Ludwig
Klages (1872-1956) |
Ausdruckswissenschaft, Biozentrik, Sinn der Leib-Seele-Einheit |
Ludwig Klages vertrat eine biozentrische Metaphysik und entwickelte die Methoden
einer Wissenschaft vom Ausdruck. Von seiner biozentrischen Anthropologie ausgehend,
vertrat Klages die These einer ursprünglichen Leib-Seele-Einheit, die durch
den hinzugekommenen Intellekt gestört werde. Nach Klages muß jede physiognimische
Betrachtung von der frei sich bewegenden Gestalt ausgehen und nach ihrem seelischen
Gehalt fragen. Der Leib-Seele-Zusammenhang war für Klages nicht nur ein Seins-,
sondern vor allem ein Sinn-Zusammenhang. Der Leib ist die Erscheinung der
Seele, die Seele der Sinn des lebendigen Leibes. Erläutert wird die
Widerschaft zwischen Seele und Geist z.B. am Gegensatz von Ausdrucks- und Willkürbewegungen:
Das nach Leib und Seele polarisierte Leben in die Botmäßigkeit
des Geistes zu zwingen, ist eine Formel für den anfangs unbewußten
Willen alles höheren Denkens. (Klages, Der Geist als Widersacher
des Lebens, 1929-1932 ).Klages
gründete 1905 in München (1919 nach Kilchberg verlegt) ein privates
Seminar für Ausdruckskunde.Am Anfang ist Bewegung, so
die Überschrift zu einem Artikel von Baal Müller in der Jungen Freiheit
vom 29. Juli 2006: Dualismus von Geist und Seele. Vor fünfzig Jahren
starb der Lebensphilosoph Ludwig Klages. Betrachtet man die neueren Wiederentdeckungen
von Philosophen der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts - Georg Simmel
()
und Walter Benjamin ()
als Vordenker der cultural studies oder Oswald Spengler ()
als Prophet des »Kampfs der Kulturen« -, so fällt auf, daß
einer der wichtigsten Stichwortgeber der intellektuellen Debatten jener Zeit,
der Lebensphilosoph Ludwig Klages, zwar noch nicht im universitären Pantheon
angelangt ist, daß aber doch von einer merklichen »Klages-Renaissance«
(Günter Zehm) gesprochen werden kann.Diese
Wiederbesinnung auf den am 10. Dezember 1872 in Hannover geborenen Denker, die
angesichts der Unkenntnis oder Feindschaft sowohl der akademischen Philosophie
als auch des Feuilletons gegenüber Klages erstaunlich anmutet, vollzog sich
zunächst zaghaft in Kreisen der ökologischen Bewegung - zumal in jenen,
die noch Verbindung zur Jugend- und Lebensreformbewegung der Vorkriegszeit hatten
- und griff seit den 1990er Jahren verstärkt auf jüngere Zirkel einer
globalisierungskritischen, identitätsorientierten, natur- und heimatverbundenen,
der traditionellen Rechten und dem christlichen Konservatismus aber eher skeptisch
gegenüberstehenden »Neuen Rechten« über, was sich in einigen
oft »avantgardistischen« Publikationsprojekten sowie in mancherlei
wissenschaftlichen Arbeiten niederschlug.Konzentrierte
sich das ökologische Interesse an Klages auf wenige Schriften wie den 1913
verfaßten Aufruf »Mensch und Erde«, in dem Klages mit flammenden
Worten die bereits damals zu beobachtende Ausrottung vieler Tier- und Pflanzenarten,
die Zerstörung von Landschaften und traditionellen Lebensformen anprangert,
und ließ es den philosophischen Kontext aufgrund der Fremdartigkeit seines
Denkens für den »progressiven« Zeitgeist, besonders aber auch
wegen Klages' angeblichem »Antisemitismus« und den - bald gescheiterten
- Versuchen einiger seiner Schüler, ihn in den 1930er Jahren zu einem Vordenker
des Dritten Reiches zu stilisieren, außer acht, so läßt sich
in der neueren Klages-Rezeption ein Zugang beobachten, der das Gesamtwerk ohne
die hagiographischen Tendenzen der älteren, meist von Klages-Anhängern
geleisteten Forschung in den Blick nimmt und kritisch - freilich ohne die üblichen
Scheuklappen bezüglich eines »reaktionären« Autors - sichtet,
um den von einem zuweilen schwer zugänglichen Stil überlagerten, auf
lexikonstarke Bände verteilten Gehalt seines Denkens freizulegen.»Dinge«
sind nach Klages Projektionen des »Geistes«.Worin
besteht nun die Anschlußfähigkeit des gleichermaßen radikalen
wie pessimistischen Privatgelehrten, der von sich behauptete, in seiner Jugend
»kosmischer« Entrückungen teilhaft geworden zu sein, der die
wichtigsten Impulse seines Denkens um 1900 von Schwabinger Dichtern und Bohemiens
wie Alfred Schuler, Stefan George und Karl Wolfskehl erhalten hat und sich zeitlebens
als verhinderten Dichter sah, der in den 1920er und frühen 1930er Jahren
zu einem von Hindenburg mit der Goethe-Medaille ausgezeichneten Repräsentanten
des deutschen Geistes avancierte, von den Nazis aber bald kaltgestellt wurde und
am 29. Juli 1956 in Kilchberg bei Zürich verstarb?Ludwig
Klages war, seiner manchmal verschlungenen Systembildung zum Trotz, ein Denker
des phänomenal Erscheinenden oder der »Wirklichkeit der Bilder«.
Klages' zentrale Lehre ist seine Theorie des Ausdrucks, die er in zahlreichen
Werken (am ausführlichsten in der »Grundlegung der Wissenschaft vom
Ausdruck«, 1935;
am Beispiel des Menschen in den »Grundlagen der Charakterkunde«, 1926)
dargelegt und in seinem philosophischen Hauptwerk »Der Geist als Widersacher
der Seele« (1929-32)
sowie schon in dem furiosen Essay »Vom kosmogonischen Eros« (1922)
in eine Metaphysik und Erkenntnislehre eingebettet hat. Ihre praktische Anwendung
findet sie besonders in der Graphologie (»Handschrift und Charakter«,
erstmals 1917),
als deren wissenschaftlicher Begründer Klages gilt.Ausdruck
wird als Ermöglichungsgrund jeder Kommunikation vom Leben her gefaßt;
er ist Selbstexplikation eines lebendigen, wenngleich nicht unbedingt organischen
Wesens. Klages formuliert aphoristisch: »Die Seele ist der Sinn des Leibes,
der Leib ist die Erscheinung der Seele.« »Sinn« ist dabei ähnlich
wie der »Wortsinn« eines sprachlichen »Lautkörpers«
als Bedeutungsgehalt zu verstehen; und der Leib ist als Bedeutungsträger
kein »Ding« im meß- und wägbaren Sinne. Das Leben wiederum
begreift Klages vom Urphänomen der Bewegung her, so daß jeder lebendige,
nichtmechanische Prozeß eine Ausdrucksbewegung ist, die etwa anhand der
Schrift als »Kondensat« der Schreibbewegung untersucht werden kann.Die
Stellung der Graphologie als angewandte Ausdruckskunde ergibt sich im Klages'schen
Gedankensystem also nicht aus einer besonderen Aussagekraft der Schrift gegenüber
anderen Lebensäußerungen, sondern sie folgt daraus, daß das Schreiben
im Gegensatz zu anderen Bewegungen ein unmittelbares und bleibendes, von daher
gut analysierbares Resultat hinterläßt. Klages' Neuansatz innerhalb
der Graphologie und physiognomischen Tradition besteht also darin, vom Bewegungsphänomen
und nicht von den Zeichenformen für sich bzw. von den Formen der Körperteile
auszugehen.Dieser Primat der Bewegung gegenüber
dem Statisch-Dinglichen - »Dinge« sind nach Klages' Auffassung nur
Projektionen des »Geistes«, der die Lebensprozesse analysierend »zerschneidet«
und »feststellt« - ist das ontologische Grundprinzip seiner Philosophie;
es verbindet ihn mit Nietzsche als großem Anreger, dessen »psychologischen
Errungenschaften« er ein Buch gewidmet hat, und mit anderen lebensphilosophischen
Autoren seiner Zeit; jedoch hat wohl keiner von ihnen dieses Prinzip so umfassend
systematisiert und auf die verschiedensten Gebiete - darunter auch die Sprachphilosophie
in seinem originellen, bislang wenig beachteten Spätwerk »Die Sprache
als Quell der Seelenkunde« (1948)
- angewandt.Auch wenn man heute seinem radikalen
Dualismus von Geist und Seele, der immer wieder als »irrationalistisch«
und »geistfeindlich« mißverstanden wurde, nicht mehr in jeder
Hinsicht folgen möchte, dürften seine ganzheitliche Lebensdeutung, seine
Parteinahme für kleinräumig-»tribale« Organisationsformen,
nachhaltige Wirtschafts- und »leibseelische« Erkenntnisweisen sowie
sein Kampf gegen das Wüten einer erdumspannenden, sinnlos dynamisierten Zivilisation,
gegen Konsumfixierung und Konstrukt-Charakter moderner Lebensformen, wieder eine
stärkere Beachtung finden.1913 hielt Klages auf dem Meißnertreffen
der Freideutschen Jugend einen Vortrag mit dem Titel Mensch und Erde
()
und geißelte die zerstörenden Folgen der modernen kapitalistischen
Industriegesellschaft: Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit
ergriffen, die »Zivilisation« rägt die Züge entfesselter
Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch.
Als hätte er dies nicht 1913, sondern heute gesagt. |