Verteidigungs- und Behauptungskräfte vollzogen. Am prägnantesten wird die Seinsweise der absoluten Insel () durch die Devise von Jules Vernes Kapitän Nemo auf den Begriff gebracht: Mobilis in mobili, beweglich im Beweglichen - eine Prägung, in der Oswald Spengler mit gutem Grund die Existenzformel der unternehmerischen Einzelnen in der »faustischen« Zivilisation erkennen wollte. Das elektrisch angetriebene Unterwasserhotel Nautilus, dem Erfindergeist des großen Misanthropen entsprungen, verkörpert eine erste technisch vollkommene Projektion der Idee absoluter Insularität ...Das lateinische insula bezeichnete neben seiner Grundbedeutung vom 2. nach-christlichen Jahrhundert an zugleich das freistehende mehrstöckige Mietshaus, das zumeist von den Ärmeren bewohnt war. Spengler erwähnt, um die indifferenzerzeugende Mechanik des späten Großstadtbetriebs zu illustrieren, eine Stelle bei Diodor über einen »abgesetzten ägyptischen König, der zu Rom in einer jämmerlichen Mietswohnung in einem hochgelegenen Stockwerk hausen mußte« (). In unserem Kontext wäre zu sagen, daß dieser ägyptische Robinson von imperialen Turbulenzen an den Strand einer überfüllten Insel geworfen worden war.Die im erneuerten Olympismus latenten massenkulturellen Potentiale wurden erstmals bei den Berliner Sommerspielen 1936 vollständig zur Entfaltung gebracht. Als Oswald Spengler im ersten Band von Der Untergang des Abendlandes bemerkte, »der Unterschied eines Berliner Sportplatzes an einem großen Tage von einem römischen Zirkus war schon 1914 sehr gering« (), war er den Ereignissen vorausgeeilt; da er im Mai 1936 starb, blieb es ihm verwehrt, die Erfüllung seiner prophetischen Diagnose zu erleben.Allein eine willkürliche Option kann uns an einer zugespitzten Stelle des Realen zum Einsatz verpflichten. Nicht die Not befiehlt, wir wählen eine Schwierigkeit. Mussolini hatte das verstanden, als er den fascismo durch den Horror vor dem bequemen Leben definierte. In der grenzenlosen Popularität des Sports, die dem Zeitdiagnostiker Oswald Spengler bereits vor 1914 auffiel, artikuliert sich die Wahrheit über das gegenwärtige Zeitalter: In ihm ist die befehlende Not durch die gewählte Anstrengung ersetzt worden ....Hochkultur ist keineswegs bloß, wie Oswald Spengler dozierte, die Resultierende aus der Begegnung zwischen einer Landschaft und einer Gruppenseele - oder das Amalgam aus einem Klima und einem Trauma. Sie ist aber auch nicht einfach »Reichtum an Problemen«, um Egon Friedells geistvolle Definition von Kultur im Sinn von Bildung zu zitieren. Vielmehr wurzelt jede Hochkultur in ihrem robusten Eigentum an einem überlieferungsfähig gemachten Paradoxon. Sie entspringt aus der grausamen Naivität, mit der sich das basale Paradoxon in seinen frühen Stadien verkörpert. Grausam ist die Naivität der frühen Hochkulturen in dem Maß, wie sie ihre Forderung nach der Ermöglichung des Unmöglichen gegen ihre Adepten durchsetzt. Erst wenn solche harten Ausgangsparadoxien sich zu Problemen entspannt haben, können sie wie Reichtümer genossen und wie Bildungsgegenstände gesammelt werden. In ihren frühen Zuständen werden Paradoxien nicht als Schätze erlebt, sondern als Passionen erlitten.Bekehrung des Paulus auf dem Weg nach Damaskus. Die Erzählung von diesem Einschnitt ist in der Apostelgeschichte zweimal überliefert, einmal in autobiographischer Form als Element der Verteidigungsrede des Paulus vor den Juden in Jerusalem (vgl. Apg., 22), ein anderes Mal in der dritten Person (vgl. Apg., 9). In beiden Fassungen wird hervorgehoben, Paulus sei durch das Ereignis auf dem Weg nach Damsakus »umgedreht« worden und habe sich von einem Verfolger der Christen zu einem Verkünder des Christentums gewandelt. .... Von den subtilen platonischen Erwägungen über die Umwendung der Seele und ihre Herausführung aus der Höhle der sinnlichen Kollektivillusionen sind wir hier bereits Lichtjahre entfernt. Keine Rede mehr von den Sorgen des griechischen Rationalismus um die Wende zur Wahrheitssonne. Das Licht, das den Eiferer auf dem Weg nach Damaskus blendet, ist ein Gemenge aus Mittagsdämon und Halluzination. Die Geschichte spielt bereits ganz auf dem Boden eines magischen Weltbildes (Spengler ordnete es sogar dem Stimmungsraum der »arabischen Kulturseele« zu ), dessen Atmosphäre von Apokalypsebereitschaft, Erlösungspanik und einer wundersüchtig supranaturalistischen Hermeneutik geprägt ist. Vor allem verrät sich in ihr der Geist eines nach allen Seiten aufbruchsbereiten Eiferertums, dem es fast gleichgültig zu sein scheint, ob es sich in die eine oder die andere Richtung erhitzt. Vor den Hintergrund des philosophischen Begriffs von conversio oder epistrophé gesetzt, handelt es sich bei dem Erlebnis des Paulus in keiner Weise um eine Bekehrung ....Es gibt keine Konversion: .... - In diesem Kontext haben wir Gelegenheit, Oswald Spenglers starke These zu re-evaluieren, wonach es im Grunde überhaupt keine Konversionen gebe, sondern nur Umbesetzungen zwischen freien Stellen in dem fest strukturierten Optionenfeld einer Kultur. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 440f. ). Durch alle Oberflächenwendungen der Konfession hindurch bleibe die basale Seelenstimmung eines Hochkulturkomplexes identisch, und was sich in äußerer Sicht wie eine 180-Grad-Drehung darstelle, könne in Wahrheit nie mehr sein als eine letztlich beliebige (obschon gelegentlich für die Mit- und Nachwelt folgenreiche) Variation innerhalb eines definitiv umrissenen Möglichkeitsraums.Die Suggestivität dieser These läßt sich vor allem an dem zweiten Bekehrungshelden der christlichen Überlieferung, Aurelius Augustinus, erläutern, von dem bekannt ist, wie er in seinen Confessiones seine gesamte Jugendgeschichte als ein langgezogenes Zögern vor der »Konversion« des Jahres 386 stilisierte. Gerade im Blick auf ihn scheint Spenglers Theorem durchschlagend plausibel. Man kann an seiner Lebensgeschichte - wie der zahlloser analoger Konfessionswechsler und Ernstmacher späterer Zeiten - mühelos zeigen, daß bei ihm in der Tiefenstruktur seiner Persönlichkeit nie die geringste »Konversion« stattgefunden hat. Vielmehr hat er nur innerhalb einer seit jeher bestehenden Ausrichtung auf die Überwelt mehrfach die Adressen bzw. den Großen Anderen, den transzendenten Trainer gewechselt - vom Manichäismus zu Platonismus, vom Platonismus zum philosophlschen Christentum, vom philosophischen Christentum zu einem theozentrisch nachgedunkelten Unterwerfungskult. Hierin war er keine Singularität, da schon seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert unter den Gebildeten der römischen Ökumene »Bekehrungen« zur Philosophie auftraten, die sich organisch in Übertritte zum Christentum fortsetzten - so etwa im Fall von Justin dem Märtyrer, des katholischen Patrons der Philosophen.Gewiß hatte Oswald Spengler übertrieben, wenn er die Möglichkeit der Konversion innerhalb einer gegebenen Kultur von vorneherein abstritt, dennoch erhob er seinen Einwand nicht ohne gute Gründe, da der größte Teil der real erlebten Bekehrungen tatsächlich nicht im Modus einer epistrophischen Gesamtumkehrung, sondern des Übergangs zu einer mehr oder weniger naheliegenden Alternative geschieht: Eine wirkliche Umwälzung vollzieht sich letztlich nur beim Eintritt auf den Hochkulturpfad als solchen, der die Sterblichen auf die hohen Formen der Vertikalspannung () ausrichtet, indem er sie impft mit dem Wahnsinn des Verlangens nach dem Unmöglichen.Auf Aron Zalkind, 1889-1936, ... der ... die Ansätze von Freud und Pavlov zu synthetisieren versuchte (um das Feld der Erziehung für die damals viel benutzte Theorie der »bedingten Reflexe« zu reklamieren und die Kulturtheorie als Anwendungsgebiet der höheren Reflexologie zu annektieren) ... beruhte die »Kunst« der bolschewistisch-sozialistischen Prognostik (). Sie bildet das real-utopische Gegenstück zu Oswald Spenglers nicht weniger prätentiösem Versuch, die Erzählbarkeit der Zukunft durch Einsicht in die Ablaufgesetze der »Kulturen« auf wissenschaftliche Grundlage zu stellen. (Zitat-Ende).Das Man oder: Das realste Subjekt des modernen diffusen Zynismus.
Das Man, die Unperson in unserem Zynikerkabinett, erinnert in seiner kargen Gestalt an Gliederpuppen, wie sie von Graphikern für Positionsstudien und anatomische Skizzen benutzt werden. Doch die Position, auf die Heidegger es abgesehen hat, ist keine bestimmte. Er belauscht das »Subjekt« in der Banalität in seiner alltäglichen Seinsweise. Die Existentialontologie, die vom Man () und seinem Dasein in der Alltäglichkeit handelt, versucht etwas, was früherer Philosophie nicht im Traum eingefallen wäre: Trivialität zum Gegenstand »hoher« Theorie zu machen. Schon dies ist eine Geste, die unweigerlich den Kynismus-Verdacht auf Heidegger lenkt. Was Kritiker der Heideggerschen Existentialontologie als einen »Fehler« vorgeworfen haben, ist vielleicht ihr besonderer Witz. Sie treibt die Kunst der Platitüde in die Höhen des expliziten Begriffs. Man könnte sie lesen wie eine umgekehrte Satire, die nicht das Hohe heruntersetzt, sondern das Niedere hinauf. Sie versucht, das Selbstverständliche so ausdrücklich und ausführlich zu sagen, daß sogar Intellektuelle es »eigentlich« verstehen müßten. In gewisser Hinsicht verbirgt sich im Heideggerschen Diskurs mit seinen skurrilen Verfeinerungen der Begriffsabschattungen eine logische Eulenspiegelei großen Stils - der Versuch, mystisch einfaches Wissen vom einfachen Leben, »wie es ist«, in die fortgeschrittenste europäische Denktradition zu übersetzen. Heideggers Habitus eines Schwarzwaldbauern, der gern von der Welt zurückgezogen in seiner Hütte sitzt und grübelt, die Zipfelmütze auf dem Kopf, war nicht nur eine Äußerlichkeit. Er gehört wesentlich zu dieser Art zu philosophieren. Es steckt dieselbe anspruchsvolle Schlichtheit darin. Es zeigt, wieviel Mutwille dazu gehört, unter modernen Bedingungen überhaupt noch so etwas Einfaches und »Primitives« zu sagen, daß es sich gegen die komplexen Verschraubungen des »aufgeklärten« Bewußtseins durchsetzen kann. Wir lesen die Aussagen Heideggers über das Man, das Dasein in der Alltäglichkeit, über Gerede, Zweideutigkeit, Verfallensein und Geworfenheit etc. vor dem Hintergrund der vorangehenden Porträts von Mephisto und dem Großinquisitor: als eine Reihe von Etüden in höherer Banalität, mit der sich die Philosophie hinaustastet in das, »was der Fall ist«. Gerade in dem Heideggers existential-hermeneutische Analyse mit dem Mythos der Objektivität aufräumt, erzeugt sie den härtesten »Tiefenpositivismus«. So tritt eine Philosophie auf, die ambivalent teilhat an einem ernüchterten, säkularisierten und technisierten Zeitgeist; sie denkt jenseits von Gut und Böse und diesseits der Metaphysik; nur auf dieser dünnen Linie kann sie sich bewegen.Der theoretische Neo-Kynismus unseres Jahrhunderts - die Existenzphilosophie - demonstriert in seiner Denkform das Abenteuer der Banalität. Was er vorführt, sind die Feuerwerke der Sinnlosigkeit, die sich selbst zu verstehen beginnt. Man muß sich die verächtliche Wendung verdeutlichen, mit der Heidegger im oben zitierten Motto seine Arbeit in weite Ferne von jeder »moralisierenden Kritik« (**) rückt, als wolle er betonen, daß zeitgenössisches Denken ein für allemal die Sümpfe des Moralismus hinter sich gelassen und nichts mehr gemeinsam habe mit »Kulturphilosophie« (**). Die kann ja nicht mehr sein als »Aspiration« (**): vergeblicher Anspruch, Großdenkerei und Weltanschauung im Stil des nicht enden wollenden 19. Jahrhunderts. Dagegen wirkt in der »rein ontologischen Absicht« die brennende Kühle der realen Modernität, die keiner bloßen Aufklärung mehr bedarf und mit aller je möglichen analytischen Kritik schon »durch« ist. Ontologisch denkend, positiv sprechend die Struktur der Existenz freilegen: zu diesem Zweck stürzt sich Heidegger, um die Subjekt-Objekt-Terminologie zu umgehen, mit beachtlichem sprachlichen Mutwillen in einen alternativen Jargon, der aus der Ferne betrachtet gewiß nicht glücklicher ist als der, den Heidegger meiden wollte, in dessen Neuartigkeit jedoch etwas vom Abenteuer des Modern-Primitiven hindurchscheint: eine Verknüpfung von Archaik und Spätzeit, eine Spiegelung des Frühesten im Letzten. In der »Ausgesprochenheit« der Heideggerschen Rede kommt das zur Sprache, was ansonsten keiner Philosophie der Rede wert ist. Eben in dem Augenblick. wo das Denken - explizit »nihilistisch« - Sinnlosigkeit als Folie jeder möglichen Sinnaussage oder Sinngebung erkennt, wird zugleich die höchste Entfaltung der Hermeneutik. d.h. der Kunst des Sinn verstehens, nötig. um den Sinn der Sinnlosigkeit philosophisch zu artikulieren. Das kann. je nach den Voraussetzungen des Lesers. ebenso aufregend wie frustrierend sein - ein Kreisen in begriffener Leere. Schattenspiel der Vernunft.Was ist dieses seltsame Wesen, das Heidegger unter dem Namen Man () vorführt? Es gleicht auf den ersten Blick modernen Plastiken, die keinen bestimmten Gegenstand darstellen und in deren polierte Oberflächen sich keine »besondere« Bedeutung hineinlesen läßt. Dennoch sind sie unmittelbar wirklich und zum Anfassen konkret. In diesem Sinn betont Heidegger, daß das Man keine Abstraktion sei - etwa ein Allgemeinbegriff, der »alle Iche« umfaßt, sondern möchte es, als ens realissimum, auf etwas beziehen, was in jedem von uns präsent ist. Aber es enttäuscht die Erwartung nach Personhaftigkeit, individueller Bedeutung und existentiell entschiedenem Sinn. Es existiert, aber es ist bei ihm »nichts dahinter«. Es ist da wie die moderne, nichtfigürliche Plastik: real, alltäglich, konkreter Teil einer Welt; jedoch zu keiner Zeit auf eine eigentliche Person, eine »wirkliche« Bedeutung verweisend. Das Man ist das Neutrum unseres Ich: Alltagsich, aber nicht »ich-selbst«. Es stellt gewissermaßen meine öffentliche Seite dar, meine Mediokrität. Das Man habe ich mit allen anderen gemeinsam, es ist mein öffentliches Ich, und in bezug auf es hat die Durchschnittlichkeit immer recht. Als uneigentliches Ich entlastet sich das Man von jeglicher eigener, höchst persönlicher Entschiedenheit; seiner Natur nach will es sich alles leicht machen, alles von der äußerlichen Seite nehmen und sich an den konventionellen Schein halten. In gewisser Hinsicht verhält es sich so auch zu sich selbst, denn was es »selbst« ist, das nimmt es ja auch nur so eben hin wie etwas Vorgefundenes unter anderem Gegebenem. So läßt sich dieses Man nur als etwas Unselbständiges verstehen, das nichts von sich selbst und für sich allein hat. Was es ist, wird ihm durch die andern gesagt und gegeben; das erklärt seine wesentliche Zerstreutheit; ja es bleibt verloren an die Welt, die ihm zunächst begegnet. Heidegger:
Diese Man-Beschreibung (), mit der Heidegger eine Möglichkeit erobert, philosophisch vom Ich zu sprechen, ohne es im Stil der Subjekt-Objekt-Philosophie tun zu müssen, wirkt wie eine Rückübersetzung des Ausdrucks Subjekt in die Umgangssprache, wo es »das Unterworfene« bedeutet. (Im Logischen Hauptstück gehe ich dieser »übersetzung« weiter nach und untersuche, was Unterwerfen und Unterworfenwerden für die Erkenntnistheorie bedeutet. Vgl. S. 639-641; 652-659.) Wer »unterworfen« ist, meint, sich »selbst« nicht mehr zu besitzen. Nicht einmal die Sprache des Man sagt etwas Eigenes, sondern nimmt nur teil am allgemeinen »Gerede«. In dem Gerede - mit dem man Sachen sagt, die man eben sagt - verschließt sich das Man gegen das wirkliche Verstehen des eigenen Daseins sowohl wie auch der besprochenen Dinge. Im Gerede verrät sich die »Entwurzelung« und »Uneigentlichkeit« des alltäglichen Daseins. Ihm entspricht die Neugier, die flüchtig und »aufenthaltlos« dem jeweils Neuesten sich hingibt. Dem neugierigen Man geht es, soviel es auch »Kommunikation betreibt«, niemals um wirkliches Verstehen, sondern um dessen Gegenteil, Vermeidung von Einsicht, Ausweichen vor dem »eigentlichen« Blick ins Dasein. Dieses Vermeiden belegt Heidegger mit dem Begriff Zerstreuung - einem Ausdruck, der aufhorchen läßt. Wenn auch alles Bisherige durchaus überzeitlich und allgemeingültig klingen wollte, so wissen wir mit diesem Wort auf einmal, an welcher Stelle der modernen Geschichte wir stehen. Kein anderes Wort ist so vollgesogen vom spezifischen Geschmack der mittleren zwanziger Jahre - der ersten deutschen Moderne im Breitenmaßstab. Alles, was wir über das Man gehört haben, wäre letztlich unvorstellbar ohne die Realvoraussetzung der Weimarer Republik mit ihrem hektischen Nachkriegs-Lebensgefühl, ihren Massenmedien, ihrem Amerikanismus, ihrer Kultur- und Unterhal tungsindustrie, ihrem fortgeschrittenen Zerstreuungsbetrieb. Nur im zynischen, demoralisierten und demoralisierenden Klima einer Nachkriegsgesellschaft, in der die Toten nicht sterben dürfen, weil aus ihrem Untergang politisches Kapital geschlagen werden soll, kann sich aus dem »Zeitgeist« ein Impuls in die Philosophie abzweigen, das Dasein »existential« zu betrachten und die Alltäglichkeit in Gegensatz zu stellen zu dem »eigentlichen«, bewußt-entschlossenen Dasein als »Sein zum Tode«. Nur nach der militärischen Götterdämmerung, nach dem »Zerfall der Werte«, nach der coincidentia oppositorum an den Fronten des Materialkrieges, wo sich »Gut« und »Böse« gegenseitig ins Jenseits beförderten, wurde eine solche »Besinnung« auf »eigentliches Sein« möglich. Erst diese Zeit wird in radikaler Weise auf die innere Vergesellschaftung aufmerksam; sie ahnt, daß die Wirklichkeit beherrscht wird von den Gespenstern, den Imitatoren, den außengeleiteten Ich-Maschinen. Jeder könnte ein Wiedergänger sein statt seiner selbst. Doch wie soll man es erkennen? Wem sieht man noch an, ob er »er selbst« ist oder nur Man? Das erregt die penetrante Sorge der Existentialisten um die so wichtige wie unmögliche Unterscheidung zwischen dem Echten und Unechten, dem Eigentlichen und dem Uneigentlichen, dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem Entschiedenen und dem Unentschiedenen (das halt »nur so« ist):
Die Sprache, scheint es, hält mühevoll das, was bloß »so aussieht«, und das, was wirklich »so ist«, noch auseinander. Doch die Erfahrung zeigt, wie alles sich verwischt. Alles sieht aus wie. An diesem Wie beißt der Philosoph herum. Für den Positivisten wäre alles, wie es ist; keine Differenz zwischen Wesen und Erscheinung - das wäre nur wieder der alte metaphysische Spuk, mit dem man Schluß machen will. Doch Heidegger beharrt auf einer Differenz und hält an dem Anderen fest, das nicht nur ist »wie«, sondern das Wesentliche, Echte, Eigentliche für sich hat. Der metaphysische Rest bei Heidegger und sein Widerstand gegen den reinen Positivismus verraten sich im Willen zur Eigentlichkeit. Es gibt noch eine andere Dimension« - auch wenn sie sich dem Aufweis entzieht, weil sie nicht zu den aufweisbaren »Dingen« gehört. Das Andere läßt sich zunächst nur behaupten, indem zu gleich versichert wird, es sehe genau so aus wie das Eine; für die äußerliche Sicht hebt sich das »Eigentliche« vom »Uneigentlichen« in keiner Weise ab.In dieser merkwürdigen Denkfigur pulsiert die höchste Geistesgegenwart der zwanziger Jahre: sie postuliert ei nen Unterschied, den man »machen« muß, ohne ihn irgendwie sicherstellen zu können. Solange Zweideutigkeit als fundamentaler Tatbestand der Existenz wenigstens noch behauptet wird, bleibt formal die Möglichkeit der »anderen Dimension« gerettet. Damit scheint sich Heideggers Denkbewegung schon zu erschöpfen: in einer formalen Rettung des Eigentlichen, das freilich genauso aussehen kann wie das »Uneigentliche«. Nun ist es mit bloßen Behauptungen nicht getan; letztlich braucht das vielbeschworene eigentliche Dasein schon etwas »Aparts für sich« *, um noch irgendwie unterschieden zu werden. (* Mephistopheles: »Hätt ich mir nicht das Feuer vorbehalten / Ich hätte nichts Aparts für mich.«) Wie wir es finden, das bleibt vorerst noch die Frage. Um die Sache vollends spannend zu machen, betont Heidegger obendrein, daß die » Verfallenheit« des Daseins als Man () an die Welt kein Herausfallen aus irgendeinem höheren oder ursprünglicheren »Urstand« bedeutet, sondern seit jeher und »immer schon« verfällt. Mit dürrer Ironie bemerkt Heidegger, daß das Man sich in der Meinung wiegt, es führe das echte, volle Leben, wenn es sich vorbehaltlos in den WeIt-Betrieb stürzt. Er hingegen erkennt gerade darin die Verfallenheit. Man muß zugeben, daß der Autor von Sein und Zeit es ver steht, den Leser, der ungeduldig das »Eigentliche« erwartet, auf die Folter zu spannen, und - sagen wir es ehrlich - auf die Folter einer »ausgesprochenen« » Tiefenplatitüde«. Er führt uns, phantastisch explizit, durch die Irrgärten einer positiven Negativität, er spricht von dem Man und seinem Gerede, seiner Neugier, seiner Verfallenheit an den Betrieb, mit einem Wort von der »Entfremdung«, versichert aber im gleichen Atemzuge, dies alles werde festgestellt ohne einen Hauch von »moralischer Kritik«; vielmehr sei dies alles eine Analyse »in ontologischer Absicht«, und wer vom Man spricht, beschreibt keineswegs ein heruntergesunkenes Selbst, sondern eine mit dem eigentlichen Selbstsein gleichursprüngliche Qualität. von Dasein. So ist es also von Anfang an, und der Ausdruck Entfremdung verweist merkwürdigerweise nicht zurück auf ein früheres, höheres, wesentliches Eigensein ohne Fremdheit! Entfremdung, so lernen wir, meint nicht, daß das Dasein sich »selbst« entrissen worden wäre, sondern die Uneigentlichkeit dieser Entfremdung ist von Anfang an die mächtigste und ursprünglichste Seinsart des Daseins. An ihm findet sich nichts, was man in wertendem Sinne als schlecht, negativ oder falsch bezeichnen könnte. Entfremdung ist lediglich die Seinsart des Man.Versuchen wir, uns die eigentümliche Choreographie dieser Gedankensprünge klarzumachen: Heidegger treibt die Arbeit des Denkens, die auf realistische Ernüchterungen zustrebt, über die fortgeschrittensten Positionen des 19. Jahrhunderts hinaus. Hatten die bisherigen Großtheorien nur dann die Kraft zum Realismus, wenn sie zum Ausgleich ein utopisches oder moralisches Gegengewicht besaßen, so dehnt Heidegger nun den »Nihilismus« auch auf diesen utopisch-moralischen Bereich aus. Waren die typischen Gespanne des 19. Jahrhunderts Liaisons zwischen theoretischer Wissenschaft und praktischem Idealismus, Realismus und Utopismus, Objektivismus und Mythologie - so setzt Heidegger nunmehr zu einer zweiten Liquidierung der Metaphysik an; er geht zur radikalen Säkularisierung der Zwecke über. Lapidar nimmt er von der fraglosen Zweckfreiheit des Lebens in seiner Eigentlichkeit Notiz. Wir gehen überhaupt nicht auf strahlende Ziele zu und sind von keiner Instanz beauftragt, heute zu leiden für ein großes Morgen *. - Auch hinsichtlich der Zwecke gilt es, jenseits von Gut und Böse zu denken.
Der Unterschied eigentlich-uneigentlich gibt sich rätselhafter, als er in Wahrheit ist. Soviel steht von vornherein fest: es kann nicht der Unterschied in irgendeiner »Sache« sein (schön-häßlich, wahr-falsch, gut-böse, groß-klein, wichtig-unwichtig), weil die existentiale Analyse vor diesen Unterschieden operiert. So bleibt als letzte denkbare Differenz jene zwischen dem entschlossenen und dem unentschlossenen Dasein, ich möchte sagen: zwischen dem bewußten und dem unbewußten. Doch darf man den Gegensatz bewußt-unbewußt nicht im Sinne der psychologischen Aufklärung nehmen (der Unterton: entschlossen-unentschlossen deutet eher in die gemeinte Richtung); bewußt und unbewußt sind hier nicht kognitive Gegensätze, auch nicht solche der In formation, des Wissens oder der Wissenschaft, sondern existentiale Qualitäten. Wäre es anders, so wäre das Heideggersche Pathos der »Eigentlichkeit« nicht möglich.Die Konstruktion des Eigentlichen mündet - endlich - aus in das Theorem vom »Sein zum Tode«, für Heideggers Kritiker ein Vorwand zur billigsten Empörung: zu mehr als zu morbiden Todesgedanken kann sich die bürgerliche Philosophie nicht mehr aufraffen! Aschermittwochsphantasien in parasitären Köpfen! Nehmen wir :von solcher Kritik das Wahrheitsmoment auf, so besagt sie, daß sich in Heideggers Werk, gegen dessen Intentionen, der historisch-gesellschaftliche Augenblick spiegelt, in dem es verfaßt wurde; auch wenn es noch so sehr beteuert, ontologische Analyse zu sein, liefert es eine unfreiwillige Gegenwartstheorie. Insofern sie dies unfreiwillig ist, hat der Kritiker wohl ein Recht, eine unfreie, ja verblendete Seite an ihr zu benennen, ohne daß er von der Aufgabe entbunden wäre, die erleuchtete Seite zu würdigen. Kein Gedanke ist so intim in seine Zeit eingebettet wie der des Seins zum Tode; es ist das philosophische Schlüsselwort im Zeitalter der imperialistischen und faschistischen Weltkriege. Heideggers Theorie fällt in die Atemwende zwischen dem Ersten und Zweiten Wel krieg, die erste und zweite Modernisierung des Massentodes. Sie steht auf halbem Weg zwischen dem ersten Dreigestirn der Destruktionsindustrie: Flandern, Tannenberg, Verdun und dem zweiten: Stalingrad, Auschwitz, Hiroshima. Ohne Todesindustrie keine Zerstreuungsindustrie.Liest man Sein und Zeit nicht »bloß« als Existentialontologie, sondern auch als verschlüsselte Sozialpsychologie der Moderne, so öffnen sich Einsichten in Strukturzusammenhänge von größter Perspektive. Heidegger hat den Zusammenhang zwischen moderner »Uneigentlichkeit« der Existenz und moderner Todesfabrikation in einer Weise getroffen, die sich allein dem Zeitgenossen industrieller Weltkriege erschließen kann. Lockern wir den Bann, den der Faschismusverdacht auf Heideggers Werk geworfen hat, so verraten sich in der Formel vom »Sein zum Tode« explosive kritische Potentiale. Dann wird verständlich, daß Heideggers Todestheorie die größte Kritik des 20. Jahrhunderts am 19. birgt. Das 19. Jahrhundert nämlich hatte seine besten theoretischen Energien in den Versuch gesteckt, durch realistische Groß-Theorien den Tod der anderen denkbar zu machen. (Ich nehme hier ein Motiv Michel Foucaults auf.) Die großen evolutionistischen Entwürfe nahmen das Weltböse, soweit es andern zustößt, hinweg und hinauf in die höheren Zustände späterer, erfüllter Zeiten: hierin gibt es formale Äquivalenzen zwischen der Vorstellung von Evolution, dem Begriff der Revolution, dem Begriff der Auslese, des Kampfs ums Dasein und des Überlebens des Tüchtigeren, der Idee des Fortschritts und dem Mythos der Rasse. Mit all diesen Konzepten wird eine Optik erprobt, die den Untergang der anderen objektiviert. Mit Heideggers Todestheorie kehrt das Denken des 20. Jahrhunderts diesen hybriden, theoretisch neutralisierten Zynismen des 19. Jahrhunderts den Rücken. Äußerlich gesehen wechselt nur das Personalpronomen: »Man stribt« wird zu: »Ich sterbe«. Im bewußten Sein zum Tode revoltiert die Heideggersche Existenz gegen die »ständige Beruhigung über den Tod«, auf die eine überdestruktive Gesellschaft unbedingt angewiesen ist. Der totale Militarismus des Industriekrieges erzwingt in den Alltagszuständen eine mögliche lückenlose narkotische Todesverdrängung - oder die Abwälzung des Todes auf die andern: das ist das Gesetz der modernen Zerstreuung. Die Weltlage ist eine solche, daß sie den Menschen, würden sie aufmerken, zuflüstert: Eure Vernichtung ist bloß eine Frage der Zeit, und die Zeit, die die Vernichtung braucht, bis sie euch erreicht, ist zugleich die Zeit eurer Zerstreuung. Die kommende Vernichtung setzt ja eure Zerstreuung, eure Nichtentschlossenheit zum Leben voraus. Das zerstreute Man () ist der Modus unseres Existierens, durch den wir selber in den allgemeinen Todeszusammenhängen stecken und mit der Todesindustrie kooperieren. Ich möchte behaupten, daß Heidegger den Anfang des Fadens zu einer Philosophie der Aufrüstung in Händen hält: denn Aufrüsten heißt, sich dem Gesetz des Man unterwerfen. Einer der eindrucksvollsten Sätze aus Sein und Zeit lautet: »Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen« (254). Wer aufrüstet, ersetzt den »Mut zur Angst vor dem eigenen Tod« durch militärischen Betrieb. Das Militär ist der größte Garant dessen, daß ich nicht meinen »eigenen Tod« sterben muß; es verspricht mir Hilfe beim Versuch, das »Ich sterbe« zu verdrängen, um an seiner Stelle einen Man-Tod zu bekommen, einen Tod in absentia, einen Tod in politischer Uneigentlichkeit und Betäubung. Man rüstet, man zerstreut sich, man stirbt.Ich finde in Heideggers »Ich sterbe« den Kristallisationskern, um den sich eine Realphilosophie des erneuerten Kynismus entfalten kann. Kein Weltzweck darf sich je von diesem kynischen Apriori: »Ich sterbe« so weit entfernen, daß unsere Tode Mittel zum Zweck werden. Die Sinnlosigkeit des Lebens - um die sich soviel dummes Nihilismusgeschwätz schlingt - begründet ja erst dessen volle Kostbarkeit. Dem Sinnlosen ist nicht nur die Verzweiflung und der Alptraum eines bedrückten Daseins zugeordnet, sondern auch sinnstiftende Lebensfeier, energetisches Bewußtsein im Hier und Jetzt und ozeanisches Fest.Daß es bei Heidegger selbst düsterer zugeht und daß seine existentielle Szenerie sich zwischen den Graunuancen der Alltäglichkeit und den grellen Blitzen der Angst und der Todesfarben abspielt, dies ist bekannt und begründet den melancholischen Nimbus seines Werkes. Doch auch im Pathos des Seins zum Tode läßt sich ein Körnchen kynische Substanz entdecken, denn es ist ein Pathos der Askese, und in diesem kann sich, in einer Sprache des 20. Jahrhunderts, der Kynismus der Zwecke zu Wort melden. Was die Gesellschaft uns als Zwecke in ihrem Betrieb vorgibt, bindet uns immer schon ins uneigentliche Dasein. Der Weltbetrieb tut alles, um den Tod zu verdrängen - während doch »eigentliches« Existieren sich erst daran entzündet, daß ich wach erkenne, wie ich in der Welt stehe, Aug in Aug mit der Todesangst, die sich meldet, wenn ich im voraus radikal den Gedanken vollziehe, daß ich es bin, auf den am Ende meiner Zeit mein Tod wartet. Heidegger folgert hieraus eine ursprüngliche Un-heimlichkeit des Daseins; die Welt könne ja niemals das sichere, Geborgenheit spendende Zuhause des Menschen werden. Weil das Dasein von Grund auf unheimlich ist, spürt der »unbehauste Mensch« (...) einen Drang, sich in künstliche Behausungen und Heimaten zu flüchten und sich aus der Angst in die Gewöhnungen und Wohnungen zurückzuziehen.Natürlich haben solche Sätze, obwohl ins Allgemeine gerichtet, eine konkrete (Konkretheit schließt Vagheit nicht aus) Beziehung zu den Erscheinungen ihres geschichtlichen Augenblicks. Heidegger ist nicht umsonst ein Zeitgenosse des Bauhauses, des Neuen Wohnens, des frühen Urbanismus, des Sozialwohnungsbaus, der Siedlungstheorie und der ersten Landkommunen. Sein philosophischer Diskurs hat verschlüsselt Anteil an der modernen Problematisierung der Wohngefühle, des Mythos Haus, des Mythos Stadt. Wenn er von der Unbehaustheit des Menschen redet, so ist das nicht nur gespeist aus dem Grauen, das der unverbesserliche Provinzler angesichts moderner großstädtischer Lebensformen empfindet. Es ist geradezu eine Absage an die häuserbauende, städtebauende Utopie unserer Zivilisation. Tatsächlich bedeutet der Sozialismus, sofern er lndustriebejaher sein muß, eine Verlängerung des städtischen »Geistes der Utopie«; er verspricht ja, aus der »Unwirtlichkeit der Städte« hinauszuführen, jedoch mit städtischen Mitteln, und hat eine neue Stadt, die endgültige Menschenstadt und Heimat vor Augen. So steckt im Sozialismus dieses Typs immer schon ein von städtischer Misere mitgenährter Traum. Heideggers Provinzialismus hat dafür kein Verständnis. Er blickt auf die Stadt mit den Augen einer »ewigen Provinz«, die sich nicht einreden läßt, daß je etwas Besseres an die Stelle des Landes treten könnte. Heidegger, so darf der gutwillige lnterpret sagen, durchbricht die modernen Raumphantasien, wobei die Stadt vom Land träumt und das Land von der Stadt. Beide Phantasmen sind gleich bedingt und gleich verzerrt. Heidegger vollzieht, teils buchstäblich, teils metaphorisch verstanden, eine »posthistorische« Rückkehr aufs Land.Gerade in den Jahren der wüstesten Modernisierung - den sog. goldenen Zwanzigern - beginnt die Stadt, einst der Ort der Utopie, ihren Zauber einzubüßen, und vor allem Berlin, Hauptstadt des frühen 20. Jahrhunderts, trägt das Seine dazu bei, die Metropoleneuphorie in ein ernüchterndes Licht zu tauchen. Als Brennpunkt der Industrie, der Produktion, des Konsums und des Massenelends ist sie zugleich der Entfremdung am meisten ausgeliefert; nirgendwo läßt sich Modernität so teuer bezahlen wie in den Massenstädten. Das Vokabular der Heideggerschen Man-Analyse () scheint wie geschaffen, dem Unbehagen gebildeter Städter an der eigenen Lebensform Ausdruck zu geben. Zerstreuungskultur, Gerede, Neugier, Unbehaustheit, Verfallenheit (an alle möglichen Laster dürfte man mitdenken), Obdachlosigkeit, Angst, Sein zum Tode: das klingt alles wie Großstadtmisere, in einem etwas trüben, etwas zu feinen Spiegel eingefangen. Heideggers Provinzkynismus hat eine heftige kulturkritische Tendenz. Aber es bezeugt nicht nur einen hoffnungslosen Provinzialismus, wenn ein Philosoph seines Ranges sich von den bürgerlich-städtischen und sozialistischen Utopien abkehrt, sondern deutet auf eine kynische Kehre, in dem Sinne, daß sie die großen Ziele und Projektionen des städtischen Gesellschaftstraums außer Kraft setzt. Die Wendung zur Provinz kann auch eine Wendung zu wirklicher Makrohistorie sein, die von den Regulierungen des Lebens im Rahmen von Natur, Agrikultur und Okologie präziser Notiz nimmt, als alle bisherigen Industriewelt bilder es konnten. Die Geschichte, die ein Industriehistoriker schreibt, wird notgedrungen Mikrohistorie. Die Geschichte des Landes kennt den Puls einer viel gröeren Zeitlichkeit. Auf kurze Formeln gebracht: die Stadt ist nicht die Erfüllung der Existenz; die Ziele des Industriekapitalismus sind es auch nicht; wissenschaftlicher Fortschritt ist es auch nicht; mehr Zivilisation, mehr Kino, schöner Wohnen, länger Autofahren, besser Essen: das alles ist es nicht. Das »Eigentliche« wird immer etwas anderes sein. Du mußt wissen, wer du bist. Bewußt mußt du das Sein zum Tode erfahren als höchste Instanz deines Seinkönnens; in der Angst fällt es dich an, und dein Augenblick ist gekommen, wenn du mutig genug bist, der großen Angst standzuhalten.»Eigentliche Angst ist ... bei der Vorherrschaft des Verfallens und der Öffentlichkeit selten« (Sein und Zeit, S. 190). Wer auf das Seltene setzt, trifft eine elitäre Wahl. Eigentlichkeit sei also eine Sache der wenigen. Woran erinnert das? Hören wir nicht wieder den Großinquisitor, wie er zwischen den wenigen und den vielen unterscheidet - den wenigen, die die Last der großen Freiheit ertragen, und den vielen, die als rebellische Sklaven leben wollen und nicht bereit sind, wirklicher Freiheit, wirklicher Angst, wirklichem Sein zu begegnen? Dieser völlig apolitisch gemeinte Elitismus, der eine Elite der wirklich Existierenden annimmt, mußte fast unweigerlich ins Gesellschaftliche hinübergleiten und politische Optionen lenken. Der Großinquisitor besaß hierbei den Vorsprung eines illusionslosen und zynischen politischen Bewußtseins. Heidegger hingegen war ein Naiver geblieben, ohne klares Bewußtsein dessen, daß aus dem traditionellen Gemisch von akademischem Apolitismus, Elitebewußtsein und heroischer Stimmung fast mit blinder Notwendigkeit unbegriffene politische Entscheidungen hervorgehen. Eine Zeitlang fiel er - man möchte sagen also - auf den Zynismus des völkischen Großinquisitors herein. Seine Analyse bewahrheitete sich unfreiwillig an ihm selbst. Alles sieht aus wie. Es klingt wie »echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht«. Der Nationalsozialismus - »Bewegung«, »Aufstand«, »Entscheidung« - schien Heideggers Vision von Eigentlichkeit, Entschlossenheit und heroischem Sein zum Tode zu ähneln, als wäre der Faschismus die Wiedergeburt des Eigentlichen aus der Verfallenheit, als wäre diese moderne Revolte gegen die Modernität der wirkliche Beweis einer zu sich selbst entschlossenen Existenz. Man muß an Heidegger denken, wenn man Hannah Arendts souveräne Bemerkung über jene Intellektuellen im Dritten Reich zitiert, die zwar keine Faschisten waren, sich aber zum Nationalsozialismus »etwas einfallen ließen«. Tatsächlich hat sich Heidegger allerhand einfallen lassen, bis er merkte, was es »eigentlich« mit dieser politischen Bewegung auf sich hatte. Der Trug konnte nicht lange dauern. Gerade die NS-Bewegung sollte klarmachen, was das völkische Man alles in petto hat - das Man als Herrenmensch, das Man als zugleich narzißtische und autoritäre Masse, das Man als Lustmörder und Tötungsbeamter. Die »Eigentlichkeit« des Faschismus - seine einzige - bestand darin, daß er latente Destruktivität in manifeste verwandelte und somit in höchst zeitgemäßer Weise teilnahm an dem Zynismus offener »Ausgesprochenheit«, die mit nichts mehr hinterm Berg hält. Faschismus, vor allem in der deutschen Spielart, ist die » Unverborgenheit« der politischen Destruktivität, auf die nackteste Form gebracht und durch die Formel vom »Willen zur Macht« zu sich selbst ermutigt. Es geschah, als ob Nietzsche in der Art eines Psychotherapeuten zur kapitalistischen Gesellschaft gesagt härte: »Vom Willen zur Macht seid ihr im Grund ja zerfressen, also laßt es endlich offen heraus und bekennt euch zu dem, was ihr ohnehin seid!« * - woraufhin die Nazis tatsächlich dazu übergingen, »es« heraus zulassen, jedoch nicht unter therapeutischen Bedingungen, sondern inmitten der politischen Realität. Vielleicht war es Nietzsches theoretischer Leichtsinn, der ihn glauben ließ, daß Philosophie sich in provokativen Diagnosen erschöpfen dürfe, ohne zugleich verbindlich an Therapie zu denken. Den Teufel darf nur beim Namen nennen, wer eine Abreaktion für ihn weiß; ihn nennen (sei es Wille zur Macht, sei es Aggression etc.) heißt, seine Realität anerkennen, sie anerkennen heißt, sie »entfesseln«.
Seit Heidegger ist, stark chiffriert, aber doch schon lesbar, ein Abkömmling des antiken kynischen Impulses wieder dabei, zivilisationskritisch ins soziale Geschehen einzugreifen; er führt letztendlich das moderne Technik- und Herrschaftsbewußtsein ad absurdum. Vielleicht nimmt man der Existentialontologie viel von ihrer anmaßenden Düsterkelt, wenn man sle als phllosophlsche Eulenspiegelei versteht. Sie macht den Leuten allerhand vor, um sie dahin zu bringen, wo sie sich nichts mehr vormachen lassen; sie gibt sich furchtbar spröde, um das Emfachste zu vermltteln. Ich nenne es: Kymsmus der Zwecke. Inspiriert vom Kynismus der Zwecke könnte einem Leben wieder warm werden, das am Zynismus der Mittel die Kälte des Machens, Herrschens und Zerstörens erlernt hat. Die Kritik der instrumentellen Vernunft drängt darauf, als Kritik der zynischen Vernunft zuendegeführt zu werden. In ihr geht es darum, Heideggers Pathos zu entkrampfen und es von der Anklammerung an das bloße Todesbewußtsein zu befreien. »Eigentlichkeit«, wenn der Ausdruck überhaupt Sinn geben soll, erfahren wir eher in Liebe und sexuellem Rausch, in Ironie und Gelächter, Kreativität und Verantwortung, Meditation und Ekstase. Bei dieser Entkrampfung verschwindet jener existentialistische Einzige, der am eigenen Tod sein eigenstes Eigentum zu haben meint. Auf dem Gipfel des Seinkönnens erfahren wir nicht nur den Weltuntergang im einsamen Tod, sondern mehr noch den Ich-Untergang in der Hingabe an die gemeinsamste Welt.Zugegeben, der Tod hat zwischen den Weltkriegen die philosophische Phantasie überschattet und das ius primae noctis mit dem Kynismus der Zwecke für sich beansprucht, zumindest in der Philosophie. Doch sagt es nichts Gutes über das Verhältnis der Existenzphilosophie zur realen Existenz, wenn ihr nur der »eigene Tod« in den Sinn kommt, wenn man sie fragt, was sie zum wirklichen Leben zu sagen habe. Eigentlich sagt sie, daß sie nichts zu sagen hat - und zu diesem Zweck muß sie nichts mit großem N schreiben. Dieses Paradox kennnzeichnet die gewaltige Denkbewegung des Buches Sein und Zeit: ein so großer Begriffsreichtum wurde kaum je eingesetzt, um einen im mystischen Sinne so »armen« Inhalt zu transportieren. Das Werk dringt auf den Leser ein mit einem pathetischen Aufruf zur eigentlichen Existenz, hüllt sich aber in Schweigen, wenn man fragen wollte: wie denn? Die einzige, allerdings fundamentale Antwort, die sich herausziehen ließe, müßte, entschlüsselt (im obigen Sinne) lauten: bewußt. Das ist keine konkrete Moral mehr, die Anweisungen zum Tun und Lassen gibt. Aber wenn der Philosoph nichts mehr an Direktiven zu geben vermag, so doch eine eindringliche Suggestion zur Eigentlichkeit. Also: Du magst tun, was du willst, du magst tun, was du mußt; aber tu es in einer Weise, daß du dir dessen, was du tust, intensiv bewußt bleiben kannst. Moralischer Amoralismus - das letzte mögliche Wort der Existentialontologie zur Ethik? Es scheint, das Ethos bewußten Lebens wäre das einzige, das in den nihilistischen Strömungen der Moderne sich behaupten kann, weil es im Grunde genommen keines ist. Es erfüllt nicht einmal die Funktion einer Ersatzmoral (von der Art der Utopien, die das Gute in die Zukunft legen und das Böse auf dem Weg dorthin relativieren helfen). Wer wirklich im Jenseits von Gut und Böse denkt, findet nur noch einen einzigen für das Leben belangvollen Gegensatz, der zugleich der einzige ist, über den wir ohne idealistische Überanstrengungen aus unserem eigenen Dasein heraus Macht haben: den zwischen bewußtem und unbewußtem Tun. Wenn Sigmund Freud in einer berühmten Forderung den Satz aufstellte: Wo Es war, soll Ich werden, würde Heidegger sagen: Wo Man () war, soll Eigentlichkeit werden. Eigentlichkeit wäre - frei interpretiert - jener Zustand, den wir erlangen, wenn wir in unserem Dasein ein Kontinuum der Bewußtheit herstellen. (Dies ist ein modemes Äquivalent für das Delphische Erkenne-Dich-Selbst. Das Freudsche Ich fällt eher ins Man. Ist der Psychoanalysierte ein Angepaßter, Nivellierter?) Nur das bricht den Bann der Unbewußtheit, unter dem menschliches Leben, zumal als vergesellschaftetes, lebt; das zerstreute Bewußtsein des Man ist dazu verurteilt, diskontinuierlich, impulsiv-reaktiv, automatisch und unfrei zu bleiben. Das Man ist das Müssen. Demgegenüber erarbeitet sich bewußte Eigentlichkeit - wir akzeptieren provisorisch diesen Ausdruck - eine höhere Qualität von Wachheit. Sie legt in ihr Tun den ganzen Nachdruck ihrer Entschiedenheit und Energie. Der Buddhismus spricht davon in vergleichbaren Wendungen. Während das Man-Ich schläft, ist das Dasein des eigentlichen Selbst zu sich erwacht. Wer sich selbst in einem kontinuierlichen Wachsein erforscht, findet aus seiner Situation, jenseits der Moralen, was für ihn zu tun ist.Wie tief Heideggers systematischer Amoralismus ** reicht, zeigt sich an seiner Umdeutung des Begriffs Gewissen: er konstruiert, zugleich vorsichtig und revolutionär, ein »gewissenloses Gewissen«. Galt Gewissen in den Jahrtausenden der europäischen Moralgeschichte als innere Instanz, die mir sagt, was Gut und Böse seien, so versteht Heidegger es nun als ein leeres Gewissen, das keine Aussagen macht. »Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens.« (Sein und Zeit, S. 273) Wieder erscheint Heideggers charakteristische Denkfigur, die nichts-sagende Intensität. Jenseits von Gut und Böse gibt es nur das »laute« Schweigen, das in tensive nicht-urteilende Bewußtsein, das sich darauf beschränkt, wach zu sehen, was der Fall ist. Gewissen - einst als inhaltliche moralische Instanz verstanden - nähert sich nun dem puren Bewußt-Sein. Moral, als Teilhabe an sozialen Konventionen und Prinzipien, betrifft nur das Verhalten des Man (). Als Domäne des eigentlichen Selbst bleibt nur reines entschlossenes Bewußtsein zurück: vibrierende Präsenz.
In einem pathetischen Gedankengang entdeckt Heidegger, daß dieses »gewissenlose Gewissen« einen Aufruf enthalte, der an uns ergeht - einen »Aufruf zum Schuldigsein«. Schuldig woran? Keine Antwort. Ist »eigentliches« Leben in irgendeiner Hinsicht denn a priori schuldig? Kehrt hier die christliche Erbsündenlehre heimlich wieder? Dann hätten wir den Moralismus nur zum Schein verlassen. Wenn aber das eigentliche Selbst sein als das Sein zum Tode beschrieben wird, so liegt der Gedanke nahe, daß dieser »Aufruf zum Schuldigsein« eine existentielle Verbindung herstellt zwischen dem eigenen Noch-am-Leben-Sein und dem Tod der anderen. Leben als Sterbenlassen; der eigentlich Lebende ist einer, der sich als Überlebenden versteht, als jemand, an dem der Tod eben noch vorübergegangen ist und der den Zeitraum bis zur erneuten, definitiven Begegnung mit dem Tod als Aufschub begreift. In diese äußerste Grenzzone amoralischer Reflexion dringt Heideggers Analyse sinngemäß vor. Daß er sich bewußt ist, auf explosivem Boden zu stehen, verrät seine Frage: »Aufrufen zum Schuldigsein, sagt das nicht Aufruf zur Bosheit?« Könnte es eine »Eigentlichkeit« geben, in der wir uns als entschiedene Täter des Bösen zeigen? So wie die Faschisten sich auf Nietzsches Jenseits von Gut und Böse beriefen, um äußerst diesseitig das Böse zu tun? Heidegger schreckt vor dieser Konsequenz zurück. Der Amoralismus des »gewissenlosen Gewissens« ist nicht als Aufruf zur Bosheit gemeint, so wird versichert. Immerhin macht sich der Heidegger von 1927 noch diese ahnungsvolle Sorge, versäumte aber 1933 den Augenblick der Wahrheit - und so ließ er sich von der aktivistischen, dezisionistischen und heroischen Phrasenhülle der Hitlerbewegung täuschen. Der politisch Naive glaubte, im Faschismus eine »Politik der Eigentlichkeit« zu finden und gestattete sich, ahnungslos wie nur ein ... Universitätsprofessor sein konnte, eine Projektion seiner Philosopheme auf die nationale Bewegung.Doch es gilt zu sehen: Heidegger wäre, seiner zentralen, Denkleistung nach, auch dann kein Mann der Rechten, wenn er politisch noch verworrenere Sachen gesagt hätte, als es der Fall ist. Denn er sprengte mit seinem, wie ich es nenne, Kynismus der Zwecke als erster die utopisch-moralistischen Großtheorien des 19. Jahrhunderts. Er bleibt mit dieser Leistung einer der Ersten in der Genealogie einer Neuen und Anderen Linken: einer Linken, die sich nicht mehr an die hybriden geschichtsphilosophischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts klammert; die sich nicht im Stil der dogmatisch-marxistischen Großtheorie (ich ziehe diesen Ausdruck dem Wort Weltanschauung vor) für die Komplizin des Weltgeistes hält; die nicht auf die Dogmatik der industriellen Entwicklung ohne Wenn und Aber eingeschworen ist; die die borniert materialistische Tradition, die sie belastet, revidiert; die nicht nur davon ausgeht, daß die anderen sterben müssen, damit die »eigene Sache« durchkommt, sondern die aus der Einsicht lebt, daß es dem Lebendigen nur auf sich selbst ankommen kann; die in keiner Weise mehr an dem naiven Glauben hängt, Vergesellschaftung wäre das Allheilmittel gegen die Mißstände der Modernität. Ohne es zu wissen und zum guten Teil sogar ohne es wissen zu wollen (hierzulande sogar mit wütender Entschlossenheit, es nicht wahrzuhaben), ist die Neue Linke eine existentialistische Linke, eine neo-kynische Linke ich riskiere den Ausdruck: eine Heideggersche Linke. Das ist, besonders im Land der Kritischen Theorie, die ein schier undurchlässiges Tabu über den »faschistischen« Ontologen verhängt hat, ein ziemlich pikanter Befund. Doch wer hat die Abstoßungsvorgänge zwischen den existentialistischen Richtungen und der links-hegelianischen kritischen Sozialforschung gründlich und genau untersucht? Gibt es nicht eine Fülle geheimer Ähnlichkeiten und Analogien zwischen Adorno und Heidegger? Welche Gründe beherrschen die augen fällige Kommunikationsverweigerung zwischen ihnen? (Dieser Fragen hat sich jüngst Hermann Mörchens große Studie über Heidegger und Adorno angenommen.) Wer könnte sagen, welcher von beiden die »traurigere Wissenschaft« formuliert hat?Und Diogenes? Hat sich das existentialontologische Abenteuer für ihn gelohnt? Hat seine Laterne die Menschen gefunden? Ist es ihm gelungen, das unsäglich Einfache in die Köpfe einzuträufeln? Ich glaube, er selber zweifelt daran. Er wird sich überlegen, ob er nicht das ganze Unternehmen Philosophie einstellt. Sie kommt nicht auf gegen die traurige Kompliziertheit der Verhältnisse. Die Strategie des Mitmachens-um-zu-ändern verwickelt den Änderer in die kollektive Melancholie. Am Ende ist er, der der Lebendigere war, nur noch der Traurigere, und es könnte auch kaum anders sein. Wahr scheinlich kündigt Diogenes eines Tages seine Professur, am Schwarzen Brett findet man bald darauf die Nach richt, daß die Vorlesungen von Professor X. bis auf weiteres ausfallen. Das Gerücht sagt, man habe ihn im American Shop gesehen, wo er sich einen Schlafsack gekauft habe. Zuletzt sah man ihn angeblich auf einer Mülltonne sitzen, ziemlich betrunken und vor sich hin kichernd wie einer, bei dem es im Kopf nicht ganz stimmt.Heidegger
läßt das subjektive Wissen der Autobiographik, ja die gesamte
Grundstellung der Subjektivität hinter sich zugunsten eines Andenkens
dessen, was er Seinsgeschichte nennt. Gadamer
sprengt den Horizont von Selbstbewußtsein zugunsten eines umfassend
angelegten Verständnisses von Überlieferungsgeschehen – ich
erinnere en passant an die einprägsame Formel: Nicht wir haben die
Tradition, sondern die Tradition hat uns.
|
Nur
im Phonotop ist die These ganz wahr, daß das Medium die Botschaft ist. In
diesem Selbstbeschallungsraum, in dem der Aufenthalt schon die Zustimmung zur
Lage einschließt, gilt die ... Grundsituation, daß das faktische Kommunizieren
miteinander in einem gegebenen Medium bereits den ganzen Inhalt der Kommunikation
ausmacht. .... Was die vielen Stimmen in ihrer gemeinsamen Sprache einander zu
sagen haben, läuft in der äußeren Beobachtung immer nur auf die
Botschaft hinaus, daß sie einander etwas zu sagen haben in der gemeinsamen
Sprache. Was von innen her wie Information erscheint, ist in extremer Wahrnehmung
bloße Kommunikation; was auch immer vokal und auditiv geschieht, gehört
zur Erzeugung von gruppentypischer Redundanz. .... Aus sich selbst kann ein Phonotop
keine Information erzeugen. .... Die Botschaft, die es an sich selber sendet,
besteht ausschließlich - um eine Radio-Metapher zu gebrauchen - in der Erkennungsmelodie
zur eigenen Sendung. .... Der Rest ist Autosuggestion. Unter diesem Winkel wahrgenommen,
bietet die moderne Audio-Massenkultur eine nahezu perfekte Rekonstruktion des
primitiven Phonotops - mit dem Unterschied, daß dieses für das Zusammensein
der Menschen mit ihresgleichen in einer sich allmählich entsichernden Welt
eine revolutionäre Notwendigkeit darstellte, sagen wir ein akustisches Immunsystem,
das der Gruppe half, im Kontinuum der Eigenstimmung zu bleiben, während der
aktuelle auditive Populismus auf eine einzige Regressionsübung aus ist, entschlossen,
die Ohren des Kollektivs zu verkleben und sie gegen Information, Andersklingendes,
Neuheit taub zu machen. Bis wohin das geht, zeigen neben der Populärmusik
die modernen Frauenzeitschriften, die sich darauf spezialisieren, die sogenannten
inneren Stimmen der Leserinnen einzufangen. Sie stellen ein anthropologisch informatives
Medium dar, weil sie die gedruckten Versionen des totalitären gossip
bilden. In ihnen wird die Verwechslung von Kommunikation mit Information methodisch
gesucht; das Nicht-Neue kommt jetzt immer als das Neueste daher - die aktuellsten
Beispiele für die ewige Wiederkehr des Gleichen sollen als Informationen
gelten. Diese Weiber-am-Brunnen-Ontologie setzt beinahe wahrheitsgemäß
voraus, daß unter der Sone nichts Neues möglich ist. Vom künstlichen
Licht und seinen Geschöpfen, den Innovationen, weiß man hier noch nichts.
Die »Gesellschaft« ist die Summe ihrer Sprechgesänge. Die phonotopische Funktion, als Selbstbestimmung der Gruppe über das Ohr verstanden, hat einen Bezug zu den Versprechen, mit denen sich die Zusammenlebenden über ihre Aussichten verständigen.Das Private erscheint ... als eine aus dem Gruppenlärm ausgesparte Enklave leiserer Kommunikationen, wenn nicht sogar als ein Raum der Stille, in dem die Einzelnen sich vom Kollektiv-Sound-Streß erholen. .... Was privatim gesprochen wird, soll unter uns bleiben, so sehr das erste Stadtmedium, der gossip, darauf aus ist, das Leise-Gesagte auf die Plätze zu tragen. Tatsächlich hat Klatsch - eine Form der Dikatur des Kollektivs - die Aufgabe, die Geheimnisträchtigkeit der Privatsphären gegenüber dem öffentlichen Raum anzumildern. Er ist die Fortsetzung des Gruppengemurmels mit städtischen Mitteln. .... Daß das Öffentliche eine Modifikation des Phonotops darstellt, zeigt sich in der europäischen Antike nicht nur in der Erfindung des tragischen Theaters mit seinen Chören und tönenden Masken, sondern auch in der Kultivierung der öffentlichen Ansprachen, die der Willensbildung in Volksversammlungen dienen. Was man später Politik nennen wird, ist zunächst nur eine Kulturform des lauten Redens - zu dem Zweck, mit einer durchdringenden Einzelstimme den Gruppenkörper durch das Gehör in die gewünschte Stimmung zu versetzen, sei es expressiv im Einklang mit der communis opinio, die im Plädoyer des Redners laut wird, sei es persuasiv mit dem Zweck, eine versammelte Menge umzustimmen und von ihrer anfänglichen Disposition zu entfernen. Erst Platon hat in seiner Politeia einen Typus von Politiker kreiert, der nicht mehr als Lautsprecher, sondern als Empfänger leiser Ideen fungieren sollte - mit schlechtem Erfolg, wie man weiß, da die Einführung des leisen Politikers bis heute auf sich warten läßt. Sie wäre eine contradictio in adiecto, weil Politik, als Kunst des im Lärm Möglichen, der lauten Seite des Phonotops zugeordnet bleibt. |
Das Thanatotop - die Provinz des Göttlichen - ... ist ein Ort der Heimsuchung durch abgelebtes Leben. Wo ihre Bewohner beisammen sind, machen sich Zeichen der Abwesenden beharrlich und subtil bemerkbar. Sind die Sterblichen von Abwesendem oder Transzendentem betroffen, so aus zwei Motiven, die sich bei näherem Zusehen auf völlig verschiedene Quellen zurückverfolgen lassen.Die erste haben wir ... im Blick auf das Auftauchen neuer Wahrheiten im Raum des Kollektivwissens () charakterisiert: Aus dem Verborgenen, das »hinter« dem aufgehellten Raum liegt, treffen hin und wieder Abkömmlinge in Form von neuen Erkenntnissen bei uns ein, die bezeugen, daß es nach außen, oben und unten quasi endlos weitergeht. Weil »Gesellschaften« vor Entdeckungen, Erfindungen und Einfällen nie in Sicherheit sind, können und müssen die Menschen wissen, daß es neue Wahrheiten gibt, die sie mitten im Leben treffen. Damit ist eine erste, die ontologische oder aletheiologische Transzendenz etabliert. (). Ganz offenkundig ist unser bisheriges und aktuelles Denken und Wissen eine Insel im Meer eines größeren Denkens und Wissens (); wer das berücksichtigt, wird begriefen, daß Intelligenz nur im Gefälle existiert: Ihr eigenes Mehr oder Weniger ist ihr Element. Intelligenz manifestiert sich darin, daß sie sich an dem orientiert, wovon sie sich überragt sieht (im Gegensatz zur strukturellen dummen Position des kritischen Bewußtseins, das sich an Unterlegenem ausrichtet, um überlegen zu sein, und Überlegenes herabsetzt, um sich an ihm nicht messen zu müssen).Die zweite Quelle der Betroffenheit durch Jenseitigleit und Abwesendes entspringt den Umstand, daß die Menschen, nach einer Sprachregelung der frühen Griechen, die Sterblichen sind - nicht nur in dem Sinn, daß sie den Tod vor sich, sondern mehr noch, daß sie ihre Toten hinter sich haben. Die zweite Transzendenz gründet in der Tatsache, daß man auf der anthropogenen Insel () die Ahnen im Rücken hat oder, um ein belastenderes Bild zu wählen, im Nacken. In allen Kulturen werden die lebendigen Erinnerungsbilder der Verstorbenen zu inneren und äußeren Imagines geformt, die den Verkehr der Lebenden mit den Toten regulieren. Diese Bildwelt wird zu einer psychosozialen Institution ausgebaut, deren Aufgabe es ist, die Wiederkehr der Verschwundenen in geordnete Bahnen zu lenken. Wo die Toten in geordneter Weise repräsentiert werden, spricht man von Kult, wo ihr dereguliertes Wiedererscheinen beobachtet wird, von Spuk.Zunächst macht sich die Ortsbezogenheit der Kult-, Spuk- und Andenken-Kulturen bevorzugt in den kleinräumigen Dimensionen der primitiven, lose territorialisierten Kollektive bemerkbar. Das Klima einer Humaninsel () ist anfangs daher immer dadurch mitbestimmt, daß sie eine Heimsuchungszone bildet - ein Thanatotop. Hundert Augen blicken hungrig von den Hügeln auf das Lager der Lebenden; unruhig schauen diese zurück, den Horizont prüfend in dem unbestimmten Gefühl, daß da jemand ist, auf dessen Wohlwollen man sich besser nicht zu sehr verläßt. Weil aber in den frühen Kulturen der Satz »Gott ist tot« durchwegs in seiner ursprünglichen Fassung »Der Tote ist Gott« in Kraft ist, kann man diese Dimension des Zusammenseins von Menschen mit ihresgleichen und anderem auch als Theotop oder Revier der Götter charakterisieren.Solange Menschen es mit dem Nahbereichsjenseits zu tun haben, sind sie von der Sorge bewegt, die Heimsucher aus dem Unsichtbaren nicht ständig allzu indiskret um sich zu haben. So versteht sich, warum ein Gott im Vollbesitz der Spukfähigkeit es noch nicht nötig hat, seine Existenz durch ein logisch geschultes Personal beweisen zu lassen. Die Deduktion der Götterbosheit kann sich nicht damit begnügen, auf die Rückkehrneigung der gekränkten Ahnen hinzuweisen. Das Böse und Furchtbare, das von außen kommt, ist für das Verständnis der Menschensphären so bedeutsam, weil es auf doppelte Weise in die Konstitution der kulturellen Kapseln einbezogen ist: Zum einen haben Menschen zu den ontologischen Insulanern, die sie sind, erst werden können, weil es ihnen in einer langen evolutionären Drift gelungen war, sich von der schädlichen Umwelt freizumachen und sich auf die anthropogene Insel () - die klingende Verwöhnungskapsel - zurückzuziehen; zum anderen führt dieser Rückzug nie bis zur völligen Unbelangbarkeit; die kulturelle Einkapselung gewährt den Sapienten nie mehr als eine partielle Freiheit von Nöten und Verletzungen. Die Überwältigung durch das Außen bleibt als Möglichkeit ständig gegenwärtig - erst recht durch die Gewalt, die aus dem Gruppeninneren kommt. Das heißt: das Prinzip Distanz wird durch das Prinzip Invasion unterwandert, das Ringen zwischen beiden Tendenzen bestimmt die Geschichte der Organismen wie der Kulturen. Man kann zeigen, wie der Humanraum durch die Anstrengung geformt wird, den Vorgang der Distanzierung vor der Invasion zu behaupten oder diese auch nach Niederlagen wiederherzustellen.Der typische Invasionsstreß verkörpert sich in drei Kategorien von Eindringlingen; zum einen in den Ahnen und Wiedergängern, mit deren Eindringen in die Gruppenpsyche regelmäßig zu rechnen ist; zum anderen in den natürlichen Aggressionen und Katastrophen, die aus der Umwelt in die Physis der Gruppe einfallen; und schließlich in den Neuwahrheiten, die aus den Erfindungen und Entdeckungen der Neuerer hervorgehen.Weil der menschliche Raum trotz seiner Abrundung in sich selbst unvermeidlich auch Invasionsraum bleibt, nimmt er die Züge eines kulturellen Immunsystems an. ... Durch Immunsysteme bauen lernende Körper ihre regelmäßig wiederkehrenden Stressoren in sich selbst ein. Genau dies entspricht der Funktion des Theotops (das aus dem Thanatotop emergiert): Die primitiven Götter sind die nach innen gezogenen Kategorien von Invasoren und Verletzern, mit denen eine gegebene Kulturgruppe chronisch rechnet. Gabriel Tarde hat in seinem Werk über Die Gesetze der Nachahmung () auf den möglichen Zusammenhang zwischen der universellen Verbreitung blutrünstiger Götter und der universellen Verbreitung blutrünstiger Tiere hingewiesen, um anzudeuten, daß überall dort, wo frühe Menschen großen Raubtieren zum Opfer fielen, die Umwandlung der faszinierenden Tiere in kultureigene Götter nahe lag. (Ebd., S. 296-300). Dies wäre einer symbolischen Zähmung der Raubtiere durch ihre potentielle Beute gleichgekommen. (Die Domestikation der Tiere geht der Domestikation der Götter voraus. Vgl. ebd., S. 303). Zugleich wird das xenopathische Bedürfnis der frühen Psyche, das Fasziniert-sein-Wollen durch hinreichend befremdliche Götter, befriedigt. In analoger Weise haben Katastrophentheoretiker die Geburt der großen Opferreligionen im Vorderen Orient aus der Panik-Hermeneutik damaliger Kulturen nach kosmischen Ereignissen wie riesigen Meteoriteneinschlägen auf der Erde und entsprechenden Himmelserscheinungen hergeleitet. Aus dem Astroterror wären damals formidable Götter entstanden, die ihren Gläubigen den Abgrund zwischen Menschenwelt und Jenseits zu fühlen gaben. Dazu paßt die Tatsache, daß das Zeichen für »Stern« im Sumerisch-Babylonischen () zugleich das Ideogramm () für Gott ist.Kein Zweifel, daß die Philosophie, wie Platon sie konzipierte, eine einschneidende Modifikation menschlichen Verhaltens im Theotop darstellte: Sie lancierte eine neue, wie immer minoritäre Art und Weise, die Navhbarschaft der »Lebenswelt« mit der Geisterwelt - nun zum Ideenhimmel transformiert . zu bewältigen. .... Was die christliche Kirche, das Großtheotop des Okzidents, angeht, so blieb in ihr noch lange Zeit die Idee lebendig, daß Menschen als Medien eines nicht allzu fernen Jenseits zuweilen über Sonderbegabungen wie Hellsicht, Heilkraft oder Zungenreden verfügen; was Paulus zu diesen »Gnadengaben« zu sagen hatte, beschränkt sich auf die Forderung nach deren vernünftiger Unterordnung unter den Kult des Herrn. (Vgl. 1. Brief an die Korinther, 12, I-II; 28-31).Manche afrikanische »Gesellschaften« kennen bis heute die Vorstellung, daß Kinder, die entweder nicht sprechen lernen oder zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sprechen aufhören, es verzögen, mit den Ahnen zusammen zu bleiben - weswegen die Überredung solcher Jungen zur Koexistenz mit den Lebenden nur dadurch geschehen kann, daß man sie vom Vorteil, geboren zu sein, zu überzeugen versucht. In den Augen ihrer Eltern oder Heiler sind solche »Toten Kinder« nicht »autistisch«; sie leben im Anderswo dichter eingebürgert als unter Menschen, so daß es, um sie hier anzusiedeln, darauf ankommt, das Band zu lockern, das sie an die andere Seite bindet.Die Vorstellung, daß böse Geister imstande seien, in die Körper von Fremden zu fahren, ist in so zahlreichen Kulturen verbreitet, daß man berechtigt ist, in ihr einen Elementargedanken zu sehen. Nach der Auffassung der Gläubigen dient eine solche Invasion dem Zweck, Menschen in Automaten der Dämonen umzuwandeln. Da die Eindringlinge vor Toten nicht halt machen, haben die Chinesen des Altertums zuweilen Mund und Anus von Verstorbenen mit Pfropfen aus Wachs oder Jade versiegelt. Bei manchen altgermanischen Stämmen fesselte man die Beine der Toten an den Rücken und begrub sie mit dem Gesicht zur Erde, um ihnen die Rückkehr zu erschweren.Das Interesse der Lebenden an der Totenwelt ist, wie bemerkt, zum großen Teil bedingt durch die Verwechslung der beiden Transzendenzen, an welche die Menschenwelt grenzt: Weil die Menschen nicht nur die Nachbarn ihrer Toten sind, sondern auch Anrainer des Horizonts, hinter dem sich, der gängigsten Unterstellung zufolge, die unenthüllten Wahrheiten oder transzendenten Ideen aufhalten, kann ihnen die Vorstellung plausibel erscheinen, die beiden Nachbarschaften gingen ineinander über, mehr noch, sie bildeten ein und denselben Raum. Hieraus folgt für sie, daß die Toten Zugang zum Unenthüllten genössen - und neben ihnen, wie wir im platonischen Seelenmythos erfahren, auch die Ungeborenen.Die Vorstellung, es werde sich spätestens post mortem alles herausstellen, hat in der festen Assoziation zwischen Totsein und Erlangung des End-Wissens ihren Grund. Ist die Verquickung der Transzendenz des Unbekannten mit jener der Toten erst vollzogen, drängt sich das Motiv der Totenbeschwörung zu Zwecken der Informationsbeschaffung aus dem Jenseitig-Endgültigen unwiderstehlich auf. Tatsächlich besitzen die Toten, weil sie alles hinter sich haben, diesem Schema zufolge einen größeren Anteil an den Wahrheiten, die im Perfekt stehen: Die subjektiv Gewesenen sind auch im objektiv Gewesenen, im Wesenhaften, wie die Metaphysik es verstand, zu Hause. In dieser hoch erwünschten Konfusion haben unzählige nekromantische Praktiken ihre Quelle, die von einfachen Totenorakeln bis zu Heraufbeschwörungen von Verstorbenen aus der anderen Welt reichen.So zieht die Götterdämmerung eine Totendämmerung nach sich. Unwichtig zu werden ist das gemeinsame Schicksal der Unsichtbaren. Man blickt auf sie zurück wie auf Tote ohne Testament, auf Vorfahren, von denen im Guten wie im Bösen nicht viel zu erben ist - entladene Batterien, die uns nicht mehr genug faszinieren, um uns von Drüben her zum Leuchten zu bringen. Um die letzten Untoten, die in ihren neurotischen Nachkommen spuken, kümmert sich eine Psychoanalyse, die begriffen hat, daß sie mehr ein inneres Bestattungsunternehmen für Eltern und GroßeItern ist als eine Form des Heilens. Der Gebrauchswert der großen Toten, die man als die Klassiker im kollektiven Gedächtnis mitführt, beschränkt sich auf die Rolle, für eine Gruppe von Zivilisierten eine gemeinsame Vergangenheit zu sichern. Vergangenheit dient jetzt als Basislager, von dem aus die futurisierte Zivilisation zu ihren Projekten aufbricht.Nach Hegel, dessen Einsichten in die Struktur des Kampfs um Anerkennung ... sozialphilosophisch zur Entfaltung kamen, hat ... Nietzsche mit seinem Satz »Das Du ist älter als das Ich« (Friedrich Nietzsche, Von der Nächstenliebe, in: Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73) das Hauptwort der Moralphilosophie ... geliefert. (Vgl. Ludwig Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, 1926 ). Während die Du-Philosophen behaupten, das Ich sei überall an der Macht und müsse die Lektion des Anderen, durch die es sehend würde, erst lernen, legt Nietzsche den Akzent auf die These, daß das Ich eine späte und unwahrscheinliche Errungenschaft sei, die dem immer schon herrschenden Vorrang des Anderen abgewonnen werden müsse - mehr noch, daß Wesen, die authentisch Ich sagen dürften, bisher noch gar nicht aufgetreten sind; was bis heute Egoismus hieß, war stets der Egoismus des Anderen in mir.Das xenophile und samaritanische Denken verbündet sich mit einem abgebrühten medialen Pragmatismus, der kein Mittel scheut, um der bestorganisierten Lobby virtueller und aktueller Opfer den Platz an der Subventionensonne zu verschaffen.Wie immer die Spannungen zwischen den Wortführeren der Sache von Getöteten und den Lebenden oder Überlebenden inszeniert werden: Es ist nicht zu verhindern, daß auch die Xenologie, das letzte Aufgebot des Antinaturalismus, früher oder später gegen die Wand der biosphärischen Tatsachen stößt.Je aggressiver der Biopositivismus sich in Szene setzt, desto paradoxer wird die Tatsache, daß der Tod sich zuletzt doch alle holt. Die boomende life sciences stellen die jüngste Fassung dieses Absurditätsmanagements dar. Indem sie alles vom Leben wissen wollen, um noch energischer für das Leben, oder was sie so nennen, Partei zu ergreifen, verdunkeln sie den Sachverhalt, daß Biologie der Natur ihres Gegenstands gemäß, nur als Bio-Thanatologie, daß life sciences nur als life-and-death-sciences möglich sind. Wer von Biotopen spricht, ohne die Thanatotope zu berücksichtigen, hat sich der Desinformation verschreiben.Wer die Erde als das integrale Bio-Thanatotop der Menschheit vorstellt, gewinnt jedenfalls Ansichten einer Ganzheit, die eher monströs als erhaben wirkt. Das Organon des Monströsen hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Gestalt der Ökologie ausgebildet - neben der Kybernetik und der mehrwertigen Logik das einzige wirkliche Novum in der Kognitionslandschaft unserer Zeit. Sie ist der Nachvollzug des Monströsen in Form einer Wissenschaft von Gleichgewichten und Ungleichgewichten in Lebensprozessen jenseits menschlicher Perspektiven.Infolge der Propagierung der Ökologie als herrschender Denkform wird früher oder später vielen deutlich, daß das letzte Kapitel der Geistesgeschichte der Reibung zwischen dem Absolutismus des Menschlichen und der Gleichgültigkeit der biosphärischen Prozesse gegenüber menschlichen Interessen gehört. Nietzsches Postulat, eine höhere Kultur müsse dem Menschen ein Doppelgehirn oder zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden, bewahrheitet sich auf unvorhergesehene Weise. Tatsächlich müssen die Menschen der Zukunft ihren eigenen Vitalelan mit der systemischen Ansicht der Biosphäre vereinbaren, für welche Leben und Tod nur zwei Aspekte desselben Geschehens darstellen. In diesem transhumanen Doppelwissen zeigt sich die für Menschen verbindliche Form der Weisheit in biologisch aufgeklärten Zivilisationen. Weisheit bezeichnet den modus vivendi, der ein Wissen lebbar macht, von dem man um des Lebens willen keine Kenntnis haben dürfte.Nähme man an, daß sich die Population von Homo sapiens auf der Erde gegen Ende des 21. Jahrhunderts bei einer Obergrenze von 10 Milliarden Individuen stabilisiert, so hätte man ein Bio-Thanatotop vor sich, das bei einer sehr zivilisierten globalen Mortalitätsquote von 1,5 Prozent, sprich einer Lebenserwartung von 75 Jahren gattungsweit, nicht weniger als 150 Millionen »natürliche« Todesfälle per annum aufwiese; das entspräche sieben NS-Terror-Epochen oder dreißig Hitlerschen Holocausten beziehungsweise vier Stalin-Ären oder drei Mao-Tsetungschen Reformverhängnissen. Das Monströse solcher Zahlen liegt darin, daß sie zur Statistik einer befriedeten Menschheit gehören werden. Für den Exterminismus der Rechten gibt es Zahlen, für den der Linken Schätzungen. Hartmut Böhme hat in seinem Aufsatz Genozid im 20. Jahrhundert - Perspektiven der UN-Konvention von 1948 gegen Völkermord, in: Paragrana - Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Band 10, 2001, S. 124-148, die Ergebnisse quantitativer und vergleichender Genozidforschung zitiert, nach denen im Lauf des 20. Jahrhunderts bis 1987 mehr als 161 Millionen Terrortote zu verzeichnen waren, der größte Teil hiervon infolge von staatlichen Vernichtungspolitiken gegen eigene Bevölkerungen, wobei die Zahlen aus linkstotalitären Regimen mit weitem Abstand führen.Angesichts solcher Verhältnisse ist einzusehen, daß es absurd wäre, für sie verantwortlich sein zu wollen. Sollte man den abgenutzten Begriff Menschenwürde nachschärfen, würde seine Definition lauten: Diese Disproportionen zur Kenntnis nehmen und handeln, als ob es auf jeden zusätzlichen Tag im Leben jedes einzelnen Menschen ankäme. |
Alle menschlichen Insulationsgruppen (), die sich in Generationsprozessen bewähren und dadurch in ihrer Eigenschaft existieren, haben an einem wenig untersuchten Stabilitätsgeheimnis Anteil, ohne das man ihren Bestand schwerlich begreifbar machen kann: Sie erzeugen in sich selbst eine Normenarchitektur (), die genügend Überpersönlichkeit, Imposanz und Torsionsfestigkeit aufweist, um von den Anwendern als geltendes Gesetz, als verbindliche Satzung und zwingende Regelwirklichkeit empfunden zu werden. Dieser sittliche Äther besitzt, um mit Hegel zu reden, die Merkmale des objektiven Geistes (): Er ist den Einzelnen vorgeordnet wie etwas, das ihrem Gutdünken unberührt gegenübersteht und sich gleich Götternamen, Mythen und Ritualen eines Stammes stabil, oder nur unmerklich verwandelt, durch Generationen vererbt. Die Sterblichen kommen und gehen, die Formen, die Gesetze bleiben.Im Jahr 1949 notierte Wittgenstein: »Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.« Wir nennen das Wirkungsfeld solcher Regeln das Nomotop. .... Wittgensteins blitzende Bemerkung trägt der Doppelung im Begriff des Ordens Rechnung, indem sie hinsichtlich gegebener Kulturen das einzelne konkret Ordensartig-Eingerichtete betont wie auch die Regel hevorkehrt, der das Einrichten folgt. Man könnte diesen Doppelsinn in den zwei Sätzen: »Kultur ist ein Text« und »Kultur ist eine Syntax« wiedergeben. Hinsichtlich der Architektur des Gemeinwesens würde das zu den Thesen führen: »Kultur ist ein Gebäude« und »Kultur folgt einer Raum-Erzeugungsregel«.Wo immer die Humaninsel () Konturen annimmt, entsteht eine Regelspannung, die bezeugt, daß in ihr eine Hausordnung in Kraft ist - für die Angehörigen (bis auf Ausnahmesituationen) eher unmerklich, für Fremde auffällig oder befremdlich, für Philosophen ein Motiv zum Nachdenken über den Geist der Institutionen und die Institutionalität von Geist.Wer sich auf der Humaninsel () aufhält, macht die Beobachtung, daß ihre Bewohnergruppe unter einer lokalen Regelspannung steht - eine Spannung, die für die soziale Statik von elementarer Bedeutung ist. Daß das normative Klima einer Gruppe mit ihrer Stabilität, also ihrer Überlebensfähigkeit, positiv korreliert, ist eine frühe Intuition der Weisen und Ältesten in allen Völkern - keine der anfänglichen Überlebensgemeinschaften hat es sich jemals leisten können, ihre Sitten, ihre Formen, ihre Dogmen leicht zu nehmen.Was ich ... vorschlage, ist eine Übung im sphärischen Denken - wobei Sphäre dem griechischen Wortsinn gemäß mit Kugel übersetzt werden soll. .... Nachdenken über Gewalt könnten beginnen mit dem Andenken jener Hyper-Kugel, die hier ohne weitere Rechtfertigung als Sein bezeichnet werden soll.In-der-Welt-Sein heißt In-der-Gewalt-Sein ... bis hin zu Gottes gewaltiger Hand, in deren Griff manche, wie man hört, sich wohler fühlen als in jeder anderen übersteigbaren Schale. .... In-der-Welt-Sein heißt In-der-Gewalt-Sein .... Wenn es hieß, In-der-Welt-Sein sei seinem Grundzuge nach immer schon auch ein In-der-Gewalt-Sein, so sollte das nicht in der ... Radikalisierung gelten. .... Vielleicht ist alle Geschichte nur die Geschichte von Gewaltlösungen.Um von Gewalt und ihrer Auflösung oder Teilung zu sprechen, kommen wir nicht umhin, einige Sätze über den Menschen als alten Läufer und alten Werfer zu sagen. Dies ist zunächst nichts Neues: Wer ins Kino geht, riskiert immer eine anthropologische Lektion, und wer Aktions-Kino liebt, ist eo ipso der Paläoanthropologie nahe, weil action, wie ich zeigen werde, den lange vermißten Schlüssel zum Affe-Mensch-Übergangsfeld liefert. ... Der Moderne action-Film ist eine Gattung experimenteller Vor- und Frühgeschichtsschreibung, die mit den Mitteln avancierter Film-Technik die archäologischen Geheimnisse der Menschheit bearbeitet. Im action-Kino kommt ein Aspekt der Wahrheit über das menschheitsbildende Inaugural-Ereignis an den Tag, das man summarisch überschreiben könnte: die Sezession der Menschenhorden von der Alten Natur. .... Die beiden Universalien des Aktions-Kinos - Laufen und Schießen - sind in der Regel die Sequenzen verbunden, die Cineasten »Verfolgungen« nennen. Um kaum etwas anderes geht es auch bei dem vorgeschichtlichen Großereignis, aus dem der Homo sapiens hervorgeht - als das Llauftier, das zu zwei Fünfteln seiner Länge aus Bein besteht und das Mensch wird, weil es Verfolgungen übersteht. Dazu war es nötig, daß der Frühmensch sich vom Flüchter zum Gegnangreifer transformierte - vor allem mittels geworfener Steine und geschwungener Äste.Die gestische Einheit von Laufen auf der Flucht, Sichumdrehen und Werfen nach dem Angreifer ist das älteste Aktions-Muster der Menschheit - es ist eben jenes Muster, das die Hominisation vorantreibt und die Entstehung eines spezifisch menschlichen Gruppeninnenklimas ermöglicht. Durch die singuläre Verschränkung von Laufen- und Werfen-Können bildet sich um die Inhaber solcher Sonderkompetenzen ein unsichtbarer Ring, ein Abstand von aller übrigen Natur, die von nun an Menschenwesen nicht mehr dazu zwingen kann, sich über bloße Körperanpassung auf ihre Umwelt einzustellen.Im Innem des unsichtbaren Rings werden beim Menschen die Köpfe merkwürdig groß, die Häute merkwürdig dünn, die Frauen merkwürdig schön, die Sexualität merkwürdig chronisch, die Kinder merkwürdig infantil. Die alten Menschen-Horden sind schwimmende - oder besser: fliehende - Inseln, auf denen sich die Natur das Experiment einer Luxus-Evolution mit »Welt«-Folgen gestattet. Weil Menschen als Läufer, Werfer und Schläger dem direkten Druck tierischer Konkurrenten erfolgreich ausweichen, wird aus ihnen die Gattung, die den Kopf hebt, ins Feld schaut und vor Wachheit zittert. Theoretisches Verhalten entsteht beim Menschen außerordentlich früh - gewissermaßen aus dem Wachheitsüberschuß, der dem Aufmerksamkeitstier Mensch die Augen freigibt für luxurierende Blicke in das stille Feld.Wenn oben gesagt wurde, alle Geschichte sei die der Gewaltlösungen (), so wäre jetzt hinzuzufügen: Sie ist die Geschichte des Davonkommens aus Verfolgungen und die Geschichte des Übergehenkönnens von der Flucht in den Gegenangriff. Man könnte geradezu von der Geburt des Menschen aus dem Geist des Gegenangriffs sprechen. Am Anfang war die Gegengewalt - das heißt die Gewaltflucht, die durch Würfe Grenzen in den Raum zieht.Das Distanztier Horden-Mensch lebt auf einer Insel von Umweltabstand, die durch das Integral von Flucht und Gegenangriff aus der Alten Natur ausgegrenzt wird. Daher läge es nahe, die alten Horden mitsamt ihren hochkulturellen Nachfolgern in Völkern und Nationen als soziale Flöße zu verstehen, die auf dem Meer der Alten Natur driften, mit der erst spät verdeutlichten Tendenz, die zeitlose Drift in historische Fahrt zu überführen.Nun wird verständlich, warum die gesamte Paläohistorie Variationen über die Motive Werfen und Schießen bieten muß. Tatsächlich ist der Mensch, soweit er sich im Gegenangriff selbst erfunden hat, ein artilleristisches Tier - Werfer, Schütze, Distanzerzeuger mit den Mitteln des Geschosses und der geworfenen Grenzsteine. Wenn wir bedenken, daß die ersten »Grenzen« nicht gezogen oder gesetzt, sondern geworfen wurden (um danach als Niemandsländer zwischen den Werfern leer zu bleiben), dann wird die archaische Suggestivkraft von Schußwaffen im allgemeinen und der Feuergefechte im Aktions-Kino im besonderen sehr plausibel.Der Aktions-Historismus erinnert daran, daß das Horden-Ego überall dort zu Distanz- und Abgrenzungskämpfen Anlaß findet, wo die alten Akteure auf ihren Ausflügen aufeinanderstoßen. Wer bei schweifenden Fahrten auf andere schießt, ist nicht immer nur der coole Killer oder der lonely Cowboy; er könnte ebensogut ein alter Jäger sein, der Horden-Außenpolitik macht - nicht in territorialen Begriffen, sondern in Vorstellungen einer so imaginären wie realen Intaktheit des Horden-Egos, das in seinen innerlich relativ befriedeten informellen Revieren durch den gewalterfüllten Weltkessel driftet.Daher gibt uns der Rückblick auf die Hominisation in der Horde Gelegenheit, über jene Artillerie vor der Artillerie nachzudenken, die von der Menschwerdung insgesamt untrennbar scheint. .... Hätte Heidegger die »Terminator«-Filme noch sehen können, so hätte er, dessen bin ich sicher, nicht länger behauptet, daß der Mensch dasjenige Seiende ist, das sich selbst zu entwerfen hat, sondern dasjenige, das schlechthin zum Werfen verdammt ist.Wer vom Werfen reden will, darf vom Treffen nicht schweigen. So nähern wir uns jetzt der dunklen Seite dieser Überlegungen, denn es muß von der Beziehung der Schützen und Werfer zu den getroffenen Objekten die Rede sein, wobei ich die Erwägung vorausschicke, es könne sich hierbei um den Prototypus dessen handeln, was man neuzeidich eine Subjekt-Objekt-Beziehung nennt. Mit der Frage nach dem Treffen ist das Terminator-Motiv zum ersten Mal angerührt, denn die Treffer, von denen die älteste Jägerfolklore ebenso wie die neueste Killer-Automaten-Phantasie lebt, sind eben die terminalen, die terminierenden, die Voll-Treffer, die Schlußpunkte hinter das autonome Dasein des Objekts setzen.Die Objektbeziehungen der Schützen sind von einer Art, die man als glücklichen Sadismus charakterisieren könnte. Auf ein Objekt schießen heißt nicht nur, es aus dem Weg schaffen oder von den Füßen bringen wollen: Ein »wahrer« Schuß erkennt im Anderen ein Etwas, das sich dort aufuält, wo besser ein Nichts wäre, und ist daher, wenn er zum Volltreffer führt, die »Herstellung« dieses genauen Nichts an der Stelle des falschen bisherigen Etwas. In solcher Sicht wäre jeder Art von Artillerie ein latentes Terminator-Motiv inhärent. Wo immer im Ernst geschossen wird, wird das Nichts eingeladen, mit dem bisherigen Etwas Platz zu tauschen. Der Kult des Treffers, der durch alle action-Filme geht, ist eine immerwährende Auslöschungszeremonie, die das ursprüngliche Vernichtungswunder der Horden-Menschheit nachfeiert, als wäre es etwas, worauf auch der heutige Sapiens-iactans nicht verzichten kann. Wenn ich den Ausdruck »Vernichtungswunder« gebraucht habe, ohne von der Formulierung sofort moralisch abzurücken, dann geschah das nicht in der Absicht, eine schwarze Messe theoretisch vorzubereiten, sondern um ein paläoanthropologisches Theorem über die primären Machterfahrungen unserer Horden-Menschheitsgeschwister plausibel zu machen. Denn in der Ich-Bildungsgeschichte der Gattung sind Vernichtungen älter als Schöpfungen, und das Auslöschen ist grundlegender als das Erfinden. Terminieren geht über Inaugurieren - wieso? Die Antwort ergibt sich aus den Grundgegebenheiten der Hordenwirklichkeit.Die Gruppe driftet - umgeben von der unsichtbaren Eihaut ihrer Naturdistanz - auf dem alten Naturmeer dahin, ein ... Floß in einem gefahrenträchtigen Weltbottich. Der mag wohl im Durchschnitt laue Temperaturen bieten und die Flößer, solange es wenige sind, ernähren: Er umschließt sie aber wie für immer mit seiner undurchdringlichen Gewalt- und Machthülle, die den Menschen in eine ambivalent-urpassivische, zugleich geborgene und geprßte Stellung bringt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, was ursprüngliches Werfen und Treffen bedeuten konnte: den Anfang nämlich einer unendlich langsamen und mühevollen Gegenmachtergreifung, an deren Ende auch so treffende Sätze wie der cartesianische vom Menschen als maitre et possesseur de ta nature möglich wurden.Mit den ersten Treffern kommen Menschen in die Zone eines neuartigen Rausches, sie springen auf und werden von revolutionären Hochgefühlen geschüttelt. Ja, man kann sagen, Ich-Orgasmen rufen das Subjekt hervor. Das Treffen setzt einen euphorischen Ich-bildenden Sadismus ins Werk, der wahrscheinlich den roten Faden der psycho-evolutionären Prozesse überhaupt darstellt. Es handelt sich um einen Sadismus, der das Ich aufgehen läßt - in dem Maß, wie es sich in der artilleristische Macht erfiihrt, ein Objekt untergehen zu lassen. Hier zuerst bricht der Mensch durch in die technisch-magische Zone. Ihrer Natur nach konnte diese zunächst keine andere als eine vernichtungs-magische sein; die Verwandlungs- und Herstellungsmagien werden dem Pfad folgen, den die Verneinungs-Magien mit Wurf und Schuß telekausal ausgetreten haben.Denen, die Mühe haben, sich diese Zusammenhänge bildlich vorzustellen, kann unter Hinweis auf ein aktuelles Phänomen in der Subkultur des Sports geholfen werden. Man frage sich nur, in welchem Kontext wir zu Zeugen der heftigsten Lustäußerungen werden, die von menschlichen Wesen zu vernehmen sind. Die Gipfelpantomimen unserer Pornoköniginnen sind flache Komödien im Vergleich mit den Torschützenorgasmen, die im Zentrum aller Berichterstattungen über große Fußball-Turniere stehen. Es genügt, die Gesten der Helden auf dem Rasen nach erfolgreichen Torschüssen ernsthaft anzuschauen, um zu begreifen, daß hier Wildformen ekstatischer Genugtuungen durchbrechen, für die es im gesamten Spektrum zivilisatorischer Gesten kaum ein Äquivalent gibt. Es handelt sich, wollte man nur richtig zusehen, oft um Ausbrüche von einer geradezu sakralen Obszönität ... Das sind die Samstagsgebete der modernen Menschheit, die mitgeheult werden von Millionen von Zuschauern vor den Bildschirmen und in den Stadien. Es sind Spontangebete der aufbewahrten Frühgeschichte, neben denen die monotheistischen Sonntagsrituale gekünstelt wirken.Ich bin davon überzeugt, daß diese maskulinen Schützen-Orgasmen und Treffer-Kulte Nachbildungen des primärsadistischen Jubels sind, mit dem die ersten Jäger und Werfer ihre anfiinglichen, wie auch immer prekären Siege über die alte Natur zelebrierten. Die Geschichte des menschlichen Könnens folgt in ihrem Erfolgskern dieser sadistischen Achse, auf der das Subjekt im Triumph über das getroffene und vernichtete Objekt zu sich kommt. Die ominöse Grausamkeit von Kindern ist manchmal noch von dieser Art. Macht, die sich selber will, strebt von Grund auf diesem Attraktionspol zu. Sie fiebert nach dem Hochgefühl, gegenüber einer an allen anderen Fronten übergewaltigen Natur endlich auch einige Siege erringen zu können. Sie tut erste Schritte zu einem Ausbruch aus dem Naturkessel - ballistische Vorspiele zu der metaphysischen Idee der Weltüberwindung.Daher ist es motivisch völlig richtig, daß im modernen Aktionsfilm auf seinem vorläufigen Höhepunkt, dem zweiten »Terminator«, der Killerautomat als Alliierter des kleinen Messias auftritt - ebenso wie es richtig ist, daß die Löcher, die er mit schweren Handfeuerwaffen seinem Gegenspieler in Kopf und Bauch schießt, nun endlich als explizite Löcher gezeigt werden können, dank computergenerierter Bilder. Endlich sieht jeder ohne weitere Vermittlung, worauf es beim Terminieren ankommt: ein Loch dort entstehen lassen, wo zuvor etwas Volles, Widersacherisches, Falsches war- »ohne Erledigung von Störung kein Überleben« (alte Höhlenweisheit).Was aber, wenn die Welt im Ganzen als Störung auffällt? Wie, wenn die Erde zur Zielscheibe einer letzten umfassenden Beschießung wird? Einfache Helden in Aktion orientieren sich, wie wir wissen, an der gesunden Idee vom vernichtenden Treffer. Terminatoren im letzten Gefecht hingegen orientieren sich an dem heilbringenden Auftrag, die globalen Vernichter zu vernichten. Globalvernichtung meint die Phantasie, daß die gesamte Menschheit in einem nuklearen Kessel gegart werden wird. Was das neue Terminator-Syndrom vom gewöhnlichen Artillerie-Nihilismus unterscheidet, ist der metaphysische Zusatz, daß ein paar richtige Treffer für die Rettung der Menschheit sorgen können. Wer mit Erfolg auf diejenigen schießt, die drohen, auf alles zu schießen, wird zum Erlöser mit der Schußwaffe als Heilszeichen. (Zitat-Ende). |
Die Depression als existentielle Erfahrung der Schwere ist in leztzter Instanz kein psychiatrisches, sondern ein philosophisches Thema.Carlos
Oliveira fragt Peter Sloterdijk: |
Der Theologe (aus
Sloterdijks Gespräch über das Oxymoron*): |
Plurale Sphärologie - Schäume () |
Es ist möglich, mit dem dritten Teil von Sphären zu beginnen, als ob er der erste wäre. (). Er ist es in gewisser Hinsicht tatsächlich, weil das Unternehmen im ganzen nur von seinem abschließenden Pol her zu überblicken ist. .... In den beiden vorausgehenden Bänden wird der Versuch unternommen, dem Ausdruck Sphäre den Rang eines Grundbegriffs zu verleihen, der sich in topologische, anthropologische, immunologische, semiologische Bedeutungsaspekte verzweigt. Sphären I schlägt eine (der Autor meint: stellenweise neue) Beschreibung des menschlichen Raumes vor, die betont, daß durch das nahe Zusammen-Sein von Menschen mit Menschen ein bisher zu wenig beachtetes Interieur gestiftet wird. Wir nennen dieses Innen die Mikrosphäre und charakterisieren es als ein sehr empfindliches und lernfähiges seelenräumliches (wenn man will moralisches) Immunsystem. Der Akzent wird auf die These gesetzt, daß das Paar gegenüber dem Individuum die wirklichere Größe darstellt - was zugleich bedeutet, das die Wir-Immunität gegenüber der Ich-Immunität das tiefere Phänomen verkörpert. In einer Zeit, die auf die Elementarteilchen () und die Individuen schwört, versteht sich eine solche These nicht von selbst. ... In Sphären II werden aus Einsicht in die ekstatisch-surreale Natur des erlebten und bewohnten Raums Konsequenzen gezogen. Dies geschieht in Form einer großen Erzählung über die Expansion des Seelischen im Zuge von imperialen und kognitiven Weltbesetzungen. ... Sphären III, Schäume, bietet eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters unter dem Gesichtspunkt, daß das »Leben« sich multifokal, multiperspektivisch und hterarchisch entfaltet. Ihr Ausgangspunkt liegt in einer nicht-metaphysischen und nicht-holistischen Definition des Lebens: Seine Immunisierung kann nicht mehr mit Mitteln der ontologischen Simplifikation, der Zusammenfassung in der glatten Allkugel, gedacht werden. Wenn »Leben« grenzenlos vielfältig räumebildend wirkt, so nicht nur, weil jede Monade () ihre je eigene Umwelt hat, sondern mehr noch, weil alle mit anderen Leben verschränkt und aus zahllosen Einheiten zusammengesetzt sind. Leben artikuliert sich auf ineinander verschachtelten simultanen Bühnen, es produziert und verzehrt sich in vernetzten Werkstätten. Doch was für uns das Entscheidende ist: Es bringt den Raum, in dem es ist und der in ihm ist, jeweils erst hervor. So eindrucksvoll sich der Zusammenhang zwischen der Morphologie des Schaums und der primitiven Zoogenese im Licht der neueren Lebenswissenschaften darstellen mag, für uns beginnt das Abenteuer der Raum-Vielheiten erst mit dem Eintritt in anthropologische und kulturtheoretische Kontexte. Mittels des Konzepts Schaum beschrieben wir Agglomerationen von Blasen im Sinne unserer früher vorgelegten mikrosphärologischen Untersuchungen (vgl. Sphären I - Blasen). Der Ausdruck steht für Systeme oder Aggregate von sphärischen Nachbarschaften, in denen jede einzelne »Zelle« einen selbstergänzenden Kontext bildet, einen intimen, von dyadischen und pluripolaren Resonanzen gespannten Sinn-Raum oder einen »Haushalt«, der in seiner jeweils eigenen, nur von ihm und in ihm selbst erlebbaren Animationen schwingt.Über den Stand der Kreis- und Kugel-Ideen im 20. Jahrhundert - die Weltlehre betreffend - informiert eine Anekdote, die Albert Speer () in seine Erinnerungen festgehalten hat: Im Frühsommer 1939 hatte Adolf Hitler (der zusammen mit Gandhi im Jahr zuvor als Kandidat für den Friedensnobelpreis gehandelt worden war), seiner Universalherrschaftspläne gewiß, eine Änderung an dem gemeinsam mit Speer entworfenen Modell für die monumentale neue Reichskanzlei in Berlin vorgenommen. Nun sollte der Reichsadler an der Spitze des 290 Meter hohen Kuppelbaus nicht mehr, wie bisher vorgesehen, über dem NS-Symbol, dem Hakenkreuz, schweben. Hitler habe diktiert:»...
Die Bekrönung dieses größten Gebäudes der Welt muß
der Adler über der Weltkugel sein.« Ist es noch nötig zu erläutern, warum dieses Diktum Aufschluß gibt über die Verwesungsgeschichte der politischen Metaphysik? Seit jeher hatte diese sich, wo sie deutlich redete, als imperiale Monosphärologie geäußert - und wenn Hitler in seiner Träumerei das Hakenkreuz durch die Weltkugel ersetzt, ist auch er für eine Sekunde ein klassischer Philosoph. Etwas schwieriger ist zu verstehen, wie die Verwesung der monosphärischen Gotteslehre voranschritt. Ihren Beginn könnte man anhand folgender Betrachtung des Abbé Sieyès aus dem Jahre 1789 erläutern: »Ich
stelle mir das Gesetz als Mittelpunkt einer gewaltigen Kugel vor; |
Inselluft macht frei: |
Mit der
Emergenz der Anthroposphären aus der Savanne entstehen selbstrahmende Einheiten,
die als Menschentreibhäuser ontologische Bedeutung erwerben. In diesen Treibhäusern
werden Lebewesen mit dem unvergleichlichen Merkmal Weltoffenheit herangezogen.
Man könnte sie als Plantagen bezeichnen, in denen Gehirne und Hände
vom Sapiens-Typus gezüchtet und programmiert werden. Über die Klimatisierung
und Instandhaltung solcher Häuser war bis vor kurzem so wenig bekannt wie
über die operating instructions des Raumschiffs Erde. Die klassischen
Grobheiten, die unter dem Titel Politik, und die Vagheiten, die unter dem der
Moral überliefert sind, liefern für eine effektive Kybernetik der Großtreibhäuser
nur provisorische Orientierungen. Weil der zivilisatorische Weg allein noch offen
ist, muß man sich heute auf die Explizitmachung der bisher in Institutionen
und Metaphern gebundenen Betriebsbedingungen der Atmosphäre einlassen.
Im synoptischen Rückblick auf die drei Typen der produzierenden Inseln ... erkennen wir, daß die beiden erstgenannten, die absoluten Inseln oder Raumstationen und die relativen Inseln oder Treibhäuser, nichts anderes sind als Selbstdarstellungen des ontologischen Inseltyps in vereinfachten Modellen. Die Raumstationen sind informativ, weil sie den Ernstfall der Umwelt-Umkehrung zur Voraussetzung haben: Als Vakuum-Implantate von Lebensräumen projizieren sie das Ortsgeheimnis der Menschen ins Weltall. Sie sind die signifikantesten Außenstellen der anthropogenen Insel, da sie am kosmischen Ernstfall demonstrieren, daß Menschen, wo immer sie sich aufhalten, von einem Innenraumprivileg profitieren müssen. Wer Mensch bleiben will, ist noch im Weltall verwöhnungspflichtig. ... Wie der Aufbruch zur Raumstation markiert die Errichtung von Treibhäusern einen Einschnitt in den Vorstellungen vom Verhältnis zwischen den Menschen und der sogenannten äußeren Natur. Mit ihnen kam die Natur endlich als die nicht-äußerliche, als Hausgenossin in der Republik der Wesen, zur Darstellung, ... (...), so daß die Prämissen für eine adäquate Anthropo-Topologie erfüllt sind: Nimmt man die bemannte Raumstation und das bewohnte Treibhaus zusammen, erhält man den Ort, der seine Einwohner erklärt: die Menscheninsel. Der Ort des Menschen muß so gedacht werden, daß er einerseits wie das Implantat einer »Lebenswelt« in eine Nicht-Lebenswelt erscheint, andererseits wie ein Biotop, in dem menschliche und nicht-menschliche Symbionten als Treibhausgenossen koexistieren. Es gehört zu den ältesten Denkfehlern der Anthropotopier, daß sie es nicht lassen konnten, die Natur als eine äußere Macht aufzufassen: In Wahrheit war die relevante Natur immer schon ins Innere des anthropischen Treibhauses mit hineingenommen.Tatsächlich bezieht sich die Verdrängung der werdenden Menschengruppe nicht auf ihr natürliches Habitat, die afrikanische Graslandschaft, sondern auf ihre eigene herkömmlich tierische Art und Weise des In-Seins im naturalen Milieu. .. Die Verdrängung bewirkt eine zunehmende Umstellung von Umweltrelevanzen (wie natürlichen Feinden und Nahrungsquelle) auf Eigenrelevanzen - auf Arbeiten, Zeichen, Eifersüchte, auf Statuswettbewerbe, Komfort, Gemeinschaftsaufgaben, auf Wahrheitsfragen, Ausdrucksbedürfnisse und numinose Imperative. Je weiter die Emergenz der Humaninsel vorangeht, desto stärker wird die tierische Befangenheit in einem angeborenen oder erworbenen Relevanzraum zurückgedrängt - immer mehr freie Wahrheit steht dann für die Wahrnehmung der Gesamtzustände zur Verfügung.Das ist es, was die idealistische Philosophie () in ihrer heroischen Zeit () mit der Formulierung meinte, daß die Natur selbst im Menschen die Augen aufschlägt. Man könnte paradoxerweise davon sprechen, daß das Umgebungselement Benommenheit durch das Auftauchen der Wachheits- und Wahrheitsinsel verdrängt wird: Die Humaninsel klimatisiert sich selbst durch Vigilanzüberschüsse () und freigesetzte Wahrnehmungsumsichten. Die Aufmerksamkeit ihrer Bewohner wird unendlich viel mehr durch Unterscheidungen und Zwischenfälle in ihrem eigenen Bereich provoziert als durch Ereignisse in der äußeren Umwelt. Während das umgebende animalische und pflanzliche Leben aus gebundener Intelligenz besteht, entspringt auf der ontologischen Insel ein Typus von Intelligenz, der sich als frei oder ekstatisch charakterisieren läßt. Um das Paradoxon perfekt zu machen: Die anthropische Ekstase ist die Verdrängung der animalischen Gebundenheit. Deswegen sind die Humaninseln Welten, das heißt: Seins-Sannelstellen und Erfolgsdeponien. An ihnen bestätigt sich die unvordenkliche Liaison zwischen Wachheit und Wahrheit - oder zwischen Intelligenz und Erfolg. Die ontologischen Inseln sind Orte, an denen das Offene das Gebundene verdrängt. In phänomenologischer Sprache heißt das, daß hier der wache Geist aus einem Element von Befangenheit emergiert.Die Menschensphäre steigt auf, indem sie ihre eigene animalische Prämisse zurückdrängt. Menschsein bedeutet die erworbene Unfähigkeit, ein Tier zu bleiben. In metaphysischer Ausdrucksweise ergibt das die These, daß wir uns auf der Insel der Idee befinden, die kraft ihrer Unendlichkeit die Endlichkeit der empirischen Umgebungen in den Hintergrund schiebt. Demnach wäre das Unendliche eine Enklave in den endlichen Umständen. Es klaffte auf wie ein Abgrund nach oben, als eine Unterbrechung des Lebens, das eine Vision vom Mehr-als-Leben zu tragen hat. Das verstehe, wer kann. Wie auch immer man es ausdrückt: Die Rauminseln der Menschen sind gegen das Offene vorgeschobene Posten.Jeder Haushalt, jedes Paar, jede Resonanzgruppe bilden als Zellen im Schaum bereits eine Miniatur des ganzen Anthropotops. .... Durch diese Sicht entsteht ein neues Verständnis für die Leistungen des impliziten Wissens. Wir haben notiert, daß alle Menschen latent Soziologen sind, in der Regel aber keinen Grund sehen, warum sie es manifest werden sollten. Inzwischen läßt sich einsehen, wieso der Übergang ins Manifeste normalerweise überflüssig ist.So wie die meisten Kinder unauffällig in die Komplexitäten der Syntax ihrer Muttersprache hineinwachsen, erwirbt jeder durchschnittliche Insulaner durch seine bloße Teilnahme an den Lebensspielen der Primärgruppe die Kompetenz, sich in jeder einzelnen der anthropotopischen Dimensionen mit ausreichender Sicherheit zu bewegen. Dasein heißt die gesamte Syntax des Anthropotops verstehen - dieses Verstehen zu verstehen ist eine andere Sache. Was Heidegger in Sein und Zeit für das Chirotop oder die zuhandene Welt ausgeführt hatte: daß sie aufgrund ihrer alltäglichen Vertrautheit in nicht-diskursiver Helligkeit den Grundzug der Erschlossenheit aufweist, ist mutatis mutandis für die übrigen Dimensionen zu reklamieren. Der erwachsene Bewohner der anthropogenen Insel nimmt deren innere Gespanntheit und Verfugung mit einem einzigen Blick wahr. Das Unwahrscheinlichste ist für ihn zum Selbstverständlichen geworden; für die Bewohner der ontologischen Insel bleiben die Implikationen der Grundsituation anfangs in makelloser Dichte eingefaltet. Das zuhandene Zeug, der tönende Raum, die generalisierte Mutterwelt, die Verwöhnungssphäre, das Feld der Wünsche und des Begehrens, die Kooperationen mit den anderen, die Beanspruchung durch die Wahrheit, die Heimsuchung durch die Götter und die Spannung der Gesetzesforderung: der gesamte Faltenwurf des Überkomplexen, in dem sie sich mit ruhiger Übersicht bewegen, erscheint ihnen wie eine nahezu glatte Oberfläche, über die fürs erste kaum ein Wort zu verlieren nötig scheint. (Zitat-Ende). |
Übung statt ReligionEin Gespenst geht um in der westlichen Welt - das Gespenst der Religion. Landauf, landab wird uns von ihr versichert, nach längerer Abwesenheit sei sie unter die Menschen der modernen Welt zurückgekehrt, man tue gut daran, mit ihrer neuen Präsenz ernsthaft zu rechnen. Anders als das Gespenst des Kommunismus, der im Jahr 1848, als sein Manifest erschein, kein Wiederkehrer war, sondern eine Neuheit unter den drohenden Dingen, wird der aktuelle Spuk seiner wiedergängerischen Natur vollauf gerecht. Ob er nun tröstet oder droht, ob er als guter Geist begrüßt oder als irrationaler Schatten der Menschheit gefürchtet wird, sein Auftritt, ja schon dessen bloße Ankündigung, verschafft sich Respekt, wohin man sieht ....Ich darf daran erinnern: Marx und Engels hatten das Kommunistische Manifest in dem Vorsatz geschrieben, das Märchen von einem Gespenst namens Kommunismus durch eine angreiferische Selbstaussage des wirklichen Kommunismus zu ersetzen. Wo bloße Geisterfurcht vorgeherrscht hatte, sollte begründete Furcht vor einem realen Feind des Bestehenden entstehen. Auch das vorliegende Buch widmet sich der Kritik eines Märchens und ersetzt es durch eine positive These. In der Tat, dem Märchen von der Rückkehr der Religion nach dem »Scheitern« der Aufklärung muß eine schärfere Sicht auf die spirituellen Tatsachen entgegengestellt werden. Ich werde zeigen, daß eine Rückwendung zur Religion ebensowenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion - aus dem einfachen Grund, weil es keine »Religion« und keine »Religionen« gibt, sondern nur mißverstandene spirituelle Übungssysteme ....Damit wird die leidige Unterscheidung zwischen »wahrer Religion« und Aberglauben gegenstandslos. Es gibt nur mehr oder weniger ausbreitungsfähige, mehr oder weniger ausbreitungswürdige Übungssysteme. Auch der falsche Gegensatz zwischen den Gläubigen und Ungläubigen entfällt und wird durch die Unterscheidung zwischen Praktizierenden und Ungeübten bzw. Andersübenden ersetzt.Tatsächlich kehrt heute etwas wieder - doch die geläufige Auskunft, es sei die Religion, die sich zurückmelde, kann kritische Nachfragen nicht befriedigen. Es handelt sich auch nicht um die Rückkehr einer Größe, die verschwunden gewesen wäre, sondern um einen Akzentwechsel in einem nie zertrennten Kontinuum. Das wirklich Wiederkehrende, das alle intellektuelle Aufmerksamkeit verdiente, hat eher eine anthropologische als eine »religiöse« Spitze - es ist, um es mit einem Wort zu sagen, die Einsicht in die immunitäre Verfassung des Menschenwesens. Nach mehrhundertjährigen Experimenten hat sich die Einsicht abgeklärt, daß Menschen, gleichgültig unter welchen ethnischen, ökonomischen und politischen Bedingungen sie leben, nicht nur in »materiellen Verhältnissen«, vielmehr auch in symbolischen Immunsystemen und rituellen Hüllen existieren. Von deren Gewebe soll im folgenden die Rede sein. Warum ihre Webstühle hier mit dem kühlen Ausdruck »Anthropotechniken« bezeichnet werden, mag sich im Gang der Darstellung selbst erläutern.Für einen Augenblick war das ethische Programm der Gegenwart scharf ins Blickfeld gekommen, als Marx und die Junghegelianer die These artikulierten, der Mensch selbst erzeuge den Menschen. Was dieser Satz besagte, wurde im Nu von einem anderen Geschwätz verstellt, das von der Arbeit als der eigentlich wesentlichen Handlung des Menschen sprach. Wenn aber der Mensch tatsächlich den Menschen hervorbringt, so gerade nicht durch die Arbeit und deren gegenständliche Resultate, auch nicht durch die neuerdings viel gelobte »Arbeit an sich selbst«, erst recht nicht die alternativ beschworene »Interaktion« oder »Kommunikation«: Er tut es durch sein Leben in Übungen.Als Übung definiere ich jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der globalen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht.Wer von der Selbsterzeugung des Menschen spricht; ohne von seiner Formung im übenden Leben zu reden, hat das Thema von vornherein verfehlt. Wir müssen praktisch alles, was über den Menschen als Arbeitswesen gesagt wurde, suspendieren, um es in die Sprache des Übens bzw. des selbstformenden und selbststeigernden Verhaltens zu übersetzen. Nicht nur der ermattete homo faber, der die Welt im Modus »Machen« vergegenständlicht, hat seinen Platz im Zentrum der logischen Bühne zu räumen, auch der homo religiosus, der sich mit surrealen Riten an die Überwelt wendet, darf den verdienten Abschied nehmen. Gemeinsam treten Arbeitende und Gläubige unter einen neuen Oberbegriff. Es ist an der Zeit, den Menschen als das Lebewesen zu enthüllen, das aus der Wiederholung entsteht. Wie das 19. Jahrhundert kognitiv im Zeichen der Produktion stand, das 20. im Zeichen der Reflexivität, sollte die Zukunft sich unter dem Zeichen des Exerzitiums präsentieren.Während die Psychoanalyse auf dem Theorem von der Wiederkehr des Verdrängten aufbaute, geht eine Ideen- und Verhaltensanalyse wie die hier vorgelegte auf das Theorem von der Wiederkehr des Unverstandenen zurück. Rotationsphänomene dieses Typs sind unvermeidlich, solange das, was da war, untertaucht und wieder emporkommt, in seiner Eigenart nicht ausreichend begriffen wurde. Bei dem Vorhaben, der Sache selbst auf den Grund zu gehen, ist nur voranzukommen, wenn man den Gegenstand weder bejaht noch ablehnt, vielmehr mit einer tiefer ansetzenden Explikation beginnt. Dies ist ein Projekt, das durch eine Vorhut von Forschern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurde .... Erst der spätere Nietzsche hat in seinen diätologischen Überlegungen der 1880er Jahre - man denke an die entsprechenden Seiten in seiner Selbstkreuzigungsschrift Ecce homo - Ansätze zu einer Lebensübungslehre bzw. einer allgemeinen Asketologie vorgelegt. Mögen sie auch von flüchtigen Lesern als Rückzug der Philosophie auf das apothekische Niveau mißverstanden worden sein (typisch hierfür Oswald Spengler in: Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 462 [], der in Nietzsches Wende zum Lebenskunstbewußtsein ein Symptom für das »Klimakterium der Kultur« [ebd., S. 459 ] erkennen wollte - er sah darin ein Beispiel für die Dekadenz, die ihm zufolge das »zivilisatorische« Stadium der Kulturen bezeichnet, in dessen Verlauf verfallen die erhabenen metaphysischen Weltanschauungen zu Ratgebern für Einzelne in ihren Alltags- und Verdauungssorgen), wer sie mit der gebührenden Aufmerksamkeit studiert, kann in ihnen die seminalen Ideen zu einer umfassenden Theorie des übenden Lebens entdecken.Die hier vorgeschlagene Übersetzung der religiösen, spirituellen und ethischen Tatsachen in die Sprache und Optik der allgemeinen Übungstheorie versteht sich als ein aufklärungskonservatives Unternehmen - ja sogar ein konservatorisches in der Sache selbst. Ein doppeltes Bewahrungsinteresse liegt ihm zugrunde. Zum einen bekennt es sich zu dem Kontinuum kumulativen Lernens, daß wir Aufklärung nennen und das wir Gegenwärtigen, allen Gerüchten von neuerdings eingetretenen »post-säkularen« Verhältnissen zum Trotz, als den inzwischen schon vier Jahrhunderte überspannenden Lernzusammenhang moderner Zeiten weitertragen; zum anderen nimmt es die zum Teil jahrtausendealten Fäden auf, die uns an frühe Manifestationen menschlichen Übungs- und Beziehungswissens binden, vorausgesetzt, wir sind bereit, explizit an ihnen anzuknüpfen.Hegel ging so weit, zu erklären, die Wahrheit sei wesentlich Resultat - sie stehe darum unvermeidlich erst am Ende ihres Dramas. Wo sie sich in fertiger Gestalt enthülle, feiere der menschliche Geist den Sonntag des Lebens. Da ich mich hier nicht mit dem Begriff des Begriffs befassen möchte und mit dem Konzept etwas anderes vorhabe, begnüge ich mich mit einer etwas weniger triumphalen, doch nicht weniger verbindlichen Theorie. Es gibt kognitiv Neues unter der Sonne.In der Fülle der kognitiven Neuheiten unter der modernen Sonne gibt es keine, die an Folgenreichtum auch nur von ferne mit dem Auftauchen und Bekanntwerden der Immunsysteme in der Biologie des späten 19. Jahrhunderts vergleichbar wäre. Seither kann in den Wissenschaften von den Integritäten - den animalischen Organismen, den Arten, den »Gesellschaften«, den Kulturen - nichts mehr so bleiben, wie es war. Erst zögernd hat man begonnen zu verstehen, daß es die Immundispositive sind, durch welche die sogenannten Systeme erst eigentlich zu Systemen werden, die Lebewesen zu Lebewesen, die Kulturen zu Kulturen. Allein aufgrund ihrer immunitären Qualitäten steigen sie auf in den Rang von selbstorganiserenden Einheiten, die sich unter ständigem Bezug auf eine potentiell wie aktuell invasive und irritationsträchtige Umwelt erhalten und reproduzieren.Jede Geste des »Hineingehaltenseins« ins Offene, um mit Heidegger zu reden, schließt das zuvorkommende Gefaßtsein des lebenden Systems auf die Begnung mit potentiell todgebenden Irritations- und Invasionsmächten ein. .... Der Zug ins Offene geschieht evolutionär mehrstufig. Obwohl praktisch alle Organismen oder Integritäten in die Überraschungs- und Konflikträume erster Stufe transzendieren, die ihnen jeweils als ihre Umwelten zugeordnet sind (sogar Pflanzen tun dies, und Tiere um so mehr), erreichen nur die wenigsten - so viel wir wissen allein die Menschen - die Transzendenzbewegung zweiter Stufe. Kraft dieser wird die Umwelt zur Welt entgrenzt, als Integral aus Manifetsem und Latentem. Der zweite Schritt ist das Werk der Sprache. Diese errichtet nicht nur das »Haus des Seins« - Heidegger entlieh die Wendung bei Zarathustras Tieren, die dem Genesenden vorhalten: »ewig baut sich neu das Haus des Seins«; sie ist auch das Vehikel für die hausflüchtigen Tendenzen, miot denen der mensch kraft seiner inneren Überschüsse dem Offenen entgegensteht. Unnötig zu erklären, warum erst beim zweiten Transzendieren der älteste Parasit der Welt, die Überwelt, in Erscheinuzng tritt.Vorläufig genügt es, festzuhalten, daß die Fortsetzung der biologischen Evolution in der sozialen und kulturellen zu einer Aufstufung der Immunsysteme führt. Wir haben Grund, bei Menschen nicht bloß mit einem einzigen Immunsystem zu rechnen, dem biologischen, das in evolutionärer Sicht an erster, in entdeckungsgeschichtlicher jedoch an letzter Stelle steht. In der Humansphäre existieren nicht weniger als drei Immunsysteme, die in starker kooperativer Verschränkung und funktionaler Ergänzung übereinandergeschichtet arbeiten: Über dem weitgehend automatisierten und bewußtseinsunabhängigen biologischen Substrat haben sich beim Menschen im Lauf seiner mentalen und soziokultuellen Entwicklung zwei ergänzende Systeme zur vorwegnehmenden Verletzungsverarbeitung herausgebildet: zum einen die sozio-immunologischen Praktiken, insbesondere die juristischen und solidaristischen, aber auch die militärischen, mit denen Menschen in »Gesellschaft« ihre Konfrontationen mit fern-fremden Aggressoren und benachbarten Beleidigern oder Schädigern abwickeln; zum anderen die symbolischen beziehungsweise psycho-immunologischen Praktiken, mit deren Hilfe es den Menschen von alters her gelingt, ihre Verwundbarkeit durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen mehr oder weniger gut zu bewältigen. Es gehört zur Ironie dieser Systeme, daß sie einer Explikation ihrer dunklen Seite fähig sind, obwohl sie von Anfang an bewußtseinsabhängig existieren und sich für selbsttransparente Größen halten. Sie funktionieren nicht hinter dem Rücken der Subjekte, sondern sind ganz in deren intentionales Verhalten eingebettet - nichtsdestoweniger ist es möglich, dieses Verhalten besser zu verstehen, als es von seinen naiven Agenten verstanden wird. Weil es sich so verhält, ist Kulturwissenschaft möglich; und weil nicht-naiver Umgang mit symbolischen Immunsystemen heute zu einer Überlebensbedingung der» Kulturenselbst geworden ist, ist Kulturwissenschaft nötig.Wir werden es in diesem Buch naturgemäß vor allem mit den Manifestationen der dritten Immunitätsebene zu tun bekommen. Ich trage Materialien zur Biographie des Homo immunologicus zusammen, wobei ich mich durch die Annahme leiten lasse, hier sei vor allem der Stoff zu finden, aus dem die Anthropotechniken sind. Ich verstehe hierunter die mentalen und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewißheiten zu optimieren. Erst wenn diese Prozeduren in einem breiten Tableau der menschlichen »Arbeiten an sich selbst« erfaßt sind, lassen sich die jüngsten gentechnischen Experimente evaluieren, auf die man in der aktuellen Debatte den 1997 wiedergeprägten Begriff »Anthropotechnik« gern verengt. Was ich zu diesem Gegenstand aus heutiger Sicht zu sagen habe, werde ich im Gang der Darstellung ad hoc einflechten. Die Tendenz meiner Stellungnahme läßt sich bereits am Titel dieses Buchs ablesen: Wer darauf achtet, daß es heißt: »Du mußt dein Leben ändern!« und nicht: »Du sollst das Leben verändern!«, hat schon im ersten Durchgang verstanden, worauf es ankommt.Der Übergang von der Natur in die Kultur und umgekehrt steht seit jeher weit offen. Er führt über eine leicht zu betretende Brücke - das übende Leben.Die effektivsten Anthropotechniken entstammen der Welt von gestern - und die heute lautstark angepriesene oder verworfene Gentechnik wird für lange Zeit, selbst wenn sie in größerem Maßstab beim Menschen praktikabel und akzeptabel würde, am Umfang dieser Phänomene gemessen nur eine Anekdote bleiben.Religionen gibt es nicht.Ich erinnere an die in der Einleitung (S. 21f. ) erläuterte These, daß es beim Menschen nicht nur ein Immunsystem gibt, sondern deren drei, wobei die religiösse Komplex fast ganz in den Funktionskreis des dritten Immunsystems fällt.Auf der Wiederholung ruht der Bestand der Welt - womit gegen das Einmalige nichts gesagt ist, außer daß man es mißbraucht, wenn man nur um das Goldene Kalb »Ereignis« tanzt. Es liegt in der Natur der Naturen, Wiederholungssysteme für das Bewährte zu sein, und für Kulturen gilt das in nahezu gleichem Maß.Der Mensch ist ein Lebewesen, das zur Unterscheidung der Wiederholung verdammt ist. .... Was seine Vernunft trübt, sind ncht zufällige Irrtümer und okkasionelle Wahrnehmungefehler - es ist die ewige Wiederkehr der Klischees, die wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen.Das ursprüngliche ethische Leben ist reformatorisch. Stets will es die schlechte Wiederholung gegen die gute tauschen. Es möchte korrupte Lebensformen durch integre ersetzen. Es strebt danach, dem Unreinen auszuweichen und ins Reine einzutauchen. .... In diesem Rahmen emergiert individualisierte Freiheit in ihrer ältesten und heftigsten Gestalt.Durch die Sezession der Übenden wird das gesamte Ökosystem menschlichen Verhaltens auf veränderte Grundlagen gestellt. Wie alle Explizitmachungen bewirkt auch das Auftauchen der frühen Übungssysteme eine radikale Modifikation des jeweiligen Bereichs.Der Mensch ist ein Lebewesen, das nicht nicht üben kann - wenn üben heißt: ein Aktionsmuster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird.Das Gesetz der steigenden Unwahrscheinlichkeit öffnet die Aussicht auf zwei Überforderungen in einer: Was sich zur Stunde auf der Erde abspielt, ist auf der einen Seite eine real voranschreitende Integrationskatastrophe - die ... Globalisierung. Durch sie werden die bisher verstreut lebenden Fraktionen der Menschheit, die sogenannten Kulturen, zu einem instabilen und von Ungleichheiten zerrissenen Kollektiv auf hohem Transaktions- und Kollisionsniveau synchronisiert. Auf der anderen Seite vollzieht sich eine voranschreitende Desintegrationskatastrophe, die sich auf einen zeitlich nicht festgelegten, jedoch nicht endlos aufschiebbaren Crash-Punkt zubewegt. Von den beiden Ungeheuerlichkeiten ist die zweite bei weitem die wahrscheinlichere, weil sie auf der Linie der laufenden Prozesse liegt. Ihr leisten vor allem die Produktions- und Konsumverhältnisse in den Wohlstandregionen und Entwicklungszonen der Erde Vorschub, sofern sie in blinder Überausbeutung endlicher Ressourcen gründen. Die Vernunft der Nationen erschöpft sich noch immer in dem Bemühen, Arbeitsplätze auf der Titanic zu erhalten. Die Crash-Lösung ist auch deswegen wahrscheinlich, weil sie einen hohen psychoökonomischen Kostenvorteil mit sich bringt. Sie brächte die Erlösung von den chronischen Spannungen, die infolge der globalen Evolution auf uns einwirken. Die Auftürmung des Mount Improbable zu den Höhen einer operativ integrierten Welt»gesellschaft« wird bloß von den glücklichen Naturen als ein Projekt erfahren, an dem mitzuwirken sie vitalisiert. Sie allein erfahren das Dasein in der Gegenwart als ein stimulierendes Privileg und möchten zu keiner anderen Zeit gelebt haben. Weniger glückliche Naturen haben den Eindruck, noch nie habe In-der-Welt-Sein () so müde gemacht. Was liegt da näher als die Formel der Massenkultur: der Unterhaltung den Vorrang geben und im übrigen damit rechnen, daß kommt, was kommen muß?»Handle so, daß die Wirkungen deines Handelns verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« Damit nimmt der metanoetische Imperativ für die Gegenwart, der den kategorischen zum absoluten steigert, hinreichend scharfe Konturen an. Er stellt die harte Forderung auf, uns auf die Monstrosität des konkret gewordenen Universellen einzulassen. Er verlangt von uns den Daueraufenthalt im Überforderungsfeld enormer Unwahrscheinlichkeiten.Ich soll die Wirkungen meines Handelns in jedem Augenblick auf die Ökologie der der Weltgesellschaft hochrechnen. .... Mögen die meisten neuen Volksgenossen für mich auch unerreichbar bleiben, weil »Menschheit« weder eine gültige Adresse noch eine begegnungsfähige Größe darstellt: Ich habe dennoch den Auftrag, ihre reale Gegenwart bei jeder eigenen Operation mitzubedenken. Ich soll mich zu einem Fakir der Koexistenz mit allem und allen entwickeln und meinen Fußabdruck in der Umwelt auf die Spur einer Feder reduzieren. .... Da es von dieser Forderung kein Entrinnen gibt, es sei denn das Ausweichen in die Betäubung, stellt sich die Frage, ob sich ein vernünftiges Motiv darstellen läßt, mit dessen Hilfe die Kluft zwischen dem erhabenen Imperativ und der praktischen Übung zu überbrücken wäre. Ein solches Motiv läßt sich - stellt man die Phantome des abstrakten Universalismus beseite - allein aus einer Überlegung der Allgemeinen Immunologie gewinnen.Immunsysteme sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verletzungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. (Vgl. die 3 Imumnsysteme bei Menschen ). Während sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorganismus bezieht, betreffen die beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen, sprich die kooperativen, transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz. Das solidaristische System garantiert Rechtsicherheit, Daseinsvorsorge und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils eigenen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, Kompensation der Todesgewißheit und generationenübergreifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: »Leben« ist die Erfolgsphase eines Immunsystems. Wie das biologische Immunsystem können auch das solidaristische und das symbolische Phasen der Schwäche, ja sogar der Beinahe-Erfolglosigkeit durchlaufen. Solche äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung der Menschen als Labilität des Wertbewußtseins und als Ungewißheit hinsichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusammenbruch ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend.Das starke Merkmal von Systemen dieses Typs liegt darin, daß sie das Eigene nicht im Horizont des organismischen Egoismus definieren, sondern sich in den Dienst eines ethischen oder multiethnischen, institutionell und intergenerationell erweiterten Selbstkonzepts stellen. Dadurch wird begreiflich, warum sich die evolutionären Ansätze zu einem animalischen Altruismus, die sich in der natürlichen Fortpflanzungs- und Brutpflegebereitschaft der Arten manifestieren, auf der menschlichen Stufe zu Kulturaltruismen fortbilden. Das Rationale dieser Entwicklung liegt in der Größerformatierung des Eigenen. Was aus der Perspektive des Eizelnen altruistisch erscheint, ist Egoismus auf der Ebene der größeren Einheit: In dem Maß, wie die Individuen als Agenten ihrer lokalen Kultur zu handeln lernen, dienen sie dem erweiterten Eigenen, indem sie am engergefaßten Eigenen Abstriche machen. Dieses implizite immunologische Kalkül liegt Opfern und Steuern, Manieren und Diensten, Askesen und Virtuositäten zugrunde. Alle wesentlichen Kulturphänomene gehören zu den Gewinnspielen der überbiologischen immunitären Einheiten.Diese Überlegung macht eine Erweiterung des Immunitätsbegriffs erforderlich: Sobald man es mit Lebensformen zu tun bekommt, an denen das zoon politikón Mensch mitwirkt, muß mit dem Vorrang der überindividuellen Immunitätsbündnisse gerechnet werden. In solchen Verhältnissen ist individuelle Immunität nur als Ko-Immunität zu haben. Sämtliche historischen Sozialverbände von den Urhorden bis zu den Weltreichen sind in systemischer Sicht als Ko-Immunitätsstrukturen erklärbar.Die aktuelle Weltlage zeichnet sich dadurch aus, daß sie keine effiziente Ko-Immunitätsstruktur für die Mitglieder der »Weltgesellschaft« besitzt. Auf der höchsten Ebene ist Solidarität noch ein leeres Wort. Für sie trifft nach wie vor das Diktum des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt zu: »Wer Menschheit sagt, will betrügen« (). Der Grund hierfür liegt auf der hand: Die effektiven ko-immunitären Solidaritätseinheiten sind heute wie in alter Zeit familial, tribal, national und imperial, neuerdings auch in regionalen strategischen Bündissen formatiert und funktionieren - falls sie funktionieren - gemäß den jeweiligen Formaten der Eigen-Fremd-Differenz. Die erfolgreichen Überlebensbündnisse sind darum bis auf weiteres partikular - auch »Weltreligionen« können der Natur der Dinge gemäß nicht mehr sein als Provinzialismen im Großen (). Sogar der Begriff »Welt« ist in diesem Kontext ein ideologischer Ausdruck, weil es den Makro-Egoismus des Westens und anderer Großmächte hypostasiert und nicht die konkrete Ko-Immunitätsstruktur aller Überlebensanwärter auf der globalen Bühne beschreibt. Noch immer rivalisieren die Teilsysteme miteinander nach einer Logik, die aus den Immungewinnen der einen regelmäßig die Immunverluste der anderen macht. Die Menschheit bildet keinen Superorganismus () - wie manche Systemtheoretiker voreilig behaupten - sie ist bis auf weiteres nicht mehr als ein Aggregat aus höherstufigen »Organismen«, die noch keineswegs in eine operationsfähige Einheit höchster Ordnung integriert sind.Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen. Sie ist mit Geschichte des Protektionismus und der Externalisierung identisch. Die Protektion bezieht sich immer auf ein lokales Selbst, die Externalisierung auf eine anonyme Umwelt, für die niemand Verantwortung übernimmt. Diese Geschichte umspannt die Periode der Humanevolution, in der die Siege des Eigenen nur mit der Niederlage des Fremden zu bezahlen sind. In ihr dominieren die heiligen Egoismen der Nationen und Unternehmen. Weil aber die »Weltgesellschaft« den Limes erreicht und die Erde mitsamt ihren fragilen atmosphärischen und biosphärischen Systemen ein für alle Mal als den begrenzten gemeinsamen Schauplatz menschlicher Operationen dargestellt hat, stößt die Praxis der Externalisierung auf eine absolute Grenze. Von da an wird ein Protektionismus des Ganzen zum Gebot der immunitären Vernunft. Die globale immunitäre Vernunft liegt um eine ganze Stufe höher als all das, was ihre Antizipation im philosophischen Idealismus und im religiösen Monotheismus zu erreichen vermochten. Aus diesem Grund ist die Allgemeine Immunologie die legitime Nachfolgerin der Metaphysik (oder aber selbst eine Metaphysik; Anm. HB) und die reale Theorie der »Religionen« (oder aber selbst eine Religion, eine Neu-Religion []; Anm. HB).Die Geschichte des zu klein verstandenen Eigenen und des zu schlecht behandelten Fremden erreicht ihr Ende in dem Moment, in dem eine globale Ko-Immunitätsstruktur unter respektvoller Einbeziehung der Einzelkulturen, der Partikularinteressen und der lokalen Solidaritäten entsteht. Diese Struktur würde in dem Moment planetarisches Format annehmen, in dem die von Netzwerken überspannte und von Schäumen überbaute Erde als das Eigene und der bisher dominierende ausbeuterische Exzeß als das Fremde konzipiert werden. Mit dieser Wende würde das konkret Universelle operationell. Das hilflose Ganze verwandelt sich in eine protektionsfähige Einheit. An die Stelle einer Romantik der Brüderlichkeit tritt eine kooperative Logik. Menschheit wird ein politischer Begriff. .... Die Einsicht, daß gemeinsame Lebensinteressen höchster Stufe sich nur im Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen lassen, muß sich früher oder später ... geltend machen. Sie drängt auf eine Makro-Struktur globaler Immunisierungen: Ko-Immunismus.Eine solche Struktur heißt Zivilisation. Ihre Ordensregeln sind jetzt oder nie zu verfassen. Sie werden die Anthropotechniken codieren, die der Existenz im Kontext aller Kontexte gemäß sind. Unter ihnen leben zu wollen würde den Entschluß bedeuten: in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen. (Zitat-Ende). |
Einsamkeitstechniken: Sprich mit dir!Auch die zweite der ... Voraussetzungen für die Existenz in rezessiver Subjektivierung, die Sprachkontrolle, muß streng gehandhabt und immer von neuem bestätigt werden, da der Adept seine Mühen auf dem Weg zur Selbstregierung nur durchhält, wenn ihm fortwährend stabilisierende Informationen aus dem geschlossenen Sprachspielkreis des Heils- und Übungswissens zufließen. Dieses Erfordernis wird durch die Einrichtung einer methodisch geregelten Selbstgesprächspraxis erfüllt. Hier läßt sich übrigens einfach aufzeigen, daß und warum das übende Leben, anders als beliebte Klischees von der mystischen oder überrationalen Qualität spiritueller Vorgänge suggerieren, zu einem sehr großen Teil von nach innen verlegten rhetorischen Phänomenen abhängt und daß mit dem Stillstand der endorhetorischen Funktionen - seltene Zustände meditativer Trance wie der samadhi ausgenommen - das spirituelle Leben als solches zum Erliegen kommt. Die sogenannte Mystik ist zum größten Teil eine endorhetorische Praxis, bei der den raren Momenten, in denen nicht geredet wird, die Aufgabe zukommt, endlose Reden von den Wundern des Nichtberedbaren zu befeuern.Aus dem Universum der endorhetorischen Praktiken - zu denen in den theistischen Übungssystemen die Gebete, die Ritualrezitationen, die Monologien (Ein-Wort-Litaneien) und die magischen Evokationen hinzukommen, die uns hier nichts angehen - möchte ich drei Typen hervorheben, ohne die die Existenz von rezessiv stabilisierten Übungsträgern unvorstellbar ist. Auf all diese Redeformen ist der von Thomas Macho geprägte Begriff der »Einsamkeitstechniken« anzuwenden - damit sind Verfahren bezeichnet, dank welcher Menschen im Rückzug sich selbst Gesellschaft zu leisten lernen. (Macho hat seine Thesen über Einsamkeit als medial gestützte Entzweiungstechnik und als Form der sozialen bzw. gegensozialen Raumbildung in einer aufsehenerregenden Vorlesung im Wintersemester 1995/96 an der Humboldt-Universität Berlin entwickelt). Mit ihrer Hilfe gelingt es den rezessiv Vereinzelten, wie die Geschichte der Eremiten und zahlloser anderer Sezessionäre zeigt, ihre mehr oder weniger rigide Selbstausgrenzung aus der Welt nicht als Verbannung zu erleben. Eher gestalten sie ihre Anachorese zu einer heilsträchtigen Konzentration auf das, was nun das Wesentliche heißt. Der grundlegende Zug der einsamkeitstechnischen Prozedur besteht, wie Macho nachweist, in der »Selbstverdoppelung« des Kontemplanten. Sie liefert ein unentbehrliches Strategem für alle Übenden auf halbem Wege: Sie zeigt ihnen ein Verfahren, nach dem Rückzug aus der Welt in guter Gesellschaft zu sein, in besserer jedenfalls, als sie dem Zurückgezogenen zur Verfügung stünde, bliebe er unverdoppelt mit sich allein.Die Selbstverdoppelung ergibt nur Sinn, wenn aus ihr nicht zwei symmetrische Hälften entstehen - in diesem Fall begegnete der Kontemplant seinem eineiigen Zwilling, der ihm seine Verworrenheit in einer überflüssigen Spiegelung noch einmal vor Augen stellte. Die erfolgreich Übenden arbeiten ausnahmslos mit einer asymmetrischen Selbstverdoppelung, bei der ihnen der innere Andere als überlegener Partner assoziiert ist, einem Genius oder einem Engel vergleichbar, der sich wie ein geistiger Monitor in der Nähe seines Schützlings aufhält und ihm die Gewißheit vermittelt, ständig gesehen, geprüft und streng beurteilt, im Krisenfall jedoch auch unterstützt zu werden. Während der gewöhnliche Depressive durch Vereinsamung in den Abgrund seiner Bedeutungslosigkeit versinkt, kann der gut organisierte Eremit von einem Beachtlichkeitsprivileg profitieren, da ihm sein nobler Beobachter - Seneca nennt ihn gelegentlich seinen custos, Wächter - fortwährend mit der Empfindung versorgt, in guter, ja bester Begleitung zu sein, freilich auch unter strenger Aufsicht. In der Benediktusregel werden die Brüder daran erinnert, der Mönch müsse sich zu jeder Stunde von Gott im Himmel beobachtet (respici) wissen, er habe zu bedenken, jede seiner Handlungen werde von einem göttlichen Beobachtungspunkt wahrgenommen (ab aspectu divinitatis videri) und fortwährend von den Engeln nach oben gemeldet (renuntiari).Dadurch wird plausibel, wie sich die rezessive Subjektivität zu einem Forum für intensive Gespräche, ja leidenschaftliche Zweikämpfe zwischen dem Selbst und seinem intimen Anderen entwickeln kann. Da der Große Andere erst durch den Rückzug aus der Vielfalt der Tagesthemen zu deutlicherer Präsenz gelangt - eine Prozedur, von der im 20. Jahrhundert auch die Psychoanalyse und verwandte therapeutische Techniken profitierten -, gewinnt der Zurückgezogene an psychischer Prägnanz, indem er sich selber monothematisch isoliert. Wer er selbst sein soll, erfährt er von seinem inneren Anderen; wie es um ihn steht, entnimmt er der täglichen Selbstprüfung. Allerdings ist zuzugeben, daß er in dieser Anordnung bis auf weiteres ein gespaltenes Subjekt bleibt - er lebt als Einsamer wenn nicht geradezu coram Deo, so doch unter dem Auge des Meisters oder des Engels, den zu enttäuschen er sich fürchtet. Von der Einswerdung mit dem Großen Anderen oder der Aufhebung der Dualität zwischen realem und idealem Selbst, wie sie im Neoplatonismus und in den indischen Nicht-Zweiheit-Schulen gelehrt wird, kann auf dieser Stufe der Sorge um sich keine Rede sein. (Zitat-Ende). |
Maligne Wiederholungen (I, II, III)Ich möcht auf einige Maladaptionsphänomene hinweisen, die den Zivilisationsprozeß des 20. Jahrhunderts prägten. Sie sind aus heutiger Perspektive als Symptome für den Triumph der malignen Wiederholung in den jüngeren Überlieferungsreihen zu lesen und stellen deswegen Ernstfälle für eine intervenierende »Kultur«wissenschaft dar: Ich spreche zunächst ... von der Kultur des politischen Mords in der pseudo-metanoetischen Politik des 20. Jahrhunderts (vgl. I); dann von der Schwächung des imitativen Faktors in der zeitgenössischen Pädagogik (vgl. II); zuletzt von der illusorischen Verwerfung der Imitation in der modernen Ästhetik (vgl. III).Maligne Wiederholungen (I): Die Kultur der LagerWas die Veräußerlichung der Metanoia in den revolutionären Politiken des 20. Jahrhunderts angeht, brauche ich den Ausführungen zur Biopolitik des Bolschewismus nicht viel hinzuzufügen. Der Versuch, durch politisch-technische Maßnahmen, große Kollektive zu erzwingen, was früher selbst durch asketische Extremübungen höchst motivierter Einzelner kaum erreichbar war, führte unausweichlich zu einer Politik des absoluten Mittels. Weil sich bei Vorhaben dieser Ambitionsstufe die Ausrottung des trägen Mitmenschen als das Mittel aller Mittel nahelegte, entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historisch unerhörteste Form einer maladaptiven Kultur - die Kultur der Lager. Sie diente der Repression unter dem Vorwand der Umerziehung, der Vernichtung unter dem Vorwand der Arbeit und schließlich der Auslöschung ohne Vorwand. Man wird fürs erste zögern, den Begriff »Kultur« auf solche Phänomene anzuwenden. Vergegenwärtigt man sich jedoch den Umfang der Lagerwelten, ihre ideologischen Prämissen, ihren logistischen Aufwand, ihre personellen Voraussetzungen, ihre moralischen Implikationen, ihre habitusbildenden Effekte und ihre psychischen Nebenwirkungen bei den Betreibern der Lager, läßt sich der Ausdruck »Kultur« auch für diese quasi beruflich erlernbaren und in Routinen verankerten Monstrositäten nicht vermeiden. (Harry Graf Kessler notiert in seinen Tagebüchern [vgl. a.a.O., S. 689] die Beobachtungen des Corriere-della-Sera-Korrespondenten Caffi im Dezember 1931: »Länger als zwei Jahre habe es überhaupt kein bolschewistischer Henker ausgehalten. In allen Irrenhäusern hätten sie gesessen; die Sanatorien an der Krimküste seien voll von wahnsinnig gewordenen Henkern gewesen.«). Zwar neigt man fürs erste zu der Vermutung, um die längerfristige Überlieferungsfähigkeit von Lagernormen könne es nicht gut bestellt gewesen sein: Dennoch ist der Befund unstrittig, daß es während des größten Teils des 20. Jahrhunderts eine Unternehmenskultur der Internierung, der Aussonderung und der Vernichtung gab, die länger Bestand hatte, als man unter moralischen wie kulturtheoretischen Prämissen je für möglich halten würde. Das vom revolutionären Parteistaat organisierte Verbrechen erreichte in der Sowjetunion und in China das Weberianische Stadium - wenn man damit den Übergang des Ausnahmezustands in Bürokratisierung bezeichnet. Eine maladaptive Umkehrung von solcher Langzeitwirkung ist allenfalls in den Lebensformen der Pariser Mirakelhöfe des 17. und 18. Jahrhunderts anzutreffen, jenen Gegenwelten der Diebe, Bettler und Zigeuner, die in Romanen des 19. Jahrhunderts - vor allem in Victor Hugos Der Glöckner von Notre Dame - verewigt wurden: Auch in ihnen war so etwas wie eine stabil-perverse Gegenkultur mit übergebührlichen Überlieferungschancen entstanden. Sie bildete eine aus der Not geborene Parallelkultur der großstädtischen Armen. Die langfristig aktive Lagerkultur des 20. Jahrhunderts hingegen ist ausschließlich das Werk der pseudo-metanoetischen Staaten, die sich auf die französische Revolution beriefen und die jakobinische Heiligung des Terrors übernahmen.Das Geburtsdatum des modemen Exterminismus als Unternehmensform und Institution ist genau bestimmbar. Es sind die Leninschen Dekrete über den Roten Terror vom 5. September 1918, in denen es expressis verbis hieß, man müsse die Feinde des Sowjetsystems in Konzentrationslager einschließen, um sie Schritt für Schritt zu eliminieren. Dieses Vorgehen ... wurde in massiven Formen bis in die fünfziger Jahre, in abgeschwächten Versionen bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts durchgehalten, zuletzt unter Mitwirkung der sowjetischen Psychiatrie, die auf dem Axiom beruhte, in der Unzufriedenheit mit den Lebensformen des realen Sozialismus sei das Symptom einer schweren Geisteserkrankung zu erkennen.Das Datenbild spricht eine klare Sprache: Die NS- Lagerwelt hatte knapp zwölf Jahre Bestand, die der Sowjetunion fast siebzig Jahre, die des Maoismus mindestens vierzig Jahre - mit langwierigen Nachspielen im Gefängniswesen des autoritären Kapitalismus der chinesischen Gegenwart. Das bedeutet: Der sowjetische Exterminismus konnte seine Kopien bis in eine dritte Generation verbreiten, der maoistische in eine zweite, deren Schatten bis heute nachwirken: Das laogai-System - wörtlich: Umerziehung durch Arbeit, hat über 150 Millionen Menschen erfaßt und davon mehr als ein Drittel ausgelöscht. Dem Antifaschismus aller Couleurs schuldet man Dank für die Beharrlichkeit, mit der er die hyper-maladaptiven Ungeheuerlichkeiten des NS-Staates an den Pranger stellte .... Bemerkenswert bleibt die Asymmetrie der »Aufarbeitung«: »Antifaschisten« sowjetischer und maoistischer Richtung sind stets der Frage ausgewichen, was sie dazu bewegt, die quantitativ noch größeren Exzesse im eigenen Lager so viel diskreter zu behandeln. Bis heute ist die Einsicht in ihre Proportionen kaum verbreitet, trotz Solschenyzin, trotz Jung Chang, trotz Schwarzbuch des Kommunismus. Während die Leugnung der NS-Verbrechen in einigen Ländern ... als strafbarer Tatbestand behandelt wird, gelten die Untaten des marxistischen Archipels in manchen Kreisen noch immer als Kavaliersdelikte der Geschichte.Man lernt daraus: Es ist nicht wahr, daß Lügen immer kurze Beine haben. Wenn Maladaptionsformen dieser Größenordnung eine zweite und dritte Generation ausbilden konnten, sind ihre Beine länger, als der gewöhnlichen Lüge zukommt. Warum sie so lang werden konnten, ist eine eigene Überlegung wert. Diese rührt nicht nur an die Eigengesetzlichkeit diktatorialer Staatsbildungen, die zu Klausuren in der Abnormität neigen, sondern auch an die Grundlagen des Modernismus: Mit ihm brach die aus älteren Kulturstufen bekannte Entfremdung zwischen demoralisierendem Erfolg und legitimer Vorbildlichkeit in einer bisher unbekannten Schärfe auf. Wenn ein Denker von der Statur Sartres entschlossen war, die Gegebenheiten der sowjetischen Lagerwelt in Kenntnis ihrer Herkunft, ihres Umfangs und ihrer Konsequenzen bis weit in die 1950er Jahre zu verschweigen, ja wenn er so weit ging, westliche Kritiker der Lager - darunter Albert Camus - als verlogene Lakaien der Bourgeoisie zu denunzieren, zeigt sich, wie die größte maladaptive Anomalie in der politischen Geschichte der Menschheit auf die Urteilskraft eminenter Intellektueller ihren Schatten warf. Die kulturtheoretisch wesentliche Information liegt in den Jahreszahlen: Sartres Schweigebeschluß begleitete den Eintritt der sowjetischen Lagerkultur in die dritte Generation. Er unterstützte den perversen Übergang einer »Maßnahme« in eine Institution. Nimmt man diesen nicht abweisbaren Sinn oder Nebensinn des Sartre-Worts von seiner »Weggefährtenschaft« mit dem Kommunismus zur Kenntnis, ist nicht zu leugnen, daß in seiner Person, die das moralische Orakel seiner Generation zu verkörpern schien, der Archetypus des falschen Lehrers auf die Bühne getreten war - obschon man ihn unter den Pflegern des kritischen Gedächtnisses lieber an der Person Heideggers diskutiert. Nun mag Heidegger in manchem ein falscher Lehrer gegen die Moderne gewesen sein; der spätere Sartre war durchwegs der falsche Lehrer für die Moderne. Nur im Rahmen einer strikten Musealisierung ist an Autoren dieses Ranges die Unterscheidung zwischen Größe und Vorbildlichkeit zu vollziehen.Maligne Wiederholungen (II): Die Erosion der SchuleWas den Zerfall der Übungskultur und des Disziplinenbewußtseins in der Pädagogik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angeht, so bildet er das jüngste Kapitel in der langen Geschichte der antagonistischen Kooperation zwischen dem modernen Staat und der modernen Schule. Ich habe gezeigt, wie die Liaison und der Widerspruch zwischen Staatssemantik und Schulsemantik mindestens seit dem 17. Jahrhundert in Europa unweigerlich chronische Spannungen zwischen den ausdifferenzierenden »Teilsystemen« hervorriefen. Wenn das klassische Ansinnen des Staates an die Schule, brauchbare Bürger zu liefern, von dieser in den Auftrag übersetzt wird, autonome Persönlichkeiten heranzubilden, ist eine permanente Reibung vorprogrammiert - einerseits als schöpferische Dysfunktion, andererseits als Quelle chronischer Enttäuschungen. Summarisch darf konstatiert werden: Die bürgerliche Hochkultur ist aus den Überschüssen des Schulhumanismus über den staatlichen Erziehungauftrag hervorgegangen. (Siehe S. 548-551 [Schulräson versus Staatsräson]). Man kann geradezu von einer felix culpa des älteren bürgerlichen Bildungswesens sprechen: Es gab seinen begabteren Zöglingen unendlich viel mehr Kulturmotive mit, als sie in ihren zivilen Funktionen je würden brauchen können. In diesem Zusammenhang mag der Hinweis sinnvoll sein, daß einige der größten spirituellen Überschußphänomene der jüngeren Geistesgeschichte, Johann Gottlieb Fichte als der Neuerfinder der Entfremdungstheorie und Friedrich Nietzsche als Modernisator des christlichen Übermenschgedankens, dieselbe Schule durchliefen, das thüringische Pforta bei Naumburg, das in seiner Zeit als eines der strengsten Gymnasien Deutschlands galt - Fichte 1774-1780, Nietzsche 1858- 1864. Es dürfte sich erübrigen zu erläutern, wie das Tübinger Stift seinen Ausbildungsauftrag an den Zöglingen Hölderlin, Hegel und Schelling übererfüllt hat. Auf die Frage, was wohl der Schüler Karl Marx, Abiturjahrgang 1835, seinen prägenden Jahren auf dem Gymnasium von Trier, dem vormaligen jesuitischen Dreifaltigkeitskolleg, verdanke, hat die Revolutionsgeschichtsschreibung eher mit zurückhaltenden Auskünften geantwortet.In der jüngsten Phase der Schulgeschichte hat sich die schöpferische Maladaption der klassischen Schule vielerlorts in eine maligne Maladaption verkehrt, die insofern modern genannt werden darf, als sie aus einer epochentypischen Störung der Vorbildfunktionen und des damit verbundenen Verfalls des Übungsbewußtseins resultiert. In ihrer Folge nähert die Schule sich einem Punkt, an dem sie doppelt implodiert, so daß sie weder Bürger noch Persönlichkeiten hervorbringt. Sie steuert auf einen Zustand jenseits von Konformisierung und Überschußerzeugung zu, der an allen Aspekten direkter Nützlichkeit und indirekter Folgenschöpfung vorbeigeht. Jahr für Jahr entläßt sie mehr und mehr desorientierte Schülerkohorten, denen man ihre Anpassung an ein maladaptivaus dem Ruder gelaufenes Schulsystem immer deutlicher anmerkt, ohne daß den einzelnen Lehrer und Schüler auch nur die geringste Schuld daran träfe. Beide sind in einer Ökumene der Desorientierung vereint, zu der sich ein historisches Gegenstück kaum finden läßt - falls man nicht auf die lange Nacht der Bildung zwischen dem Zusammenbruch des römischen Schulwesens im 5. Jahrhundert und der Wiederentstehung einer christlich-humanistischen Schulkultur im Gefolge der alkuinnisch-karolingischen Reformen im 8. Jahrhundert verweisen möchte.Um die Malaise zu diagnostizieren, wäre en detail zu zeigen, wie die aktuelle Schule an dem Prozeß teilnimmt, den Niklas Luhmann die Ausdifferenzierung der Teilsysteme nennt. Ausdifferenzierung bedeutet die Etablierung strikt selbstreferentiell organisierter Strukturen innerhalb eines Teilsystems bzw. eines »Praxisfelds« - in evolutionstheoretischen Ausdrücken: die Institutionalisierung von Selfishneß. Es war Luhmanns ingeniöser Impuls, aufzuzeigen, wie das Wachstum der Leistungsfähigkeit von Teilsystemen der modernen »Gesellschaft«, gleich ob es um Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Kirche, Sport, Pädagogik oder Gesundheitswesen geht, von der stetigen Zunahme ihrer Selbstbezüglichkeit abhängt, bis hin zu ihrem Einschwingen in den Zustand vollständiger selbstreferentieller Geschlossenheit. In moraltheoretischer Hinsicht impliziert dies die Umformung von Selfishneß auf der Ebene der Teilsysteme in eine regionale Tugend. Für die »Gesellschafts«kritik folgt hieraus: An die Stelle von hilflosem Protest gegen den Zynismus der Macht tritt systemische Aufklärung - sprich Abklärung der Aufklärung.Die systemisch bedingte Umwertung der Werte setzt die Entdiabolisierung der Selbstpräferenz voraus, wie man sie in den Schriften der europäischen Moralisten zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert beobachtet. (Vgl. Niklas Luhhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1989). Daher nimmt es nicht wunder, im Zentrum jedes Teilsystems auf eine neutralisierte Perversion zu stoßen. Als pervers gilt nicht nur die offensive Abweichung des »Frevlers« von der moralischen Norm, pervers erscheint mehr noch die Offenheit des Geständnisses, daß dem untergeordneten System letztlich nur an sich selbst gelegen ist, nicht an seinen möglichen Mandaten im Rahmen von Größerem. (Die Relationen zwischen der theologischen, der psychoanalytischen und der systemischen Perversionstheorie sind ungeklärt. Daß psychoanalytische Beiträge zu diesem Gegenstand in der Regel kaum mehr sind als Übersetzungen der christlichen Egoismuskritik in eine andere Terminologie, ist ablesbar an Arbeiten wie der von Janine Chasseguet-Smirgel, Anatomie der menschlichen Perversion.). Darum besteht ein enger Zusammenhang zwischen Zynismus und Perversion - der Zynismus immerhin, als aufgeklärtes falsches Bewußtsein, sagt die Wahrheit über das Falsche, sofern er der Unmoral zur Unverhohlenheit verhilft. Am frühesten erfolgte der Durchbruch in die Unverhohlenheit - die alétheia der Systeme - im Bereich der Politik, als Machiavelli die Eigengesetzlichkeit des politischen Handelns offenlegte und dessen - lange als skandalös empfundene - Emanzipation von der Allgemeinmoral empfahl. Dem folgte die Wirtschaftstheorie seit dem Aufkommen der Produktion mittels Maschinen im späten 18. Jahrhundert nach. Schon die ersten Liberalen wie Mandeville und Adam Smith - hatten verstanden: Erst kommt die Amortisation, dann die Moral. Das Industriesystem erkannte ohne Hehl seine Aufgabe darin, seinen Betreibern Profite zu bringen, damit sie ihre Kredite bedienen, neue Investitionen tätigen und Lohnkosten tragen können. Kurzum: »Soziales« läßt sich systemintern nur über Nebeneffektkalküle berücksichtigen. Das Argument, die Wirtschaft nütze der Mitwelt am meisten, wenn sie sich auf das konzentriert, was sie am besten kann, nämlich Profite erzeugen, ist durchschlagend richtig - und kommt doch über eine trübe Plausibilität nicht hinaus, weil mit dem evidenten Erfolg der einen Seite die Gegenevidenz wächst: daß die Selfishneß des ökonomischen Systems über zu viele andere Interessen hinweggeht, ob man diese nun als die des Ganzen beschreiben möchte oder nicht.Die übrigen Teilsysteme sind naturgemäß viel stärker gezwungen, ihre Selfishness zu okkultieren und sich mit Hilfe von vagen holistischen Rhetoriken zu rechtfertigen. (Weil sie letztlich nur »eingebettete« Experten brauchen können, bringen diese Disziplinen keine echten Wissenschaften hervor und erschweren den Übergang zum Niveau nicht-selbstbedienender Theoriebildung.). An ihrer faktischen Ausbildung zu selfish systems ändert das nichts. Jedes von ihnen erzeugt sogenannte Experten, die der Mitwelt erklären, warum die Dinge so laufen müssen, wie man es kennt. Sie müssen dem skeptischen Publikum erläutern, warum der allzu sichtbare Eigennutz des Teilsystems vom Gesamtnutzen überwogen wird. Immerhin, noch kann man sich kein Medizinsystem vorstellen, das offen ausspricht, es diene in erster Linie seiner Selbstreproduktion. Auch seitens der Kirchen hat man bisher nicht hören können, ihr einziges Ziel sei die Erhaltung der Kirchen, obschon bei Kirchenleuten das offene Wort als Tugend gilt. Noch weniger ist mit einem Schulsystem zu rechnen, das eines Tages pervers genug sein wird, zu bekennen, seine einzige Aufgabe bestehe darin, sich selber irgendwie am Laufen zu halten, um seine Profiteure, namentlich Lehrer und Verwaltungsangestellte, in den Genuß von sicheren Stellen und soliden Privilegien zu bringen.Wo Geständnisse nicht zu erwarten sind, müssen Diagnosen weiterhelfen. Diagnosen formen Perversionen in Strukturprobleme um. Das Problem des heutigen Schulwesens besteht offenkundig darin, daß es nicht nur dem Staatsauftrag, Bürger heranzuziehen, nicht mehr nachzukommen vermag, weil die Definition des Ziels angesichts der Anforderungen der aktuellen Berufswelt zu unscharf geworden ist. Es artikuliert sich noch deutlicher in der Preisgabe seines humanistischen und musischen Überschusses, um sich einem mehr oder weniger entgeisterten Betrieb pseudowissenschaftlich fundierter didaktischer Routinen zu widmen. Indem die Schule während der letzten ahrzehnte Jihren seit dem 17. Jahrhundert beharrlich bewiesenen Mut zur Dysfunktionalität nicht mehr aufbrachte, verwandelte sie sich in ein leeres selfish system, das sich ausschließlich an den Normen des eigenen Betriebs orientiert. Sie produziert Lehrer, die nur noch an Lehrer erinnern, Schulfächer, die nur noch an Schulfächer erinnern, Schüler, die nur noch an Schüler erinnern. Dabei wird die Schule auf inferiore Weise »antiautoritär«, ohne aufzuhören, formal Autorität auszuüben. Da das Gesetz des Lernens durch Nachahmung nicht außer Kraft zu setzen ist, riskiert es die Schule, aus ihrer dargestellten Unwilligkeit, Vorbildlichkeit darzustellen, das Vorbild zu machen, das sich in der nächsten Generation wiederholt. Die Folge davon ist, daß in der zweiten, dritten Generation fast ausschließlich Lehrerinnen und Lehrer auftreten, die bloß noch die Selbstbezüglichkeit des Unterrichts zelebrieren. Selbstbezüglich ist der Unterricht, der stattfindet, weil es in der Natur des Systems liegt, ihn stattfinden zu lassen. Mit der Ausdifferenzierung des Schulsystems ist ein Zustand eingetreten, in dem die Schule ein einziges Hauptfach kennt, das »Schule« heißt. Dem entspricht das einzige externe Unterrichtsziel: der Schulabschluß. Wer von solchen Schulen abgeht, hat bis zu dreizehn Jahren lang gelernt, sich die Lehrerinnen und Lehrer nicht als Vorbilder zu nehmen. Durch Anpassung an das System hat man ein Lernen gelernt, das auf die Verinnerlichung der Materien verzichtet; man hat, nahezu irreversibel, die Stoffdurchnahme ohne aneignendes Üben eingeübt. Man hat den Habitus eines Lernens-als-ob erworben, das sich beliebige Gegenstände defensiv zu eigen macht, in der systemimmanent richtigen Überzeugung, die Fähigkeit zur Anpassung an die gegebenen Formen des Unterrichts sei bis auf weiteres das Ziel aller Pädagogik.Angesichts dieser Phänomene haben radikale Schuldenker die Forderung nach der Auflösung des gesamten Systems erhoben - sei es, wie bei Ivan Illich, im Postulat einer »Entschulung der Gesellschaft«, sei es, wie bei aktuellen Reformpädagogen, durch den Vorschlag, das gesamte eingeschliffene Fächersystem aufzuheben, um die Schule während der prägenden jahre in eines offenes Trainingscamp für die polyvalente Intelligenz der jugendlichen umzuwandeln. Solche Forderungen passen zu dem großen Umbruch von der Buchkultur zur Netzkultur, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten vollzog. Er würde in der Praxis zu einer Art von Auswilderung der Intelligenz führen, die man als kontrollierte Dschungelpädagogik beschreiben könnte. In diesem Kontext sind Befunde bemerkenswert, nach denen bei jugendlichen, die viel Zeit mit Computerspielen und Junk-Kommunikationen verbringen, hohe Trainingseffekte im intelligenten Umgang mit Datenmüll zu beobachten seien. Steven B. Johnson hat diese Entwicklungen unter einem Titel resümiert, deri Eltern und Systemtheoretiker aufhorchen macht: Everything bad is good tor you. (Vgl. Steven B. Johnson, Neue Intelligenz, 2006). An ihm ist die These abzulesen, fast jede Form von starker Enkulturation sei besser als das Mitspielen in einem maladaptiven selfish system, das nur noch Parodien auf die vormalige Erziehung zustande bringt. Das Problem des falschen Lehrers, das ich im philosophischen Kontext an Sartre erläutert habe (), kehrt auf systemischer Ebene als das Problem der falschen Schule wieder.Maligne Wiederholungen (III): Das selbstbezügliche Kunstsystem der ModerneJedem Betrachter der Kunstgeschichte von 1910 bis heute ist klar, daß sich in dieser Zeitspanne die Katastrophe der bildenden Kunst vollzogen hat - im prozeßtheoretischen wie im umgangssprachlichen Sinn des Wortes. In einem schwindelerregenden Vorstoß zu neuen Verfahren haben die drei maßgeblichen Künstlergenerationen (seit 1910; Anm. HB) im Feld der bildenden Künste ... das Feld ihres Metiers erweitert. Dabei haben sie zugleich die Fähigkeit verlernt, jeweils am artistisch anspruchsvollsten Niveau der vorangehenden Generation anzuknüpfen. In ihrer großen Mehrheit haben sie es aufgegeben, die goldene Kette der thematischen, technischen und formalen Imitationen auf der Ebene modern entgrenzter Kunstexperimente weiterzuführen.Die Katastrophe der Kunst erweist sich als die Katastrophe des Imitationsverhaltens und des mit ihm verbundenen Trainingsbewußtseins .... Nach einer Sequenz von vielen Generationen imitatio-basierter Kopierprozesse in der vormodernen Kunst ist binnen bloß zweier Generationenwechsel die inhaltliche und technische Imitation nahezu völlig ihrer Funktion als maßgeblicher Kulturreplikator beraubt worden. Da die Imitation jedoch auch in einer Kultur, die die Imitation zugunsten einer ebenso suggestiven wie suspekten Ideologie der Kreativität verleugnet, den für Traditionsbildung entscheidenden Mechanismus darstellt, bezieht sich die Imitation der Modernen auf den einzigen Aspekt der Kunst, der sich jetzt noch zur Nachahmung eignet, ohne daß die Nachahmer die Tendenz ihrer Nachahmung eigens bemerken oder gar kultivieren müßten. Dieser Aspekt besteht in der Tatsache, daß Kunstwerke nicht nur hergestellt, sondern auch ausgestellt werden. Mit der Verschiebung von der Kunst als Herstellungsmacht (mitsamt ihrem altmeisterlichen »Ballast«) zur Kunst als Ausstellungsmacht (mitsamt ihrer Freiheit der Effekte) gelangt eine Imitationsform zur Dominanz, die der Werkstatt den Rücken kehrt, um den Ort der Präsentation ins Zentrum des Geschehens zu stellen. Auf diese Weise dringt ein unkontrollierbar überbordendes Element von Selfishneß nicht nur in den Kunstbetrieb ein, sondern in die Kunstwerke selbst. Man sieht es ihnen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher an, daß sie sich immer weniger für ihre Hergestelltheit und immer mehr für ihre Ausgestelltheit interessieren.Heiner Mühlmann hat in seinem Essay Countdown - 3 Kunstgenerationen (2008) den freien Fall des Kunstsystems in den Zustand rigoroser Selbstbezüglichkeit mit evolutionstheoretischen Argumenten rekonstruiert. In dieser Röntgenaufnahme der ästhetischen Evolution von 1910 bis heute wird erkennbar, wie die systematische Verkennung per Imitation und des Trainingselements zu paradoxen Imitationen und perversen Trainings führt. Paradox sind Imitationen und pervers sind Trainings, in denen maligne Eigenschaften - die man in anderen Zeiten unter der Rubrik »Laster« diskutiert hätte - die höchsten Reproduktionserfolge erzielen. In der imitationsblinden Subkultur der modernen bildenden Kunst haben sich an den Schwellen zwischen den Generationen solche Werke und Künstler durchgesetzt, bei denen sich der jeweils nächsthöhere Grad an Selbstbezüglichkeit beobachten ließ, ohne daß die zeitgenössischen Beobachter imstande gewesen wären, den Schluß zu ziehen, das selbstbezügliche Werk sei zugleich das sich selbst dementierende. Die vollendete Malignität des modernen Kunstbetriebs zeigt sich vielmehr gerade darin, daß noch der grellste selbstreferentielle Zynismus als Beweis für die Transzendenz der Kunst aufgefaßt werden kann.Das Kunstsystem hat inzwischen unangefochten den besten Platz an der Selfishneß-Sonne erobert. Zwar hatte Martin Heidegger in den 1930er Jahren doziert, das Kunstwerk stelle eine Welt auf - zu ebender Zeit, als der Absturz der Kunst in pure Selbstreferentialität einsetzte: In Wahrheit denkt das Kunstwerk im selfish system der postmodernisierten Kunst nicht daran, eine Welt aufzustellen. Es präsentiert sich vielmehr als Zeichen dessen, daß es etwas vorstellt, was nicht auf eine Welt verweist: sein eigenes Ausgestelltsein. Das Kunstwerk in der dritten Generation der blinden Selfishneß-Imitation hat alles, nur keinen expliziten Weltbezug. Was es aufstellt, ist seine manifeste Abgeschnittenheit von allem, was außerhalb seiner eigenen Sphäre liegt. Das einzige, was es von der Welt weiß, ist, daß es dort Menschen gibt voll von Sehnsucht nach Bedeutsamkeits- und Transzendenzerlebnissen. Es setzt darauf, daß viele von ihnen bereit sind, ihre Sehnsucht in der leeren Hermetik selbstreferentieller Werke, in der Tautologie selbstreferentieller Ausstellungen und im Triumphalismus selbstreferentieller Museumsbauten zu befriedigen. Wie jede Pseudoreligion spekuliert auch diese auf Transzendenz, ohne ihre mundanen Interessen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.Inzwischen übertrifft das Kunstsystem sogar das Wirtschaftssystem, was die Zurschaustellung seiner Unbekümmertheit um externe Bezüge angeht. Ihm ist bereits gelungen, wovon das ökonomische System bis auf weiteres nur träumt: Es hat seine Selfishneß sakralisiert und trägt sie wie das Merkmal seiner Auserwählung vor sich her. Daher die unwiderstehliche Verführung, die vom Kunstsystem auf das Wirtschaftssystem und alle übrigen Domänen selbstbezüglichen Agierens ausstrahlt. Die Kuratoren, die selbstbezügliche Ausstellungen organisieren, und die Künstler, die als Selbstkuratoren und Selbstsammler agieren, sind die einzigen, von denen die Akteure der spekulativen Wirtschaft noch etwas lernen können: Ihre Lektion heißt: Man kann in puncto Selfishneß nie weit genug gehen, solange das Publikum bereit ist, auf Kunst wie auf eine Erscheinung von Transzendenz zu reagieren und wie sollte es anders reagieren in einer Zeit, in der jedes beliebige Mehr an Sinn als religiöse Erfahrung aufgemacht wird?Alles spricht dafür, daß dasselbe Publikum auch auf extremen Reichtum wie auf Transzendenz antworten wird. Die Zukunft des Kunstsystems läßt sich darum leicht vorhersagen: Es liegt in seiner Fusion mit dem System der größten Vermögen. Es verspricht diesem eine glanzvolle exhibitionistische Zukunft und sich selbst den Übergang in die Dimension des Fürstlichen. Nach der Emergenz der artistischen Herstellungsmacht in der Renaissance, die den Künstler als den Meister der Landschaft, des Portraits und der Apokalypse groß machte; nach der Emergenz der Ausstellungsmacht in der frühen »Moderne« (»künstlich«! Anm. HB), die mit der Exhibition eines Pissoirs begann und zuletzt im sich selber exhibierenden Museum mündete, erleben wir aktuell die Emergenz der Kunstmarktmacht, die alle Macht den Sammlern in die Hände legt. Der Weg der Kunst folgt dem Gesetz der Veräußerlichung, das die Macht der Nachahmung gerade dort beweist, wo die Nachahmung am heftigsten geleugnet wird: Es führt von den Künstlern, die Künstler nachahmen, über die Aussteller, die Aussteller nachahmen, zu den Käufern, die Käufer nachahmen. Aus der Devise l'art pour l'art ist vor unseren Augen das Konzept the art system for the art system geworden. Aus dieser Position entwickelt sich das Kunstsystem zum Paradigma aller erfolgreichen Maladaptionen, ja zur Quelle maligner Kopierprozesse jeder Art. Das Problem der falschen Schule kehrt wieder als das Problem der Verführung durch die Belohnungen, die das Kunstsystem für Beispiele von Pseudokultur (zur Definition dieses Ausdrucks vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen, 1996) gewährt. Die Folgerung liegt auf der Hand: Es wird in Zukunft kaum eine Verkehrtheit mehr geben, die sich nicht am aktuellen Kunstsystem ein Beispiel nimmt. Der Handel mit Derivaten war in ihm schon lange etabliert, bevor auch die Finanzwelt ins Derivategeschäft einstieg. Wie das vom Doping korrumpierte Sportsystem steht auch das Kunstsystem an einem Scheideweg: Entweder geht es den Weg zur Korruption durch Nachahmung des außerkünstlerischen Effekts im Ausstellungs- und Sammlungswesen zu Ende und stellt die Kunst definitiv als Tummelplatz des Letzten Menschen bloß, oder es besinnt sich auf die Notwendigkeit, die schöpferische Imitation in die Werkstätten zurückzuholen und dort die Frage neu aufzunehmen, wie das Wiederholungswürdige vom Nicht-Wiederholungswürdigen zu unterscheiden sei. (Zitat-Ende). |
SpaßmacherDie heutigen Spaßmacher sind alles, nur nicht engagiert, und können von der Verteuerung des Lachens insofern profitieren, als Blödeleien den Zeitgeist besser treffen als die gute alte böse Satire; die letzten Statthalter der Ideologiekritik sind inspirierte Blödler wie Otto (gemeint ist Otto Waalkes []; Anm HB), bei dem man wenig Soziologie, aber viel Geistesgegenwart findet. (Zitat-Ende). |
Was
mit den ersten Feuern begann, die Versammlung der Menschen um eine angenehme Mitte, bleibt bis zuletzt die Basistechnik von solidarisierenden Gruppenschöpfungen. Feuer ... ist in seiner Mächtigkeit als Nischen- und Sphärenbildner und damit als Emanzipationsmittel für Menschengruppen ... nie zu überschätzen. .... Synergien von Feuer und Wissen ....Das sichtbarste Zeichen
des Vorteils, in der Gruppe zu Hause zu sein, ist die Feuerstelle; |
(Sloterdijks Traum) Der Traum, dem ich folge,
ist der, den sterbenden Baum der Philosophie |
Literarische Werke |
WWW.HUBERT-BRUNE.DE |