Logik und LogistikLogik
Die Logik ist bekanntlich die Fähigkeit richtig, d.h. eben logisch zu denken und die Lehre von der Identität und ihrer Verneinung bzw. von der Folgerichtigkeit und von den Methoden des Erkennens (**). Als elementare formale Logik befaßt sie sich mit den allen Begriffen eigenen allgemeinen Eigenschaften. Die grundlegenden Eigenschaften der Begriffe werden ausgesprochen in den logischen Axiomen. Es folgt die Lehre vom Begriff, dann die vom Urteil, zuletzt die vom Schluß - diese drei bilden zusammen die reine Logik. Die angewandte Logik umfaßt gemäß der traditionellen Logik die Lehre von der Definition, vom Beweis, von der Methode; neuerdings werden ihr oft vorausgesandt die noch nicht logikwissenschaftlichen, sondern erkenntnistheoretischen (**) Lehren vom Erleben, vom Beschreiben und Formulieren, besonders mit Hilfe einer Fachsprache, einer Terminologie, eines Konventionalismus, und von der Begriffsbildung. Bisweilen wird ihr angeschlossen die Lehre vom System.Logische Beziehungen
AxiomDas Axiom ist derjenige Grundsatz oder Satz, der nicht bewiesen werden kann, aber auch nicht bewiesen zu werden braucht, weil er unmittelbar als richtig einleuchtet und deshalb - eben als Grundsatz - für andere Sätze dient (vgl. Deduktion) bzw. als solcher auch vereinbart werden kann (vgl. Konventionalismus). Logische Axiome sind z.B. der Satz des Grundes (Satz vom zureichenden Grunde, principium rationis sufficientis), der Satz der Identität, der Satz des Widerspruchs (principium contradictionis), der Satz des ausgeschlossenen Dritten (exclusi terti principium). Die Axiomatik ist die Lehre vom Postulieren und Ableiten, sofern dabei von einem Axiomensystem ausgegangen wird (vgl. Logistik).
BegriffDer Begriff ist der einfachste Denkakt im Gegnsatz zu Urteil und Schluß, die aus den Begriffen zusammengesetzt sind. Ein Begriff muß die Forderung durchgängiger Konstanz, vollkommener Bestimmtheit, allgemeiner Übereinstimmung und unzweideutiger sprachlicher Bezeichnung erfüllen. Von den Begriffen der Logik weichen die Begriffe des alltäglichen Sprachgebrauches bisweilen erheblich ab, da dieser die Dinge vorzugsweise nach Typen einteilt und nicht nach Merkmalsgesamtheiten (ein Rechteck mit den Seitenlängen 1 und 150 gehört nicht dem Typus Rechteck, sondern dem Typus Band an und fällt daher unter dem Begriff Band). So bilden sich auch die Begriffe im Denken eines Volkes oder eines Menschen nicht dadurch, daß die einer Gruppe von Dingen oder Erscheinungen gemeinsamen Merkmale wahrgenommen und zu Begriffen zusammengesetzt werden (vgl. Art), sondern dadurch, daß zunächst die Wesensgemeinschaften an den Dingen oder Geschehnissen aufgefaßt und zu Begriffen verarbeitet werden (für viele Stadtkinder ist jedes vierbeinige Tier oft zunächst ein Wauwau) und daß sich erst allmählich diese wenigen, weiten aber unscharfen Begriffe in viele, enge und scharf abgegrenzte Begriffe dadurch aufgliedern, daß im Bereich des Gegebenen das Prägnante erkannt wird sowie eine zunehmende Zahl an Prägnantstufen, die zum Prägnanten hin- oder von ihm wegführen. Der Umfang natürlicher Begriffe fällt mit Prägnanzbereichen zusammen.
Die Begriffsbildung ist die jeweilige Methode einer Wissenschaft, durch die das Zustandekommen der Begriffe je nach eigener Betrachtungsweise, Definition (Begriffsbestimmung) und Formulierung ermöglicht wird. Es sind drei Grundformen der Begriffsbildung voneinander zu unterscheiden:
UrteilDas Urteil ist ein Akt des Bejahens oder Verneinens, in dem zwei Begriffe (Subjekt und Prädikat) in Beziehung zueinander gesetzt werden. Im Urteil bezieht das Denken einen Begriff auf einen Gegenstand und setzt diesen zugleich mitsamt seinen Prädikaten, und zwar durch die Kopula ist, die stets auf absolute Geltung des behaupteten Sachverhaltes abzielt. Denn es ist für das echte Urteil kennzeichnend, daß es nichts als möglich zuläßt, was dieser Setzung widersprechen und zugleich Geltung haben könnte. Wenn es Bedingungen gibt, unter denen der Sachverhalt steht, so sind durch das Urteil diese Bedingungen ebenso kategorisch mitgesetzt wie der Sachverhalt selbst. Jedes Urteil enthält somit innerlich und unabtrennbar eine Beziehung zu einem Inbegriff möglicher Erkenntnissubjekte (**), zu einem Inbegriff möglicher Sachverhalte und zu einem Inbegriff notwendiger Bedingungen. Dieser Inbegriff aller möglichen Subjekte, Sachverhalte und notwendigen Bedingungen wird regiert von einem gemeinsamen Gesetz, dem Gesetz des Nicht-Widerspruchs. Kant z.B. unterscheidet (in seiner Kritik der reinen Vernunft, Logik, 1781) folgende Arten von Urteilen:
SchlußDer Schluß ist das formale logische Verfahren, aus mehreren Urteilen, den Voraussetzungen (Prämissen), ein einziges Urteil, die Schlußfolgerung, begrifflich abzuleiten. Im einfachsten Falle besteht der Schluß aus zwei Voraussetzungen und der Schlußfolgerung - ein solcher Schluß heißt Syllogismus. Schlüsse mit mehr als zwei Voraussetzungen müssen in Syllogismen zerlegt werden. Es können folgende Schlußfehler auftreten, die vermieden werden müssen:
DefinitionDie Definition ist die Begriffsbestimmung bzw. Darstellung eines Begriffs durch Aufzählung des Begriffsinhalts. Sie kann bei Begriffen von empirischen Gegenständen nur in der Angabe der wesentlichen Merkmale bestehen, weil solche Begriffe unabsehbar viele Merkmale haben.BeweisDer Beweis bedeutet das Unternehmen, die Richtigkeit einer Behauptung, die Gewißheit einer Erkenntnis (**) herbeizuführen oder, falls sie bestritten wird, sie zusätzlich und ergänzend zu sichern. Der strenge oder deduktive Beweis (die Demonstration) wird erbracht, indem die betreffende Behauptung durch solche als wahr anerkannten Sätze (Beweisgründe, Argumente) gestützt wird, daß aus ihnen das Behauptete als die Folgerung in einem formgerechten Schluß folgt (vgl. Deduktion). Wenn dies nicht möglich ist, muß umgekehrt versucht werden, Tatbestände als Beweisgründe beizubringen, die aus der betreffenden Behauptung als deren Besonderungen hervorgehen: induktiver Beweis (vgl. Induktion). Wenn nur entweder die Richtigkeit oder die Falschheit der betreffenden Behauptung, nicht aber die Unentscheidbarkeit jener beiden in Frage steht, kann fernerhin versucht werden, das Gegenteil der betreffenden Behauptung zu beweisen bzw. zu widerlegen, womit diese selbst dann widerlegt bzw. bewiesen ist: indirekter Beweis. Das Gegenteil des Beweises ist die Widerlegung; sie besteht darin, daß hinsichtlich der Sache, auf die die betreffende Behauptung geht, Tatsachen vorgebracht werden, aus denen diese Behauptung nicht gefolgert werden kann.In der Beweistechnik werden gelegentlich Beweisfehler benutzt, indem z.B. absichtlich falsche Prämissen gesetzt werden. Ein Beispiel ist der schon erwähnte indirekte Beweis (Widerspruchsbeweis, reductio ad absurdum), bei dem von einer falschen Annahme ausgegangen wird mit dem Ziel, diese zu widerlegen. Das vielleicht bekannteste Beispiel für einen indirekten Beweis ist der Satz des Euklid, bei dem bewiesen wird, daß es unendlich viele Primzahlen gibt.
MethodeDie Methode ist ein mehr oder weniger planmäßiges Verfahren zur Erreichung eines bestimmten Zieles, der Weg zum Ziel. Im Bereich der Wissenschaft ist sie der Erkenntnisweg (**), den der Forscher sich an Hand einer Hypothese zu seinem Gegenstand hin bahnt. Dabei gibt die Philosophie, falls sie als Grundwissenschaft verstanden wird (das kann man ja auch bestreiten!), dem Forscher die Mittel, zu prüfen, ob die gewählte Methode überhaupt geeignet ist (vgl. Methodenlehre als Untersuchung der Methoden) und ob er die Methode im Verlauf der Arbeit konsequent benutzt. Die Philosophie vermag das Methodenbewußtsein in den Einzelwissenschaften wach und kritisch zu halten.FachspracheJede Fachsprache ist eine Sondersprache oder Verständigungssystem, die für bestimmte Fachgebiete gelten und eine genaue Verständigung und exakte Bezeichnungen auf einem bestimmten Gebiet ermöglichen. Man kann die Fachsprache auch als ein Fachwortschatzsystem (mit den syntaktischen und morphologischen Regeln einer Sprache [vgl. Morphologie und Syntax]) eines bestimmten Bereiches bezeichnen. Nur einige extreme Bereiche - z.B. Mathematik, Logik, Logistik, Linguistik - verlassen mit ihren formalisierten Zeichen und Operationsregeln, ihren Grammatiken die Regeln einer Sprache und gelten so mehr oder weniger als eine Metasprache.TerminologieDie Terminologie ist die Gesamtheit der in einer Wissenschaft, Philosophie oder Kunst gebrauchten Fach- und Kunstausdrücke und insofern fast ein Synonym zur Fachsprache; besonders in der Philosophie gestaltet sie sich immer schwieriger, weil die philosophischen Begriffe durch die neuen Aspekte historisch späterer Interpretationen so vieldeutig werden, daß jeder Forscher, um richtig verstanden zu werden, seinen Darstellungen eine Terminologie, d.h. eine Erklärung der von ihm benutzten Termini, voranstellen muß. Die Folge davon ist, daß die Terminologie als Ganzes immer unübersichtlicher wird und nur durch Nachvollzug der entsprechenden Aspekte verstanden werden kann.KonventionalismusDer Konventionalismus ist die philosophische Richtung, die den auf rein zweckmäßiger Übereinkuft der Wissenschaftler beruhenden Charakter von Begriffen, Definitionen, Axiomen, Hypothesen u.ä. betont. So brauchen z.B. für den mathematischen Konventionalismus die Axiome keine evidenten Wahrheiten zu sein, sondern sie werden zweckmäßig ausgewählt und als Setzungen vereinbart, müssen nur den formal widerspruchsfreien Aufbau eiens Axiomensystems genüge leisten. Der Konventionalismus steht soweit im Mittelpunkt der heutigen Mathematik, daß behauptet werden kann, es könnte so viele gleichberechtigte bzw. wahre Mathematiken geben wie Mathematiker.System (Lehre vom System)Ein System ist ein Zusammenschluß eines - mehr oder weniger - Mannigfaltigen zu einem einheitlichen und wohlgegliederten Ganzen und zu den übrigen Teilen, in dem das Einzelne eine angemessene Stellung einnimmt. Ein philosophisches System ist die Vereinigung grundsätzlicher bzw. grundlegender Erkenntnisse (**) zu einer organischen Ganzheit, zu einer Doktrin, einem Lehrgebäude (vgl. Methode). Vgl. auch Systemtheorie.Logistik
Die Logistik ist die moderne Form der Logik. Sie unterscheidet sich von der älteren, traditionellen Logik vor allem durch ihre Formalisierung (d.h. sie berücksichtigt nicht die inhaltlichen Bedeutungen der einzelnen Ausdrücke, sondern nur ihre syntaktische Kategorie und deren strukturelle Beziehungen) und ihre Kalkülisierung (d.h. die Ausdrücke können nach festen Operationsregeln rein formal umgeformt werden, man kann mit ihnen rechnen). Nicht notwendigerweise, aber aus praktischen Gründen doch meistens ist sie symbolisiert (d.h. den einzelnen Ausdrücken sind ganz bestimmte Zeichen zugeordnet) und axiomatisiert (d.h. alle vorkommenden Zeichen werden durch einige Grundzeichen definiert und alle Gesetze werden durch bestimmte Schlußregeln aus einigen Grundgesetzen, den Axiomen, hergeleitet).Im weiteren Sinne ist die Logistik die Lehre vom Logikkalkül, seinen Voraussetzungen und Anwendungen. Kalkül ist ein System von Zeichen mit dazugehörigen Operationsregeln. Beispielsweise stellt das Schachspiel einen Kalkül dar: die Spielfelder und Spielfiguren stellen ein System von Zeichen dar, die Zug- und Schlagregeln sind Operationsregeln. Die formalen Voraussetzungen des Logikkalküls behandelt die Metalogik - die Lehre von den philosophischen Grundlagen des Logigkalküls -, und dazu gehören vor allem die Syntaktik, die Semantik und die Pragmatik (alle drei sollten trotz Ähnlichkeit nicht verwechselt werden mit denen in der Sprachwissenschaft [Linguistik]).Innerhalb der Logistik lassen sich folgende Aufgabenfelder unterscheiden:
Die ersten Ansätze zu einer inhaltlich fundierten (nicht bloß formalisierenden) Logistik schuf Gottfried Wilhelm Leibniz. Seine Ideen wurden zwar weitergeführt, aber ihre Lehren fanden immer weniger Beachtung wegen des rund 100 Jahre später einsetzenden Siegeszuges der transzendentalen Logik Kants. Unabhängig von diesen Vorgängen wurde George Boole durch die Veröffentlichung seinen Hauptwerke von 1847 der Begründer der Algebra der Logik, womit im Gegnsatz zu den Leibnizschen Ansatz für die ganze künftige Entwicklung der Formalismus einsetzte. Diese Entwicklung wurde fortgesetzt und fand ihren Höhepunkt im Werk des Mathematikers Ernst Schröder. Der eigentliche Begründer der heutigen Logistik ist Gottlob Frege. Die Axiomatik und die Grundlagenforschung wurde entscheidend gefördert von David Hilbert. |
Erkenntnis und Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie)ErkenntnisErkenntnis bedeutet das Sichaneignen des Sinngehalts von erlebten bzw. erfahrenen Sachverhalten, Zuständen, Vorgängen, mit dem Ziel der Wahrheitsfindung. Erkenntnis heißt sowohl (ungenau) der Vorgang, der genauer als Erkennen bezeichnet werden muß, als auch dessen Ergebnis. Im Sinne der Philosophie ist Erkennen immer etwas als etwas erkennen, so wie man z. B. sagt: Er hatte ihn als Lügner erkannt. In der Erkenntnis ist also ein Beurteilen enthalten, das sich auf Erfahrungen stützt. Wer nicht weiß, was ein Lügner ist und daß es Lügner gibt, kann niemals einen Menschen als Lügner erkennen. In der Erkenntnis ist stets auch ein Wiedererkennen enthalten. Neue, von innerer und äußerer Erfahrung unabhängige Erkenntnisse können nur durch die schöpferische Phantasie entstehen.Die Erkenntnis wird seit der griechischen Philosophie untersucht nach den Gesichtspunkten von (objektiver) Quelle bzw. Herkunft, (subjektiver) Fähigkeit, d. h. Vermögen dazu, Ziel und Zweck, Kennzeichen und Maßstäben, Grenzen und Hindemissen (Aporien und Antinomien) in einer Erkenntnislehre, die erst seit Kant als philosophisches Sondergebiet unter dem Namen Erkenntnistheorie auftritt und dann mitunter beinahe die ganze übrige Philosophie überwuchert. Seit Leibniz und Wolff bedeutet Erkenntnis sowohl Prozeß als auch Ergebnis der spezifisch empirisch-wissenschaftlichen Wahrheitsfindung. Kant unterschied in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) die Prozesse bei der Erkenntnis (a) des Verstandes, (b) der Vernunft und (c) der Sinne - alle drei müssen zusammenwirken, um die Erkenntnis im engeren Sinne als systematisch geordnetes Wissen hervorzubringen. Schopenhauer machte aus Kants drei Erkenntnisprozessen vier (). Innerhalb der Erkenntnis wird unterschieden zwischen der (uneigentlichen) formalen oder abstrakten Erkenntnis und der (eigentlichen) inhaltlichen oder konkreten Erkenntnis. Diese zerfällt ihrerseits in so viele Erkenntnisarten, wie es wichtige Sachgebiete gibt.
Bei der Erkenntnis stehen sich Subjekt und Objekt als Erkennendes und Erkanntes gegenüber. Das Subjekt erkennt, das Objekt ist erkennbar. Das Erkennen geschieht dadurch, daß das Subjekt gleichsam in die Sphäre des Objekts hinübergreift und es in seine eigene hereinholt, genauer dadurch, daß die Bestimmungsstücke des Objektes an seinem, im Subjekt entstehenden Abbild wiederkehren. Auch dieses Abbild ist objektiv, d.h. das Subjekt unterscheidet es, an dessen Aufbau es selbst beteiligt ist, von sich selbst als ein Gegenüberstehendes. Das Abbild ist nicht identisch mit dem Objekt, aber ihm kommt Objektivität zu. Das Objekt ist unabhängig vom Subjekt. Es ist mehr als nur ein Gegenstand der Erkenntnis und in diesem Mehr-als-bloßes-Objekt-Sein ist es das Transobjektive. Neben dem Gegenstand-Sein besitzt das Objekt An-sich-Sein. Wird das Objekt unabhängig von der Erkenntnisbeziehung gedacht, so wird es zum Ding. Das Subjekt aber kann auch für sich selbst Subjekt sein, d.h. es kann ein Bewußtsein für seine Fähigkeit des Erkennens haben, es besitzt über seine Eigenschaft als eines Erkennenden hinaus noch ein Für-sich-Sein. Das An-sich-Sein des Objektes bedeutet, daß neben dem am Objekt Erkannten noch ein unerkannter Rest übrig bleibt. Die Tatsache, daß wir den Erkenntnisgegenstand nie vollständig und ohne Rest, nie in der Fülle seiner Bestimmtheit erkennen können, spiegelt sich wider in der Nichtübereinstimmung zwischen Objekt und Abbild. Sofern das Subjekt von diesem Unterschied weiß, ergibt sich das Phänomen des Problems, das den weiteren Erkenntnisvorgang mit Spannung lädt und auf immer weitere Erkenntnisbemühungen drängt. Der Ausgleich einer solchen Spannung liegt in der Richtung eines Erkenntnisprogresses, durch den die Grenze zwischen dem, was bereits erkannt wurde, und dem, was erkannt werden sollte, auf das Transobjektive hin verschoben wird. Der Erkenntnisdrang des Bewußtseins, dessen Wirkung der Erkenntnisprogreß ist, ist ein fortschreitendes Sich-empfänglich-Machen für die Bestimmthetlen des Objekts. Für den Erkenntnisdrang ist das, was erkannt werden soll, unerschöpflich, für ihn ist es ein Unendliches.In
aller Erkenntnis stehen einander Erkennendes und Erkanntes gegenüber. |
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Sinnlichkeit (gemäß Kant) |
Verstand (gemäß Kant) |
Vernunft (gemäß Kant) |
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- V e r s u c h e i n e r A n a l o g i s i e r u n g - | |||
Ikone (gemäß Semiotik) |
Indizes (gemäß Semiotik) |
Symbole (gemäß Semiotik) |
S c h o p e n h a u e r s
V o r s t e l l u n g ( e n )
Vier Klassen der Objekte für das Subjekt und die in ihnen herrschende Gestaltung des Satzes vom zureichenden Grunde | 1. Klasse der Objekte ... | 2. Klasse der Objekte ... | 3. Klasse der Objekte ... | 4. Klasse der Objekte ... |
Subjektives
Korelat: Verstand |
Subjektives Korelat: Vernunft | Subjektives
Korelat: Sinnlichkeit | Subjektives
Korelat: Selbstbewußtsein |
Raum,
Zeit; Ursache und Wirkung (Kausalität) | Begriffe und Urteile u.s.w. | wie
1. Klasse - nur ohne Zeit (also auch ohne Kausalität), weil Raum und Zeit gleichgesetzt | wie 1. Klasse - nur
bezogen auf den Leib, den inneren Sinn; innerlich |
Satz
vom zureichenden Grunde des Werdens | Satz
vom zureichenden Grunde des Erkennens | Satz
vom zureichenden Grunde des Seins | Satz
vom zureichenden Grunde des Handelns (Motivs) |
Herrschaftsformen in der Erkenntnistheorie - müssen die sein? | |
Evolutionäre Erkenntnistheorie | Digitale Erkenntnistheorie - werden wir die bald nötig haben? |
| Seinsmomente sind Dasein und Sosein |
| Seinsweisen sind Realität und Idealität |
| Seinsmodi sind Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit |
Eine Theorie muß falsifizierbar sein. Aber wir können ja nicht abstreiten, daß die Theorien solcher Wissenschaftler schwer zu widerlegen oder, um es wissenschaftlicher bzw. erkenntnistheoretischer auszudrücken, schwer zu falsifizieren sind. Solange sie gelten, gelten sie auch als nicht widerlegt, nicht falsifiziert. Poppers Aussagen betreffen ja die wissenschaftliche Erkenntnis, genauer: die Erkenntnistheorie als Teil der Erkenntnislehre. .... Wir müssen uns darüber natürlich im klaren sein, daß Popper mit seiner Falsifikationsthese die Naturwissenschaft einerseits nicht sicherer, sonderen unsicherer, aber andererseits nicht unsicherer, sondern sicherer gemacht hat. Für wen jeweils? Darauf kommt es an! Denn (nicht nur, aber) auch dank Popper können sich zwar alle diejenigen Naturwissenschaftler, deren Theorien als nicht falsifiziert gelten, sicher sein, daß sie es ziemlich lange bleiben werden, während alle anderen Naturwissenschaftler unsicher bleiben müssen darüber, ob ihre vielleicht bessere bzw. erkenntnistheoretisch wertvollere Theorie jemals akzeptiert werden wird (denken Sie nur daran, wie lange Alfred Wegener ausgelacht worden ist - gerade auch in dem englischsprachigen Teil der Erde -, obwohl auch damals schon die vorherrschenden Theorien in der Geologie falsifiziert werden konnten, aber eben nicht wurden [warum wohl?]). Die anderen Wissenschaftler sind gegenüber den etablierten Wissenschaftlern aber immer eine riesige Mehrheit und könnten sich unter anderen Bedingungen als den geltenden viel leichter durchsetzen. Es ist ähnlich wie in der Evolution bzw. Geschichte. Manchmal setzt sich die Minderheit aufgrund ihrer Qualität (Intelligenz, Leistung u.s.w.) durch und manchmal die Mehrheit aufgrund ihrer Quantität (Masse, Anzahl). Wenn es nur die Qualität wäre, dann gäbe es - übrigens - auch keinen Untergang des Abendlandes; denn leider ist es die Quantität, z.B. die Zahl der Migranten aus fremden Kulturen (weil sie schlicht mehr Nachkommen haben!), die zuletzt dem Abendland den Todesstoß versetzen wird. Wenn es in der (Natur-)Wissenschaft auch noch exakt so wäre - seit Poppers These Doktrin ist, ist das aber immer seltener so -, dann wären Theorien, dann wäre z.B. Einsteins Relativitätsheorie mehr Druck seitens der Konkurrenz ausgesetzt, als es tatsächlich der Fall ist. (Übrigens: Ich bin nicht gegen Einstein oder dessen Relativitätstheorie!).
H a l l i g S ü d f a l l |
Wahrheit
hat ganz massiv etwas mit Interessen zu tun. Wissenschaftliche Ergebnisse kommen
nicht durch den Wahrheitswillen der Wissenschaftler, sondern durch ihr Kompetenzerhaltungsinteresse zustande (dies wiederum ist eine Kernaussage der Systemischen Evolutionstheorie zum Erkenntnisgewinn). Anders wäre es nicht erklärbar, daß Mediziner fundamental falsche Aussagen verbreiten und als allerneuesten Forscherstand verkaufen, von denen jederzeit leicht nachprüfbar ist, daß sie falsch sind, wie es falscher nicht geht. (Don Quijote (Pseudonym), 24.08.2012, 11:37 [**|**]). |
P.-M.: Was ist denn überhaupt das Problem an der neoliberalen Leistungsethik?
Das Problem ist, daß sie so listig ist und dadurch so verheerend effizient. Ich will Ihnen erzählen, worin diese List besteht. Karl Marx hat eine Gesellschaft kritisiert, die durch eine Fremdherrschaft regiert wurde. Im Kapitalismus wird der Arbeiter ausgebeutet, und diese Fremdausbeutung stößt ab einem bestimmten Produktionsniveau an ihre Grenzen. Ganz anders die Selbstausbeutung, der wir uns heute freiwillig (bedingt freiwillig [**]; HB) unterwerfen. Die Selbstausbeutung ist grenzenlos! Wir beuten uns freiwillig aus, bis wir zusammenbrechen. Wenn ich scheitere, mache ich mich selbst für dieses Scheitern verantwortlich. Wenn ich leide, wenn ich pleitegehe, dann bin nur ich selbst schuld. Selbstausbeutung ist eine Ausbeutung ohne Herrschaft, denn sie geschieht völlig freiwillig. Und weil sie unter dem Zeichen der Freiheit steht, ist sie so effektiv. Niemals bildet sich ein Kollektiv, ein »Wir«, das sich gegen das System erheben könnte.
Sie diagnostizieren unsere Gesellschaft mit Hilfe des ungewöhnlichen Begriffspaars von Positivität und Negativität. Und stellen dabei die verschwindende Negativität fest. Wozu soll Negativität gut sein? Und was verstehen Sie überhaupt unter Negativität?
Die Negativität ist etwas, das eine immunologische Abwehrreaktion hervorruft. So ist der Andere das Negative, das in das Eigene eindringt und dies zu negieren, zu zerstören sucht. Ich habe behauptet, daß wir heute in einem postimmunologischen Zeitalter leben. Die psychischen Erkrankungen von heute wie Depression, ADHS oder Burnout sind keine Infektionen, die durch eine virale oder bakterielle Negativität verursacht werden, sondern Infarkte, für die das Übermaß an Positivität verantwortlich ist. Die Gewalt geht nicht nur von der Negativität, sondern auch von der Positivität aus, nicht nur vom Anderen, sondern auch vom Gleichen. Die Gewalt der Positivität oder des Gleichen ist eine postimmunologische Gewalt. Krank macht die Fettleibigkeit des Systems. Es gibt bekanntlich keine Immunreaktion auf das Fett.
Inwiefern hat die Depression mit der verschwindenden Negativität zu tun?
Die Depression ist ein Ausdruck des krankhaft gesteigerten narzißtischen Selbstbezugs. Der Depressive versinkt und ertrinkt in sich. Ihm ist der Andere abhandengekommen. Haben Sie Lars von Triers Film »Melancholia« gesehen? An der Protagonistin Justine zeigt sich, was ich meine: Sie ist depressiv, weil sie total erschöpft, zermürbt ist von sich selbst. Ihre ganze Libido richtet sie auf ihre eigene Subjektivität, daher ist sie unfähig zur Liebe. Und dann, ja dann: Ein Planet erscheint, der Planet Melancholia. In der Hölle des Gleichen kann die Ankunft des ganz Anderen eine apokalyptische Form annehmen. Der todbringende Planet offenbart sich Justine als der ganz Andere, der sie aus dem narzißtischen Sumpf herausreißt. Sie blüht angesichts des todbringenden Planeten förmlich auf. Sie entdeckt auch die Anderen. So wendet sie sich fürsorglich Claire und ihrem Sohn zu. Der Planet entfacht ein erotisches Begehren. Eros als Beziehung zum ganz Anderen beseitigt Depression. Das Desaster bringt ein Heil mit sich. Das Desaster geht im übrigen auf das lateinische Wort »desdesatrum« zurück, das »Unstern« bedeutet. »Melancholia« ist ein Unstern.
Sie meinen, nur ein Desaster kann uns noch retten (in Anlehnung an einen Satz von Martin Heidegger: Nur noch ein Gott kann uns retten []; Anm. HB) ?
Wir leben in einer Gesellschaft, die ganz auf Produktion, ganz auf Positivität gerichtet ist. Sie schafft die Negativität des Anderen oder des Fremden ab, um die Kreisläufe der Produktion und des Konsums zu beschleunigen. Zulässig sind nur konsumierbare Differenzen. Den Anderen, dem die Andersheit genommen worden ist, kann man nicht lieben, sondern nur konsumieren. Vielleicht deshalb wächst heute wieder das Interesse für die Apokalypse. Man spürt eine Hölle des Gleichen, der man entkommen möchte.
Können Sie uns keine griffigere Definition des Anderen anbieten?
Der Andere, das ist auch der Gegenstand, ja der Anstand. Wir haben die Fähigkeit, die Anständigkeit verloren, den Anderen in seiner Andersheit zu sehen, weil wir alles mit unserer Intimität überfluten. Der Andere ist etwas, das mich in Frage stellt, das mich aus meiner narzißtischen Innerlichkeit herausreißt.
Aber formiert sich nicht gerade im Moment, etwa in Gestalt der jungen Protestbewegungen wie Occupy, ein widerständiges Wir, das im System, hier vertreten durch die Börse und den Markt, ein anderes erkennt und dagegen angehen will?
Das geht nicht weit genug. Ein Börsencrash ist noch keine Apokalypse. Er ist ein innersystemisches Problem, das schnell beseitigt werden soll. Und was bringen schon die 300 oder 500 Leute, die sich schnell von Polizisten wegtragen lassen? Das ist noch lange nicht das Wir, das wir brauchen. Die Apokalypse ist ein atopisches Ereignis. Sie kommt von ganz woanders her.
Wo fände sich dann ein Ausweg?
Eine Gesellschaft ohne den Anderen ist eine Gesellschaft ohne Eros. Auch die Literatur, die Kunst und die Dichtung leben vom Begehren des ganz Anderen. Die Krise der Kunst von heute ist vielleicht auch eine Krise der Liebe. Bald, da bin ich mir sicher, werden wir die Gedichte von Paul Celan nicht mehr verstehen, denn sie sind an den ganz Anderen adressiert. Auch mit den neuen Kommunikationsmedien schaffen wir den Anderen ab. In einem Gedicht von Celan heißt es: »Du bist so nah, als weiltest du nicht hier.« Darum geht es! Die Abwesenheit, das ist der Grundzug des Anderen, das ist Negativität. Weil er nicht hier weilt, kann ich sprechen. Nur deshalb ist Poesie möglich. Der Eros richtet sich auf den ganz Anderen.
Dann wäre die Liebe eine utopische, eine uneinlösbare Option.
Das Begehren wird vom Unmöglichen genährt. Wenn es aber, etwa in der Werbung, ständig heißt: »du kannst« und »alles ist möglich«, dann ist das das Ende des erotischen Begehrens. Es gibt keine Liebe mehr, weil wir uns zu frei wähnen, weil wir zwischen zu vielen Optionen wählen. Der Andere ist natürlich dein Feind. Aber der Andere ist auch der Geliebte. Es ist wie mit der mittelalterlichen Minne, von der Jacques Lacan gesagt hat, sie sei ein Schwarzes Loch (), um das herum sich das Begehren verdichtet. Wir kennen dieses Loch nicht mehr.
Haben wir nicht den Glauben an Transzendenz durch den Glauben an Transparenz ersetzt?
Vor allem in der Politik geht es doch kaum noch um etwas anderes. Ja, das Geheimnis ist eine Negativität. Der Entzug zeichnet es aus. Die Transzendenz ist auch eine Negativität, während die Immanenz eine Positivität darstellt. So äußert sich das Übermaß an Positivität als ein Terror der Immanenz. Die Transparenzgesellschaft ist eine Positivgesellschaft.
Worauf führen Sie den Kult der Transparenz zurück?
Zunächst muß man das digitale Paradigma verstehen. Ich halte die digitale Technologie für einen ähnlich dramatischen historischen Einschnitt wie etwa die Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks (). Das Digitale selbst drängt zur Transparenz. Wenn ich eine Taste auf dem Computer drücke, habe ich sofort ein Ergebnis. Die Temporalität der Transparenzgesellschaft ist die Unmittelbarkeit, die Echtzeit. Der Stau, der Informationsstau wird nicht mehr geduldet. Alles muß sich in der Gegenwart der unmittelbaren Sichtbarkeit zeigen.
Die Piratenpartei ist der Ansicht, daß die Politik von dieser Unmittelbarkeit nur profitieren kann.
»Liquid feedback« heißt da wohl das Zauberwort. Es scheint, als bringe die repräsentative Demokratie einen unerträglichen Zeitstau mit sich. Aber diese Ansicht führt zu massiven Problemen: Es gibt nämlich Dinge, die sich nicht der Unmittelbarkeit fügen. Dinge, die erst reifen müssen. Und Politik sollte eben ein Experiment sein, auch ein Experiment mit offenem Ausgang. Solange aber experimentiert wird, kann das Ergebnis noch nicht bekannt sein. Solange eine Vision realisiert werden soll, braucht es den Zeitstau geradezu. Die Politik, die die Piratenpartei anstrebt, ist daher notwendigerweise eine Politik ohne Vision. Und das gilt auch auf der Ebene der Unternehmen. Ständig findet irgendeine Evaluation statt. Jeden Tag muß ein optimales Ergebnis präsentiert werden. Es ist kein langfristiges Projekt mehr möglich. Der digitale Habitus bedeutet auch, daß wir ständig unsere Standpunkte wechseln. Daher wird es keine PolitIker mehr geben. Politiker ist jemand, der auf einem Standpunkt beharrt.
Und all das verstehen Sie als Resultat einer neuen Technologie?
Was heißt denn »digital«? Digital kommt von »digitus«, dem lateinischen Wort für »Finger«. Im Digitalen wird das menschliche Tun auf die Fingerkuppen reduziert. Lange Zeit war ja die menschliche Tätigkeit mit der Hand verbunden. Daher die Begriffe Handlung, Handwerk. Aber wir fingern heute nur noch. Das ist die digitale Leichtigkeit des Seins. Eine Handlung im emphatischen Sinne ist aber immer eine Art Drama. Heideggers Fetischisierung der Hand protestiert bereits gegen das Digitale.
Die Frage, ob man überhaupt noch handeln und experimentieren kann, spiegelt sich auch darin wider, daß es in dieser neuen digitalen Logik keine Führungspersonen gibt, daß es eine Politik ist ohne Anführer.
Das ist bereits in der Piratenpartei der Fall. Führung ist eine andere Tätigkeit. Wenn man führen will, muß man die Zukunft im Blick behalten. Ein Führer sieht in die Zukunft hinein. Und wenn ich ein politisches Experiment mache, dann muß ich auch ein Risiko eingehen können, weil das Ergebnis nicht sofort vorliegt, weil ich mich in einen unberechenbaren Raum begebe. Ein Führer im Sinne von Vorhut begibt sich ins Unberechenbare. Die Transparenz, die hingegen mit dem Digitalen verbunden ist, strebt eine totale Berechenbarkeit an. Alles muß berechenbar sein. Es gibt aber keine Handlung, die berechenbar ist. Sie wäre dann ein Rechnen, ja eine Rechnung. Die Handlung reicht immer in das Unberechenbare, in die Zukunft, hinein. Das heißt, die Transparenzgesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Zukunft. Zukunft ist die temporale Dimension des ganz Anderen. Zukunft ist heute nichts anderes als optimierte Gegenwart.
Hat nicht die Feier der Urunittelbarkeit auch etwas mit Infantilisierung zu tun? Auch Dreijährige können es nicht ertragen, wenn ihnen ihre Eltern nicht sofort geben, was sie wollen.
Natürlich. Das Digitale infantilisiert uns, weil wir nicht mehr warten können. Denken Sie etwa daran, wie die Zeitlichkeit der Liebe verlorengeht. Der Satz »Ich liebe dich« ist ja ein Versprechen in die Zukunft hinein. Menschliche Handlungen, die emphatisch zukünftig sind, wie Verantwortung oder Versprechen, verkümmern heute. Auch Wissen, Erkenntnis oder Erfahrung besitzen einen Zeithorizont der Zukunft. Die Zeitlichkeit der Information oder des Erlebnisses ist dagegen die Gegenwart. Es gibt eine neue Krankheit der Informationsgesellschaft. Sie heißt »Information Fatigue Syndrom« (IFS). Eines ihrer Symptome ist die Lähmung der analytischen Fähigkeit. Mitten in der Informationsflut ist man offenbar nicht mehr in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Ein weiteres Symptom ist interessanterweise die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.
Sie nennen die Transparenzgesellschaft auch »Pornogesellschaft». Warum ?
Die Transparenzgesellschaft ist insofern eine pornographische Gesellschaft, als die Sichtbarkeit totalisiert und verabsolutiert wird und das Geheimnis darüber ganz verschwindet. Der Kapitalismus verschärft die Pornographisierung der Gesellschaft, indem er alles als Ware ausstellt und der Sichtbarkeit ausliefert. Angestrebt wird die Maximierung des Ausstellungswerts. Der Kapitalismus kennt keinen anderen Gebrauch der Sexualität. Die erotische Spannung entspringt nicht der permanenten Ausstellung der Nacktheit, sondern der Inszenierung eines Auf- und Abblendens. Es ist die Negativität der Unterbrechung, die der Nacktheit einen erotischen Glanz verleiht.
Das Pornographische zerstört also das Erotische.
Ja. Denken Sie an diesen wunderbaren Moment in Flauberts »Madame Bovary«: Die Kutschfahrt mit Leon und Emma - eine sinnlose Kutschfahrt durch die ganze Stadt, und der Leser erfährt nichts, aber auch gar nichts vom Geschehen in der Kutsche selbst. Flaubert zählt statt dessen Plätze und Straßen auf. Und am Ende streckt Emma ihre Hand aus dem Fenster und läßt Papierschnipsel wie Schmetterlinge auf ein Kleefeld segeln. Ihre Hand ist das einzig Nackte in dieser Szene - das ist der denkbar erotischste Moment. Weil man nichts sieht. In der Hypervisibilität, die uns umgibt, ist so etwas nicht mehr vorstellbar.
Welche Rolle spielt die Philosophie angesichts der Hölle des Gleichen?
Die Philosophie ist für mich der Versuch, eine ganz andere Lebensform zu entwerfen, andere Lebensentwürfe zumindest in Gedanken zu erproben. Aristoteles hat es uns vorgemacht. Er hat die Vita contemplativa erfunden. Heute ist die Philosophie weit davon entfernt. Sie ist ein Teil der Hölle des Gleichen geworden. Heidegger vergleicht in einem Brief das Denken mit dem Eros. Er spricht vom Flügelschlag des Eros, von dem sein Denken ins Unbegangene getragen wird. Die Philosophie ist vielleicht die Liebkosung, die Formen und Sprachmuster dem sprachlos Anderen in die Haut einzeichnet.
Mittlerweile haben Sie eine Professur, aber Ihr Verhältnis zur akademischen Philosophie war nicht immer spannungsfrei, oder?
Wie Sie wissen, bin ich Philosophieprofessor an einer Kunsthochschule. Ich bin wahrscheinlich zu lebendig für das philosophische Seminar einer Universität. Die akademische Philosophie ist leider total erstarrt und leblos. Sie läßt sich nicht auf die Gegenwart, auf gesellschaftliche Probleme der Gegenwart ein.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für das Denken?
Heute gibt es so viele Dinge und Ereignisse, die einer philosophischen Erörterung bedürften. Depression, Transparenz oder auch Piratenpartei sind für mich ein philosophisches Problem. Vor allem die Digitalisierung und die digitale Vemetzung stellen heute für die Philosophie eine besondere Aufgabe und Herausforderung dar. Wir brauchen eine neue, ja eine digitale Anthropologie, eine digitale Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie. Wir brauchen eine digitale Sozialphilosophie und Kulturphilosophie. Heideggers »Sein und Zeit« hätte man längst digital updaten müssen.
Wie meinen Sie das?
Heidegger hat das Subjekt durch das »Dasein« ersetzt. Wir müssen nun das Subjekt durch das Projekt ersetzen. Wir sind nicht mehr »geworfen«. Wir haben kein »Schicksal«. Wir sind entwerfende Projekte. Die Digitalisierung bringt Heideggers »Ding« endgültig zum Verschwinden. Sie erzeugt ein neues Sein und eine neue Zeit. Wir müssen mehr Theorie wagen. Dafür ist die akademische Philosophie zu ängstlich. Ich wünsche ihr mehr Mut und Wagnis.»Geist« bedeutet ursprünglich Unruhe oder Ergriffenheit. Die akademische Philosophie ist, so gesehen, ohne Geist. (Ebd., S. 61-65).
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