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Oswald Spengler (1880-1936), Martin Heidegger (1889-1976), Ernst Jünger (1895-1998)
SpenglerSpengler HeideggerHeidegger JüngerJünger

• Versuch einer Dialektik •

Spenglers „These“, Heideggers „Antithese“, Jüngers „Synthese“
Heidegger über Spengler
Jünger über Spengler und über Heidegger

SpenglerSpengler/HeideggerSpengler/JüngerSpengler/Heidegger/Jünger
Spenglers „These“, Heideggers „Antithese“, Jüngers „Synthese“.

Spenglers „These“
- Spenglers Hauptwerk (Zitate)
Heideggers „Antithese“
- Heidegger über Spengler (Zitate)
Jüngers „Synthese“
- Jünger über Spengler und über Heidegger (Zitate)

Spenglers „These“: Spenglers kulturmorphologische Geschichtsphilosophie.

Oswald Spenglers kulturmorphologische Geschichtsphilosophie geht zurück auf die morphologische Lehre Goethes und die willensmetaphysische Philosophie Nietzsches („Wille zur Macht“, „ewige Wiederkehr des Gleichen“, „Übermensch“, „Umwertung aller Werte“, also Nihilimus). Martin Heideggers fundamentalontologisch und seins-/seynsgeschichtlich zu verstehende Existenz(ial)philosophie hat zwar Wurzeln in der Phänomenolgie Husserls, jedoch stecken diese Wurzeln längst nicht so tief und fest im Boden wie die genannten Wurzeln der kulturmorphologischen Geschichtsphilosophie Spenglers - mit anderen Worten: Heideggers Philosophie ist weniger beeinflußt als Spenglers. Ernst Jüngers Werke zeigen einerseits mehr Ähnlichkeit mit der Spenglers als mit der Heideggers, andererseits aber, nämlich besonders im Hinblick auf Jüngers Hauptwerk „Der Arbeiter“, mehr Ähnlichkeit mit der Heideggers als mit der Spenglers. Alle drei haben Großes und Außergewöhnliches geleistet. Heidegger ist der philosphischste unter ihnen. Sein Werk ist wirklich reine Philosophie, weil er von einer der Grundfragen der Philosophie überhaupt ausgeht und sich damit zeitlebens beschäftigt hat, und diese Grundfrage betrifft das Sein. Angesichts der immer philosophieärmer werdenden Moderne kann man Heideggers philosophische Leistung gar nicht hoch genug einschätzen. Er gilt nicht als der größte Philosoph der Geschichte, auch nicht als der größte Philosoph der modernen Geschichte, aber immerhin und ganz sicher als der größte Philosoph eines Teils der modernen Geschichte, nämlich des 20. Jahrhunderts. Diese Würdigung muß sein. Trotz dieser Tatsache ist es nicht unter der entsprechenden Würde, ihn mit weniger philosophisch ausgerichteten, aber dennoch auch als Philosophen zu bezeichnenden Menschen wie Spengler und Jünger zu vergleichen, zumal diese beiden auch Ähnlichkeiten zu Heidegger aufweisen.

Spenglers „Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“ - nicht zufällig der Untertitel seines Hauptwerkes „Der Untergang des Abendlandes“ - haben Spengler auf Grund seiner Forschungen zu der Schlußfolgerung geführt, nämlich eben der, die der Titel seines Hauptwerkes ausdrücken soll: Untergang des Abendlandes. Jedenfalls soll „das konsequente Programm“ (**), das Spengler diesbezüglich genannt hat, hier als Spenglers „These“ verstanden werden:
„Mir schwebt eine rein abendländische Art, Geschichte im höchsten Sinne zu erforschen, vor, die bisher noch nie aufgetaucht ist und die der antiken und jeder andern Seele fremd bleiben mußte. Eine umfassende Physiognomie des gesamten Daseins, eine Morphologie des Werdens aller Menschlichkeit, die auf ihrem Wege bis zu den höchsten und letzten Ideen vordringt; die Aufgabe, das Weltgefühl nicht nur der eignen, sondern das aller Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten überhaupt bisher erschienen und deren Ausdruck im Bilde des Wirklichen die einzelnen Kulturen sind. Dieser philosophische Blick, zu dem die analytische Mathematik, die kontrapunktische Musik, die perspektivische Malerei uns und uns allein das Recht geben, setzt über die Anlagen des Systematikers weit hinausgehend das Auge eines Künstlers voraus, und zwar das eines Künstlers, der die sinnliche und greifbare Welt ringsum sich in eine tiefe Unendlichkeit geheimnisvoller Beziehungen vollkommen auflösen fühlt. So fühlte Dante, so Goethe.“ **
Spenglers „These“ bedeutet also nicht nur Spenglers „rein abendländische Art, Geschichte im höchsten Sinne zu erforschen, ...“ und auch nicht nur seine „Aufgabe, das Weltgefühl nicht nur der eignen, sondern das aller Seelen zu durchdringen, ... deren Ausdruck ... die einzelnen Kulturen sind“, sondern bedeutet eben auch, daß der „philosophische Blick“ durchaus als Anspruch auf Philosophie und Spengler, als Morphologe und Physiognomiker „über die Anlagen des Systematikers weit hinausgehend“, mit seinem philosophischen Blick folglich auch als ein über „das Auge eines Künstlers“ verfügender Philosoph gedeutet werden darf.

Also auch unabhängig davon, daß Spengler einmal gesagt haben soll, die Philosophie um ihrer selbst willen zu verachten, muß der Aspekt, daß Spengler sein Hauptwerk durchaus als Philosophie verstanden hat, berücksichtigt werden.

Begrüßenswert ist Spenglers Absicht, „die Geschichte ... vom persönlichen Vorurteil des Betrachters zu lösen, das sie in unserem Falle wesentlich zur Geschichte eines Fragments der Vergangenheit mit dem in Westeuropa festgestellten Zufällig-Gegenwärtigen als Ziel und den augenblicklich gültigen Idealen und Interessen als Maßstäbe für die Bedeutung des Erreichten und zu Erreichenden macht – das ist die Absicht alles Folgenden“ (**). Ob eine solche Absicht völlig verwirklicht werden kann oder nicht, wird hier nicht gesagt, ist aber eine entscheidende Frage, wenn es nicht nur um die Philosophie bzw. den Ästheten mit dem philosophischen Blick und dem Auge des Künstlers, sondern besonders auch um diejenigen Wissenschaftdisziplinen gehen soll, die von Objektivität im Sinne davon, sich stets „vom persönlichen Vorurteil des Betrachters zu lösen“, zwar auszugehen vorgeben, dies aber spätestens seit der Zeit, als sie sich von anderen Interessen abhängig machten, nicht mehr garantieren können, geschweige denn sagen können, inwiefern denn eine Subjekt-Objekt-Beziehung wirklich gewährleisten kann, daß das Objekt nicht vom Subjekt mißbraucht wird.  –  Haben Sie bemerkt, daß wir uns Heidegger nähern?


Heideggers „Antithese“: Verneinung der „These“ Spenglers.

Heidegger über Spengler

Heideggers Schwerpunkte und Wirkung
Heidegger
Heideggers „Antithese“ in ihrer phänomenologisch-fundamentalontogischen Version (siehe Abbildung rechts [**]) besagt, daß „die Weise, wie eine Zeit (das jeweilige Heute) die Vergangenheit (ein oder sein vergangenes Dasein) sieht und anspricht, behält und aufgibt, ... das Anzeichen dafür, wie eine Gegenwart zu ihr selbst steht, wie es als Dasein in ihrem »Da« ist“ (**), sei. Dieses Kriterium selbst sei „nur eine bestimmte Formel für einen Grundcharakter der Faktizität, ihre Zeitlichkeit“ (**). „Die Standart unseres Heute zur Vergangenheit kann sich an den historischen Geisteswissenschaften bewähren“ (**). Nun repräsentiert Heidegger zufolge „Spengler ... das heutige geschichtliche Bewußtsein“ (**), die Fachwissenschaft sei zusehends mehr unter den Einfluß Spenglers“ (**) gekommen, „die historischen Geisteswissenschaften merken nicht, daß sie sich an einer ganz bestimmten Möglichkeit ihrer selbst, d.h. der Kunstgeschichte, vergreifen, d.h. in der Nachäffung dieser sich eine höhere »Geistigkeit« geben, statt wie diese jeweils sich auf ihren eigenen Gegenstand, seinen Seinscharakter und die angemessene Zugangs- und Bestimmungsmöglichkeit zu besinnen“ (**). Die Nachäffung der Kunstgeschichte sei „ein Mißbrauch dieser, d.h. eine Geringschätzung, d.i. ein Mißverstehen“ (**). Diese Sätze zur heutigen Ausgelegtheit des Heute wurden 1923 veröffentlicht. 1929 erschienen Sätze zur Weckung der Grundstimmung: „Vier Deutungen unserer heutigen Lage: der Gegensatz von Leben (Seele) und Geist bei Oswald Spengler, Ludwig Klages, Max Scheler, Leopold Ziegler.  –  Also eine Gundstimmung wecken! Sogleich erwächst die Frage: Welche Stimmung sollen wir wecken bzw. in uns wachwerden lassen? Eine Stimmung, die uns von Grund aus durchstimmt? Wer sind wir denn? Wie meinen wir uns, wenn wir jetzt »uns« sagen?“ (**). Und: „Die bekannteste und kurze Zeit erregende Deutung unserer Lage ist diejenige geworden, die sich ausdrückt in dem Schlagwort »Untergang des Abendlandes« (O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Band 1, 1918, Band 2, 1922). Das Wesentliche ist für uns das, was als Grundthese dieser »Prophezeiung« zugrundeliegt. Es ist - auf eine Formel gebracht - dieses: Untergang des Lebens am und durch den Geist. Was der Geist, zumal als Vernunft (ratio), sich bildet und geschaffen hat in der Technik, Wirtschaft, im Weltverkehr, in der ganzen Umbildung des Daseins, symbolisiert durch die Großstadt, das wendet sich gegen die Seele, gegen das Leben und erdrückt sie und zwingt die Kultur zu Niedergang und Verfall.“ (**). Kein Wunder also, daß Heidegger sich mit seiner Kritik an den Verhältnissen seines „Heute“ auf Spengler beziehen mußte, der dieses „Heute“ ja schon seit dem Erscheinen des ersten Bandes seines Hauptwerkes maßgeblich mitbestimmte. Auch kein Wunder, daß gemäß Heidegger „Nietzsche die Quelle für die genannten Deutungen ist“ (**) und „die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung der kulturphilosophischen Deutungen unserer Lage“ (**) zu deuten ist.

Heideggers Schwerpunkte und Wirkung
Heidegger
Heideggers „Antithese“ in ihrer seins-/seynsgeschichtlichen Version (siehe Abbildung rechts [**]) bezieht ihre Argumente zwar immer noch, jedoch nicht mehr ganz so sehr wie vorher aus der Phänomenologie und Fundamentalontologie (**), sondern mehr aus dem sich aus Heideggers Erforschungen der Seins-/Seynsgeschichte ergebenden „anderen Anfang“ (**). (Beachte: Beide Versionen gehören zusammen, sind von Heidegger bis an sein Lebensende vertreten worden!) „Welche Offenbarung war es vor zwei Jahrzehnten (1918) für die Menge derer, die mit dem wirklichen Denken und seiner reichen Geschichte unvertraut sind, als Spengler erstmals entdeckt zu haben glaubte, daß jedes Zeitalter und jede Kultur ihre eigene Weltanschauung haben! Gleichwohl war alles nur eine sehr geschickte und geistreiche Popularisierung von Gedanken und Fragen, die längst - und zuletzt von Nietzsche - tiefer gedacht, aber keineswegs bewältigt wurden und bis zur Stunde nicht bewältigt sind. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie schwerwiegend und schwer zu durchdenken. - Bei all diesem Für die Vermenschung und Wider die Vermenschung glaubt man nämlich im voraus zu wissen, was der Mensch sei, von dem diese handgreifliche Vermenschung herkommt. Man vergißt, diejenige Frage zu stellen, die zuvor entschieden sein muß, wenn das Bedenken der Vermenschung ein Recht und wenn die Widerlegung dieses Bedenkens eine Sinn haben soll. Von Vermenschung zu reden, ohne entschieden, d.h. gefragt zu haben, was der Mensch sei, ist in der Tat ein Gerede und bleibt dieses auch dann, wenn es zur Veranschaulichung die ganze Weltgeschichte und die ältesten Kulturen der Menschen vorführt, die niemand nachzuprüfen vermag.“ (**). Wieder hat Heidegger Spengler auf Nietzsche reduziert. Am schärfsten ist Heideggers Kritk an Spengler in den erst postum veröffentlichten Überlegungen VIII, die wahrscheinlich entweder 1938 oder 1939 geschrieben wurden. „Spengler - in ihm wird Nietzsches Umkehrung des Platonismus zur bloßen Herrschaft der bloßen »Tatsache« gegenüber der Ohnmacht der »Wahrheiten«, als welche er »Allgemeinheiten« des bloßen Meinens nimmt. Die Verherrlichung der »Tatsache«, die vielleicht die ödeste und zugleich blindeste »Romantik« darstellt, die für Spengler das Verächtlichste ist, führt zum letzten Austrag der Anpreisung des Römertums und Cäsarismus - der halbseitige Nietzsche, nur historischer und entschiedener als jener biologisch-sumpfige von Klages. Ein fruchtloses Beginnen bliebe es, Spengler auf seine Selbstwidersprüche abzusuchen. Seine Blindheit gegen das, was seinen Darlegungen (und angeblichen »Erfahrungen«, die doch auch nur der historischen »Literatur« entnommen sind) gleichwohl die anstößige Kraft gibt, läßt sich dadurch nicht beseitigen. Er kann nur als das genommen werden, als was er nach seiner eigenen »Lehre« genommen werden muß, als eine Erscheinung seines Zeitalters, das er freilich nur in seiner »Perspektive« sieht, die er für die »absolute« hält.“ (**). „Kann je einer von der Geschichte wissen und gar über sie verbindlich sprechen wollen, dem der Mensch eine »zoologische Größe« ist? (Nicht »der Mensch«, sondern »die Menschheit« war für Spengler eine »zoologische Größe«; HB.) Geschichte und der Vorrang der Unwahrheit der historischen Erklärung: man kann immer mithilfe von sogenannten »Tatsachen« zeigen, daß »große historische Ereignisse« »Künstler« und »Denker« beeinflußt und zu »Werken« geführt haben; man kann nie in der entsprechenden Weise »zeigen«, daß die Vollzieher jener Ereignisse nur durch Dichter und Denker möglich wurden. Also: ist deren Nachträglichkeit, wenn nicht gar Überflüssigkeit erwiesen. Allerdings. Aber für wen? Für jene, die meinen, Geschichte lasse sich erklären durch »Tatsachen«.“ (**). „Der »Sinn« ist die Wahrheit, darin je das Seiende als ein solches ruht. Der »Sinn« der Geschichte aber ist das Wesen der Wahrheit, darin jeweils das Wahre der Zeitalter der Menschentümer gegründet bleibt. Was das Wesen des Wahren sei, erfahren wir nur aus dem Wesen der Wahrheit, die je ein Wahres das Wahre sein läßt, das es ist.“ (**). „Wenn wir aber schon von »untergegangenen« Völkern und vom »untergegangenen« Griechentum reden, was wissen wir denn vom Wesen des geschichtlichen Untergangs? Wie, wenn der Untergang des Griechentums jenes Ereignis wäre, wodurch das anfängliche Wesen des Seins und der Wahrheit in seine eigene Verborgenheit zurückgeborgen und damit erst zukünftig wird? Wie, wenn »Untergang« nicht Ende, sondern Anfang sein müßte? Jede griechische Tragödie sagt den Untergang. Jeder dieser Untergänge ist ein Anfang und Aufgang des Wesenhaften. Wenn Spengler, ganz im Gefolge der Metaphysik Nietzsches und diese überall noch vergröbernd und verflachend, vom »Untergang des Abendlandes« redet, dann redet er nicht und nirgends von der Geschichte. Denn er hat im voraus die Geschichte zu einem »biologischen Prozeß« herabgewürdigt und aus der Geschichte ein Gewächshaus von »Kulturen« gemacht, die pflanzenhaft gedeihen und verkümmern. Spengler denkt, wenn er überhaupt denkt, die Geschichte geschichtslos. Er versteht »Untergang« im Sinne des bloßen Zuendegehens, d.h. als biologisch vorgestellte Verendung. Tiere »gehen unter«, indem sie verenden. Geschichte geht unter, sofern sie in der Verborgenheit des Anfangs zurückgeht -, d.h. sie geht, im Sinne der Verendung gedacht, deshalb gerade nicht unter, weil sie so nie »untergehen« kann. Wenn wir hier zur Aufhellung des daimonion das Wesen des griechischen Göttertums andeuten, dann meinen wir nicht antiquarische Sachen und nicht Gegenstände der Historie, sondern Geschichte. Es ist das Ereignis der Wesensentscheidung des Wesens der Wahrheit, welches Ereignis stets das Kommende ist und nie das Vergangene. Im Vergessen aber sind wir am härtesten an das Vergangene verknechtet.“ (**).  –  Das hat gesessen! Oder?

Bezüglich Heideggers Kritiken (**) an Spengler fällt auf, daß Heidegger in seiner ersten veröffentlichten Spengler-Kritik (1923) kaum Negatives, sondern eher Neutrales und Positives über Spenglers Hauptwerk gesagt hat, was größtenteils auch noch für seine nächsten beiden veröffentlichten Spengler-Kritiken (1929 und 1930) gilt, und daß er aber in seinen später veröffentlichten Spengler-Kritiken (1936-’39, 1938/’39, 1942/’43) dieses Verhältnis umgekehrt, ja mehr als umgekehrt zu haben scheint, nämlich kaum Positives, sondern etwas Neutrales und sehr viel Negatives über Spenglers Hauptwerk gesagt hat.

Wie ist es zu diesem Wechsel gekommen?

Heidegger fing Mitte der 1930er Jahre an, sich intensiver als zuvor mit Nietzsche auseinanderzusetzen - eine Auseinandersetzumg, die bis 1946 andauern sollte - und sagte öffentlich, daß das meiste von dem, was Spengler in seinem Hauptwerk sage, von Nietzsche stamme, daß also im Grunde in Spenglers Hauptwerk Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen und damit der vollendete, aber eben nicht überwundene Nihilismus spreche.

Nietzsche hat ja, entgegen seiner Behauptungen, seines Willens, seines Wunsches, den Nihilismus nicht überwunden - ebenfalls hat Nietzsche die Metaphysik nicht überwunden und sich auch nie ganz von Schopenhauer und Wagner trennen können.

Wenn man aber Spengler nur als Nietzscheaner deutet, dann nimmt man seinem Hauptwerk etwa 70%, jedenfalls mehr als 50%; denn Spenglers Hauptwerk geht in erster Linie auf Goethe zurück. Die vergleichende Methode (vgl. z.B. Analogie und Homologie) als das Wichtigste an Spenglers Geschichts- und Kulturphilosophie geht zurück auf jene Morphologie, wie sie Goethe entwickelt hat.


Jüngers „Synthese“: Verneinung der „Antithese“ Heideggers durch Bejahung der „These“ Spenglers.

Jünger über Spengler und über Heidegger

Jüngers „Synthese“ besteht nicht so sehr in einer unmittelbaren als in einer mittelbaren Verneinung der „Antithese“ Heideggers, und die Mittelbarkeit besteht in der ziemlich starken Bejahung der „These“ Spenglers. Jedoch hat Heidegger recht, wenn er sowohl Spengler als auch Jünger im Gefolge von Nietzsche sieht, und zwar selbst dann, wenn dies zu relativieren ist, und es ist zu relativieren, wenn auch nicht so sehr und die beiden entschuldigt sind, weil keiner der beiden ein so großer Philosoph wie Heidegger ist (**). „Ernst Jüngers Werk »Der Arbeiter« hat Gewicht, weil es auf eine andere Art wie Spengler, das leistet, was bisher alle Nietzsche-Literatur nicht vermochte, nämlich eine Erfahrung des Seienden und dessen, wie es ist, im Lichte von Nietzsches Entwurf des Seienden als Wille zur Macht zu vermitteln. Freilich ist damit Nietzsches Metaphysik keineswegs denkerisch begriffen, nicht einmal die Wege dahin sind gewiesen; im Gegenteil: statt im echten Sinne fragwürdig, wird die Metaphysik selbstverständlich und scheinbar überflüssig.“ (**). Heidegger sähe in Spengler und Jünger sicherlich lieber Heideggerianer als Nietzscheaner, was man nur begrüßen kann, obwohl gerade Spengler und Jünger es durchaus vermocht haben, eigene „Ianer“ um sich zu sammeln: Spenglerianer und Jüngerianer.

„Wir können ... Oswald Spengler nicht zustimmen in seiner Aufforderung an die neue Generation: sich der Technik statt der Lyrik, der Marinie statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntnistheorie zuzuwenden« - obwohl man gewiß vorm Sprung das Überflüssige ablegen muß. Wir alle haben es, mehr oder weniger widerstrebend, gemußt.“ (**). Jünger setzt hier also zwar ein „Obwohl“ dazu, ist aber doch der Meinung, die ihn eher auf der Seite Heidgegers als auf der Seite Spenglers vermuten läßt. Auch das spricht für Jünger als „Synthetiker“ in diesem Fall, denn gemäß Hegels Dialektik werden ja sowohl die These als auch die Antithese nicht beseitigt, sondern lediglich aufgehoben (**).

Jünger zufolge „ist Spenglers Geschichtsbild, vor allem hinsichtlich der Kulturprognose, mit Recht pessimistisch. Es führt von der Vorstellung der linearen und eo ipso aufsteigenden Entwicklung zu zyklischen Konfigurationen zurück. Dadurch übt es großen und wachsenden Einfluß aus.  –  Daß auch dieses Geschichtsbild letzthin nicht befriedigt, berührt eine der Schattenseiten seiner Vorzüge. Es ist ein organisches Geschichtsbild: die Kulturen werden in ihm gezeichnet als mächtige Bäume; ihr Leben wird verfolgt vom unbewußten Keim bis zur bewußten Reife und zum Tode, den ein langes Absterben einleitet. Sie sind nicht weiter ausdeutbare Urbilder. Sie haben »keine Fenster«, wie Leibniz von der Monade sagt. Im Anblick endet die Frage nach dem Warum. Wir fragen auch nicht, warum ein Baum an einer bestimmten Stelle wächst und alt wird und warum dieser Baum gerade ein Ahorn oder eine Linde ist, obwohl zwischen Art und Standort Relationen in Menge bestehen.  –  Zuweilen verstärkt sich dieser Eindruck, wie beim Gang über eine Wiese, auf der Pilze in großen Individuen oder auch in Ringen aufwachsen und über Nacht vergehen. Der Anblick läßt fragen: Was war der Anflug, wo kommen die Sporen her?  –  Die Weltgeschichte wird so zu einer Reihe von Auftritten, die einander nach unerklärlichem Belieben folgen und ohne inneren Zusammenhang. Das Verbindende liegt in der Periodizität der Abläufe und ihrer morphologischen Ähnlichkeit, die der physiognomische Blick erfaßt. Da wird auch Bedeutendes und Überraschendes gesehen, und zwar in einer Fülle, die sogleich verrät, daß es sich weniger um neue Funde handelt als um eine neue Optik, einen neuen Blick.“ (**). „Wenn Spengler in der Einleitung zu seinem Hauptwerk sagt: »Das Mittel, lebendige Formen zu erkennen, ist die Analogie«, so rührt er damit das Wesen der physiognomischen Methodik an. Durch den Analogieschluß läßt sich in der Tat viel erreichen, unter anderem die Erfassung und Ordnung historischer Figuren unter der bloßen Oberflächenähnlichkeit der zeitlichen Gewänder und ferner die Einsicht in noch bevorstehende Abläufe aus der Kenntnis der Periodizität heraus: als Voraussage. Hier gewinnt der physiognomische Instinkt des Hinzutretenden prophetische Kraft.“ (**). Welch eine Ähnlichkeit!

„Zu den Verdiensten Spenglers gehört, daß er eine Generation vom Vorurteil der Einmaligkeit, der Einzigartigkeit ihrer historischen Erscheinung und ihrer historischen Lage befreit hat, von jener Vorstellung des Niedagewesenen, wie sie besonders mit der Entwicklung der Technik und ihren überraschenden Phänomenen verbunden war.  –  Insofern verrät sein vergleichender Blick, etwa auf ein Fußballstadion von 1914 oder die Feststellung, daß es sich bei dem Weltkrieg nicht um eine der üblichen Auseinandersetzungen zwischen Völkern handelte, sondern um den Typus einer Zeitwende, die seit Jahrhunderten ihren vorbestimmten Platz hatte, eine Lagebeurteilung, die dem bloßen Wechsel der Prospekte innerhalb des historischen Bewußtseins weit überlegen ist. Das war von besonderer Wirkung zu einem Zeitpunkt, da seit langem die philosophische, vor allem die erkenntniskritische, Disziplin aus den Einzelwissenschaften geschwunden war, gewichen der Überschätzung empirischer Abläufe und experimenteller Phänomene - von theologischen Erwägungen ganz abgesehen.“ (**). „Spengler hat ohne Zweifel einen Turnus erfaßt, obwohl, wie gesagt, sein pluralistisches Bild in letzter Instanz nicht befriedigen kann. Es war daher vorauszusehen, daß es an Versuchen nicht fehlen würde, die Einheit der Weltgeschichte in der Betrachtung wiederherzustellen. Das wird der Geschichtschreibung aus eigenen Mitteln nicht möglich sein, wie es ihr auch niemals möglich gewesen ist. Sie muß dazu einen außerhalb der Geschichtswelt gelegenen archimedischen Punkt finden, sei es in der Theologie, sei es in der Metaphysik, sei es in der Materie.  –  Der morphologischen Feststellung, die auch in unserem Zeitalter Wiederkehrendes erblickt, kann nur mit Einschränkung zugestimmt werden - insofern nämlich als, falls es sich um Wiederkehrendes handelt, der Turnus der historischen Zyklen dafür zu kurz ist und somit unsere geschichtliche Erfahrung zum Wiedererkennen nicht genügt.“ (**). Diese kleine „Einschränkung“ stellt keineswegs eine Verneinung, sondern lediglich einen Verbesserungsvorschlag der von Jünger bejahten „These“ Spenglers dar.

„Es bleibt aber evident, daß über die Möglichkeit des morphologischen Vergleichens und Wiedererkennens hinaus neuartige Elemente eintreten. Das läßt vermuten, daß zugleich mit dem historischen Turnus eine Spanne abgelaufen ist, die seinen Maßstab übergreift.  –  Man kann sich das durch Zahlen veranschaulichen: Zugleich mit einem Jahrzehnt kann ein Jahrtausend, ein Jahrzehntausend oder ein noch größerer Turnus abgelaufen sein. Will man es räumlich sehen, so kann man sich vorstellen, daß ein Grenzbewohner mit einem Schritte sowohl aus seinem Zimmer wie aus seinem Hause und sogar aus seinem Lande heraustreten kann.“ (**). „Sollte etwa der Einschnitt, der so offensichtlich unsere Jahre zeichnet, nicht nur zwei Epochen menschlicher Geschichte trennen, sondern zugleich sowohl den Ablauf als auch den Beginn eines größeren Zyklus ankünden? Das würde bedeuten, daß selbst zur Erfassung grober Fakten die Mittel der Geschichtsbetrachtung nicht ausreichen. Das würde bereits der Fall sein, wenn es sich um einen verhältnismäßig kleinen Zyklus, etwa von zehn- oder zwanzigtausend Jahren, handelte. Ein solcher Zyklus ist winzig, verglichen etwa mit einem indischen Götterjahr oder auch mit den Abläufen, die unsere Astronomie, Geologie oder Paläontologie berücksichtigen.  –  Ferner: Gab es immer, solange Menschen auf der Welt sind, Weltgeschichte in unserem Sinn? Ohne Zweifel nicht, da wir von Vor- und Urgeschichte sprechen, die wir entweder aus unserer Geschichtsbetrachtung ausklammern oder als Vorsaal in sie einbeziehen.“ (**).

„Der Mechanismus des Unterganges wird verschieden gesehen – es ist viel Temperamentssache dabei. Die Neptunisten haben andere Vorstellungen als die Plutonisten; im Ergebnis ist kein großer Unterschied. Die Unterhöhlung, etwa durch Auslaugung oder Auswaschung, kann lange unbemerkt bleiben. Wenn sie genug gewirkt hat, kommt es zum Einsturz, zur Katastrophe von tektonischer Gewalt. Nun sucht man die Schuldigen und hält sich an Strohmänner.  –  Die Untergangsvorstellungen anläßlich des Erscheinens des Halleyschen Kometen, 1910 .... Der Schock, den zwei Jahre später der Untergang der »Titanic« hervorrief .... Um diese Zeit muß Spengler den Satz konzipiert haben: »Der Untergang des Abendlandes ist nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation.« Seitdem hat sich die Bedrohung durch die technische Katastrophe immer enger dem Bewußtsein der Völker und der Einzelnen verknüpft. Ununterbrochen ist die Zahl der Opfer angewachsen, die so gebracht werden. Auch kollektive Vorgänge wie Kriege, Bürgerkriege und Großexperimente nehmen die Form der technischen Katastrophen an. Da liegt es nahe, daß auch der Weltuntergang in dieser Form begriffen wird“ (**). „Die grauenvollste Aussicht ist die der Technokratie, einer kontrollierten Herrschaft, die durch verstümmelte und verstümmelnde Geister ausgeübt wird.“ (**).

„Die Verfeinerung von Darwins Anschauung, der Einbau von neuen Elementen in ihr Gerüst, betrifft im wesentlichen nicht den Stammbaum als solchen, sondern seine Verzweigung und ihren Periodus. Hier wirkt offenbar ein ähnlicher Wechsel der Auffassung wie jener, der Spenglers Geschichtsbild zugrunde liegt. Er betrifft weniger die Inhalte als den Wandel ihrer Abläufe. Hier wie dort fällt die Anwendung von Vergleichen auf, die dem vegetativen Leben entnommen sind. Die Pflanze folgt sichtbarer den kosmischen Bewegungen, hat feinere Organe für ihre Abläufe als Mensch und Tier. Fechner hat das vorzüglich beobachtet.  –  Daß dieser Wechsel der Anschauung sich alten Universaltheorien zu nähern scheint, geschichtsphilosophisch Herderschen, zoologisch Cuvierschen Auffassungen, ist nicht als Rücklauf zu betrachten, sondern gehört zu den Erscheinungen des Spiralganges, der das Fortschreiten des menschlichen Denkens kennzeichnet. Die großen Ideen wiederholen sich in stets erneuter Abwandlung und folgen damit einem Grundprinzip der organischen Bildung überhaupt, wie denn auch Einzelorgane, etwa Flossen und Flügel, aus den verschiedensten Stämmen immer wieder hervortreiben.“ (**).

„Der Untergang des römischen Reiches hat ja von jeher als Schulbeispiel gedient. Es gibt allerdings eine Reihe von Merkmalen, die übereinstimmen: Cäsarismus, Bedrohung des Bauernstandes, Latifundienwirtschaft, Sittenverfall, wachsende Konzentration und Unwiderruflichkeit der großen Entscheidungen, hellenistische Kunstwerke und technische Großbauten; das sind Gesichtspunkte. Verändert sich jedoch der Standort des Beobachters um ein Geringes, so eröffnen sich Perspektiven, die durchaus nicht in Spenglers System passen. Hier tauchen nicht weniger zwingende Anzeichen einer Frühzeit auf. Daß Rußland, dessen Stand er dem des Reiches Karls des Großen vergleicht, auszuklammern sei, hat Spengler scharfsichtig bemerkt. Es handelt sich indessen nicht um regionale Unterschiede, sondern um das Auftreten eines neuen Typus, der die Nationen und selbst die Rassen formt. Dem entspricht auch das herrschende Welt- und Lebensgefühl, der wachsende Optimismus des Arbeiters, sein theoretisch so dürftig gestütztes Vertrauen auf seine zeitwendende Macht, das dennoch von Grund auf berechtigt ist und prognostischen Wert besitzt.“ (**).

„Für die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts sagt Spengler schwere Kämpfe zwischen Weißen und Farbigen voraus .... Heute, nach dreißig Jahren, ist nicht zu leugnen, daß sich in diese Visionen konkrete Züge einzeichneten. Was in Afrika, vom Nordrand bis zur Südspitze, in Ost- und Südasien, in Nord- und Südamerika in so kurzer Spanne geschah und geschieht - in China, Algerien, Indien, Ägypten, am Kongo, auf Kuba, um einige Brennpunkte zu nennen - das geht weit über eine Reihe von Aufständen und Befreiungskämpfen hinaus. Das Feuer, das nicht mehr, und vor allem nicht mit Blut, zu löschen ist, greift indessen auch über den Gegensatz von Weißen und Farbigen hinaus. Es trägt alle Kennzeichen des Weltbrandes. Nicht diese oder jene Rasse, die Spezies wird in Frage gestellt. Diesen seinen wahren Umfang, aus dessen Kenntnis allein nicht nur richtige Schlüsse, sondern auch Entschlüsse, Entscheidungen, zu gewinnen sind, hat Spengler nicht gesehen. Er konnte ihn nicht sehen und würde, wenn er noch lebte, heute weniger denn je dazu imstande sein. Er sah Symptome, und da diese sich inzwischen krisenhaft verstärkten, würden sie ihm die Diagnose bestätigen. Wenn ein so scharfsinniger Kopf den Umfang eines Phänomens verkennt, so kann das nicht an seiner Intelligenz, es muß an seiner Position liegen. Er gleicht dem Jäger auf seinem Anstand, von dem aus er die Ungeheuer früher als die meisten anderen auftauchen sieht und mit passionierter Schärfe erkennt. Aber sie ziehen in ungeahnter Richtung vorbei und verlieren sich in unerforschten Dickichten. Trotzdem wurde ein Abschnitt der großen Jagd in ungewöhnlichem Denkstil erfaßt. Das gilt auch für Spenglers System. Die Kulturen werden im Nach- und Nebeneininder gesehen, nicht aber, wie von Herder, Goethe, Hegel, architektonisch und symphonisch oder, wie von Nietzsche, als Ouvertüre eines neuen Weltalters. Entscheidung, Kampf um die Vormacht, Zeitalter der kämpfenden Staaten - das alles ist nicht der Sinn; es sind die Wehen, in denen die Erde eine ihrer großen metahistorischen Phasen abschließt und eine andere beginnt. Dann werden die Grenzen fallen und auch räumlich »Orient und Okzident ... nicht mehr zu trennen« sein.“ (**).

 

Wozu eine solche Dialektik?

Es ist nicht nur so, daß Spenglers Philosophie und Jüngers Philosophie Ähnlichkeiten aufweisen, sondern auch so, daß beide mit Heideggers Philosophie, wenn auch weniger, Ähnlichkeiten haben. Der Grund dafür, daß Heidegger einigermaßen herablassend über Spenglers Philosophie geurteilt hat, ist einerseits die unbestrittene philosophische Größe, die der körperlich kleine Heidegger erreicht hat und die die beiden anderen eben nicht erreicht haben, und andererseits die Art und Weise, wie Heidegger, der von bestimmten anderen Menschen auch als „Denkwebel“ verspottet worden ist, „Abweichler“ zu „bestrafen“ scheint, als wären sie „Fahnenflüchtige“ und er die „Mutter der Kompanie“ gewesen, obwohl er in Wirklichkeit einfach nur davon überzeugt gewesen ist, daß an seiner Philosophie - und das bedeutet in erster Linie: an der Seinsfrage - kein Weg vorbeiführen kann und folglich davon Abweichende auf dem falschen Weg Herumirrende nur sein können.

Eintracht Einfluß auf Peter Sloterdijk
Wer als Grund nur die Wahrheit, das Sein bzw. den Versuch zur Beantwortung der Seinsfrage gelten läßt, der ist ein Philosoph und vor allem, wie Heidegger jetzt sagen würde, ein Denker. Ihm zufolge ist die Geschichte der Wandel des Wesens der Wahrheit, die Seinsgeschichte. So jemand kann einen anderen Weg des Philosophierens bzw. Denkens nicht zulassen. Das ist völlig klar. Darum noch einmal: Hut ab vor Heideggers Leistung! Er hat oft genug erklärt, warum er so und nicht anders vorzugehen gedenkt und dann auch vorgeht. Von daher ist seine Kritik an Spengler berechtigt.
Martin Heidegger
Aber Spengler hat eben einen ganz anderen Ansatz versucht - aus Heideggers Sicht einen auf Nietzsches Metaphysik zurückgehenden nihilistischen Ansatz, und gemäß Heidegger ist unsere Metaphysik seit ihrem Anfang, also seit Platon, der sie begründet hat, und bis Nietzsche (einschließlich) ein Nihilismus, nämlich ein Platonismus, zu dem auch der von Nietzsche angestrebte „umgekehrte Platonismus“ gehört. Auch damit hat Heidegger wohl recht; doch bleibt da noch Spenglers von Goethe geerbte morphologische Methode, die Spengler zufolge für dessen Ansatz sehr viel wichtiger ist als Nietzsches „Fragestellungen“ und „Augenblick“, aus dem er - Spengler - „einen Überblick gemacht“ habe (**|**); aber auf diesen Hinweis Spenglers ist Heidegger gar nicht eingegangen, weil es ihm zufolge auf die Wahrheit bzw. das Sein, und zwar zunächst phänomenologisch, dann fundamentalontologisch und zuletzt seins- bzw. seynsgeschichtlich, ankommt und dafür keinerlei Morphologie benötigt wird. Zu Spenglers Lebzeiten reagierte Heidegger noch nicht so gelassen, wie er es später - als Spätdenker - tun sollte.

Entschlossenheit und Gelassenheit Heidegger

Allein die Tatsache, daß Spengler, Heidegger und Jünger in der Zeit, um die es hier hauptsächlich geht - nämlich die, in der die philosophischen Hauptwerke dieser drei erarbeitet wurden und anschließend erschienen: von 1911 (als Spengler mit dem Schreiben seines Hauptwerkes anfing [**]) bis 1932 (als Jüngers Hauptwerk erschien) -, ähnliche Erfahrungen gemacht und ähnliche Folgerungen daraus gezogen haben, zeigt eine Gemeinsamkeit. Auf ähnliche Weise nämlich erlebten und beurteilten die drei das Vorspiel zum 1. Weltkrieg, den 1. Weltkrieg, der zumindest aus deutscher Sicht völlig unnötig und deshalb auch von Deutschen nicht gewollt war (Deutschland war schon seit langem in allem Weltmeister, es hatte keine Schulden, dafür Studierende aus aller Welt, Deutsch war seit langem und blieb noch bis zum Ende der 1950er Jahre die führende Wissenschaftssprache [**|**]), die Revolution und in Reaktion darauf die Konservative Revolution während der Weimarer Republik, auch das „Weimarer Symptom“ oder schlicht „Das System“ genannt.

Es wundert da schon zunächst, wieso Heidegger auf Spenglers Philosophie nicht so gut zu sprechen war, doch, wie gesagt, dies hatte zu tun mit Heideggers Anspruch, den er, um es noch einmal zu sagen, auch mit Recht haben konnte. Der „späte“ Heidegger wäre mit Spengler, der aber schon zur Zeit des „mittleren“ Heideggers gestorben war, gelassener umgegangen, nämlich so, wie es der „späte“ Heidegger mit Jünger (der übrigens den 5½ Jahre älteren Heidegger noch um 22 Jahre überleben sollte) getan tat. Da Spengler 40 Jahre vor Heidegger gestorben war (**), in der Zeit des „späteren“ Heidegger also ein Kontakt zu Spengler nicht mehr, dafür aber zu Jünger möglich war und auch gepflegt wurde, eine geistige Verbundenheit zwischen Heidegger und Jünger zeitlebens bestehen und außerdem Jünger Spengler zeitlebens geistig treu blieb, darum kann man in Jünger den Vermittler zwischen Spengler und Heidegger finden und ein geistiges Experiment versuchen, für das ich das Wort „Dialektik“ gewählt habe.

Als auf die erste und die zweite als eine dritte die nationalsozialistische Revolution folgte, da zeigte sich, daß Heidegger, der am 3. Mai 1933 der NSDAP beigetreten war, doch ein bißchen anders war als die anderen beiden, daß er nämlich zwar einerseits der größere Philosoph, andererseits aber der politisch Naivere war, denn er glaubte in dem ersten Jahr der nationalsozialistischen Machthaber daran, die aus seiner Sicht nötig gewordene Reform der Universitäten in seinem Sinne verwirklichen zu können. (Daß Heideggers Philosophie in der späteren Bundesrepublik Deutschland gerade auch bei der Partei mit dem Namen „Die Grünen“ so gut ankam und vertreten werden sollte, ist kein Zufall, denn Heidegger war, von den Anfängen innerhalb der Deutschen Romantik abgesehen, der erste Philosoph, der das Ökologische an oberster Stelle in seiner Philosophie hatte, so daß man sie auch „Ökosophie“ nennen kann [**].) Heidegger war für das Grüne, das Ländliche, gegen das Städtische. Vielleicht kann man so weit gehen und ihn einen „Anti-Urbanisten“ nennen. In diesem Sinne lassen sich auch seine Vorbehalte gegenüber der Technik als der Machenschaft (des „Gestells“), die ihm zufolge auf dem Subjektivismus beruht, deuten. Spengler dagegen hatte in seinem 1918 veröffentlichten ersten Band seines Hauptwerkes gesagt: „Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.“ (**). Ein Satz wie dieser mußte Heidgger Schmerzen bereiteten - aus den genannten Gründen. Und später sollte es so aussehen, als hätte Jünger sich an Heideggers Schmerzen erinnert, denn in seinem 1959 erschienenen Buch „An der Zeitmauer“, in dem er ansonsten Spengler eher huldigt als kritisiert, steht zu lesen: „Wir können ... Oswald Spengler nicht zustimmen in seiner Aufforderung an die neue Generation: sich der Technik statt der Lyrik, der Marinie statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntnistheorie zuzuwenden« - obwohl man gewiß vorm Sprung das Überflüssige ablegen muß. Wir alle haben es, mehr oder weniger widerstrebend, gemußt.“ (**|**). Wenn man die Technik und das Städtische im Zusammenhang sehen muß, und das muß man wohl, dann war Spengler Heideggers zufolge ein Anhänger der Technik und des Städtischen, also ein Urbanists, doch wenn man Spenglers Hauptwerk gut gelesen hat, fällt auf, daß auch Spengler eher ein Gegner denn ein Anhänger des Städtischen, auf jenen Fall ein Gegner oder, wohl richtiger, kein Anhänger von Groß- und Weltststadt war (**|**). Ein Geschichtsphilosoph sollte gegenüber seinen „Gegenständen“ („Objekten“) genauso neutral bleiben wie ein Geschichtswissenschaftler oder Historiker, und Spengler hat auch genau das als seine Absicht verkündet: „die Geschichte ... vom persönlichen Vorurteil des Betrachters zu lösen“ (**). Doch gemäß dem diese Absicht Spenglers sogar zitierenden Heidegger (**) steckt hinter der Objektivität nur der die Objekte mißbrauchende Subjektivismus und sind Spenglers Texte ja lediglich ein Anhängsel der Texte Nietzsches und Nietzsches Texte ein, wenn auch nicht eingestandenes, also eher unbewußtes (?!), Geständnis zur abendländischen Metaphysik, d.h. zur Seinsvergessenheit, zum Platonismus - ob umgestülpt oder nicht -, d.h. zum Nihilismus und den darin immer mehr zur Macht gekommenen Subjektivismus, der gemäß Heidegger, wie gesagt, die Technik als Machenschaft (das „Gestell“) auf dem Gewisen hat, alles Objektive sich vorstellt, hinstellt, aufstellt, bestellt usw., der Berechnung und der Machenschaft zur Verfügung stellt. Und es ist Heidegger zufolge Nietzsche, der diesen Subjektivismus sogar noch zur Spitze getrieben hat, die von Hegel schon begonnene Vollendung des Nihilismus weitergetrieben und damit die Vergessenheit des Seins, dessen Verlassenheit, die Verstellung der Wahrheit, der Geschichte, d.h. des Wandels des Wesens der Wahrheit, also all das, worauf es gerade einem Philosophen - und erst recht einem Geschichtsphilosophen - ankommen muß, extremisiert hat. Und dies reichte Heidegger für die Deutung der Texte Spenglers aus - denn einen Nietzscheaner kann man nach Heideggers Dafürhalten mit ruhigem Gewissen übergehen, weil ein Nietzscheaner nur Nietzsche nachäfft und es folglich ausreicht, Nietzsches Texte zu kennen. Allein, Spengler war in erster Linie ein Goetheaner und erst in zweiter Linie ein Nietzscheaner (**|**). Dies hätte Heidegger mehr berücksichtigen müssen. Auch in einer „Welt mit und nach Nietzsche“ muß das möglich sein.

Heidegger hat aber auch recht mit der folgenden Aussage: „Bei all diesem Für die Vermenschung und Wider die Vermenschung glaubt man ... im voraus zu wissen, was der Mensch sei, von dem diese handgreifliche Vermenschung herkommt. Man vergißt, diejenige Frage zu stellen, die zuvor entschieden sein muß, wenn das Bedenken der Vermenschung ein Recht und wenn die Widerlegung dieses Bedenkens eine Sinn haben soll. Von Vermenschung zu reden, ohne entschieden, d.h. gefragt zu haben, was der Mensch sei, ist in der Tat ein Gerede und bleibt dieses auch dann, wenn es zur Veranschaulichung die ganze Weltgeschichte und die ältesten Kulturen der Menschen vorführt, die niemand nachzuprüfen vermag.“ (**). Niemand weiß, was der Mensch sei! Darum sind Heidegger zufolge auch alle anthropologischen Wissenschaftsdisziplinen verdächtig. Das, was den Menschen am meisten von den Tieren unterscheidet, ist sein Geist, und der ist das komplexeste unter den bekannten Gebilden dieser Welt, dazu kommt; daß alles andere mit dem Geist in Verbindung steht und immer nur individuell daherkommt; also haben wir es nicht nur einerseits mit einer Komplexität höchsten Grades, sondern auch andererseits mit einer Individualität höchsten Grades zu tun. So ist eine genaue Bestimmung des Menschen nicht möglich, auch dann nicht, wenn alle Computer das Berechnen übernehmen, denn mit dem Berechnen allein ist es ja nicht getan, wie ja auch Heidegger immer wieder betont hat.  –  Aber sollen deswegen alle Versuche, die Bestimmung des Menschen zu finden, verboten werden? Heideggers Versuch zur Bestimmung dessen, was Menschen sei, ist der bei der Phänomenologie angefangene und über die Fundamentalontogie (Daseinsanalyse, weil das Sein nur über das Dasein [womit der Mensch zwar gemeint, aber eben gerade noch nicht bestimmt ist] zugänglich wird) sowie die Seins-/Seynsgeschichte (mit dem „anderen Anfang“ [**]) weiterzuverfolgende Weg (Vgl. auch die Titel einiger seiner Bücher: „Wege zur Aussprache“, „Feldweg-Gespräche“, „Der Feldweg“, „Unterwegs zur Sprache“, „Holzwege“, „Wegmarken“, „Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges“). „Der Weg ist das Ziel“, ist man versucht zu sagen, aber noch zutreffender ist: „Der Weg bleibt solange das Ziel, bis das Ziel entgegenkommt“. „Wege, nicht Werke“, soll Heidegger über seine Werke gesagt haben. Heideggers Denk-Wege sind vornehmlich solche des Fragens. Das fragende Denken ist deutlich zu unterscheiden von einer thetischen Systematik und auch einer provozierenden Aphoristik im Sinne Nietzsches. Auch das ist ein Grund, weshalb Heidegger Spengler, den er ja als Nietzscheaner nur verstand, kritisierte. Daß nicht gefragt wird, ist Heidegger zufolge eine „Not der Notlosigkeit“ (**|**|**|**|**|**|**|**|**|**), während das Fragen ein Suchen ist - daher die vielen Wege.

Das, was Heidegger als Philosoph getan hat, ist gar nicht genug zu würdigen. Ein Philosoph kann sich nur mit den für die Philosophie relevanten Fragen beschäftigen, und diese relavanten Fragen der Philosophie können nur die Grundfragen der Philosophie sein: Was ist Wahrheit? Was ist wahr? Was kann ich wissen? Was bedeutet das Verb „ist“ in diesem Satz? „Ist“ das Sein? Oder „west“ (Heidegger) das Sein? Was ist das Wesen des Seins? Was ist das Wesen der Wahrheit? Hat sich die Wahrheit verändert? Hat sich deren Wesen verändert? Hat sich das Sein verändert? Hat sich dessen Wesen verändert? Bedeuten Wahrheit und Sein dasselbe? Was beduetet das Dasein? Ist der Mensch das Dasein? Was bedeutet das „Da“ in dem Wort „Dasein“? Kann so etwas nur der Mensch wissen? Weiß er so etwas überhaupt? Warum weiß der Mensch nicht, wer oder was er ist? Warum weiß der Mensch nicht, was das, was ihn umgibt, in seinem (Bezug zum) Sein (oder „nur“ Dasein?) ist, sondern nur, daß es das ist, was in der Philosophie das „Seiende“ genannt wird, und das zu sein hat, was in der Philosophie das „Objekt“ genannt wird, weil er, der in der Philosophie das „Subjekt“ genannt wird, es braucht und gebraucht, aber eben auch verbraucht und mißbraucht? Das sind alles metaphysische, ontologische, erkenntnistheoretische, also philosphische Fragen. Andere philosophische Fragen sind hier absichtlich nicht erwähnt.

Spengler hat ebenfalls viel geleistet, aber seine Stärke nicht in der Philosophie gehabt, wenn man darunter die eben erwähnten Grundfragen versteht. Man sollte das, was Spengler geleistet hat, nicht dadurch herabwürdigen, daß man es z.B. als „zu wenig philosophisch“ oder sogar „unphilosophisch“ abstempelt. Übrigens ist z.B. die Ästhetik auch eine philosophische Disziplin, und in dieser scheint Spengler größer als Heidegger gewesen zu sein.

Jünger ist Spengler auch nach dessen Tod (**) treu geblieben, hat aber auch den Kontakt zu Heidegger nicht abgebrochen, sondern sogar intensiviert und die „Freie Heroengemeinschaft“ (**) gebildet: eine enge Zusammenarbeit eines aus ihm, seinem Bruder Friedrich Georg Jünger (**), genannt „Fritz“, und eben Heidegger bestehenden Dreiergespanns.

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Ein Manuskript oder eine sonstige Quelle für den am 14. April 1920 von Heidegger in Wiesbaden gehaltenen Vortrag ist anscheinend nicht mehr zu finden. Immerhin jedoch ist in den von Heideggers Nichte Gertrud herausgegebenen Briefen Heideggers an seine Frau Elfride ein Kommentar Gertruds enthalten: „Ende März .... Martin bereitet den Vortrag »Oswald Spengler und sein Werk« vor, den er im Rahmen der »Wissenschaftlichen Woche« in Wiesbaden am 14. April halten wird.“ (Gertrud Heidegger, „Mein liebes Seelchen“ - Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 105). Ob wir vermuten dürfen, daß Heidegger bei diesem Vortrag „im Rahmen der »Wissenschaftlichen Woche« in Wiesbaden am 14. April“ 1920 Spenglers Werk anders beurteilt hat? Die mir bekannten diesbezüglichen Beurteilungen stammen aus Heideggers Büchern aus den Jahren 1923 („Ontologie (Hermeneutik der Faktizität)“), 1936-1938 („Nietzsche I“), 1938/’39 („Überlegungen VII-XI“), 1939 („Vom Wesen und Begriff der fusiV bei Aristoteles“), 1942/’43 („Parmenides“), 1955 („Zur Seinsfrage [urspünglich: Über »Die Linie« - Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag]“) (**).

 

 

Heidegger über Spengler.

„Die heutige Ausgelegtheit des Heute.  –  Das öffentliche Zunächst der Ausgelegtheit des Heute soll gefaßt werden, so zwar, daß es möglich wird, durch den auslegenden Rückgang von diesem Ansatz her einen Seinscharakter der Faktizität in den Griff zu bekommen, d.h. als Existenzial durchsichtig zu machen, um damit einen ersten ontologischen Zugang zur Faktizität auszubilden.  –  Die Ausgelegtheit des Heute sei nach zwei Auslegungsrichtungen verfolgt. Sie lassen sich kennzeichnen als 1. das geschichtliche Bewußtsein im Heute, 2. die Philosophie im Heute.  –  .... Die Vornahme des geschichtlichen Bewußtseins als Exponent der Angelegenheit des Heute ist von dem folgenden Kriterium her motiviert: Die Weise, wie eine Zeit (das jeweilige Heute) die Vergangenheit (ein oder sein vergangenes Dasein) sieht und anspricht, behält und aufgibt, ist das Anzeichen dafür, wie eine Gegenwart zu ihr selbst steht, wie es als Dasein in ihrem »Da« ist. Dieses Kriterium selbst ist nur eine bestimmte Formel für einen Grundcharakter der Faktizität, ihre Zeitlichkeit.  –  Die Standart unseres Heute zur Vergangenheit kann sich an den historischen Geisteswissenschaften bewähren. Sie präsentieren sich als die Wegform, in der geschichtliche Erfahrung vergangenes Leben zugänglich macht, sie geben auch die führende Anweisung für die Weise der theoretisch-wissenschaftlichen Vergegenständlichung des Vergangenen. Sie geben geschichtliche Vergangenheit charakterisiert in ihrem bestimmt gefaßten Aussehen und als besprochen in bestimmten Hinsichten an das »Bildungsbewußtsein« (ein Wie der öffentlichen Ausgelegtheit) als fertigen Besitz ab. Vergangenheit, vergangenes Leben als Gegenstandsgebiet der Wissenschaft.  –  Als was wir nun vergangenes Dasein in diesen Wissenschaften im vorhinein genommen? In welchem Gegenstandscharakter ist es für sie da? Die Kunst. Literatur, Religion, Sitte, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft stehen in einer aller jeweiligen konkreten Befragung und Betsimmung als führend vorweglaufenden Charakterisierung: sie beginnen als »Ausruck«, Objektivationen von Subjektivem, eines in ihnen zu Gestalt drängenden Kulturlebens (Kulturseele).  –  Die durchherrschende Einheitlichkeit, in der dieses Leben einer Kultur zum Ausdruck gelangt, darin sich hält und veraltet, wird bestimmt als der jeweilige Stil der Kultur. Daß dem Seinscharakter dessen, wovon die Kulturgebilde Ausdruck sind, nicht weiter nachgefragt wird, macht deutlich, wie sehr das verstehende Interesse auf die Ausdrucksgestalten als solche im Wie ihres Ausdruckseins abzielt. Die letzte und einzige Seinsbestimmung ist: Kultur ist Organismus, eigenständiges Leben (Entfaltung, Blüte, Absterben).  –  Spengler (Der Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, I. Bd.: Gestalt und Wirklichkeit) hat dieser Weise, Vergangenheit zu sehen, den konsequenten und überlegenen Ausdruck verschafft. Die sterile Aufgeregtheit der Philosophie und der Fachwissenschaften ist längst still geworden. Man ist inzwischen heimlich dabei, allerwärts - sogar für die Theologie - »Kapital zu schlagen«. Gewiß haben Nietzsche, Dilthey, Bergson, die Wiener kunstgeschichtliche Schule (Karl Lamprecht) vorgearbeitet. Das Entscheidende liegt aber daran, daß Spengler all das, was hier unsicher und verängstigt zu einem Ende drängte, wirklich von der Stelle brachte. Vor Spengler hatte niemand den Mut, die in Ursprung und Entwicklung des neuzeitlichen geschichtlichen Bewußtseins gelegene bestimmte Möglichkeit rücksichtslos wirklich zu machen. Man darf den »neuen« Schritt nicht übersehen. Alles Unerquickliche und Halbe, das Dilettantische im Grundsätzlichen und begrifflichen Habitus darf nicht den rein feststellenden Blick verdecken. Wirkungskräfte, die die Ordinarienphilosophie, das heulende Elend in gestelzter leerer Vornehmtuerei, überdauern. Er hat gespürt, was vorgeht. Die anderen tun so, als wäre alles in bester Ordnung. Die nächste Frage ist: In welcher Weise wird die so als Gestaltwerdung und Ausdrucksein vergegenständlichte Vergangenheit Thema einer theoretischen Erkenntnisaufgabe (Wissenschaft) und welcher? Eine Kultur (Mannigfaltigkeit solcher Kulturen) ist als geschlossener Organismus eigenen Lebens auf sich selbst gestellt. In der Mannigfaltigkeit der in der Überlieferung in bestimmter Auslegung andrängenden Kulturen ist jede ihrem eigensten Seinscharakter nach der anderen (als Pflanze) gleichgestellt. Kein vergangenes Dasein hat seinsmäßig vor dem anderen irgendeinen Vorrang. Wie die eine Kultur, so muß die andere vergegenwärtigt werden. Aus dem Gegenstands- und Seinscharakter der so gesehenen Vergangenheit her ist daher die Universalität der Geschichtsbetrachtung notwendig mitgegeben. Gerade aus dem Gegenstand selbst ist nicht das mindeste Motiv zu einer kurzsichtigen Beschränkung auf eine Kultur und deren Erforschung auszumitteln. Demnach weitet sich das Gegenstandsfeld der Geschichtsbetrachtung so, daß darin das »Werden[s] aller Menschlichkeit« (a.a.O., S. 208) verfolgbar sein muß. Welches ist nun die aus der Gegenstands- und Seinsart der so gegenständlichen Vergangenheit entspringende Weise der theoretischen Erfassung, Explikation und begrifflichen Durchbildung derselben? Es ist kein Zufall, daß heute unter den historischen Geisteswissenschaften die Kunstgeschichte am weitesten ausgebildet ist und daß die anderen Wissenschaften die Tendenz haben, es ihr, soweit das möglich ist, nachzumachen. Die Hinsicht, das Woraufhin des An-sehens, in die jede Kultur gestellt wird, ist das jeweilige Wie des Ausdruckseins ihrer Gebilde; sie wird befragt auf ihren Stil, d.h., ihre Ausdrucksgestalten werden auf eine Grundgestalt von »Seelen und Menschentum« zurückgeleitet. (Einheitlichkeit ihres So-seins; heißt?) Die Art der theoretischen Explikationen des Vergangenen ist Abhebung der Gestaltcharaktere des Gestalthaften - Morphologie. Es begegnet aufgrund des betreffenden ontologischen Ansatzes eine in sich ontisch gleichgestellte Mannigfaltigkeit von Kulturen, d. h. aber, diesem Gegenstandszusammenhang angemessen ist die morphologische Betrachtung durchzuhalten. Die Mannigfaltigkeit selbst ist auf ihr Gestalthaftes zu befragen, sie ist selbst noch gestalthaft zugänglich zu machen. Die eine Kultur ist gestalthaft an die andere zu halten. Es erwächst so die Methode einer universalen Gestaltvergleichung. Die Verhältniskategorien der Homologie, Analogie, Gleichzeitigkeit, Parallelität treten ins Spiel. Das so gesehene explizierte Ganze der geschichtlichen Vergangenheit schlägt sich nieder in einem geschlossenen gestalthaften Zusammenhang von Gestalten (bzw. es vermag sich niederzuschlagen; Niederschlag, in einem Blick beherrschbar, bestimmt laufend). Es wird faßbar in Tafeln und Rubriken, in denen die Vergleichungsbahnen geordnet festgelegt sind. Die leitende Vorwegnahme des Gegenstandscharakters der Vergangenheit als stileinheitlicher Ausdrucksgestalt jeweilig eigenständiger Kulturen motiviert sowohl aus dem so gesehenen Gegenstandsfeld wie aus ihrer eigensten Zugangshaltung eine bestimmte Weise geschichtlicher Explikation: des gestaltvergleichenden Ordnens. (Ordnung - Gestalterfassung. 1. Ordnung, 2. Ordnung, und schärfer: Idee von Kultur überhaupt; Konsequenz; Gegenpol.)“
Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester 1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 35-39

„Das konsequente Programm in umfassender Durchführung gibt Spengler: »Mir schwebt eine spezifisch abendländische Art, Geschichte im höchsten Sinne zu erforschen, vor, die bisher noch nie aufgetaucht ist und die der antiken und jeder andern Seele fremd bleiben mußte. Eine umfassende Physiognomik des gesamten Daseins, eine Morphologie des Werdens aller Menschlichkeit, die auf ihrem Wege bis zu den höchsten und letzten Ideen vordringt; die Aufgabe, das Weltgefühl nicht nur der eigenen, sondern das aller Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten überhaupt bisher erschienen und deren Verkörperung im Bereiche des Wirklichen die einzelnen Kulturen sind. Dieser philosophische Aspekt, zu dem die analytische Mathematik, die kontrapunktische Musik, die perspektivische Malerei uns das Recht geben, uns erzogen haben, setzt, über die Talente des Systematikers ... weit hinausgehend, das Auge eines Künstlers voraus, und zwar das eines Künstlers, der die sinnliche und greifbare Welt um sich in eine tiefe Unendlichkeit geheimnisvoller Beziehungen sich vollkommen auflösen fühlt. So fühlte Dante, so Goethe.« (A.a.O., S. 207-208). (Nachträgliche Anwendung in der üblichen Geschichte. Religionsgeschichte usf.. Umwegig, ohne Verhältnis dazu ein- und nachgeredet.)“
Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester 1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 39

Spengler betont als bisherigen Mangel der Geschichtsbetrachtung und Wissenschaft, daß ihr noch nie gelang, was sie anstrebt, »objektiv zu sein«. Geschichtswissenschaft ist erst dann objektiv, wenn es ihr gelingt, »ein Bild der Geschichte zu entwerfen, das nicht mehr vom zufälligen Standort des Betrachters in irgendeiner - seiner - »›Gegenwart‹ ... abhängig ist« (a.a.O., S. 125). Was in den Naturwissenschaften längst erreicht war - die Distanz vom Gegenstand, so daß er rein für sich selbst spricht- fehlte bislang gegenüber der geschichtlichen Welt. Es gilt also, »noch einmal die Tat des Kopernikus« (a.a.O., S. 126) der Geschichte gegenüber zu vollbringen, d. h. die Befreiung vom Augenschein und dem Standort des Betrachters, »die Geschichte also von den persönlichen Vorurteilen des Betrachters zu lösen, der sie in unserem Falle wesentlich zur Geschichte eines Fragments des Vergangenen mit dem in Westeuropa fixierten Zufällig-Gegenwärtigen als Ziel und den augenblicklichen öffentlichen Idealen und Interessen als Wertmessern für die Entwicklung des Erreichten und zu Erreichenden macht - das ist die Absicht alles Folgenden.« (A.a.O., S. 126-127). Diese Selbstauslegung des geschichtlichen Bewußtseins stellt dieses sonach in die Aufgabe, »die ganze Tatsache Mensch« zu überschauen, d.h. menschliches Dasein absolut objektiv in den Blick zu bringen. Eine neue Aufgabe dergestalt, daß sich eine neue und eigentliche Möglichkeit des Daseins und der Daseinserfassung als einer objektiven bietet. Diese Selbstauslegung gibt nicht einfach zur Kenntnis, was das geschichtliche Bewußtsein ist, sondern gibt sich bekannt in der Weise, daß es sich selbst, d.h. die Ausgelegtheit seines Heute, in das Verweilen hineindrängt, in dem Vergangenheit objektiv ohne Augenverblendung begegnet. Die Selbstauslegung kommt selbst dem zu erfassenden Gegenstand und dem von diesem ausgehenden Zug zu ihm entgegen, d. h., die Neugier als eine gezogene drängt in ihr selbst in die Richtung des Zuges. Die Auslegungsweise spricht in ihrer Selbstpräsentation mit für die in ihr selbst zu vollziehende Erwerbung und Behauptung des so gesehenen Daseins. Dieses geschichtliche Bewußtsein hat in seiner objektiven Distanz zur Vergangenheit ebenso objektiv die Gegenwart des Daseins, d.h. aber, im Sinne des angesetzten Gegenstandscharakters des Geschichtlichen: »schon« seine Zukunft. Die Vorausberechnung dieser, der »Untergang des Abendlandes«, ist keine Marotte von Spengler und kein billiger Witz für die Masse, sondern der konsequente Ausdruck dafür, daß sich das uneigentliche geschichtliche Bewußtsein in seiner eigensten, ihm vorgezeichneten Möglichkeit zu Ende gedacht hat. (Das Noch-nicht, an sich als Gegenwart in der Rechnung; vergleichende Ablesung.)“
Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester 1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 55-56

Spengler repräsentiert das heutige geschichtliche Bewußtsein, so wie es sich nach seinen eigenen Möglichkeiten nehmen muß. Die Opposition der Fachwissenschaft fällt dabei grundsätzlich nicht ins Gewicht, sofern sie (in anderer Hinsicht belangreiche) Fehlinterpretationen oder Vernachlässigung relevanter Tatbestände nachweist. In der grundsätzlichen, wenn auch nicht ausdrücklichen Haltung kommt sie zusehends mehr unter den Einfluß Spenglers. Wo sie daher grundsätzlich opponiert, verrät sie nur, daß sie sich selbst nicht versteht; d.h., die historischen Geisteswissenschaften merken nicht, daß sie sich an einer ganz bestimmten Möglichkeit ihrer selbst, d.h. der Kunstgeschichte, vergreifen, d.h. in der Nachäffung dieser sich eine höhere »Geistigkeit« geben, statt wie diese jeweils sich auf ihren eigenen Gegenstand, seinen Seinscharakter und die angemessene Zugangs- und Bestimmungsmöglichkeit zu besinnen. Die Nachäffung der Kunstgeschichte ist ein Mißbrauch dieser, d.h. eine Geringschätzung, d.i. ein Mißverstehen. Die übrigen Geisteswissenschaften, sofern sie diese nachahmen, verstehen diese damit sowenig wie sich selbst. (Warum Kunstgeschichte in diesem Betracht (Stil, Gestalt, Ausdruck) echt? Ihr Gegenstand aber auch das »Ordnen«! Hier noch Unklarheit; hier deutlich, vor welchen Aufgaben.) Religion ist im Kern ihres Daseins mißverstanden, wenn die Religionsgeschichte heute sich die billige Spielerei leistet, Typen, d.h. Stilformen der Frömmigkeit auf eine unterhaltsame Bildertafel zu zeichnen. Das Analoge gilt von der Wirtschaftsgeschichte, der Philosophie- und der Rechtsgeschichte. Diese jeweilig echten Möglichkeiten kommen nicht ins konkrete Dasein dadurch, daß den historischen Wissenschaften ein philosophisch ausgeklügeltes System der Kultursysteme als Operationsplan vorgelegt wird, sondem einzig so, daß jeweils innerhalb dieser Wissenschaft der rechte Mann am rechten Platz zur rechten Zeit entscheidend eingreift. (Was dazu die Philosophie beitragen soll, darüber ist nicht zu »reden«.)“
Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester 1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 56-57

„A) Vier Deutungen unserer heutigen Lage: der Gegensatz von Leben (Seele) und Geist bei Oswald Spengler, Ludwig Klages, Max Scheler, Leopold Ziegler.  –  Also eine Gundstimmung wecken! Sogleich erwächst die Frage: Welche Stimmung sollen wir wecken bzw. in uns wachwerden lassen? Eine Stimmung, die uns von Grund aus durchstimmt? Wer sind wir denn? Wie meinen wir uns, wenn wir jetzt »uns« sagen? Wir, diese Anzahl von Menschenindividuen, die hier in diesem Raum zusammengekommen sind? Oder »uns«, sofern wir hier an der Universität vor bestimmten Aufgaben des Studiums der Wissenschaften stehen? Oder »uns«, sofern wir, als der Universität zugehörig, zugleich in den Prozeß der Bildung des Geistes einbezogen sind? Und diese Geschichte des Geistes - ist sie nur als deutsche oder als ein abendländisches und weiterhin europäisches Geschehen? Oder sollen wir den Kreis dessen, worin wir stehen, noch weiter ziehen? »Uns« meinen wir, aber in welcher Lage, in welcher Aus- und Abgrenzung dieser Lage? Je weiter wir für diese Lage die Perspektive nehmen, um so verblaßter wird der Horizont, um so unbestimmter die Aufgabe. Und doch -wir spüren, je weiter wir die Perspektive nehmen, um so brennender und entscheidender faßt sie uns - jeden von uns - an. Damit drängt sich uns aber auch eine klare Aufgabe näher, der wir offenbar nicht mehr ausweichen können. Wenn wir in uns eine Grundstimmung wecken sollen und wollen, dann müssen wir uns hierzu unserer Lage versichern. Welche Stimmung aber ist für uns heute zu wecken? Diese Frage können wir nur beantworten, wenn wir unsere Lage selbst hinreichend kennen, um daraus zu entnehmen, von welcher Grundstimmung wir durchherrscht sind. Da es sich doch offenbar bei der Weckung der Grundstimmung und deren Absicht um etwas Wesentliches und Letztes handelt, muß diese unsere Lage in der größtmöglichen Weite gesehen werden. Wie sollen wir dieser Forderung genügen? Wenn wir näher zusehen, dann erweist sich die Forderung der Kennzeichnung unserer Lage nicht nur nicht neu - diese Aufgabe ist auch in mannigfacher Weise schon erfüllt. Für uns wird es sich nur darum handeln, die Kennzeichnung unserer Lage auf ihren einheitlichen Charakter zu bringen und ihren durchgehenden Grundzug festzuhalten. Wenn wir uns nach den in Frage kommenden ausdrücklichen Kennzeichnungen (Deutungen, Darstellungen) unserer heutigen Lage umsehen, dann können wir deren vier herausneben und in aller Kürze kenntlich machen. Die Auswahl bleibt in solchen Fällen nie frei von Willkür. Diese wird jedoch unschädlich durch den Gewinn.“
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit, 1929, S. 103-105

„Die bekannteste und kurze Zeit erregende Deutung unserer Lage ist diejenige geworden, die sich ausdrückt in dem Schlagwort »Untergang des Abendlandes« (O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Band 1, 1918, Band 2, 1922). Das Wesentliche ist für uns das, was als Grundthese dieser »Prophezeiung« zugrundeliegt. Es ist - auf eine Formel gebracht - dieses: Untergang des Lebens am und durch den Geist. Was der Geist, zumal als Vernunft (ratio), sich bildet und geschaffen hat in der Technik, Wirtschaft, im Weltverkehr, in der ganzen Umbildung des Daseins, symbolisiert durch die Großstadt, das wendet sich gegen die Seele, gegen das Leben und erdrückt sie und zwingt die Kultur zu Niedergang und Verfall.  –  .... Wir wissen nur, daß Nietzsche die Quelle für die genannten Deutungen ist.  –  .... Die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung der kulturphilosophischen Deutungen unserer Lage.“
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit, 1929, S. 105 und 111

„In der milden Strenge und strengen Milde ihres Seinlassens des Seienden als solchen im Ganzen wird die Philosophie zu einem Fragen, das sich nicht einzig an das Seiende halten, aber auch keinen Machtspruch von außen zulassen kann. Diese innerste Not des Denkens hat Kant geahnt; denn er sagt von der Philosophie: »Hier sehen wir nun die Philosophie in der Tat auf einen mißlichen Standpunkt gestellt, der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird. Hier soll sie ihre Lauterkeit beweisen als Selbsthalterin ihrer Gesetze, nicht als Herold derjenigen, welche ihr ein eingepflanzter Sinn oder wer weiß welche vormundschaftliche Natur einflüstert ....« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke, IV, 425). Bei dieser Wesensdeutung der Philosophie blickt Kant, dessen Werk die letzte Wendung der abendländischen Metaphysik einleitet, in einen Bereich hinaus, den er gemäß seiner metaphysischen Grundstellung in der Subjektivität zwar nur aus dieser begreifen konnte und als Selbsthalten eigener Gesetze begreifen mußte. Dieser Wesensblick in die Bestimmung der Philosophie ist dennoch weit genug, um jede Verknechtung ihres Denkens zu verwerfen, deren hilfloseste Art in der Ausflucht sich versteckt, die Philosophie als eine »Ausdruck« der »Kultur« (Spengler) und als Zierde eines schaffenden Menschentums gerade noch gelten lassen.“
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken, S. 199-200

„Schopenhauer hat die Tatsache, daß er nun eifrig von den Gebildeten gelesen wurde, als einen philosophischen Sieg über den deutschen Idealismus angesehen. Aber Schopenhauer kam in der Philosophie um diese Zeit nicht deshalb obenauf, weil seine Philosophie den deutschen Idealismus philosophisch besiegte, sondern weil die Deutschen vor dem deutschen Idealismus erlagen, seiner Höhe nicht mehr gewachsen waren. (Spengler zum Erfolg Schopenhauers: »Nicht umsonst war Schopenhauer ... zu den englischen Sensualisten in die Lehre gegangen. Dort lernte er Kant im Geiste der großstädtischen, aufs Zweckmäßige gerichteten Modernität mißverstehen. Der Intellekt als Werkzeug des Willens zum Leben [auch der moderne Gedanke, daß die unbewußten, triebhaften Lebensakte Vollkommenes bewirken, während es der Intellekt nur zu stümperhaften Leistungen bringt, findet sich bei ihm {in: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Band II, Kap. 30}], als Waffe im Kampf ums Dasein, das, was Shaw in eine groteske dramatische Formel gebracht hat (in »Mensch und Übermensch«, 1903), dieser Weltaspekt Schopenhauers war es, der ihn beim Erscheinen von Darwins Hauptwerk [1859] mit einem Schlage zum Modephilosophen machte. Er war im Gegensatz zu Schelling, Hegel und Fichte der einzige, dessen metaphysische Formeln dem geistigen Mittelstand ohne Schwierigkeit eingingen. Seine Klarheit, auf die er stolz war, ist in jedem Augenblick in Gefahr, sich als Trivialität zu enthüllen. Hier konnte man, ohne auf Formeln zu verzichten, die eine Atmosphäre von Tiefsinn und Exklusivität um sich breiteten, die gesamte zivilisierte Weltanschauung sich zu eigen machen. Sein System ist antizipierter Darwinismus, dem die Sprache Kants und die Begriffe der Inder nur zur Verkleidung dienten. In seinem Buche »Über den Willen in der Natur« (1835) finden wir schon den Kampf um die Selbstbehauptung in der Natur, den menschlichen Intellekt als die wirksamste Waffe in ihm, die Geschlechtsliebe als die unbewußte Wahl aus biologischem Interesse. [Im Kapitel »Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe« {in: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Band II, Kapitel 44} ist der Gedanke der Zuchtwahl als des Mittels zur Erhaltung der Gattung in vollem Umfang vorweggenommen.] Es ist die Ansicht, welche Darwin auf dem Umweg über Malthus mit unwiderstehlichem Erfolg in das Bild der Tierwelt hineingedeutet hat.« [Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 473-474.]) Dieser Verfall machte Schopenhauer zum großen Mann, was zur Folge hatte, daß die Philosophie des deutschen Idealismus, von den Gemeinplätzen Schopenhauers aus gesehen, etwas Befremdliches und Absonderliches wurde und in Vergessenheit geriet. Nur auf Um- und Abwegen finden wir in dieses Zeitalter des deutschen Geistes zurück. Aber wir sind weit entfernt von einem wahrhaft geschichtlichen Bezug zu unserer Geschichte. Nietzsche spürte, daß hier eine »grandiose Initiative« des metaphysischen Denkens am Werk war. Doch bei solcher Ahnung ist es für ihn geblieben, mußte es bleiben; denn das eine Jahrzehnt des Schaffens am Hauptwerk ließ ihm nicht die Ruhe des Verweilens in den weiträumigen Bauten der Werke Hegels und Schellings.“
Martin Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 60

„Die wesentlichen Haltungen gegenüber der an sich für unüberwindbar gehaltenen Vermenschung sind demnach die beiden folgenden: Entweder findet man sich damit ab und bewegt sich in der scheinbaren Überlegenheit des Zweiflers an allem, der sich auf nichts einläßt und seine Ruhe haben will; oder man bringt sich dahin, daß man die Vermenschung vergißt und sie damit für beseitigt hält und auf diese Weise seine Ruhe hat. Überall demnach, wo das Bedenken der Vermenschung als unüberwindliches vorgebracht wird, bleibt man jedesmal in einer Oberflächlichkeit stecken, so leicht diese Überlegungen bezüglich der Vermenschung sich auch den Anschein geben, als seien sie im höchsten Grade tiefsinnig und vor allem »kritisch«. Welche Offenbarung war es vor zwei Jahrzehnten (1918) für die Menge derer, die mit dem wirklichen Denken und seiner reichen Geschichte unvertraut sind, als Spengler erstmals entdeckt zu haben glaubte, daß jedes Zeitalter und jede Kultur ihre eigene Weltanschauung haben! Gleichwohl war alles nur eine sehr geschickte und geistreiche Popularisierung von Gedanken und Fragen, die längst - und zuletzt von Nietzsche - tiefer gedacht, aber keineswegs bewältigt wurden und bis zur Stunde nicht bewältigt sind. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie schwerwiegend und schwer zu durchdenken. - Bei all diesem Für die Vermenschung und Wider die Vermenschung glaubt man nämlich im voraus zu wissen, was der Mensch sei, von dem diese handgreifliche Vermenschung herkommt. Man vergißt, diejenige Frage zu stellen, die zuvor entschieden sein muß, wenn das Bedenken der Vermenschung ein Recht und wenn die Widerlegung dieses Bedenkens eine Sinn haben soll. Von Vermenschung zu reden, ohne entschieden, d.h. gefragt zu haben, was der Mensch sei, ist in der Tat ein Gerede und bleibt dieses auch dann, wenn es zur Veranschaulichung die ganze Weltgeschichte und die ältesten Kulturen der Menschen vorführt, die niemand nachzuprüfen vermag. Um also das Bedenken der Vermenschung, seine Bejahung gleich wie seine Zurückweisung, nicht oberflächlich und nur scheinbar zu erörtern, muß zuerst die Frage aufgenommen werden: Wer ist der Mensch? Geschickte Literaten haben sich denn auch, kaum das diese Frage deutlicher wurde, sogleich ihrer bemächtigt. Aber die Frage steht für sie lediglich als Fragesatz auf dem Buchtitel; gefragt wird nicht; man hat seine dogmatische Antwort längst im sicheren Besitz. Dagegen ist nichts zu sagen; nur soll man nicht so tun, als würde man fragen. Denn so harmlos und über Nacht zu erledigen ist diese Frage, wer der Mensch sei, nicht; diese Frage ist, wenn die Daseinsmöglichkeiten zum Fragen noch bestehen bleiben sollten, die künftige Aufgabe Europas in diesem und im künftigen Jahrhundert. Sie kann nur durch vorbildliche und maßgebliche Geschichtsgestaltung einzelner Völker im Wettkampf mit anderen ihre Antwort finden. - Doch wer anders stellt und beantwortet die Frage, wer der Mensch sei, als wieder nur der Mensch selbst? Gewiß; aber folgt daraus, daß die Bestimmung des Wesens des Menschen auch nur eine Vermenschung des Menschenwesens ist? Das mag sein; es ist sogar notwendig eine Vermenschung, nämlich in dem Sinne, daß die Wesensbestimmung des Menschen vom Menschen vollzogen wird. Aber die Frage bleibt, ob die Wesensbestimmung des Menschen diesen vermenschlicht oder entmenschlicht. Die Möglichkeit besteht, daß der Vollzug der Bestimmung des Wesens des Menschen immer und notwendig Sache des Menschen bleibt und insofern menschlich ist, daß aber die Bestimmung selbst, ihre Wahrheit, den Menschen über sich hinaushebt und somit entmenschlicht und damit auch dem menschlichen Vollzug der Wesensbestimmung des Menschen ein anderes Wesen zuspricht. Die Frage, wer der Mensch sei, muß erst als nötige Frage erfahren werden, und dazu muß die Not dieser Frage über den Menschen mit aller Macht und in jeder Gestalt hereinbrechen. Mit der Notwendigkeit dieser Frage ist es freilich nicht getan, wenn nicht vor allem gefragt wird, was dieser Frage erst die Möglichkeit verschafft: woher und von wo aus soll das Wesen des Menschen bestimmt werden?“
Martin Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 321-323

Spengler - in ihm wird Nietzsches Umkehrung des Platonismus zur bloßen Herrschaft der bloßen »Tatsache« gegenüber der Ohnmacht der »Wahrheiten«, als welche er »Allgemeinheiten« des bloßen Meinens nimmt. Die Verherrlichung der »Tatsache«, die vielleicht die ödeste und zugleich blindeste »Romantik« darstellt, die für Spengler das Verächtlichste ist, führt zum letzten Austrag der Anpreisung des Römertums und Cäsarismus - der halbseitige Nietzsche, nur historischer und entschiedener als jener biologisch-sumpfige von Klages. Ein fruchtloses Beginnen bliebe es, Spengler auf seine Selbstwidersprüche abzusuchen. Seine Blindheit gegen das, was seinen Darlegungen (und angeblichen »Erfahrungen«, die doch auch nur der historischen »Literatur« entnommen sind) gleichwohl die anstößige Kraft gibt, läßt sich dadurch nicht beseitigen. Er kann nur als das genommen werden, als was er nach seiner eigenen »Lehre« genommen werden muß, als eine Erscheinung seines Zeitalters, das er freilich nur in seiner »Perspektive« sieht, die er für die »absolute« hält.“
Martin Heidegger, Überlegungen, VII-XI, 1938/’39, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 95, S. 137-138

„In Spenglers Lehre ist weder der »Pessimismus«, noch der »Relativismus«, noch der »Zoologismus« (»Menschheit ist für mich eine zoologische Größe« [in: Ders., Pessimismus?, 1921, S. 14]) das »Gefährliche«; hier gibt es überhaupt nichts Gefährliches mehr, sondern nur die sehr handfeste Folgerichtigkeit eines Nachgekommenen, für den die gröbsten Schläge der eigenen Hand ins eigene Gesicht nichts mehr bedeuten, weil alles nur auf die Wirkung der »Tatsachen« und ihre Schicksalhaftigkeit ankommt. »Es gibt im ganzen 19. Jahrhundert nicht eine Frage, welche die Scholastik nicht schon als eines ihrer Probleme entdeckt, durchdacht und in eine glänzende Fassung gebracht hätte« (ebd.). Spenglers Begeisterung für die »Tatsachen« scheint hier auszusetzen, denn sonst müßte er wissen (aber was ist für einen schreibenden »Tatsachen«menschen schon das »Wissen«), daß die »Scholastik« nicht nur überhaupt keine »Probleme« kannte, sondern auch vom 19. Jahrhundert so weit, so anders entfernt war, daß sie niemals auf dessen »Probleme« verfallen konnte. Aber solche Sätze, wie der angeführte, mögen unwissenden »Tatsachen«menschen (Bankdirektoren und Technikern) einen »Eindruck« machen, sie mögen von apologetisch geschulten Kaplänen mit einem Schmunzeln verzeichnet werden, sie zeigen doch nur die Geschichtslosigkeit dieses Urbildes aller heutigen »Historiker«. Davor steht der Satz: »Es gibt keinen wirklich neuen Gedanken in einer so späten Zeit.« Welche verblüffende [?] Ehrlichkeit und Bescheidung! Aber sogleich folgen seitenlange Aufzählungen dessen, was Spengler »Neues geschaffen«. Aber das Sich-widersprechen - so grobschlächtig es sich darbietet - bleibt hier ohne Bedeutung; denn dies gehört zu dieser Art »Philosophie«, die vor den »Tatsachen«, dem Seienden die Waffen streckt, sofern ihr überhaupt solche zugestanden werden können. Dieses völlige Versinken in den Platonismus (daß es der umgestülpte ist, ändert nichts an seinem Wesen), dieses unwissende Ausrufen der Seinsverlassenheit des Seienden nimmt solcher Denkweise, besser, versagt ihr, jede Gefährlichkeit. Im Gefolge dieser Harmlosigkeit geht dann jenes Verfahren mit, das sich als »Gegner« immer nur das Schwache und Beiläufige und Nachträgliche und Unschöpferische nimmt -; man spottet über gleichgültige »Hochschulphilosophie« und bleibt ahnungslos gegenüber den allerersten Voraussetzungen, die etwa eine Auseinandersetzung mit Kant forderte (auch darin ist Spengler eine verschlechterte Ausgabe eines halbseitigen Nietzsche). Am wenigsten erstaunt aber, daß das Versinken im Platonismus gegen die »Romantik« poltert und alles, was »Entwurf« heißt, als Idealismus, d.h. »Vorsichherschlendern« verspottet. Wie soll auch der Platonismus, zumal wenn er noch auf dem Kopf steht, sich selbst erkennen, in dem, was er vergißt und nie zu begreifen vermag, weil ihm schon der »Begriff« nur noch ein »Begriff« sein kann.  –  Hier in dieser Gefahr- und Notlosigkeit eines gedankenlosen Denkens wird nie erfahrbar werden, daß der Entwurf ursprünglich ist die Eröffnung der Wahrheit des Seyns, weder ein bloßes »Programm«, noch eine »Perspektive«, noch eine »über« dem »Leben« schwebende bloße Vorstellung.“
Martin Heidegger, Überlegungen, VII-XI, 1938/’39, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 95, S. 138-139

„Wie kommt es aber, daß Spengler in der Zeitkritik Vieles trifft und im Verneinen so sicher geht? Auch hier spricht Nietzsche - aber nur wieder ein Vordergrund Nietzsches, nicht einmal der eigentliche »Nihilismus« Nietzsches, der von seiner »Metaphysik« und somit vom Platonismus nicht zu lösen ist. Die Geschichtslosigkeit dieses »Geschichtsphilosophen« wird vielleicht durch nichts so deutlich belegt wie durch die Meinung, über Hölderlin etwas gesagt zu haben, wenn er sich darüber lustig macht, daß - dazu noch in sehr fragwürdiger Weise - der Georgekreis sich bei Hölderlin ein Bild der Hellenen suchte - statt das Römertum zu bejahen.“
Martin Heidegger, Überlegungen, VII-XI, 1938/’39, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 95, S. 139-140

„Allein - alle Bedenken gegen Spengler haben nur dann ein Gewicht, wenn zugegeben ist, daß in ihm eine echte Kraft seines Zeitalters zu Wort kam, die durch allen gelehrtenhaften Widerspruch, den sie erfuhr, hindurchgewirkt hat gerade auf diejenigen, die nachher seinen Pessimismus und die »Untergangsstimmung« ablehnen und überwunden zu haben glauben. Spengler half, wenn auch sehr vordergründlich, zum mindesten einen Vordergrund von Nietzsches Denken den handelnden Menschen zugänglich zu machen. Daß es geschah mit der Folge einer nun erst recht gesicherten Verachtung der »Philosophie«, darf nicht verwundern, da gerade Spengler ein »Ausdruck« der heutigen »Kulturseele« ist in seinem Nichtbegreifen dessen, was sich philosophisch metaphysisch in Nietzsches Denken ereignete. Doch aus diesem Grunde ist es gerade verkehrt, zu meinen, mit gelehrten Widerlegungen Spengler »erledigen« zu können; er ist nicht zu erledigen, solange nicht der Bereich der Besinnung auf Nietzsches Denken vorverlegt wird, und dann wird die Rede vom »Erledigen« ohnedies sinnlos. Kann je einer von der Geschichte wissen und gar über sie verbindlich sprechen wollen, dem der Mensch eine »zoologische Größe« ist? (Nicht »der Mensch«, sondern »die Menschheit« war für Spengler eine »zoologische Größe«; HB.) Geschichte und der Vorrang der Unwahrheit der historischen Erklärung: man kann immer mithilfe von sogenannten »Tatsachen« zeigen, daß »große historische Ereignisse« »Künstler« und »Denker« beeinflußt und zu »Werken« geführt haben; man kann nie in der entsprechenden Weise »zeigen«, daß die Vollzieher jener Ereignisse nur durch Dichter und Denker möglich wurden. Also: ist deren Nachträglichkeit, wenn nicht gar Überflüssigkeit erwiesen. Allerdings. Aber für wen? Für jene, die meinen, Geschichte lasse sich erklären durch »Tatsachen«. Der Gipfel der Verwirrung aber ist erreicht, wenn die Verehrer der »Tatsachen« meinen, das Schicksalhafte der Geschichte gegenüber dem »Kausalismus« des Ableitens aus »Ideen« und »Programmen« begriffen zu haben. Das eigentlich Schicksalhafte der Geschichte offenbart sich gerade darin, daß es sich diesem Auf-dem-Bauche-liegen vor den »Tatsachen« entzieht und ihm versagt, etwas vom Ursprung der »Tatsachen« zu wissen, der freilich nicht in den »Ideen« zu suchen ist. Und »Schicksal« - wenn dieser Begriff nur der letzte Ausweg der Historie wäre - der Ausweg in das Weglose, die Verleugnung jeder Besinnung?“
Martin Heidegger, Überlegungen, VII-XI, 1938/’39, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 95, S. 140-141

„Ausschließlich auf dem Boden der Metaphysik Nietzsches und ohne jeden ursprünglichen metaphysischen Gedanken hat im Beginn des 20. Jahrhunderts der Schriftsteller O. Spengler eine »Bilanz« der abendländischen Geschichte aufgestellt und den »Untergang des Abendlandes« verkündet. Heute wie damals 1918, als das anspruchsvolle Buch dieses Titels erschien, schnappen alle Gierigen nur nach dem Ergebnis dieser »Bilanz«, ohne sich jemals darauf zu besinnen, auf welchen Grundvorstellungen von der Geschichte diese billige, bei Nietzsche schon klar vorgerechnete und gleichwohl anders und in anderen Dimensionen gedachte Untergangsbilanz aufgemacht ist. Zwar hat die Zunft der ernsten Forscher dem Buch »Unrichtigkeiten« nachgerechnet. Aus diesem Geschäft ergab sich dann aber das Bemerkenswerte, daß seitdem die Historie selbst sich mehr und mehr in den Hinsichten und Schemata des Spenglerschen Geschichtsbildes bewegt, auch dort, wo sie natürlich »richtigere« und »exaktere« Feststellungen macht. Nur einem Zeitalter, das jede Möglichkeit denkender Besinnung schon preisgegeben hatte, durfte ein Schriftsteller ein Werk anbieten, bei dessen Ausführung ein glänzender Scharfsinn, eine riesige Belesenheit, eine starke Begabung zum Typisieren, eine ungewöhnliche Anmaßlichkeit des Urteils, eine seltene Oberflächlichkeit des Denkens und eine durchgängie Brüchigkeit der Fundamente sich die Waage halten. Bei der verwirrenden Halbwisserei und Flüchtigkeit des Denkens entsteht dann die sonderbare Sachlage, daß dieselben Menschen, die sich über den Vorrang der biologischen Denkweise in der Metaphysik Nietzsches empören, bei den Untergangsperspektiven des Spenglerschen Geschichtsbildes sich wohl fühlen, das überall und nur auf eine grobschlächtige bilogische Deutung der Geschichte gegründet ist.“
Martin Heidegger, Parmenides, 1942/’43, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 82-83

„Neuzeitliches Meinen über die Geschichte spricht seit dem 19. Jahrhundert gern von der »Sinngebung«. Man tut so, als ob der Mensch von sich aus der Geschichte einen »Sinn« »verleihen« könnte, als ob der Mensch überhaupt etwas auszuleihen hätte, als ob die Geschichte erst einer solchen Beleihung bedürfte, was alles doch voraussetzt, daß die Geschichte »an sich« und zunächst sinnlos sei und jedesmal auf die »Sinngebung« durch den Menschen gefälligst warten müßte. Was der Mensch im Verhältnis zur Geschichte vermag, ist, darauf zu achten und darob in der Sorge zu sein, daß die Geschichte ihren Sinn dem Menschen nicht verbirgt und versagt. Der Mensch hat aber den Sinn der Geschichte bereits verloren, wenn er sich selbst, wie der Fall Spengler zeigt, der Möglichkeit beraubt, auch nur darauf zu denken, was das überhaupt sei, was man in der Eile der Aufstellung »historischer« »Bilanzen« mit dem Wort »Sinn« belegt. Der »Sinn« ist die Wahrheit, darin je das Seiende als ein solches ruht. Der »Sinn« der Geschichte aber ist das Wesen der Wahrheit, darin jeweils das Wahre der Zeitalter der Menschentümer gegründet bleibt. Was das Wesen des Wahren sei, erfahren wir nur aus dem Wesen der Wahrheit, die je ein Wahres das Wahre sein läßt, das es ist. Dem Wesen der Wahrheit versuchen wir hier und jetzt in einigen Schritte nachzudenken.“
Martin Heidegger, Parmenides, 1942/’43, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 83

„»Über-mensch« ist ein wesentlich metaphysisch-geschichtlicher Begriff und bedeutet den in den Wesensbereich des Willens zur Macht als der Wirklichkeit alles Wirklichen übergegangenen bisherigen Menschen, der immer schon als animal rationale bestimmt worden ist. Deshalb kann Nietzsche sagen, der noch nicht zum Über-menschen gewordene Mensch sei das »noch nicht festgestellte Tier«, d.h. das Tier, dessen Wesen noch nicht endgültig metaphysisch entschieden ist. Gemäß dieser letzten metaphysischen Bestimmung des Menschen schrieb O. Spengler in der viel gelesenen Schrift »Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens«, 1931, S. 54: »Der Charakter des freien Raubtieres ist in wesentlichen Zügen vom einzelnen auf das organisierte Volk übergegangen, das Tier mit einer Seele und vielen Händen.« Anmerkungsweise wird dem Satz beigefügt: »Und mit einem Kopf, nicht mit vielen.«“
Martin Heidegger, Parmenides, 1942/’43, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 101

„In unserer Frage handelt es sich nicht darum, ob die beiden Wesensformen des Blickens, der begegnende und der erfassende, bekannt sind oder nicht, sondern die Frage geht dahin, welches Blicken, ob der Blick der Anwesung oder der Blick des Erfassens den wesenhaften Vorrang hat bei der Auslegung des Erscheinens, und von woher dieser Rang bestimmt bleibt. Gemäß dem Vorrang der Subjektivität im neuzeitlichen Menschentum ist hier das Blicken als Akt des Subjekts entscheidend. Sofern nach Nietzsche der Mensch das als der Übermensch festgestellte Tier ist, das im Willen zur Macht sein Wesen findet, ist der Blick des Subjekts der Blick des rechnend vorgehenden, d.h. erobernden, überlistenden, überfallenden Wesens. Der Blick des modernen Subjekts ist, wie Spengler in der Nachfolge Nietzsches gesagt hat, der Raubtierblick: das Spähen.“
Martin Heidegger, Parmenides, 1942/’43, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 159

„Wenn wir aber schon von »untergegangenen« Völkern und vom »untergegangenen« Griechentum reden, was wissen wir denn vom Wesen des geschichtlichen Untergangs? Wie, wenn der Untergang des Griechentums jenes Ereignis wäre, wodurch das anfängliche Wesen des Seins und der Wahrheit in seine eigene Verborgenheit zurückgeborgen und damit erst zukünftig wird? Wie, wenn »Untergang« nicht Ende, sondern Anfang sein müßte? Jede griechische Tragödie sagt den Untergang. Jeder dieser Untergänge ist ein Anfang und Aufgang des Wesenhaften. Wenn Spengler, ganz im Gefolge der Metaphysik Nietzsches und diese überall noch vergröbernd und verflachend, vom »Untergang des Abendlandes« redet, dann redet er nicht und nirgends von der Geschichte. Denn er hat im voraus die Geschichte zu einem »biologischen Prozeß« herabgewürdigt und aus der Geschichte ein Gewächshaus von »Kulturen« gemacht, die pflanzenhaft gedeihen und verkümmern. Spengler denkt, wenn er überhaupt denkt, die Geschichte geschichtslos. Er versteht »Untergang« im Sinne des bloßen Zuendegehens, d.h. als biologisch vorgestellte Verendung. Tiere »gehen unter«, indem sie verenden. Geschichte geht unter, sofern sie in der Verborgenheit des Anfangs zurückgeht -, d.h. sie geht, im Sinne der Verendung gedacht, deshalb gerade nicht unter, weil sie so nie »untergehen« kann. Wenn wir hier zur Aufhellung des daimonion das Wesen des griechischen Göttertums andeuten, dann meinen wir nicht antiquarische Sachen und nicht Gegenstände der Historie, sondern Geschichte. Es ist das Ereignis der Wesensentscheidung des Wesens der Wahrheit, welches Ereignis stets das Kommende ist und nie das Vergangene. Im Vergessen aber sind wir am härtesten an das Vergangene verknechtet.“
Martin Heidegger, Parmenides, 1942/’43, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 54, S. 167-168

„Im Winter 1939 auf 1940 erläuterte ich in einem kleinen Kreis von Universitätslehrern den »Arbeiter«. Man staunte, daß ein so hellsichtiges Buch seit Jahren vorlag und man selber noch nicht gelernt hatte, einmal den Versuch zu wagen, den Blick auf die Gegenwart in der Optik des »Arbeiters« sich bewegen zu lassen und planetraisch zu denken. Man spürte, daß hierfür auch die universalhistorische Betrachtung der Weltgeschichte nicht zureiche. Man las damals eifrig die »Marmorklippen«, aber, wie mir schien, ohne den hinreichend weiten, d. h. planetarischen Horizont. Man war aber auch nicht überrascht, daß ein Versuch, den »Arbeiter« zu erläutern, überwacht und schließlich unterbunden wurde. Denn es gehört zum Wesen des Willens zur Macht, das Wirkliche, das er be-mächtigt, nicht in der Wirklichkeit erscheinen zu lassen, als welche er selber west.  –  Sie erlauben mir, daß ich eine Aufzeichnung aus dem genannten Erläuterungsversuch wiedergebe. Es geschieht deshalb, weil ich hoffe, in diesem Brief einiges deutlicher und freier sagen zu können.  –  Diese Notiz lautet:
»Ernst Jüngers Werk »Der Arbeiter« hat Gewicht, weil es auf eine andere Art wie Spengler, das leistet, was bisher alle Nietzsche-Literatur nicht vermochte, nämlich eine Erfahrung des Seienden und dessen, wie es ist, im Lichte von Nietzsches Entwurf des Seienden als Wille zur Macht zu vermitteln. Freilich ist damit Nietzsches Metaphysik keineswegs denkerisch begriffen, nicht einmal die Wege dahin sind gewiesen; im Gegenteil: statt im echten Sinne fragwürdig, wird die Metaphysik selbstverständlich und scheinbar überflüssig.«“
Martin Heidegger, Zur Seinsfrage (urspünglich: Über „Die Linie“ - Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag), 1955, in: Ders., Wegmarken, S. 390

Jünger über Spengler und über Heidegger.

Paris, 7. Oktober 1942. - Aus den Zeitungen: »Ein Buch, das eine Auflage von einer Million erreicht, ist in jedem Falle etwas Ungewöhnliches - ein ungewöhnliches Ereignis in der geistigen Welt. - Man erkennt, daß hier eine tiefe Notwendigkeit am Werke ist. Der Erfolg des ›Mythus‹ ist eines der Zeichen, an denen der verborgene Wille eines kommenden Zeitalters abgelesen werden kann.« Also der weise Kastor im »Völkischen Beobachter« vom 7. Oktober 1942 über den »Mythus« von Rosenberg, die platteste Sammlung von flüchtig abgeschriebenen Gemeinplätzen, die man sich denken kann. Derselbe Kastor argumentierte an der gleichen Stelle vor nunmehr fast zehn Jahren: »Ja, hat denn Herr Spengler nicht die Zeitungen gelesen?« Also ein Philosoph, der einen anderen Philosophen als Erkenntnisquelle auf die Zeitungen verweist, und das in Deutschland, und zwar expressis verbis -, das dürfte doch so schlicht noch nie zum Ausdruck gekommen sein. Und wohlgemerkt gilt dieser als der erste in seinem Fache, als Überphilosoph heroischer Geschichtsauffassung und ähnliches. Dies als kleines Beispiel für die Luft, in der man lebt. - Leute wie dieser Kastor gehören übrigens zum Typus der Trüffelschweine, dem man in jeder Revolution begegnen wird. Da ihre groben Gesinnungsgenossen unfähig sind, die exquisiten Gegner festzustellen, bedienen sie sich korrumpierter Intelligenzen höheren Ranges, um sie herauszuschnüffeln und sichtbar zu machen und dann womöglich auf eine Art zu attackieren, die der Polizei Handhaben bieten kann. Jedesmal wenn ich merkte, daß er sich mit mir beschäftigte, machte ich mich auf eine Haussuchung gefaßt. Auch gegen Spengler rief er nach der Polizei, und es gibt Eingeweihte, die behaupten, daß er ihn auf dem Gewissen hat.“
Ernst Jünger, Strahlungen, 1949, S. 144

Paris, 16. Oktober 1943. - Daß er mit dem rationalistisch erworbenen Elan des Denkens in metaphyische Gebiete eilt. Das fiel mir bereits an Spengler auf und zählt zu den günstigen Vorzeichen. Summarisch gesprochen war das 19. Jahrhundert ein rationales, während das 20. ein kultisches ist.“
Ernst Jünger, Strahlungen, 1949, S, 332

Kirchhorst, 1. April 1945. - Wenn Spengler vor jedem Eindringen nach Rußland aus Raumgründen warnte, so hatte er, wie wir inzwischen gesehen haben, recht.“
Ernst Jünger, Strahlungen, 1949, S. 489

„Als Widerspruch zu diesem Optimismus ist nicht der Pessimismus anzusehen. Die Katastrophe ist von pessimistischen, insbesondere von kulturpessimistischen Strömungen umringt. Der Pessimismus kann sich, wie bei Burckhardt, als Ekel äußern vor dem, was man heraufkommen sieht - man wendet dann die Augen auf schönere, wenngleich vergangene Bilder ab. Dann gibt es Umschwünge zum Optimismus, wie etwa bei Bernanos - das Licht glänzt auf, wenn es ganz dunkel geworden ist. Gerade die absolute Übermacht des Feindes spricht gegen ihn. Endlich gibt es den Pessimismus, der, obwohl wissend, daß das Niveau sich senkte, auch auf der neuen Ebene Größe für möglich hält und insbesondere der Beharrung, dem Halten des verlorenen Postens den Preis erteilt. Darin liegt Spenglers Verdienst.“
Ernst Jünger, Über die Linie, 1950, S. 8

„Der große Einschnitt liegt darin, daß die Vernichtung zunächst leidend empfunden wird. Das bringt oft eine letzte Schönheit wie in den Wäldern der erste Frost, auch eine Feinheit, die klassischen Zeiten nicht gegeben ist. Dann schlägt das Thema um, zum Widerstande; es stellt sich die Frage, wie der Mensch im Angesichte der Vernichtung, im nihilistischen Soge bestehen kann. Das ist die Wendung, in der wir begriffen sind; es ist das Anliegen unserer Literatur. Das läßt sich mit zahlreichen Namen belegen - ... (genannt werden hier u.a. die Namen Spengler und Benn; HB) .... Gemeinsam ist ihnen allen das Experimentelle, das Provisorische der Haltung und die Kenntnis der gefährlichen Lage, der großen Bedrohung; das sind zwei Daten, die über Sprachen, Völker und Reiche hinweg den Stil bestimmen - denn daß ein solcher bestehe und nicht nur in der Technik lebe, darüber kann kein Zweifel sein.“
Ernst Jünger, Über die Linie, 1950, S. 19

„Wir können ... Oswald Spengler nicht zustimmen in seiner Aufforderung an die neue Generation: sich der Technik statt der Lyrik, der Marinie statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntnistheorie zuzuwenden« - obwohl man gewiß vorm Sprung das Überflüssige ablegen muß. Wir alle haben es, mehr oder weniger widerstrebend, gemußt.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 407

„Eine Ordnung der Menschheitsgeschichte unter Richtpunkten, die außerhalb der Kultur- und Völkergeschichte liegen, also etwa den astrologischen ähneln würden, scheint heute besonders schwierig, auch abgesehen von dem großen Anfall an Tatsachen. Dieser besteht nicht nur darin, daß sich, vor allem durch die Ausbildung der Archäologie, unsere Kenntnis der Frühgeschichte erweitert hat und noch fortwährend ausdehnt, so daß nicht nur neues Licht auf die uns bekannten Kulturen fällt, sondern auch ganz unbekannte auftauchen. Dazu kommt der erstaunliche Einblick in die Vorgeschichte, der nicht nur ein neues Feld, sondern eine neue Dimension erschließt. Je mehr Tatsachen anfallen, desto entschiedener muß der Geist auf seinem Herrschaftsanspruch, auf Ordnung und Benennung, bestehen. Vielleicht ist bereits der Andrang von Tatsachen ein Symptom der Schwächung, ein hellenistischer Zug. Der Geist wird zum Museumsdirektor, zum Kustos unkontrollierbarer Sammlungen. Bereits aus diesem Grunde ist Spenglers System mit seiner Einteilung in acht Kulturen dem Toynbees vorzuziehen, das sich auf deren einundzwanzig stützt. Auch diese Zahl könnte durch archäologische Ergebnisse und feinere Einteilung vermehrt werden. Es bleibt aber richtig, daß der Geist der Forschung die Aufträge erteilt, nicht umgekehrt. Tatsachen schaffen Belege, nicht Wahrheiten. Wo geforscht wird, wurde das Feld bereits durch geistige Vetos und Placets abgesteckt. Was gefunden wird, ist daher nicht zufällig.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 453

„Spengler bezeichnet seine morphologische Geschichtslehre als »kopernikanische Entdeckung« im Reich der Geschichte. Dem läßt sich zustimmen, was ihren Rang, nicht aber, was die Qualität betrifft. Hinsichtlich dieser ist Spenglers Auffassung anderen Systemen, wie dem tychonischen näher verwandt. Vor allem fehlt ihm die Unendlichkeit des kopernikanischen Raumes, den der Lichtstrahl geradlinig, ohne eine Grenze zu finden, durchfliegt.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 453-454

„Spenglers Verdienst liegt darin, daß er den großen Gedanken der Entwicklung, wie Herder und Goethe sie verstanden, auf sein Geschichtsbild anwendet, und das zu einem Zeitpunkt, an dem dieser Gedanke durch Mißverständnis und Verflachung der Hegelschen Geschichtsphilosophie nicht nur im historischen Selbstbewußtsein der Gebildeten, sondern bis in die politische Praxis hinein zu einer Art von optimistischem Religionsersatz vereinfacht worden war. Demgegenüber ist Spenglers Geschichtsbild, vor allem hinsichtlich der Kulturprognose, mit Recht pessimistisch. Es führt von der Vorstellung der linearen und eo ipso aufsteigenden Entwicklung zu zyklischen Konfigurationen zurück. Dadurch übt es großen und wachsenden Einfluß aus.  –  Daß auch dieses Geschichtsbild letzthin nicht befriedigt, berührt eine der Schattenseiten seiner Vorzüge. Es ist ein organisches Geschichtsbild: die Kulturen werden in ihm gezeichnet als mächtige Bäume; ihr Leben wird verfolgt vom unbewußten Keim bis zur bewußten Reife und zum Tode, den ein langes Absterben einleitet. Sie sind nicht weiter ausdeutbare Urbilder. Sie haben »keine Fenster«, wie Leibniz von der Monade sagt. Im Anblick endet die Frage nach dem Warum. Wir fragen auch nicht, warum ein Baum an einer bestimmten Stelle wächst und alt wird und warum dieser Baum gerade ein Ahorn oder eine Linde ist, obwohl zwischen Art und Standort Relationen in Menge bestehen.  –  Zuweilen verstärkt sich dieser Eindruck, wie beim Gang über eine Wiese, auf der Pilze in großen Individuen oder auch in Ringen aufwachsen und über Nacht vergehen. Der Anblick läßt fragen: Was war der Anflug, wo kommen die Sporen her?  –  Die Weltgeschichte wird so zu einer Reihe von Auftritten, die einander nach unerklärlichem Belieben folgen und ohne inneren Zusammenhang. Das Verbindende liegt in der Periodizität der Abläufe und ihrer morphologischen Ähnlichkeit, die der physiognomische Blick erfaßt. Da wird auch Bedeutendes und Überraschendes gesehen, und zwar in einer Fülle, die sogleich verrät, daß es sich weniger um neue Funde handelt als um eine neue Optik, einen neuen Blick.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 454-455

„Wenn Spengler in der Einleitung zu seinem Hauptwerk sagt: »Das Mittel, lebendige Formen zu erkennen, ist die Analogie«, so rührt er damit das Wesen der physiognomischen Methodik an. Durch den Analogieschluß läßt sich in der Tat viel erreichen, unter anderem die Erfassung und Ordnung historischer Figuren unter der bloßen Oberflächenähnlichkeit der zeitlichen Gewänder und ferner die Einsicht in noch bevorstehende Abläufe aus der Kenntnis der Periodizität heraus: als Voraussage. Hier gewinnt der physiognomische Instinkt des Hinzutretenden prophetische Kraft.  –  Nun aber gehört es zu den Eigentümlichkeiten des menschlichen Geistes, daß ihn die Anordnung und Anreihung des Ähnlichen zwar stark beschäftigt, doch nicht befriedigt, solange die Frage nach der Quelle der Vergleiche und nach der gemeinsamen Komposition der Akte und Auftritte des großen Schauspiels offen bleibt. Die reine Vergleichung schafft Relationen, nicht Maßstäbe. Es bleibt die Frage nach der inneren Einheit der mannigfaltigen Erscheinungen und Abläufe über die Ähnlichkeit hinaus. Die Ähnlichkeit ist ja nicht nur ein unerschöpfliches Feld der Deutung, sondern weist auch auf unerschöpfliche Bedeutung hin, auf Schöpfung selbst.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 455

„Dieser zweiten Frage versagt sich Spengler; wir suchen vergebens eine Antwort bei ihm. So gleicht seine Morphologie der Weltgeschichte einem vorzüglichen Gruppenbild von acht Brüdern, die sowohl untereinander verschieden als einander ähnlich sind. Dürfte man noch den Vater kennen oder auch nur auf ihn schließen, so hätte man das innere Band.  –  Die Frage nach dem Weltplan oder dem Weltsinn, sei er göttlicher, sittlicher oder materieller Natur, wird also von Spengler nicht beantwortet. Seine Morphologie gleicht einem Palast, dem das oberste Stockwerk fehlt. Das nimmt ihr nichts von ihrer morphologischen Größe, führt aber nicht aus dem Vergleichbaren ins Unvergleichliche hinaus. Von dort, so vermuten wir, kommen die Aufträge.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 455-456

„Das Wort »Weltplan« wird von Spengler in Anführungszeichen gesetzt. Er wirft den Philosophen vor, daß sie als dessen Urheber »Gott bemühen«. Trotzdem bleibt der Weltplan der große Gedanke, der Herders Geschichtsbild sinnvoll zusammenhält. Das gleiche gilt für Hegels Deutung der Geschichte als der Selbstentfaltung des Weltgeistes.  –  In solchen Konzeptionen liegt mehr als die Befriedigung der betrachtenden Vernunft durch letzte Siegel - sie besitzen einen weisenden, fordernden Zug, der sie mit dem Verhalten des Menschen sinnvoll verknüpft, ihm Bahn und Richtung gibt.  –  Diese Überlegenheit ist an Hegels System zu verfolgen bis zu den materialistischen Schulen, die sich von ihm abzweigen. Das ist einer der Gründe, aus denen der materialistische Optimismus sich im politischen Machtkampf den Kräften gegenüber durchsetzt, die ihr theoretisches Rüstzeug aus biologischen Vorstellungen beziehen. Eines festen Punktes, wie Archimedes, bedarf auch der, der die politische Welt aus den Angeln heben will, und diese Voraussetzung kündet sich bereits in den Denkstilen an.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 456-457

„Die Astrologie gibt das Muster einer Methodik, die das Leben mit größeren Abläufen verknüpft. Sie greift weit über die biologisch-historische Erfassung sowohl der Einzelnen als auch der Kulturen hinaus. Ihre Vorstellung, ihr Symbol, das Horoskop, ist zyklisch, und da es sich auf den größten und ältesten Umlauf bezieht, den wir kennen, genügt ihr eine einzige und unveränderliche Uhr zur Ablesung dessen, »was die Stunde geschlagen hat«. Dieser Zyklus setzt dem Astrologen zugleich die meßbare astronomische und die zu deutende Schicksalszeit. Logos und Nomos werden in Beziehung gesetzt, ja ausgetauscht, und schmelzen für den deutenden Blick ineinander ein.  –  Die Zuversicht auf Wiederkehr bestätigt das Sein und auch die Sicherheit in ihm ganz anders als das Bild der endlosen, sei es auch aufsteigenden, Bahn. Sie läßt vermuten, daß andere Maße, andere Pläne als die der menschlichen Berechnung mitbestimmen, mitwirken und daß sich der menschliche Plan in einem größeren Rahmen bewegt. Das ist besonders wichtig in Zeiten, in denen die Bewegung uferlos und höchst gefährlich zu werden scheint. Auch darin liegt ein Hinweis auf die wachsende Anziehungskraft der Sterndeutung.  –  Eine nicht näher zu berührende Frage ist die nach den Mächten, die die Deutung bestimmen oder von denen der Deuter bestimmt zu werden glaubt. Gleichviel ob er Gesetze oder prägende Mächte aus der Umdrehung des Schicksalsrades zu erraten meint - sein Blick richtet sich auf eine zwar verschleierte, doch ohne Zweifel wirksame Welt. Das ist erstaunlich in einer Zeit, in der die Theologie in immer größerem Umfang sich der reinen Ethik zuzuwenden beginnt. Noch erstaunlicher ist der Umstand, daß es sich nicht um wie Schnee in der Sonne der praktischen Vernunft dahinschmelzende Reste, um »Tibetanisches«, handelt, sondern um Auswachsendes.  –  An das Erscheinen, nicht an die Erscheinung dieser Bewegung knüpft sich die Untersuchung an, also an ihren Standort, der selbst ein sich regender ist, wie ein Grund, der aus der Tiefsee sich in die Höhe wölbt. Demgegenüber ist unbedeutend, was auf ihm wächst. Mißverständnissen läßt sich dabei nicht ausweichen.  –  Der eigentliche Wert einer solchen Bewegung, einer solchen Beunruhigung liegt nicht darin, daß sie »stimmt«. Er liegt vielmehr darin, daß Geisteskräfte ins Treffen geführt werden, die lange brachgelegen haben, ja weithin verkümmert sind und deren Absterben den Planeten zu veröden droht.  –  Darin, und nicht in der physischen Bedrohung, die sekundär ist, oft sogar heilsam, liegt die Gefahr.  –  Zu den Verdiensten Spenglers gehört, daß er eine Generation vom Vorurteil der Einmaligkeit, der Einzigartigkeit ihrer historischen Erscheinung und ihrer historischen Lage befreit hat, von jener Vorstellung des Niedagewesenen, wie sie besonders mit der Entwicklung der Technik und ihren überraschenden Phänomenen verbunden war.  –  Insofern verrät sein vergleichender Blick, etwa auf ein Fußballstadion von 1914 oder die Feststellung, daß es sich bei dem Weltkrieg nicht um eine der üblichen Auseinandersetzungen zwischen Völkern handelte, sondern um den Typus einer Zeitwende, die seit Jahrhunderten ihren vorbestimmten Platz hatte, eine Lagebeurteilung, die dem bloßen Wechsel der Prospekte innerhalb des historischen Bewußtseins weit überlegen ist. Das war von besonderer Wirkung zu einem Zeitpunkt, da seit langem die philosophische, vor allem die erkenntniskritische, Disziplin aus den Einzelwissenschaften geschwunden war, gewichen der Überschätzung empirischer Abläufe und experimenteller Phänomene - von theologischen Erwägungen ganz abgesehen. In dieser Hinsicht bleibt unumstößlich Prediger 1, Vers 9, 10.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 457-459

„Spenglers Geschichtsbild wurde vor dem Ersten Weltkrieg konzipiert. Inzwischen haben Beschleunigung und Anfall von Tatsachen sich weiterhin gesteigert, und das in einem Maße, das den Strom der Zeit und ihres Geschehens zuweilen als Katarakt erscheinen läßt, der die Schiffe weniger trägt als mitreißt und bedroht.  –  Die Weisheit des Ben Akiba, daß alles schon dagewesen sei, wird durch die Ereignisse und Gebilde, die sich vorstellen, auf das härteste erprobt. Damit erhöht sich die Verantwortung des betrachtenden und ordnenden Geistes und seiner Lagebeurteilung. Es wirft sich, unter anderem, die Frage auf, ob es sich überhaupt noch um ein Geschehen handelt, das durch historische Betrachtung und aus historischer Erfahrung heraus beurteilt werden kann. Auch dann wäre das Wort Ben Akibas nicht hinfällig. Es müßte aber außerhalb der Geschichte belegt werden: Wir würden dann Dinge wiederholen, für die der historische Vorgang fehlt.  –  Immerhin war es eine gute Feststellung, daß wir nicht »im Zeitalter der Punischen Kriege«, wie viele glaubten, sondern in dem der Schlacht von Actium stehen, und ein politisches Genie, das mit zwingender Schärfe die Konsequenzen durchdacht hätte, würde uns wahrscheinlich viel Unangenehmes, und vor allem Umwege, erspart haben.  –  »Ab 2000« würden wir demnach in einem weltfriedlichen Zeitalter mit Riesenstädten, hellenistischen Kunstwerken und machtvoll perfektionierter Technik stehen. Zum ersten Male wäre der Erdball in einer Hand; es gäbe keine »Ränder« im alten Sinne mehr. Die Parther dieses Imperiums würden an anderen, nur vermutbaren, Orten auftauchen. Schon Nietzsche sieht den Weltstaat und dann seinen Verfall voraus. Es kann nicht anders sein. Denn alles, was entsteht, // Ist wert, daß es zugrunde geht. Daher sind den Auskünften, die die reine Geschichtsbetrachtung gewähren kann, Grenzen gesetzt.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 459-460

„Spengler hat ohne Zweifel einen Turnus erfaßt, obwohl, wie gesagt, sein pluralistisches Bild in letzter Instanz nicht befriedigen kann. Es war daher vorauszusehen, daß es an Versuchen nicht fehlen würde, die Einheit der Weltgeschichte in der Betrachtung wiederherzustellen. Das wird der Geschichtschreibung aus eigenen Mitteln nicht möglich sein, wie es ihr auch niemals möglich gewesen ist. Sie muß dazu einen außerhalb der Geschichtswelt gelegenen archimedischen Punkt finden, sei es in der Theologie, sei es in der Metaphysik, sei es in der Materie.  –  Der morphologischen Feststellung, die auch in unserem Zeitalter Wiederkehrendes erblickt, kann nur mit Einschränkung zugestimmt werden - insofern nämlich als, falls es sich um Wiederkehrendes handelt, der Turnus der historischen Zyklen dafür zu kurz ist und somit unsere geschichtliche Erfahrung zum Wiedererkennen nicht genügt.  –  Es ist freilich immer gut und zeugt für geistigen Abstand, wenn man sich angesichts des Anfalls von Aktualitäten mit dem »Nil admirari« des Horaz oder dem »Alles ist dagewesen« des Ben Akiba rüstet, obwohl zugegeben werden muß, daß dieser Anfall, schon quantitativ gesehen, enorm ist, sowohl was die Masse als auch was den Schauplatz der Ereignisse betrifft. Dazu kommt ihre Beschleunigung in einer geometrischen Progression, die, wie der Sog eines Kataraktes, seit über hundertfünfzig Jahren die Ereignisse immer schneller, immer zwingender einander folgen läßt.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 460

„Noch beunruhigender wirkt die Feststellung, daß dieser Anfall von Tatsachen ohne Zweifel auch eine qualitative Färbung besitzt. Die Dinge werden befremdend in einem Maße, für das der Vorgang fehlt. Das Wort »beunruhigend« ist hier nicht im gängigen Sinne gemeint; es muß zunächst von der Gefahr abstrahiert werden. Erst wo das gelingt, kann Stichfestes zur Zeit gesagt werden. Die Furcht vernebelt die Kontur. Auch Faszinierendes ist beunruhigend.  –  Daß weite Gebiete durch Kriege verheert, entvölkert oder von Unholden beherrscht werden, ist kein historisches Novum, und auch die Mittel, deren man sich dazu bedient, kann man als akzidentell ansehen. Tamerlan dürfte so leicht nicht zu überbieten sein. Die Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges auf die betroffenen Völker und ihre Kultur waren verhängnisvoller als die beider Weltkriege, während deren die Vermehrung der Erdbevölkerung sich fortsetzte und die Kapazität der zivilisatorischen Mittel und Methoden sich sprunghaft steigerte. Dieser Unterschied ist nicht zufällig.  –  Beunruhigend im Sinne des Erstaunlichen und »Eintretenden« sind andere Wahrnehmungen, wie etwa, um ein Beispiel zu nennen, jene, daß sich die Spezies sowohl an sich als auch im Verhältnis der Geschlechter offensichtlich zu verändern beginnt, und das in einer Weise, für die es weder im historischen Nacheinander noch im ethnographischen Nebeneinander Vorgänge gibt. Das deutet auf Veränderungen, die im Turnus nicht zu belegen sind, falls sie sich nicht auf Kreisläufen abzeichnen, deren Bewegungen langfristiger als die der Kulturen oder überhaupt der Geschichtszeit sind.  –  Dem widerspricht nicht, daß auch der von Spengler aufgezeigte Turnus »stimmen« kann. Es bleibt aber evident, daß über die Möglichkeit des morphologischen Vergleichens und Wiedererkennens hinaus neuartige Elemente eintreten. Das läßt vermuten, daß zugleich mit dem historischen Turnus eine Spanne abgelaufen ist, die seinen Maßstab übergreift.  –  Man kann sich das durch Zahlen veranschaulichen: Zugleich mit einem Jahrzehnt kann ein Jahrtausend, ein Jahrzehntausend oder ein noch größerer Turnus abgelaufen sein. Will man es räumlich sehen, so kann man sich vorstellen, daß ein Grenzbewohner mit einem Schritte sowohl aus seinem Zimmer wie aus seinem Hause und sogar aus seinem Lande heraustreten kann. Wir geben uns über solche Verhältnisse meist wenig Rechenschaft. Wir können die Wirbel eines Tieres durchzählen, ohne wahrzunehmen, daß sie hier einen Teil des Kopf - und dort des Rücken- oder Schwanzskeletts ausmachen. Je mechanischer wir zählen, desto weniger bemerken wir Übergänge dieser Art. Ähnlich verhält es sich mit dem Wechsel der Schicksalszeit unterhalb der Chronologie. Wir zählen weiter, ohne zu bemerken, daß sich nicht nur die Zahl, sondern auch das Wesen der Jahre verändert hat. Sie folgen sich, aber sie gleichen sich nicht mehr.  –  Haben wir das Gefühl, in einer Spätzeit zu stehen? Das ist wohl vorbei; es war um 1900 stärker ausgeprägt. Es gibt nur noch wenige Orte auf der Welt, an denen man sich den Luxus der decadence leisten kann. Heut heißt es: »Friß, Vogel, oder stirb«.  –  Der ungeheure Zug, den wir erleiden, kann nicht allein aus schärferer Durchdenkung der Welt entspringen; er treibt andere Symptome hervor als der cäsarische Altersstil. Nach dieser Theorie müßten die Söldnerheere zunehmen; ihr widerspricht die Totale Mobilmachung. Der Gebildete würde sich durch einen ganz anderen Abstand von den Dingen auszeichnen, durch geistige Gelassenheit, sei es im Sinn der Stoa oder Epikurs. Die Machtfragen würden weniger mit Moralfragen verquickt werden, und umgekehrt. Im allgemeinen würde man angenehmer leben, wie fast immer in Spät- und Verfallszeiten.  –  Von solcher Herbst- und Abendstimmung ist wenig zu bemerken - die Jahre fordern sowohl den Pessimismus wie den Optimismus stärker heraus. Auf der einen Seite werden sie nicht als Spät-, sondern als Endzeit gesehen, auf der anderen mit einem Jubel, einem Opfermut begrüßt, der nicht zu erklären, geschweige denn zu widerlegen ist. Beides zusammen deutete auf eine ungewöhnliche Zäsur.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 461-463

„Sollte etwa der Einschnitt, der so offensichtlich unsere Jahre zeichnet, nicht nur zwei Epochen menschlicher Geschichte trennen, sondern zugleich sowohl den Ablauf als auch den Beginn eines größeren Zyklus ankünden? Das würde bedeuten, daß selbst zur Erfassung grober Fakten die Mittel der Geschichtsbetrachtung nicht ausreichen. Das würde bereits der Fall sein, wenn es sich um einen verhältnismäßig kleinen Zyklus, etwa von zehn- oder zwanzigtausend Jahren, handelte. Ein solcher Zyklus ist winzig, verglichen etwa mit einem indischen Götterjahr oder auch mit den Abläufen, die unsere Astronomie, Geologie oder Paläontologie berücksichtigen.  –  Ferner: Gab es immer, solange Menschen auf der Welt sind, Weltgeschichte in unserem Sinn? Ohne Zweifel nicht, da wir von Vor- und Urgeschichte sprechen, die wir entweder aus unserer Geschichtsbetrachtung ausklammern oder als Vorsaal in sie einbeziehen. Eine Person, eine Begebenheit muß ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen, um »geschichtlich« zu sein. Dazu gehört sowohl die geschichtsbildende Kraft als auch die Fähigkeit, Gegenstand der Geschichtschreibung und des in ihr waltenden Eros, Objekt der historischen Anschauung zu sein. Diese heftet sich an bestimmte, nicht an beliebige Zeiten und Vorgänge. Das war nicht immer der Fall. Wir nennen Herodot den »Vater der Geschichtschreibung«. In der Tat bietet er eine ungewöhnliche Lektüre; man durchwandert seine Bücher wie ein von der Morgenröte bestrahltes Land. or ihm war etwas anderes, war mythische Nacht. Diese Nacht war aber nicht dunkel, sondern eher Traum und kannte eine andere Verknüpfung der Menschen und Ereignisse als das historische Bewußtsein und seine sondernde Kraft. Das bringt die Morgenröte in Herodots Werk. Er steht auf dem Grat eines Gebirges, dasTag und Nacht trennt: nicht nur zwei Zeiten, sondern zwei Zeitarten, zwei Arten von Licht. Ein wenig später, schon bei Thukydides, ist die Morgenröte verblaßt. Auf Menschen und Dinge fällt das klare Licht historischen Wissens, historischer Wissenschaft. Es fragt sich nun: Hat auch dieses Licht seine Zeit? Stehen wir in einer ähnlichen Wende wie Herodot oder in einer noch bedeutsameren? Sind die Ereignisse, die sich darbieten, nicht mehr auf jene Art verknüpft, die wir gewöhnt sind, Geschichte zu nennen, sondern auf eine andere, die wir noch nicht benannt haben?  –  .... Aus der Welt verschwindet mit den historischen Bindungen und Landschaften auch das Verhalten, das sich nach geschichtlichen Vorbildern beurteilen und prognostizieren läßt. Daher beginnen auch Wörter trügerisch zu werden, die zum eisernen Bestand des geschichtlichen Handelns und der Verträge gehörten, wie »Krieg« und »Frieden«, »Volk«, »Staat«, »Familie«, »Freiheit«, »Recht«.  -  In dieser babylonischen Verwirrung sucht die Geschichtschreibung Anleihen zumachen, sei es bei der Theologie, der Mythologie und Dämonologie, sei es bei der Psychologie und Moral, oder sei es einfach bei der Politik. In der Tat kann man kaum noch ein Buch zur Zeitgeschichte aufschlagen, bei dem nicht sein politischer Standort, und damit mehr Absicht als Ansicht, sogleich durchleuchtet. Es muß aber dem, der wissen will, was vorgeht, mehr an einer Typologie unserer Welt und ihrer Vorgänge als an ihrer polemischen Beleuchtung gelegen sein. Die groben Einbrüche, die an vielen Stellen die Geschichtslandschaften in elementare verwandeln, verhüllen Veränderungen feinerer, aber durchdringenderer Art. Bedenklicher ist, daß sich der Mensch in seinem Wesen, als Wesen, zu verändern beginnt. Es tritt etwas Neues und Fremdartiges in ihn ein, und zwar generell, über Nationen, Rassen und Bildungsstufen hinweg, auf planetarische Art. Diese Veränderungen sind unsichtbarer als die der Technik, obwohl sie mit ihr zusammenhängen, und sind ursächlicher.  –  .... Von Jahr zu Jahr wird beklemmender, mächtiger spürbar, daß Dinge im Werden sind, vor denen auch Ben Akiba erstaunen würde – eben deshalb, weil sie im Geschichtlichen nicht unterzubringen sind. Das eben bezeugt auch die Tatsache der astrologischen Beunruhigung, von der wir ausgegangen sind. Daß Millionen ihr Horoskop verfolgen, mag als Faktum unwichtig sein. Das ändert wenig oder nichts. Höchst aufschlußreich dagegen ist es als Symptom. Wenn wir annehmen, daß wir uns am Abschluß eines Zyklus befinden, der die Geschichte, ja vielleicht die menschliche Existenz auf dieser Erde übergreift und daß bereits ein neuer Zeitgroßraum auf den Menschen einwirkt, so dürfen wir folgern, daß Erscheinungen eintreten werden oder bereits eingetreten sind, wie sie geschichtlich oder selbst anthropologisch noch nicht fixiert wurden. Da Erdgeschichte aber die Menschengeschichte weit überdauert, könnte aus ihr als einer umfassenden Kategorie vielleicht Vergleichbares geschöpft werden. Dabei ergibt sich eine nur anzudeutende Schwierigkeit. Es wiederholt sich die Lage des Herodot mit umgekehrten Vorzeichen. Herodot blickte aus dem historischen Raum, den er soeben betreten hatte, auf den mythischen zurück. Er tat es mit Scheu. Die gleiche Scheu ist heute dort geboten, wo sich jenseits der Zeitmauer Zukünftiges abzeichnet. In jeder Benennung schlummert Gefahr. Wo Herodot sich, etwa während seiner Reise nach Ägypten, in die Mysterien, die noch überall begangen wurden, einweihen ließ, erwähnt er die Tatsache, aber verschweigt, was er erfahren hat. Das Mythische ist eine Macht für ihn, die sich in die Heiligtümer zurückgezogen hat, doch deren Grenzen zu beachten sind. Übrigens setzt sich dieses Verhältnis, wenn nicht in der späteren Geschichtschreibung, so doch in der Geschichte fort. Die Bilder, Personen, Ereignisse im Geschichtsfeld sind immer in Gefahr, vom Mythos angestrahlt und überwältigt zu werden, und das gerade in Augenblicken, in denen das Historische zu kulminieren scheint. Eine der großen Anstrengungen der nachherodotischen, also der abendländischen Kultur im weiteren (nicht im Spenglerschen) Sinne besteht daher in der Wahrung ihrer geschichtlichen Struktur, sei es der des Staates, des Denkens oder der Person und ihres Freiheitsanspruchs, gegen den Angriff mythischer Mächte und ihrer Wiederkehr. Das, und nicht der Kampf zwischen Nationen und Wirtschaftsformen, gehört zur wesentlichen Erfassung des Abschnittes, der hinter uns liegt. Von Geschichtswahrung, von Geschichtsbewußtsein überhaupt in diesem Sinne, kann nur in ihm die Rede sein.  –  Diese Geschichtswahrung ist das große Thema der abendländischen Kultur. Das unterscheidet sie von allen anderen. Ihr gegenüber wird die Streitfrage, ob Geschichte als Staaten- und Kriegs- oder als Kulturgeschichte im engeren Sinn behandelt werden sollte, zweiten Ranges – das Wesentliche ist die Wahrung eines eigentümlichen Nomos, eines So-Seins, das sich in der Kultur bestätigt, im Kampf verteidigt wird.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 465-469

„Wenn wir nun das Erzene Zeitalter des Hesiod auf unsere Bronzezeit bezogen, so liegt die Frage nahe, ob nicht auch für das Goldene Zeitalter ein ähnlicher Bezug zu finden sei? Ihm, als der frühesten Epoche des Hesiod, böte sich dann die älteste der wissenschaftlichen Vorstellungen, die Steinzeit, an. In der Tat wurde das Goldene Zeitalter, wie der geschichtliche Mensch es zu erkennen glaubte, gern dort vermutet, wo steinzeitliche Kulturen bis auf unsere Tage erhalten geblieben sind. Der Einfluß, den die Südseereisen Cooks und Forsters auf die französische Revolution und ihr Menschenbild ausgeübt haben, ist bekannt. Die Gleichzeitigkeit ist hier ebensowenig zufällig wie die Tatsache, daß aus der Welt der Südseevölker grundlegende Begriffe in die Psychologie übergegangen, oder wie jene andere, daß die uralten Höhlen des Steinzeitmenschen gerade in unseren Tagen sichtbar geworden sind. Solchen Funden und solcher Art der Sichtbarwerdung geht anderes voran.  –  Steinzeit: das ist nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein morphologischer Begriff. Steinzeit ist gegenwärtig, und zwar nicht nur ethnographisch, sondern auch individuell. Wenn Spengler daher sagte, daß man »den Neandertaler« in jeder Volksversammlung trifft, so war das eine richtige Feststellung. Ärgerlich daran ist nur der polemische Bezug, der beiden Parteien unrecht tut. Verglichen mit der unseren war die Steinzeit wahrscheinlich ein Goldenes Zeitalter. Vermutlich konnte man sich unendlich glücklicher fühlen, auch sicherer. Es gab weder Polis noch Politik. Das räumen selbst Autoren ein, die dem »Primitiven« gegenüber ein zivilisatorisches Grauen hegen, wie es der Reisende des 18. Jahrhunderts und noch Darwin gegenüber dem Feuerländer empfand. So sagt der Epikuräer Lucretius Carus in seinem Lehrgedicht über die Natur der Dinge, nachdem er ein düsteres Bild der Schutzlosigkeit des frühen Menschen gegenüber den Elementen und den reißenden Tieren entworfen hat: »Aber Tausende führte noch nicht ein Tag zum Verderben // Unter den Fahnen dahin; es wurden Männer und Schiffe // Nicht, von den stürmenden Wogen zerschellt, an Klippen geschleudert, // Denn die verderbliche Kunst der Schiffahrt war noch verborgen.« Die Stelle ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie bereits den Unfall in Rechnung zieht.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 487-488

„Der Mechanismus des Unterganges wird verschieden gesehen – es ist viel Temperamentssache dabei. Die Neptunisten haben andere Vorstellungen als die Plutonisten; im Ergebnis ist kein großer Unterschied. Die Unterhöhlung, etwa durch Auslaugung oder Auswaschung, kann lange unbemerkt bleiben. Wenn sie genug gewirkt hat, kommt es zum Einsturz, zur Katastrophe von tektonischer Gewalt. Nun sucht man die Schuldigen und hält sich an Strohmänner.  –  Die Untergangsvorstellungen anläßlich des Erscheinens des Halleyschen Kometen, 1910 .... Der Schock, den zwei Jahre später der Untergang der »Titanic« hervorrief .... Um diese Zeit muß Spengler den Satz konzipiert haben: »Der Untergang des Abendlandes ist nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation.« Seitdem hat sich die Bedrohung durch die technische Katastrophe immer enger dem Bewußtsein der Völker und der Einzelnen verknüpft. Ununterbrochen ist die Zahl der Opfer angewachsen, die so gebracht werden. Auch kollektive Vorgänge wie Kriege, Bürgerkriege und Großexperimente nehmen die Form der technischen Katastrophen an. Da liegt es nahe, daß auch der Weltuntergang in dieser Form begriffen wird.  –  .... Die grauenvollste Aussicht ist die der Technokratie, einer kontrollierten Herrschaft, die durch verstümmelte und verstümmelnde Geister ausgeübt wird.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 525-526 und 528

„Die Welt wird von Uhren erfüllt, wird selbst zum Uhrwerk; die Zeit wird kostbarer und unerträglicher. All diese Uhren zählen und messen, aber sie sind auch, wie die Furcht vermutet, auf eine Stunde gestellt.  –  Die Technik ist in diesem Sinne Umstand, Kulisse, ist, nach dem Ausdruck von Martin Heidegger, Gestell. Ihre ökonomische, lokomotorische und ihre Machtseite ist ohne innere Bedeutung für den Menschen; ihre eigentliche Aufgabe ist einweisend und hinleitend. Dazu rechnet auch die Zerstörung, die man ihr vorwirft, die Verflachung, das Entleerende. Es hängt eng mit der Monotonie zusammen, jedoch im Sinne einer Umgruppierung, eines Schwundes, dem nachzuforschen ist. Der Raum wird ohne Zweifel leerer, unfreundlicher – zugleich verstärkt sich das Pochen an der Tür.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 539

„Die Verfeinerung von Darwins Anschauung, der Einbau von neuen Elementen in ihr Gerüst, betrifft im wesentlichen nicht den Stammbaum als solchen, sondern seine Verzweigung und ihren Periodus. Hier wirkt offenbar ein ähnlicher Wechsel der Auffassung wie jener, der Spenglers Geschichtsbild zugrunde liegt. Er betrifft weniger die Inhalte als den Wandel ihrer Abläufe. Hier wie dort fällt die Anwendung von Vergleichen auf, die dem vegetativen Leben entnommen sind. Die Pflanze folgt sichtbarer den kosmischen Bewegungen, hat feinere Organe für ihre Abläufe als Mensch und Tier. Fechner hat das vorzüglich beobachtet.  –  Daß dieser Wechsel der Anschauung sich alten Universaltheorien zu nähern scheint, geschichtsphilosophisch Herderschen, zoologisch Cuvierschen Auffassungen, ist nicht als Rücklauf zu betrachten, sondern gehört zu den Erscheinungen des Spiralganges, der das Fortschreiten des menschlichen Denkens kennzeichnet. Die großen Ideen wiederholen sich in stets erneuter Abwandlung und folgen damit einem Grundprinzip der organischen Bildung überhaupt, wie denn auch Einzelorgane, etwa Flossen und Flügel, aus den verschiedensten Stämmen immer wieder hervortreiben.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 588

„Die verändernde Macht kann unter, mit oder über der Intelligenz angreifen. Offenbar aber geht sie, wie der Strom durch einen Transformator, durch sie hindurch. Es sei hier an das erinnert, was über die antaiische und insbesondere über die atmosphärische Unruhe gesagt wurde. Hinsichtlich des Punktes, an dem unsere Untersuchung sich befindet, heißt das, daß sich der Mensch auch unabhängig vom genetischen Experiment verändern wird. Es wäre müßig, Einflüsse der Umwelt, wie sie soziologisch als Milieu, faunistisch als Biotop, kulturhistorisch als Stil bezeichnet werden, zur Erklärung heranzuziehen. Das alles gehört dazu, mit seiner Technik, seiner Ökonomie. Mit dem, was die Astrologen als den Eintritt in ein Neues Haus bezeichnen, verändert sich auch die Einrichtung. Gewiß wird das hier früher, dort später offenbar. Das läßt sich schon bei Ortswechseln beobachten. In Städten und Landschaften, in denen sich die speziellen Arbeitscharaktere der Perfektion nähern, verändert sich deutlich außer der Lebensform und -führung der Habitus, und zwar nicht nur physiognomisch und charakterologisch, sondern auch auf anthropologisch meßbare Art. Wie etwa im Zuge der Klimaänderung das Abschmelzen der Gletscher meßbar geworden ist, so sind es hier anatomische und morphologische Details, vom Psychologischen ganz abgesehen. Hier wäre nochmals die Frage zu streifen, inwieweit es sich um Erscheinungen der Spätzeit handelt, um weltstädtische Kennzeichen. Der Untergang des römischen Reiches hat ja von jeher als Schulbeispiel gedient. Es gibt allerdings eine Reihe von Merkmalen, die übereinstimmen: Cäsarismus, Bedrohung des Bauernstandes, Latifundienwirtschaft, Sittenverfall, wachsende Konzentration und Unwiderruflichkeit der großen Entscheidungen, hellenistische Kunstwerke und technische Großbauten; das sind Gesichtspunkte. Verändert sich jedoch der Standort des Beobachters um ein Geringes, so eröffnen sich Perspektiven, die durchaus nicht in Spenglers System passen. Hier tauchen nicht weniger zwingende Anzeichen einer Frühzeit auf. Daß Rußland, dessen Stand er dem des Reiches Karls des Großen vergleicht, auszuklammern sei, hat Spengler scharfsichtig bemerkt. Es handelt sich indessen nicht um regionale Unterschiede, sondern um das Auftreten eines neuen Typus, der die Nationen und selbst die Rassen formt. Dem entspricht auch das herrschende Welt- und Lebensgefühl, der wachsende Optimismus des Arbeiters, sein theoretisch so dürftig gestütztes Vertrauen auf seine zeitwendende Macht, das dennoch von Grund auf berechtigt ist und prognostischen Wert besitzt.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 605-606

„Was Spengler die »Zweite Religiosität« nannte, ist eng mit der décadence verflochten .... Es gibt nicht nur eine zweite Religiosität; es gibt auch eine zweite décadence. In ihrer ersten Phase beschleunigt décadence die Katastrophe, indem die feineren Geister in ihrer Verantwortung ermatten und sich von den Führungsdisziplinen abwenden. Sie wenden sich esoterischen und exotischen Dingen zu und folgen höheren Spieltrieben. Huysmans’ »A Rebours« ist dafür eine Fundgrube. Ohne Zweifel hat Plato aus solchen Gründen den Künstler ungern in seinem Staate gesehen. Spengler folgt ihm darin. In ihrer zweiten Phase jedoch, nach den Kulminationspunkten, nimmt die décadence retardierenden Charakter an. .... In dieser zweiten Phase sträubt sich die decadence dagegen, daß alles bis in die letzte Faser politisiert und in Bewegung verwandelt wird Sie trägt durch ihrWerk dazu bei. Einfach gesprochen: die Müdigkeit ist vor Mittag bedenklich, amAbend begrüßenswert.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 624

„Der echte Partner der Erde ist nicht der Verstand mit seinen titanischen Plänen, sondern der Geist als kosmische Macht. Bei allen Erwägungen des Zeitgeschehens spielt daher eine große Rolle die mehr oder minder ausgesprochene Hoffnung, daß höhere Geisteskräfte die gewaltige Bewegung zügeln und sich ihrer wohltätig bemächtigen.  –  In diesem Zusammenhange stößt man immer wieder auf einen der großen Seher des Abendlandes, Joachim von Fiore, und seine Lehre von den Weltaltern. Joachim von Fiore lebte von 1130 bis 1202. Seine Weissagung hat auf theologische und geschichtsphilosophische Systeme, bis zu dem von Spengler, bedeutend gewirkt. Den großen Zeitaltern des Vaters und des Sohnes soll ein drittes folgen, in dem der Geist als neue, unmittelbare Manifestation des Göttlichen auf das Geschehen wirkt. Erst dieser dritten Phase, die große Wirren einleiten, folgt das Weltende. In dieser joachitischen Dreizeitenlehre beginnt die initiatio einer Epoche bereits um viele Generationen früher, so die des Geistes mit den abendländischen Mönchsorden. In der ersten Phase der Trilogie geschehen die Dinge carnaliter, in der zweiten literalter und in der dritten spiritualiter. Für die erste gilt das Alte, für die zweite das Neue Testament, während der dritten Phase das geschriebene Evangelium fehlt. In unserem Zusammenhang ließe sich für »literaliter« das Wort »historisch« einsetzen.“
Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 644

„Zunächst muß das Wort »Arbeiter« neu konzipiert, es muß in und hinter ihm die Mutation erkannt werden, die viele Begriffe und Einrichtungen des 19. Jahrhunderts erleiden - eine Verwandlung, die der Entfaltung der Imago aus der Puppe gleicht. Allerdings ist es viel leichter, einem denkenden Menschen einen neuen Gedanken mitzuteilen als die Ansicht eines Bildes, das überraschend erscheint. Er sieht dasselbe, doch nicht auf gleiche Art. Das gilt auch für Köpfe vom Range Oswald Spenglers, wie ich durch einen Brief vom 25. September 1932 erfuhr, der inzwischen in seiner Korrespondenz veröffentlicht worden ist. Er beurteilte darin den »Arbeiter« vom antimarxistischen, also von einem überholten, Standort aus, indem er sich speziell auf den Bauern und dessen Zukunft berief. Das war wohl mehr als eine Generationsfrage. Es ist ein Unterschied von Anbeginn, ob man Ideen oder Gestalten sieht. Dessen haben mich die dreißig Jahre, die seit dem Erscheinen des Buches verstrichen sind, zur Genüge belehrt. Der Hinweis auf den Bauern gab mir insofern zu denken, als er Spenglers System und dessen Grundzügen widersprach. Jedes imperialistische Wollen muß sich wohl oder übel mit der Aufopferung des Bauernstandes abfinden. Weltmacht verwirklicht sich auf dessen Kosten, wie man es in Rom und England erfahren hat und heute nicht nur in Rußland erfährt, sondern, der Entwicklung zum Weltstaat gemäß, auch in den entferntesten Winkeln der Erde, in jedem Hof und jeder Eingeborenenhütte, an jedem Pflug und jedem Pferd.  –  Hier stellt sich die Zwischenfrage, auf wen denn im Falle des Weltstaates die grobe Arbeit abzuwälzen sei? In ihm kann es seiner Natur nach weder Kolonien noch Ausbeutung eroberter Kornkammern noch den Unterschied zwischen »weißer« und »farbiger« Arbeit geben - all jenen Gewinn, den seit der Antike hochentwickelte Staaten dank ihrer technischen, militärischen und politischen Überlegenheit aus den Ernten und Produkten eroberter Gebiete ziehen: Vorteile aus schlecht- oder unbezahlter Arbeit mit einem Wort. In dieser Frage begegnen sich politische und moralische, technische und wirtschaftliche Systeme; sie wird noch über den Rest des Jahrhunderts hinaus nicht nur die Geister, sondern auch den Willen beschäftigen. Als Modell der sich aus ihr entwickelnden Händel darf man den amerikanischen Sezessionskrieg betrachten - das macht sein Studium lehrreich, ja fast unumgänglich auf ähnliche Weise, wie das der Dreyfusaffäre unentbehrlich ist zur Beurteilung der Imponderabilien innerhalb der modernen Demokratie. Daß die Frage der Abwälzung der Sklavenarbeit auf technische Art gelöst werden wird, und zwar quantitativ durch die Entwicklung von Robotern und Automaten, qualitativ durch eine Verfeinerung und Verwandlung der Rohprodukte auf eine Weise, deren Ziel und Umfang noch kaum zu ahnen sind - das muß als eine der möglichen Leistungen unter vielen begriffen werden, doch nicht als Absicht, sondern als eines der Mittel der sich bildenden Welt. Es zählt zum Eingebrachten, zur Mitgift der Gestalt des Arbeiters. Das Ziel der Technik ist Erdvergeistigung. Die Reduktion des Bauernstandes ist der spürbarste Ausdruck dafür, daß der angestammte Nomos, die eingesessene Rasse aufs Spiel gesetzt werden. Jede räumliche Ausdehnung zehrt an ihr, wie das im Lauf der römischen Geschichte Zug um Zug zu verfolgen ist.“
Ernst Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 373-374

„Innerhalb der Arbeitswelt wird nicht nur die Mechanik, sondern auch die Chemie in ungeahnter Weise zu dieser Reduktion beitragen - nicht mehr Böden werden erschlossen, sondern Erde schlechthin. Die Kriegsverluste, selbst die von Cannä, fallen weniger ins Gewicht als die Verwässerung einerseits durch Expansion, andererseits durch das Hereinströmen des Fremdartigen. Die Besiegten bringen nicht nur ihre Arbeitskraft, sie bringen auch ihre Eigenart, ihre Sitten, ihre Kulte und ihren Luxus mit. Die Sklaven haben eine eiserne Stirn; sie beobachten scharf und sind schwer zu durchschauen. Wer erobert, wird selbst erobert - das ahnten die Makedonen bei Alexanders Hochzeit mit Roxane, in der er zugleich die Verschmelzung Europas mit Asien feierte. Für die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts sagt Spengler schwere Kämpfe zwischen Weißen und Farbigen voraus: »Sie nehmen das Schwert auf, wenn wir es niederlegen. Sie haben den Weißen einst gefürchtet, sie verachten ihn nun. .... Der Farbige durchschaut den Weißen, wenn er von ›Menschheit‹ redet .... Wie, wenn sich eines Tages Klassenkampf und Rassenkampf zusammenschließen? .... Das schwarze Frankreich würde in einem solchen Falle nicht zögern, die Pariser Szenen von 1792 und 1871 zu übertreffen. Und würden die weißen Führer des Klassenkampfes je verlegen sein, wenn farbige Unruhen ihnen den Weg öffneten ....?«  –  Heute, nach dreißig Jahren, ist nicht zu leugnen, daß sich in diese Visionen konkrete Züge einzeichneten. Was in Afrika, vom Nordrand bis zur Südspitze, in Ost- und Südasien, in Nord- und Südamerika in so kurzer Spanne geschah und geschieht - in China, Algerien, Indien, Ägypten, am Kongo, auf Kuba, um einige Brennpunkte zu nennen - das geht weit über eine Reihe von Aufständen und Befreiungskämpfen hinaus. Das Feuer, das nicht mehr, und vor allem nicht mit Blut, zu löschen ist, greift indessen auch über den Gegensatz von Weißen und Farbigen hinaus. Es trägt alle Kennzeichen des Weltbrandes. Nicht diese oder jene Rasse, die Spezies wird in Frage gestellt. Diesen seinen wahren Umfang, aus dessen Kenntnis allein nicht nur richtige Schlüsse, sondern auch Entschlüsse, Entscheidungen, zu gewinnen sind, hat Spengler nicht gesehen. Er konnte ihn nicht sehen und würde, wenn er noch lebte, heute weniger denn je dazu imstande sein. Er sah Symptome, und da diese sich inzwischen krisenhaft verstärkten, würden sie ihm die Diagnose bestätigen. Wenn ein so scharfsinniger Kopf den Umfang eines Phänomens verkennt, so kann das nicht an seiner Intelligenz, es muß an seiner Position liegen. Er gleicht dem Jäger auf seinem Anstand, von dem aus er die Ungeheuer früher als die meisten anderen auftauchen sieht und mit passionierter Schärfe erkennt. Aber sie ziehen in ungeahnter Richtung vorbei und verlieren sich in unerforschten Dickichten. Trotzdem wurde ein Abschnitt der großen Jagd in ungewöhnlichem Denkstil erfaßt. Das gilt auch für Spenglers System. Die Kulturen werden im Nach- und Nebeneininder gesehen, nicht aber, wie von Herder, Goethe, Hegel, architektonisch und symphonisch oder, wie von Nietzsche, als Ouvertüre eines neuen Weltalters. Entscheidung, Kampf um die Vormacht, Zeitalter der kämpfenden Staaten - das alles ist nicht der Sinn; es sind die Wehen, in denen die Erde eine ihrer großen metahistorischen Phasen abschließt und eine andere beginnt. Dann werden die Grenzen fallen und auch räumlich »Orient und Okzident ... nicht mehr zu trennen« sein.  –  Für die Gestalt des Arbeiters, des mächtigsten Sohnes der Erde, ist der Aufstand der farbigen Rassen ein antaiischer Akt unter anderen; er gleicht der Einberufung einer Reservearmee. Gebührend zu würdigen wird das erst im Ergebnis sein, also innerhalb der Gesamtrechnung. Verständlich ist, daß zunächst die Negativposten ins Auge fallen, die Verluste und Einbußen, der Rückfall in primitive Denkformen, die virulent werden. Das gilt auch für andere, nahe verwandte Erscheinungen, wie das sprunghafte Anwachsen der Erdbevölkerung. Es hat seine Gründe, warum gerade China sich dem im »Untergang des Abendlandes« entworfenen Schema der Spätkultur entzieht. Das alles kann behutsam gedeutet, vielleicht sogar beeinflußt, doch nicht gemeistert, geschweige denn gehemmt werden.  –  .... Es ist ein Unterschied, ob man mit ererbtem, erspartem, geliehenem oder fiktivem Geld handelt und ob man die Geschäfte, aus denen man Gewinn zieht, mit Augen sieht, ob sie entfernt liegen oder in der Luft hängen.“
Ernst Jünger, Maxima - Minima, 1964, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 374-377

„Was den »Arbeiter« angeht, so ist das von Ihnen berührte Problem oft bedacht worden, nicht nur von mir und meinen Freunden, sondern auch von anderen. Es stehen Publikationen bevor, die sich auch mit dem Seminar beschäftigen, das Martin Heidegger über das Buch gehalten hat. Wohin das führen wird, weiß ich nicht.“
Ernst Jünger, Brief vom 24.03.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 393

„Nach Heidegger hat die Metaphysik ihr Ende erreicht. Das von ihr Gemeinte oder Anvisierte kann indessen nicht verschwinden; ein Indiz dafür ist die gesteigerte Bedeutung der Physik, die ihrerseits irrational zu werden beginnt.“
Ernst Jünger, Brief vom 10.10.1980, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 395

Wilflingen, 1. November 1992. - Historisch gesehen, geht dem Weltstaat ein »Actium« voraus. Darin sind sich die Auguren einig, und diese Erwartung hat zu den ungeheuren Rüstungen der Großreiche während der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts geführt.
Allerdings scheint sich die Vermutung, die ich vor kurzem in der »Schere« notiert habe, daß Actium vielleicht »flach ausfallen« werde, durch die überraschende Beendigung des »Kalten Krieges« zu bestätigen.
Das könnte bedeuten, daß der Übergang zum Weltstaat, ohne daß er wahrgenommen wurde, bereits stattgefunden hat. Die Politik ist durch die Naturwissenschaft überholt und durch die Technik uniformiert worden. »Die Technik ist die Uniform des Arbeiters« (»Der Arbeiter«, 1932).
Daß ein Actium, nicht nur zur See, auf dem Lande und in der Luft, sondern auch im Universum uns hoffentlich erspart bleiben wird, setzt freilich nicht der Gewalt ein Ende, sondern verlagert sie. Das ist ein Kapitel für sich.
Einer der Gründe für Nietzsches Wahnisinn könnte darin liegen, daß ihm die Vision des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu stark wurde.
Neben der Geschichtsperiodik in Spenglers Sinne gibt es auch rein kausale Einschübe. Die Begegnung mit einem riesigen Boliden soll sich innerhalb einer Million von Jahren wiederholen, wenn man den Astronomen gluaben darf. Selbst Meteore von mittlerer Größe verändern schon die Natur. Ebensowenig läßt sich das Auftreten von Genies und Propheten voraussagen, von Göttern ganz abgesehen. Wo die Geschichte endet, führt sie zur Natur oder zum Mythos zurück . mit oder ohne menschliche Präsenz.
Bis zur Erschöpfung geführten Bürgerkriegen folgt brutalisierende Konformität mit dynamischen Effekt. In dieser Hinsicht ist das heutige Europa chronologisch dem Rom vor Actium, doch morphologisch dem Griechenland nach dem Peleponnesischen Kriege verwandt.
Er hat die Polis, insbesondere Athen und Sparta, politisch und moralisch ruiniert. Für Alexander und dann für Cäsar was das Feld planiert. Unsere heutigen Händel entsprechen den Diadochenkriegen - sie werden als Bürgerkriege in einem zwar nicht politisch, doch bereits praktisch bestehenden Weltstaat geführt - zum Teil noch unter nationalen Vorzeichen. Das ließe ich bis zu den kämpfenden Staaten ud sogar personell ausführen.
Oswald Spengler beschränkt seine zyklische Betrachtung auf die Geschichte und im besonderen auf die Kulturen - also auf eine winzige Spanne, verglichen mit jenen der belebten oder gar unbelebten Natur. Es ist aber möglich und sogar wahrscheinlich, daß größere Zyklen rotieren ....“
Ernst Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 95-96

Wilflingen, 1. Januar 1993. - »Lieber Eric Jacolliot, Sie bitten mich um ›quelques mots de votre main‹ als Vorwort zu meiner Schrift ›Über die Linie‹, deren Übersetzung bei Christian Bourgois erschienen ist und deren Neuausgabe Sie beabsichtigen. Um diesem Wunsche wenigstens in bescheidenem Maß entsprechen zu können, mußte ich mich zunächst bei mir selbst informieren und meinen Text von 1950 nebst den ihn betreffenden bibliographischen Notizen zu Rate ziehen. Schließlich sind über vierzig Jahr verflossen seit jener Zeit. Und sie waren an Ereignissen reich.
Die Lektüre war weniger eine Wiederholung als eine Neuentdeckung verlorener Zeit. Der Essay war mir so weit aus dem Gedächtnis entschwunden, daß ich ihn für den kurzen Beitrag zu einer Festschrift gehalten hatte, wie man sich dessen unter Autoren mehr oder minder pflichtgemäß unterzieht - diesmal anläßlich des 60. Geburtstages von Martin Heidegger.
Vielleicht hatte ich mir besondere Mühe gegeben, denn die Angriffe gegen den Philosophen gewannen bereits an Form. Daß er vor dem Kriege ein Seminar über meinen ›Arbeiter‹ gehalten hatte, war mir damals noch nicht bekannt.
Immerhin verwunderte mich der Umfang der ›Linie‹ im Vergleich zum vergänglichen Anlaß - es handelte sich dabei also wohl auch um ein eigenes Anliegen.“
Ernst Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 97

Wilflingen, 20. Juni 1994. - Abgesehen davon, daß der »Arbeiter« zu den Büchern gehört, die mehr kritisiert als gelesen werden, paßten solche Thesen weder in den Rahmen des Nationalsozialismus noch der Weimarer Demokratie. Sie stießen aber auch auf das Befremden von Geistern, auf deren Urteil ich Wert legte. Sowohl Carl Schmitt wie Oswald Spengler lehnten die Gestalt des Arbeiters als eine »Lobpreisung des Proleten« ab. Das war insofern ein Mißverständnis, als sie ihr den marxistischen Maßstab anlegten. Marx hat den Begriff der Arbeit für eine Klasse usurpiert. Als Gestalt repräsentiert der Arbeiter jedoch weder eine ökonomische Klasse noch eine biologische Rasse, sondern bildet in planetarischer Auslese einen Typus aus. Sein Reich ist die Erde mit der Technik als Weltsprache.
Diese Gestalt durchdringt und zerstört die alten Stände, also das Priester-, Krieger- und Bauerntum. Es hat mich verwundert, daß ausgerechnet Spengler sich in seinem Brief auf den Bauern als Gegenfigur berief. Ihm, der den Cäsarismus wiederkehren sah, konnte die Verwandtschaft der Kollektive mit den antiken Latifundien nicht entgangen sein. Allerdings ist das Wort »Arbeiter« im bürgerlichen Zeitalter zu einem Stigma geworden, das auch dieser geniale Historiker nicht überwunden hat.
Als einzige Koryphäe hat Martin Heidegger der »Gestalt« von Anfang an Beachtung gezollt. Er hat auch ein Seminar darüber abgehalten; ich hörte davon nur die Tatsache. Nicht vergessen will ich jedoch ein bedeutsames Gespräch mit Leopold Ziegler in Überlingen; die Zustimmung des Philosophen (»Gestaltwandel der Götter«) berührte den Kern.
Die Aufnahme des Buches durch kleine Zirkel von jungen und älteren Lesern war impulsiv. Sie beschränkte sich zunächst auf Debatten und Briefe - so von meinen Brüdem Hans und Friedrich Georg, Hugo Fischer, Gerhard Nebel, Friedrich Hielscher, Paul Weinreich und Benno Ziegler von der Hanseatischen Verlagsanstalt. Einen besonderen Fürsprecher gewann »Der Arbeiter« in Ernst Niekisch im » Widerstand«. Im großen und ganzen blieb das Echo verworren, obwohl es bald zu einer zweiten Auflage kam.
An speziell dem Thema gewidmeten Büchern sind zu erwähnen Marcel Decombis’ »Le Travailleur« (Paris 1943) und ein gründliches Werk von Erich Brock, dem, wie er sagte, »Der Arbeiter« die Augen öffnete. Es wurde kurz nach Stalingrad in Basel veröffentlicht und vom Verleger als die »endgültige Entlarvung eines Faschisten« präsentiert. So schwanken die Meinungen.
Habent sua fata libelli - das erfuhr ich auch von Freunden in diesem Fall. Heinrich von Stülpnagel, der das Buch für nationalbolschewistisch hielt, sagte mir vor meinem Kommando an die Ostfront, das ich aus verschiedenen Gründen antreten sollte: ich würde nun auch erfahren, wie das in Wirklichkeit aussehe.
Auch heut hat sich, wie gesagt, das Urteil nicht präzisiert. Ich möchte das eigene nicht ausschließen. Damals bin ich mehr einer Ahnung als einem Plan gefolgt. Wie ist die Drohung apokalyptischer Katastrophen mit einem Fortschritt, der in der Naturwissenschaft und der Technik jede Utopie übertrifft, zu vereinigen? »Ist es auch Wahnsinn, hat es " doch Methode« - es muß eine ordnende Kraft dahinter - ; stehen. Hier bietet sich dem Denken die neuplatonische Wendung an.“
Ernst Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 146-148

Wilflingen, 20. Februar 1995. - An Dr. Domenico Conte: »Ich danke Ihnen für die Zusendung Ihrer wichtigen Schrift. Sie haben recht in der Vermutung, daß Oswald Spengler einen bedeutenden Einfluß auf meine geistige Entwicklung ausgeübt hat. Meinem Bruder Friedrich Georg, der nach seiner schweren Verwundung Muße zum Lesen gefunden hatte, verdanke ich den ersten Hinweis auf den ›Untergang des Abendlandes‹. Auch mich hat die Lektüre fasziniert. Die Folge war ein Brief an den Autor, dem ich auch mein Kriegstagebuch sandte - er lud mich daraufhin nach München ein. Ich war damals sehr beschäftigt - daß ich der Einladung nicht gefolgt bin, bedauere ich noch heut.
Im Herbst 1932 kam es noch zu einem kurzen Briefwechsel anläßlich meines Buches »Der Arbeiter«. Spengler hat das Wort im Sinn des 19. Jahrhunderts, also des Klassenkampfes, verstanden - damit war ihm, ähnlich wie Carl Schmitt, schon der Titel suspekt. Beide hielten die Absicht des Werkes für ein Lob des Proleten im marxistischen Sinne - für mich ist es ein neuplatonischer Rückgriff auf die prometheische Substanz. Das wird mir erst heute deutlicher. Dazu empfehle ich Ihnen die Lektüre des großartigen Kapitels, das mein Bruder Friedrich Georg in seinen ›Griechischen Mythen‹ dem Prometheus gewidmet hat. Die Götter schöpfen aus der Fülle - Prometheus schafft. ›Prometheus ist stolz auf die Werke seines Geistes und seiner Hand, und dieser Stolz kehrt bei dem prometheischen Menschen wieder, bis in die Verkrümmung hinein, bis in jene Selbsteinschätzung der Arbeit und des Arbeiters, die den Sisyphismus wieder in das Leben einführt.‹«“
Ernst Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 165-166

Wilflingen, 24. Februar 1995. - An Albrecht Kiel: »Zu Ihrer Anfrage: Karl Jaspers bin ich nur einmal begegnet - war es in Basel oder in Konstanz?
Das Datum kann ich bestimmen, weil er mir damals seine ›Psychopathologie‹ schenkte: am 5. Oktober 1949.
Seine Äußerung bezog sich auf Schüler und auf Sekretäre speziell. Damit war aber nicht Armin Mohler gemeint, dessen Promotion er ja gegen den Widerstand der Fakultät durchsetzte.
Wir unterhielten uns in einem ziemlich großen Raume, und Jaspers setzte sich in eine Ecke - vielleicht, weil er eine Ansteckung befürchtete. Der allgemeine Eindruck: timid. Auch darin ein Gegensatz zu Heidegger, der annäherungsfreudig war.“
Ernst Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 166

Wilflingen, 9. November 1995. - Heideggers »Gestell möchte ich das »Geschirr« zuordnen. Das Sein in der Ruhe und in der Bewegung.“
Ernst Jünger, Siebzig verweht, Band V, 1997, S. 198

Spenglers Arbeitszimmer

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Heideggers Schreibtisch in seiner Hütte

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Jüngers Schreibtisch

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