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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  http://www.Junge Freiheit.de/   23. Dezember 1994

 


Fukuyamas Rückzugsgefechte
(von Klaus Kunze)

Während deutsche Piloten den möglichen Kampfeinsatz über Bosnien proben, rücken russische Panzer im Kaukasus vor. Das Gesicht des Krieges hat sich im 20. Jahrhundert ständig gewandelt. Der völkerrechtlich gebändigte Kabinettskrieg und das ritterlich-sportsmäßige Kavaliersdenken von Offizieren verschwanden samt säbelschwingenden Reiterattacken hinter dem Horizont der Weltkriege und ihren Materialschlachten. Deren Ultima ratio, das absolut Zerstörerische der Atombombenabwürfe über Japan, vermochten keinen Schlußpunkt unter das Phänomen Krieg zu setzen. An Stelle des offiziellen Staatenkrieges nebst Genfer Konvention und Rotem Kreuz traten der Stellvertreterkrieg, der unerklärte Buschkrieg und der Bürgerkrieg - im Durchschnitt drei Kriege jährlich seit 1945. An der Schwelle der Jahrtausendwende wird die Zukunft des Krieges zum vieldiskutierten Thema.

Im FAZ-Magazin vom 16.12.1994 äußerte sich der Japano-Amerikaner Francis Fukuyama auf fünf Seiten zur "Zukunft des Krieges"; derselbe Fukuyama, der 1989 mit seiner These vom Ende der Geschichte und dem Sieg des Liberalismus hervorgetreten war. Es lohnt sich allemal für Deutsche, sehr genau hinzuhören, wenn amerikanische Vordenker des Liberalismus sich räuspern. Wir verdanken Armin Mohler den Hinweis darauf, daß Fukuyamas Denken gegenüber seinem Mentor Alexander Kojève (alias Koschevnikov) wenig Neues bietet. Dieser hatte in Anlehnung an Hegel das Ende der Geschichte und mit ihr der Kriege und blutigen Revolutionen in einem Weltstaat gefordert und prophezeit. Da das Ende der Geschichte und der Kriege seit 1989 aber offenbar ausgeblieben ist, sah sein Jünger Fukuyama sich in Erklärungsnotstand:

Drei Meinungen stehen ihm zufolge einander gegenüber: Die makroskopische Kriegstheorie Kissingers, Brzezinskis und des Harvard-Lehrers Huntington, die mikroskopische "Chaostheorie" des Amerikaners Robert Kaplan und des Deutschen Hans Magnus Enzensberger und - seine, Fukuyamas Meinung. Die erste, traditionelle Ansicht extrapoliert die Zukunft aus der Vergangenheit und erwartet, die gewohnten nationalstaatlichen Machtkonflikte würden sich fortentwickeln zum Zusammenprall zwischen den großen Zivilisationskreisen der Erde. Folge man Huntington, habe sich eine "islamisch-konfuzianische Achse" gegen den Westen als gemeinsamem Feind gebildet. Der Bosnienkonflikt trage prototypisch alle Züge der kommenden Zivilisationskonflikte. Realisten wie Kissinger freilich sähen das internationale Leben jenseits der ideologischen oder moralischen Einkleidung als unbarmherzigen Kampf um die Macht. So seien Deutschland und Japan nach Kissinger schon allein deshalb bedrohlich, weil sie Macht hätten, ganz gleich, ob sie nun kaiserlich, demokratisch, sozialistisch oder nationalsozialistisch verfaßt seien.

Dagegen sieht eine zivilisationskritische Denkschule, deren deutscher Exponent Hans Magnus Enzensberger ist, die Zukunft als Bühne gangstermäßig organisierter Kleinstbürgerkriege. Unter der Ebene handelnder Großkollektive werden aggressive junge Männer das Geschehen bestimmen. Jeder U-Bahn-Wagen kann zum Bosnien en miniature werden. Die selbstzerstörerische Aggression braucht keinen Anlaß, keinen Sinn und kein Gesicht. In einer Welt, durch die lebende Bomben irren, bleibt Enzensberger zufolge nur die Hobbessche Vorstellung des Krieges aller gegen alle übrig. Er wird ermöglicht und begleitet vom Zusammenbrechen staatlicher Institutionen wie im Kaukasus und Somalia.

Vorläufig muß Fukuyamas zugeben, daß die Vision eines zukünftigen Krieges, der klein und schmutzig geworden ist, die Realität der Gegenwart recht präzise beschreibt. Aber "trotz der Instabilität und kleiner Kriege der vergangenen Jahre" hält Fukuyama seine Hypothese vom Ende der Geschichte für gültig. Angesichts der nicht zu bestreitenden realen Gegenwart schiebt er nur sein Ende der Geschichte ein wenig in die Zukunft: "Kurzfristig wird der größte Teil der Welt auf genau dieselbe Weise funktionieren wie im vorigen Jahrhundert." Mit dem einen visionären Auge sieht Fukuyama die internationalen Konflikte zunehmend nicht militärisch, sondern wirtschaftlich ausgetragen. Das 21. Jahrhundert werde von ökonomischen, nicht mehr von militärischen Strategien geprägt werden. Mit dem anderen visionären Auge blickt er aber "zu einer Gruppe von Kriegen, die tatsächlich die hartnäckigsten und gefährlichsten sein werden: jene zwischen den industriellen Demokratien und der großen nichtdemokratischen Welt. Die beiden prominentesten Kandidaten" seien offensichtlich Rußland und China.

So kommt eine eigenartig schlielende Zukunftsvision zustande, die am Ende offenbar auch Fukuyama aufgefallen ist. Darum verengt er nunmehr das Ende der Geschichte auf "die höchstentwickelten Länder" und ihr "Modell von Kapitalismus und liberaler Demokratie". In ihnen hat sich das Ende schon manifestiert, weil diese durch internationale Organisationen und Strukturen vielfach vernetzt sind und keinen Vorteil aus einem militärischen Gegeneinander mehr ziehen. In ihrem Innern laufen die Interessengegensätze nämlich mittlerweile quer durch die Staatsgrenzen: Auf der einen Seite stehen die wohlgebildeten Eliten und profitieren von der Handelsliberalisierung, auf der anderen Seite fürchtet die arbeitende Bevölkerung das Lohndumping als Konsequenz des globalen Marktes.

Der Sinn von Fukuyamas Thesen und seine Leistung besteht darin, die Sublimierung des Krieges im ökonomischen Wettbewerb, also die klassische Strategie der USA, zur globalen Verhaltensregel des 21. Jahrhunderts zu erklären. Durchgesetzt hat sich im Wettbewerb nämlich erst, wer seine Macht normativ begründet und seinen Gegner zur Anerkennung derjenigen Normen bewegt, deren Geltung die Macht weiter stabilisiert. Der Zweck von Fukuyamas Prophezeiung besteht darin, daß sie sich selbst erfüllen soll. In einer Welt, die von ausschließlich ökonomischen Gesetzen beherrscht wird, ist der militärische Streit sinnlos und fällt selbstzerstörend auf ihren Urheber zurück; ebenso wie umgekehrt in einer von militärischen Gesetzen erfüllten Welt der bloße Händler nach Nachsehen hat und wie in einer von göttlichen Geboten erfüllten Welt der Ketzer nichts zu melden hat. Das Ende der Geschichte und die Heraufkunft einer "friedlichen" Handelsepoche auszurufen bedeutet also nichts anderes, als den Machtanspruch derjenigen konkreten Menschen und Menschengruppen anzumelden, die ihre Stärke und ihren Vorteil in einer Weltordnung sehen, die allein unter handelsmäßigen Gesetzen steht.

Fukuyamas Vision ist und bleibt Realität, wo die Machtträger dieser Welt sich freiwillig oder unfreiwillig an diese Spielregeln halten. Sie müssen das nicht gleich aus Furcht vor US-Atom-U-Booten - ein paar Hubschrauber über dem Regierungspalast einer Bananenrepublik genügen gewöhnlich. In fortgeschritteneren Ländern ist selbst das nicht nötig: Hier vermag man ein anderes als das Händlerethos schon gar nicht mehr ohne Gruseln zu denken. Anders außerhalb der westlichen Wertschöpfungsgemeinschaft: Diese eignet sich offenbar hervorragend dazu, mittelfristig den materiellen Wohlstand der westlich geprägten Industriestaaten zu sichern. Unter den Gesetzen eines globalen Marktes verwandeln sich die Güter aller Nationen in käufliche Waren.

Dadurch könnten sich andere Völker aber einmal benachteiligt sehen und die liberalen Spielregeln mit ihrem Ausschluß kriegerischer Gewalt als benachteiligend ansehen. Wir wissen vor allem nicht, wie Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika überhaupt langfristig ihr Interesse definieren werden. Blutige Erfahrungen vom 30jährigen Krieg bis zu den ideologischen Ausrottungskriegen des 20. Jahrhunderts lassen es dem Westen tunlich scheinen, dieses Interesse auf ökonomische Fragen zu beschränken. Darin liegt eine Wertentscheidung, die philosophisch zum Liberalismus, wirtschaftlich zum Kapitalismus und politisch zum Parlamentarismus führt. Es ist aber nicht die einzig mögliche Entscheidung, und ökonomisch abgehängte Kollektive können durchaus andere ethische Grundhaltungen einnehmen. Der islamische Gottesstaat, das kommunistische China oder der völkisch definierte Nationalstaat sind konkrete andere Optionen. Die Zukunft hängt davon ab, in welchem Ausmaße sich welches Organisationsmodell kollektiven Handelns unter den Bedingungen einer ressourcenknappen Zehnmilliardenwelt als erfolgreich erweisen wird.

Die brisante Zukunftsfrage besteht also darin, ob konkrete Kollektive bereit sind, notfalls unter Aufbietung der dazu geeigneten religiösen, nationalen oder ideologischen Mythologeme, sich als Gottesstaat oder Nation oder Klasse zu definieren und in deren Namen zu handeln, also zu leben und zu sterben. Das wird der Fall sein, wenn und soweit dieses oder jenes Kollektiv den Gottesstaat oder die Nation oder die Klasse oder etwas ganz Neues als die beste Organisationsform begreift, ihre Interessen zur Geltung zu bringen und durchzusetzen.

Junge Freiheit vom 23. Dezember 1994


 

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