| | Fukuyamas Rückzugsgefechte (von
Klaus Kunze)
Während deutsche Piloten den möglichen Kampfeinsatz
über Bosnien proben, rücken russische Panzer im Kaukasus vor. Das Gesicht
des Krieges hat sich im 20. Jahrhundert ständig gewandelt. Der völkerrechtlich
gebändigte Kabinettskrieg und das ritterlich-sportsmäßige Kavaliersdenken
von Offizieren verschwanden samt säbelschwingenden Reiterattacken hinter
dem Horizont der Weltkriege und ihren Materialschlachten. Deren Ultima ratio,
das absolut Zerstörerische der Atombombenabwürfe über Japan, vermochten
keinen Schlußpunkt unter das Phänomen Krieg zu setzen. An Stelle des
offiziellen Staatenkrieges nebst Genfer Konvention und Rotem Kreuz traten der
Stellvertreterkrieg, der unerklärte Buschkrieg und der Bürgerkrieg -
im Durchschnitt drei Kriege jährlich seit 1945. An der Schwelle der Jahrtausendwende
wird die Zukunft des Krieges zum vieldiskutierten Thema. Im FAZ-Magazin
vom 16.12.1994 äußerte sich der Japano-Amerikaner Francis Fukuyama
auf fünf Seiten zur "Zukunft des Krieges"; derselbe Fukuyama, der
1989 mit seiner These vom Ende der Geschichte und dem Sieg des Liberalismus
hervorgetreten war. Es lohnt sich allemal für Deutsche, sehr genau hinzuhören,
wenn amerikanische Vordenker des Liberalismus sich räuspern. Wir verdanken
Armin Mohler den Hinweis darauf, daß Fukuyamas Denken gegenüber seinem
Mentor Alexander Kojève (alias Koschevnikov) wenig Neues bietet. Dieser
hatte in Anlehnung an Hegel das Ende der Geschichte und mit ihr der Kriege und
blutigen Revolutionen in einem Weltstaat gefordert und prophezeit. Da das Ende
der Geschichte und der Kriege seit 1989 aber offenbar ausgeblieben ist, sah sein
Jünger Fukuyama sich in Erklärungsnotstand: Drei Meinungen stehen
ihm zufolge einander gegenüber: Die makroskopische Kriegstheorie Kissingers,
Brzezinskis und des Harvard-Lehrers Huntington, die mikroskopische "Chaostheorie"
des Amerikaners Robert Kaplan und des Deutschen Hans Magnus Enzensberger und -
seine, Fukuyamas Meinung. Die erste, traditionelle Ansicht extrapoliert die Zukunft
aus der Vergangenheit und erwartet, die gewohnten nationalstaatlichen Machtkonflikte
würden sich fortentwickeln zum Zusammenprall zwischen den großen Zivilisationskreisen
der Erde. Folge man Huntington, habe sich eine "islamisch-konfuzianische
Achse" gegen den Westen als gemeinsamem Feind gebildet. Der Bosnienkonflikt
trage prototypisch alle Züge der kommenden Zivilisationskonflikte. Realisten
wie Kissinger freilich sähen das internationale Leben jenseits der ideologischen
oder moralischen Einkleidung als unbarmherzigen Kampf um die Macht. So seien Deutschland
und Japan nach Kissinger schon allein deshalb bedrohlich, weil sie Macht hätten,
ganz gleich, ob sie nun kaiserlich, demokratisch, sozialistisch oder nationalsozialistisch
verfaßt seien. Dagegen sieht eine zivilisationskritische Denkschule,
deren deutscher Exponent Hans Magnus Enzensberger ist, die Zukunft als Bühne
gangstermäßig organisierter Kleinstbürgerkriege. Unter der Ebene
handelnder Großkollektive werden aggressive junge Männer das Geschehen
bestimmen. Jeder U-Bahn-Wagen kann zum Bosnien en miniature werden. Die
selbstzerstörerische Aggression braucht keinen Anlaß, keinen Sinn und
kein Gesicht. In einer Welt, durch die lebende Bomben irren, bleibt Enzensberger
zufolge nur die Hobbessche Vorstellung des Krieges aller gegen alle übrig.
Er wird ermöglicht und begleitet vom Zusammenbrechen staatlicher Institutionen
wie im Kaukasus und Somalia. Vorläufig muß Fukuyamas zugeben,
daß die Vision eines zukünftigen Krieges, der klein und schmutzig geworden
ist, die Realität der Gegenwart recht präzise beschreibt. Aber "trotz
der Instabilität und kleiner Kriege der vergangenen Jahre" hält
Fukuyama seine Hypothese vom Ende der Geschichte für gültig. Angesichts
der nicht zu bestreitenden realen Gegenwart schiebt er nur sein Ende der Geschichte
ein wenig in die Zukunft: "Kurzfristig wird der größte Teil der
Welt auf genau dieselbe Weise funktionieren wie im vorigen Jahrhundert."
Mit dem einen visionären Auge sieht Fukuyama die internationalen Konflikte
zunehmend nicht militärisch, sondern wirtschaftlich ausgetragen. Das 21.
Jahrhundert werde von ökonomischen, nicht mehr von militärischen Strategien
geprägt werden. Mit dem anderen visionären Auge blickt er aber "zu
einer Gruppe von Kriegen, die tatsächlich die hartnäckigsten und gefährlichsten
sein werden: jene zwischen den industriellen Demokratien und der großen
nichtdemokratischen Welt. Die beiden prominentesten Kandidaten" seien offensichtlich
Rußland und China. So kommt eine eigenartig schlielende Zukunftsvision
zustande, die am Ende offenbar auch Fukuyama aufgefallen ist. Darum verengt er
nunmehr das Ende der Geschichte auf "die höchstentwickelten Länder"
und ihr "Modell von Kapitalismus und liberaler Demokratie". In ihnen
hat sich das Ende schon manifestiert, weil diese durch internationale Organisationen
und Strukturen vielfach vernetzt sind und keinen Vorteil aus einem militärischen
Gegeneinander mehr ziehen. In ihrem Innern laufen die Interessengegensätze
nämlich mittlerweile quer durch die Staatsgrenzen: Auf der einen Seite stehen
die wohlgebildeten Eliten und profitieren von der Handelsliberalisierung, auf
der anderen Seite fürchtet die arbeitende Bevölkerung das Lohndumping
als Konsequenz des globalen Marktes. Der Sinn von Fukuyamas Thesen und
seine Leistung besteht darin, die Sublimierung des Krieges im ökonomischen
Wettbewerb, also die klassische Strategie der USA, zur globalen Verhaltensregel
des 21. Jahrhunderts zu erklären. Durchgesetzt hat sich im Wettbewerb nämlich
erst, wer seine Macht normativ begründet und seinen Gegner zur Anerkennung
derjenigen Normen bewegt, deren Geltung die Macht weiter stabilisiert. Der Zweck
von Fukuyamas Prophezeiung besteht darin, daß sie sich selbst erfüllen
soll. In einer Welt, die von ausschließlich ökonomischen Gesetzen beherrscht
wird, ist der militärische Streit sinnlos und fällt selbstzerstörend
auf ihren Urheber zurück; ebenso wie umgekehrt in einer von militärischen
Gesetzen erfüllten Welt der bloße Händler nach Nachsehen hat und
wie in einer von göttlichen Geboten erfüllten Welt der Ketzer nichts
zu melden hat. Das Ende der Geschichte und die Heraufkunft einer "friedlichen"
Handelsepoche auszurufen bedeutet also nichts anderes, als den Machtanspruch derjenigen
konkreten Menschen und Menschengruppen anzumelden, die ihre Stärke und ihren
Vorteil in einer Weltordnung sehen, die allein unter handelsmäßigen
Gesetzen steht. Fukuyamas Vision ist und bleibt Realität, wo die Machtträger
dieser Welt sich freiwillig oder unfreiwillig an diese Spielregeln halten. Sie
müssen das nicht gleich aus Furcht vor US-Atom-U-Booten - ein paar Hubschrauber
über dem Regierungspalast einer Bananenrepublik genügen gewöhnlich.
In fortgeschritteneren Ländern ist selbst das nicht nötig: Hier vermag
man ein anderes als das Händlerethos schon gar nicht mehr ohne Gruseln zu
denken. Anders außerhalb der westlichen Wertschöpfungsgemeinschaft:
Diese eignet sich offenbar hervorragend dazu, mittelfristig den materiellen Wohlstand
der westlich geprägten Industriestaaten zu sichern. Unter den Gesetzen eines
globalen Marktes verwandeln sich die Güter aller Nationen in käufliche
Waren. Dadurch könnten sich andere Völker aber einmal benachteiligt
sehen und die liberalen Spielregeln mit ihrem Ausschluß kriegerischer Gewalt
als benachteiligend ansehen. Wir wissen vor allem nicht, wie Menschen in Asien,
Afrika und Lateinamerika überhaupt langfristig ihr Interesse definieren werden.
Blutige Erfahrungen vom 30jährigen Krieg bis zu den ideologischen Ausrottungskriegen
des 20. Jahrhunderts lassen es dem Westen tunlich scheinen, dieses Interesse auf
ökonomische Fragen zu beschränken. Darin liegt eine Wertentscheidung,
die philosophisch zum Liberalismus, wirtschaftlich zum Kapitalismus und politisch
zum Parlamentarismus führt. Es ist aber nicht die einzig mögliche Entscheidung,
und ökonomisch abgehängte Kollektive können durchaus andere ethische
Grundhaltungen einnehmen. Der islamische Gottesstaat, das kommunistische China
oder der völkisch definierte Nationalstaat sind konkrete andere Optionen.
Die Zukunft hängt davon ab, in welchem Ausmaße sich welches Organisationsmodell
kollektiven Handelns unter den Bedingungen einer ressourcenknappen Zehnmilliardenwelt
als erfolgreich erweisen wird. Die brisante Zukunftsfrage besteht also
darin, ob konkrete Kollektive bereit sind, notfalls unter Aufbietung der dazu
geeigneten religiösen, nationalen oder ideologischen Mythologeme, sich als
Gottesstaat oder Nation oder Klasse zu definieren und in deren Namen zu handeln,
also zu leben und zu sterben. Das wird der Fall sein, wenn und soweit dieses oder
jenes Kollektiv den Gottesstaat oder die Nation oder die Klasse oder etwas ganz
Neues als die beste Organisationsform begreift, ihre Interessen zur Geltung zu
bringen und durchzusetzen. Junge
Freiheit vom 23. Dezember 1994 | | |