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Auswirkungen der demographischen Alterung und der Bevölkerungsschrumpfung auf Wirtschft, Staat und Gesellschaft (Hrsg.: Herwig Birg; 2005)

- Auszüge -

lVorwort (Herwig Birg)
lAlterssicherung im Wechsel der Generationen (Heinz Grohmann)
lGenerationenfolge und Grundgesetz (Udo Steiner)
lWie Juristen Flüsse bergauf fließen lassen - Zur Semantik in der Sozial- und Familienpolitik und ihre Folgen auf das Recht (Jürgen Borchert)
lDas demographische Defizit - Die Fakten, die Folgen, die Ursachen und die Politikimplikationen (Hans-Werner Sinn)
lDie Bevölkerungsentwicklung in den Bundesländern bis zum Jahr 2050 (Bettina Sommer)
lBevölkerungsentwicklung in ländlichen Gemeinden: Szenarien zu kleinräumigen Auswirkungen des demographischen Wandels (Paul Gans und Ansgar Schmitz-Veltin)

 

Alterssicherung im Wechsel der Generationen (Heinz Grohmann)

Rentenniveau
Rentenformel
„Die bisherige Entwicklung des Rentenniveaus neuer Definition, bei dem man der Brutto- auch noch eine Nettoversion gegenüberstellen kann war, nach anfänglichen Schwankungen, bisher erstaunlich stabil, das Bruttorentenniveau in einer Größenordnung von 50, das Nettorentenniveau in einer solchen um 70, beide mit leicht sinkender Tendenz. Ein zweiter für die Alterssicherung wichtiger ökonomischer Indikator ist der für langfristig angelegtes Kapital erzielbare Zinssatz. Er hat ... erhebliche Veränderungen erfahren. Aber auch hier kommt es nicht auf die absolute Höhe, sondern auf das Verhältnis von Zins und Lohnsteigerungsrate an. Lange Zeit lag der Zinssatz darunter. Heute erwartet man, daß er künftig immer darüber liegen werde. Doch wer weiß das heute?  Unter diesem Blickwinkel sind langfristige Voraus- oder Modellrechnungen, die über die demographische Grundkomponente hinausgehen, zwar mit einer weit größeren Unsicherheit behaftet; für Langfristanalysen zur Alterssicherung können sie jedoch hilfreich sein. Sie eigenen sich jedenfalls als Hilfsmittel zur Abschätzung der Auswirkungen sozio-ökonomischer Verhaltensänderungen und - vielleicht als wichtigster Zielsetzung - zur Abschätzung der Auswirkungen von Reformmaßnahmen.“ (Ebd., S. 11-12).

„Ein Drei-Generationen-Modell zur Erklärung und Analyse der derzeitiegn Perspektiven der Alterssicherung: Die Rückschau auf die vergangenen 50 Jahre und die Voarausschau auf die bevorstehenden haben gezeigt, wie sehr sich die demographischen Rahmenbedingungen für die Alterssicherung in Deutschland verändert haben und sich künftig verändern werden. Aber auch die sozio-ökonomischen Verhältnisse haben sich nachhaltig gewandelt und werden es weiterhin tun. Von auch nur annähernd gleichen Rahmenbedingungen für die Alterssicherung bei den aufeinander folgenden Generationen kann also nicht die Rede sein. Solange jedoch, wie bisher, diese Bedingungen für die Alterssicherung vorteilhaft waren, wurde das nicht zur Kenntnis genommen oder geradezu ausgenutzt. Jetzt, wo sich das zu ändern beginnt, treten die Zusammenhänge ins öffentliche Berwußtsein und erste Generationenkonflikte bahnen sich an.“ (Ebd., S. 13-14).

„Für mein Thema bleibt es jedenfalls dabei, daß es diese mittlere Generation ist, deren Geburtenhäufigkeit die absehbare massive Alterung der Gesellschaft letztlich bewirkt hat. Sie wird es freilich auch sein, die die Folgen in ihrer eigenen Alterssicherung wird tragen müssen.“ (Ebd., S. 15).

Generationenfolge und Grundgesetz (Udo Steiner)

„Kinder kommen natürlich im Grundgesetz vor. Ein spezielles Grundrecht des Kindes findet sich aber nicht. Das Grundgesetz verlangt der Rechtsordnung zwar wirksame Vorkehrungen zum Schutz des Lebens ab. In der politischen und gesellschaftlichen Praxis spiegelt sich aber der Lebensschutz nicht wider. Auf etwa 40 Millionen Euro wurden z.B. für 2003 die Aufwendungen der öffentlichen Haushalte in Deutschland geschätzt, um den Schwangerschaftsabbruch medizinisch »lege artis« durchzuführen. (Vgl. FAZ, 05.06.2004, S. 8). Einsparungen an anderer Stelle gleichen den Aufwand aus. So kann der »Freistaat« Bayern sein »Landeserziehungsgeld« um 30 Millionen Euro auf Grund des Geburtenrückgangs verringern.“ (Ebd., S. 25-26).

„Im System der sozialen Pflegeversicherung begünstigt die Erziehungsleistung versicherter Eltern die Gruppe der Versicherten ohne Kinder. Dies wird sichtbar, wenn man die Gruppe der Eltern mit unterhaltsbedürftigen Kindern vergleicht mit der Gruppe der kinderlos bleibenden Versicherten. Beide sind bei einer Finanzierung der Sozialversicherung im Umlageverfahren darauf angewiesen, daß Kinder in genügend großer Zahl nachwachsen. (Vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 07.07.1992, BVG, E 87, S. 37: »Denn die als Generationenvertrag ausgestaltete Rentenversicherung läßt sich ohne die nachrückende Generation nicht aufrechterhalten«.). Die heutigen Beitragszahler der erwerbsfähigen Generation vertrauen im Umlageverfahren darauf, daß in der Zukunft in ausreichendem Umfang neue Beitragsschuldner dem Versicherungssystem zugeführt werden. Diese neuen Beitragsschuldner können aber nur die Kinder von heute sein, denen in der Zukunft zugunsten der dann pflegebedürftigen Alten eine kollektive Finanzierungspflicht auferlegt wird, und zwar durch Beitragslasten, die Folge der Pflichtmitgliedschaft sind. Der Senat hat formuliert: Diese Finanzierungspflicht kommt einer kollektiven Unterhaltspflicht gleich, die auf den besonderen Bedarf der Pflege bezogen ist. Pointierter: Es geht um die Absicherung eines Altersrisikos durch im öffentlich-rechtlichen Zwangssystem gesamthänderisch verbundene Unterhaltsschuldner. (Vgl. BVG, E 103, 242 [246]). Es erwächst damit den Versicherten ohne Kinder im Versicherungsfall ein Vorteil aus der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter, die wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten. Versicherte, die Kinder erziehen, sichern die Funktionsfähigkeit der Pflegeversicherung also nicht nur durch Beitragszahlung, sondern auch durch Erziehungsleistung. Im Beitragsrecht entsteht dadurch ein Gleichheitsproblem zwischen Versicherten mit und Versicherten ohne Kinder. Die Antwort auf dieses Gleichheitsproblem kann nicht allein - und dies gilt es klarzustellen - die Anerkennung von Kindererziehungszeiten sein. Solche Zeiten gleichen kinderbedingte Nachteile im Aufbau von Rentenanwartschaften aus, nicht unterschiedliche wirtschaftliche Belastungen in der Phase der Kinderziehung. Die Resonanz auf diese Entscheidung in der allgemeinen Publizistik und vor allem in den Leserbriefspalten unserer großen Tageszeitungen war und ist nicht frei von Mißverständnissen ....“ (Ebd., S. 30-31).

„Es mag zwar nahe liegen, im lobbyfreien Raum eines Verfassungsgerichts mehr Generationengerechtigkeit zu erwarten als im politischen Raum, in dem sich angeblich Generationenegoismus effektiver entfalten kann .... Wir brauchen in Deutschland im Augenblick nicht mehr Rechtsprechung, sondern mehr politische Gestaltung. Dies gilt auch für die Antwort auf unser demographisches Problem.“ (Ebd., S. 36).

Wie Juristen Flüsse bergauf fließen lassen - Zur Semantik in der Sozial- und Familienpolitik und ihre Folgen auf das Recht (Jürgen Borchert)

„Weshalb konnte die familienpolitische Katastrophe - binnen 40 Jahren nahezu eine Halbierung der Geburtenzahlen und gleichzeitig eine Versechzehnfachung des Anteils der Kinder in der Sozialhilfe - in Deutschland geschehen?  Warum passiert nun, da sie offenbar ist und zugleich das aus ihr resultierende wirtschafts- und sozialpolitische Desaster klar zu Tage tritt, immer noch nichts, um wenigstens zu retten, was zu retten ist?  Wieso wird die ökonomische Situation der Familien trotz gegensätzlicher Beteuerungen der Politik relativ zu Kinderlosen stattdessen weiter handfest verschlechtert - sogar trotz entgegen stehender energischer Aufträge des Bundesverfassungsgerichts?  Weshalb ist nicht einmal eine rationale Debatte über die Fragen möglich, sondern enden selbst Versuche, sich auch nur über die Fakten zu verständigen, jedes Mal in hoch emotionalen Zerwürfnissen, aggressiver Konfusion?“  (Ebd., S. 37).

„Alles spricht dafür, daß der kardinale Fehler in unserer Sprache liegt, wenn wir jetzt »mit dem Latein am Ende sind«. Aus falschen Begriffen resultieren fehlerhafte Vorstellungen. Gesellschaftliche Verständigung wird unmöglich. Die Politik, deren Aufgabe es ist, aus Tatsachen Meinungen und daraus schließlich Gesetze zu machen, kann nicht einmal mehr die Tatsachen erkennen. Schließlich wird »die große Konfusion zur Stunde der Manipulateure« (Norbert Blüm), das Ende ist Tohuwabohu. Mittendrin, als Opfer und Täter dieser Entwicklung, finden wir dabei, an vielen Schaltstellen, die Juristen und das Bundesverfassunsgericht: »Nie haben Dichter die Natur so verändert wir Juristen die Wirklichkeit !«  (Giraudoux). Soziale Zerstörung durch Sprache. Schon die Bibel weist mit der Geschichte vom Turmbau zu Babel auf die Bedeutung der Sprache für gesellschaftliches Gelingen und Kultur hin. Wie Bewußtsein schließlich mit Vorsatz manipuliert werden kann, beweist die Werbung. Sie ist inzwischen fester Bestandteil des politischen Wettbewerbs geworden und mit Blick auf solches Politikmarketing stellte der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis fest, daß man »ein politisches Gemeinwesen zuerst dadurch kaputt macht, indem man seine Sprache zerstört.«“ (Ebd., S. 37-38).

„Der semantische »Versicherungsbetrug«: Tatsächlich kann sich die These vom verhängnissvollen Einfluß der Semantik auf die Familien- und Sozialpolitik auf niemand geringeren als Kronzeugen stüzen als Gerhard Mackenroth selbst, dessen legendärer Vortrag »Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan« vor dem Verein für Sozialpolitik am 19. April 1952 die entscheidende Debatte zur Sozialreform der 1950er Jahre einläutete. An den Anfang seiner Ausführungen stellte Mackenroth nämlich folgende Feststellung: »Die soziale Umwelt, in der wir heute Sozialpolitik treiben, hat sich gegenüber früher total verändert. Und zwar handelt es sich dabei um grundsätzliche Wandlungen in der ganzen westlichen Welt, zu denen die besonderen Ereignisse der deutschen Nachkriegszeit nur noch dazukommen. Die Wirrnis kommt nämlich nicht zuletzt daher, daß wir zum Teil noch immer die alte Sozialpolitik treiben in einer völlig veränderten Welt, daß wir die alten Konzeptionen beibehalten, die inzwischen zu reinen Fiktionen geworden sind, daß wir mit den alten Begriffen weiterarbeiten, die zur sozialen Wirklichkeit nicht mehr stimmen.« Nachfolgend richtet Mackenroth den Fokus auf die Sozialversicherung: Weil aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden müsse, gebe es volkswirtschaftlich gesehen keine Möglichkeit einer Versicherung gegen irgendwelche sozialen Risiken; das Versicherungsprinzip sei geeignet, den einzelnen zu sichern gegen die Abweichung seines Falles von der sozialen Norm, es könne aber nicht die Volkswirtschaft sichern gegen eine Änderung der sozialen Norm, gegen eine soziale Katastrophe. Die sozialpolitische Großaufgabe des 20. Jahrhunderts sei nicht mehr der soziale Ausgleich zwischen unterschiedlichen Klassen und Schichten, sondern innerhalb jeder sozialen Klasse und Einkommensschicht der Familienlastenausgleich zwischen Eltern und Kinderlosen. Die schärfste Gegnerschaft werde dieser These aus den Reihen der Sozialversicherung erwachsen. Er sollte Recht behalten, denn bei der großen Rentenreform 1957 setzten sich die Sozialversicherer durch. Die Transformation der familiären Altenversorgung in eine soziale Veranstaltung wurde formal in genau die Versicherungsterminologie gekleidet, deren sachliche Verfehltheit Mackenroth und seine Mitstreiter Wilfried Schreiber und Oswald von Nell-Breuning so vehement betont hatten; insbesondere der letztere wurde bis zu seinem Tode am 26.08.1991 im Alter von 101 1/2 Jahren nicht müde immer auf die Tatsachenverdrehung in dieser Terminologie hinzuweisen. (Vgl. Jürgen Borchert / Oswald von Nell-Breuning, Die Alterssicherung hängt in der Luft, 1986, S. 205ff.). Der Etikettenschwindel ist bei genauem Hinsehen ja auch ohne weiteres für jeden zu erkennen: Weil bei einer allgemeinen Lebenserwartung von über 75 Jahren im Durchschnitt heute nämlich jeder das Rentenalter erreicht, handelt es sich bei der Sicherung des »Alters« um die - prinzipiell unversicherbare!-  soziale Norm; das war für die Bismarck'sche Rente bei ... einem Renteneintrittsalter von 70 Jahren noch anders, denn »Alter« war nur ein Unterfall der - versicherbaren! - Invalidität. Wenn dem entgegen gehalten wird, daß aber doch das Risiko der unterschiedlich langen Ruhestände versicherbar sei, so wird übersehen, daß für dieses Risiko allein die Nachwuchsgeneration gerade stehen muß. Neuerdings wird nun zur Rettung des Versicherungsbegriffs behauptet, die GRV sei eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit. (So z.B. Tim Köhler-Rama, Kinderzahlabhängige Beiträge in der Gesetzlichen Rentenversicherung, DAV 11, 2002, S. 449ff.; ebenso Hans Werner-Sinn, Das demographische Defizit, 2005, S. 7 *). Dabei wird jedoch mißachtet, daß Kinderlosigkeit nur zu ca. 8 Prozent auf Unfruchtbarkeit beruht, sie überwiegend also eine Folge der gewillkürten Lebensplanung und damit ebenfalls unversicherbar ist. Wie man die Dinge alo auch dreht und wendet, der Versicherungsbegriff, der die den Alten geschuldeten und gezahlten Unterhaltsbeiträge terminologisch in Versorgungsleistungen ummünzt, stellt die Dinge auf den Kopf. Will man für den sozialen Sachverhalt, der hier zu beschreiben ist, partout am Versicherungsbegriff festhalten, dann paßt dieser allenfalls für das Risiko der Angehörigen der Kindergeneration, ohne die GRV ihre eigenen, möglicherweise langlebigen Eltern jeweils unterhaltsrechtlich länger als durchschnittlich unterhalten zu müssen. So wird das System aber gerade nicht begriffen. Daß Kinder bei der vielfach geforderten Abschaffung der renditearmen GRV dann für ihre Eltern privat haften müssen und das teuer werden kann, soweit wird hierzulande nicht mehr gedacht. Die Verwendung der Versicherungsterminologie entpuppt sich also als ein besonders schwer wiegender semantischer Betrug.“ (Ebd., S. 38-40).

„Tatsächlich sah der ursprüngliche »Schreiber-Plan« ja nicht nur eine Sozialisierung der Altenlasten, sondern in Gestalt der spiegelbildlich ausgestalteten »Jugendrente« auch eine Sozialisierung der Kinderkosten vor (»Verträge zwischen jeweils zwei Generationen«). Die Beiträge für die Jugendrente sollten dabei nach Kinderzahl gestaffelt und so sichergestellt sein, daß Altersversorgung nur erhielt, wer sich an den Kinderlasten beteiligt hatte. Dieser zweite Teil des »Schreiber-Planes« fiel jedoch unter den Tisch (Konrad Adenauer: »Kinder kriegen die Leute immer«). Obwohl nur das »Humankapital« die Deckung der Rentenanwartschaften sichern kann und die einzige echte Vorsorge für das System deshalb in der Kindererziehung liegt, sollten im neuen System fortan ausschließlich die Erwerbsbeiträge lohnersetzende, lebensstandardsichernde Rentenanwartschaften begründen. Gleichzeitig wurden die Mütter um ihre genuin und originär erworbenen Ansprüche geprellt. Statt entlastet zu werden, mußten Eltern infolge der Sozialisierung der Altenlasten bei privatisierten Kinderlasten ab sofort zusätzlich noch die Altersvorsorge für ihre lebenslang kinderlosen Jahrgangsteilnehmer in Gestalt der Kindererziehung auf ihre Privatkosten leisten - zu Lasten ihrer eigenen Brut! Hinter der ehrwürdigen Fassade eines angeblich solidarischen Sozialversicherungssystems und als »Generationenvertrag« verkleidet wurde so tatsächlich ein System der »Transferausbeutung der Familien« installiert: »Seitdem täuschen sich viele Sozial-, Familien- und Rentenpolitiker; viele ihrer juristischen Berater sowie der Verfassungsjuristen des Sozialstaates über die wirklichen Befunde hinweg. Sie nahmen die bloße Idee des halbierten ›Generationenvertrags‹ als ganze Wirklichkeit: ›Generationenvertrag‹ klingt nach Solidarität; es scheint, als ›vertrage‹ man sich fair und freiheitsfreundlich. Wie bei ›Vertrag‹ überhaupt suggeriert man sich und anderen, Leistungen und Gegenleistungen seien auch schon sachlich wohlbalanciert. Im schroffen Gegensatz zu dieser Fiktion steht die Wirklichkeit: Zwangstransfers, Ungerechtigkeit, Ausbeutung. .... Die Idee vom ›Generationenvertrag‹ fungierte bei alledem ... als schiere Harmonisierungsoptik bei der Verschleierung von Wirklichkeit im allgemeinen sowie von Zwang und Ungerechtigkeit im besonderen. Das Wahrnehmungs-, Denk- und Beurteilungsvermögen wird durch solche fiktiven Harmoniehypothesen ideologisch verzerrt und emotional eingelullt« (Dieter Suhr, Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher Schutz von Familien, Müttern und Kindern, 1990, S. 69 ff.), und das alles macht dann die Täuschung perfekt, die bekanntlich ja »immer weiter als der Verdacht geht« (La Rochefoucauld). Der Gesetzgeber hat der Gesellschaft damit ein Kuckucksei in den »Generationenvertrag« als Nest gelegt, denn Eltern werden in ihm gezwungen, auf Privatkosten und damit auch zu Lasten der eigenen Brut die Altervorsorge für ihre lebenslang kinderlosen Generationsgenossen mit zu erbringen.“ (Ebd., S. 40-41).

„Semantik mit chrematistischen* Wurzeln: Sucht man nach den Gründen, weshalb eine derart widersinnige und den Vorstellungen der Erfinder des neuen Systems stracks zuwiderlaufende und von ihnen heftig bekämpfte Reform überhaupt möglich wurde, kommt man am Rekurs auf die große soziale Transformation des 19. Jahrhunderts nicht vorbei, die mit Stichworten wie Industrialisierung und Urbanisierung, Trennung von Haus und Arbeit, gesellschaftlicher Arbeitsteilung und zunehmender Durchdringung aller Bereiche durch eine hochentwickelte Geldwirtschaft beschrieben wird. Dabei ist die Auflösung der von lohnloser Zusammenarbeit und relativer Autarkie getragenen Wirtschaftsformen des »ganzen Hauses« und der Landwirtschaft von besonderer Bedeutung. Sie führte nämlich zur räumlichen und zeitlichen Trennung von Erwerbs- und Privatsphäre, wobei der Mann zum homo oeconomicus und die Frau zur domina privata avancierte. Gleichzeitig brachte es der Siegeszug der Markt- und Geldwirtschaft mit sich, daß diese Bereiche nicht als gleichwertige und komplementär aufeinander bezogene Aufgaben wahrgenommen, sondern diese Dichotomie von Erwerbsarbeit und Privatem hierarchisch angelegt wurde. Das der Geldwirtschaft immanente chrematistische Prinzip, welches auf die Maximierung der Tauschwertproduktion ausgerichtet ist, beinhaltet nämlich per se ein Informations- und Bewertungssystem, in welchem die reproduktiven Leistungen systematisch unterdrückt, verkannt und nicht selten der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Denn die lohnabhängigen Arbeiten zählt man zum volkswirtschaftlichen Einkommen, die »stille« Arbeit der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion setzt man wertmäßig gleich Null, weil das »Produkt« der Erziehung schließlich nicht tauschbar ist, ja Erziehung wird sogar in »Urlaub« umgedichtet. Es ist bezeichnend für diese einseitige Wahrnehmung und Wertung der gesellschaftlichen Entwicklungen, daß der Philosophie dieser blinde Fleck des Chrematismus schon gar nicht mehr auffiel, als sie sich im Zuge der großen Transformation den Zusammenhängen von Sein und Bewußtsein und ihren Wechselwirkungen zuwandte (namentlich Hegel und Marx). Ausschließlich die formellen Gesellschaftsprozesse waren Gegenstand des philosophischen und sonstigen wissenschaftlichen Interesses. Und so wie die gesellschaftliche Arbeitsteilung seitdem aus den vormals nur wenigen Dutzend Berufen bis heute 44000 unterschiedliche Tätigkeiten von »Aalbrutzüchter« bis »Zytotechnologische Lehrassistentin« mit jeweils eigenen Arbeitswelten und Begriffszusammenhängen hat entstehen lassen, entwickelten sich auch wissenschaftlich immer neue Spezialgebiete. Für die gesellschaftlichen Prozesse wurde dabei die Abstraktion des Geldwesens immer dominanter, dessen durchschlagende (Wechsel- )Wirkungen auf Sein und Bewußtsein als erster wohl Georg Simmel klar erkannt und dabei zentrale Begriffe der modemen Gesellschaftswissenschaften geprägt hat (Individualismus-Debatte, Entfremdungsproblematik, Fremdheit und Rolle der Geschlechter). Die wachsende Verselbstständigung wichtiger Teilbereiche der Gesellschaft (z. B. der Wirtschaft, des Rechts und der Politik), welche im 20. Jahrhundert eine vorher nicht da gewesene Komplexität und Unüberschaubarkeit erzeugte, beschrieb er schon im Jahr 1900 in seinem Hauptwerk »Philosophie des Geldes«. Daß das Zusammengehörige auseinander gerissen und in isolierte Tatsachenkomplexe aufgelöst wird, präzisierte sein Schüler Georg Lukacs schließlich 23 Jahre später als generelles Charakteristikum des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs, der infolgedessen die Phänomene der Gesellschaft und zugleich ihre Begrifflichkeit als isolierte Tatsachen und eigengesetzliche Teilgebiete behandele. Wie willkürlich und abrupt die Grenzen der jeweiligen Disziplinen schon infolge der chrematistischen Blindheit gezogen wurden, beschreibt dabei das Schumpeter-Theorem von 1907: »Die Menschen sterben, neue werden geboren, und so kann man in der Tat, ohne sich besonders Gewalt anzutun, die stets vorhandene Arbeitskraft ähnlich behandeln wie das Land. Wohl muß im Gegensatz zu letzterem eine Reproduktion erfolgen, aber dieselbe fällt aus dem Rahmen ökonomischer Betrachtung heraus«. (Joseph Alois Schumpeter, Das Rentenprinzip in der Verteilungslehre, in: Aufsätze zur ökonomischen Theorie, postum, S. 213) Von hier bis zu J. M. Keynes, demzufolge die »kennzeichnenden Eigenschaften des Geldes vor allem darin liegen, daß es eine scharfsinnige Einrichtung ist, um die Gegenwart mit der Zukunft zu verbinden« (John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 1936, S. 248), war es dann nur noch ein kurzes Stück. Kinder als Zukunftsträger wurden immer unsichtbarer. Die Sparkassenwerbung der 1980er Jahre machte sich in einem Faltblatt ihren Reim darauf: »Geld ist wie ein Baby, man muß es anlegen, damit es wächst!«“  (Ebd., S. 41-43).

„Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft wucherte also zugleich ihre Unübersichtlichkeit und vermehrten sich Begriffe wie Bedeutungsinhalte. Je spezialisierter die Einzeldisziplinen wurden, desto größer wurde zwangsläufig aber ihr Verständigungabstand und umso größer auch die Gefahr von Bedeutungsparallaxen - und dies selbst innerhalb ein und derselben Grunddisziplin. .... So produziert am Ende auch der nüchternste wissenschaftliche Verstand am laufenden Band Mystifikationen und Ideologien, und in allerstrengster Ordnung entsteht am Ende babylonische Wirrnis. Mit völlig irrationalen Ergebnissen. Denn für diese Ökonomie gibt es tatsächlich das soziale perpetuum mobile: Einen Sozialstaat, der in seiner »Ergebnisrechnung« zwar den Ertrag des Humanvermögens in Form der Arbeitsentgelte verrechnet, andererseits aber keinen Aufwand für die »Erstellung« des Humanvermögens in die Bilanz einstellt.
HumanvermögenSachkapital
15 285 000 000 000 DM6 900 000 000 000 DM
Welch kapitaler Fehler sich darin verbirgt, ist z.B. im Fünften Familienbericht der Bundesregierung nachzulesen, der diesen Aufwand für das verfürgbare Humanvermögen mit 15,285 Billionen DM bezifferte, dem 1990 ein Sachkapital von nur 6,9 Billionen DM gegenüberstand. Genauso müßte eigentlich also auch der jetzt eintretende Verlust oder - abschreibungstechnisch gesprochen - »Verzehr« an Humanvermögen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) bilanziert werden. Würde man dies tun, wäre mit einem Blick festzustellen, daß unsere BSP/BIP-Rechnungen um rund 30 bis 40 Prozent überhöht sind. Und nur weil dies nicht geschieht, sind so bizarre Denkoperationen möglich, daß der Geburtenrückgang ja auch positive Seiten habe, weil so der steigenden Altenlast doch per Saldo der sinkende Jugendlastquotient gegenüberstehe! Weitergedacht wäre es also am besten, wir hätten überhaupt keine Kinder mehr, denn dann machten wir sogar noch ein Plus! Die Schulden gegenüber den Alten werden hier mit den Investitionen gegenüber den Jungen verrechnet, als handele es sich um ein und dasselbe. Ist das nicht wie der Trost des Beinamputierten, daß das rechte Bein umso länger ist, wenn das linke zu kurz ist?  Vor 20 Jahren stellte der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Wolfgang Zeidler zu solchen Denkabenteuem fest, daß »unser hochzivilisiertes Gemeinwesen nicht einmal den Instinkt eines Wolfsrudels hat.« (»Die laufen ins offene Messer«, Interview mit Wolfgang Zeidler in: Der Spiegel, 50, 1984, S. 52 ff.). Obwohl Wilfried Schreiber, der das Konzept für die Sozialreform entwickelt hatte, alles daran setzte, die asymmetrische Rentenrefornl noch zu verbindem, wurde diese verkehrte Welt 1957 Gesetz. (Verbürgt ist der Ausspruch eines Parlamentariers, man lasse sich »auch vom besseren Sachverstand nicht überzeugen« [MdB. Kurt Schmücker]). Die Bedeutung von Kindern für den Einzelnen, vormals noch klar erkennbar, wurde nun zusammen mit der Versicherungsterminologie vollends unsichtbar. »Der naive ›Versicherte‹ stellt sich vor, seine Beiträge würden zwar zunächst einmal an die heutigen Rentenbezieher ausgeschüttet, nichtsdestoweniger flössen sie in seinem Alter in Gestalt der alsdann von ihm selbst bezogenen Rente an ihn wieder zurück. Daß man die gleichen Gelder nicht zweimal (konsumtiv) ausschütten kann, so weit denkt er nicht«, zog von Nell-Breuning das Fazit. (Jürgen Borchert / Oswald Nell-Breuning, Im Gespräch, 1984, S. 356ff.) Wie umfassend dieser semantische »Versicherungs«-Betrug wirkte, sollte sich rund 30 Jahre nach der Reform zeigen, als selbst das Bundesverfassungsgericht ihm zum Opfer fiel und den Irrtum des »naiven Versicherten« zum Grundrecht machte.“ (Ebd., S. 44-46).

„Ist ein Alterssicherungssystem, welches quasi auf einer »Enteignung« der Familien ... beruht, sozial und sogar des Schutzes der Eigentumsgarantie wert?  Weshalb bekommt der Kinderlose ... einen bevorzugten Anspruch gegen die Kinder anderer Leute - und zwar ausgerechnet zu Lasten deren Eltern?“ (Ebd., S. 47).

„Die neunfache Mutter Rees wollte sich nicht damit abfinden, mit einer Minirente für 14 Berufsjahre abgespeist zu werden, während ihre Kinder, allesamt Spitzenverdiener, gleichzeitig rund 8000 DM je Monat auf die Rentenkonten anderer überwiesen. Zentrale Frage des Verfahrens war die Gleichwertigkeit der Kindererziehung mit Geldbeiträgen. Die Entscheidung ist bekannt: Das Gericht wich dieser Frage aus; Kindererziehung und Geldbeiträge seien nicht »gleichartig«, weil die Kindererziehung im Unterschied zu den Geldbeiträgen nicht sogleich wieder ausgeschüttet werden könne. (Urteil v. 07.07.1992 [»Trümmerfrauen«], BVG, E 87, 1 [36ff.]). Daß die beiden Beiträge, ökonomisch gesehen, als Konsumverzicht identisch sind und die Konsequenz der Entscheidung dahin ging, ausgerechnet in dem Vorsorgesystem den quasi nach rückwärts gewandten Beiträgen zulasten der Zukunftsinvestitionen den Vorrang einzuräumen, erkannte man nicht. Dennoch brachte die Entscheidung eine Wende. Denn zum einen wurde das Gesamtsystem des FLA einmal einer Transferanalyse unterzogen und dabei das astronomische Ausmaß der Familienausbeutung festgestellt. Zum anderen wurde klar erkannt und ausgesprochen, daß eine Korrektur des durch sozialversicherungsrechtliche Transfers verursachten Unrechts sich sinnvoll nur an der Unrechtsquelle beheben läßt, bei der Rente also dort: Eine »maßvolle« Umverteilung aus den Anwartschaften Kinderloser zu Familien verletze auch Artikel 14 GG nicht. Das Gericht erteilte dem Gesetzgeber drittens einen umfassenden Auftrag, die Situation der Familien im Steuer- und Sozialrecht relativ zu Kinderlosen mit jedem Gesetzgebungsschritt zu verbessern. Wie wir heute wissen, geschah dies nicht. Im Gegenteil wurde die Transferbehandlung der Familien weiter verbösert, namentlich durch die Pflegeversicherung.“ (Ebd., S. 47-48).

„Die semantische Verkehrung der Schlüsselbegriffe in der Sozialstaatsdebatte: Der Gesetzgeber hat auch eine Fülle weiterer semantischer Verwirrungen gestiftet. So wurde 1996 der Kinderfreibetrag im EStG als »Familienleistungsausgleich« bezeichnet, obwohl es der Sache nach nur um die verfassungsrechtlich notwendige Freistellung des Existenzminimums geht und niemand auf die Idee kommt, dies einem Kinderlosen, der in gleicher Weise bedacht wird, etwa als Lastenausgleich anzurechnen; so werden durch das Politikmarketing dann falsche Bewußtseinsfährten gelegt. (Auf denen die Politik nicht selten selbst in die Irre geht: Beispielsweise wird in der Debatte immer darauf hingewiesen, daß das Kindergeld in Deutschland viel höher als in den Nachbarländern sei, dabei jedoch übersehen, daß es gemäß § 31 EStG hauptsächlich einFreibetragssurrogat darstellt, während es das Kindergeld in Frankreich z.B. zusätzlich zum Familiensplitting gibt; tatsächlich ist das Kindergeld als Sozialleistung in Frankreich also viel höher als hierzulande!). In jüngster Zeit wimmelt die ganze Refonndebatte nun von semantischen Fehlgriffen und Betrügereien; wirklich keiner der zentralen Begriffe erfaßt den zu regelnden Sachverhalt zutreffend. Beispiel »Nachhaltigkeit«. Der Begriff aus der Forstwirtschaft besagt, daß Pflanzen und Abholzen im Gleichgewicht stehen müssen, die Politik aber suggeriert in der Sozialreformdebatte, daß weniger Einschlag (= Leistungskürzungen) das Neuanpflanzen entbehrlich mache. Davon, daß die Beitragszahler von morgen die Kinder von heute sind und die Reformen deshalb um sie kreisen müßten, daß alle Anstrengungen in die Familien- und Bildungspolitik fließen müßten, ist in den Reformkonzepten gerade nicht die Rede. Beispiel »demographische Entwicklung«: Mit ihr werden praktisch alle harten Einschnitte begründet, die Eltern und Kinderlose gleichermaßen treffen sollen. Was nicht klargestellt wird, ist, daß die soziale Alterung zwei Komponenten hat, nämlich einerseits die Verlängerung der Lebenserwartung, andererseits den Geburtenmangel, und daß dabei der Einfluß des generativen Faktors mit einem Wirkungsanteil von zwei Dritteln dominiert. Damit ist »Kinderlosigkeit« also die Hauptursache der zu lösenden Schwierigkeiten, für die man Eltern aber gerade nicht »selbstverantwortlich« haften lassen kann, weil sie diese Eigenverantwortung längst wahrgenommen haben. Läßt man sie mithaften, dann wird die (selbstverständliche) Freiheit für einen Lebensentwurf ohne Kinder von der Verantwortung für dessen Folgen entkoppelt - das ist das genaue Gegenteil von »Eigenverantwortung«. Im Geburtsjahrgang 1935, also dem Rentenzugang 2000, waren noch weniger als 10 Prozent der Menschen lebenslang kinderlos geblieben, während es im Geburtsjahrgang 1965 fast 35 Prozent sind, mehr als eine Verdreifachung. Genau hieraus resultieren aber die »demographischen« Probleme; rechnet man die etwa 20 Prozent Ein-Kind-EIternpaare, von denen ein Partner ebenfalls durch Kinder anderer Leute versorgt werden muß, zur Hälfte (also 10 Prozent) hinzu, dann müssen rund 45 Prozent des gesamten Altersaufwands - Renten und Pensionen, Gesundheit und Pflege -, der derzeit etwa 350 Mrd. € ausmacht, im Jahre 2030 von »anderer Leute Kinder« erbracht werden. Das wären, bezogen auf das gegenwärtige Sozialbudget um die 157,5 Mrd. € - mehr als das gesamte Lohnsteueraufkommen. Was hier für die »demographische Entwicklung« gesagt wurde, gilt übrigens identisch für die »Generationengerechtigkeit«. Sie ist ebenfalls ein solches trojanisches Begriffspferd, in welchem der intragenerationelle Konflikt, sei es bei der Altersversorgung zwischen Eltern und Nicht-Eltern oder bei der Staatsverschuldung zwischen Reich und Arm, verborgen wird. Eine weitere zentrale Argumentation, insbesondere mit Blick auf den Verfassungsauftrag aus dem »Pflegeurteil«, ist die Formel: »für Familienlastenausgleich sei nicht die Sozialversicherung, sondern die »Allgemeinheit« zuständig«, Kindererziehung sei »versicherungsfremd«. Auch damit werden die Dinge auf den Kopf gestellt, denn hier geht es ja ausdrücklich um die system-konstitutive Leistung »Kindererziehung«; außerdem ist »die Allgemeinheit« nicht kinderlos, sondern zu ihr gehören auch alle Eltern mit zwei, drei, vielen Kindern, die sich gar nicht selbst »ausgleichen« können, sondern damit nur doppelt und dreifach belastet würden. Ganz nebenbei wird dabei sogar noch die VerfassungsjuDiktatur ignoriert, denn schon im »Trümmerfrauenurteil« ist die vollkommen richtige Einsicht nachzulesen, daß das von der Sozialversicherung verursachte Unrecht mit sozialversicherungsrechtlichen Mitteln zu beseitigen ist. Semantisch ebenso unzutreffend und irreführend ist schließlich auch der Begriff der »beitragsfreien Familienhilfe« in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Denn hier werden die Unterhaltsansprüche der Kinder ja nicht etwa von der Bemessungsgrundlage abgezogen, sondern komplett verbeitragt. Auch die Tatsache, daß viele Rechnungen (z.B. vom Kieler Institut für Weltwirtschaft, der Bundesbank, dem Institut der Deutschen Wirtschaft, dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfamilienministerium) zwar die Kosten der Familienhilfe zugunsten der Familien bilanzieren, die (derzeit) ungefähr dreimal so hohen Gesundheitskosten der kinderlosen Rentner vom Eintritt in den Ruhestand bis zum Tode, die genau wie bei der Rente ebenfalls ausnahmslos von den Kindern anderer Leute erbracht werden müssen, aber nicht wahrnehmen, läßt sich als Folge dieser semantischen Manipulationen verstehen.“ (Ebd., S. 48-51).

„Der fehlerhafte Gebrauch der Sprache führt am Ende dazu, daß selbst Politiker daneben greifen, die zu einer Änderung der Mißstände entschlossen sind. Das zeigt das Beispiel Horst Seehofers: Er machte am 6. November 2003 in der PIenardebatte den an der VerfassungsjuDiktatur orientierten, im Prinzip richtigen Vorschlag, die demographisch begründeten Rentenkürzungen vornehmlich auf Kinderlose zu konzentrieren und die Eltern gleichzeitig mit einem Pauschalbetrag auf der Beitragsseite zu entlasten. Für diese geringfügige Minderung der auch danach immer noch gewaltigen Familiennachteile wählte er den Begriff des »Bonus« und handelte sich von allen Seiten den Vorwurf der »doppelten Bestrafung Kinderloser« ein. Dies hätte er vermeiden können, wenn er die Einsicht Ferdinand Lassalles’ beherzigt hätte, »das laut zu sagen, was ist.« Aber »das, was ist« überhaupt noch zu erkennen, verhindert die Sprache ebenfalls. Denn »die Realität sieht in Wirklichkeit ganz anders aus« (Graffitti in Erfurt, 1992), als die Sprache sie uns vermittelt. So gibt es aus der falschen Begriffiichkeit kaum noch ein Entrinnen. Die semantischen Igel sind des Sozialstaatshasen Tod. Denn wo auch Verantwortung gar nicht mehr wahrnehmbar ist, ist die Verletzung der »Baugesetze der Gesellschaft: Solidarität und Subsidiarität« bereits eingetreten und rieselt die Gesellschaft auseinander wie loser Sand. Dem Feuilletonisten Konrad Adam gebührt das Verdienst, dies an einem Paradebeispiel eines semantischen Betrugsversuchs dingfest gemacht zu haben. Als Minister Blüm anläßlich der Einführung der Pflegeversicherung (im Wahljahr 1994!) nämlich triumphierte, mit ihr erhalte der Sozialstaat seinen »Schlußstein«, notierte Adam mit Blick auf die familienfeindlichen Verteilungswirkungen des neuen Systems: »Das mag stimmen. Aber das Material dafür hat man dem Fundament entnommen.« Auch alle Juristenkunst im Bergauflenken der Flüsse kann und wird also nichts daran ändern, daß am Ende doch alles den Bach runter geht.“ (Ebd., S. 51).

Das demographische Defizit - Die Fakten, die Folgen, die Ursachen und die Politikimplikationen (Hans-Werner Sinn)

„Dieser Aufsatz beschreibt die demographischen Fakten und analysiert die Folgen für das Rentensystem und die Dynamik unseres Landes ..., untersucht auch die ökonomischen Ursachen der Kinderlosigkeit in Deutschland, zu denen in vorderster Front das Rentensystem selbst zu zählen ist. Die Rentenversicherung hat den Menschen die Verantwortung für ihr Einkommen im Alter genommen und damit die Kinderlosigkeit ... maßgeblich mitverursacht. Zur Korrektur der Fehlentwicklung wird empfohlen, die Renten nach dem alten System deutlich zu kürzen und zusätzlich von der Kinderzahl abhängige Rentenansprüche einzuführen. Personen, die kein Geld für die Kindererziehung ausgeben, sollen ihr Geld statt dessen in die Riester-Rente investieren.“ (Ebd., S. 53).

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Quelle: UNO, Population Division, 2001

„Die schönen Versprechungen der Politiker und Verbandsvertreter, die auf die Demographen nicht hören wollten, entpuppen sich als Luftblasen. Unlösbare Verteilungskämpfe zwischan den Alten und den Jungen drohen, das politische System der Bundesrepublik Deutschland zu erschüttern.“ (Ebd., S. 54).

„Die Alterung ... wird durch die Abbildung verdeutlicht, in der die Entwicklung des Medianalters ... dargestellt ist, also jenes Alters, das die Bevölkerung in zwei gleich große Gruppen von älteren und jüngeren Personen teilt. Man sieht, daß dieses Medianalter ... inzwischen auf 40 Jahre gestiegen ist und bis zum Jahr 2035 um weitere zehn Jahre auf über 50 Jahre ansteigen wird. .... Was ist die Ursache für das hohe und weiter zunehmende Durchschnittsalter ...?  .... Die wahre Ursache der ... Alterung ... ist die Verringerung der Zahl der Geburten.“ (Ebd., S. 55-57).

„Die Erhöhung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung ist ein optischer Trick zur Geringrechnung der Belastung, aber keine Lösung, weil auch ein solcher Zuschuß durch Steuern finanziert werden muß, die von den Arbeitenden zu entrichten sind. Versuche, neben den Lohneinkomemn die Kapitaleinkommen zur Finanzierung der Renten (Stichwort: Wertschöpfungsabgabe) heranzuziehen, werden scheitern, weil die internationale Kapitalmobilität die wirksame Besteuerung des Kapitals verhindert.“ (Ebd., S. 63-64).

„Die wirklichen Lösungsansätze für Deutschlands demographische Krise liegen nicht in immer neuen Einfällen zur Umverteilung von Einkommen innerhalb einer Generation (d.h.: Umverteilungspolitik der Ewiggestrigen; HB), sondern bei der Kapitaldeckung und bei Maßnahmen zur Anhebung der Geburtenraten (!!!) .... Die problematischen Folgen der demographischen Krise beschränken sich nicht auf das Rentensystem. Auch die geistige und wirtschaftliche Dynamik Deutschlands wird erlahmen. Nach einer Untersuchung von Guilford aus dem Jahre 1967 erreichen Wissenschaftler im Durchschnitt aller Disziplinen im Alter von circa 35 Jahren ein Maximum ihrer Leistungskraft. (Vgl. F. E. Weinert, Wissen und Denken, 1997, S. 98; J. P. Guilford, The Nature of Human Intelligence, 1967; H. C. Lehmann, Alter und Leistung, 1953). Schon heute liegen die jüngsten geburtenstarken Jahrgänge in Deutschland ... deutlich über diesen Werten.“ (Ebd., S. 64).

„Manchmal wird vermutet, die altersbedingte Verringerung der Erwerbstätigkeit sei ein Vorteil für den Arbeitsmarkt, weil so die Arbeitslosenquote gesenkt werden könne. Diese Vermutung ist freilich irrig. Sie entspringt einer allzu primitiven mechanischen Sichtweise des Wirtschaftsgeschehens und übersieht, daß die Alterung nicht nur Arbeitnehmer, nehmer, sondern auch Arbeitgeber aus dem Arbeitsmarkt eliminiert. Zu beachten ist nämlich, daß neue Unternehmen, die neue Arbeitsplätze schaffen, von jungen Leuten gegründet werden. Das durchschnittliche Alter der Unternehmensgründer liegt in Deutschland bei 34 bis 35 Jahren, es fällt also mit dem Alter der maximalen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit zusammen. (Vgl. J. Brüderl / P. Preisendörfer / R. Ziegler, Der Erfolg neugegründeter Betriebe, 1996). Da die am dichtesten besetzten Altersklassen älter als 35 Jahre sind, ist als Ergebnis einer weiteren Alterung der deutschen Bevölkerung nicht eine Verminderung der Arbeitslosigkeit, sondern ganz im Gegenteil ein Verschärfung des ohnehin schon bestehenden Mangels an Unternehmern und Arbeitsplätzen zu befürchten. Daß ein Land von Greisen eine geringere Arbeitslosigkeit als ein Land von jungen, arbeitsfähigen Menschen aufweisen würde, ist eine absurde und naive Vorstellung. Die Alterung der deutschen Bevölkerung wird die Innovationskraft des Landes, von der seine internationale Wettbewerbsfähigkeit maßgeblich abhängt, weiter verringern. Deutschland hat im internationalen Vergleich immer noch eine sehr gute Position bei den Patentanmeldungen, doch ist das Wachstum der Zahl der Patentanmeldungen ... schon seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ... hinter den USA zurückgeblieben (relativ [!], denn gemessen an der Einwohnerzahl liegt Deutschland auch heute immer noch vor den USA; HB), die in dieser Hinsicht eine besonders bemerkenswerte Entwicklung hatten. Während US-Amerikaner 1980 doppelt so viele Patente in ihrem Heimatland anmeldeten wie die Deutschen in dem ihren, sind es heute dreimal so viele (gemessen an der 3-bis-4-mal größeren Einwohnerzahl der USA liegt Deutschland also auch heute immer noch vor den USA; HB). Allerdings ist die Zahl der deutschen Patente angesichts der vergleichsweise geringen Größe Deutschlands immer noch hoch (höher als in den USA und weltweit am höchsten! HB). Die Investoren nehmen die demographischen Probleme vorweg und halten sich schon heute zurück. Auch die Aktienmärkte, die sehr stark von den langfristigen Gewinnerwartungen der Anleger geprägt sind, antizipieren die zu erwartende Entwicklung schon heute. Vielleicht sind der allgemeine Attentismus der Investoren und der im internationalen Vergleich starke Verfall der deutschen Aktienkurse bereits auf diesen Effekt zurückzuführen. Nur die Aktien von Altersheimen werden von dieser Entwicklung ausgenommen sein. Sie werden sich durch steigende Kurse nach obenhin vom allgemeinen Trend abheben, denn in den Altersheimen liegt die Zukunft des Landes. Deutschland verwandelt sich unter dem Einfluß der demographischen Probleme allmählich in eine Gerontokratie, in der die Alten das Sagen haben. Schon heute kann es keine Partei wagen, gegen die Interessen der Rentner zu agieren. Als die Riester-Reform durch den Bundestag gebracht wurde, wurde die SPD links von der CDU/CSU überholt und gezwungen, auf die Absenkung des rentenniveaus und der beiträge zu verzichten.
Dieser Trend wird sich in Zukunft verfestigen. Die Abbildung zeigt, wie sich die strategischen Mehrheiten in der wahlberechtigten deutschen Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten entwickeln werden. Die Kurve des Medianalters der Wähler gibt jenes Lebensalter an, das die Gruppe der nach dem Alter aufgelisteten Wahlberechtigten in zwei gleich große Gruppen aufspaltet. In der Demokratie kann keine Entscheidung gegen die Interessen des Medianwählers durchgeführt werden, weil sie keine Mehrheiten fände, und die Parteien werden ungeachtet ihrer ideologischen Vorprägung stets bestrebt sein, Programme zu entwickeln, die den Präferenzen des Medianwählers möglichst nahekommen. Heute ist der deutsche Medianwähler 47 Jahre alt, doch in 20 Jahren wird er bereits 54 Jahre alt sein. Dies wird eine signifikante Veränderung der Politik erzwingen. Die als »Indifferenzalter« bezeichnete Kurve in der Abbildung bezieht sich auf eine parallele Renten- und Beitragskürzung, etwa von der Art, wie sie mit der Riester-Reform versucht und auch partiell vorgenommen wurde. Versicherungsmathematisch gesehen benachteiligt eine solche Reform die Rentner und die älteren Erwerbstätigen, die dem Rentenalter bereits nahe sind. Sie entlastet jedoch jüngere Versicherte, weil die Senkung der Beitragssätze für sie barwertmäßig einen größeren Vorteil bedeutet als die Kürzung ihrer eigenen Renten an Nachteilen hervorruft. Das Indifferenzalter ist jenes Lebensalter, in dem Vor- und Nachteile sich bezüglich der erwarteten Barwerte rechnerisch gerade aufheben. Liegt das Indifferenzalter über dem Wahlberechtigten-Medianalter, dann profitiert die Mehrheit der Wahlberechtigten von einer Reform à la Riester. Liegt es darunter, dann profitiert eine Mehrheit von einer weiteren Ausdehnung des umlagefinanzierten Rentensystems, also vom Gegenteil der Riester-Reform. Nach dem in der Abbildung dargestellten Ergebnis ist eine strategische Mehrheit für Rentenreformen vom Riester-Typ nur noch bis etwa 2015 gesichert. Danach sind solche Reformen kaum noch durchsetzbar. Dann kippt das politische System Deutschlands um. Die demographische Krise Deutschlands ist das Ergebnis eines allgemeinen Wandels in den Einstellungen der Menschen zur Ehe, zu Kindem, zur Rolle der Frau und zu anderen Aspekten des Lebens, die ebenfalls Rückwirkungen auf die Kinderzahl haben. Der Wandel dieser Einstellungen ist freilich nicht gottgegeben und auch nicht nur auf die Zufälligkeiten kulturgeschichtlicher Entwicklungen zurückzuführen, sondern hat großenteils handfeste ökonomische Ursachen.“ (Ebd., S. 64-67).

„Wie stark die Fertiltiätsentscheidung von ökonomischen Anreizen bestimmt wird, zeigt ein Blick auf die Geburtenentwicklung in der DDR nach der Einführung eines umfassenden Programms zur Erhöhung der Fertilitätsrate im Jahr 1972, das von einer Stärkung der Rechte der Mütter am Arbeitsplatz über ein breites Angebot an Betreuungseinrichtungen für Kinder ab dem Krippenalter und einer Erhöhung der finanziellen Beihilfen für junge Familien bis zur verbesserten Wohnraumversorgung für Familien mit Kindern reichte. (Vgl. H. Lampert, Priorität für die Familie - Plädoyer für eine nationale Familienpolitik, 1976, S. 200-206). Dieses Programm hatte eine durchschlagende Wirkung. Während die Fertilitätsentwicklung in West- und Ostdeutschland bis etwa 1972 sehr ähnlich verlief, zeigt sich für die DDR nach dem Beginn des Programms ein sehr deutlicher Anstieg der Geburtenrate (sie erreichte sogar fast wieder das Bestandserhaltungsniveau von 2,1 Geburten pro Frau! HB). .... Es ist übrigens bemerkenswert, daß ... die Geburtenrate ... der neuen Bundesländer nach dem Beitritt zur Bundesrepublik zunächst sehr deutlich unter das bundesrepublikanische Niveau fiel. Das mag daran gelegen haben, daß der Regimewechsel bei den Betroffenen ein stärkeres Problembewußtsein geschaffen und insofern eine besonders starke Änderung des Reproduktionsverhaltens hervorgerufen hat.“ (Ebd., S. 68-70).

„Das Beispiel Frankreich: Es ist nicht einfach, die Unterschiede zwischen den Fördersystemen Frankreichs und Deutschlands zu objektivieren. Hervorzuheben ist jedoch neben der sehr viel besseren Versorgung mit Kindergärten und Kinderkrippen sowie der Ganztagsschule ganz allgemein der Umstand, daß in Frankreich ein anderes Grundverständnis bezüglich der Leistungsfähigkeit der Familien mit Kindern vorzuliegen scheint. Dieses Grundverständnis hat zum Beispiel dazu geführt, daß die Kinde einer Familie in das Splitting-System der Einkommensteuer (»quotient familial«) einbezogen werden, ähnlich wie es in Deutschland bei Ehepartnern (ohne Kinder natürlich! HB) der Fall ist. Die in der deutschen Politik vorherrschende (falsche !) Vorstellung ist, daß die steuerliche Leistungsfähigkeit von der Kinderzahl unabhängig sei und daß der Staat die Kindererziehung mit festen, für alle gleichen Geldbeträgen bezuschussen solle. In Frankreich herrscht stattdessen die (richtige!) Meinung vor, daß Kinder die steuerliche Leistungsfahigkeit einer Familie reduzieren und deshalb durch einen Abzug von Freibeträgen und eine Absenkung der Progression des Einkommensteuertarifs Berücksichtigung finden sollten. Dort argumentiert man, das deutsche System sei ungerecht (und ist es auch!), weil es Familien mit gleicher Leistungsfähigkeit unterschiedlich stark besteuere, und zwar umso mehr, je höher die Zahl der Kinder sei. Die Unterschiede hätten zur Folge, daß sich in Deutschland die fiskalischen Anreize, Kinder in die Welt zu setzen, bei den ärmeren Familien bis hin in den Bereich der Asozialität konzentrierten, während sie in Frankreich auch bei mittleren und höheren Einkommensschichten erheblich seien. Der französische Weg sei insofern vorzuziehen, als er dazu führe, daß Kinder insbesondere auch in den sozial intakten Familien der Mittelschicht auf die Welt kommen und großgezogen werden. Das führe zu einer besseren Ausbildung der Kinder und sorge beim Erbgang sozusagen automatisch, ohne staatliche Eingriffe, für eine gleichmäßigere Vermögensverteilung. Das französische Kinder-Splitting greift insbesondere beim dritten Kind mit voller Kraft, weil erst dieses Kind mit vollem Gewicht in den entsprechenden Steuerformeln berücksichtigt wird. (Das erste und zweite Kind werden jeweils mit dem halben Gewicht, das dritte mit dem ganzen Gewicht bei der Splitting-Formel berücksichtigt). Dies könnte einer der Gründe für den meßbaren Erfolg der französischen Familienpolitik sein, denn viele Familien, die sich prinzipiell für Kinder entschieden haben, planen aus eigenem Antrieb bereits, zwei Kinder zu haben. Der finanzielle Anreiz für das dritte Kind führt zu einer signifikanten Verhaltensänderung und relativ starken Effekten auf die Geburtenziffern. Berechnungen des Ifo-Instituts zeigen, daß das erste Kind in Deutschland stärker als in Frankreich gefördert wird, daß aber in Frankreich das zweite und dritte Kind stärker gefördert werden. Die staatliche Entlastung durch das Kindergeld und durch Steuerersparnisse beim zweiten und dritten Kind ist prozentual gesehen deutlich größer als in Deutschland. (Vgl. W. Meister / W. Ochel, Steuerliche Förderung von Familien im internationalen Vergleich, 2003). Ein französisches Ehepaar mit drei Kindern und einem Einkommensbezieher, der den Durchschnittslohn eines Industriearbeiters bekommt, hat ein um 9,1% höheres Familieneinkommen als eine Familie mit zwei Kindern und dem gleichen Bruttoeinkommen. Für Deutschland beträgt der entsprechende Einkommenszuwachs nur 6,5%. Erzielt auch der zweite Ehepartner ein Arbeitseinkommen in Höhe von einem Drittel des Durchschnitts, so beträgt der Zuwachs an Nettoeinkommen für das dritte Kind in Frankreich 7,5 % und in Deutschland 5,9%. Die Wirkung des Kinder-Splitting zeigt sich insbesondere auch daran, daß, falls das Arbeitseinkommen des zweiten Ehepartners zwei Drittel des Durchschnitts beträgt, die zusätzliche Entlastung in Frankreich 7,7%, in Deutschland dagegen nur noch 4,8% ausmacht. Gerade auch dann, wenn die Ehefrauen berufstätig sind, werden die Familien in Frankreich viel stärker entlastet, wenn sie sich für das dritte Kind entscheiden, als das in Deutschland der Fall ist. Noch deutlich größer sind die Förderunterschiede bei Familien, die über überdurchschnittliche Einkommen verfügen. Im Vergleich zu Frankreich und anderen Ländern steht Deutschland auch bei den Sachleistungen zurück.
Kindergärten und Vorschulen
Die Abbildung zeigt einen internationalen Vergleich der Versorgung mit Kindergärten und Vorschuleinrichtungen. Frankreich steht unter anderem wegen seiner »ecole maternelle«, einer von praktisch allen Kindern besuchten Vorschule, ganz oben auf der Rangskala. Deutschland, das den Kindergarten erfunden und als eine institution mitsamt ihren Namen in alle Welt exportiert hat, liegt im Mittelfeld .... Ähnlich ist die Situation bei den Ganztagsschulen. Es gibt kaum noch Länder mit Halbtagsschulen, wie sie in Deutschland üblich sind. Die Ganztagsschule ist in den meisten OECD-Ländern die Regel. Wegen der fehlenden Ganztagsschulen werden in Deutschland junge Frauen vor die schwierige Entscheidung gestellt, entweder den Beruf auszuüben oder Kinder großzuziehen. Der Übergang zu Ganztagsschulen würde diesen Konflikt deutlich entschärfen, den Einkommensverzicht, der mit der Kindererziehung verbunden ist, verringern und die Geburtenraten erhöhen. Die Wirkung von Kindergärten und Ganztagsschulen auf die Kinderhäufigkeit resultiert aus dem Umstand, daß ohne diese Einrichtungen die Frauen gezwungen sind, ihre Berufstätigkeit stark zurückzunehmen, und vor die Alternative Karriere oder Kinder gestellt werden, wobei die Entscheidung zunehmend zugunsten der Karriere ausfällt. Das Fehelen von Kindergärten und Ganztagsschulen bedeutet einen erheblichen Einkommensverzicht der Frauen, wenn sie sich für Kinder entscheiden. Dieser Einkommensverzicht stellt vermutlich den größten Teil der Kosten der Kindererziehung dar und dürfte die internationalen Unterschiede in den Fertilitätsraten weitgehend erklären. Dies gilt umso mehr, als die Loheinkommen der Frauen relativ zu den Lohneinkommen der Männer ... erheblich gestiegen sind. Die Gehälter vollzeitbeschäftigter weiblicher Angestellter, die noch im Jahre 1960 bei 55% der Gehälter ihrer männlichen Kollegen lagen, sind inzwischen auf über 70% angestiegen. Höhere Löhne für die Frauen bedeuten höhere Opportunitätskosten für die Kindererziehung, und insofern kann in ihnen ein Grund für die im Zeitlauf sinkenden Geburtenraten gesehen werden. Wie wichtig dieser Effekt für sich genommen ist, ist aber umstritten. Immerhin ist bemerkenswert, daß die Geburtenarten in Frankreich höher als in Deutschland sind, obwohl dort die Relation von Frauen- und Männerlöhnen höher als in Deutschland zu sein scheint. Eher ist zu vermuten, daß die gestiegenen Einkommen der Frauen indirekt wirken, indem sie den Effekt fehlender Kindergärten und Ganztagsschulen verstärken. Je höher die Lohneinkommen der Frauen sind, desto größer ist der Anreiz, beim Fehlen solcher Einrichtungen auf Kinder zu verzichten.“ (Ebd., S. 70-74).

„Auch die Rentenversicherung gehört zu den Ursachen (!): Unter den ökonomischen Ursachen der Kinderlosigkeit ... ist die Rentenversicherung besonders hervorzuheben. Die Rentenversicherung leidet nicht nur unter den Folgen der demographischen Krise, sondern hat diese Folgen selbst mit hervorgebracht. Die Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren ist eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit und die daraus entstehende Altersarmut.* Auch wenn man selbst keine Kinder haben kann, muß man im Alter nicht darben, weil man von den Kindern anderer Leute ernährt wird. Der gegenseitige Versicherungsschutz ist ein großer Vorteil für alle Beteiligten. Problematisch ist aber, daß diese Versicherung gegen Kinderlosigkeit die ökonomischen Gründe für den Kinderwunsch aus der Familienplanung ausblendet, indem sie die Leistungen der Kinder an die vorangehende Generation fast vollständig sozialisiert. Nicht nur in den Entwicklungsländern haben Menschen Kinder, um sich vor Altersarmut zu schützen. Vor der Einführung der Rentenversicherung durch Bismarck war es auch in Deutschland üblich, Kinder zu bekommen, um den eigenen Alterskonsum sicherzustellen. Dieses Motiv entfällt heute in Deutschland. Auf eigene Kinder kommt es bei der Versorgung im Alter nicht mehr an. Es reicht, wenn andere Leute Kinder in die Welt setzen, die später die Rente zahlen. Ob man selbst Kinder hat oder nicht, die eigene materielle Versorgung im Alter wird davon kaum berührt, und deshalb ist eines der wichtigsten Motive für den Kinderwunsch erloschen. Kaum ein junges Paar verbindet den Kinderwunsch heute mehr mit der Frage, wie der eigene Lebensabend zu sichern ist. Der fehlende Zusammenhang zwischen Kinderwunsch und Rententhema in den Köpfen der Menschen zeigt in aller Deutlichkeit, auf welch dramatische Weise das staatliche Rentensystem auf die gesellschaftlichen Normen Einfluß genommen hat. Es ist kein Zufall, daß Deutschland, welches als erstes Land eine umfassende staatliche Rentenversicherung eingeführt hat, heute zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate gehört. Generationen von Deutschen haben seit 1889 die Erfahrung gemacht, daß man auch ohne eigene Kinder im Alter zurechtkommt, und so haben sich auf dem Wege der Nachahmung von Generation zu Generation neue Lebensmuster verbreitet, die an die neuen institutionellen Verhältnisse angepaßt sind. Das Single-Dasein ist zu einem attraktiven Lebensmuster geworden, und die Zahl der jungen Paare, die zumindest vorläufig keine Kinder haben wollen und auch die Heirat noch nicht einplanen, hat dramatisch zugenommen. Früher erwuchs aus der Kinderlosigkeit eine Bedrohung für das eigene Leben, die es unter allen Umständen zu vermeiden galt. Heute entsteht aus der Kinderlosigkeit ein massiver materieller Vorteil, den immer mehr Menschen für sich reklamieren. Der neue Golf und der Urlaub auf den Malediven können mit dem Geld finanziert werden, das bei der Kindererziehung eingespart wurde oder das die Frau hinzuverdienen konnte, weil sie sich statt für Kinder für eine Berufstätigkeit entschied. Gerade auch die untere Mittelschicht der Gesellschaft, die früher hohe Geburtenraten aufwies, hat in der Kinderlosigkeit einen Weg entdeckt, den materiellen Aufstieg zu schaffen. Die Bedrohung, die aus der Kinderlosigkeit erwächst, ist zwar auch heute noch vorhanden, aber sie verlagert sich diffus auf das gesamte Gemeinwesen. Deutschland vergreist, die Dynamik des Landes läßt nach, der Sozialstaat gerät in die Krise, und dennoch hat der Einzelne kaum etwas davon, wenn er seinen Beitrag zur Verhinderung dieser Entwicklung leistet. Der Zusammenhang zwischen Kinderlosigkeit und Rentenversicherung ist unter dem Stichwort »Social Security Hypothesis« in der Literatur ausgiebig diskutiert und dokumentiert worden. So haben Ehrlich und Chong sowie Ehrlich und Kim (1998 und 2001) in Studien, die 57 Länder umfaßten, nachweisen können, daß die Einführung und der Ausbau umlagefinanzierter Rentensysteme im Zeitraum von 1960 bis 1992 einen signifikanten negativen Einfluß auf Familienbildung und Geburtenziffer haben. Ähnliche Resultate* finden Cigno und Rosati (1996; 1997), wobei sie in einer neueren Studie aus dem Jahr 2000 speziell auch für Deutschland zu eindeutigen, die Hypothese bestätigenden Resultaten kommen. (Vgl. Cigno, Casolaro und Rosati 2000). Wie groß die fiskalischen Fehlanreize, die über das Rentenversicherungssystem laufen, wirklich sind, läßt sich sehr deutlich ermessen, wenn man einmal fragt, welchen fiskalischen Beitrag ein neugeborenes Kind, das eine durchschnittliche Erwerbsbiographie durchläuft und selbst wieder für eigene Nachkommen sorgt, für andere Mitglieder des Rentensystems leistet. Das Kind wird erwachsen, zahlt dann bis zum eigenen Rentenalter Beiträge und bezieht anschließend eine Rente, die freilich auf dem Wege der Beitragszahlung von den eigenen Nachkommen aufgebracht wird. Wie vom Autor in einer früheren Studie ausgeführt wurde, lag der Barwert des fiskalischen Beitrags eines neugeborenen Kindes für das Rentensystem im Jahr 1997 bei knapp 90000 Euro, und selbst wenn man die staatliche Hilfen für die Kindererziehung einschließlich der freien Schulausbildung abzieht, kam man in diesem Jahr immer noch auf einen Betrag von etwa 35000 Euro.* Dabei handelt es sich um eine äußerst vorsichtige Schätzung, die die wahren Verhältnisse insofern untertreibt, als von einer Konstanz des Beitragssatzes zur Rentenversicherung ausgegangen wird. Der Barwert von 90000 Euro ist eine positive fiskalische Externalität, die Eltern, die sich für ein Kind entscheiden, für andere Gruppen der Gesellschaft außerhalb ihrer eigenen Nachkommenschaft ausüben. Er ist einer Kindersteuer gleichzusetzen, die der Staat den Eltern bei der Geburt ihres Kindes auferlegt, jedoch verbunden mit dem Verlangen einer marktüblichen Verzinsung stundet, bis das Kind erwachsen ist. Würde der Staat die Wirkung dieser Steuer durch eine entsprechende Transferleistung von 90000 Euro zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes kompensieren, so würden, das wird jedermann auch ohne die entsprechenden ökonometrischen Untersuchungen einleuchten, sicherlich sehr viel mehr Kinder geboren.“ (Ebd., S. 74-76).

*) „Hinsichtlich der Effekte umlagefinanzierter Renten für die private Ersparnis kommen die Studien allerdings zu unterschiedlichen Resultaten: Während I. Ehrlich und J.-G. Chong sowie I. Ehrlich und J. Kim (1998, 2001) einen negativen Zusammenhang finden, ergibt sich bei A. Cigno und F. C. Rosati (1996, 1997) - bei etwas anderer Spezifikation der relevanten Variablen - ein positiver Zusammenhang.“ (Ebd.).

*) „Unterstellt wurde: Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Alter von 20 Jahren; Entwicklung des jährlichen Arbeitseinkommens über die Erwerbsphase hinweg nach einem durchschnittlichen Lohnprofil, das auf Mikrodatenbasis hergeleitet wurde; Berücksichtigung der durchschnittlichen Wahrscheinlichkeit vorzeitiger Invalidität ab dem 54. Lebensjahr, definitives Ausscheiden aus dem Berufsleben mit 65 Jahren; das durchschnittliche Lohneinkommen aller Versicherten wächst real um 1,5% pro Jahr, es wird ein Kapitalmarktzins von real 4% und ein Beitragssatz zur Sozialversicherung von 20% unterstellt.“ (Ebd.).

„Was sind die Politikimplikationen aus diesen Erkenntnissen?  Man kann die staatlichen Politikmaßnahmen, die als Reaktion auf die demographische Krise diskutiert werden, in passive und aktive Politikmaßnahmen unterteilen. Passive Maßnahmen versuchen, die Konsequenzen der Krise für die staatliche Rentenversicherung und den Arbeitsmarkt aufzufangen. Aktive Maßnahmen zielen auf die Erhöhung der Geburtenraten ab.“ (Ebd., S. 76-77).

„Zu den passiven Maßnahmen gehört die Erhöhung der Altersgrenze für das Rentenalter. Statt der Frühverrentung und der Altersteilzeit, die skrupellose Politiker sich ausgedacht haben, um temporär die Arbeitsmarktstatistiken zu schönen und die nächsten Wahlen überstehen zu können, müssen die Deutschen länger arbeiten, um den fehlenden Nachwuchs an jungen Menschen zu kompensieren.“ (Ebd., S. 77).

„Einwanderung (zu teuer!): .... Man darf nicht übersehen, daß die Einwanderer ... dem Staat ... zur Last fallen. Einwanderer profitieren von der Umverteilung zugunsten ärmerer Beitragszahler in der Krankenversicherung und von staatlichen Leristungen wie der Sozialhilfe, dem Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe, die sie überdurchschnittlich in Anspruch zu nehmen pflegen. Außerdem steht ihnen, und das ist ein ganz erheblicher Effekt, die breite Palette unentgeltlich angebotener, aber kostenträchtiger staatlicher Leistungen zur Verfügung, die von der Benutzung von Straßen, Brücken, Parks und anderen Elementen der öffentlichen Infrastruktur bis hin zum Schutz des Rechtsstaates durch seine Richter und Polizisten u.v.m reichen. Dafür zahlen sie zwar Steuern, doch reichen diese nicht aus, die verursachten fiskalischen Kosten zu tragen. Zuwanderer haben ein unterdurchschnittliches Einkommen und gehören deshalb zu denjenigen Bevölkerungsgruppen, die im Sozialstaat deutscher Prägung mehr Ressourcen vom Staat erhalten, als sie an ihn in Form von Steuern und Beiträgen abgeben müssen. Nach Berechnungen, die das Ifo-Institut im Jahre 2001 auf der Basis des sozioökonomischen Panels für die bisher nach Deutschland Zugewanderten angestellt hat, lag die fiskalische Nettolast, die Zuwanderer für den Staat verursachen, pro Kopf und Jahr im Durchschnitt der ersten zehn Jahre bei 2300 Euro. Dabei sind auch die Vorteile für die Rentenversicherung barwertmäßig bereits berücksichtigt worden. So gesehen verändert sich das Bild, das ein alleiniger Blick auf die Rentenversicherung liefert, erheblich. .... Die Zuwanderung ist ... kein Beitrag zur Lösung, sondern ein Beitrag zur Vergrößerung der Probleme .... Daß die Zuwanderung keine Lösung des Rentenproblems bietet, wird auch klar, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Menschen zuwandern müßten. ... Das sind astronomisch hohe Zahlen, die so natürlich niemals realisiert werden und auch keinesfalls als Empfehlungen interpretierbar sind. Gerade die Größe der Zahlen zeigt in aller Deutlichkeit, wie gering der Beitrag zur Lösung der demographischen Problems Deutschlands ist, den man von der Zuwanderung erwarten kann. Das Thema wird in der öffentlichen Diskussion total überschätzt, und es wird mißbraucht, um heute schon aus ganz anderen Gründen billige Arbeitskräfte ins Land zu holen. Dabei braucht der Arbeitsmark selbst ... keine Einwanderungen ..., leidet Deutschland unter einer Massenarbeitslosigkeit, also einem Mangel an Stellen, und nicht einem Mangel an Menschen.“ (Ebd., S. 78-80).

„Zu den sinnvollen passiven Reformen zur Milderung der Konsequenzen der demographischen Krise gehört die Umstellung der Rentenversicherung vom Umlagesystem auf ein Kapitaldeckungssystem. Jede Generation wird einmal alt, und dann kann sie nur leben, wenn sie in ihrer Jugend selbst vorgesorgt hat. Entweder muß sie Humankapital gebildet haben, indem sie Kinder in die Welt gesetzt und großgezogen hat. Oder sie muß gespart und somit direkt oder indirekt Realkapital gebildet haben, um vom Verzehr dieses Kapitals zu leben.“ (Ebd., S. 81).

„Freiwillig kommt die notwendige Ersparnis nicht zustande, wie die geringe Beteiligiungsquote bei der Riester-Rente von nicht einmal 10% im ersten Jahr nach der Einführung der Riester-Rente (2000) zeigt. Der Grund liegt nicht in der Unmündigkeit der Bürger, sondern in den Wechselwirkungen mit dem restlichen Sozialsystem. .... Deswegen muß das Riester-Sparen auch im Falle einer kindergerechten Ausgestaltung zur Pflicht gemacht werden, und so war es von Seiten der Wissenschaft ja auch empfohlen worden.“ (Ebd., S. 82).

„Statt nur passiv auf die abnehmenden Genurtenraten zu reagieren und die Konsequenzen für die Sozialsysteme anderweitig abzufedern, kann man versuchen, den Ursachen des Bevölkerungsschwunds entgegenzuwirken, also eine aktive Bevölkerungspolitik zu betreiben. Dies ist seit dem Mißbrauch der Bevölkerungspolitik in der Nazi-Zeit ein heikles Thema. Aber man kann es nicht weiter tabuisieren und die zu erwartenden Probleme sehenden Auges auf sich zu kommen lassen. Es ist Zeit, daß Deutschland sein Tabu überwindet.“ (Ebd., S. 83).

„Heute greift der Staat auf dem Wege über das Rentensystem ganz massiv in die Familienplanung ein, indem er die Beiträge der Kinder zur Rentenversicherung sozialisiert und so die natürlichen ökonomischen Motive für den Kinderwunsch aus den Köpfen der Menschen vertreibt.“ (Ebd., S. 83).

„Auf den ersten Blick spricht vieles dafür, den Kinderwunsch dadurch zu stärken, daß den jungen Familien in Zukunft mehr geholfen wird, als es in der Vergangenheit der Fall war. So ist daran zu denken, die Zahl der Kindergärten pro Kind im entsprechenden Alter wieder auf das internationale Niveau zu erhöhen, das Ehegatten-Splitting um ein Kinder-Splitting nach französischem Muster zu erweitern (besser noch: ersetzen! HB) oder den so genannten Familienlastenausgleich durch pekuniäre Ausgleichszahlungen wie zum Beispiel das von der CDU/CSU vorgeschlagene Familiengeld zu erweitern. Das alles sind sinnvolle ... Maßnahmen, bei der die Nachwuchsplanung die gewünschten Wirkungen entfalten werden.“ (Ebd., S. 83).

„Statt eine ganze Generation kollektiv in die Verantwortung zu nehmen, solten die notwendige Rentenverkürzungen und das kompensierende Riester-Sparen auf die Kinderlosen konzentriert werden. Wer keine Kinder in die Welt setzt und großzieht, dem kann eine erhebliche Rentenkürzung zugemutet werden.“ (Ebd., S. 84).

„Die Betroffenen müssen angehalten werden, in dem Maße eine Riester-Rente anzusparen, wie ihnen die umlagefinanzierte Rente gekürzt wird. .... Die Staffelung von Umlagerente und Riester-Rente nach der Kinderzahl wird zu der wünschenswerten Änderung der Familienplanung führen. .... Es geht nicht darum, den Staat bei der Familienplanung mitreden zu lassen, sondern ... ihn wieder ... aus der Familienplanung herauszunehmen. .... Die Einführung einer von der Kinderzahl abhängigen Rente ist nicht nur geeignet, die Staatsintervention in die Familienplanung zurückzunehmen und die natürlichen Motive für den Kinderwunsch wieder stärker zur Geltung kommen zu lassen. Sie ist zudem auch gerecht, denn sie folgt dem Verursacherprinzip und dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Wer keine Kinder hat und insofern zu wenig tut, um seine eigene Rente im Umlagesystem zu sichern, muß die Konsequenzen tragen und selbst auf dem Wege der Ersparnis für Ersatz sorgen. Und wer keine Kinder hat, kann sparen, weil er keine Ausgaben für die Kindererziehung leisten muß. Er ist vergleichsweise liquide und kann die bei der Kindererziehung eingesparten Geldmittel am Kapitalmarkt anlegen, um auf diese Weise seine gekürzte Umlagerente zu ergänzen. .... Man darf nicht vergessen, daß es im Generationenzusammenhang zu den normalen Pflichten einer jeden Generation gehört, zwei Leistungen zu erbringen: In der leistungsfähigen Lebensphase muß man seine Eltern und seine Kinder ernähren. Die erste dieser beiden Leistungen wird in Form der Rentenbeiträge erbracht, die ja in vollem Umfang an die heutigen Rentner fließen. Doch die zweite Leistung wird von vielen Menschen nicht erbracht, weil sie sich gegen Kinder entscheiden. So gesehen ist es sehr wohl gerecht, nun auch diesen Menschen eine zweite Leistung in Form des Riester-Sparens abzuverlangen. Dadurch sichern sie sich die Rente, deren Vollfinanzierung man den wenigen zukünftigen Beitragszahlern nicht mehr zumuten kann, und es wird möglich, den Eltern einen größeren Teil der von ihren eigenen Kindern gezahlten Rentenbeiträge zu belassen. Menschen, die mehrere Kinder großziehen, an der Riester-Rente zu beteiligen, hieße indes, ihnen eine dreifache Last aufzuerlegen. Als Beitragszahler ernähren sie die jetzt Alten, als Eltern, finanzieren sie über die Kosten der Kindererziehung die Renten aller zukünftiger Rentenbezieher, und als Riester-Sparer müßten sie zusätzlih ihre eigene Rente finanzieren.“ (Ebd., S. 85-87).

„Ein pragmatischer Umgang mit dem Thema Familienplanung und Fertilität ist dringend geboten, um den Schaden der aus einer Vergreisung des Landes zu entstehen droht, zu begrenzen. Dazu muß auch der Staat umsteuern, denn er ist es, der durch seine sozialen Sicherungssystme, die das Schicksal des Einzelnen von den Konsequenzen seiner Fertilitätsentscheidungen abgetrennt haben, ganz maßgeblich zur Änderung des gesellschaftlichen Wertes der Familie und zur Kinderlosigkeit ... beigetragen hat. Richtig ist es, wenn der Staat sich stärker an den Kosten der Kindererziehung beteiligt und die Kinder auch steuerlich stärker berücksichtigt. Die verstärkte Bereitstellung von Kindergärten, der Übergang zu Ganztagsschulen und das Kinder-Splitting nach französischem Muster sind Maßnahmen, die sich aufdrängen und den gewünschten Erfolg haben werden. .... Vieles spricht dafür, daß sich der Staat zurücknimmt, indem er das Ausmaß der Sozialisierung der Rentenbeiträge, die Kinder an die Generation ihrer Eltern zahlen, reduziert. ... Wer keine Kinder hat, kann das bei der Kindererziehung eingesparte Geld am Kapitalmarkt anlegen, um sich so die Rente zu sichern, deren Zahlung er den Kindern anderer Leute in voller Höhe nicht mehr zumuten kann. Das muß die Devise für eine neue Rentenreform sein, bei der die Rente allgemein gekürzt und durch einen kinderbedingten Rentenanspruch ... ergänzt (besser noch: ersetzt! HB) wird.“ (Ebd., S. 87-88).

„Die Reformen verlangen mehr Mut von den Politikern und den Vertretern der Rentenversicherungssysteme, als heute erkennbar ist. .... Die Politiker und Verbandsverterter, die sich sperren, das Thema weiter tabuisieren oder es mit kleinmütigen juristischen Argumenten beseite schieben, machen sich schuldig an der Zukunft des Deutschen Volkes.“ (Ebd., S. 88).

Die Bevölkerungsentwicklung in den Bundesländern bis zu Jahr 2050 (Bettina Sommer)

„Für die Entwicklung der 60-Jährigen und Älteren bis zum Jahr 2050 ... spielt der Geburtenrückgang nach der Wiedervereinigung noch keine Rolle. .... Insgesamt gesehen wird in ganz Deutschland die Bevölkerung schrumpfen und älter werden, wobei die Veränderungen bei den Personen ab dem Alter von 60 Jahren im wesentlichen durch die heute hier lebende Bevölkerung bestimmt sind - wer 2050 mindestens 61 Jahre sein wird, ist vor 1990 geboren. In den Bundesländern werden Zeitpunkt und Ausmaß der Bevölkerungsabnahme und -alterung unterschiedlich ausfallen. Eine Anpassung an diese Veränderungen, die auf Bundesebene bisher vor allem im Hinblick auf sie sozialen Sicherungssysteme dikutiert worden ist, wird aber in sämtlichen Bundesländern erforderlich werden und den regionalen besonderheiten rechnung tragen müssen.“ (Ebd., S. 108-109).

Bevölkerungsentwicklung in ländlichen Gemeinden: Szenarien zu kleinräumigen Auswirkungen des demographischen Wandels (Paul Gans und Ansgar Schmitz-Veltin)

„Um der Alterung der Bewohner und einem Rückgang der Bevölkerungszahl zu begegnen, setzen Gemeinden auf die Ausweisung von Bauland. Jahrzehntelang war diese Maßnahme geeignet, um einen Einwohnerzuwachs zu initiieren. Als Folge der Diversifizierung ländlicher Wohnstandorte erweist sich die Baulandausweisung zum Teil auch heute noch als mögliches Mittel zur Dorfentwicklung. In vielen wirtschaftlich dynamischen Regionen Deutschlands sind Neubaugebiete weiterhin gefragt und in den kommenden Jahrzehnten vorausichtlich unverzichtbar (Matthias Waltersbacher, 2004), wenngleich in Zukunft viel weniger Familien mit Kindern die Nachfrage nach Wohnraum im suburbanen Umland der Städte prägen werden (Annette Spellerberg, 2001, S.285) und so auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung mit einer fortschreitenden Heterogenisierung ländlicher Wohnstandorte gerechnet werden muß. In strukturschwachen ländlichen Räumen ist bereits heute ein drastischer Nachfragerückgang zu beobachten (Harald Standl / Hans-Christian Kiefert, 2004), der zu einem Überangebot von Bauplätzen führt und die Grundstückspreise drückt. Generell sollte vor dem Hintergrund tendenziell sinkender Einwohnerzahlen die Frage nach den Konsequenzen einer weiteren Baulandausweisung gestellt werden. Entsprechende Szenarien zeigen, daß die Zahl der Einwohner durch die Ausweisung von Bauland zwar zunimmt, die Effekte solcher Maßnahmen jedoch nur kurzfristig sind (vgl. Paul Gans / Ansgar Schmitz-Veltin, 2004).“ (Ebd., S. 124-125).

„Insgesamt müssen neue Erweiterungen kritisch betrachtet werden. Probleme hinsichtlich einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung sind keineswegs ausschließlich auf ökologische Bereiche beschränkt. Die Ausweisung von Bauland führt zu einer sich weiter verstärkenden Konkurrenz der Gemeinden untereinander. Denn bei einer insgesamt abnehmenden Zielgruppe, in ländlichen Regionen nach wie vor überwiegend junge Familien mit Kindern, können nicht alle Gemeinden davon gleichermaßen profitieren. Die Konkurrenz jedoch richtet sich nicht nur nach außen; der Neubau beeinflußt die bestehenden Wohngebiete in den Gemeinden durchaus negativ. Denn für die meisten Menschen ist es - insbesondere bei günstigen Grundstückspreisen - attraktiver, ein eigenes, neues Haus zu bauen als ein bestehendes umzubauen. Bei rund einem Drittel der intraregionalen Umzüge im Rahmen der Suburbanisierung ist die Bildung von Wohneigentum ausschlaggebender Grund. Nach Möglichkeit wird dies durch den Bau eines Eigenheimes verwirklicht (Volker Kreibich, 1999). Dies zeigt der hohe Anteil der Befragten, die gerne selber bauen möchten. Neubau wird aber die Leerstände gerade in den Wohngebieten der 1960er bis 1980er Jahre weiter ansteigen lassen, da die Attraktivität dieser Gebäude aus heutiger Sicht als eher gering eingestuft wird.“ (Ebd., S. 125).

„Gegen eine weitere Ausweisung von Neubau sprechen darüber hinaus auch Nachhaltigkeitsüberlegungen. Im allgemeinen führt die Bebauung von neuen Siedlungsflächen zu einer fortschreitenden Zersiedelung und einer weiteren Flächenversiegelung. Beides widerspricht den Zielen der ökologisch orientierten Siedlungsentwicklung. Im Jahr 2000 wurden täglich rund 50 ha Land der Wohnnutzung zugeführt, 30 ha alleine durch die Bebauung bislang land- oder forstwirtschaftlich genutzter Flächen. Die mit einer Abnahme der Bevölkerungsdichte einhergehende Verkehrszunahme führt, insbesondere durch den Bedeutungsgewinn des motorisierten Individualverkehrs, zu einer weiteren Verschlechterung der ökologischen Bilanz (Andreas Troge, 2004). Die negativen Umweltauswirkungen setzen sich im fiskalischen Bereich fort. Bei rückläufiger Einwohnerzahl nimmt die Ausgabenbelastung der Kommunen nicht in gleichem Maße ab, da die Grundversorgung auch bei geringer Größe zumindest in gewissem Umfange aufrechterhatlten werden muß. Im Bereich z.B. der technischen Infrastruktur sind Einsparungen kaum möglich und die Kosten erhöhen sich mit sinkender Einwohnerzahl pro Flächeneinheit.“ (Ebd., S. 125-126).

„Der fortschreitende Neubau von Einfamilienhäusern, und gerade diese Häuser werden in den Neubaugebieten der ländlichen Gemeinden überwiegend errichtet, verschärft noch die wohnungs- und immobilienwirtschaftlichen Probleme, weil vor allem solche Wohngebäude entstehen, die schon in den Wohngebieten der 1960er bis 1980er Jahre in großer Anzahl gebaut wurden. Dagegen wird man der zunehmenden Anzahl älterer Menschen, die auch auf dem Land immer weniger in familiären Netzen aufgefangen werden können, mit der klassischen städtebaulichen Charakteristik von Neubaugebieten nicht gerecht. Die sozialen Netzwerke in Mehrgenerationenfamilien verlieren zunehmend an Bedeutung, so daß es dringend geboten erscheint, sich mit dem Thema der Versorgung älterer Menschen intensiver auseinanderzusetzen, gerade auch vor dem Hintergrund einer schlechten, und immer schlechter werdenden, infrastrukturellen Grundversorgung vor Ort, die flächendeckend immer schwieriger zu gewährleisten sein wird. Die Weiterentwicklung des Zentrale-Orte-Konzeptes, das eine dezentrale Konzentration auf einzelne Standorte im ländlichen Raum forciert, zeigt einen möglichen Weg, um eine Basisversorgung auch weiterhin aufrecht erhalten zu können (vgl. Hans-Peter Gatzweiler / Martina Kocks 2004, S. 145f.).“ (Ebd., S. 126).

„Zukünftig werden ländliche Gemeinden durch eine zunehmende Differenzierung gekennzeichnet sein, die sich auch in einer fortschreitenden Diversifizierung innerhalb der Orte äußert. Unterschiedlichen Wohngebieten stehen aufgrund der alterstrukturellen Zusammensetzungen abweichende Entwicklungen bevor. Dabei werden vor allem homogene Dorferweiterungen als Folge der Suburbanisierung zu den Problemgebieten von morgen. Eine weitergehende Neubautätigkeit wird die Probleme in vielen Fällen noch verstärken, sofern an der herkömmlichen baulichen Gestaltung von Einfamilienhäusern festgehalten wird. Dagegen hätten andere Wohnformen, betreute Eigentums- oder Mietwohnungen, aber auch spezielle Senioreneinrichtungen, auch im ländlichen Raum eine Perspektive.“ (Ebd., S. 126-127).

„Weiterhin besteht Forschungsbedarf hinsichtlich der kleinräumigen, wohngebietstypischen demographischen Entwicklung, ihrer sektoralen Konsequenzen und möglichen Lösungsstrategien. Vor allem in Städten wird sich die soziale wie räumliche Polarisation weiter erhöhen.“ (Ebd., S. 127).

 

 

Zitate: Hubert Brune, 2005 (zuletzt aktualisiert: 2009).

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- Literaturverzeichnis -