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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  http://www.Junge Freiheit.de/      14. Oktober 2010

 


„Das System ist pervers“
(von Baal Müller)

Thilo Sarrazin erquickt uns nicht nur durch seine klare, um Tabus unbekümmerte Sprache, sondern er erstaunt durch sein ernstliches, besorgtes Nachdenken über die Zukunft Deutschlands sowie durch die – nicht neuen, aber für einen Vertreter der politischen Klasse ungewöhnlichen – Vorschläge, mit denen er der demographischen Katastrophen-Zusammenballung aus Bevölkerungsschwund, Überalterung, Verarmung, Überfremdung und intellektueller Auszehrung begegnen will.

Die meisten Lösungsansätze des Volkswirtes liegen im finanzpolitischen Bereich und zielen darauf ab, die Kinderzahlen der Leistungsträger zu erhöhen und die Reproduktionsraten der Unterschichten, besonders derjenigen mit Migrationshintergrund, zu senken.

Immer wieder rechnet er vor, wie das derzeitige Transfersystem Leistungs- und Aufstiegswillen lähmt, indem es dafür sorgt, daß Grundsicherungsempfänger insbesondere mit mehreren Kindern ein deutlich höheres „Einkommen“ erhalten als viele Arbeitstätige, und benennt als Gegenmaßnahmen die Begünstigung der Bessergestellten (statistisch der Klügeren, Innovativen und Produktiven) durch entsprechende Kinderfreibeträge, Prämien, die mit Ausbildungserfolg verkoppelt sind, Abschaffung des einkommensunabhängigen Kindergeldes, Arbeitspflicht für Transferleistungsempfänger, Kita-Pflicht (um der Vernachlässigung der Prekariatskinder entgegenzuwirken), Leistungskürzungen bei unentschuldigten Fehlzeiten in der Schule und so weiter.

Libertäre Anarchokapitalisten

Sarrazins Forderungen sind insgesamt maßvoll, kühl und technokratisch; von einer Rückführung integrationsunwilliger Migranten in größerem Stil ist bei ihm ebensowenig die Rede wie vom Erhalt des christlichen Abendlandes – er verteidigt lediglich aufklärerisch-säkulare Prinzipien und tritt für ökonomische Vernunft ein. Konservativ ist er allenfalls aufgrund seines realistischen Menschenbildes und seiner ausgeprägten Staatsorientierung; ansonsten ist er, im Gegensatz zum linksliberalen Kulturrelativismus (oder Selbsthaß), nationalliberal.

Vom „Rechtspopulismus“ trennen ihn seine elitäre Grundhaltung sowie seine verhaltene Skepsis hinsichtlich der Machbarkeit des Notwendigen im Rahmen der Parteidemokratie. Einem libertären Anarchokapitalisten wie Hans-Hermann Hoppe nicht ganz unähnlich (wenn auch wegen seines Etatismus weniger radikal), weist er darauf hin, daß sich in einer Demokratie meist diejenigen Parteien durchsetzen, die möglichst viele soziale Versprechungen machen, und daß deren Erfolg an eine breite, transferabhängige Unterschicht gebunden ist, weshalb grundlegende Reformen systemimmanent ausgeschaltet werden. Das System ist in vielerlei Hinsicht „pervers“.

Dieser Schluß hat etwas Bedrohliches, denn er impliziert, daß die von Sarrazin gegen die Islamisierung in Stellung gebrachte wehrhafte Demokratie, in welche sich die Zuwanderer integrieren sollen, den Keim ihres Unterganges immer schon in sich trägt – und dies nicht nur aus sekundären, veränderbaren ideologischen Gründen wie einem überdehnten, sich selbst aufhebenden Toleranzbegriff oder einer pathologisierten „Vergangenheitsbewältigung“, sondern aufgrund der Konstruktion des Ganzen.

Neuauflage des preußischen Dreiklassenwahlrechts

Erlaubt man sich, an dieser Stelle weiterzudenken, so lassen sich Sarrazins Vorschläge, an denen breite Schichten kein Interesse haben, mit wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen gar nicht umsetzen – die dazu nötigen Mehrheiten müßten, erst recht, wenn die jetzige demographische Entwicklung noch länger fortschreitet, autoritär mit Hilfe einer Art Neuauflage des preußischen Dreiklassenwahlrechts geschaffen werden.

Warum sollen die Leistungsträger nicht auch ein höheres Stimmengewicht haben als diejenigen, die wenig zur Gemeinschaft beitragen? Den Rahmen böte das gelegentlich diskutierte Familienwahlrecht, bei dem die Eltern die Stimmen für ihre minderjährigen Kinder wahrnehmen, sowie ein an berufliche Qualifikationen, Steuerlast und so elementare Partizipationsvoraussetzung wie Sprachkenntnisse und Alphabetisierung geknüpftes „Stimmensplitting“. Der Vorteil eines solchen Modells läge darin, daß sich das Richtige schnell und effizient durchsetzen ließe, der Haken wäre allerdings, daß die Kategorien von richtig und falsch nur noch schwer verändert werden könnten.

Ein solcher „platonischer“ Staat, in dem die Besten herrschen, tendiert möglicherweise zur Erstarrung und würde nicht mehr angemessen auf neue Herausforderungen reagieren (es sei denn, Innovationsfreude wäre gerade auch ein Charakteristikum der Qualifiziertesten). Er sei aus diesem Grunde nicht mit Eifer propagiert – wohl aber zur Diskussion gestellt.

Junge Freiheit vom 14. Oktober 2010


 

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