HERBST
(ahd. herbist, engl. harvest, german. harbista, indogerman.
*(s)ker schneiden)
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Herbst hat sich etymologisch vom Schneiden,
vom Schnitter zum Ertrag, zur Pflückzeit,
zur Ernte entwickelt. In der Tat, bis hin zur Ernte (ar(a)n;
ahd. arnoti, engl. autumn). Mit Beginn dieser Jahreszeit, mit der
Wendung von der Hoch- zur Spätkultur, wird der Schnitt gemacht,
den wir Zivilisation nennen. Der Herbst zeigt uns 3 Gesichter: der Frühherbst
wird als ertragreich, mit seinen schönen Farben als romantisch, oft als Spät-
und Schönsommer erlebt (Indian Summer u.s.w.), in der Herbstmitte
verblassen die Farben allmählich, doch gerade gegenüber Sturm, Regen
und Nebel zeigt das spätromantisch-impressionistische Braun, Gelbbraun oder
Gelb seinen Liebreiz, während der Spätherbst
sowohl von jenem Liebreiz als auch von der zu erwartenden, der nächsten Jahreszeit
kündet. Optimistisch ist man im Spätherbst, weil eine bevorstehende
Ankunft (Advent) bejaht wird, im Frühherbst,
weil sie entweder mit Zukunft verwechselt oder als Vollendete
Vergangenheit (Perfekt), als angekommen gilt, so daß die Gegenwart
wie eine Art ewige Vergangenheits-Zukunft, wie eine Ehe (ahd. ewa
= ewig geltendes Gesetz, Ehe)
verteidigt oder bekämpft wird, aber oft unentschieden und ungeschieden bleibt,
weshalb in der pessimistischen Herbstmitte durch die alles entscheidende
Schlacht die Blätter, die Gefallenen, die Geschiedenen zur Mehrheit werden.
Das amerikanische Wort für Herbst, fall, deutet auf die
gefallenen Blätter ebenso wie auf das Fallen, auf die fallenden Soldaten.
Blätterfall bedeutet Scheidung. In der Sturmzeit des Herbstes wird geschieden,
und nur wenige bleiben davon unberührt. So arbeitet nun mal die
Demokratie, mögen manche sagen. Aber leider arbeitet so das Geld. Hier handelt
es sich um die Macht der Plutokratie, nicht um die Macht des Volkes
(Scholl-Latour).
Wenn der Herbst beginnt und die Sonne noch langsam sinkt, die frühherbstliche
Ernte noch genauso ertragreich zu sein scheint wie die letzte, die im Gedächtnis
verhaftete Sommerernte, dann will man noch nicht daran denken, daß dieser
Erntedank-Optimismus gebremst wird durch eine Entscheidung, die aus der
Not(wendigkeit) heraus fallen muß und spätestens im letzten
Herbstdrittel auch als solche reflektierbar, die Bilanz sichtbar, der Herbst vollendet
wird und Optimismus wieder siegt - ganz adventisch (die Ankunft erwartend).
Kulturhistorisch richtig verstanden ist der Herbst also durchaus ein Weg von der
Täuschung bis zur Endtäuschung (Enttäuschung). Das Ende einer Täuschung
wirkt reinigend und befreiend. Deshalb ist auch eine Enttäuschung eine reine
Angelegenheit, eine Katharsis. Täuschung, Konflikt und Katharsis bilden
wie Ehe
(Napoleonismus), Krise
(Kampf ums Ei), Befruchtung
(Cäsarismus) eine Einheit: den Herbst als schneidende
Menge, als bürgerliche Schnittmenge der demokratisch getarnten, plutokratisch
regierten und mediokratisch privatisierten Zivilisation. Dies
alles geschieht epochal, nach der inneren Logik eines Zeitalters,
nach der Notwendigkeit der Tiefe. Während ein Ereignis sich als jeweilige
Oberfläche nach der äußeren Logik eines Zeitalters, nach dem Zufall
richtet, zeigt die Epoche (vgl. Phase)
periodisch wiederkehrende Natur- und Kulturphänome an, die universal und
kosmischen Ursprungs sind. Sie treten notwendigerweise auf und können als
Tatsachen deutlich (gemacht) werden, wie z.B. die Erscheinungen der Jahreszeiten.
Das Klima
ist eine Tatsache, das Wetter ein Ereignis. Ein Ereignis verhält sich
zur Notwendigkeit wie der Zufall zum Schicksal. |