Henri
Bergson (1859-1941) |
Spiritual-Lebensphilosophie mit Dauer und Lebenstrieb |
Henri Bergson baute in der Tradition der Mystik eine spiritualistische Lebensphilosophie
auf, insbesondere als Ausrichtung gegen den Positivismus. Die Grundbegriffe seiner
Philosophie sind: der gegen den mechanistisch-deterministisch naturwissenschaftlichen
Zeitbegriff gerichtete Begriff der subjektiven, unwiederholbaren, kontinuierlichen
Zeit, der Dauer (durée) und der antirevolutionistisch-antidarwinistische
Begriff des zweckgerichteten Lebenstriebs (élan vital).
().
Bergson übte vor allem auf die nachnaturalistische Literatur Frankreichs,
z.B. den Existentialismus, bedeutenden Einfluß aus. (Vgl. Existenzphilosophie
).
Er lehrte, daß sich das Denken des Gehirns nur als eines automatischen Werkzeugs
bediene und die Intelligenz nur das Starre, Tote der anorganischen Natur begreifen
könne, nicht aber das Leben, das in seinem Wesen schöpferische Aktivität
und begrifflich unfaßbar sei. Das seelische Individuum sei eine fließende,
rational nicht festhaltbare, unzerlegbare Mannigfaltigkeit, das Leben nur durch
eigenes Erleben, nur durch Intuition begreifbar. Ebenso das Universum; denn es
lebt, wächst in schöpferischer Entwicklung und entfaltet sich frei nach
dem ihm innewohnenden Lebensdrang. Bergsons
Größe liegt in der Macht, mit der er die Haltung des Menschen zur Welt
und zur Seele in eine neue Richtung zu drängen wußte. Die neue
mag als ein Sichhingeben an den Anschauungsgehalt der Dinge, als die Bewegung
eines tiefen Vertrauens in die Unumstößlichkeit alles schlicht
und evident Gegebenen, als mutiges 'Sichselbstloslassen'
in der Anschauung und der liebenden Bewegung zu der Welt in ihrer Angeschautheit
bezeichnet werden. (Max Scheler, Vom Umsturz der Werte, 1915).
Henri
Bergson hat den Versuch unternommen, die Lebensphilosophie zum System auszugestalten,
meint Rüdiger Safranski ():
Bergsons Hauptwerk »Schöpferische Entwicklung« (1908) ...
hatte sofort einen beispiellosen Erfolg auch beim Publikum. In seinem 1913 verfaßten
»Versuch einer Philosophie des Lebens« schreibt Max Scheler ():
»Der Name Bergson durchtönt gegenwärtig in so aufdringlich lauter
Weise die Kulturwelt, daß die Eigentümer feinerer Ohren zweifelnd fragen
mögen, ob man wohl solchen Philosophen lesen soll.« Man soll ihn lesen,
sagt Max Scheler, denn in Bergsons Philosophie komme eine ganze neue »Haltung
des Menschen zur Welt und zur Seele« zum Ausdruck: »Diese Philosophie
hat zur Welt die Geste der offenen, aufweisenden Hand, des frei und groß
sich aufschlagenden Auges. Das ist nicht der blinzelnde, kritische Blick, den
Descartes ()
... auf die Dinge wirft; nicht Kants Auge (),
aus dem der Geistesstrahl so entfremdet wie aus einer anderen Welt
und so herrschaftlich auf die Dinge fällt und sie durchbohrt ... Vielmehr
umspült ihn bis in seine geistige Wurzel hinein der Strom des Seins wie ein
selbstverständliches und schon als Seins-Strom selbst ... wohltätiges
Element.« Bergson, wie schon vor ihm auf ähnliche Weise Schopenhauer
(),
entdeckt zwei Quellen der Erkenntnis des Lebens. Die eine ist der Verstand, die
andere die Intuition (bei Schopenhauer: die innere Erfahrung
des Willens). Verstand ist jenes Vermögen, das Kant präzise analysiert
hat. Bergson knüpft daran an. Raum, Zeit, Kausalität, Ausdehnung - das
sind Kategorien dieses Verstandes. Nun verändert Bergson die Perspektive:
dieser Verstand wird evolutionsbiologisch betrachtet. So erscheint er als ein
Produkt dieser Entwicklung, als ein Organ zur lebensweltlichen Orientierung und
Handlungssteuerung. Er hat sich offenbar bewährt und ist Ausdruck einer »immer
geschmeidigeren Anpassung des Lebewesens an die gegebenen Existenzbedingungen«.
(Max Scheler, ebd, S. 323). Der Verstand ist also ein System, das die andrängende
Fülle und Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens unter überlebenspraktischen
Gesichtspunkten filtert (bei Schopenhauer analog: der Verstand
ist ein Instrument des Willens). Soweit ist Bergson pragmatischer Biologist.
Nun aber wagt er seinen entscheidenden Schritt - mit einer einfachen Überlegung:
Da wir den Verstand in seinen Grenzen analysieren können, sind wir immer
schon über ihn hinaus, wir könnten ihn sonst nicht in seiner Begrenztheit
entdecken. Es muß ein Außerhalb seines Bereichs geben.
Bergsons Pointe: dieses Außerhalb ist etwas Innerliches, die
Intuition. In der Intuition, der inneren Erfahrung, ist das Sein nicht ein Gegenstand,
den wir distanzieren können, sondern wir erfahren uns selbst unmittelbar
als Teil dieses Seins: »Die Materie und das Leben, die die Welt erfüllen,
sind ebensogut in uns. Die Kräfte, die in allen Dingen schaffen, wir fühlen
sie in uns. Der Verstand ist lebensdienlich im Sinne des Überlebens, doch
die Intuition bringt uns dem Geheimnis des Lebens näher. Auf das Ganze der
Welt gesehen, erscheint das Leben als eine unendliche Woge, die im intuitiven
Bewußtsein frei ausströmt: »Steigen wir also in unser eigenes
Inneres: wir werden einen viel tieferen Punkt berühren, ein viel stärkerer
Stoß wird uns zurücktreiben zur Oberfläche ...« (Max Scheler,
ebd, S. 339). Das Wunderwerk der Proustschen »Recherche« verdankt
sich dieser Wegweisung ins eigene Innere, wo sich das Leben offenbart, besonders
geheimnisvoll und die Phantasie anregend in der inneren Erfahrung der Zeit. Der
nach außen gerichtete Verstand konstruiert die physikalische Zeit, die meßbare
und gleichförmige (»tempus quodae qualiter fluit«, Newton).
Die innere Erfahrung, die Intuition also, kennt eine andere Zeit. Es ist die Dauer
(durée). Das Leben dauert will sagen, daß unser Leben
in einem kontinuierlichen Fließen besteht, mit wechselnden Rhythmen, Verdichtungen,
Stockungen, Strudeln. Dabei geht nichts verloren, ein ständiges Wachsen,
jeder Punkt ist einmalig, weil an keinem Punkt die jeweils vorausliegende Vergangenheit,
die uns vorantreibt, identisch ist, weil das vergehende Jetzt zur Vergangenheit
hinzukommt und sie verändert. Der Mensch bewegt sich in der Zeit wie in einem
Medium, aber er zeitigt auch die Zeit, indem er sein Leben - führt,
d.h., er besitzt Initiative, Spontaneität. Er ist ein anfangendes Wesen.
Im Innersten der Zeiterfahrung liegt, nach Bergson, die Erfahrung der schöpferischen
Freiheit verborgen. Eine Freiheit, die als schöpferische Potenz im ganzen
Universum treibt. In der Erfahrung der menschlichen Freiheit findet die schöpferische
Freiheit des Kosmos ihr Selbstbewußtsein. Die Intuition bringt uns ins Herz
der Welt. »Im Absoluten sind wir, kreisen wir, leben wir.« So erhaben,
so bezaubernd und bezaubert, beschwingt und verheißungsvoll intonierte die
Philosophie vor 1914 das Thema Leben. (Rüdiger Safranski,
Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 68-70).
Nietzscheanische
Lebensphilosophie ():
Der von Nietzsche ()
geistig abstammende und deshalb als französischer Nietzscheaner zu bezeichnende
Bergson hat noch vor dem 1. Weltkrieg in Frankreich Nietzsche empfänglich
gemacht, und die deutschen Nietzscheaner haben ebenfalls noch vor dem 1. Weltkrieg
in Deutschland Bergson empfänglich gemacht. 1912 erschien in deutscher Übersetzung
Bergsons Hauptwerk: Schöpferische Entwicklung. Laut Bergson, der von
Nietzsche die Philosophie des schöpferischen Willens und die dem entsprechende
Art der Verknüpftung des Universellen mit dem Individuellen gelernt hatte,
wirkt das, was draußen in der Welt, im Naturganzen, herumtreibt, auch als
schöpferische Energie im Einzelnen, das heißt: wir fühlen die
Kräfte, die in allen Dingen schaffen, auch in uns. Wenn Bergson enthusiastisch
über das schöpferische Universum spricht, dann stellt sich, wie bei
Nietzsche, die Metaphorik von Welle und Woge ein. Aber anders als Nietzsche versetzt
Bergson das Mysterium der Freiheit ins Herz der Welt. Zwar ist auch für Bergson,
wie für Nietzsche, das kosmische Geschehen ein Kreisen, aber er dachte dabei
mehr an eine aufwärtsgerichtete Spiralbewegung. Auch Nietzsche wollte die
kosmische Wiederkehr des Gleichen zusammendenken mit einer Dynamik der Steigerung
- aber das wollte ihm nicht recht gelingen. Das liegt daran, daß Nietzsche
den traditionellen Begriff der Zeit als »Raum«, worin sich die Lebensprozesse
abspielen, nicht überwinden konnte. Bergson aber gelang es besser, die Zeit
als schöpferische, dynamische Kraft zu denken. Sie ist nicht das Medium,
worin etwas enthalten ist, sondern eine Potenz, die etwas hervorbringt. Sie ist
keine Bühne für das Spiel, sondern gehört als Akteur selbst ins
Spiel. Und der Mensch erfährt nicht nur die Zeit, sondern er zeitigt sie
durch sein Handeln. Das innerste Organ der Zeit ist Initiative und Spontaneität.
Der Mensch ist ein anfangendes Wesen. Im Innersten seiner Zeiterfahrung liegt
also, nach Bergson, die Erfahrung der schöpferischen Freiheit verborgen.
In der menschlichen Freiheit findet der schöpferische Kosmos sein Selbstbewußtsein.
(Ob das stimmt?). Mit diesem Gedanken war Bergson
schließlich näher bei Schelling ()
als bei Nietzsche, aber für Max Scheler (),
der 1915 in seiner Schrift »Vom Umsturz der Werte« Bergson und Nietzsche
... zusammenführt, wirkt in beiden derselbe starke Impuls. Beide wollen,
erklärt Scheler, den Menschen befreien aus dem »Gefängnis«
des »bloß Mechanischen und Mechanisierbaren« und ihn hinausführen
»in einen blühenden Garten« (Max Scheler, Vom Umsturz der
Werte, 1915, S. 339). In der Philosophie Nietzsches (und Bergsons) durchbricht
die Lava des Lebens endlich wieder die Verkrustungen und Versteinerungen. »Im
Absoluten sind wir, kreisen wir, leben wir« (ebd.). (Rüdiger
Safranski, Nietzsche, 2000, S. 340-341).
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