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Peter Sloterdijk
(*1947)

NACH OBEN Lob, Kritik, Skepsis.

- Seiten -
Anmerkungen zur »Revolution der gebenden Hand«“
„Aufbruch der Leistungsträger“
„Die nehmende Hand und die gebende Seite“
„Die Revolution der gebenden Hand“
„Explosionen und Implosionen“
„Minima Cosmetica - Versuch über die Selbsterhöhung“
Rezensionen des Buches „Zorn und Zeit“
Sloterdijk-„Debatten“
„Thymotische Revolution“
„Umwertung aller Werte: Das Prinzip Überfluß“
Verweise
Verweise zu den bedeutendsten Zitaten u.a.
Werke-Verzeichnis
Zitate aus verschiedenen Werken
Zitate in Aphorismusform
•  Einleitung
  Biographisches
Biographie (einschließlich Lebenslauf-Tabelle)
 
Erläuterung der Lebenslauf-Tabelle
•  Der Denkverein „Eintracht Einfluß“
  Rezensionen
•  Das Großwerk will zerlegt sein! Eine Rezension der drei Bücher des Sphären-Werkes: (I) „Blasen“, (II) „Globen“, (III) „Schäume“
•  Die schrecklichen Kinder der Neuzeit sollen endlich lernen! Eine Rezension des Buches „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“

 

NACH OBEN Einleitung.

Der Philosophenalltag Peter Sloterdijks war und ist für ihn garantiert nicht immer so angenehm wie ein Kaffeeklatsch am Sonntagnachmittag bei Oma. Er mußte bisher bereits drei gegen ihn zum Teil öffenntlich aufgeführte „Hexenprozesse“ durchstehen, die verharmlosend „Sloterdijk-Debatten“ genannt wurden und leider immer noch werden (**|**|**). Während also hierbei Sloterdijk die böse „Hexe“ zu sein hat, darf die sogenannte „Frankfurter Schule“ die Rolle des Großinquisitors - stellvertretend - übernehmen. Auf einer meiner Webseiten ist deshalb auch als Fazit aus diesen angeblichen „Sloterdijk-Debatten“ zu lesen: „Die »Sloterdijk-Debatten« sind einige Beispiele mehr für die Versuche seitens unseres Vormundtschaftsstaates, seine Gegner mittels Zensur wie der »Politischen Korrektheit« mundtot zu machen. Das ist Diktatur!  –  Mein Respekt gilt Sloterdijk und jenen anderen (**) - leider nur wenigen - Menschen, die Mut und Widerstand gezeigt haben gegen die Zensur unserer Herrschenden aus Politik und Medien, die unsere Rechte mit Füßen treten, unsere Freiheit und besonders unsere Meinungsfreiheit verbieten!“ (**). Dies sei vorausgeschickt, um meine Solidarität mit diesen Menschen zu bekunden! Es ist auch nicht ganz so wichtig, ob Sloterdijk aus den sogenannten „Sloterdijk-Debatten“ gestärkt hervorging oder nicht, ob er der ersten davon seine Fernsehsendung „Das Philosophische Quartett“ (**) verdankt oder nicht - wichtig ist, daß er mundtot gemacht werden sollte!

Peter Sloterdijk geht davon aus, daß wir schon in der „Postmoderne“ angekommen wären (**|**|**|**|**|**|**|**|**|**|**). Das beurteile ich anders. Die Moderne ist noch nicht zu Ende, auch wenn sie sich bereits in ihrer Spätphase (**|**) befindet.

Die abendländische Moderne im engeren Sinne (?) beginnt in etwa mit der „Industriellen Revolution“, die begrifflich dem, was Sloterdijk den „Techno-Kreditismus“ nennt, weil er den „ungeschickten Terminius »Kapitalismus«“ (**) zu Recht vermeiden will, wohl am nächsten kommt. Die abendländische Moderne begann spätestens dann, als auf die „Industrielle Revolution“ die erste „Bürgerliche Revolution“ folgte. Aber wann wird sie zu Ende sein? Nun, eindeutig dann, wenn die Phänomene, mit denen sie begann, nichts „Revolutionäres“ mehr an sich haben werden und keine für sie typische Expansion mehr zu bewirken in der Lage sein werden. Dies ist noch nicht der Fall, und deshalb ist die Moderne noch nicht zu Ende.

Wird die Moderne überhaupt zu Ende gehen können oder bis zum Ende der Menschheit durchhalten? - „Unsere Moderne kann man auch als unseren Historismus bezeichnen - gekennzeichnet durch Eurozentrismus bzw. Europäismus. Unser Historismus, der uns unter anderem gelehrt hat, daß auch in der Geschichte mit großen Zahlen gerechnet werden muß, wird sich auch in Zukunft (wahrscheinlich sogar mit deren großen Zahlen **) behaupten, denn er hat seine Krise überstanden, das heißt: wir haben unsere Krise überlebt.“ (Hubert Brune, Moderne, 2001 **). Jedenfalls ist die von Sloterdijk diagnostizierte „Postmoderne“ nirgendwo so richtig in Sicht.

 

•   Biographisches   •

NACH OBEN Biographie.

‹—  Peter Sloterdijk (*1947)  Peter Sloterdijk Erläuterung   —›
1. Stadium („Winter“) 2. Stadium („Frühling“) 3. Stadium („Sommer“) 4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Sloterdijks
„Vor-/Urphilosophie“
Frühdenken: Sloterdijks
„Frühphilosophie“
Hochdenken: Sloterdijks
„Hochphilosophie“
Spätdenken: Sloterdijks
„Spätphilosophie“
(Dauer: 21 Jahre) (Dauer: 15 Jahre) (Dauer: 23 Jahre) (Dauer: ?  )
1947 bis 1968 1968 bis 1983 1983 bis 2006 2006 bis ?
Geburt
(26.06.)
„KRITIK DER
ZYNISCHNEN VERNUNFT“
Übergang
Schule
& Bw. / Studium   
| „Zorn
und Zeit“
Frühe
Kindheit
Grund-
schule
Gymnasium
und Bundeswehr
1968
- 1974
1974
- 1978
1978
- 1983
1983
- 1989
1989
- 1999
1999
- 2006
2006
- ?
 
Erläuterung Erläuterung

Peter Sloterdijks Geburt war „kompliziert“, und auf sie folgte eine „schwere Gelbsucht“ aufgrund einer Rhesus-Inkompatibilität bei den Eltern. „Ich habe sozusagen als Toter angefangen. Eine komplizierte Geburt, eine Rhesus-Unverträglichkeit bei den Eltern, das reicht für einen Start als Beinahe-Toter. Unmittelbar nach der Geburt trat eine schwere Gelbsucht bei mir auf, was Beobachter zu der Aussage veranlaßte, daß blaue Augen bei gelber Haut besonders vorteilhaft zur Wirkung kommen. Ich empfand das freilich nicht als ästhetisches Privileg.“ (Peter Sloterdijk, in: Schweizer Monatshefte, Juni 2007, S. 34 ff. Peter Sloterdijk, in :  Schweizer Monatshefte, Juni 2007, S. 34 ff.): Peters deutsche Mutter, Jahrgang 1915, hatte als junges Mädchen auf dem Luisen-Gymnasium in München um das Jahr 1934 ihr Abitur gemacht. Später während des Zweiten Weltkrieges war sie in den Niederlanden stationiert, wo sie bei der Wehrmacht eine Position als Radarüberwacherin innehatte. „Das ist richtig, meine Mutter war während des Krieges in Holland stationiert, sie hatte in der Armee eine Position als Radarüberwacherin eingenommen und da von Großbritannien aus die Flugzeugverbindung über dem Kanal, über holländischem Territorium angeflogen sind, war das eine sehr sinnvolle Funktion. Sie selber schilderte dies als die glücklichste Zeit ihres Lebens.“ (Peter Sloterdijk, in: Deutschlandfunk, 30.07.2015 Peter Sloterdijk, in :  Deutschlandfunk, 30.07 2015) In den Nachkriegsjahren lernte Peters Mutter in Deutschland ihren niederländischen Ehemann und Peters Vater kennen, einen 1912 geborenen Matrosen bei der niederländischen Handelsmarine und späteren Berufskraftfahrer. (Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs, Peter Sloterdijk - Die Kunst des Philosophierens, 2011). Die Ehe hielt nicht lange, so daß Peter und seine Schwester, wie er schrieb, »ohne prägendes väterliches Element« aufwuchsen. »1947 geboren, blieb ich ein von der Vaterseite her so gut wie völlig ungeprägter junger Mann. Zur rechten Zeit sah ich ein, ich sollte mich zu einer Art von Selbstbevaterung entschließen. Was Bemutterung ist, vorgefunden oder gewählt, und wie man sie allmählich zurückläßt, das wußte ich schon ziemlich gut. Was Bevaterung bedeutet, wußte ich nicht. Ich mußte mir meine Väter oder Instruktoren zusammensuchen, dazu war es nötig, sich in der Welt umzusehen. .... Der Durchbruch kam, als ich verstand, daß ich mir selber die Welt erzählen sollte.“ (Peter Sloterdijk, in: Welt, 29.06.2013 Peter Sloterdijk, in :  Welt, 29.06.2013 **).

Die Familie zog nach München. Hier besuchte Peter bis zum Abitur das Wittelsbacher Gymnasium lediglich von einer kurzen Episode seines kurzen Aufenthaltes um das Jahr 1957 in einem Internat am Ammersee unterbrochen, aus dem er mit Freunden floh (). Von 1968 bis 1974 studierte Sloterdijk in München und Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. Schon 1971 stellte er seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik (**) fertig. 1972 folgten eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele - Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution (**) und ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte (**). Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk aufgrund seiner von Professor Klaus Briegleb betreuten Doktorarbeit zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung - Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918–1933 (**) durch den Fachbereich Sprachwissenschaften der Universität Hamburg promoviert. In dieser Zeit war Sunhild Bonfert fünfzehn Jahre seine Lebensgefährtin. Sloterdijks Doktorarbeit von 1976 wurde noch im selben Jahr als Buch mit dem Titel Literatur und Organisation von Lebenserfahrung - Autobiographien der Zwanziger Jahre (**) veröffentlicht. Auf einer von Sloterdijks Webseiten wird der Inhalt dieses Buches wie folgt vorgestellt:
Peter Sloterdijk, „Literatur und Organisation von Lebenserfahrung - Autobiographien der Zwanziger Jahre“, 1976
„Lebensgeschichtliches Erzählen ist eine Form sozialen Handelns, denn die Autobiographie bildet eine literarische Gattung, in der einzelne ihre Lebenserfahrung organisieren, indem sie ihr individuelles Leben in einen Zusammenhang mit öffentlichen Interessen, Sinnbedürfnissen und Neugierden stellen. Wie sprechen einzelne Menschen nun über sich selbst und ihre Lebensläufe im 20. Jahrhundert, in einer Zeit, die geprägt ist gerade vom Verfall des bürgerlichen Individualismus?
In diesen Analysen zu neueren »Sozialgeschichte des öffentlichen Redens über das eigene Leben« wird gezeigt, wie die Arbeit der nachträglichen Sinngebung und Rechtfertigung das lebensgeschichtliche Erzählen durchzieht und daß in den bürgerlichen und proletarischen Lebensberichten aus der Zeit der Weimarer Republik eine heimliche »Protopolitik der Erfahrung« wirksam ist: In ihr organisiert und verallgemeinert das Bewußtsein die viralen Erlebnisse von Schmerz, Konflikt und Widerspruch. Ob in der Beschwörung der Kindheit und in der Vergegenwärtigung kindlicher Erfahrungsstrukturen, ob in der Erinnerung an Krisen und experimentellens Leben der Jugendzeit oder in den Berichten vom Erlebnis des Krieges, von Gefängnis, Irrenhaus, Bohemejahren, seelischer Krankheit und Reisen – stets geht es um die Dialektik der Erfahrung, die Arbeit des Bewußtseins zwischen individulelem Erleben und dem Begreifen nach öffentlichen Normen. Ideologische Verengung oder offenes, dialektisches Lernen an den Erfahrungen der Widersprüche kennzeichnen die autobiographischen Entwürfe der Weimarer Zeit.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit stellt Begriff sowie Entstehung und Entwicklung der Gattung »Autobiographie« das. Im Hauptteil arbeitet Sloterdijk anhand zahlreicher Beispiele bestimmte Muster der literarischen »Organisation von Lebenserfahrung« heraus und zeigt die Kriterien, nach denen sich Lebenslaufstrukturen in Literatur umsetzen und wie das literarische Subjekt Alltagswissen, Erinnerungen an die eigene Entwicklungsgeschichte, psychische Konflikte und öffentliche Probleme in einen Literarischen Sozialisationsversuch überträgt.“ Peter-Sloterdijk.net, Inhaltsangabe von Peter Sloterdijks Buch „Literatur und Lebenserfahrung“, 1976
Ich habe dieses Buch leider nicht gelesen, sage aber trotzdem, daß in ihm das Denkmuster Sloterdijks, das ich noch weiter unten näher erläutern werde (**|**), weil es sich wie ein roter Faden durch alle seine Bücher zieht - jedenfalls durch die, die ich gelesen habe (**) -, schon deutlich zu erkennen ist (**).

Chandra Mohan Jain (Bhagwan Shree Rajneesh, später :  Osho)
Chandra Mohan Jain (Bhagwan Shree Rajneesh, später :  Osho)
Chandra Mohan Jain
(1931-1990)
(auch: Acharya Rajneesh;
Bhagwan Shree Rajneesh; Osho
).
In dessen Aschram in Poona
erlebte Peter Sloterdijk
von 1978 bis 1980
die „Experimentierphase
seines Lebens“
. Peter Sloterdijk, in :  Welt, 29.06.2013

Nicht völlig unberücksichtigt lassen möchte ich die Tatsache, daß Sloterdijk von 1978 bis 1980 sich im Aschram von Bhagwan Shree Rajneesh (später: Osho) im indischen Poona (heute: Pune) aufhielt. In einem im Frühjahr 1997 veröffentlichten Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs (Hans-Jürgen Heinrichs und Peter Sloterdijk, „Kantilenen der Zeit“, Frühjahr 1997) beschrieb er die Umstimmungserfahrung, die er dort erlebt hat, als eine „irreversible“, ohne die seine Schriftstellerei nicht zu denken sei, nannte Bhagwan Shree Rajneesh einen „Wittgenstein der Religionen“ und „eine der größten Figuren des Jahrhunderts“. Sloterdijk zufolge gab es „einen ziemlich weiten Horizont, innerhalb dessen Gestalten wie Osho oder Bhagwan Shree Rajneesh, wie er sich damals nannte, und Lacan und viele andere aus der Szene der psychotherapeutischen Avantgarde unseres Jahrhunderts eine wichtige Rolle für mich gespielt haben“, und er - Sloterdijk - sei ja „auch immer bereit gewesen, den Preis für relevante Informationen zu entrichten. Als ich nach Indien gefahren bin, da war ich schon ein promovierter Akademiker der westlichen Hemisphäre, aber ich wußte, Osho kommt nicht hierher, ich muß zu ihm. Die Frage, ob 6000 Kilometer Anreise für ein Studium nicht zu weit sind, hat sich für mich nicht gestellt, weil ich immer davon überzeugt war, daß Menschen sich dorthin bewegen müssen, wo das nächste Kapitel ihres Lebens geschrieben wird. Das ist doch der Sinn von Beweglichkeit. Diese Reise war für mich eine lebenswichtige: von den Metamorphosen dieser Impulse lebe ich bis heute, denn sie sind längst selbständig geworden und können nicht mehr im Namen des Impulsgebers repräsentiert werden. .... Ich wundere mich ein bißchen, warum die Aussagen über Lacan in meinem Text so schroff wirken. Sie sind überhaupt nicht so gemeint. Die einzige Pointe besteht darin, daß ich meinen intellektuellen Freunden signalisieren wollte, daß sie unrecht haben, immer nur den einen zu zitieren und den anderen zu verschweigen. Ich glaube, daß die beiden eine sehr ähnliche Arbeit gemacht haben, und daß Osho - als der asiatische Charakter in diesem Tandem - in mancher Hinsicht noch viel weitergegangen ist als der berühmte Europäer. Kurzum, ich sehe sie eigentlich als zwei Figuren, die strukturell zusammenzunehmen sind, und wenn ich den einen auf Kosten des anderen herausgestrichen habe, dann war dies vor allem ein Bekenntnis zu meiner persönlichen Dankbarkeitssituation, die gegenüber Osho oder Bhagwan Shree Rajneesh eine hundertfach intensivere und größere ist als gegenüber Lacan, von dem ich immer nur ein Leser war und immer ein Leser, der das Glück, lesen zu dürfen, nie besonders empfunden hat, weil er die abstoßenden Komponenten von Lacans Werk und Stil von Anfang an überdeutlich bemerkt hat. .... Ich bin natürlich Gast in dem Feld, in dem Figuren wie Lacan operiert haben, so wie sie ihrerseits sich als Gäste ihrer Inspiratoren gewußt haben. Das ist bei einem spirituellen Meister wie Rajneesh viel einfacher, weil er in einer Tradition der Ego-Kritik steht, die seit weit über zweitausend Jahren ununterbrochen fortwirkt; man muß hier nur an die buddhistische Anatta-Theorie denken, oder an den Vedanta. Die Gegenstücke hierzu im europäischen Raum zu finden, fällt schwerer, gleichwohl gibt es sie, namentlich in der platonischen Linie.“ - Warum ich dies nicht unberücksichtigt lassen möchte? Nun, ich glaube, daß Sloterdijk nicht insgesamt zu verstehen ist, wenn man seine Entwicklung während seines Aufenthalts im Aschram von Bhagwan Shree Rajneesh nicht berücksichtigt. Auf die Frage, was ihn „von den Hamburger Professoren gen Osten“ trieb, was er „von Bhagwan Shree Rajneesh gelernt“ habe und warum er überhaupt „nach Indien gegangen und nicht an der Universität geblieben“ sei, antwortete Sloterdijk: „Das ist eine längere Geschichte, ich kann den Ablauf nur kurz andeuten. Ich bekam um 1974 zeitweilig eine Vertretungsassistentenstelle an der Hamburger Universität angeboten, ich akzeptierte und übersiedelte. Dieses Jahr in Hamburg wurde für mich eine sehr fruchtbare Zeit, ein Wendejahr in meinem Leben. Die damalige Nähe zu Klaus Briegleb, dem Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur, war für mich ein Glücksfall, ich kannte ihn aus München, er war in meinen Augen, und nicht nur in meinen, der herausragende Literaturwissenschaftler des Landes und in den Hamburger Jahren auf der Höhe seiner Kunst. Und genauso glücklich war die Konstellation mit den älteren Kommilitonen, ein intellektueller Wirbel, auch gruppenerotisch nicht uninteressant. Was die Universität anging, wußte ich von da an, das ist nicht mein Maulwurfshügel. Als mein Vertrag auslief, bin ich nach München zurückgegangen. Anschließend begannen die wilderen Gruppenjahre: Wohngemeinschaft, Psychotherapie, Meditationsgruppe, Neue Linke, Neuer Mensch. Ständig spukten solche Motive durch den Raum. Man glaubte damals an die Theorie wie an eine messianische Kraft. Die Zeit zwischen 1974 und 1980 wurde die Experimentierphase meines Lebens. Die Dissertation war geschrieben, viele Möglichkeiten standen offen, das einzige, was ich eindeutig wußte, war, daß ich in die Universität nicht zurückgehe. Sollte es ein Leiden an der Unbestimmtheit geben, so war es mir damals unbekannt. Ich empfand die Freiheit, noch einige Orientierungsjahre vor mir zu haben, als beflügelnde Nichtfestlegung.“ (Peter Sloterdijk, in: Welt, 29.06.2013 Peter Sloterdijk, in :  Welt, 29.06.2013 **).
„In Indien ist ein neues Kapitel aufgeschlagen worden, ich habe eine radikale Umstimmung erlebt, ich habe Impulse aufgenommen, von denen ich bis auf den heutigen Tag lebe, besser gesagt: von den Metamorphosen dieser Impulse, denn die Anregungen von damals sind längst wieder anonym geworden, sie haben sich ein paarmal gedreht und sich in eine eigensinnige Richtung entwickelt. - Eines ist sicher: In Indien war ich einer Einstrahlung ausgesetzt, die lange nachwirkte. Ohne die Alchemie, die dort vor sich gegangen ist, dieses Herausspringen aus der alteuropäischen Melancholie ... wäre meine Schriftstellerei in ihrer Anfangszeit nicht zu denken. Es gibt in ihr, besonders in den Büchern der achtziger Jahre, eine Art von Hintergrundstrahlung, ein Echo auf den vitalen Urknall, der damals passiert ist.“ (Peter Sloterdijk, in: ders. und Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 16-17 **).
Sloterdijk erlebte also von 1978 bis 1980 im indischen Poona beim Bhagwan Shree Rajneesh (eigentlich: Chandra Mohan Jain) einen „vitalen Urknall“ (**), dessen „Hintergrundstrahlung, ein Echo auf den vitalen Urknall“ (**), besonders in Sloterdijks „Büchern der achtziger Jahre“ (**) zu finden sei.

„Nach 1980 war es so weit, daß ich anfangen konnte, mich weiter vorzuwagen. Damals habe ich meinen Ton gefunden, falls man das so unbedarft ausdrücken kann. Es war, als hätte ich das Instrument entdeckt, auf dem ich meine Art von Musik machen sollte. Das Instrument wurde gestimmt in dem Moment, als ich begriff, worin meine Chance besteht.“ (Peter Sloterdijk, in: Welt, 29.06.2013 Peter Sloterdijk, in :  Welt, 29.06.2013 **).

Von 1980 bis 1991 war Sloterdijk freier Schriftsteller. 1988 las er die Frankfurter Poetik-Vorlesungen im Rahmen der Stiftungsgastdozentur für Poetik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt (am Main). Von 1992 bis 2017 hatte er den Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe inne. Zudem wurde Sloterdijk 1993 Leiter des Institutes für Kulturphilosophie an der Akademie der bildenden Künste in Wien, bis er schließlich 2001 eine Vertragsprofessur am Ordinariat für Kulturphilosophie und Medientheorie in Wien übernahm. Daneben war er Gastdozent am Bard College, New York, am Pariser Collège international de philosophie, am Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar und an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Schon 2000 war er Schirmherr der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt geworden, die sich aber nach zehn Jahren von ihm trennte. In Nachfolge von Heinrich Klotz hatte er von 2001 bis 2015 das Rektoramt der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe übernommen, an der er neben der administrativen Leitung weiterhin lehrte. Zu den prominentesten Schülern Sloterdijks zählt sein als „Parteiphilosoph der AfD“ bekannt gewordener langjähriger Karlsruher Assistent Marc Jongen. 2001 und 2002 war Sloterdijk Fellow des Kollegs Friedrich Nietzsche. Im In- und Ausland erhöhte sich Sloterdijks Bekanntheitsgrad besonders wegen seiner regen Vortragstätigkeit. Von 2002 bis 2012 war er Moderator – zusammen mit Rüdiger Safranski – der Gesprächsrunde „Das Philosophische Quartett“ („Das Philosophische Quartett“, 2002-2012 **) im ZDF. Seit 2008 ist Sloterdijk Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Auch ist er beisitzendes Mitglied im 2008 gegründeten Frankfurter Zukunftsrat. 2012 erweiterte er seinen Tätigkeitsbereich und schrieb das Libretto der Oper „Babylon“ von Jörg Widmann. Anläßlich von Sloterdijks 70. Geburtstag veranstaltete das Zentrum für Kunst und Medien vom 23. bis zum 25. Juni 2017 unter dem Titel „Von Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben“ ein Symposium. Im Mai 2019 wurde bekannt, daß sein Archiv als Vorlaß an das Deutsche Literaturarchiv Marbach geht (Deutsches Literatur-Archiv Marbach).

Peter und Mona Sloterdijk in
Karlsruhe. Eine Aufnahme aus
dem Film „Gefährliches Denken“
von Holger Preuße, 1997 (Holger Preuße, „Gefährliches Denken“ (Film), 1997).

Eine dritte Ehe ging Sloterdijk 1994 mit der Österreicherin Regina Haslinger ein, nachdem schon 1993 ihre Tochter Mona geboren war. In dem 1997 veröffentlichten ZDF-Film „Gefährliches Denken“ von Holger Preuße ist Mona übrigens auch zu sehen (Holger Preuße, „Gefährliches Denken“ (Film), 1997).
„Die Lektion, die von ihr (gemeint ist die Tochter Mona; HB), kam, war nicht philosophischer Art, sie führte zur Gewahrwerdung eines Schwindels, dem ich bis ... 1993, ihrem Geburtsjahr, erlegen war. In meinem Milieu war ich umgeben von Leuten, die von der Fortpflanzung abrieten, ausnahmslos: »Kinder? Herrje! Bloß nicht! Schlaflose Nächte, endloses Geschrei, geborene Tyrannen – du kommst zu nichts mehr!« Ich stellte fest, in dieser Angelegenheit war ich immer irregeführt worden, rundum. Nicht ein einziger Mensch hatte mir verraten, daß es nichts Wundervolleres gibt. Meine Frau und ich waren über das Kind unvorstellbar froh. Die ersten zwei Jahre lebten wir in einem Delirium. Ständig haben wir gejubelt, und die Kleine mit uns. Die Lektion bestand darin, daß man sich vom Erwachsensein erst einen halbwegs realistischen Begriff macht, wenn man in der Elternposition angekommen ist. Sonst wird man nur älter, aber erwachsen nie. Andererseits: Erwachsenheit ist ein schwieriger Begriff, man sollte mit ihm nicht renommieren.“ (Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12.11.2014 Peter Sloterdijk, in :  SZ-Magazin, 12. November 2014 **).
Und am 19.04.2009 berichteten Journalisten der Bild-Zeitung von ihrem Besuch bei der kleinen Familie Sloterdijk: „Deutschlands bekanntester Philosoph war seit 41 Jahren nicht mehr beim Friseur und hat seinen Hochzeitstag vergessen. Sein Buch »Du mußt dein Leben ändern« stürmt zur Zeit die Bestsellerlisten. Im BamS-Gespräch spricht er über Fitneß für Geist und Körper und sagt, warum die Liebe überschätzt wird. PS: Auch seine dritte Frau ist dieser Meinung. - Irgendwie war es ihm in Südfrankreich doch zu kalt. Dieser ständige Regen über die Ostertage, der frische Wind. Peter Sloterdijk ist müde. Knapp 750 Kilometer ist er von seinem Ferienort in der Provence in seinem Chrysler Voyager zurück nach Karlsruhe gefahren, seine Frau Regina und die 15-jährige Tochter Mona mit dabei. Ganz spontan hatten sie sich zum Aufbruch entschieden. Aber diese lange Strecke und dieser »akustische Trash«, der aus dem Autoradio kam. »Da standen mir die Haare zu Berge«, sagt Sloterdijk, und angesichts seiner Frisur fragt man sich, ob gerade irgendwo ein Radio dudelt. Wir sind in Karlsruhe, in der Altbauwohnung von Professor Peter Sloterdijk, Deutschlands bekanntestem zeitgenössischem Philosophen. Mehr als 20000 Bücher stehen in den edlen Regalen aus Birnbaumholz, in der Ecke des Wohnzimmers parkt ein Fitneß-Rad. Der Computer läuft, eine Wiese leuchtet als Bildschirmhintergrund. .... Die Tür geht auf, Regina Haslinger-Sloterdijk betritt den Raum. Die 54-Jährige trägt ein schwarzes kurzes Kleid, knallrote Schuhe, eine grüne Brille – »eine klassige Frau«, entfährt es unserem Fotografen später. Die promovierte Kulturwissenschaftlerin arbeitet als freie Kuratorin, häufig in Wien, wo die Familie ebenfalls eine Wohnung hat. „Ach, Mäuslein ist auch da“, sagt der Philosoph und streckt seiner Tochter die Hand entgegen. Mona ist 15 Jahre alt, lebt in einem Internat im Schwarzwald.“ (Bild.de, 19.04.2009). Floh auch Mona - so wie ihr Vater 1957 (**) - im Alter von 10 Jahren mit Freunden aus dem Internat? (). Leider wurde Sloterdijks dritte Ehe ebenfalls geschieden. Seit 2017 hat Sloterdijk eine vierte Ehefrau: Beatrice Sloterdijk, geborene Kolster, Hamburger Journalistin, frühere langjährige Lebensgefährtin Sloterdijks. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Karlsruhe, Berlin und in der Nähe von Chantemerle-lès-Grignan in der Provence. Doch Sloterdijks Tochter Mona hat mittlerweile eine eigene Wohnung in Berlin.

Erläuterung der Lebenslauf-Tabelle (**).

Peter Sloterdijk im Zyklus
Peter Sloterdijk im noch unvollendeten Zyklus

Es geht bei der Lebenslauf-Tabelle und ihrer Erläuterung auch um eine Bewertung, ja, aber bei dieser Bewertung geht es nicht in erster Linie, sondern nur in zweiter Linie um die Werke, denn in erster Linie geht es um Sloterdijks nicht immer, aber doch oft von außen beeinflußte Biographie, besonders um seine Denk-Biographie.

Denk-Biographie von Peter Sloterdijk (*1947 ):
1. „Stadium“ („Winter“ - 1947-1968) und seine 3 „Stufen“: Sloterdijks frühe Kindheit bis (1. Stufe); Grundschulzeit (2. Stufe); Gymnasial- und Bundeswehrzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang zur Universität (1968).
2. „Stadium“ („Frühling“ - 1968-1983) und seine 3 „Stufen“: Sloterdijks Studienzeit von 1968 bis 1974 (4. Stufe); die Zeit vom Ende des Studiums bis zum Bruch mit einigen Traditionen der abendländische Kultur und Hinwendung zur indischen Kultur, also die Zeit von 1974 bis 1978 (5. Stufe); der rd. zweijährige Aufenthalt in Indien, die Rückkehr und freie Schriftstellerei bis zur Veröffentlichung seiner Kritik der zynischen Vernunft, also die Zeit von 1978 bis 1983 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ - 1983-2006) und seine 3 „Stufen“: Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft und die Auswirkungen bis zum „Fall der Mauer“, also die Zeit von 1983 bis 1989 (7. Stufe); vom „Fall der Mauer“ bis zur Elmauer Rede (Regeln für den Menschenpark) als dem Beginn der sogenannten „Sloterdijk-Debatten“ () also die Zeit von 1989 bis 1999 (8. Stufe); von der sogenannten „1. Sloterdijk-Debatte“ () bis zum Erscheinen des Buches Zorn und Zeit, also die Zeit von 1999 bis 2006 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ - 2006- ?  ) und seine 3 „Stufen“: Sloterdijks Buch Zorn und Zeit bis zum Beginn der sogenannten „3. Sloterdijk-Debatte“ (),  also die Zeit von 2006 bis 2015 (10. Stufe); vom Beginn der sogenannten „3. Sloterdijk-Debatte“ () bis ? ..., also die Zeit von 2015 bis ?   (11. Stufe); ... die Zeit von ?   bis ?   (12. Stufe).

Peter Sloterdijk im Zyklus
Peter Sloterdijks „Auf“ und „Ab“
 
Daß Sloterdijk 1957 aus einem Internat am Ammersee mit Freunden floh, habe ich schon gesagt (**). Aus seinem 1. „Stadium“ (1947-1968) ist mir sonst - abgesehen von wenigen Daten - nicht viel bekannt. Innerhalb des 2. „Stadiums“ (1968-1983) zeigt die 4. Stufe (1968-1974) bereits durch Sloterdijks Wahl der Studienfächer Germanistik, Geschichte, Philosophie und seiner Magisterarbeit „Strukturalismus als poetische Hermeneutik“ (1971), seiner Studie „Die Ökonomie der Sprachspiele - Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution“ (1972) und seines Essays „Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte“ (1972) recht deutlich sein Interesse am Strukturalismus, das als eine Richtungsangabe der weiteren Geistesentwicklung Sloterdijks gedeutet werden kann. Die 4. Stufe ist damit geklärt. Weiter: „Die Zeit zwischen 1974 und 1980 wurde die Experimentierphase meines Lebens“ (**), sagte Peter Sloterdijk selbst, gemäß der von mir erstellten Lebenslauf-Tabelle bedeutet diese Zeit rd. eineinhalb Stufen, nämlich die 5. Stufe (1974-1978) und rd. die Hälfte (1978-1980) der 6. Stufe (1978-1983). Den rd. zweijährigen Aufenthalt in Indien, die Rückkehr aus Indien, die freie Schriftstellerei bis zur Veröffentlichung der „Kritik der zynischen Vernunft“ habe ich deshalb zusammengefaßt, weil sie zusammen eine Linie bzw. eine Exponentialkurve darstellen von der Zeit nach der Gebundenheit durch das Studentsein, über die erst noch allmähliche und dann aber sehr sprunghafte Hinwendung zum „vitalen Urknall“ (**), nämlich zum Kulminationspunkt, den die 1983 erfolgte Veröffentlichung der „Kritik der zynischen Vernunft“ in Sloterdijks Denk-Biographie darstellt. Damit will ich sagen, daß Sloterdijks denk-biographischer Höhepunkt und damit auch Dreh- und Angelpunkt das Werk „Kritik der zynischen Vernunft“ ist. Ich sage damit nicht, daß ich dieses Werk für Sloterdijks bestes Werk halte - nein, denn sein bestes Werk ist ja jenes, das ich in meiner Liste der „Top 100 der Bücher ab 1800“ an die dritte Stelle (**) gesetzt habe, wie später noch erwähnt werden wird (**|**) -, ich sage das, weil das Werk „Kritik der zynischen Vernunft“ für die Entwicklung Sloterdijks das bedeutendste Werk war, ist und bleiben wird. Hauptsächlich diesem Werk verdankt er allen späteren Ruhm, und voraus ging diesem Werk ein Schaffen und etwas Außergewöhliches, das Sloterdijks Aussagen zufolge dieses Schaffen erst ermöglicht hatte, nämlich der Aufenthalt im Aschram von Bhagwan Shree Rajneesh im indischen Poona. Das Experiment in Indien als die unmittelbare Vorbedingung für das Schaffen und Veröffentlichen des Werks „Kritik der zynischen Vernunft“ und besonders dieses Schaffen und Veröffentlichen selbst sind die drei bedeutsamsten Ereignisse in Sloterdijks Denk-Biographie, bedeuten seine 6. Stufe (1978-1983), wobei die „Kritik der zynischen Vernunft“ als Höhepunkt gleichzeitig der Eckpunkt, der Übergang zur 7. Stufe (1983-1999) ist. Alles, was vor diesem Höhepunkt war, steht von nun an in dessen Rückwärts-Schatten, und alles, was nach diesem Höhepunkt kommen sollte, sollte in dessen Vorwärts-Schatten stehen. Die 7. Stufe bedeutet schon die erste der Abststiegsstufen. Bitte nicht falsch verstehen, denn es geht hier nicht um einen subjektiven „Geschmack“, sondern um eine objektive Beurteilung dessen, was Sloterdijk wahrscheinlich selber weiß: die „Kritik der zynischen Vernunft“ war, ist und bleibt sein Höhepunkt. Die 7. Stufe (1983-1989) als die erste des 3. „Stadiums“ (1983-2006) steht für „eine Art von Hintergrundstrahlung, ein Echo auf den vitalen Urknall, der damals passiert ist“ (**), wie Sloterdijk selber sagte, jedoch die gesamten 1980er Jahre dafür veranschlagend. Der Fall der Mauer (9. November 1989) stellt den Übergang zur 8. Stufe (1989-1999) dar und endet mit Sloterdijks Elmauer Rede über die Regeln für den Menschenpark (17. Juli 1999), die er in leicht veränderter Fassung zwar schon am 15. Juni 1997 in Basel gehalten hatte, jedoch ohne eine negative Auswirkung, die dann aber die Elmauer Rede sehr wohl zeitigte: die 1. „Sloterdijk-Debatte“ (**), die auch den Beginn aller „Sloterdijk-Debatten“ (**) bedeuten sollte. Dieser Beginn steht für den Übergang zur 9. Stufe (1999-2006). Daß noch in der 8. Stufe Sloterdijks Sphären I (Blasen) und Sphären II (Globen) - d.h. die ersten beiden Bände seiner Sphären-Trilogie - erschienen, aber Sphären III (Schäume) erst in der 9. Stufe, hat nicht damit zu tun, daß die drei Bücher seiner Sphären-Trilogie voneinander thematisch so getrennt wären, wie sie es zeitlich sind, und auch nicht damit, daß dieses Großwerk (oft als „Opus magnum“ gepriesen) keine großartige Leistung Sloterdijks wäre, was es zweifellos ist (**|**). Sloterdijks Sphären-Großwerk darf sich deswegen auf zwei denk-biographische Stufen verteilen, weil es (a) sowieso eine stringente Fortsetzung in Sloterdijks Denken entsprechend seinem Denkmuster (**|**) darstellt, darum Sloterdijks Absicht dazu schon seit seinen ersten Werken zu erkennen war, und (b) selbst eine Stufe bilden könnte, aber eben nicht muß (siehe: a). Es gibt unter den vier jeweils Übergänge bildenden Eckpunkten in Sloterdijks Denk-Biographie bis heute nur drei: (1) Eckpunkt bzw. Übergang Schule/Studium, (2) Eckpunkt bzw. Übergang (hier sogar als Höhepunkt) „Kritik der zynischen Vernunft“, (3) Eckpunkt bzw. Übergang „Zorn und Zeit“.
„Vielleicht bin ich auch ein bißchen der Lexikon-Mann.“ (Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12.11.2014 Peter Sloterdijk, in :  SZ-Magazin, 12. November 2014 **).
„Ich habe keine Fragen an tote Philosophen, ausgenommen an Fichte, mit dem ich nicht ganz fertig bin. Es gibt aber einen Denker, den ich für den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts halte, obwohl fast niemand ihn kennt: Gotthard Günther. Mit ihm würde ich gern über mehrwertige Logik reden und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sie mit der zweiwertigen Alltagsvernunft in ein überschaubares Verhältnis zu setzen.“ (Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12.11.2014 Peter Sloterdijk, in :  SZ-Magazin, 12. November 2014 **).
„Der Philosoph ... soll seinen Lesern beweisen, daß der Armutsverdacht gegen sich selbst ... unbegründet ist, daß wir von der Tiefe her eugentlich reiche Geschöpfe sind - und diesen Beweis führe ich seit ich denken kann mit wachsender Intensität.“ (Peter Sloterdijk, in: SPIEGEL-Film, 2015 Peter Sloterdijk, in :  Spiegel-Flim, 2015**).
„Für Konservatismus gibt es zwei Definitionen, die erste ist anthropologisch, die andere prozessual oder historisch. Der primäre Konservatismus zeichnet sich durch seinen anthropologischen Pessimismus aus. .... Der prozessuale oder historische Konservatismus beruht auf der Einsicht, daß zivilisatorische Errungenschaften verloren werden können. Es gibt keine Garantie, daß die gleiche Welt in der nächsten Generation weiterbesteht. Das gilt auch für Frieden, Wohlstand und den Schutz des Sozialstaats. Man könnte vielleicht damit leben, daß es in der nächsten Generation keine großen Erzähler oder Künstler mehr gibt oder keine großen Komponisten. Dramatisch wird es, wenn der Rechtsstaat, der Sozialstaat und die Wohnkultur gefährdet werden. Das letztere nenne ich nicht willkürlich: Von der Behausung hängt das Grundgefühl des In-der-Welt-Seins von Menschen ganz wesentlich ab.“ (Peter Sloterdijk, in: DER SPIEGEL, 30.06.2017 Peter Sloterdijk, in :  „Der Spiegel“, 30.06.2017 **).
Den Übergang von der 9. zur 10. Stufe (2006-2015), zugleich der Übergang vom 3. zum 4. „Stadium“ (2006-  ?  ), bildet Sloterdijks 2006 veröffentlichtes Buch „Zorn und Zeit“, weil dieses Buch wieder für eine neue Denkrichtung innerhalb des Sloterdijkschen Denkmusters steht, wenn auch längst nicht so sehr wie beim Eckpunkt bzw. Übergang (und sogar Höhepunkt) „Kritik der zynischen Vernunft“, durch deren 1983 erfolgte Veröffentlichung Sloterdijk endlich klar geworden war, daß er eine neue Denkrichtung innerhalb seines Denkmusters in die Welt setzten kann, also auch dem Außen gegenüber sich als fähig dazu betrachten kann, weil er gelernt hatte, sich „weiter vorzuwagen“ (**), und seinen „Ton gefunden“ (**), sein Instrument entdeckt“ (**) hatte. Nun, 23 Jahre später, geschah in einem geringereren Ausmaß etwas Ähnliches: Sloterdijk erkannte, daß es nötig geworden war, die Verbindung der eigenen Herkunft mit der eigenen politische Position noch deutlicher und auch bezüglich dieser Verbindung noch mehr Imperative in Richtung unserer „thymós-vergessenen therapeutischen Kultur“ (**) auszusprechen, als er es je zuvor getan hatte. Den Übergang von der 10. zur 11. Stufe (2015-  ?  ) brachte die 3. „Sloterdijk-Debatte“ (**), weil Sloterdijk dazu, ein Outing zu wagen und sich auch ganz direkt einen Linkskonservativen (**|**) zu nennen (**|**). Ein Immunologe - und ja wohl erst recht ein Allgemein-Immunologe (**) - kann nur ein Konservativer sein.

 

Eintracht Einfluß auf Peter Sloterdijk Eintracht Einfluß auf Peter Sloterdijk
NACH OBEN Der Denkverein „Eintracht Einfluß“.

•  Der Denkverein „Eintracht Einfluß auf Peter Sloterdijk“ und seine „Taktik“
•  Ein „Präsident“ ist auch kein Gott
Danksagung an den „Präsidenten“

Der Denkverein „Eintracht Einfluß auf Peter Sloterdijk“ und seine „Taktik“ Sloterdijks Denkverein „Eintracht Einfluß

In Sloterdijks 2009 veröffentlichtem Buch „Du mußt dein Leben ändern“ heißt es u.a:
Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsche als Immunologe.  –  Mit Nietzsche verbindet sich das wenig verstandene logische Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts: die Transformation der Metaphysik in Allgemeine Immunologie - ein Ereignis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heute gescheitert sind. (Allein die Luhmannsche Systemtheorie hat aufgrund ihres metabiologischen Ansatzes den immunologischen Imperativ in ihre Grundlagen intergriert. Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 504 ff. [**].) Durch die Offenlegung von Immunität als System und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu erklärt. Er expliziert sich als ein Wesen, das sich im Ungeheuren - Heidegger sagt: In-der-Welt - sichern muß, selbst um den Preis monströser Bündnisse. Klärungen dieses Typs hätten den Status der »Religion« als der (neben dem Rechtswesen) umfassendsten immunitären Praxis symbolischen Typs unmittelbar affizieren müssen - doch es hat ein ganzes Jahrhundert gedauert, bis jüngere Formen von Kulturtheorie und Theologie von den neuen Reflexionspotentialen Gebrauch machten.  –  Dabei waren schon in der Romantik die Weichen gestellt worden.“ **

In Sloterdijks 2012 veröffentlichtem Buch „Zeilen und Tage“ kann man für den 21. September 2010 den folgenden Eintrag lesen:
„Wer die roten Fäden meiner Arbeiten seit der Kritik der zynischen Vernunft suchte, hätte sie finden können in dem sich nach und nach verdeutlichenden Programm einer Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie und in den diversen Anläufen zu einer Theorie der Psychopolitik ....“ **

Allgemeine Immunologie als Ersatz für Metaphysik, ja, aber mit der „Theorie zu einer Psychopolitik“ ist doch die Metaphysik wieder da, zumindest für den Teil, der die „Psyche“ betrifft, denn die Psyche ist metaphysisch.

Ellipse M = Mittelpunkt;
F = Brennpunkte;
S = Scheitelpunkte;
Rot = Hauptachse;
Grün = Nebenachse.

Betrachten wir „die roten Fäden“ (**|**) Sloterdijks als die zwei von ihm selbst genannten - nämlich (1.) die „Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie“ (**|**) und (2.) die „Theorie der Psychopolitik“ (**|**) und damit die Wiedereinführung der Metaphysik durch den Begriff „Psyche“ (**) -, so können wir diese zwei auch als „Brennpunkte“ einer „Ellipse“ verstehen, wobei wir die Ellipse als Sloterdijks Denkmuster (**), einen Ausschnitt aus seinem Dasein und Sosein in der Welt deuten, und zwar sowohl auf synchroner als auch auf diachroner Ebene. Wir werden nun diejenigen „neuzeitlichen“ Philosophen oder Dichter und Denker, die Sloterdijk am meisten beeinflußt haben, zu betrachten haben. Ich habe achtzehn davon ausgewählt. Es hätten auch mehr sein können. Die achtzehn Einflußgrößen Sloterdiks sind sein Denk-„Trainer“, sein Denk-„Arzt“ (-„Immunologe“), sein Denk-„Betreuer“, seine elf Denk-„Spieler“ und seine vier Denk-„Ersatzspieler“, um einmal mehr das Denken mit dem Fußballsport in Verbindung zu bringen ():

Leibniz
Kant
Herder
Goethe
Fichte
Hegel
Schelling
Schopenhauer
Nietzsche
Spengler
Heidegger
Günther
Lacan
Gehlen
Foucault
Luhmann
Schmitz
Jain
Achtzehn Denker mit dem wahrscheinlich größten Einfluß auf Sloterdijk. In der Waagerechten (von links nach rechts) sind sie gemäß ihrer Geburtsdaten, in der Senkrechten (von oben nach unten) gemäß ihrer Stärke an Einfluß auf Sloterdijk geordnet.

Eintracht Einfluß auf Peter Sloterdijk
Wenn in diesem Zusammenhang von „Einfluß“, „Einwirkung“ oder „Wirkung“ die Rede ist, dann folgt daraus nicht immer eine Bejahung bzw. Übernahme. Ein Floh kann auf einen Menschen wirken, einwirken, Einfluß ausüben, ohne daß der Mensch den Floh bejaht bzw. übernimmt, z.B. ihn als seinen „Vorgesetzten“ akzeptiert. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob jede Person mit Einfluß auf Sloterdijk immer auch mit der von mir oben angegebenen Stärke an Einfluß tatsächlich übereinstimmt; doch behaupte ich, Sloterdijk gut genug zu kennen, um eine solche Übereinstimmung zumindest für die ersten zwei Ebenen (siehe die Bilder von oben nach unten: 1. und 2. Ebene [**]), wahrscheinlich auch für die nächsten zwei Ebenen (siehe die Bilder von oben nach unten: 3. und 4. Ebene [**]) garantieren zu können, denn nur bei den letzten zwei Ebenen (siehe die Bilder von oben nach unten: 5. und 6. Ebene [**]) habe ich durchaus überlegt, ob ich nicht statt einigen Personen der letzten zwei Ebenen andere hätte wählen sollen. Diese achtzehn Personen der insgesamt sechs Ebenen bedeuten für Sloterdijks Denkentwicklung seinen Denk-„Trainer“, seinen Denk-„Arzt“ (-„Immunologe“), seinen Denk-„Betreuer“, seine elf Denk-„Spieler“ und seine vier Denk-„Ersatzspieler“, wie oben schon erwähnt (**). In der rechts zu sehenden Abbildung sind sie mit ihren Namen erwähnt. Der Denk-„Trainer“ und der Denk-„Arzt“ (-„Immunologe“) haben in etwa denselben Grad an Einfluß, nämlich den größten bzw. stärksten. Dicht gefolgt vom Denk-„Betreuer“. Die elf Denk-„Spieler“ sind in der Abbildung zwar nummeriert, jedoch nicht im Sinne ihrer Einflußgröße, sondern gemäß ihrer Lebensdaten, also rein chronologisch geordnet. Aber sie haben dennoch unterschiedliche Einflußgrößen. Nur soll sich jeder Leser davon selbst ein Bild machen. Ich verrate nur soviel, daß der Denk-„Spieler“ mit der Nummer 7 und der Denk-„Spieler“ mit der Nummer 10 stärkeren Einfluß haben als die anderen Denk-„Spieler“. Doch muß ich das nicht wirklich verraten, weil die unterschiedlichen Einflußstärken sich ja schon aus der aus sechs Ebenen bestehenden Anordnung der obigen Bilder ergeben (**). Die vier Denk-„Ersatzspieler“ kommen folgerichtig aus der sechsten Ebene, die aus insgesamt sechs Denk-„Spielern besteht. Warum ich so vorgegangen bin? Nun, erstens, weil ich 32 Sloterdijk-Bücher gelesen habe (32 Sloterdijk-Bücher in einem meiner Bücherschränke), zweitens, weil ich gerechterweise von Sloterdijks eigener Beschreibung seiner „roten Fäden“ (**|**) ausgegangen bin, obwohl ich das gar nicht hätte tun müssen (aber eben aus Gerechtigkeitsgründen dennoch getan habe), weil Sloterdijks eigene Beschreibung mein Verstehen Sloterdijks bzw. sein Denkmuster (**|**) ohnehin bestätigt. Ich verstehe ihn als einen die Existenz bzw. Existenzphilosophie ins Zentrum des Denkens stellenden Lebensphilosophen (**) mit einer Tendenz zum Idealismus. (**).
Nietzsche, Heidegger, Sloterdijk
Denktrinität: „Denk-Arzt“, „Denk-Trainer“ und „Denk-Vereinsmitglied“.
 
Er richtet sich nach den Denk-„Anweisungen“ seines Denk-„Trainers“ Heidegger, seines Denk-„Arztes“ (-„Immunologen“) Nietzsche und seines Denk-„Betreuers“ Hegel. Seinen eigenen Aussagen zufolge geht es ihm um eine „Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie“ (**|**) und eine „Theorie der Psychopolitik“ (**|**). Sein „Immunologisches“ ist auch nach meinem Dafürhalten durchaus im allgemeinen Sinne gemeint. Sein „Psychopolitisches“ ist jedoch schon allein aus begrifflichen Gründen eine seiner Schwachstellen, weil er damit zu oft übertreibt, in Psychologismen und Sozioligismen flüchtet. Mit seiner „Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie“ einerseits und seiner „Theorie der Psychopolitik“ andererseits dreht Sloterdijk sich in einem Kreis bzw. einer Spirale, weil er die Metaphysik einerseits ablehnt oder zumindest umwandeln will und andererseits durch den Begriff „Psyche“ (**) wieder einführt und danach wieder mit dem Umwandeln weitermachen muß oder kann (je nach Deutung). Es kann ja sein, daß er deshalb häufig sehr dicke Bücher schreibt und überhaupt sehr viel schreibt, denn er bewegt sich ja stets in einem Kreis bzw. einer Spirale: Metaphysik in Immunologie umwandelnd, Theorie der Psychopolitik und dadurch zumindest teilweise wieder Metaphysik betreibend, diese wieder in Immunologie umwandelnd ... usw. .... Wenn wir einmal nur von der Politik absehen, dann ergibt sich bei Sloterdijk immer wieder ein Kreis bzw. eine Spirale der Umwandlung von Metaphysik in Immunologie bei gleichzeitiger Herstellung von Metaphysik mit folgenden möglichen Ergebnissen: (a) mehr Immunologie als Metaphysik, (b) mehr Metaphysik als Immunologie, (c) gleicher Anteil von Metaphysik und Immunologie -, wobei noch zu fragen ist, ob es Sloterdijk sogar irgendwann gelingt, (aa) die Metaphysik durch Immunologie zum Verschwinden, (ba) die Immunologie durch Metaphysik wie bei der Infinitesimalrechnung ins unendlich Kleine mit dem „Grenzwert Null“ und somit fast zum Verschwinden oder (ca) beide zum Verschwinden zu bringen. Auf diese Weise wird er immer wieder sagen können, (aa) dieses in jenes umgewandelt und darum zum Verschwinden gebracht oder (ba) jenes durch dieses bis ins Unendliche verkleinert und darum fast zum Verschwinden oder sogar (ca) beides zum Verschwinden gebracht zu haben. Ja (gut!), aber er wird nichts davon beweisen können, weil immer wieder gesagt werden kann, daß doch das jeweils eine auch als das jeweils andere deutbar sei und deshalb auch jedes der jeweiligen Ergebnisse stets fragwürdig bleibe. Der jeweilige Beweis läßt sich also nicht erbringen, weil er in der jeweiligen Voraussetzung schon enthalten ist. Sloterdijks Kreis entpuppt sich so als ein „Kreis beim Beweisen“ (Circulus in probando), der auch „fehlerhafter Kreis“ (Circulus Vitiosus) genannt wird (**). Wollte Sloterdijk sagen, daß er Metaphysik mit Metaphysik bekämpfe (weil sie schneller wachse als die für ihre Ersetzung zuständige Immunologie) und immer einen Rest an Politik übrigbehalte, dann betriebe er eine Theorie der Homöopolitik (**); wollte er sagen, daß er, indem er den Anteil an Metaphysik (durch Immunologie) sowohl herabsetze als auch (durch Metaphysik, nämlich: „Psyche“) heraufsetze, eine Herabsetzung der Metaphysik erreiche, so bliebe in diesem Satz des Widerspruchs (**) der Widerspruch (**) zumindest solange erhalten, wie dem Wort „Anteil“ keinerlei Information über die Quantität beigefügt bliebe. Daß eine Theorie der Homöopolitik immer eine Option ist, steht außer Frage; daß ein Widerspruch auch für die Erkenntnis nicht unbedingt hinderlich sein muß, haben Hegel (Sloterdijks Denk-„Betreuer“), vor ihm schon Fichte, dann Schelling, später insbesondere und mit sehr starken Argumenten Luhmann gezeigt (alle drei Sloterdijks Denk-„Spieler“).

Nun ist es also heraus: Sloterdijks Kritiker aus dem Zensurstrom hätten dann, wenn sie es nicht anders meinten, recht mit ihrer Behauptung, Sloterdijk sei ein Heideggerianer, Nietzscheaner und Hegelianer. Aber was wollen sie mit ihrer Aussage bezwecken? Nun, sie wollen tadeln ( ). Ich dagegen will loben  ). Das ist und bleibt der Unterschied zwischen ihnen auf der Seite des Bösen ) und mir wie auch Sloterdijk selbst und vielen anderen auf der Seite des Guten ).

I (1 bis 2) II (2 bis 3) III (nach 3)
Keine Schrift
und kein Postheroismus
Schrift, aber kein Postheroismus Schrift
und Postheroismus
Rd. 0,31 bis 3,72 Millionen Jahre (geschätzt) Rd.
6000 Jahre (geschätzt)
Rd.
10 bis 194 Jahre
*
99,84%
bzw.
98,06% bis 99,84%
0,16%
bzw.
1,88%
0,0003% bis
0,005% bzw. 0,003% bis 0,063%
* 2001 als das Jahr der Gegenwart.
In Sloterdijks Philosophie bzw. Denkmuster (**|**) geht es auf der diachronen Ebene um ein Drei-Stadien-Modell: Prähistorie-Historie-Posthistorie, Prämoderne-Moderne-Postmoderne, Frühkultur-Hochkultur-Spätkultur, Paläopolitik-Politik-Hyperpolitik, Blasen-Globen-Schäume u.ä. Beispiele künden davon. Die Evolution bzw. Geschichte der Menschheit bildet dafür den Zeitrahmen, in dem es somit insgesamt um vier zeitliche Grenzen bzw. Übergänge geht: (1) Beginn der Menschheit (wann auch immer dieser Anfang war), (2) Beginn der Schrift, (3) die Zeit zwischen der Achsenzeit und der französischen Revolution bzw. dem Zusammenbruch der Sowjetunion (diesem letzteren, weil es ihm um den Übergang vom Eisernen zum Silbernen Zeitalter geht, das den Postheroismus, das Ende der Geschichte [Posthistorie] als „Metapher für die Außerkraftsetzung des im Eisernen Zeitalter herrschenden Realitätsprinzips im Gefolge nicht-heroischer Maßnahmen gegen die fünf Nöte“ [**] und die Postmoderne als „das mediale Ausschlachtung des Unbehagens am Zweitbesten“ [**] bedeutet), (4) die Gegenwart. Somit ist das erste Stadium (zwischen 1 und 2) das mit der weitaus größten Dauer und das dritte Stadium (zwischen 3 und 4) das mit der kleinsten Dauer, jedenfalls bis jetzt, denn die Grenze bzw. den Übergang in Richtung Zukunft bildet für das dritte Stadium ja die Gegenwart (siehe 4). Dieses Drei-Stadien-Modell kann dialektisch, zyklisch und linear verstanden werden, wobei aber schon an den Präfixen der meisten Wortkompositionen für die drei Stadien erkennbar ist, daß das Lineare gegenüber dem Zyklischen und Dialektischen deutlich zu kurz kommt. Man könnte sich dieses Drei-Stadien-Modell auch als Modell namens „Evolution-Revolution-Evolution“ oder „Evolution-Geschichte-Evolution“ vorstellen - zumindest habe ich das gerade getan.  –  Für Sloterdijk hat das Ende der Geschichte (die Nachgeschichte, Posthistorie) entweder schon mit seinem Denk-„Betreuer“ Hegel im Jahre 1807 (**) oder eben erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 begonnen (siehe 3). Sloterdijk zufolge geht es seitdem (nach 3) um die „Schicksalsfrage ...: ob es gelingt, die Standards des episodisch aufgetauchten Silbernen Zeitalters zu stabilisieren oder ob der Rückfall in ein Eisernes Zeitalter vor der Tür steht, von dessen Aktualität alte und neue Realisten überzeugt sind - nicht zuletzt unter Hinweis auf die Tatsache, daß mehr als zwei Drittel (hier irrt Sloterdijk, denn es sind mehr als VIER FÜNFTEL! HB) der Menschheit es nie verlassen haben“ (**). Ich habe auf meiner Seite „Neu-/Nachgeschichte“ gesagt: „Bisher hat es noch kein Mensch vermocht, das Ende der Geschichte im engeren Sinne zu bestimmen.“ **

„Der Philosoph meines Namens würde gern mit der Formel durchkommen: »Leben heißt Immunität ins Unendliche ausdehnen.« Beim Publikum hat das für die nächsten hundert Jahre keine Chance. Verstehen Sie dies nicht als Resignation. In meinen späteren Tagen möchte ich mich noch einmal an die Arbeit machen und Metaphysik als allgemeine Immunologie darstellen, als Lehre von der Welt als Aggression und Schutz. Nach dem Jahr 2200 wird es Schulstandard sein. Letztlich aber geht es mir darum, den Abgrund zwischen Leben und Philosophie zu überbrücken. Ich frage mich, ob dazu nicht vielleicht ein einziger Satz genügt, bei welchem dem Kollegen Descartes die Ohren klingen: Man denkt an mich, also bin ich. Mit etwas Glück wird daraus: Ich bin, seit sie an mich denkt. Je mehr Plagiatoren in der Zukunft herumlaufen, die die Quelle weder kennen noch nennen, desto besser.“ (Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12.11.2014 Peter Sloterdijk, in :  SZ-Magazin, 12. November 2014 **).
Eigentlich will uns Sloterdijk immer wieder sagen, daß es im synchronen Bereich, den wir auch als den Raum bezeichnen können, um Immunologie der Lebewesen und Psychopolitik der Menschen ginge, die durch den diachronen Bereich, den wir auch als die Zeit oder Geschichte bezeichnen können, ihre Veränderungen wahrnehmen, auf sie reagieren, neue bewirken, auf die dann wieder reagiert wird usw., wobei dieser Prozeß dem schon besprochenen Drei-Stadien-Modell (**) entspricht. Das Wort „Immunologie“ verrät uns schon die hauptsächlichen Einflußgrößen: sein Denk-„Arzt“ (-„Immunologe“) Nietzsche und sein Denk-„Trainer“ Heidegger, aber auch sein Denk-„Betreuer“ Hegel und seine Denk-„Spieler“, besonders Spengler und Luhmann. Um zu verhindern, daß insbesondere sein Denk-„Arzt“ seine Denk-„Spieler“ dem „Impfzwang“ (Motto: „»Ich impfe euch mit dem Wahnsinn“ [**]) und dem Zwang zu „Nahtoderfahrungen“ (Motto: „»Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ [**|**]) unterzieht, braucht er unbedingt den alten „Haudegen“ Hegel als Denk-„Betreuer“. Schwieriger als beim Wort „Immunologie“ ist die Zuordnung beim Wort „Psychopolitik“, was auch damit zu tun hat, daß nach vier Jahrtausenden Geschichte des Wortes „Psyche“ immer noch niemand weiß, was mit dem Wort eigentlich gemeint ist. Sloterdijks Drei-Stadien-Modell ist hauptsächlich vom Dialektik-Modell seines Denk-„Betreuers“ Hegel und vom Zyklen-Modell seines Denk-„Spielers“ Spengler beeinflußt. Zyklisch ist Sloterdijks Drei-Stadien-Modell, weil Sloterdijk etwas vorstellt und beschreibt, das einmal angefangen hat und danach blüht, ab einem bestimmten Zeitpunkt verwelkt, vollendet ist oder beendet wird, jedenfalls endet. Das ist durchaus im Sinne aller Zyklentheoretiker, besonders aber im Sinne des Zyklentheoretikers und Kulturmorphologen Spengler zu verstehen, der ja einer der wichtigsten Denk-„Spieler“ Sloterdijks ist. Dialektisch ist Sloterdijks Drei-Stadien-Modell, weil die drei Stadien gemäß Sloterdijks Denk-„Betreuer“ Hegel verlaufen: das 1. Stadium wie Hegels „These“, das 2. Stadium wie Hegels „Antithese“ und das 3. Stadium wie Hegels „Synthese“. Die Synthese steht für die bei Sloterdijk gehäuft auftauchenden Gedankenspiele in Richtung „Postmoderne“ und „Posthistorie“ („Posthistoire“) - auch versteckt, denn diese stecken ja auch z.B. hinter seinem bzw. Gehlens Begriff „Spätkultur“, hinter seinem Begriff „Hyperpolitik“, hinter seinem Begriff „Schäume“ usw. -, steht auch für die „Negation der Negation“, für die dadurch von neuem gesetzte These auf einer emporgehobenen Ebene, für die These als das in erhöhter Form Bewahrte, als das „Aufgehobene“ in Hegels Sinne (**|**), d.h. auch für die Vollendung bzw. das Ende eines dialektischen Prozesses, obschon dieser dann wieder von neuem beginnen kann, indem die Synthese zur These wird. Solche dialektischen Prozesse sind einerseits selbst wie Zyklen und andererseits als Integrale in einem größeren Zyklus oder mehreren größeren Zyklen zu verstehen.

Ein „Präsident“ ist auch kein Gott Sloterdijks Denkverein „Eintracht Einfluß

Sloterdijk ist bezüglich seiner Außenrichtung zwar hartnäckig, bleibt seinem Denkmuster (**|**) stets nach außen hin treu; trotzdem ist er in vielerlei Hinsicht auch inkonsequent. Diese Inkonsequenz mag einerseits an seiner Eitelkeit und andererseits an eben jenem schon erwähnten Widerspruch liegen, denn die Herabsetzung von Metaphysik (durch Immunologie) bei gleichzeitiger Heraufsetzung von Metaphysik (durch „Psyche“) bedeutet nicht unbedingt trotzdem eine Herabsetzung von Metaphysik (**|**). Zwar läßt sich dieser Widerspruch auflösen, wenn bekannt ist, ob Sloterdijk die Metaphysik mehr herauf- als herab- oder mehr herab- als heraufsetzt; doch dafür muß man Sloterdijk bzw. seine Texte schon ziemlich gut kennen, und der auf diese etwaige oder tatsächliche Unkenntnis bezogene Unsicherheitsfaktor auf der Seite der meisten Leser kommt Sloterdijk insofern zugute, als daß er sich nicht festlegen muß, sich ja auch gar nicht gern festlegen will und auch nicht festlegen lassen will, so daß z.B. der Eindruck entstehen kann, er sei ein nur die Phänomene sprechen lassender Phänomenologe oder ein das Beliebige liebender „Postmoderner“ oder ein sehr belesener und redelüsterner Erzählkünstler oder ein inkonsequenter Zögerer und Zauderer, der Angst vor seiner eigenen Herabsetzung, vor dem Verlust an Geld, Ansehen, Kompetenz und Einfluß hat und der außerdem aufgrund seiner Eitelkeit seine Inkonsequenz sogar nur noch deutlicher zeigt.

  PROGRESSIV  
L
I
N
K
S
                R E C H T S
               
               
    MITTIG    
       
               
               
               
  KONSERVATIV  
** **
Zu Sloterdijks
politgeometrischer Position:
** ** ** **

Zu Sloterdijks Inkonsequenz scheint auch zu gehören, daß er z.B. niemals direkt von den Globalisten (**), ihren für ihre Weltherrschaft unerläßlichen Strategien, ihren Geostrategien (**), zu denen vor allem das unbedingt zu verhindernde „Bündnis zwischen Deutschland und Rußland“ gehört (George Friedman), ihren Denktankstellen („think tanks“), ihrer Geopolitik, ihrer NATO-Begründung, der zufolge die Deutschen unbedingt „unten“ gehalten werden sollen (**), ihrem „Tiefen Staat“, ihrer Polit- und Wirtschaftsmafia, ihren Geheimdiensten und ihren anderen geheimen Machenschaften spricht. Wenn er das alles, was es ja gibt und größtenteils von den Globalisten selbst auch gar nicht mehr geleugnet wird, in „die roten Fäden“ (**|**) seiner Philosophie, in sein Denkmuster (**|**) miteinbezöge und dann auch direkt anspräche, dann bezöge er erstmals wirklich eine, nämlich seine politische Position ein und müßte nicht immer vor seinen Gesprächspartnern und seinem Publikum so „herumeiern“, wie er es häufig tut. Er hat bisher nur einmal wenigstens zugegeben, ein Linkskonservativer zu sein (**|**|**|**|**|**|**). Wenn er deutlicher werden würde, was seinen politischen Standort angeht, würde er sich auch nicht immer solchen peinlichen „Interviews“ aussetzen, in denen seine Inkonsequenz lediglich ausgebeutet wird, mittlerweile sogar auch schon beim Sender „3-Sat“ (**). Wen wundert eine solche Ausbeutung denn noch? Oder liegt hierbei etwa eine Inszenierung auf der Basis eines „Deals“, also wieder einmal Korruption vor?

Zwar ist Sloterdijk mit zunehmendem Alter bezüglich seiner politischen Position ein wenig deutlicher geworden, doch das liegt nicht nur an der Reife, die er erreicht hat, sondern auch an den auf ihn verübten Überfällen, die von den Lügenmedien „Sloterdijk-Debatten“ genannt werden, und an anderen äußeren Umständen, die ebenfalls zugenommen haben, auf ihn immer mehr Druck ausüben, in der Letztbegründung von „ganz oben“ kommen und immer mehr auf ihn „einregnen“. Warum wehrt er sich nicht dagegen ganz direkt in seinen Büchern, in seinen Reden in der Öffentlichkeit, im Fernsehen und im Internet? Gehört es zu seiner Strategie, dies nicht zu tun? (Sein Denk-„Arzt“ Nietzsche meinte ja, daß Philosophie immer auch Strategie sein müsse.) Ja, es gehört zu seiner Strategie, jedenfalls größtenteils, und diese ist eben leider auch durch jene Inkonsequenz gekennzeichnet. ** **

Auch für die Beurteilung bestimmter Phänomene mußte Sloterdijk erst reif werden. Zuvor hat ihn aber nicht nur seine mangelhafte Reife, sondern auch seine in manchen Bereichen zu starke und darum gefährliche Abhängigkeit jener Denk-„Arznei“, die ihm sein Denk-„Arzt“ Nietzsche - trotz der Warnungen seitens seines Denk-„Betreuers“ Hegel vor den vielen „Risiken und Nebenwirkungen“ - „verordnet“ hat, sprich sein übertriebener Nietzscheanismus veranlaßt, bestimmte Phänomene falsch zu beurteilen. Seine teilweise extrem übertriebenen und nachweisbar sowie nachweislich falschen Urteile über das Christentum im allgemeinen und die Deutschen im besonderen scheint er direkt aus Nietzsches Büchern, besonders aus den Nietzsches Einlieferung in die Irrenanstalt bereits andeutenden Büchern abgeschrieben zu haben. Erst seit Sloterdijk seine Reife bzw. seinen „Herbst“ (**|**) erreichte, hat diese Art der Übertreibung wenigstens insoweit nachgelassen, als daß seine Inkonsequenz davon unberührt geblieben ist, sich also seitdem eher bei anderen Themen zeigt. Sloterdijk braucht seine Inkonsequenz, zu der u.a. seine Fremdwörtersucht (**) gehört, weil sie jene schon erwähnte Spirale (**) stabilisiert, die ihn bei seiner Entwicklung schützt. „Der größte Teil meines Immunsystems ist meine Inkonsequenz“ - mein Vorschlag für den Titel eines seiner nächsten Bücher.

Man sollte Sloterdijks Inkonsequenz dennoch nicht immer nur negativ bewerten. Als Strategie und als Ergebnis aus einer Mischung aus Eitelkeit, Übertreibung, Skepsis, Widersprüchlichkeit, Ironie (einschließlich Selbstironie), Romantik, Idealismus, Realismus, Existenz-/Lebensphilosophie, Phänomenologie, „Postmodernität“ und Erzählkunst hat sie auch eine nicht zu unterschätzende positive Seite. Sie erscheint dann eher als eine Gelassenheit, die Sloterdijk ja ohnehin gern einfordert, so wie er es von seinem Denk-„Trainer“ Heidegger gelernt hat. Außerdem ist Sloterdijk nur der „Präsident“ seiner, weil von ihm selbst ausgewählten „Eintracht Einfluß auf Peter Sloterdijk“. Auch ein solcher Präsident ist kein Gott, noch nicht einmal ein Denk-„Fußballgott“.

Danksagung an den „Präsidenten“ Sloterdijks Denkverein „Eintracht Einfluß

Ich möchte Sloterdijk ganz sicher nicht herabsetzen, denn er ist derjenige Schriftsteller, dem ich zu verdanken habe, daß ich bisher 32 seiner Bücher lesen konnte (32 Sloterdijk-Bücher in einem meiner Bücherschränke). Bis heute hat kein anderer Schriftsteller als eben nur Sloterdijk mich bewegen können, 32 seiner Bücher zu kaufen, zu lesen und im Endeffekt immerhin 30 davon positiv zu bewerten. „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, „Nicht gerettet“, „Zorn und Zeit“, „Sphären II“, „Du mußt dein Leben ändern“, „Im Weltinnenraum des Kapitals“, „Sphären III“, „Die Sonne und der Tod“, „Sphären I“, „Die nehmende Hand und die gebende Seite“, „Kritik der zynischen Vernuft“, „Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen“, „Falls Europa erwacht“, „Im selben Boot“, „Regeln für den Menschenpark“, „Eurotaoismus“, um nur diejenige Hälfte, d.h. diejenigen 16 Bücher zu nennen, die ich in dieser Reihenfolge am meisten positiv bewertet habe (**), während ich von der anderen Hälfte, d.h. von den anderen 16 Büchern immerhin 14 Bücher ebenfalls positiv, wenn auch weniger positiv, und nur 2 Bücher negativ bewertet habe. Wer von 32 gelesenen Büchern 30 positiv bewertet, hat eine Ausbringung von 93,75%. Das ist bei 32 gelesenen Büchern eine beachtliche Ausbringung. Es gibt nur wenige Schriftsteller, die bei mir dieses oder ein ähnliches Ergebnis erreicht haben. Bei mir ist Peter Sloterdijk quantitativ (32 Bücher) auf Rang 1 und qualitativ (93,75% positiv / 6,25% negativ) auf Rang 13 zu finden, was hinsichlich beider, d.h. im Mittel von Quantität und Qualiät immerhin Rang 7 bedeutet.  

 

•   Rezensionen   •

Sphären
Sphären
Sphären
Sphären (I) Sphären (II) Sphären (III)
NACH OBEN Das Großwerk will zerlegt sein! - Eine Rezension der drei Bücher des Sphären-Werkes: (I) „Blasen“ (1998), (II) „Globen“ (1999), (III) „Schäume“ (2004).

Die Sphären-Trilogie ist in der Tat ein Großwerk, eine großartige Leistung Sloterdijks (**). Die Mikrosphärologie Blasen erschien 1998, die Makrosphärologie Globen erschien 1999, die Pluralsphärologie Schäume erschien 2004.

Peter Sloterdijk (gemalt)
Peter Sloterdijk (gemalt und „gephotoshopt“)
„Das Projekt »Sphären« läßt sich auch als Versuch verstehen, das in
Heideggers Frühwerk subthematisch eingeklemmte Projekt Sein und Raum
- in einem wesentlichen Aspekt zumindest - aus seiner Verschüttung zu bergen.
Wir sind der Meinung, daß von Heideggers Interesse an Verwurzelung
durch eine Theorie der Paare, der Genien, der ergänzten Existenz soviel zu
seinem Recht kommt, wie überhaupt von ihm gerettet werden kann.“
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger 2001, S. 403 **).
„Diese Monsterbuch mit seinen 2550 Seiten müßte eigentlich,
wenn es nicht Sphären hieße, Sein und Raum heißen.“
  (Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 230 **).
Der Titel „Sphären“ ist als anthropologischer Begriff (**|**) und kulturtheoretisch zu verstehen. Er verweist auf Sloterdijks spenglerianische Leitthese, nach der das Leben eine Formsache ist (**): So wie Oswald Spengler (**) nach Johann Wolfgang (von) Goethes Morphologie (**), so will Sloterdijk den Versuch wagen, nach „Oswald Spenglers ... Morphologie der Weltgeschichte (**) wieder einem Formbegriff eine höchstrangige Stellung in einer anthropologischen und kulturtheoretischen Untersuchung zuzuweisen.“ (Peter Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 78). Sloterdijk will räumlich stets im Uterus beginnen: „Der Humanraum ist buchstäblich ab utero, zunächst bipolar, auf entwickelteren Stufen pluripolar geformt; er besitzt die Struktur und Dynamik eines beseelten Ineinandergreifens von Lebewesen, die auf Nähe und Teilhabe aneinander angelegt sind .... Der Mensch, sofern er das Wesen ist, das »existiert«, ist das Genie der Nachbarschaft. Heidegger (**) hat das in seiner kreativsten Zeit auf den Begriff gebracht: Sind Existierende zusammen da, halten sie sich »in derselben Sphäre von Offenbarkeit«. Sie sind füreinander erreichbar und doch einander transzendent - eine Beobachtung, die zu unterstreichen die Denker des Dialogs nicht müde werden. Aber nicht nur Personen, auch die Dinge und die Umstände werden auf ihre Weise vom Prinzip Nachbarschaft erfaßt. Deswegen bedeutet »Welt« für uns den Zusammenhang von Zugangsmöglichkeiten. »Dasein bringt schon die Sphäre möglicher Nachbarschaft mit sich; es ist von Hause aus schon Nachbar zu ....« (Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 1935, S. 138). Steine, die nebeneinander liegen, kennen das ekstatische Offensein füreinander nicht. Nicht alle geben das zu.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 14-15). Sloterdijks Trilogie-Werk „müßte eigentlich, wenn es nicht Sphären hieße, Sein und Raum heißen“  (Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 230); ja, es „ist als Anschlußprojekt zu Heideggers »Sein und Zeit« (**) zu verstehen und beschreibt aus philosophisch-anthropologischer Sicht die kulturelle Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Der kugelförmige Raum mit seiner mehr oder weniger starken Ausdehnung gehört Sloterdijk zufolge zu den wichtigsten Grunderfahrungen und Grundstrukturen des Lebens. Die Auseinandersetzung mit der sphärischen Lebenswelt des Menschen eröffne einen Blick auf den Menschen selbst.“ (Florian Langenscheidt, Das Beste an Deutschland - 250 Gründe, unser Land heute zu lieben, 2006, S. 318). Sloterdijks spenglerianische Leitthese, nach der das Leben eine Formsache ist, „suggeriert, daß Leben, Sphärenbilden und Denken verschiedene Ausdrücke für dasselbe sind“, so Sloterdijk.

In Sloterdijks Trilogie-Projekt ist es sogar „möglich, mit dem dritten Teil von Sphären zu beginnen, als ob er der erste wäre. Er ist es in gewisser Hinsicht tatsächlich, weil das Unternehmen im ganzen nur von seinem abschließenden Pol her zu überblicken ist. .... In den beiden vorausgehenden Bänden wird der Versuch unternommen, dem Ausdruck Sphäre den Rang eines Grundbegriffs zu verleihen, der sich in topologische, anthropologische, immunologische, semiologische Bedeutungsaspekte verzweigt.
BlaseBlase
Blase
BlaseBlase
„Jede Lage im Schaum bedeutet eine auf die eigene Blase
bezogene relative Verschränkung von Umsicht und Blindheit;
jedes In-der-Welt-Sein, als Im-Schaum-Sein verstanden,
eröffnet eine Lichtung im Undurchdringlichen.“
(Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 63).
 
Sphären I schlägt eine (der Autor meint: stellenweise neue) Beschreibung des menschlichen Raumes vor, die betont, daß durch das nahe Zusammen-Sein von Menschen mit Menschen ein bisher zu wenig beachtetes Interieur gestiftet wird. Wir nennen dieses Innen die Mikrosphäre und charakterisieren es als ein sehr empfindliches und lernfähiges seelenräumliches (wenn man will moralisches) Immunsystem. Der Akzent wird auf die These gesetzt, daß das Paar gegenüber dem Individuum die wirklichere Größe darstellt - was zugleich bedeutet, daß die Wir-Immunität gegenüber der Ich-Immunität das tiefere Phänomen verkörpert. In einer Zeit, die auf die Elementarteilchen (**) und die Individuen schwört, versteht sich eine solche These nicht von selbst. .... In Sphären II werden aus Einsicht in die ekstatisch-surreale Natur des erlebten und bewohnten Raums Konsequenzen gezogen. Dies geschieht in Form einer großen Erzählung über die Expansion des Seelischen im Zuge von imperialen und kognitiven Weltbesetzungen. .... Sphären III, Schäume, bietet eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters unter dem Gesichtspunkt, daß das »Leben« sich multifokal, multiperspektivisch und heterarchisch entfaltet. Ihr Ausgangspunkt liegt in einer nicht-metaphysischen und nicht-holistischen Definition des Lebens: Seine Immunisierung kann nicht mehr mit Mitteln der ontologischen Simplifikation, der Zusammenfassung in der glatten Allkugel, gedacht werden. Wenn »Leben« grenzenlos vielfältig räumebildend wirkt, so nicht nur, weil jede Monade (**) ihre je eigene Umwelt hat, sondern mehr noch, weil alle mit anderen Leben verschränkt und aus zahllosen Einheiten zusammengesetzt sind. Leben artikuliert sich auf ineinander verschachtelten simultanen Bühnen, es produziert und verzehrt sich in vernetzten Werkstätten. Doch was für uns das Entscheidende ist: Es bringt den Raum, in dem es ist und der in ihm ist, jeweils erst hervor.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 13-16 und 23-24). Vgl. auch: Schaum-Theorie (**), Schaum-Metapher (**), Neo-Monadologie (**).

Es bleibt zu fragen, ob es stimmt, daß wir in einer Zeit leben, die Sloterdijk zufolge auf „die Individuen schwört“, schwört doch Sloterdijk selbst in seinem ersten Sphärenbuch Blasen noch auf das von Nietzsche ihm angepriesene „Dividuum“. Aus den „Dividuen“ der Blasen haben die Globen wohl „Individuen“ der Schäume gemacht. Doch wenn es trotzdem so ein sollte, daß unsere Zeit der Schäume Sloterdijk zufolge auf „die Individuen schwört“, dann „schwört“ sie nach meinem Dafürhalten nur dann auf „die Individuen“, wenn es um den Konsumismus geht, ansonsten aber überhaupt nicht. Abgesehen davon, daß wir das Wort „Individuen“ durch das Wort „Einzelwesen“ oder das Wort „Personen“ ersetzen sollten, um von Sloterdijk verursachte Mißverständnisse zu vermeiden, ist doch immer noch wahr, daß jeder Lohnabhängige im Abendland viel mehr arbeiten muß, als es nötig wäre, wenn er als jenes „Individuum“, genauer nämlich als Einzelwesen, als Person anerkannt wäre. Die Arbeit als solche erfordert nicht mehr, sondern weniger investierte Zeit, weil immer mehr Maschinen immer mehr Menschen ersetzen, weil sie immer mehr gelernt haben und folglich immer mehr leisten können, wodurch Menschen immer mehr ins Abseits gedrängt, nämlich überflüssig werden. Immer weniger Menschen werden auf dem Arbeitsmarkt benötigt. Diese immer weniger werdenden Menschen sind einem Konkurrenzkampf ausgeliefert wie nie zuvor, werden nicht oder kaum noch von Gewerkschaften unterstützt, weil der Globalismus diese verbietet, zwar nicht - wie der staatliche Kommunismus dies tut - durch vom Staat direkt erlassene Gesetze, sondern durch private Interessen, die auf zweiter Ebene durch ebenfalls private, also nicht-staatliche und auf dritter Ebene durch staatliche Institutionen zu Gesetzen werden. Insofern haben wir es beim Globalismus mit einem Monopolismus und damit verbundenem Kommunismus privat gelenkter Art zu tun.

Offenbar ist Sloterdijks sphärische Trilogie ein Ausgleichsversuch zwischen Idealismus und Skeptizismus - deshalb meine Frage: Neuerer Idealismus (Neuere Akademie) oder Jüngere Lebensphilosophie (Jüngerer Skeptizismus)? (**). Der Ausgleich „zwischen den manischen und den skeptischen Tendenzen ... ist in der Gleichung auszudrücken: Aufschwung minus Abschwung gleich Null - man darf hiebei an Heraklits Diktum denken, der Weg hinauf und der Weg hinab seien derselbe. (**|**). Naturgemäß kann man für Aufschwung auch Enthusiasmus einsetzen oder Übertriebenheit und Antigravitation, für Abschwung wären Skepsis, Parodie und Schwerkraft sinnvolle Ersatzausdrücke“, so der Literaturkritiker (**) im Gespräch über das Oxymoron, denn für ihn geht es in Sloterdijks Büchern „darum, den poetischen Elan in Kooperation mit der Skepsis zu bringen. (**) .... Den Schlüssel zu seiner Arbeitsweise hat der Autor ... in der Einleitung zu dem Band Globen versteckt (**) .... Das Sphärenwerk ist, von seinem Mittelteil her beurteilt, nichts anderes als ein Essay über den Superlativ, es beschreibt seine intimen Anfänge, seinen monologischen Triumph, seine pluralistische Transformation ....“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 872, 862, 867). Sloterdijk hat, so der Makrohistoriker (**) im Gespräch über das Oxymoron, die Menschheitsgeschichte auf einen triadischen Nenner gebracht: „Der neolithische Einschnitt trennt das altsteinliche Jäger-und-Sammler-Weltalter von den folgenden agrokulturellen Zivilisationen mitsamt ihren Königsherrschaften und befehlenden Administrationen; der industrielle Einschnitt wiederum trennt seit wenig mehr als zweihundert Jahren das Weltalter der trägen lokalen Herrschaften von den beschleunigten Lebensformen der Modernität. Wenn diese Drei-Reiche-Lehre, wenn ich so sagen darf, an eine gewisse idealistische Prozeßtheorie (**) erinnert - tant pis für Hegel (**) und die Seinen. .... Wir Makrohistoriker verstehen uns als skeptische Nachkommen der Universalhistoriker (**) .... Die Trilogie ... ist ... ein Geschichtsbuch, eine große Erzählung von den Weisen des In-der-Welt-Seins (**) in den drei Stadien oder Verfassungen der Zivilisation - dem Jäger-und-Sammler-Zeitalter, dem Agroimperien-Zeitalter und dem technischen Zeitalter. .... Die Moderne ist, um mit dem Autor zu sprechen, die Ära der zunehmenden Kofragilität .... Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, will ich für meinen Teil feststellen, ... daß hier der Versuch unternommen wurde, die Geschichte der Menschen als Raumgeschichte zu erzählen, genauer, als eine Geschichte der Raumerzeugung und der Raumorganisation.“ (Ebd., S. 860, 861, 867f., 869, 884). Verschiedene endliche Größen seien im Verhältnis zum Unendlichen gleich, argumentiert der Theologe (**) im Gespräch über das Oxymoron, und „diese Mathematik des lieben Gottes hatte schon einen gewissen Erbauungswert. Indem sie alle dazu anhielt, sich als Fast-Nichtse angesichts des Ungeheuren zu verstehen, trug sie das Ihre dazu bei, das Auseinanderfallen der Christenmenschen zumindest auf symbolischer Ebene zu verhindern. Zur Zeit fehlt uns eine solche Rechenart.“ (Ebd., S. 884).

Unterziehen wir Sloterdijks Trilogie der idealistischen Dialektik Hegels (**) - die Blasen (Mikrosphörologie - Sphären I Sphären) als Thesis, die Globen (Makrosphörologie - Sphären II Sphären) als Antithesis, die Schäume (Pluralsphärologie - Spären III Sphären) als Synthesis - und verrechnen Idealismus mit Skeptizismus (abendländischer Skeptizismus ist Lebensphilosohie **), dann erhalten wir entweder (1.) einen positiven Restwert (einen idealistischen Optimismus) oder (2.) einen neutralen Restwert (Null als Ausgleich bzw. als Oxymoron) oder (3.) einen negativen Restwert (einen skeptizistischen Pessimismus) - wobei Optimismus und Pessimimus nicht als affektive Gestimmtheiten verstanden werden dürfen! (Vgl. ebd., S. 873f.). Das Oxymoron (das Scharf-Stumpfe) wäre hier als süßbitter oder bittersüß, als leichtschwer oder schwerleicht, als geglücktgescheitert oder gescheitertgeglückt, als Glückselend oder Elendsglück, als gelehrte Unwissenheit (docta ignorantia; N. von Kues **) oder unwissende Gelehrtheit u.s.w. zu definieren. (Vgl. ebd., S. 877f. und 883). Doch, so weiß der Theologe (**) im Gespräch über das Oxymoron: „Drei Viertel der Menschheit (**) bleiben bis auf weiteres von den Chancen des Wohlstandsklimas ausgeschlossen, soviel sich heute erkennen läßt. Angesichts der Kürze des Lebens bedeutet »bis auf weiteres« für immer. Die moralischen Implikationen dieser Feststellung sind nicht leicht absehbar. Auch sie stellen eine Art von Oxymoron dar, jedoch eines, in dem das Bittere überwiegt. (Siehe 3.). Wäre die Menschheit ein höherstufiges Subjekt, wie die Idealisten (**) sich ausdrücken, dürfte man von ihr behaupten, sie sei als ganze eine gescheitertgeglückte. (Siehe 2.). Aber das wäre zu erbaulich. Die oxymorische Form versagt hier, weil die Menschheit, solange eine Universalkultur des Ausgleichs nicht entwickelt wurde, keinen Akteur verkörpert, dem etwas teils gelingen, teils mißlingen könnte. Das Ungeheure ist die Spaltung selbst: hier gelingt etwas fast ganz, und dort mißlingt etwas fast ganz. Das Gelingen und das Scheitern verteilen sich über Situationen, die kaum miteinander kommunizieren. Sie bilden die härteste Differenz, die wir denken können, vielleicht sogar eine härtere als die von Tod und Leben. .... Eine Mitte gibt es nicht. Wer wollte da eine Synthese wagen, die keine billige Lüge wäre?  .... Auf unabsehbare Zeit bleiben die Chancen zum gelingenden Leben zwischen den Reichtumszonen und den Armutszonen so asymmetrisch verteilt, daß die Spannung ins Unerträgliche steigen muß.“ (Ebd., S. 882-883). Nur wenn die abendländische Kultur (seit ihrer Moderne: Zivilisation **) - sich auch abgrenzt, ihre Grenzen zukünftig stärker als gegenwärtig schließt, bleibt ihr auch weiterhin ihr Reichtum als Süße. (Siehe 1.). Gerade weil der umgekehrte Eindruck entstehen kann, ja soll, damit das Oxymoron (siehe 2.) in Erinnerung bleibt, wird durch das erwähnte Problem der globalen Drei-Viertel-Armut die Vermutung nahegelegt, daß das Ergebnis aus der Verrechnung von Idealismus (**) und Skeptizismus (**), das Ergebnis aus Sloterdijks Trilogie derjenige skeptizistische Pessimismus (siehe 3.) ist, der den idealistischen Optimismus (siehe 1.) in erhöhter Form in sich bewahrt, „aufhebt“ (**). Hegels Dialektik (**) bestätigt unsere Vermutung: der Lebensphilosoph Sloterdijk ist ein abendländischer Skeptizist (**), der den Idealismus (**) in erhöhter Form in sich bewahrt hat. (Vgl. Hegels „Aufheben“ **). Der umgekehrte Eindruck kann, ja soll entstehen, und zwar dann, wenn Sloterdijk diese Behauptung negiert - das heißt: die Thesis durch die Antithesis „aufhebt“ (**), um unangreifbar bleiben zu können, denn Sloterdijks Spaß an Sprachspielen und Parodien kennt keine Grenzen, und bei bewußter Überlegenheit nennt Sloterdijk auch gern den Heger der Sympathien für alle Übertreibungen: die Skepsis (**).

Die Philosophie kann und will ja auch, wie Sloterdijk 2005 behauptete, „kunstmäßig betrieben werden als eine Quasi-Wissenschaft von den Totalisierungen und ihrer Metaphern, als erzählende Theorie der Genesis des Allgemeinen und schließlich als Meditation des Seins-in-Situationen - alias In-der-Welt-Seins (**); ich nenne das »Theorie der Immersion« oder allgemeine Theorie des Zusammenseins und begründe von dort her die Verwandtschaft der jüngeren Philosophie mit der Kunst der Installation.“ Sloterdijks „Sphären-Projekt“ ist ein umfangreicher (spenglerianischer) „Versuch, das Erzählerische und das Philosophische auf eine teils neo-skeptische, teils neo-morphologische Weise miteinander zu konfigurieren“, und manchmal darf bei ihm auch die „diskrete Komik“ das Hauptmerkmal sein. (Vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 14 und 16). Sloterdijk will Morphologie und Skeptizismus (das bedeutet: Lebensphilosophie inklusive Existenzphilosophie) konfigurieren, wobei Heideggers „Existenzialien“ („In-Sein“, „In-der-Welt-Sein“ u.a.) für ihn eine besondere Rolle spielen.
Peter Sloterdijk, „Nicht gerettet“
Der Versuch dieser Zusammenfügung macht - für mich auf jeden Fall - Sloterdijk so sympathisch. Skeptizismus oder Skepsis muß man von Kritizismus oder Kritik eindeutig unterscheiden (können): „Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. .... Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen.“ (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263 und 273).

Ein anderer Skeptiker bzw. Skeptizist soll deshalb zitiert werden:

„Die systematische Philosophie liegt uns heute unendlich fern; die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch eine dritte, dem antiken Skeptizismus entsprechende Möglichkeit innerhalb der abendländischen Geisteswelt, die, welche durch die bisher unbekannte Methode der vergleichenden historischen Morphologie bezeichnet wird. Eine Möglichkeit, das heißt eine Notwendigkeit. Der antike Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt. Der des Abendlandes muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen, wenn er ein Symbol unseres dem Ende sich zuneigenden Seelentums sein soll, durch und durch historisch sein. Er hebt auf, indem er alles als relativ, als geschichtliche Erscheinung versteht. Er verfährt physiognomisch. Die skeptische Philosophie tritt im Hellenismus als Negation der Philosophie auf - man erklärt sie für zwecklos. Wir nehmen demgegenüber die Geschichte der Philosophie als letztes ernsthaftes Thema der Philosophie an. Das ist Skepsis. Man verzichtet auf absolute Standpunkte, der Grieche, indem er über die Vergangenheit seines Denkens lächelt, wir, indem wir sie als Organismus begreifen. In diesem Buche liegt der Versuch vor, diese »unphilosophische Philosophie« der Zukunft - es würde die letzte Westeuropas sein - zu skizzieren. Der Skeptizismus ist Ausdruck einer reinen Zivilisation; er zersetzt das Weltbild der voraufgegangenen Kultur. Hier erfolgt die Auflösung aller älteren Probleme ins Genetische. Die Überzeugung, daß alles, was ist, auch geworden ist, daß allem Naturhaften und Erkennbaren ein Historisches zugrunde liegt, ... auch Ausdruck eines Lebendigen sein muß. Auch Erkenntnisse und Wertungen sind Akte lebender Menschen. Dem vergangenen Denken war die äußere Wirklichkeit Erkenntnisprodukt und Anlaß ethischer Schätzungen; dem künftigen ist sie vor allem Ausdruck und Symbol. Die Morphologie der Weltgeschichte wird notwendig zu einer universellen Symbolik. Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine und ewige Wahrheiten zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein bestimmtes Menschentum. Meine Philosophie selbst würde demnach Ausdruck und Spiegelung nur der abendländischen Seele, im Unterschiede etwa von der antiken und indischen, und zwar nur in deren heutigem zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind.“ Also: „Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus. Das Geheimnis der Welt erscheint nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als Gegenstand der Wertung. Der Skeptiker würde beides lediglich als historischen Ausdruck einer Kultur betrachten. (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 1918, S. 63-64 und 481 **)

Sloterdijk zufolge war es „bereits ein genialischer Gewaltstreich, Kulturen insgesamt als »Lebewesen höchsten Ranges« zu isolieren und diese zu fensterlosen Einheiten zu erklären, die ganz nach immanennten Gesetzen aufgehen und verfallen, und erst recht konnte es nicht ohne Forcierung abgehen, wenn Spengler seine Kulturen als jeweils tausendjährige Reiche einer regionalen Seelenstimmung deuten wollte - gewissermaßen als Seifenblasen höchster Ordnung, die durch Innenspannungen okkulter Natur in Form gehalten würden.“ (Peter Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 79).
Sloterdijk im Schaum
Sloterdijk im Schaum
Die Seifenblasen sind nun aber eher Sloterdijks Sache. Sloterdijk verkennt, wenn er der „Anwendung morphologischer Begriffe in den Kulturwissenschaften ... eher entmutigende Wirkungen“ (ebd.) unterstellt, daß die heutigen von ihm als „Kulturwissenschaften“ bezeichneten Geldempfänger-„Wissenschaften“ mehr noch als alle anderen „Wissenschaften“ sind, weil sie sich vom Geld abhängig gemacht haben, also korrupt geworden sind. Sie dienen nicht mehr der Wissenschaft und damit der Erkenntnis. Der von Sloterdijk Spengler zugestandenen „Ehrenplatz in der Geschichte der Kulturphilosophien“ ist von daher mehr wert als irgendeine „Anwendung morphologischer Begriffe in den Kulturwissenschaften“ (ebd.), so daß ich Sloterdijks Aussage zwar ähnlich formuliere, aber dabei die Rollenwerte vertausche: Spenglers Rolle für die Erkenntnis ist gerade aufgrund seiner morphologisch ausgerichteten Kulturphilosophie wertvoller als die Sloterdijks, die nämlich den korrupten Vorgaben folgt, wenn sie suggeriert, mehr kultur„wissenschaftlich“ als kulturphilosophisch ausgerichtet zu sein, denn Sloterdijk begründet seine Rolle ja auch noch: „Unser eigener Versuch kann daher einem solchen Modell nicht allzuviel verdanken - es sei denn eine eindrucksvolle Belehrung über das, was in Zukunft zu meiden ist“ (ebd.). Sind aber seine Übertreibungen, seine Psychologismen und Soziologismen - abgesehen davon, daß sie mit Wissenschaft nichts zu tun haben - für die Erkenntnis, welche auch immer, besser geeignet? Ich sage: Nein.

Sphären (3 Bände, 1998-2004) ist ein opus magnum, das sich sowohl vom Umfang als auch von der Bedeutung her hinter dem Untergang des Abendlandes oder dem Geist als Widersacher der Seele nicht verstecken muß. Seine These lautet, Leben bedeutet Sphären zu bilden. Von der Blase, in der sich der Mensch im Mutterleib befinde, über die Globen als begreifbaren Vorstellungskosmos bis hin zu den Schäumen, in denen wir existieren, ohne es wahrhaben zu wollen. Neben diesem anthropologischen Ansatz verfolgt Sloterdijk die Absicht, die große Erzählung der Menschheit zu schreiben, ohne dabei im Seienden stehenzubleiben; getreu Heideggers Satz: »Der vulgäre Verstand sieht vor lauter Seiendem die Welt nicht«. Die unfaßbare Komplexität der Wirklichkeit ordnet Sloterdijk, im Anschluß an Spenglers Morphologie, in Sphären, um sie so theoretisch beschreiben zu können. Darauf aufbauend, entwickelt er mit Im Weltinnenraum des Kapitals Grundlagen für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Wiederum in einem Drei-Phasen-Modell (**|**) schildert er den Vorgang von der antiken Kosmologie über die »terrestrische Globalisierung« bis hin zur seitdem einsetzenden und bis heute anhaltenden Auflösung (Sloterdijk spricht von „Kompression") des globalen Raums in der Kommunikation.“ (Erik Lehnert, Autorenporträt Peter Sloterdijk, in: Sezession, Juni 2008 Erik Lehnert, „Autorenporträt Peter Sloterdijk“, in :  Sezession, Juni 2008).

Im Gegensatz zu der eben angesprochenen Textstelle (**), die sich in der Einleitung auf Seite 79 des 1. Bandes befindet (**), bewertet Sloterdijk an sehr vielen anderen Textstellen Spengler positiv (**|**|**|**|**|**|**|**|**|**). Der Grund ist der, daß Sloterdijk sich hin und wieder bedeckt hält, weil hier das gilt, auf das ich weiter unten in einer anderen Rezension noch näher eingehen werde: Sloterdijk möchte Anerkennung und muß dem entsprechen, was nicht tabuisiert ist, zumindest aber dem entsprechen, was als „schick“ gilt, und Werte wie Wahrheit, Tatsächliches, Formales, Konservatives, denen auch Spengler zugeneigt war, sind mittlerweile von den Nihilisten „zum Abschuß freigegeben“, jedenfalls nichts, was der Mode entspricht, und die Mode dominiert vieles. (**). In Wirklichkeit kann man auf jene Werte gar nicht verzichten. Wäre es anders, wären sie von den Nihilisten nicht „zum Abschuß freigegeben“. Diejenigen, die darauf verzichten, gehen eines der höchsten Risiken ein. Das ist schlimm und dumm genug, soll hier aber nicht weiter unser Thema sein. Sloterdijk ist ein Sprachvirtuose - und das weiß er natürlich. Er versteckt seine Unsicherheit und Abwehrhaltung gegenüber Vereinnahmungen hinter Fremdwörtern (**) und Metaphern; er bleibt eitel, inkonsequent (**|**|**|**|**), übertreibend, skeptisch (**), widersprüchlich (**|**|**), der Romantik, Ironie (**) und Selbstironie zuneigend; er gibt gelegentlich Unwahrheiten, an die er selbst nicht glaubt, von sich, um sie später ins Gegenteil zu verkehren, weil er in Wahrheit doch an die Wahrheit glaubt. Auch darauf werde ich später näher eingehen (**|**). In Wahrheit glaubt Sloterdijk an die „Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur“ (**): an den „Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich dekadent sind“ (**). Sloterdijk braucht Spengler als „Ideentrainer“ (**), möchte ihn „progressiv fruchtbar machen“ (**), empfiehlt ihn „als einen Experten in Primärraumfragen“ (**). Diese und viele andere positive Aussagen Sloterdijks über Spengler kehren die von mir oben zitierte (**) negative Aussage Sloterdijks über Spengler um 180 Grad um. Sloterdijks Widersprüche und Sprachzaubereien sind typisch für seinen Schlingerkurs. Dieser Schlingerkurs hat System, wie schon gesagt. Wenn also Sloterdijk sagt, sein „Versuch“ einer Sphärologie könne dem Spenglerschen „Modell nicht allzuviel verdanken“ (**) kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß er aus eben genannten Gründen flunkert.

Hegel Hegel Nietzsche Spengler Heidegger Luhmann Sloterdijk
Sonst sind Hegel und besonders Nietzsche und Heidegger bei Sloterdijk im Vordergrund, hier aber: Spengler, Heidegger, Luhmann. Sloterdijk will die Nachfolge Spenglers und Heideggers, denn Sloterdijk will Spenglers Kulturmorphologie (aber möglichst ohne Untergang, denn der ist nicht „schick“) wegen dessen Raumphilosophie und Heideggers Daseinsanalyse (aber möglichst ohne Sein zum Tode, denn das ist nicht „schick“) wegen dessen Seins- und Daseinsphilosophie (Existenzphilosophie), und beide können zu einer Systemtheorie Luhmannscher Art zusammengefaßt werden, weil Sloterdijk die Immunsysteme auch im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie auffaßt (**), sie auf Paare und größere Kollektive, später rein schaumtheoretisch auch auf Personen als Individuen, die sie aber wegen ihrer Fragilität nicht wirklich sein können, so anwendet, daß sie in einem jeweiligen Raum sind (existieren), der ihr jeweiliges Immunsystem bildet - angefangen beim Uterus. Die Grundlagen bieten der Raum (bei Spengler: die Kulturen, die ja ebenfalls als räumliche Immunsysteme zu verstehen sind) und das Sein, und zwar genauer das Dasein (bei Heidegger: das menschliche Dasein, wobei das Morphem [kleinstes bedeutungstragendes Element der Sprache] bzw. das Adverb [zum Verb gehöriges Umstandswort] „Da“ im Substantiv „Dasein“ schon das Räumliche andeutet, das zum Verb „sein“ [siehe: „da sein“] bzw. ontologisch zum Begriff „Sein“ [siehe: „Da-Sein“] gehört). Spengler, Heidegger, Luhmann sind diejenigen, dessen unmittelbare Nachfolge Sloterdijk antreten will. Er will Spenglers angeblichen „Pessimismus“ (obwohl der nur Realismus und Objektivismus war) und Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus (obwohl die nur von sehr kurzer Dauer war) lieber beiseite lassen, weil beide zwar einer früheren, aber nicht mehr der heutigen Mode (**|**) entsprechen. Ansonsten jedoch sind beide - Spengler und Heidegger - wie auch Luhmann seine Lehrer und Meister, und zwar trotz der Tatsache, daß diese ihrerseits von Lehrern und Meistern beeinflußt waren, deren Namen hier aufzuführen ich mir jetzt erspare: ich hätte nämlich bis zu Leibniz zurückzugehen - und tatsächlich: auch Leibniz spielt in Sloterdijks Philosophie eine nicht zu unterschätzende Rolle, besonders in Sloterdijks sphärologisch-schaumtheoretischer Neo-Monadologie (**|**|**).

Und was ist mit der Frage: „Blasen Globen Schäume?“? Das ist eine gute Frage. Eher ist es aber so: „Blasen vergloben zu Schäumen“. Das nennt man dann „Globalisierung“ oder: „Globen blasen Schäume“. Zwischen der Zeit, in der ausschließlich Blasen die Immunverhältnisse regeln, und der Zeit, in der die Schäume die Immunverhältnisse regeln, muß es eine andere Zeit geben, die jene beiden miteinander verbindet, eine Übergangszeit also. Das ist die Zeit der Globen, der Globalisierung mit dem Endprodukt Globalismus, der uns die Schäume zeigt, weil die Globalisierung die meisten Blasen durch Urbanisierung erst nur zu relativ kleinen und mittleren Schäumen (Städten), dann aber zu großen Schäumen (Großstädten) und sogar zu Weltschäumen (Weltstädten) gemacht und so den Globus zum Schäumen gebracht hat.
„Die Zeit gebiert den Raum, der Raum aber tötet die Zeit.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 224 **).
„Das Dasein hat selbst ein eigenes »Im-Raum-sein«, das aber seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des In-der-Welt-seins überhaupt.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 56 **)
„Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen Analyse hat, darüber besteht heute wohl fachlicher Konsens, die Differenz von System und Umwelt zu dienen.“ (Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 35 **).
Kein anderer als Spengler war es, der das zuerst verdeutlicht hat, besonders in dem Kapitel „Städte und Völker“ (**) seines Hauptwerkes „Der Untergang des Abendlandes“ (1918-1922), so daß Sloterdijk von ihm nur hätte abschreiben müssen (oder hat er das auch getan und danach die Wörter im Text nur etwas umgestellt?). Einer der vielen Abschnitte innerhalb des zu dem eben genannten Kapitel gehörenden Unterkapitels „Die Seele der Stadt“ (**) heißt: „Weltgeschichte ist Stadtgeschichte“ (**). Der letzte dieser vielen Abschnitte heißt: „Unfruchtbarkeit und Zerfall“ (**). In Spenglers Hauptwerk und speziell in jenem genannten Kapitel ist Sloterdijks Sphären-Trilogie fast komplett vorweggenommen. Ist Sloterdijk somit ein Scharlatan? Nein, denn er hat ja seinen eigenen Text vorgelegt, aber der Inhalt dieses Textex bzw. die ihm zugrunde liegenden Gedanken wurden schon 1918 und 1922 von Spengler veröffentlicht, nämlich in seinem zwei Bände umfassenden Hauptwerk. Auch das geamte Skepsis-Thema ist schon in Spenglers Hauptwerk ausführlich besprochen. Sloterdijks Sphären-Trilogie ist und bleibt eine aus dem Geist der Skepsis heraus entstandenes Werk. Diese Sphären-Trilogie könnte auch „Sein und Raum“ heißen - die Ähnlichkeit mit Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) ist nicht zufällig, verweist aber auch wiederum auf Spengler, weil er sich noch mehr als Heidegger auf den Raum bezogen hat. Und das ist gut so - selbst dann, wenn Sloterdijk manchmal nicht so gerne direkt in einer Einleitung zugeben will, wem er was zu welchen Anteilen zu verdanken hat, dann dies im Verlauf des gesamten weiteren Textes aber doch immer wieder ekennen läßt und dadurch indirekt zugibt. Sloterdijk hat eine von Spengler und Heidegger raum-und-zeit-philosophisch und von Luhmann systemtheoretisch vorbereitete Sphärologie vorgelegt. Sloterdijks Sphärologie ist deshalb trotzdem kein komplettes Plagiat. Doch Sloterdijk sollte zugeben, daß er vieles anderen verdankt.

Sloterdijk will das menschliche Sein einerseits so wie Spengler entweder nur einem Raum, nämlich der Natur (Umwelt) oder mehreren verschiedenen Räumen, nämlich den Kulturen (**|**), andererseits so wie Heidegger nur einem Raum, nämlich der Welt zuordnen, d.h. als ein „In-der-Welt-Sein“ (**) verstehen, und darum auch nur eine Gesellschaft der Welt zuordnen, was Luhmann im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie ebenfalls getan hat. Luhmann zufolge gibt es seit Beginn der Moderne - womit nur die abendländische Moderne gemeint sein kann, was aber bei Luhmann wie nach ihm bei Sloterdijk unerwähnt bleibt (!!!) - nur noch eine Gesellschaft: die „Weltgesellschaft“ (**|**|**|**|**|**|**). Gemäß Luhmanns Systemtheorie gab es vor der Moderne Gesellschaften mit Differenzierungsformen durch (a) Segmentation (vgl. Abstammung, Genealogie, Filiation, Überlieferung u.ä.), (b) Zentrum/Peripherie, (c) Stratifikation, gibt es seit der Moderne aber nur noch eine Gesellschaft - die „Weltgesellschaft“ - mit der Differenzierungsform durch (d) Funktion. (**).
Meine Einteilung der Menschheitsgeschichte in zwei bzw. drei Kulturformen.
• JSAK und HK • • JSK und AHK • • JSK und AK und HK •
3 Kulturformen 2 Kulturformen 2 Kulturformen
(1) Primitivkulturform.
(2) Historienkulturform.
(1) Primitivkulturform.
(2) Agri-Historienkulturform
.
(1) Primitivkulturform.
(2) Agrikulturform.
(3) Historienkulturform
.
Man kann, wie ich es tue, für die Menschengeschichte eine Zwei- oder Dreiteilung vornehmen: Steinzeit, Agrarzeit (nur bei einer Dreiteilung, bei einer Zweiteilung wird sie entweder der Steinzeit oder der Schriftzeit zugeordnet), Schriftzeit. Ich klammere die Zeit der abendländischen Moderne (noch) aus, weil ich es noch nicht als historisch erwiesen erachte, daß sie aus jener Zwei- oder Dreiteilung eine Drei- oder Vierteilung macht. Das sehen Luhmann und Sloterdijk anders, weil sie unsere abendländische Moderne als etwas deuten, was sie nicht oder jedenfalls noch nicht ist: eine „Menschheitsmoderne“. Diese Deutung Luhmanns und Sloterdijks (sofern er nicht einfach Luhmann folgt) und die damit einhergende Angleichung von „Menschheitsmoderne“ und „Weltgesellschaft“ sind zu verstehen als eine Verabendländisierung der Welt, eine Verabendländisierung aller Menschen (**|**). Die „Menschheitsmoderne“ und die „Weltgesellschaft“ sind Projektionen abendländischer Menschen auf alle Menschen und die Welt, haben darum mit der Realität nichts zu tun, wenn man von bestimmten Institutionen, die mittlerweile ihre Regeln über den Erdball verbreiten, absieht, obwohl sie ebenfalls abendländische Institutionen sind, und zwar auch dann, wenn sie von nicht-abendländischen Menschen akzeptiert werden. Das Thema ist eben nur relativ bewertbar. Solange die Geschichtswissenschaft die „Menschheitsmoderne“ und die „Weltgesellschaft“ nicht nachweisen kann, werden diese beiden abendländischen, mehr Wunsch als Wirklichkeit repräsentierenden „Konstrukte“ noch nicht zu den geschichtlichen Tatsachen gezählt. Wenn in Sloterdijks Sphärologie der Schaum die Metapher für die sehr komplexe Gesellschaft gemäß Luhmanns Systemtheorie ist und es Luhmanns Systemtheorie zufolge gilt, Komplexität zu reduzieren oder in der entropischen (chaotischen) Komplexität unterzugehen, dann kann Sloterdijks Schlußfolgerung aus seiner Sphären-Trilogie eigentlich nur sein, daß es gelten muß, den Schaum zu reduzieren oder in dem entropischen (chaotischen) Schaum unterzugehen. Sphären

 

NACH OBEN Die schrecklichen Kinder der Neuzeit sollen endlich lernen! - Eine Rezension des 2014 erschienenen Buches: „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne“.

Peter Sloterdijk, „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, 2014 Peter Sloterdijk, „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit  -  Uuml;ber das anti-genealogische Experiment der Moderne“, 2014
•  Vorbemerkungen
•  Bedeutung des Konservativen
•  Vier Fehler - leider
Modernes Fragen-Dreieck
Zivilisationsdynamischer Hauptsatz
Abschlußbemerkungen

Vorbemerkungen.

Zunächst möchte ich über das hier inhaltlich zu besprechende Buch sagen, daß ich es trotz der von Sloterdijk in diesem Buch begangenen, weiter unten erörterten vier Fehler (**) in meiner Liste der „Top 100 der Bücher ab 1800“ an die dritte Stelle gesetzt habe (**) und mich für dieses Buch bedanke.

Die in Sloterdijks Werken häufig zu findende Einteilung der Kultur in drei evolutive bzw. historische Stadien - Frühkultur, Hochkultur, Spätkultur (diese im Sinne Gehlens verstanden) - deckt sich nicht mit der Einteilung, die ich mit meiner Kultur- und Geschichtsphilosophie bevorzuge (**|**). Das, was ich die bis zur Erfindung der Schrift dauernde, also sehr lange dauernde menschliche „Primitivkultur“ bzw. „Jäger-und-Sammler-Kultur“ nenne, nennt er „Frühkultur“; das, was ich die menschliche „Historienkultur“ (bestehend aus acht „Historienkulturen“) nenne, nennt er „Hochkultur“, die ihm zufolge von der Schrifterfindungszeit entweder (a) bis zur „Achsenzeit“ (Jaspers) oder (b) bis zum späten Mittelalter bzw. zum Beginn der Neuzeit bzw. sogar bis zur französischen Revolution reicht; die Zeit danach ist gemäß meiner Kulturtheorie immer noch eine Zeit der Historienkultur (trotzdem ich diese selbst in Ur/Vor-, Früh-, Hoch- und Spätform eingeteilt habe), aber für Sloterdijk ist sie die Zeit der „Spätkultur“ (im Sinne Gehlens verstanden - wie schon gesagt). **

Bedeutung des Konservativen.

Sloterdijks und auch meiner Kultur- und Geschichtsphilosophie zufolge gilt in der menschlichen „Primitivkultur“, die Sloterdijk jedoch „Frühkultur“ nennt, daß mit dem Tode bestraft wird, wer es wagt, die eigene Gemeinschaft und Herkunft zu hinterfragen, zu kritisieren. Sloterdijk nennt die Verfassung, in der sich diese Menschengruppen befinden, eine „Besessenheit“ (**). Das, was er die „Hochkultur“ nennt, „vermittelt“ sozusagen zwischen der „Frühkultur“ und der „Spätkultur“, da in der „Hochkultur“ die ersten „schrecklichen Kinder“ - also solche, die gegen Gemeinschaft und Herkunft aufbegehren - auftauchen und ihre Eigenart immer mehr zum Durchbruch, aber noch nicht zur Vorherrschaft kommt, denn deren Vorherrschaft gehört schon zur „Spätkultur“. Sind in der „Frühkultur“ Kopierfehler nicht erlaubt, werden sie in der „Hochkultur“ erstmals erlaubt, allerdings noch unter Vorbehalt, der dann in der „Spätkultur“ nicht mehr existent ist, weil die durch die schrecklichen Kinder ausgelöste Unruhe dann bereits „chronisch und mit unbeirrter Angriffslust, um nicht von Angriffspflicht zu sprechen“ (**), bereits ein Synonym für „Moderne“ und „Zivilisation“ ist. In der „Spätkultur“ herrscht die Feindschaft gegenüber allem Gemeinschaftlichen, aller Herkunft, aller Überlieferung, aller Genealogie, aller Geschichte, aller Vergangenheit u.ä. vor. Die Entwicklung von der „Früh- bis zur Spätkultur“ läßt sich gemäß Sloterdijk beschreiben als ein Weg von der absoluten Macht des Konservativen bis hin zur absoluten Ohnmacht des Konservativen, die mit dem Ende der „Spätkultur“ erreicht sein wird, wann auch immer das der Fall sein wird. Meiner Forschung zufolge kann im Leben eine absolute Ohnmacht des Konservativen nie erreicht werden.

Ist es möglich, sich ohne ein konservatives Element zu entwickeln? Nein. Deshalb meine ich, daß Sloterdijks eigentliche Botschaft die folgende ist:
Kehrt um, weil euer Weg eine bodenlose Sackgasse ist.
Sloterdijk weiß, daß die schrecklichen Kinder der Neuzeit nicht mehr viel Zeit haben für die Korrektur ihrer falschen Entwicklung. Sie ist eine bodenlose Sackgasse.
Darum: „wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!!“ (Wilhelm Busch **).
Für Sloterdijk ist „die Aufhebung der Korruption“ der „Ernstfall des Lernens. Wer ein Lernender ist, häuft nicht bloß Informationen an. Er versteht, daß wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung hat.  –  Gäbe es in der Kulturtheorie ein Pendant zu dem, was im katholischen Altaraufbau das Allerheiligste verkörpert, es könnte nichts anderes sein als dieser am weitesten heruntergekommene Begriff der Gegenwart: »Lernen«. Im kommenden Jahrhundert sollte man ihn wie eine numinose Präsenz in einem Offenbarungszelt hüten. An seltenen Tagen dürfte man ihn für einige Momente enthüllen. Ist nicht der Verdacht begründet, das Lernen sei der unbekannte Gott, von dem es seinerzeit in einer Anmerkung von seherischer Dunkelheit hieß, nur noch ein solcher könne uns retten (**)?“ (**).
„Also lautet der Beschluß: Daß der Mensch was lernen muß.“ (Wilhelm Busch **).
„Wer glaubt im Ernst mit dem Philosophen Neurath daran, man könne Schiffe auf hoher See umbauen? Ja, wer behauptet noch, auf unserem Schiff gebe es eine Kommandobrücke?  –  Kurzum, in unseren Tagen kann niemand wissen, was den Sachgehalt von sirenischen Wörtern wie »Nachhaltigkeit« und »Zukunftsfähigkeit« ausmacht. Wer imstande wäre, zwischen Gang, Drift und Sturz zu unterscheiden, müßte prophetisch begabt sein. Dies ist der Zustand, auf den Heidegger anspielte, als er seine Bemerkung aussprach, nur noch ein Gott könne uns retten (**).“ (**).

Wenn man Sloterdijks drei Stadien „Früh-, Hoch- und Spätkultur“ auf die jeweiligen Vorränge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezieht und diese einer starken Vergeistigung unterzieht, dann ergeben sich für den Fremdwörtersüchtigen (**|**): Passéismus, Präsentismus und Futurismus. Daß aber der Passéismus „heute als der Verlierer der Evolution feststeht“ (**), bezweifle ich. Ich bezweifle auch, daß „der Streit zwischen dem Futurismus der Moderne und dem Präsentismus der Postmoderne vorerst nicht entschieden“ (**) sein soll, weil es eine Postmoderne noch gar nicht wirklich gibt (**).

Bringen wir einerseits den Passéismus und den Konservativismus und andererseits den Futurismus und den Progressivismus miteinander in Verbindung, sollte man sich sofort fragen, wie es ohne Bezug zur Vergangenheit - und das bedeutet eben u.a.: zur Herkunft, zur Überlieferung, zur Genealogie, zur Filiation, zur Geschichte - möglich sein soll, daß die schrecklichen Kinder der Neuzeit „sich in der verlernten Kunst des Dauerns üben“ (**). Ein solches Lernen, das sich aus der Übung in der Kunst des Dauerns ergibt, kann „auf die Dauer“ (**|**) nur dann gutgehen, wenn dabei die Vergangenheit mitberücksichtigt wird. Es ist ja gerade die Vergangenheit, von der wir mit größter Sicherheit wissen, daß sie gedauert hat, von Dauer ist und bleiben wird. Wer die Vergangenheit vergißt, hat keine Zukunft. Wider das Vergessen, gegen das Vergessen muß gekämpft werden.

Pter Sloterdijk. 1988 Pter Sloterdijk. 1988
Peter Sloterdijk, 1988
1988 veröffentlichte Sloterdijk die folgenden Zeilen in seinem Buch „Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen“: „Wenn die paradoxe Redensart von einer »konservativen Revolution« einen Sinn haben soll, den wir bejahen können, weil er die dubiosen Konstruktionen, die im Deutschland der zwanziger Jahre unter diesem Titel zirkulierten, hinter sich gelassen hat, dann eben diesen: man muß radikal an der Vergegenwärtigung von Vergangenem festhalten, um eine Revolution im Vergangenen, das wir auf unbewußte Weise noch sind, als anderen Anfang möglich zu machen. Die Richtung dieser Revolution ist offenkundig: sie führt, wenn sie gelingt, vom Weltkrieg der namentlich gepanzerten Sekundärsubjektivität in die anonyme Innigkeit weltlöslicher Bewußtseine.“ (**).  –  Können Sie das bejahen?

Wenn der Passéismus „heute als der Verlierer der Evolution feststeht“ (**), was man ja bezweifeln kann (und wie gesagt: ich tue das auch **), dann bedeutet das, daß der Futurismus aus oben genannten Gründen ebenfalls heute als der Verlierer der Evolution feststeht, was Sloterdijk jedoch nicht sagt. Ohne Herkunft keine Zukunft. Nur Nihilisten können „überzeugt“ davon sein, daß der Verlierer der Geschichte die Vergangenheit sei. Diese „Überzeugung ist typisch für linke Nihilisten. Logischerweise ist sie falsch („links“ bedeutet ja auch „falsch“). Die Geschichte bezieht sich auf die Vergangenheit und zieht aus ihr Erkenntnisse für die Gegenwart und die Zukunft. Das „Ende der Geschichte“ (**) ist zwar nicht nur ein Lieblingsthema der Linken allein, doch sind die Linken davon am meisten beeindruckt. Sloterdijk hat sich als einen „Linkskonservativen“ bezeichnet, z.B. am 09.03.2016 in der Zeitschrift „Die Zeit“ (**|**), und er liebäugelt mit dem „Ende der Geschichte“, wenn auch nicht so konsequent wie manch anderer (**|**). Die Konsequenzen aus dem „Ende der Geschichte“ wie auch aus dem „Verlust der Vergangenheit“ (siehe Passéismus als „Verlierer der Evolution“ [**]) zieht er meiner Meinung nach nur zögerlich, obwohl er sie den Lesern seiner Bücher (auch mahnend) näherzubringen versucht. Will Sloterdijk mit seinem Bekenntnis zum Linkskonservativismus sich unangreifbar machen? Ist es so, daß seine Warnungen und Mahnungen seine echten Überzeugungen nur verdecken sollen? Gemäß der Grammatik ist ein Linkskonservativer ein Konservativer linker Art, aber in erster Linie eben ein Konservativer, denn nicht das erste, sondern das zweite Element (hier: ein Nomen [Substantiv]) in jeder Wortkomposition (hier: „Linkskonservativer“) bestimmt die Bedeutung erster Linie. Das erste Element beschreibt die Komposition, also das neugebildete Nomen aus ursprünglich zwei Elementen (hier: Adjektiv und Nomen [„Links{Adjektiv}konservativer{Nomen}]“), indem es das zweite Element dieser Komposition zusätzlich bestimmt, denn das zweite Element ist ja schon durch sich selbst bestimmt.

Politgeometrische Positionen
** **

Also ist Sloterdijk gemäß eigenem Bekunden ein Konservativer, und zwar ein Konservativer mit linken Eigenschaften. Nur steht er nicht immer ganz zum Konservativismus. Es ist ja auch nicht „schick“, konservativ zu sein. Die Mode macht es ihm unmöglich, immer voll und ganz zum Konservativismus zu stehen (**). Die Politkorrektheit duldet keine „Verlierer der Geschichte“.
Philosophie ist für Peter Sloterdijk „eine Art Therapie, unentbehrliche Lebenshilfe. Kritische Meditation nennt er selbst die Richtung seines Denkens. Kritik übt er vor allerm an der Selbstüberforderung des Menschen, die erkennbar wird im permanenten Fortschritt. Sloterdijk deutet den Fortschritt als Flucht vor menschlichen Hinfälligkeit, als Sturz, Absturz in die Zukunft. Ein altes Motiv in der Philosophie.“ (Lutz Göhnermeier, in: Zur Weltkommen - Philosophieren mit Peter Sloterdijk [Film], 1990 Lutz Göhnermeier, in: „Zur Weltkommen - Philosophieren mit Peter Sloterdijk“ (Film), 1990).
denn ihr zufolge sollen alle sich als „Sieger der Geschichte“, ja sogar als „Sieger über die Geschichte“ betrachten, obwohl weder diese „Sieger“ noch jene „Verlierer“ existieren. Als Konservativer gehört Sloterdijk gemäß des politkorrekten Diktats zu den „Verlierern der Geschichte“. Vielleicht versucht Sloterdijk diesen Angriffen auszuweichen, indem er sich einen „Linkskonservativen“ nennt (**|**); aber vielleicht ist er doch eben ein Linkskonservativer. Ein Linkskonservativer ist ja derjenige Konservative, der auf der politisch linken Seite zu verorten ist. Der Konservative an sich ist unten, am Boden, zu verorten, weil er bodenständig ist, festen Kontakt zur Herkunft hat. Das Linke ist also kein Widerspruch zum Konservativen an sich, sondern nur zum Rechten, innerhalb des Konservativen also zum Rechtskonservativen. Die Oppositon des Rechtskonservativen ist das Linksprogressive; die Opposition des Linkskonservativen ist das Rechtsprogressive. Ein Rechtskonservativer ist nicht progressiv, nicht links, nicht mittig; ein Linkskonservativer ist nicht progressiv, nicht rechts, nicht mittig. Beide bilden nur innerhalb des Konservativen selbst eine Opposition. Die Progressiven sind die Abgehobenen, die Konservativen die Bodenständigen. Beide bilden also in der Vertikalen eine Opposition zueinander, während die Linken und die Rechten in der Horizontalen eine Opposition zueinander bilden.

Das Progressive ist so ungewiß wie die Zukunft, das Konservative so gewiß wie die Herkunft (Vergangenheit). Die Tatsache, daß in Wohlstandsgesellschaften die Progressiven eine Mehrheit gegenüber den Konservativen bilden, hat so gut wie ausnahmslos mit ihrem kulturellen Sosein zu tun, das ihren Wohlstand herbeigeführt hat, und ist dieser Wohlstand erst einmal erreicht und wächst weiter, dann wird dadurch das Progressive angesprochen und wächst ebenfalls weiter. Unsere abendländischen Wirtschafts-„Experten“ glauben, daß der Wohlstand bis in den Himmel wächst - was er natürlich nicht kann -, und so glauben auch viele Progressive, daß der Fortschritt bis in alle Ewigkeit wächst. Und sind sie nicht nach rechts, sondern nach links ausgerichtet, keine Arbeits-/Leistungsträger, sondern gierige Arbeits-/Leistungsverweigerer, dann neigen sie zum Egalitarismus - sprich: Kommunismus -, denn der verspricht allen alles und verteilt gestohlenes Geld und Eigentum an die, die an ihn glauben, und bekämpft die, die das nicht tun. Auch weil die Progressiven, insbesondere die arbeits-/leistungsverweigernden Linksprogressiven, oft mehr erwarten und darum auch mehr nachfragen, als ihnen die doch wahrnehmbare reale Welt und die realen Märkte anbieten können, sind sie sehr anfällig für Gier und Neid und also für den Egalitarismus, weil der ihnen die Umverteilung verspricht. Die Konservativen, insbesondere die Rechtskonservativen, sind bescheiden, weil sie bodenständig sind, darum sehr realistisch orientiert sind und viel weniger erwarten, viel weniger nachfragen als ihre Gegenspieler. Die z.B. von den Keynesianern (**) extrem überschätzte Bedeutung der Nachfrage und des Konsums sowie die damit verbundene Ignoranz gegenüber der Langfristigkeit sind für die Progressiven, die hier und jetzt konsumieren wollen, eine sehr angenehme Angelegenheit, für die Konservativen ein riesiges Übel.

Die Verdrängung des Konservativen, der Vergangenheit (Herkunft), die Sloterdijk zufolge zumindest als Passéismus „heute als der Verlierer der Evolution feststeht“ (**), hat also mit dem immer schneller gewachsenen und immer mehr versprochenen Wohlstand bei gleichzeitig wachsender Ignoranz gegenüber der Zukunft, den Verbindlichkeiten, vor allem den langfristigen, der Nachhaltigkeit, der Umweltzerstörung u.s.w. zu tun. Dieser Wohlstand, der sich immer mehr auch auf einen Konsumterrorismus stützt, betrifft die Abendländer und ihre Ableger, nicht aber alle anderen Menschen, denn diese bleiben von dem hohen Wohlstand ausgeschlossen. Diese Ausgeschlossenen bilden eine Mehrheit und werden jeden Tag mehr (vgl. die Demographie dazu **). Also kann es nicht stimmen, daß die Menschheit das Konservative und die Herkunft (Vergangenheit) durch das Progressive und die Zukunft verdrängt habe, daß der Passéismus heute als der Verlierer der Evolution feststehe. Denn das Gegenteil ist richtig: Die Menschheit ist konservativer, herkunftsorientierter und passéistischer geworden, so daß man feststellen muß, daß das Konservative, die Herkunft (Vergangenheit), also auch der Passéismus der Gewinner der Evolution ist, der er immer schon gewesen ist und auch bleiben wird. Ob das im Abendland von immer mehr Menschen anders beurteilt wird, ist ziemlich bedeutungslos; aber es sagt viel über die Abendländer aus: sie stehen als Verlierer da, weil sie am Untergehen sind. Wer die Herkunft leugnet und sich nicht konservieren lassen will, den bestraft das Leben. Jedes Lebewesen speist sich aus der Herkunft (Vergangenheit) im sowohl evolutionären als auch geschichtlichen Sinne. Wenn man die Vergangenheit (Herkunft) so sehr theoretisiert, daß sie „Passéismus“ genannt werden kann, ist sie zwar stark vergeistigt, aber deswegen im Kern für Lebewesen trotzdem nur auf die Herkunft (Vergangenheit) bezogen. Schon in der Genetik geht es um Kopien, und diese Kopien sind nichts anderes als eine Weitergabe von Informationen (vgl. Gen-Code), die ihrerseits eine Herkunft haben. Es geht also im Grunde schon in der Genetik um die Weitergabe von Herkunft - die Genetik ist sogar die evolutionäre Basis für alle Weitergaben, weil aus ihr die Urweitergabe kommt. Es handelt sich hier um Kopien, und diese Kopien sind zu speichern, sprich: zu konservieren. Alles andere, was um diesen Gen-Konservativismus herum geschieht - auch die Schädigungen durch Kopierfehler bzw. Mutationen - ist ohne ihn nicht möglich oder geschieht außerhalb seiner Sphäre ohne Evolution. Progressives kann es also nur geben, wenn es Konservatives gibt. Gibt es kein Konservatives, gibt es keine Evolution; gibt es keine Evolution, gibt es auch keine Geschichte (Historie). Nur die reine Kosmogenese kann ohne Evolution und also auch ohne Geschichte auskommen (**). Zwar können Kosmogenese und Evolution wissenschaftlich erforscht und erzählt werden und sind dann Teil der Geschichte, doch die Geschichte bleibt als Art einer Entwicklung eingebettet in Kosmogenese und Evolution. Aus Sicht der Wissenschaft ist also nicht die Philosophie, sondern die Geschichte die „Königin der Wissenschaft“, d.h. die oberste Wissenschaftsdisziplin. Aber aus Sicht der gesamten Entwicklung selbst erscheint sie später als Evolution und Kosmogenese und bleibt ihnen deswegen entwicklungsmäßig untergeordnet. Erwerbsmäßig ist es umgekehrt - Wissenschaft z.B. wird erworben. Wenn also nicht die Natur, sondern ein Wesen, das willentlich alles in Gang gesetzt hat, der „unbewegte Beweger“ (Aristoteles) ist oder alles schon von Anfang an da war, dann ist die Geschichte auch die „Königin aller Entwicklung“.

Sloterdijks Fehler ist ein Proton Pseudos, d.h. seine Voraussetzung, daß die Welt abendländisch sei, alle Menschen Abendländer seien, ist falsch (**|**).

Nur im Abendland und zum geringeren Teil auch in seinen Ablegern ist der Passéismus zum „Verlierer der Evolution“ (**) geworden, genauer gesagt: zum Verlierer der abendländischen Kulturgeschichte, die ihrerseits dabei ist, zum Verlierer der Geschichte zu werden, so wie andere Kulturgeschichten vor ihr. Der Grund dafür sind die zerstörten Werte.

Und Sloterdijk schrieb: „Im Kopier-Vorgang ist die Möglichkeit, daß Nachkommen »aus der Art schlagen«, seit jeher angelegt. Kulturen kennen wie Gene die Mutation als Normalrisiko. Die Gefahr, die eigenen Kinder könnten zu »schrecklichen Kindern« werden, ist so alt wie die höhere Zivilisation ....“ (**). Er weiß: „Die Bannung der Gefahr der Fehlkopie brachte den älteren »Konservatismus« hervor ....“ (**). Das meint der Linkskonservative; doch der Mittigkonservative neigt eher dazu, eine nichtkausale Korrelation zwischen dem Konservieren und der Bannung der Gefahr der Fehlkopie zu sehen, weil bereits das Kopieren und das Konservieren so wie das Kopiertwerden und das Konserviertwerden zum selben Prozeß gehören und gerade deswegen die Fehlkopie letztlich nicht bannen können, wie ja die entsprechenden Entwicklungen auch deutlich zeigen (**). Lesen wir, was der Linkskonservative über die ja tatsächlich geschehende, aber letztlich - z.B. am Ende eines bestimmten Zyklus - doch nicht mehr erfolgreiche Bannung der Gefahr der Fehlkopie richtig festgestellt hat: „Frühe »Kulturen« - aufgefaßt als Ensembles von Obsessionen, die mehraltrige menschliche Kollektive im Griff halten, gleich ob es sich um Sippen, Stämme oder Ethnien handelt - erleben die unverhandelbare Notwendigkeit ihres Daseins in der von ihnen selbst generierten und ihren Teilnehmern ungefragt aufgedrungenen Überzeugung, daß die Lebensweise, die den Mitgliedern des Kollektivs eingeprägt wurde, es unter allen Umständen verdient, im Dasein der Nachkommen wiederholt zu werden. Wer einer Kultur in diesem Sinn »angehört«, muß sich früher oder später dazu bereit erklären, eine durch Elternschaft zu bestätigende Besessenheit weiterzureichen. Was man von den Alten selber empfangen und erlitten hat, soll um jeden Preis in den Jungen fortleben. - Kein Mensch der alten Welt hat dieses Axiom bezweifelt. Für die Angehörigen der älteren Fortpflanzungsketten sind Wiederholbarkeit und Wahrheit ihres modus vivendi ein und dasselbe. Eigene Kinder haben, das heißt zunächst nicht mehr und nicht weniger als dafür sorgen, daß hinreichend ähnliche Kopien der Älteren in den Jungen entstehen. Ähnlich genug scheinen die Nachkommen geraten zu sein, wenn die unvermeidlichen mutativen Variationen, genetisch wie kulturell, durch die konstanten Muster in Schach gehalten werden. (Vor dem Zeitalter der Schrift wird dieser Effekt durch die Unduldsamkeit des »Habitus« bzw. der neuronal gefestigten Verhaltensmuster garantiert. Schrift erlaubt die Auslagerungen von Intoleranz ins äußere Medium bzw. in die »Institutionen«. Sie setzt die Flexibilisierung frei, die man eines Tages als Navigation in den »Spielräumen des Verstehens«, das heißt als Hermeneutik bzw. als Ausübung des Rechts auf Subjektivität, beschreibt.)“ (**). Ja, da ist er: der Raum der scheinbar immer größer werdenden Freiheit, den Kant die „intelligible Welt“ genannt hat.

1. Gene Variation als Mutation, Kopierfehler
2. Gehirne Wie -› 1.. Außerdem: Deutungsvielfalt
3. Schriftkulturen Wie -› 2.. Außerdem: Externer Ort
4. Maschinenkulturen Wie -› 3.. Außerdem: Maschinen ändern sich selbst

Wir halten als ersten Speicher für Informationen und die Kopien die Gene, als einen solchen zweiten die Gehirne und einen solchen dritten die Schriftkulturen fest (**). Diese drei Speicher bilden jeweils den Anfang eines neuen Stadiums: (1.) des Lebens bzw. der Evolution im weitesten Sinne (**); (2.) des Höheren Lebens bzw. der Evolution im engeren Sinne (**); (3.) der Schrift bzw. der Geschichte im weiteren Sinne (**). Alle drei sind evolutionäre Entwicklungen, aber nur die dritte ist außerdem eine historische Entwicklung. Die von Sloterdijk besprochenen erfolgreichen Veränderungen durch die schrecklichen Kinder fanden alle innerhalb der Schriftkulturen (Historienkulturen) statt. Wann dieser Prozeß beendet sein wird, ist noch nicht genau abzusehen, aber die von den Abendländern erfundenen Maschinen sind mittlerweile mit so viel künstlicher Intelligenz versehen, daß diese wahrscheinlich den vierten Speicher für Informationen und Kopien bedeuten. (**).

Vier Fehler - leider.

Daß Sloterdijk häufig die Welt mit allen Menschen verabendländisiert, ist ein Fehler, wie schon gesagt (**|**). Im Zusammenhang mit „allen Menschen“ und „Abendländern“ verwendet Sloterdijk bestimmte Wörter semantisch nicht immer richtig: „Antike“, „Mittelalter“, „Neuzeit“, „Kultur“, „Zivilisation“, „Moderne“ und andere. Ich wähle hier als Beispiel die Verwendung des Wortes „Moderne“: Sloterdijk verwendet das Wort „Moderne“ im Sinne einer „Moderne der Menschheit“, obwohl er die Moderne der Abendländer meint und auch nur meinen kann. Die Abendländer haben zwar versucht, ihre Moderne allen anderen, nämlich den nichtabendländischen Menschen näherzubringen, doch gelungen ist ihnen das nur selten, und ihre den Wohlstand anhebende Technik allein hat nicht ausgereicht, um ihre Moderne, deren Grundlage ihre Kultur mit allen ihren Werten und Normen ist, erfolgreich an die Nichtabendländer weiterzugeben. Es ist auch und besonders heute noch so, daß die Nichtabendländer zwar die von den Abendländern (besonders den Deutschen und Engländern) erfundene, weil den hohen Wohlstand bringende Technik haben wollen, aber alles andere der Abendländer strikt ablehnen. Die Nichtabendländer wollen den Wohlstand des „Teufels“, den sie hassen. Es gibt keine nur aus abendländischen Menschen bestehende Menschheit, folglich gibt es auch keine Moderne einer nur aus abendländischen Menschen bestehenden Menschheit.

Sloterdijks zweiter Fehler ist seine schon erwähnte Vorliebe für alles „Postische“, z.B. die „Postmoderne“ (**|**|**|**|**|**|**|**|**|**|**|**), die „Posthistorie“ (**|**) u.ä., alles „Finalische“, z.B. das „Ende der Geschichte“ (**|**), auch wenn er dies hin und wieder verneint (**). All dieser „Postismus“ und all dieser „Finalismus“, die sich thematisch sehr ähneln, nötigen ihn, alles immer von einem „Nach“ und einem „Ende“ her zu beurteilen. Mir ist das nicht fremd. Auch ich tue das gerne, halte mich damit aber dennoch zurück, weil ich weiß, daß ich damit noch warten muß. Es gibt schon einige Anzeichen für nicht wenig „Postisches“ und „Finalisches“, aber es ist ein Fehler, bestimmte Anzeichen aus der Kunst, besonders aus der Architektur, als „postmodern“ zu bezeichnen, obwohl sie noch modern sind und die Kunst schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts abzusinken begann, zunächst nur in wenigen Bereichen und trotz der Tatsche, daß in anderen Bereichen noch für einige Zeit Geniales erreicht wurde. Für posthistorische Anzeichen gilt entsprechendes. Ein Ende der Geschichte ist noch nicht erreicht (**|**).

Ein dritter Fehler Sloterdijks ist die Tatsache, daß er in dem hier zu rezensierenden Buch - und übrigens auch in seinen anderen Büchern - mehrere falsche Fakten und falsche Daten der Geschichte angegeben hat. Ich werde darauf nicht näher eingehen, weil dieser dritte Fehler eventuell nicht wie die anderen drei Fehler auf Sloterdijks Hang zur Übertreibung, sondern schlicht auf Sloterdijks Unwissenheit über diesen aus mehreren Einzelfehlern bestehenden Gesamtfehler zurückzuführen ist.

Sloterdijks vierter Fehler betrifft seine zum Teil übertriebene Kritik am Christentum. Diese Kritik fällt zwar bei weitem nicht so extrem aus wie bei Nietzsche oder anderen Christenhassern; aber sie ist dennoch auch nicht harmlos. Ein Beispiel: „Nach wie vor sind die Einprägungen des metaphysischen Masochismus augustinischer Herkunft mitsamt seiner Fracht an politischer Phobokratie und existentieller Körperfeindschaft in den Archipelen des Christentums spürbar - zwei Grundübel, zu denen sich Quietismus, Erwählungspanik, Kulpablilismus, sexualneurotische Befangenheit und Kult des Elends gesellen. Kein harmloser Befund, bedenkt man, daß das Christentum mit über zwei Milliarden nominellen Gläubigen bis auf weiteres die numerisch größte, zudem theologisch intensivste Religionsmacht der Welt darstellt, mögen auch die düsteren Erbsachen heute fast überall in die unauffälligen Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Solidarität umcodiert worden sein.“ (**). „Phobokratie, Körperfeindschaft, Quietismus, Erwählungspanik, Kulpablilismus, sexualneurotische Befangenheit und Kult des Elends“ - treffen diese Beschreibungen immer noch zu wie vielleicht früher einmal? Sind sie wirklich „heute fast überall in die unauffälligen Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Solidarität umcodiert worden“? Will Sloterdijk hier eine auf den Vergleich zwischen dem Christentum und den anderen Religionsformen fußende Kritik dazu benutzen, um das Christentum erneut zu reformieren oder doch nur zu diskreditieren? Kann das Christentum überhaupt so werden, wie die anderen Religionen sind? Wenn das Christentum nicht mehr christlich ist, ist es doch kein Christentum mehr. Oder hat Sloterdijk recht, weil er das Christentum gar nicht kritisiert, sondern nur beschreibt? Sind z.B. da, wo es um „ Empathie, Sozialarbeit und Solidarität“ geht, wirklich „Phobokratie, Körperfeindschaft, Quietismus, Erwählungspanik, Kulpablilismus, sexualneurotische Befangenheit und Kult des Elends“ am Werk?

Jesus Christus
Beginnen wir „mit dem Auftritt des vaterlosen Jesus von Nazareth, des schrecklichsten Kindes der Weltgeschichte“ (**), wie Sloterdijk Jesus nennt. Gemäß Sloterdijk mußte der Versuch des Christentums, aus der Unmöglichkeit eine Möglichkeit und dadurch wieder den Anschluß an die Wirklichkeit zu bekommen, scheitern. Der Versuch, aus der Anti-Genealogie „des vaterlosen Jesus von Nazareth, des schrecklichsten Kindes der Weltgeschichte“ (**), das nicht von einem physischen, sondern von einem metaphysischen Vater abstammen wollte, wieder eine Genealogie zu machen, konnte nicht oder nur unter absurden, paradoxen, eben widersprüchlichen Bedingungen funktionieren. Die Evangelisten Matthäus und Lukas wollten Jesus sogar von David bis Abraham abstammen lassen. Das überzeugt nicht, weil dadurch die Abstammung von Gott gegenstandslos wird. Jesus soll ja „unmißverständlich als der Sohn Gottes aus asexueller Zeugung und supranaturaler Verkörperungskausalität hervorgegangen sein. Gleichzeitig soll er einen Nachkommen Abrahams und Davids in direkter Zeugungslinie darstellen ....“ (**). Das geht nicht. Matthäus und Lukas verkünden eine „Re-Genealogisierung der anti-genealogischen Revolte“ (**), die man auch die „Re-Familalisierung der anti-familalen Revolte“ nennen könnte. Der alle weltliche Herkunft ablehnende Jesus soll seiner Herkunft wieder zugeführt werden: so beginnen Re-Genealogisierung, Re-Familalisierung, Re-Paternalisierung, obwohl Anti-Genealogisierung, Anti-Familalisierung, Anti-Paternalisierung ihnen zugrunde liegen. Das kann auf Dauer nicht gutgehen.

Auf die Revolution des, wie Sloterdijk sagt, „vaterlosen Jesus von Nazareth, des schrecklichsten Kindes der Weltgeschichte“ (**), folgte eine Konterrevolution bzw. Restauration. „Die Wandlung des Christentums zu einer Religion von Söhnen, die durch Ausübung von Pastoralmacht in die von Jesus verbotene Vaterrolle zurückdrängten, spiegelt das unerkannte spirituelle Hauptereignis der Spätantike wider: Man könnte es die Konterrevolution der Bischöfe nennen - oder die klerikokratische Restauration.“ (**). „Die bischofskirchliche Rückwende setzte - über die schon bei den Evangelisten angestrebte Re-Genealogisierung und Re-Familialisierung der Botschaft hinaus - jene extreme Re-Paternalisierung des christlichen Gemeindelebens in Gang, ohne die man sich von der Physiognomie des Christentums zwischen 300 und 1800 n. Chr. weder nach seiner alltäglichen noch nach seiner doktrinalen Seite ein angemessenes Bild zu machen vermöchte.“ (**). „Im Einflußbereich des römischen Katholizismus, wie auch in den griechischen und russischen Orthodoxien, ist dieses patrozentrische Bild bis heute aktuell“ (**), was gemäß Sloterdijk „für das von Paulus und Augustinus vorgeprägte sexualneurotische Erbe des Christentums, um von der schier unsterblichen Unterströmung ekklesiopathischer Verschrobenheiten inmitten der spirituellen Kooperationen nicht weiter zu reden“ (**), spricht.

Abendland
Abgesehen von der Ausnahme der Anführungsstriche beim Wort „Abendland“ - denn dieses Wort ist das einzig richtige, wenn der Raum beschrieben werden soll, um den es hier nur geht (**|**) -, kann man folgendes unterschreiben: „Die Säkularisation der Erbsünde hat zwar das metaphysische Gift neutralisiert, das, destilliert in der Hexenküche des Augustinismus, im »Abendland« über anderthalb Jahrtausende weitergereicht wurde. Doch hat die Ausschaltung der Erb-Belastung a priori zugleich den Blick auf zahlreiche Formen ambivalenter Erblichkeiten im säkularen Bereich freigegeben. Um vorsichtiger zu reden: Sie hat das Bewußtsein von den Schwierigkeiten des Erbe-, Nachkomme- und Schuldner-Seins auf neue Bahnen gelenkt. Ein Massenansturm auf Positionen des »voraussetzungslosen Lebens« garantiert den Modernisierungen ihren Zulauf. In diesem Punkt ist die entente cordiale zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus mit Händen zu greifen. Die scheinbar unversöhnlichen Gegenspieler sind die besten Freunde, wenn es darum geht, die familialen, genealogischen und in erfolgreichen Filiationen gegründeten Prämisen des »sozialen Lebens« zu verdunkeln.“ (**). Seit ihrem Aufstieg als schreckliche Kinder sind Liberalisten und Sozialisten moderne Säkular-Jesuisten, moderne Säkular-Paulisten, moderne Säkular-Augustinisten, die sprechen und handeln im Auftrag der nach ihrem Aufstieg als schreckliche Kinder zu den schrecklichsten Kindern gewordenen modernen Finanz-Jesuisten, modernen Finanz-Paulisten, modernen Finanz-Augustinisten. **

Die Erbsünde geht auf den vom Judentum zum Christentum gewechselten Paulus (vormals: Saulus) und in verschärfter Form auf Augustinus zurück, obwohl sie ja auch den Juden nicht entgangen sein konnte, weil eine solche Deutung der Vertreibung aus dem Paradies naheliegt. Dazu schrieb Sloterdijk: „Augustinus ... löste mit seiner verschärften Sünden-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er wollte sich nicht damit zufriedengeben, den außerparadiesischen status quo der Menschen demütig zur Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf, den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama zwischen Mensch und Gott überhöhte, bei dem die Rolle des böse lachenden Dritten dem Satan zufiel, dem selbstverliebten Anführer der aufrührerischen Engel.“ (**). Die Ewig-Buße wegen der Erbsünde hatte schon Paulus als gerechtfertigt angesehen (**), also auch das Mitenthaltensein eines jeden Menschen in dem Ursprungsmann Adam, so daß jeder „»in Adam« mitkorrupt“ (**) ist. Augustinus ging noch weiter, weil er jedem Menschen auch noch das Sündigenmüssen unterstellte. Es ist ihm zufolge dem Menschen nicht möglich, nicht zu sündigen (vgl. „non posse non peccare“). „Der Mensch ist das Lebewesen, das nicht nicht sündigen kann“ (**). Da „die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit“ (**) ist, beinhaltet der Geschlechtsakt „die Wiederholung der ersten Sünde, weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche Selbstbevorzugung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande kommt. Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hochmuts, in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwendet, um sich selber an die erste Stelle zu rücken. (Vgl.: De Civitate Dei, 14. Buch, Abschnitt 15: »Der Hochmut der Übertretung ist schlimmer als die Übertretung selbst«.) Wären die Menschen fähig geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren sinnlichen Aufruhr zu genießen, wären sie dem Heil näher geblieben.“ (**). „Im Stand der Korruption ist der Mensch zur Selbstbevorzugung verdammt. Der Wille der Eigenmacht wohnt den Nachkommen Adams allzu tief inne, als daß er ihn aus eigenem Entschluß abstreifen könnte.“ (**).

Im Gespräch mit Wolfram Weimer sagte Sloterdijk 2006 bezüglich Unterwerfungslust und ihrer Überwindung durch den Protestantismus: „Wir müssen die Idee eines Lebens aus dem Können in unterwerfungslustige Kulturen einführen, damit sich auch die Religion wandelt, von einer Religion der Unterwerfung zu einer Religion des betreuten Könnens, also, europäisch gesprochen, Protestantismus, der Glaube des von Gott getragenen Könnens.“ (**). Peter Sloterdijk, in :  „Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk“, 2006

Nur für einige Erwählte wird „der Sturz in die Erbsünde reversibel“ (**). Hier scheint die Stelle zu sein, an der vermutet werden darf, daß dem Christentum die „Erwählungspanik“ (**) zumindest nicht fremd sei. Ich bezweifle jedoch, daß sich davon „die westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt“ (**) hat. Und was die Feindschaft des Christentums gegenüber allem Körperlichen, Sexuellen und Selbstbewußten angeht, so läßt sich doch rasch erkennnen, daß gerade im christlichen Abendland eben genau diese Feindschaft bekämpft wird, größtenteils schon besiegt ist. Da, wo der Protestantismus dominiert, ist dies mehr der Fall als da, wo der Katholizismus dominiert, obwohl der Katholizismus dabei ist, aufzuholen. Wer Freizügigkeit gegenüber Körper, Sex und Selbstbewußtheit, Toleranz gegenüber allem genießen will, der kommt ins Abendland, wo sogar diejenigen toleriert werden, die es vernichten wollen.

In der F.A.Z erschien am 27.09.2009 „Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer“ von Sloterdijk, in dem u.a. folgendes zu lesen ist: „Vermutlich sind Fragen des Nehmens und Gebens - neben der Sexualität - die sensitivsten Angelegenheiten, die überhaupt vor Publikum verhandelt werden können. Es sind die Fragen, die unverkennbar die thymotischen (die stolzhaften, die zornhaften und die ressentimenthaften) Leidenschaften aufwühlen - Affekte, denen ich in meinem Buch »Zorn und Zeit« (**) einigermaßen umfangreiche Überlegungen gewidmet habe.“ (**). Peter Sloterdijk, „Das elfte Gebot :  die progressive Einkommenssteuer“, in :  F.A.Z., 27.09.2009
Hier wäre es angebracht, an Sloterdijks 2006 erschienenes Buch „Zorn und Zeit“ zu erinnern (**). Das Urchristentum war auch ein Gegner des Zorns, zumindest aber ein Gegner der Gewalt. Daran haben sich aber die Herrscher weder im Abendland noch sonstwo in christlichen Gebieten gehalten. Zwar wurde das Volk im christlichen Sinne erzogen; doch die politischen und vor allem die rein machtpolitischen Verhältnisse - insbesondere die zwischen Kirche und Kaiser bzw. Klerus und Adel - zeigten von Anfang an ein ganz anderes Bild. Im Volk mag sich vielleicht das im christlichen Sinne Anerzogene teilweise und wohl zu einem immer geringer werdenden Prozentsatz erhalten haben, doch das Bild des modernen Abendlandes zeigt, daß dieser Prozentsatz schon zu Beginn der abendländischen Moderne sehr gering gewesen sein muß, ja daß er wahrscheinlich sogar auch vorher nur gering war und kaum jemand den Predigten wirklich Glauben schenkte (der Alltag erforderte eher einen anderen Glauben). Die Tatsache aber, daß das heutige Abendland dem Zorn gegenüber ignorant ist und auch sonst eher so wie ein Raum des Urchristentums erscheint (Toleranz gegenüber allem) scheint Sloterdijk recht zu geben. Auf Seite 32 des Buches „Zorn und Zeit“ heißt es z.B.: „Kaum treten bei Individuen oder Gruppen »Symptome« wie Stolz, Empörung, Zorn, Ambition, hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft auf, nimmt der Parteigänger der thymós-vergessenen Kultur Zuflucht zu der Vorstellung, diese Leute müßten Opfer eines neurotischen Komplexes sein. Die Therapeuten stehen hier in der Tradition der christlichen Moralisten, die von der natürlichen Dämonie der Selbstliebe sprechen, sobald die thymotischen Energien sich offen zu erkennen geben. Haben die Europäer über den Stolz wie den Zorn nicht von den Tagen der Kirchenväter an zu hören bekommen, solche Regungen seien es, die den Verworfenen den Weg in den Abgrund weisen?“ (**). Das ist wohl wahr.

Peter Sloterdijk
Peter Sloterdijk bei der Präsentation seines Buches „Kritik der zynischen Vernuft“, 1983
32 Sloterdijk-Bücher in einem meiner Bücherschränke
Es zeigt sich in Sloterdijks Buch über die „schrecklichen Kinder“ wie in allen seinen Büchern, jedenfalls in denen, die ich gelesen habe (immerhin 32 an der Zahl **), immer wieder dasselbe Denkmuster (**) - d.i. vor allem: „Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie und ... Theorie der Psychopolitik“ (**|**) -, zu dem auch der Gedanke des Wechsels vom Gegen-Herrschaftlichen zum Herrschaftlichen oder vom Herrschaftlichen zum Gegen-Herrschaftlichen gehört. Unter den von mir gelesenen 32 Sloterdijk-Büchern reicht Sloterdijks 1983 erschienenes Buch „Kritik der zynischen Vernuft“ zeitlich am weitesten zurück - und schon in ihm läßt sich jener Gedanke erkennen: Der Zynismus der Altgriechen wandelte sich zur Herrschaftsform bzw. zu dem, was Sloterdijk „das aufgeklärte falsche Bewußtsein“ (**) nannte und dem er den „Kynismus“ entgegensetzte. Auf einer am 08.02.2015 veröffentlichten Webseite von „Oshonews“ heißt es dazu:
„Sloterdijk concludes that, unlike the ancient Greek version, Cynicism no longer stands for values of the natural and ethical kind that bind people beyond their religious and economically useful convictions. Rather, it has become a mode of thought that defines its actions in terms of a »final end« of a purely materialistic sort and reduces the »ought« to an economic strategy aimed at maximizing profit. This contemporary sort of Cynicism remains silent, however, when it comes to social, and altruistic goals having to do with the »good life« the original Cynics were seeking.“ (Oshonews).
Meine Übersetzung: „Sloterdijk kommt zu dem Schluß, daß der Zynismus im Gegensatz zur altgriechischen Version nicht mehr für Werte der natürlichen und ethischen Art steht, die die Menschen über ihre religiösen und wirtschaftlich nützlichen Überzeugungen hinaus binden. Vielmehr ist er zu einer Denkweise geworden, die ihr Handeln als »endgültiges Ende« einer rein materialistischen Art definiert und das »Sollen« auf eine auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaftsstrategie reduziert. Diese zeitgenössische Art von Zynismus schweigt jedoch, wenn es um soziale und uneigennützige Ziele geht, die mit dem »guten Leben« zu tun haben, das die ursprünglichen Zyniker suchten.“
Mit dem Geschichtsverlauf von Jesus’ Gegen-Herrschaftlichkeit über Paulus’ und Augustinus’ Herrschaftlichkeit bis zur Herrschaftlichkeit von Paulismus und Augustinismus verhält es sich ähnlich wie mit dem Geschichtsverlauf vom altgriechischen Zynismus der Gegen-Herrschaftlichkeit über einen römisch-christlichen Zynismus der Herrschaftlichkeit bis zum modernen Zynismus der Herrschaftlichkeit. Der Zynismus der Gegen-Herrschaftlichkeit wurde im Verlauf der Geschichte zum Zynismus der Herrschafllichkeit, dem Sloterdijk in seinem Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ einen von ihm „Kynismus“ genannten neuen Zynismus der Gegen-Herrschaftlichkeit entgegenstellte. Und das macht Sloterdijk in seinem Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ prinzipiell genauso: Die Gegen-Herrschaftlichkeit mit dem damit verbundenen Heil als Erhellendem, das der Heiland Jesus verkündete, wurde schon von Paulus durch Verdunkelungen zur Herrschaftlichkeit umgepolt, so daß Augustinus diese nur noch zu verstärken brauchte, und diese Herrschaftlichkeit führte zu ihrer modernen Variante, nämlich zum Säkular-Paulismus und wiederum durch Verstärkung zum Säkular-Augustinismus, so daß Sloterdijk dieser Herrschaftlichkeit ebenfalls eine Gegen-Herrschaftlichkeit entgegensetzte - nämlich „die Aufhebung der Korruption“ (**) als den „Enstfall des Lernens“ (**), weil es auch „etwas von einer Bekehrung hat“ (**). (So gesehen bestehen die auf uns einwirkende Herrschaft mittels Zynismus und die auf uns einwirkende Herrschaft mittels Verdunkelungen schon seit etwa der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr.!) Im Unterschied zum 1983 erschienenen Buch „Kritik der zynischen Vernuft“, in dem auch die Aufklärung kritisert wird, wird im 2014 erschienenen Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ die Aufklärung nicht kritisiert, sondern gefordert - nämlich eine, die der Aufhebung der Korruption durch das Lernen dienen soll. Der genannte Unterschied ist somit auch in Sloterdijk selber zu finden, weil der Text des 2014 erschienenen Buches gegenüber dem Text des 1983 erschienenen Buches von mehr Reife Sloterdijks zeugt.

Am 15.10.2000, anläßlich des 156. Geburtstages Nietzsches, sagte Sloterdijk: „Die Sonne ist der absolute Sponsor; und deswegen muß ein Aufklärer die Sonne nachahmen, weil eine Aufklärung, die mehr nimmt als gibt, letzten Endes gar keine ist - mit anderen Worten: Aufklärung ist nur als angewandte Großzügigkeit möglich.“ (**). Peter Sloterdijk, „Die Sonne ist der absolute Sponsor“, DCTP.TV (Gespräch vor dem Schloß Elmau), 15.10.2000
Ist „jede Geschichte ... besser als keine Geschichte“ (**), „jede Erzählung ... besser als keine Erzählung“ (**)? Erhellt „auch ein dunkler Mythos die Lage, indem er dem Unbehagen eine Fassung gibt“ (**)? Kann sich „keine dunkle Erzählung ... den Wirkungen von Aufklärung entziehen, die alte Geschichten unter neue Beleuchtungen stellt“ (**)? Ist also auch jeder Mythos besser als kein Mythos? Ja, wahrscheinlich. Aber daraus folgt nicht, daß man diesen oder jenen Mythos und keinen anderen zuerst erzählen und dann weitererzählen muß. Man hätte ja einen anderen Mythos als diesen oder jenen zuerst erzählen und dann weitererzählen können. Außerdem muß jeder „Aufklärer die Sonne nachahmen“ (**).

Die Erzählung in der Bibel von der „Vertreibung aus dem Paradies“ legt selbst schon eine Deutung in Richtung „Erbsünde“ nahe. Man hat so die Verfasser der Bibel, dann Paulus und schließlich Augustinus für eine solche Deutung verantworlich zu machen, aber trotzdem in Rechnung zu stellen, daß die Verdunkelung der ursprünglichen Erzählung schon von dieser selbst ausgegangen ist - weil sich diese superdunkle Erzählung durch ihr Deutungsangebot in Richtung zunehmender Dunkelheit bereits selbst verdunkelt hat - und erst danach über Paulus bis Augustinus an Dunkelheit zugenommen hat. Somit haben wir auf der Seite der Verdunkelungschronolgie die Reihenfolge (1) Verfasser der Bibel, (2) Paulus, (3) Augustinus und auf der Seite des Verdunkelungsgrades die Reihenfolge (1) Augustinus, (2) Paulus, (3) Verfasser der Bibel. Durchschnittlich sind dann alle drei gleichermaßen schuldig (denn jeder der drei Täter hat den Durchschnitt 4:2=2).

Warum hatte man überhaupt erst den superdunklen Mythos von der „Vertreibung aus dem Paradies“ erzählt? Und wie gesagt: Schon die Bibel selbst hatte ihren Text durch ein Deutungsangebot aus der Dunkelheit in Richtung größerer Dunkelheit schon verdunkelt, und später Paulus es verstanden, die Texte der Bibel noch mehr zu verdunkeln; aber Augustinus hat sogar Paulus noch übertroffen. Du, Volk, sollst so leben, wie ich es dir sage, weil es so, wie ich es dir sage, in der Bibel zu lesen ist; aber das, was ich und die anderen Auserwählten tun, muß dir gleichgülig bleiben, weil du das nie tun dürfen und auch nie ändern können wirst - dies könnte Augustinus’ Gedanke gewesen sein, als er seinen „Gottesstaat“ („Über den Gottesstaat“: „De Civitate Dei“) schrieb. Ein Sprichwort dazu: „Wasser predigen und Wein trinken“.

Erbsünde. In der christlichen Theologie der Zustand der Sünde, in den jeder als ein Ergebnis des Sündenfalls von Adam hineingeboren wird. Die Grundlage davon in der Bibel ist Paulus’ Lehre, »daß durch einen Mann (Adam) die Sünde in die Welt kam«, so daß »durch die Übertretung dieses einen die vielen starben« (Römer, 5, 12). Sie wurde von den frühen griechischen Vätern entwickelt, wurde aber genauer bei den lateinischen Schriftstellern des 2-5. Jh. gefaßt und gipfelte in Augustinus’ Formulierung. Adams Sünde wurde seitdem von den Eltern auf das Kind durch »sinnliche Begierde« übertragen, in diesem Fall sündige sexuelle Erregung, die die Zeugung begleitet. Das Menschengeschlecht ist damit zu einer »Masse von Sünden« (massa damnata) geworden, wie z.B. durch die Praxis, selbst neugeborene Kinder mit Exorzismus zu taufen, gezeigt wird.“ (John Bowker [Hrsg.], Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen, 1999 [Ausgabe von 2003], S. 282 [Stichwort „Erbsünde“]).

Ich kritisiere nicht Sloterdijks Kritik an Paulus’ und Augustinus’ Lehren an sich, sondern nur seine Behauptung, daß sich davon „die westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt“ (**) habe.

In Sloterdijks Notiz vom 03.05.2010, die in seinem 2012 erschienenen Buch „Zeilen und Tage“ zu lesen ist, ist u.a. der Vorschlag zu finden, Luther anläßlich seines 2017 zu feiernden Thesen-Jubiläums vor dem „Gericht der Geistesgeschichte ... zu befragen, ob seine Theologie die Hauptaufgabe seiner Zeit, die Befreiung vom Augustinismus, bewältigt“ (**) habe.
Die Sünden- und Gnadenlehre beeindruckten Paulus und Augustinus sehr. Augustinus vertrat deshalb auch im besonderen die Lehre von der „Prädestination“, die besagt, daß der Mensch zur Seligkeit oder zur Verdammnis von Gott vorausbestimmt sei. Die Menschengeschichte, die Augustinus in seinem Werk „Über den Gottesstaat“ darstellte, war für ihn ein Kampf zweier Reiche oder Staaten gegeneinander: des Reiches der irdisch Gesinnten, der Gottesfeinde, des Weltreiches (civitas terrena oder diaboli) und des Gottesreiches (civitas dei). Dabei identifizierte er das Gottesreich seiner irdischen Erscheinung nach aber nicht ohne weiteres mit der römischen Kirche.

Kann man Augustinus’ „Gottesreich“ oder „Gottesstaat“ heute eher auf das „Reich“ oder den „Staat“ (als den „Tiefen Staat“) der Globalisten und ihrer Kartelle beziehen? (**|**). Sind die Globalisten das Zielsubjekt der schrecklichen Kinder der Neuzeit, also die schrecklichsten Kinder der Neuzeit? (**|**). Haben sie sich nicht mittlerweile so weit abgehoben (wir erinnern uns: „Die »Progressiven« sind die »Abgehobenen«“ **) vom Rest der Menschheit, daß dieser nur noch als das „Weltreich“ bzw. der „Weltstaat“ im Sinne von „Realstaat“ und „Realwirtschaft“ zu deuten ist? Ist die Entzweiung dieser „Reiche“ oder „Staaten“ aus einem ursprünglichen einheitichen „Reich“ oder „Staat“ nicht mittlerweile so weit „fortgeschritten“ (wir erinnern uns wieder an die „Progressiven“ **), daß eine „Wiedervereinigung“ unmöglich erscheint oder sogar schon ist? Sind es nicht diese zwei „Reiche“ oder „Staaten“, auf die Kulturen sowieso unweigerlich zusteuern und am Ende ihrer Modernen und Zivilisationen auch mehr oder weniger verwirklichen? Haben nicht auch die schrecklichen und besonders die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit das „Reich Gottes“ auf das Irdische übertragen, wie Augustinus es wollte: eine irdische Erscheinung des „Reiches Gottes im Himmel“ als „Gottesstaat auf der Erde“? Ja, offenbar! Augustinus wollte diese Verwirklichung. Die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit wollen auch eine solche Verwirklichung, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Sie sagen nämlich: „Ihr sollt sündigen!“. Augustinus sagte: „Ihr müßt sündigen!“. Denn Augustinus glaubte zu wissen, daß Menschen nicht fähig sind, nicht zu sündigen (vgl. „non posse non peccare“), d.h.: „ihr müßt sündigen, weil ihr nicht nicht sündigen könnt“. Die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit glauben zu wissen, daß Menschen sündigen wollen, d.h.: „ihr sollt sündigen, weil ihr sündigen wollt“. Augustinus wollte, daß die Menschen die Sünde verneinen, glaubte aber zu wissen, daß sie der Sünde niemals völlig widerstehen können. Die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit wollen, daß die Menschen die Sünde bejahen, weil sie glauben zu wissen, daß sie alle die Sünde begehen wollen. Beide - Augustinus und die schrecklichsten Kinder der abendländischen Neuzeit - zählen sich zu den Erwählten, die „abgehoben“ (wir erinnern uns noch einmal: „Die »Progressiven« sind die »Abgehobenen«“ **) und somit weit entfernt vom Rest der Menschheit sind.

Die Zeiten des „Müssens wegen des Nicht-anders-Könnens“ sind größtenteils zumindest im Abendland und seinen Ablegern vorbei. Die Zeiten des „Sollens wegen des Wollens“ sind im Abendland noch relativ jung und werden uns wohl noch mehr beschäftigen als bis jetzt schon.

Ein anderes Beispiel für das „Sollen wegen des Wollens“ ist der Keynesianismus. Er setzt auf die Nachfrage, bejaht den Konsum unbedingt, also auch die Sünde unbedingt. Deshalb sagt er: „Ihr sollt konsumieren, weil ihr konsumieren wollt!“. Einige noch nicht zu schrecklichen Kindern Gewordene deuten das wie folgt: „Ihr sollt sündigen, weil ihr sündigen wollt!“. Sie lehnen den Keynesianismus strikt ab. Aber wie groß ist die Zahl der Menschen dieser noch unschrecklich gebliebenen Art, die im Konsumterror noch eine Sünde sieht? Allein schon die Internetsprache verrät doch, wie sehr der Keynesianismus trotz seiner leicht nachweisbaren Fehler und Schwächen um sich greift: Im Internet wird nicht mehr „gelesen“ oder „angeschaut“, „angehört“ u.s.w., sondern „konsumiert“. Verdummung!

Modernes Fragen-Dreieck.

Fragen-Dreieck

Sloterdijks „Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen-Dreieck De Maistre - Tschernyschewski - Nietzsche“ (**) besagt, daß das Denken im europäischen 19. Jahrhundert sich wesentlich in einem Fragen-Dreieck bewegt habe. „Tatsächlich waren die wesentlichen Reflexionen der beginnenden Moderne stets nur Antworten auf die von Joseph de Maistre (1753-1821) in seinen Soireen von Sankt Petersburg erörterte Frage: »Wie konnte Gott die französische Revolution zulassen?«. Sie reagierten ferner auf die Titelfrage von Nikolai Tschernyschewskis Roman Was tun?, der im Jahr 1863 erschien, und schließlich auf die durch Friedrich Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 aufgeworfene Frage des Tollen Menschen: »Stürzen wir nicht fortwährend?« (**).“ (**). Sloterdijk zufolge spiegelt sich das, „was man den »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« (Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, 1941) genannt hat, ... in de Maistres, Tschernyschewskis und Nietzsches Fragen wider als die begriffene Unmöglichkeit, das alteuropäisch Haus des Seins gelassen zu bewohnen. Eine monströse Baustelle war an seine Stelle getreten.“ (**). De Maistre schämte sich für Frankreich, dessen „Revolution“, die nur Terror, Gewaltherrschaft, Kriege, unzählige Tote mit sich brachte. Er betonte, „wann immer es ihm nötig schien, er sei zu keiner Zeit Franzose gewesen und habe nicht vor, es je zu werden“ (**). Für de Maistre waren Männer wie Marat, Robespierre, Napoleon und ihresgleichen eben nichts anderes als genialische Automaten, denen Gott die trübe Freiheit gewährt hatte, sich einem höllischen Arbeitgeber anzudienen. Was Wunder, wenn sie unter dem Kommando dieses Herrn die Staaten in ein Blutbad ohnegleichen stürzten? De Maistre begreift das Weltgeschehen zwischen 1789 und 1809 - er kennt zum Zeitpunkt der Soireen die kulminierenden Gewaltschauspiele von Moskau, Leipzig und Waterloo noch nicht - als Ausfluß einer von Gott ironisch zugelassenen Satanokratie“ (**). De Maistre meinte, „Gott habe, indem er die Revolution und alles Folgende duldete, der Welt Gelegenheit bieten wollen, zu erfahren, wie es ihr ergeht, wenn sie ganz sich selber überlassen ist - ahnend, daß sie, wenn sie sich in Übersteigerung wiegt, ihren höchsten Idealen zu folgen, zu einem Tummelplatz infernaler Mächte gerät.“ (**). Unzählige Opfer und unendliches Leid, Terror und Zwang waren doch Tatsachen. Und Napoleon sagte: „»Ein Mann wie ich pfeift auf das Leben von einer Million Menschen«.“ (**). „Für de Maistre legt das nicht endende Blutbad der Jahre seit 1793 die Wahrheit über die Wirklichkeitsmächte der neuen Zeit offen. Obschon das Zählen der Toten erst eine Passion des 20. Jahrhunderts wurde, spürten schon die Zeitgenossen der Napoleonischen Kriege, daß eine Ära der Verschwendung von Menschenleben begonnen hatte.“ (**).
  PROGRESSIV  
L
I
N
K
S
                R
E
C
H
T
S
               
    MITTIG    
       
       
       
               
               
  KONSERVATIV  
** **
De Maistre war ein Konservativer in Reinform oder ein Rechtskonservativer, jedenfalls kein Linkskonservativer und kein Mittigkonservativer, generell kein Mittiger und erst recht kein Progressiver. „In den Augen des großen Liberalismus-Verweigerers ist die entgrenzte Gewalt, wie sie im Revolutionszeitalter ausbrach, um sich nur episodisch zu beruhigen, durchaus nicht das bedauerliche schlimme Mittel zum guten Zweck, wie die unentwegten Progressiven zu behaupten nicht müde werden - sie ist der unverhüllte Ausfluß ihres leitenden Prinzips. - Das Böse wäre freilich nie in respektable Positionen gelangt, hätte es sich nicht seit jeher darauf verstanden, eine gewinnende Seite vorzuweisen. Es könnte die Menschen nicht anziehen, binden und vorantreiben, wenn es sich nicht als das Normale, Humane und Notwendige zu maskieren wüßte. Wenn die Anreger, Exekutoren und Interpreten der Blutbäder immerzu von Freiheit und Gleichheit, von Eigentum und Fortschritt, von Menschenrecht, Verfassung und Herrschaft der Vernunft reden, ja, wenn sie uns alle mit ihren Ansprachen momenthaft begeistern, so beweist die nur, daß sie den Rhetorikunterricht des Teufels mit Erfolg besucht haben - und wie wenig wir noch immer imstande sind, uns gegen ihre suggestiven Reden zu immunisieren.“ (**). Es gilt demnach, die Macht der Reden nüchtern zu untersuchen. „Die methodologische Frage, wie Gott die französiche Revolution zulassen konnte, übersetzt sich in die abgründige Erkundigung, wie den Menschen der Ära nach dem großen Einschnitt sich selbst mit Phrasen und Proklamationen genug verzaubern, um unter noblen Vorwänden die gräßlichsten Gewalttaten begehen zu können. Damit ist eine Problemstruktur bezeichnet, die sich unter dem Begriff »Ideologiekritik« in die intellektuellen Profile des 19. und 20. Jahrhunderts einprägen wird. Den vollendeten Ironiker de Maistre hätte es nicht überrascht, daß Ideologiekritik zur Spezialdisziplin der kommunistischen Bewegung wurde. Wo der Kommunismus an die Macht gelangt war, stellte er dank der routinierten Verbindung der humanen Phraseologie mit dem vollendeten Partei- und Staatsterrorismus die übrigen Praktiken auf dem Feld der Auslöschungen in den Schatten.“ (**). Kommen wir deshalb zu den beiden anderen Fragen in Sloterdijks modernem Fragen-Dreieck:

Die anderen zwei zum modernen Fragen-Dreieck gehörenden Fragen - „Was tun?“ und „Stürzen wir nicht fortwährend?“ - betreffen den „Streit um die Programmierung der Weltveränderungsmacht“ und den „Streit um die Rationalität oder Irrationalität der Mobilisation .... Es ist das Ringen zweier miteinander unverträglicher Bewegungsbilder: Was von der einen Seite als gewußter und gewollte Fortschritt auf langen, manchmal gewundenen Alleen ausgelegt wird, erscheint der anderen Partei als ein chronisches Nach-vorne-Stürzen, das sich als Tat, Projekt und planvolles Handeln camoufliert. Die beiden Beschreibungen führen sich gegenseitig eine je für die andere Seite unerträgliche Ironisierung zu. Wer dem unheimlichen Bild vom Sturz nach vorne den Vorzug gibt, erscheint in den Augen der Fortschrittlichen wie ein boshafter blinder Passagier an Bord eines Schiffs, das dank der Arbeit der anderen zielsicher der hellen Zukunft entgegenfährt. Wer hingegen an einen garantierten Fortschritt glaubt, ist in den Augen derer, die überall den Sturz nach vorne spüren, ein schlafwandelnder Philisiter, der schon vom Dach gefallen ist und noch im Sturz den Vorwärts liest. - Das 20. Jahrhundert erweist sich rückblickend als eine Zeit, in der die beiden Grundaussagen über die bewegte Welt den Versuch unternahmen, sich gegenseitig zu absorbieren. Als Martin Heidegger begann, den Sturz nach vorn mit dem bewußt unternommenen Schritt zu amalgamieren, gelang ihm um 1927 die Begriffsprägung »Geworfenheit« - ein Ausdruck, der den Vorrang des Sturzes respektiert, doch ein gewisses Maß an dessen Aneignung durch den Gang suggeriert. Dies mündet in einen existententialistischen Heroismus, dessen zeitweilige Nähe zu Hitlers Version des Sozialismus in einem Land bekannt ist, wenn auch seine Bewertung noch immer für Differenzen Anlaß gibt. Umgekehrt haben Liberale und Sozialisten aus dem Scheitern des Konzepts von linearem Fortschritt die Konsequenz gezogen, man könne auch aus der progressiven Grundstellung Kompromisse schließen mit dem kaum noch abzustreitenden Geschehen fortwährenden Stürzens - oder wie man das Mitgerissenwerden durch unlenkbare Bewegungen nennen will. Denker dieser Tendenz retteten den für sie unentbehrlichen Rest des aktivistischn Optimismus mit Hilfe der Doktrin, jenseits der Alternative von Stürzen und Gehen solle auch in schwerem Gelände ein gewisses Maß an selbstbestimmter Navigation möglich bleiben. - Ein wirksames Bild für den Kompromiß der optimistischen Aktivisten mit der unaufhebbaren Passivität in der globalen Drift hat der österreichische Philosoph Otto Neurath gefunden, als er 1932 davon sprach, wir seien wie Schiffer, »die ihr Schiff auf hoher See umbauen müssen«. .... Noch niemand scheint auf die Idee gekommen zu sein, man müsse Flugzeuge während des Flugs in großer Höhe umbauen. Hin und wieder hört man jedoch die Befürchtung, das Flugzeuge, an dessen Bord die Menschheit in die Zukunft reist, sei gestartet, bevor die Techniker das Fahrwerk zur Landung eingebaut hatten.“ (**). Dieser Deutung kann man nur zustimmen.

„Mein Frankreich“ ?
„Mein Frankreich“?
Der Zeitpunkt für den Durchbruch des politischen Erfolgs der „schrecklichen Kinder“ war mit der nordamerikanischen Revolution von 1776 und der französichen Revolution von 1789 gekommen. Seitdem ist das Wachsen des „Hiatus“ wahrnehmbar, zunächst politisch, dann terrormäßig, kriegerisch (also immer noch politisch, nur eben noch schlimmer), juristisch, religiös, theologisch, philosophisch und sonstwie, z.B. modisch, künsterisch (in jeder Art, also auch architektonisch und musikalisch), sportlich. Wir haben es seitdem mit der Umwertung aller Werte, d.h. mit dem Nihilismus zu tun - einer Zeit der bürgerlichen Gessellschaft, der zivilisatorischen Moderne einer Kultur. 2008 sagte Sloterdijk in seiner Fernsehsendung „Das Philosophische Quartett“: „Es gibt ein starkes Argument eines deutschen Staatsrechtlers ...: »Wer ›Menschheit‹ sagt, will betrügen« (Carl Schmitt). Das heißt, man täuscht ein »Super-Wir« vor, das es noch gar nicht gibt, das in Wirklichkeit wiederum eine maskierte partikulare Stimme ist. Nach dem Schema hat ja übrigens auch die Ideologiekritik in den letzten 200 Jahren funktioniert. Da treten z.B. so ein paar französische Rechtsannwälte ... auf - es sind vielleicht ein paar 100 Leute - und nennen sich selbst »die Menschheit«. Daraus ist die französische Revolution hervorgegangen. Und so funktioniert das immer. Es gibt immer eine kleine Avantgarde - die nennt sich selbst »Menschheit« - und trägt sozusagen die Flamme vor allen anderen her und sagt: »Alles hört auf mein Kommando!«“ (**). Ja, so funktioniert das immer! In Sloterdijks 2012 erschienenen Buch „Zeilen und Tage“ heißt es entsprechend: „Der erste Schurkenstaat der Moderne, das revolutionäre Frankreich ....“ (**). Außerdem: „Wovon träumt Frankreich denn seit 1871, wenn nicht von den Zeiten vor der Niederlage?“ (**). Nach Frankreichs Niederlagen durch die Preußen bei Roßbach (1757) und während der Napoleonischen Kriege (Aspern, 1809, Leipzig, 1813; Paris, 1814; Waterloo, 1815) war es eigentlich schon am Ende, doch die Niederlagen setzten sich fort: im Deutsch-Französischen Krieg (1870-1871), der die hohenzollernsche Reichsgründung zur Folge hatte, im 1. Weltkrieg, im 2. Weltkrieg, im „Indochinakrieg“ (vorletzter Kolonialkrieg Frankreichs), der deswegen zum „Vietnamkrieg“ (Vernichtungskrieg der USA) wurde, im „Algerienkrieg“ (letzter Kolonialkrieg Frankreichs), um nur die bekanntesten zu nennen, die Frankreich verloren hat, und zwar entweder während oder am Ende des jeweiligen Krieges. Wie die Franzosen ihre „Befreiung“ von der deutschen Besatzung durch die USA und das BE (British Empire) mißinterpretieren, ist ebenfalls bekannt: „Wie die Franzosen nach der libération plötzlich neben den Siegern aufmarschierten, als ob nie etwas gewesen wäre, in dopppelter Heuchelei ..., so haben die Niederländer nach 1945 sich etwas vorgemacht und ihre Nachkriegswirklichkeit auf einen nicht selbst erfochtenen Sieg aufgebaut. Die nachträgliche nukleare Großmannssucht der Franzosen ist das formale Äquivalent der nachträglichen kosmopolitischen Umarmungssucht der Holländer.“ (**). Sloterdijk zufolge hat z.B. „Cioran ... Spenglers Thesen über das Schicksal des Abendlandes aufs französische Format schrumpfen“ (**) lassen und die These vertreten, daß die „Reste von französischem »Leben« ... nur noch in der Pariser Banlieue“ (**) zu finden seien. Die Franzosen haben seit ihrem „Erfolg“ durch „Revolution“, Terror und Krieg nur noch verloren. „Goethe über die Folgen der französischen Revolution: Bis dahin war alles Streben, danach war alles Fordern.“ (**). Auch darum ist nach meinem Dafürhalten in Sloterdijks Fragen-Dreieck die erste der drei Fragen die fundamentale „Frage: »Wie konnte Gott die französische Revolution zulassen?«.“ (**) Mit dieser „Revolution“ ist der Untergang Frankreichs - und nicht nur der, sondern auch der Untergang des gesamten Abendlandes - eingeläutet worden. Trägt auch darum eines von Sloterdijks 2013 erschienenen Büchern den Titel „Mein Frankreich“?

Was Sloterdijk den „Hiatus“ nennt, ist die immer größer werdende, sich obendrein unter dem Stichwort „Freiheit“ artikulierende Kluft zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Konservativem und Progressivem, zwischen Vormodernem und Nachmodernem, zwischen der Zeit vor dem Hiatus und der Zeit nach dem Hiatus. Diese „Freiheit“ ist der Ausdruck für den Hiatus, und in dieser Kluft ist die Moderne als die bürgerliche Gesellschaft zuhause - unheimlich. Es geht um die „Asymmetrie zwischen Herkunftswelten und Zukunftsverhältnissen“ (**). Die Modernen sind zu dieser „Freiheit“ verdammt, weil sie sich in den Hiatus begeben haben und nun in ihm unheimlich zuhause sind. Ist eine solche „Freiheit“ im Hiatus das, was Menschen wollen?

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Zukunft
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Herkunft
Nachmoderne
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Vormoderne
Nach der Zivilisation
    Zivilisation    
       
Vor der Zivilisation
Nach dem Nihilismus
    Nihilismus    
       
Vor dem Nihilismus
Nach der „Freiheit“
    „Freiheit“    
       
Vor der „Freiheit“
Nach der „Asymmetrie“
    „Asymmetrie“    
       
Vor der „Asymmetrie“

Zivilisationsdynamischer Hauptsatz.

„Der zivilisationsdynamische Hauptsatz lautet: Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können. Das heißt: Der chronische Überschuß an Mobilisierungen von Aktivitäten und die fortschreitende Auslösung tatbewegter Ereignisströme, die sich in objektiven Relikten niederschlagen, treibt das Weltverhältnis und Wirklichkeitserlebnis der Modernen in stetig wachsende Asymmetrien. Dieses Zuviel an neuen Kausal-Motiven ist für die globale kulturelle Entropie verantwortlich, die jeder Zeitgenosse seit dem frühen 19. Jahrhundert am Weltbefund unwillkürlich konstatiert, am eigenen Dasein nicht weniger als im Wandel der Mitwelten. Insbesondere das Hauptsymptom des beginnenden 21. Jahrhunderts, aktuelle Schulden mit neuen Schulden zu »bezahlen«, ist nur ein Symptom unter den vielen, die das ständige Vorangleiten und Vorwärtsstürmen im generalisierten Futurismus anzeigen. In der schon alltäglichen, pervers normalisierten Praxis der Schuldenumwälzung erkennt man die systemische Drift zu wachsenden Ungleichgewichten.“ (**). Der zivilisationsdynamische Hauptsatz besagt also, daß „die Summe der Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozeß regelmäßig die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte übersteigt“ (**). Spenglerisch gesagt: Die Kultur wird von ihrer eigenen Zivilisation gefressen. „Gerade in der riskanten Lebensform der großen Macht-Stadt, in der sich Völker, Mythen, Finten und Ambitionen mischen, macht sich das zivilisationsdynamische Grundgesetz bemerkbar, wonach durch den aktuellen modus vivendi unvermeidlich mehr unvorhersehbare Energien, mehr unbekannte Unruhen und mehr neuartige Störungen der bestehenden Ordnung freigesetzt werden, als diese mit ihren bordeigenen Mitteln unter Kontrolle bringen kann.“ (**). Dies ist typisch für die Zeit der Zivilisation bzw. Moderne einer Kultur als die Zeit der Groß- und Weltstädte, wie auch Spengler immer wieder betonte (**). „Der zivilisationsdynamische Hauptsatz und seine fünfundzwanzig Untersätze ergänzen die Thesen Niklas Luhmanns über die Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme in der Moderne (**) durch eine systemhistorische Dimension, wobei sie den Akzent auf die »Emissionen« bzw. die Wirkungsüberschüsse modernisierter Praxisspiele setzen. Mit ihrer Hilfe lassen sich kaum traktierbare und zu Mystifikation verführende Großbegriffe wie »Ereignis«, »Freiheit«, »Zufälligkeit« und »Zukunftsoffenheit« in diskrete Aspekte zerlegen und auf problematische Tendenzen überprüfen, ohne daß damit Zugeständnisse an eine verbrauchte »Kulturkritik« verbunden wären. Solche Exzesse ins Unplanbare kann auch die Zauberformel jüngerer Evolutionstheorien: »Emergenz«, nicht zur Ruhe bringen. Ja, der Verdacht drängt sich auf, man rede über »Selbstorganisation« und Neuentstehung von »Ordnung« am liebsten dann, wenn offenkundig ist, daß wir der Entropie bis auf weiteres nur mit Weihwasser begegnen.“ (**).

Sloterdijk hat mit seinem Buch über „die schrecklichen Kinder“ wirklich ein hochaktuelles Thema vorgelegt, weil es am allermeisten die Moderne als Zivilisation bzw. bürgerliche Gesellschaft, die „Freiheit“, die Asymmetrie zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Konservativem und Progressivem, zwischen Vormodernem und Nachmodernem, die Antigenealogie, die Gegenwart betrifft (**). Der zivilisationsdynamische Hauptsatz beweist „eine Durschlagskraft: Indem der Eintritt von vormals Erbelosen und Illegitimen in den ausgeweiteten Spielraum legitimer Forderungen voranschreitet, setzt der Prozeß zu jedem Zeitpunkt sehr viel mehr Reklamationen nach Würden, Chancen und Vorzugspositionen frei, als mit Mitteln des jeweiligen aktuellen Zustands befriedigt werden können. Nie wird sich das drastischer enthüllen als im Gefolge der us-amerikanischen und französischen Erklärungen allgemeiner »Menschenrechte« am Ende des 18. Jahrhunderts. Mit diesen Sprechakten, zeitgemäß, unumgänglich, hochherzig und uneinlösbar, wie sie waren, setzte das nie mehr zu beendende Weltalter der Reklamationen ein.“ (**).

Man könnte auch sagen, daß die bürgerliche Gesellschaft als Zivilisation bzw. Moderne eben dekadent, nihilistisch ist. Doch Sloterdijk meidet solch eine Diagnose bzw. Bewertung, weil diese seiner Meinung nach ihrerseits „Nihilismus produzieren“, wie er z.B. am 02.12.1998 in der Fernsehsendung Nachtstudio (mit dem Titel: „Der Zufall in der Geschichte - gibt’s den?“) sagte, um dennoch schon im folgenden Jahr, als der zweite Band seines Projektes - „Sphären II - Globen“ (1999) - erschien, der Öffentlichkeit mitzuteilen: „Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch ... zum Ziel geführt hat - zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich dekadent sind. Jenseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische Differenz, die von Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit und Gemeinheit, ihre Kontur, und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und groß erschien, verschwände wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ (**).

Ist nun beispielsweise „das Hauptsymptom des beginnenden 21. Jahrhunderts, aktuelle Schulden mit neuen Schulden zu »bezahlen« ... nur ein Symptom unter den vielen, die das ständige Vorangleiten und Vorwärtsstürmen im generalisierten Futurismus“ (**) und diese „systemische Drift zu wachsenden Ungleichgewichten“ (**) in „der schon alltäglichen, pervers normalisierten Praxis der Schuldenumwälzung“ (**) kein neues, sondern ein im Grunde schon bekanntes, wenn auch dem Umfang nach in früheren Zeiten noch kleineres Problem? Ja, ist es. Denn: „Zur Zeit des dritten spanischen Staatsbankrotts von 1596 (nach den Ausfällen von 1557 und 1575) unter Philipp II. machten die Zinszahlungen der Krone 40 Prozent des Staatshaushalt aus. Dennoch konnten zahllose Kredite nicht zur Zufriedenheit der Gläubiger bedient werden. Im Jahr 1787 mußten von den Einnahmen der französischen Krone, die sich auf 427 Millionen Livres beliefen, 285 Millionen für Schuldendienste ausgegeben werden, während der Staatsdefizit weiter wuchs - woraus im übrigen hervorgeht, daß der auf Dauer gestellte Betrug des Fiskus an der Gesellschaft der Produktiven - abgesichert durch legale Enteignungsmacht - keine Erfindung des 20. und 21. Jahrhunderts darstellt: Er rechnete lange vor der Wende zu demokratischen Prozeduren, unter die Gründungsgeheimnisse des neuzeitlichen Staatswesens. .... Als ein tausendjähriges Reich des Defizits hatten die alteuropäische Aristokratie und ihr »Staat« Bestand gehabt. Sobald man besser zu rechnen lernte, waren ihre Tage gezählt. Was man später »Ausbeutung« nannte, war nichts anderes als das weltalterlange Zugeständnis der Reichen an die Armen, für ihre Überziehungen aufzukommen. Dieses Regime gelangte mit dem »Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft« an sein uvermeidliches Ende.“ (**). Es vollzog sich das, „was man die bürgerlichen »Aufstiege« nennt, in Form eines Prozesses, bei dem sich eine Subversion an die andere, eine Reklamation an die folgende, eine Umwertung der Werte an die nächste reihte, bis die irreversible Umdeutung der genealogischen Verhältnisse erreicht war, das heißt der Nullpunkt der Legitimierung durch Herkommen und die förmliche Gleichstellung aller in einem genealogisch unmarkierten Raum. Daß das mit »Chancengleichheit« nur wenig zu tun hat, illustriert das Werk des Historikers Gregory Clark: The Son also Rises: Surnames and the History of Social Mobility, 2014, das versucht, den Beweis zu führen, daß ein relativ kleiner Stock von Elite-Familien während der letzten 300 bis 400 Jahre ihre Position zu verteidigen wußte, indes auf der Vorderbühne der Historie überwiegend neue Gesichter den Ton angaben.“ (**). Und genau das ist heute in noch größerem Ausmaß der Fall. Diese beiden Phänomene korrelieren miteinander. Je reicher und also mächtiger die zu den „schrecklichsten Kindern“ gewordene „Elite“ von oben, desto „gleichgestellter“ und also „aufgestiegener“ die „schrecklichen Kinder“, die Subversiven, Reklamierer, Empörer und Umwerter von unten und desto ausgebeuteter und verschuldeter die Leistungsträger (Mittelschicht). ** ** ** ** ** **

Abschlußbemerkungen.

Das Buch über „die schrecklichen Kinder“ ist Peter Sloterdijks bestes Buch. Trotz der in diesem Buch enthaltenen vier Fehler (**) habe ich es in meiner Liste der „Top 100 der Bücher ab 1800“ an die dritte Stelle gesetzt (**), wie oben schon erwähnt (**). Wirklich: „dieses Buch hat es in sich“ (Martin Meyer). Seine große Bedeutung liegt nicht nur in der Tatsache, daß in ihm viel Geschichtsphilosophie enthalten ist, was bei allen anderen Werken Sloterdijks auch der Fall ist, sondern in der Aktualität des Themas, was bei fast allen anderen Werken Sloterdijks zwar auch, aber nicht mit derselben Konsequenz der Fall ist. Vielleicht hat diese Tatsache auch mit der globalen Finanzkrise von 2008 (**), die zu einer globalen Staatenkrise - in Verbindung mit Kriegen natürlich - weitergetrieben wurde, zu tun, was nämlich im Falle der hysterischen Reaktion auf Sloterdijks philosophische Reaktion auf eben diese globale Finanzkrise zu einer zweiten unnötigen „Debatte“ (**) von 2009 bis 2010 und möglicherweise deshalb anschließend zu einer Bedenk-, Vorbereitungs- und Bearbeitungzeit für das Buch über „die schrecklichen Kinder“ führte, bevor dieses großartige Werk 2014 veröffentlicht wurde. Wer angesichts solcher Dramatiken ein aktuelles Thema auch im Zusammenhang mit der Zukunft - und sei sie noch so düster und noch so sehr ignoriert - vorlegen will, muß auch das Interesse der Leserschaft angesichts eben dieser Umstände berücksichtigen und entsprechend didaktisch vorgehen und das Lernen in seiner gesamten Bedeutung direkt ansprechen:
„Aufhebung der Korruption wäre das weltliche Gegenstück zur Reue, mit der in christlicher Tradition die Wiederaufrichtung des Menschen nach dem Fall beginnt. Die Aufhebung der Korruption ist der Enstfall des Lernens. Wer ein Lernender ist, häuft nicht bloß Informationen an. Er versteht, daß wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung hat. – Gäbe es in der Kulturtheorie ein Pendant zu dem, was im katholischen Altaraufbau das Allerheiligste verkörpert, es könnte nichts anderes sein als dieser am weitesten heruntergekommene Begriff der Gegenwart: »Lernen«. Im kommenden Jahrhundert sollte man ihn wie eine numinose Präsenz in einem Offenbarungszelt hüten. An seltenen Tagen dürfte man ihn für einige Momente enthüllen. Ist nicht der Verdacht begründet, das Lernen sei der unbekannte Gott, von dem es seinerzeit in einer Anmerkung von seherischer Dunkelheit hieß, nur noch ein solcher könne uns retten (**)?“ (**).
So scheint der Titel meiner Rezension zu passen: „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit sollen endlich lernen!“ (**). Da ich mich immer schon für das Lernen interessiert habe und seit mittlerweile sehr langer Zeit als Lehrer arbeite (**), ist mir ein zum Lernen aufrufendes Buch besonders sympathisch.

Das Lernen und alles damit Zusammenhängende, also die gesamte Bildung, der Betrieb an Universitäten und Schulen und darum ein beträchtlicher Teil unserer Kultur haben so sehr nachgelassen wie noch nie zuvor in unserer Geschichte. Schlimmer noch: Es ist Absicht dahinter. Die Bildungsmisere ist strategisch geplant. Hinter ihr steckt der Nihilismus bzw. der „Hiatus“, um es auf Sloterdijkisch zu sagen. Die Bildungsanstalten sind stets sein erstes Opfer, weil (a) Kinder und Jugendliche leichter zu beeinfussen sind als Erwachsene und (b) außerhalb der Familie Kinder und Jugendliche effektiver in Richtung Nihlismus bzw. Hiatus, Antigenealogismus, Umwertung aller überlieferten Werte u.s.w. zu beeinflussen sind als innerhalb der Familie, denn die Familie soll ja zerstört werden - sie ist einer der wichtigsten unter den überlieferten Werten - und wir wissen, daß sie schon seit langem zerstört wird.

Über Sloterdijks Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ schrieb Götz Kubitschek am 13. August 2014: „Ich halte Sloterdijks Buch für sehr wichtig.“ (Götz Kubitschek, „Peter Sloterdijk :  Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, in :  Sezession, 13.08.2014). Er hielt es sogar für so wichtig, daß er seiner Leserschaft eine Auslosung und anschließende Veröffentlichung der zwei besten Rezensionen anbot. Gabriele Folz-Friedl siegte: „Sloterdijks jüngstes Werk scheint mehr noch als alle seine voraufgehenden einen Nerv getroffen zu haben, was nicht nur Verkaufszahlen, sondern allseits überbordende Rezeptionen beweisen.“ (Gabriele Folz-Friedl, „Peter Sloterdijk :  Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, in :  Sezession, 13.08.2014). Zweiter wurde Peter Niemann: „Das Buch ist lesenswert, absolut lesenswert. .... Das Hintergrundwissen des Autors ist, wie man es von ihm kennt, abgrundtief ... - und das Buch fordert selbst den gebildetesten Leser angsichts des überreichen Wissens- und Wortschatzfundus heraus.“ (Peter Niemann, „Peter Sloterdijk :  Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, in :  Sezession, 13.08.2014). Hoffentlich hat Sloterdijk diese Komplimente richtig verarbeitet (**).
Außerdem ist es so, daß ich Sloterdijks Buch über „die schrecklichen Kinder“ trotz der darin - und auch in seinen anderen Büchern - enthaltenen vier Fehler (**), von denen ich zumindest drei in erster Linie auf Sloterdijks Hang zur Übertreibung zurückführe (**), als ein gelungenes Werk anerkenne, weil Sloterdijk darin erklären kann, warum und wie in lebensphilosophischer Hinsicht die abendländische Moderne das geworden ist, was sie ist, denn er erklärt es aus der Geschichte und besonders aus der Geistesgeschichte (das hat er zwar auch in seinen früheren Werken schon getan, jedoch unter anderen Gesichtspunkten). Nachteilhaft sind lediglich die eben erwähnten vier Fehler Sloterdijks, denen auch die zu den drei der vier Fehler gehörenden Psychologismen und Soziologismen angehören, die also ebenfalls größtenteils als Übertreibungen zu bewerteten sind, wenn nicht sogar zu den Gründen für Übertreibungen zu zählen sind.

„Nach uns die Sintflut“ kann nur sagen, wer entweder schon ein „schreckliches Kind“ ist oder schon weiß, was „schreckliche Kinder“ so alles anrichten. Die historischen Beispiele für „schreckliche Kinder“, die Sloterdijk anführt, überzeugen als solche völlig. Und es läßt sich tatsächlich historisch nachverfolgen, besonders seit dem Hiatus, daß die „schrecklichen Kinder“ immer mehr, immer schrecklicher geworden sind - bis hin zu den bislang schrecklichsten, nämlich diejenigen aus dem Gläubiger-Schuldner-System, die angeblich die „Elite“ bilden.

Über Sloterdijks „zivilisationsdynamischen Hauptsatz“ (**) habe ich mich sehr gefreut, weil er wirklich eine Ergänzung zu den „Thesen Niklas Luhmanns über die Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme in der Moderne (**) durch eine systemhistorische Dimension“ (**) bedeutet. Luhmann hat sich darüber hoffentlich ebenfalls gefreut - auch wenn er schon tot ist (**) -, denn Luhmanns die Menschen nur als Umwelt „kennende“ Kommunikation wird ihm gemäß ja sogar auch nach dem Tod aller Menschen noch kommunizieren (**|**). Die Sprache spricht ewig.

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X = Linkskonservatives.
X = Mittigkonservatives.
 
X X = Links- und Mittigkonservatives;
X = Deckung (Rein-Konservatives).
Wenn Sloterdijk ein Linkskonservativer (**) ist und ich ein Mittigkonservativer (**), dann stimmen wir im „Rein“-Konservativen überein (vgl. auch in den nebenstehenden Abbidungen). 2016 sagte Sloterdijk, als er noch sehr stark unter dem Eindruck der 3. „Sloterdijk-Debatte“ (**) stand: „Es trifft zu, daß Safranski und ich gegen die »Flutung« Deutschlands mit unkontrollierbaren Flüchtlingswellen Bedenken ausgedrückt haben. Aus meiner Sicht bringen unsere Einlassungen eine linkskonservative Sorge um den gefährdeten sozialen Zusammenhalt auf den Begriff. Linkskonservatismus, der meine Farbe ist seit langem, rechnet unter die Nuancen, die in Gefahr sind, im differenzenfeindlichen Klima ausgelöscht zu werden.“ (**). Und: „Wenn man einen gewissen Grad der Teilhabe an sozialen Gütern erlangt hat, entwickelt man ein Bewahrungsinteresse. Der Sozialstaat ist strukturell konservativ-expansiv. Auch der Rechtsstaat lebt davon, daß es in jeder Generation genügend viele Akteure gibt, die ihn erhalten und weiterdenken wollen.
„Tatsache ist, daß die Rendite, also die Rückkehr des Resultats - das ist ja das Wort Rendite in der Sache verstanden -, die Rückkehr des Resultats schneller eintrifft als die neue Generation. Die neue Generation ist immer eine Sache, die 25, 30 Jahre braucht, bevor sie eintrifft in ihrer ganzen Wirklichkeit und Wirkungsmächtigkeit. So lange will der Mensch in der modernen Gesellschafts- und Weltform nicht mehr warten. .... Für eine Generation hat heute niemand mehr Zeit.  –  Und das Ruhrgebiet ist sicher auch eine Landschaft, in der diese Mobilmachung der langsamen Prozesse zugunsten der schnelleren Prozesse sich in exemplarischer Form darstellt.“ (Peter Sloterdijk, Projekte der Ungeduld [Film], 2010 **.)
Ohne Errungenschaftskonservatismus kann ein Gemeinwesen unseres Typs nicht existieren, deshalb habe ich vor kurzem eine Vokabel wie »linkskonservativ« benutzt, um die Gegend zu kennzeichnen, aus der ich argumentiere. Das Echo war bezeichnend: Sobald man daran erinnert, daß gerade die progressiven politischen Systeme, und die Bundesrepublik Deutschland gehört dazu, Bewahrungs- und Abgrenzungsinteressen haben, heftet sich die Meute des abstrakt Universalistischen an deine Fersen.“ (**). Ja, das ist die Argumentation eines Linkskonservativen. Wie sieht nun die Deckung von Linkskonservativem und Mittigkonservativem aus? Ganz einfach: Die Deckung ist das „Rein“-Konservative (siehe „X“ in der drittens der drei nebenstehenden Abbildungen), also das, was das Konservative ohne jede Tendenz ist: das reine Konservative (d.h. ohne linke, mittige oder rechte Tendenz).
„Es gibt nicht wenige Leute - und es sind nicht die dümmsten -, die uns heute darauf hinweisen, daß möglicherweis eine gewisse Demobilisierung, eine Verlangsamung der Renditeerwartung im weitesten Sinn des Wortes - der Resultaterwartung, der Ergebniserwartung -, daß eine Verlangsamung dieser Vorgänge uns möglicherweise besser täte als die immer weiter gehende Beschleunigung des Renditegedankens. Denn die natürliche Grenze ist eben immer die, die durch die Generation gesetzt wird. Und die Generation ist eben der Vorgang, der sich in einem sehr langsamen Umschlag, in einem etwa 25-Jahre-Rhythmus, vollzieht und der etwa viermal in einem Jahrhundert stattfinden kann. Aber der Kapitalist hat nicht Zeit dafür, daß nur viermal in einem Jahrhundert es in der Kasse klingelt, sondern er möchte - wie wir jetzt alle wissen inzwischen - alle Vierteljahre einmal in seine Bücher schauen und möchte, daß es alle drei Monate klingelt.  –  Die kulturelle Weisheit dürfte darin bestehen, daß wir heute diese Option auf Hyperbeschleunigung ... zurücknehmen und uns mit etwas langsameren Rhythmen zufriedengeben.“ (Peter Sloterdijk, Projekte der Ungeduld [Film], 2010 **.)
Als Mittigkonservativer habe ich mit dem Linken überhaupt nichts zu tun, also auch nichts mit der linken Tendenz eines Linkskonservativen wie Sloterdijk. Wenn Sloterdijk sich über das Fehlen des Bewahrungsinteresses beim Sozialstaat beklagt, hat das für den Mittigkonservativen eine etwas andere Wertbedeutung als für Sloterdijk als Linkskonservativen. Den Mittigkonservativen interessiert an erster Stelle das Mittigkonservative, an zweiter Stelle das Konservativmittige, an dritter Stelle das, was sonst noch zum Konservativen gehört, an vierter Stelle das, was sonst noch zum Mittigen gehört, an fünfter Stelle das, was als Konservatives zum Linken oder Rechten gehört, an sechster Stelle das, was als Mittiges zum Linken oder Rechten gehört, an siebter Stelle das, was überhaupt nichts mit dem Konservativen und Mittigen zu tun hat. Man setzt halt Prioritäten. Natürlich setze ich mich als Mittigkonservativer auch mit allen anderen Themen auseinander; aber ich bewerte sie anders als jeder Nicht-Mittigkonservative.
„Der menschliche Konservatismus läßt sich einfach auf Dauer nicht mehr leugnen. .... Ich sage: Im 21. Jahrhundert werden alle Menschen konservativ sein. Und zwar auf Grund der Tatsache, daß wirklich progressiv nur noch die Apparate und die Algorithmen sein werden. Und der Mensch wird als eine alte schwerfällige Biomasse dahinter herkommen als eine ewige Nachhut der Entwicklung.“ (Peter Sloterdijk, Projekte der Ungeduld [Film], 2014 **.)
Es geht hierbei also zumeist um Werte, und Werte haben viel mit Interesse zu tun. Herkunft (Vergangenheit), Abstammung, Überlieferung, Geschichte, Familie, Heimat, aber eben auch die Umwelt, der Planet als unser und aller Lebewesen Daseinsort gehören zu meinen obersten Werten. Das ist bei Sloterdijk dann nicht sehr viel anders, wenn man die Linkstendenz in seinem Konservativsein und die Mittigtendenz in meinem Konservativsein vernachlässigt, also: nur das Rein-Konservative berücksischtigt.

32 Sloterdijk-Bücher (aus dem 20. Jh. 16 [1983-1999], aus dem 21. Jh. 16 [2000-2016]) in einem meiner Bücherschränke
32 Sloterdijk-Bücher in einem meiner Bücherschränke
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Die Motive für die bereits angesprochenen vier Fehler (**) in diesem hier rezensierten und auch allen anderen Werken Sloterdijks führe ich auf die Linkstendenz in seinem Konservativsein zurück, denn es gibt nicht nur Indizien, sondern auch Beweise dafür, daß drei von Sloterdijks Hypothesen - (1.) daß alle Menschen Abendländer seien, (2.) daß die Postmoderne und die Posthistorie bzw. das Ende der Geschichte durchaus schon erreicht sein könnten, (3.) daß die Abendländer (diesmal nicht zufällig nicht als Menschheit verstanden) bis heute unter den Folgen der ihnen von Paulus und noch mehr von Augustinus eingetrichterten bösen Verdunkelungen einer mythologischen Erzählung zu leiden hätten - falsch sind. Wären alle Menschen Abendländer, die Postmoderne und die Posthistorie bzw. das Ende der Geschichte durchaus schon erreicht und die echten Abendländer auch heute noch sehr an der Paulus/Augustinus-Krankheit Leidende, dann wäre das eine große Freude für die Linken - aber eben nicht für andere. Jeder Linkskonservative vertritt schon per Definition mehr das Konservative als das Linke - so wie es die Grammatik des Wortes „Linkskonservativer“ hergibt (**). Also muß auch Sloterdijk mehr das Konservative als das Linke vertreten, und wenn er das nicht tut, dann darf er sich eben nicht einen „Linkskonservativen“ nennen. Zwar sind zumindest drei der vier Fehler zu relativieren, weil Sloterdijk sie selbst hin und wieder insofern korrigiert, als daß er sie relativiert, besonders in Gesprächen; aber in den meisten seiner Bücher sind sie eben enthalten  –  ich habe 32 seiner Bücher gelesen (**), hiervon das letzte 2016.

Ich weiß also, daß Sloterdijk hin und wieder übertreibt und deswegen in Gesprächen nicht selten einige seiner Aussagen relativiert oder sogar verneint. Das sei ihm ja auch gegönnt. Trotzdem wüßten bestimmt nicht wenige aus seiner Leserschaft auch ganz gerne, wann er an welchen Textstellen übertreibt. (**|**). Auf einer der Webseiten Sloterdijks ist die folgende Aussage zu lesen: „Es versteht sich bei diesem Autor von selbst, daß seine Äußerungen im Modus der ironischen Übertreibung auftreten – und als solche gelesen werden müssen“ (Peter-Sloterdijk.net, „Polyloquien :  Ein Sloterdijk-Brevier“). Da diese Aussage auf einer von Sloterdijks eigenen Webseiten zu lesen ist, kann man davon ausgehen, daß er mit ihr einverstanden ist. Das freut mich.

Abendländer sind nach wie vor strikt von Nichtabendländern zu unterscheiden. Die Moderne ist nicht vorbei, sondern lediglich in ihrer Spätphase. Auch ist die Geschichte nicht zu Ende. Und die Abendländer leiden nicht an einer von Paulus und Augustinus verursachten seelischen oder/und geistigen Krankheit, sondern an einer Kulturschwäche, die man „Zivilisation“ nennt und für die die Umwertung ihrer Werte, also der Nihilismus symptomatisch ist. Diese Zivilisation mit all ihren Symptomen war schon angelegt, als von der abendländischen Kultur noch gar nichts zu erkennen war, und wirkte schon zu dieser Zeit wie ein Attraktor in der Zukunft, der auch bei der Entwicklung von Leben eine sehr entscheidende Rolle spielt, d.h. sowohl in der Evolution als auch in der Geschichte. Wenigstens insofern kennt das Leben ein Ziel. Und mit der Kultur ist das überhaupt nicht anders. Was diesen Attraktor angeht, so meine ich - wie Sloterdijk -, daß auch z.B. Jesus, Paulus und Augustinus mit dazu beigetragen haben, auf einen solches Ziel hinzuwirken. Zusätzlich aber meine ich - nicht wie Sloterdijk -, daß dieses Wirken von Jesus, Paulus und Augustinus nicht die übertriebenen Auswirkungen hatte, die Sloterdijks Hypothese unterstellt, sondern lediglich solche, die dazu dienten, daß später, nämlich mit Beginn der abendländischen Moderne bzw. Zivilisation, eine Umwertung aller Werte und also ein Nihilismus sich ereignen kann, so daß es dann kein Wunder mehr ist, wenn tatsächlich z.B. die schrecklichen und besonders die schrecklichsten Kinder eine unter umgekehrten Vorzeichen (wegen der Umwertung) sich offenbarende Ähnlichkeit mit eben Jesus (als Säkular-Jesuisten), Paulus (als Säkular-Paulisten) und Augustinus (als Säkular-Augustinisten) aufweisen, wie ich oben schon erklärt habe (**|**|**). „Wahrscheinlich haben alle Entwicklungen, eben auch geschichtliche, einen Vektorpunkt in der Zukunft, einen Attraktor, der die Prozesse durch mehrere, auch alternative (und an verschiedenen Punkten durchaus wählbare) Rinnen, Bahnen (oder »Chreoden«: C. H. Waddington) auf sich lenkt. Einmal in einem solchen verzweigungsfreien Bahnstück läuft dann alles »wie am Schnürchen« - auch die destruktiven Prozeßschritte.“ (Thomas Hoof **). Darum ist es auch kein Wunder, wenn trotz der langen Zeitspanne aus einem Jesus ein Säkular-Jesuist, aus einem Paulus ein Säkular-Paulist und aus einem Augustinus ein Säkular-Augustinist werden kann. Vertreter des Weltreiches (der civitas terrena oder diaboli **) können auch heiliggesprochen werden - die Voraussetzung für diese (Schein-)Heiligsprechung ist lediglich, daß die entsprechenden Werte umgewertet worden sind.

Engel oder Scheinengel ?        ==>Engel oder Scheinengel ?
Es reicht auch nicht, „die Heiligen durch die Spitzensportler zu ersetzen - und die sündige Mehrheit durch die Zuschauer“ (**), wie es in dem 2000 erschienen Sloterdijk-Buch „Die Verachtung der Massen - Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft“ heißt. Unterstützt wird dann zwar „die moderne Gesellschaft“ (**), die übrigens immer noch unsere moderne Gesellschaft ist, was man gar nicht oft genug sagen kann (**|**|**); doch gerade sie und besonders ihre Herrscher haben es ja nötig, sich zu ändern. „Überdies hatte schon das Christentum die Idee des Heiligen ins Kollektive entwickelt und in der communio sanctorum die Denkfigur jener »christlichen Demokratie« vorbereitet, die in der Moderne zu einer Fraktion unter anderen werden sollte. In ihr ist jene »gute Masse« als Ensemble von gehorsamen Einzelnen vorgedacht, die als die wahre Masse aus revolutionären Kooperateuren in den kanonischen Schriften der Linken wiederkehren sollte. Die Maler der Renaissance haben den Übergang ins homogen Menschliche vorweggenommen, als sie im 15. Jahrhundert damit begannen, die Personen der Heiligen Geschichte ohne die bis dahin obligaten Heiligenscheine darzustellen.“ (**). Damit begann nämlich der Übergang von den Heiligenscheinen zu den Scheinheiligenscheinen.

Ich bin mir leider nicht sicher, ob wir Erfolg haben werden mit der von Sloterdijk angebotenen „Alternative zwischen Hegel versus de-Maistre durch eine geistvolle gewaltkritische dritte Position“ (**) - gewissermaßen eine Synthese in Hegels Sinne -, die Pierre-Simon Ballanche entwickelte, denn: „unter dem Titel »soziale Palingenesie« ersann er eine christliche Geschichtsphilosophie, die auf dem Gedanken des »Fortschritts durch göttliche Prüfungen« beruhte. Sie entwirft die Evolution der Menschheit als Drama der vorzeitlichen Erbsünde und ihrer von der Vorhersehung gewollten, stets erneuerten Entsühnung“ (**). Damit „hatte Ballanche, indem er die Geschichte der Menschheit als permanente Palingenesie, das heißt als ständige Wiedergeburt aus der Verirrung, konzipierte, erstmals das Schema vom Trial and Erorr auf die Ebenen der Zivilisationsgeschichte angewendet, wenn auch noch in penetrant religiöser Codierung. Sein Wiedergeburtsdenken geht von der Einsicht aus, daß Sünder Geschichte machen, indes nur verhärtete Sünder sich weigern, aus ihren Taten zu lernen. Der wahre Fortschritt ist die Sühne des Verbrechers.“ (**). Sloterdijk scheint ja diesbezüglich zuverläsig zu sein, denn Ballanche habe „in seinem Werk über die »soziale Palingenesie, das heißt die Wiedergeburt des lernenden und reuefähigen Geistes bei seinem Gang durch die Generationen, die Grundlagen für eine realistische historische Ethik geschaffen. Es handelt von der permanenten Revolution der schuldhaften Exzesse und ihrer Korrektur durch den Lauf der Dinge: Fortschritt durch Prüfungen ist die einzig glaubhafte Devise in Zeiten evoluionärer Turbulenz. (Vgl. S. 63 [**]). In seinem Gang formiert sich »die Menschheit« als ko-immune Gemeinschaft (zum Begriff Ko-Immunität vgl. Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern - Über Anthropotechnik, 2009, S. 699 [**]) von geschichtlichen Wesen, die sich an ihre Fehler, Irrtümer und Verbrechen erinnern und diese Erinnerungen in kritischen Selbstdefinitionen aufbewahren.“ (**). Ja, Sünder machen Geschichte, aus der Geschichte wissen wir aber auch, daß die Sünder regelmäßig aus der Geschichte nicht lernen, nicht zur Sühne bereit sind, nicht bereit sind, aus ihren Taten zu lernen.

Das Immunologische ist in Sloterdijks Büchern immer ein Thema (**), also auch in seinem 2009 erschienen Buch „Du mußt dein Leben ändern“, in dem es u.a. heißt: „Immunsysteme sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verletzungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Während sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorganismus bezieht, betreffen die beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen, sprich die kooperativen, transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz. Das solidaristische System garantiert Rechtsicherheit, Daseinsvorsorge und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils eigenen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, Kompensation der Todesgewißheit und generationenübergreifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: »Leben« ist die Erfolgsphase eines Immunsystems.“ (**). „Wie das biologische Immunsystem können auch das solidaristische und das symbolische Phasen der Schwäche, ja sogar der Beinahe-Erfolglosigkeit durchlaufen. Solche äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung der Menschen als Labilität des Wertbewußtseins und als Ungewißheit hinsichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusammenbruch ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend.“ (**). Somit gehen die Immunsysteme nicht nur durch die Evolution, sondern auch durch die Geschichte: „Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen.“ (**). Augustinus zufolge ist es dem Menschen nicht möglich, nicht zu sündigen (vgl. „non posse non peccare“). „Der Mensch ist das Lebewesen, das nicht nicht sündigen kann“ (**). Und: „Der Mensch ist ein Lebewesen, das nicht nicht üben kann - wenn üben heißt: ein Aktionsmuster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird.“ (**), so Sloterdijk. Wenn der Mensch nicht fähig ist, nicht zu sündigen und nicht zu üben, wenn er also sowohl sündigen als auch üben muß, dann sollte er sein Sündigen so bekämpfen, indem er weniger das Sündigen als mehr den Kampf gegen das Sündigen übt. Er muß die Sünde so bekämpfen, wie es ihm mittels Übungen möglich ist - und möglich ist ihm bei Übungen ähnlich viel wie beim Sündigen. Somit stehen sich hier zwei Phänomene als Kontrahenten gegenüber. Lange bevor Sloterdijk sein Buch über die „schrecklichen Kinder“ veröffentlichte, hatte er einen schon alten Imperativ sogar als Buchtitel in die Welt gesetzt: „Du mußt dein Leben ändern“, 2009. Man bringt diesen Imperativ und die „schrecklichen Kinder“ am besten zusammen, indem man erkennt, daß dieser Imperativ den schrecklichen und besonders den schrecklichsten Kindern dazu dienen soll, ihre Sünden mit Übungen zu besiegen, nämlich durch Lernübungen, weil ja auch gilt, daß „wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung hat (**). Und das ist gut so. Laßt uns hoffen (oder doch nur beten?), daß die richtigen Übungen möglichst bald den immer nötiger werdenden Erfolg bringen werden. Nur noch das Lernen kann uns retten (**)!

 

© Hubert Brune, 2001 (zuletzt aktualisiert: 2019).

 

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