Nachwort zu Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht (),
von Alfred Baeumler Der
»Wille zur Macht« ist das philosophische Hauptwerk Nietzsches. Alle
grundsätzlichen Resultate seines Denkens sind in diesem Buche vereinigt.
Man darf sich durch die Abneigung seines Verfassers gegen die Systematiker nicht
davon abhalten lassen, dieses Werk ein System zu nennen. Nur die künstliche
Systembauerei ist von Nietzsche verspottet worden; im übrigen wußte
er wohl, daß alles wahrhaft philosophische Denken innerlich systematisch
ist, d. h. daß es einen erzeugenden Mittelpunkt hat, der das Einzelne bedingt
und trägt. Nietzsche ist in dem Sinne Systematiker wie es Heraklit ist, oder
Anaximander, dessen systematischen Geist wir aus dem einzigen Satze kennen, der
von ihm erhalten ist. (Ebd., S. 699).Der
Gedankenzusammenhang, der im »Willen zur Macht« vor uns liegt, ist
nicht nur ein System, weil er aus einem lebendigen Mittelpunkt erzeugt und genährt
ist, sondern er ist System auch noch in einem weiteren Sinne des Wortes. Alle
großen Gebiete des Lebens werden hier behandelt. In vier gewaltigen Teilen
baut sich das Ganze auf. ().
Ausgangspunkt ist die geistige Lage der Gegenwart. Der erste Teil soll den europäischen
»Nihilismus« darstellen, den Zustand der Ermüdung und der Sinnlosigkeit,
in dem sich das Leben der europäischen Völker nach Nietzsches Ansicht
befindet ().
Im zweiten Teil wird nach den Ursachen gefragt, die diesen Zustand herbeigeführt
haben. Sie werden in den herrschenden höchsten Werten gefunden: Religion,
Moral und Philosophie. ().
Das dritte Buch zeigt auf, wie es (im Gegensatz zu den geltenden Werten) innerhalb
der Reiche des Geistes und der Natur wirklich zugeht, und entwickelt das Prinzip
einer neuen Wertsetzung. ().
Der vierte Teil enthält die Lehre von der Rangordnung und die Verkündigung
des großen Menschen. ().
(Ebd., S. 699).Die
Verteilung des ausgedehnten Gedankenmaterials auf vier Bücher hat Nietzsche
am 17. März 1887 in einer Disposition vorgenommen (vgl. S. 1),
zu der er sich selbst ein Register angelegt hat. Diese Einteilung ist die Grundlage
für die Einteilung des Stoffes. Wir haben noch viele andere Dispositionsentwürfe
aus dem Sommer und dem Herbst des gleichen Jahres. Es gibt keinen Grund, daraus
eine Ungültigkeit des bevorzugten Entwurfes abzuleiten. Man findet die Systementwürfe
und Pläne in »Die Unschuld des Werdens« (KTA 83, S. 273-313).
Nachdem zunächst eine unvollständige Auswahl des Gedankenmaterials im
Jahre 1901 zum Druck gegeben worden war, haben die Herausgeber des Nietzscheschen
Nachlasses im Jahre 1906 eine Ausgabe des »Willens zur Macht« erscheinen
lassen, die 1067 Aphorismen auf Grund der Disposition Nietzsches vom 17. März
1887 anordnet. Diese Ausgabe, von der das erste und dritte Buch Peter Gast, das
zweite und vierte Buch Frau Elisabeth Förster-Nietzsche zusammengestellt
haben, liegt dem vorliegenden Abdruck zugrunde. (Ebd., S. 700).Den
exakten Nachweis der handschriftlichen Grundlagen für die Auswahl hat Otto
Weiß im »Nachbericht« der Großoktavausgabe erbracht (Bd.
XVI, S. 471 ff.). Sie ist von allen späteren Herausgebern übernommen
worden. Schlechta ()
hat unter dem Titel »Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre« ()
lediglich die von Gast geschaffene Reihenfolge aufgelöst und die gliedernden
Überschriften gestrichen. ().
(Ebd., S. 700).Der
»Wille zur Macht«, den Gast uns hinterlassen hat, ist ein historisches
Dokument, das auch dann seine Bedeutung behalten wird, wenn einmal alle Handschriften
entziffert und publiziert sein werden. Wer in der Umgebung Nietzsches so lange
und so teilnehmend gelebt hat, wie Peter Gast, vermittelt uns etwas, das für
Verständnis und Rekonstruktion des »Willens zur Macht« unentbehrlich
bleiben wird. (Ebd., S. 702).Der
Begriff des Willens zur Macht taucht zuerst im zweiten Teil des »Zarathustra«
()
auf. In dem Abschnitt »Von der Selbstüberwindung« wird er hier
»der unerschöpfte, zeugende Lebens-Wille« genannt. »Wo
ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht.« ().
Das metaphysische Hauptwerk sollte zuerst nach der Ewigen Wiederkunft benannt
werden. Allmählich erst rang sich in Nietzsche der Gedanke durch, den Willen
zur Macht in den Mittelpunkt zu rücken. Der Nihilismus wird die »Gefahr
der Gefahren« genannt. (Ebd., S. 702 ).Durch
die Kritik der Werte soll überall die Disharmonie aufgezeigt werden zwischen
dem Ideal und seinen einzelnen Bedingungen. Als Problem des Gesetzgebers wird
formuliert: die entfesselten Kräfte neu zu binden, daß sie sich nicht
gegenseitig vernichten. Der »Hammer« ()
wird hier noch anders aufgefaßt als später. »Wie müssen
Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen, Menschen, die alle
Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit
umzuwandeln; ihre Mittel zu ihrer Aufgabe« (
[oder auch in: KTA Bd. 83 II S. 301]). (Ebd., S. 702).Die
Feststellung aber, daß Nietzsche in die Irre ging, als er seine Anklage
gegen das historische Christentum erhob, nimmt der Diagnose seines Zeitalters
nichts von ihrer Bedeutung. In der Vermutung historischer »Ursachen«
ist er nicht glücklicher gewesen als alle andern, die nach gesitigen Kausalitäten
forschten. Wenn wir ihn noch lesen, dann geschieht es, weil er der größte
Phänomenologe des aufsteigenden und des absteigenden Lebens, der erste Diagnostiker
der Kultur war, den Europa hervorgebracht hat. (Ebd., S. 705-706).Eine
Interpretation der Aphorismen, die für Nietzsches Hauptwerk bestimmt waren,
ist bisher noch nicht versucht worden. Gewiß ist, daß die gedankliche
Linie die von Spengler ()
aus gezogen worden ist, nicht als Hauptlinie des »Willens zur Macht«
angesehen werden kann. Diese Linie setzt mit dem Begriff des Typus ein und endet
mit Ausblicken auf einen neuen Cäsarismus. Man wird den letzten Intentionen
der Philosophie Nietzsches nicht gerecht, wenn man Begriffe wie Cäsarismus
und Demokratie gleichsam als Bestandteile einer politischen Terminologie auffaßt,
statt als Hinweise auf eine geschichtsphilosophische Konzepion. Eine Diagnose
der historischen Situation, in welcher Europa sich befindet, ist die Aufgabe,
die Nietzsche sich gestellt hat. Was er sieht, ist die unaufhaltsam fortschreitende
»Verkleinerung« des Menschen, eine Verhäßlichung der Welt.
Er treibt nicht Ursachenforschung, sondern er beschreibt und wertet. (Ebd.,
S. 706).Dem
kulturkritischen ersten Teil folgt der wertkritische zweite. Die Religion macht
den Anfang. Was hier in Aph. 135-252 (S. 99-181)
dargelegt wird, ist in der »Genealogie der Moral« ()
und im »Antichrist« ()
teilweise weiter ausgeführt; zum Teil gibt Nietzsche hier auch neue geschichtliche
Durchblicke. Die Kritik der Moral beruht auf dem Gedanken, dass die moralischen
Werte selbst, um zur wirklichen Herrschaft in der menschlichen Gemeinschaft zu
gelangen, lauter unmoralische Kräfte und Affekte zu Hilfe rufen müssen
(Aph. 266).
Der moralische Standpunkt wird also durch den geschichtlichen überwunden:
die geschichtliche Betrachtung rechnet nicht mit der »Tugend« Seine
eigneen Aufgabe formuliert Nietzsche: die naturlos gewordenen Moralwerte in ihre
natürlich Inmoralität zurückzuübersetzen (Aph. 299).
Instinkte und Affekte drücken bei jeder Rasse und bei jedem Stande etwas
von ihren Existenzbedingungen aus; verlangen, daß diese Affekte der »Tugend«
weichen sollen, heißt fordern, daß jene Rassen oder Stände zugrunde
gehen sollen. (Aph. 315).
Es gibt keinen moralischen Gegensatz von Egoismus und Altruismus. »Der Egoismus
ist soviel wert, als der physiologisch wert ist, der ihn hat« (Aph. 373).
Nicht der moralische Begriff der Tugend, sondern der historische Begriff der Größe
steht im Mittelpunkt der Nietzscheschen Ethik. (Ebd., S. 706-707).Auf
den Einzelnen kommt es Nietzsche an, auf den »großen Menschen«
was für ihn einen Begriff der Qualität, nicht der Quantität,
das heißt der Wirkung bedeutet. Es wäre ein elementarer Widerspruch,
dessen Nietzsche sich nicht schuldig gemacht hat, den absoluten Wert der »Herde«
zu verneinen und die Macht des Herdenführers zu bejahen. Man darf sich durch
den Gebrauch des Wortes »Macht« bei Nietzsche nicht irreführen
lassen. »Die höhere Natur des großen Mannes liegt im Anderssein,
in der Unmittelbarkeit, in der Rangdistanz nicht in irgendwelchen
Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte« (Aph. 876).
(Ebd., S. 707).»Prinzip
einer neuen Wertsetzung« ()
ist das dritte Buch überschrieben, das den einzigen, von Nietzsche
selbst stammenden Abriß seines Philosophischen Systems enthält. In
vier Abschnitten baut sich dieses entscheidende Buch auf: Der Wille zur Macht
als Erkenntnis (),
Der Wille zur Macht in der Natur (),
Der Wille zur Macht als Gesellschaft und Individuum (),
Der Wille zur Macht als Kunst ().
In den zusammengehörenden ersten beiden Abschnitten haben wir die dynamische
Philosophie der Natur vor uns, die neben der Kulturkritik Nietzsches Nietzsches
hervorragendste philosophische Leistung darstellt. Der Begriff der Kraft wird
hier in einer Weise angewendet, die seit Leibnitz und Goethe der deutschen Philosophie
abhanden gekommen war. Mit seiner Kritik des Mechanismus und des »Kausalismus«
nimmt Nietzsche wesentliche Tendenzen der heutigen Naturforschung vorweg. Er sieht
auch da noch Bewegungen und Kräfte, wo der Mechanist nur Gleichgewichtszustände
feststellen zu können glaubt, er sieht Schöpfung, wo andere Wiederholung
zu sehen meinen. Nichts »ist«, nichts wiederholt sich im Fluß
des Geschehens, jeder Vorgang, und wäre es die einfachste chemische Veränderung,
ist einmalig... Mit Nachdruck wird der erkennende Geist aufgefordert, sich auf
das zu besinnen, was eigentlich unter einem »Gesetz« des Geschehens
zu verstehen sei. (Ebd., S. 707-708).Die
dynamische Naturphilosophie bewährt sich vor allem in der Deutung des organischen
Lebens. Der Organismus wird von innen heraus als bewegte Ordnung, als Herrschaftsgebilde
begriffen. Gegen die Einseitigkeit des Darwinismus wird der Begriff der Produktivität
ausgespielt (Aph. 647 [],
684 []).
Keinem Idealisten ist es gelungen, den Menschen so lebendig als Einheit zu erfassen
wie Nietzsd1e auf seinem physiologischen Wege »am Leitfaden des Leibes«
(Aph. 659).
Wie Goethe geht er überall von der Gestalt auf die gestaltenden Kräfte
zurüdt. Sein Dynamismus steht im Dienste seiner umfassenden morphologischen
Konzeption. (Ebd., S. 708).
Um Machtpositionen wird »gekämpft«. Nicht diese Art von
Kampf ist es, die Nietzsche im Auge hat, wenn er von einem Kampf um die Macht
in der Natur redet. Was er unter Machtpositionen versteht, sind vielmehr Rangpositionen.
Alle Bewegungen in Natur und Geschichte sind Bewegungen zur Feststellung einer
im Werden sich offenbarenden Rangordnung. Es gibt auch in der Natur eine Rangordnung
von Prozessen das ist der Sinn eines Satzes wie: »Die angeblichen
»Naturgesetze« sind die Formeln für Machtverhältnisse«
(KTA, Bd. 83, S. 102). (Ebd., S. 708).
Es war vorauszusehen, daß der Philosoph in unüberwindliche Schwierigkeiten
geraten mußte, wenn er den dynamischen Grundgedanken in der Sphäre
des Menschlichen zur Durchführung bringen wollte. (Ebd., S. 708-709).
Der dritte Abschnitt des dritten Buches ()
bringt Nietzsches Soziologie. Mit nüchternem Auge verfolgt der Philosoph
das Spiel zwischen den Individuen und der Gesellschaft. Scharf wird der Satz an
die Spitze gestellt: »Nur einzelne fühlen sich verantwortlich.«
Alle Mystik der Institutionen verfliegt vor dem unbarmherzigen Willen zur Entschleierung
sozial nützlicher Fiktionen. Im vierten Abschnitt ()
wird ein Beispiel dafür gegeben, wie man Asthetik nicht von den Werken, sondern
von den Schaffenden her treiben soll. Kunst ist Daseinsvollendung, Bejahung, Vergöttlichung
des Lebens. Wo der Formwille erlahmt, findet der Philosoph Zeichen einer verarmenden
Seele. (So in der Romantik.) Vom klassischen Stil sagt er: »Das höchste
Gefühl der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren:
ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf« (Aph. 799
).
(Ebd., S. 709).
Im vierten Buch, das die überschrift trägt »Zucht
und Züchtung« (),
wird das bruchstüdthafte des Ganzen noch mehr spürbar als in den vorhergehenden
Teilen. Mit dem Gefühl: Ich bin dazu gedrängt, im Zeitalter des allgemeinen
Stimmrechts die Rangordnung wiederherzustellen (Aph. 854),
tritt Nietzsche an seine Aufgabe heran. Seine Kritik gewinnt eine geradezu mathematische
Präzision in dem Absatz, wo der Gegner als der »ökonomische Optimismus«
bezeichnet wird: mit den wachsenden Unkosten Aller (das bedeutet: mit dem zunehmenden
Komfort) wächst nicht auch der Nutzen Aller, sondern im Gegenteil: die Unkosten
Aller summieren sich zu einem Gesamtverlust: der Mensch wird geringer (Aph. 866).
(Ebd., S. 709).
Als Nietzsche sein philosophisches Hauptwerk ankündigte, schrieb er
einmal, daß schon der Titel zum Fürchtenmachen sei. Diese Bemerkung
war schicksalhafter als er ahnte. (Ebd., S. 709).
Durch einen herausfordernden Titel wollte Nietzsche die geheimnisvolle Tendenz
in allem Werden bezeichnen, die von Gestalt zu Gestalt sich erhebend in der Natur
und in der Geschichte ihre Mächitigkeit erweist. Die Inhalte der Begriffe
Wert und Form sind in den Begriff »Wille zur Macht« eingesffimolzen,
denn Macht und Wert sind Wechselbegriffe: »Wert ist das höchste Quantum
Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag.« (Aph. 713)
Leben ist der Zentralbegriff dieser Philosophie. Dem moralischen Begriff der Selbstüberwindung
zum Trotz definiert Nietzsche das Leben als das, was sich immer selber »überwinden«
muß. Selbstüberwindung des Lebens durch sich elber ist ein anderes
Wort für Metamorphose. Wille zur Macht ist Metamorphose, von innen erlebt,
als Bewegung vorgestellt. (Ebd., S. 709-710).
Was bei Nietzsche Macht heißt, trägt in Goethes Lehre von der
Metamorphose den Namen Steigerung. Der »großen Spur« zu folgen,
auf der das Leben geht (Aph. 820)
das ist es, was Nietzsche von Goethe gelernt hat. Aus einfamen Gestalten erbaut
die Natur verwerfend und umbildend immer rechere Gewächse. In diesem Aufsteigen,
in dieser Anamorphose erscheint der »Wille zur Macht«. (Ebd.,
S. 710).
Nur eine kleine Änderung wird von Nietzsche an der Konzeption der Goetheschen
Morphologie angebracht. Sie betrifft die Hervorhebung der Negation in den morphologischen
Vorgängen. Im Gegensatz zu Goethe hat Nietzsche den Blick. für das,
was zum Übergang von einer Form zur andern gehört: für das Zerbrechen,
Fallenlassen, den notwendigen Untergang des schon Erreichten. Vor den Untergängen
hat Goethe die Augen bewußt geschlossen. Mit der Übertragung der Metamorphose
auf die Welt des Menschen entsteht etwas neues: eine Anthropologie und ein Bild
der Geschichte, in welchem der Negation, der Verwandlung und dem Untergang eine
entscheidende Stelle zukommt. (Ebd., S. 710).
Je höher das Leben steigt, desto stärker und desto reiner tritt
das hervor, was Nietzsche den Willen zur Macht nennt. Dieser Wille scheut den
Untergang nicht es gibt Situationen, in welchen er den Untergang will.
»Wo es Untergang gibt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben
um Macht.« (Von der Selbstüberwindung).
(Ebd., S. 710-711).
Goethe hat in Polarität und Steigerung »die zwei großen
Triebräder aller Natur« gefunden, wobei er die Polarität der Materie,
die Steigerung dem Geiste zuordnete. (An den Kanzler von Müller, 24. Mai
1828.) Der Geist ist es, der von Gestalt zu Gestalt fortgehend sich der Form des
Menschen zubewegt. Durch Nietzsche wird die Metamorphose gleichsam aus der Dimension
des Raumes in die Dimension der Bewegung versetzt. Er holt das dynamische Moment
aus der »Steigerung« hervor und potenziert es zur hödtsten Intensität,
versetzt es in ein Fluidum vibrierender Erregung und schmilzt so die Metamorphose
zu einer Metaphysik des ewig gestaltenden Werdens um. Damit wird er der Schöpfer
der letzten europäischen Metaphysik, der er den Namen gibt: der Wille zur
Macht. (Ebd., S. 711). Der
Nachlaß und seine Kritiker
Nietzsches Nachlaß ist
zum Verständnis seiner Philosophie unentbehrlich. (Ebd., S. 712).
Im Jahre 1931 machte ich den Versuch, aus Nietzsches Nachlaß herauszuholen,
was mir biographisch oder philosophisch von Bedeutung zu sein schien. Es entstand
eine disponierte Auswahl, der ich den Nietzsche-Titel gab. Die Unschuld des
Werdens ()
(KTA 82 und 83). .... In diesen Niederschriften werden noch einmal die philosophischen
Probleme behandelt, die den Willen zur Macht noch immer für unss unerschöpflich
machen: der interpretierende Charakter des Geschehens, die Perspektive des Menschen,
der Irrtum usw.. Das neue ontologische Denekn Nietzsches gelangt in kostbaren
Notizen zum Ausdruck. Zum Beispiel: »Wir gehören zum Charakter der
Welt, das ist kein Zweifel! Wir haben keinen ZUgang zu ihr durch uns: es muß
alles Hohe und Niedrige an uns als notwendig ihrem Wesen zugehörig verstanden
werden!« (KTA 83, S. 108). (Ebd., S. 711).
Wie tief Schlechtas Verleugnung des Philosophen Nietzsche in die Philologie
hineinreicht, wird durch seine Behandlung des wichtigen Aphorismus in Jenseits
von Gut und Böse ()
bewiesen, in welchem Nietzsche zum erstenmal öffentlich den Willen zur Macht
als die Formel seiner Philosophie bezeichnet (Aph. 36).
Es handelt sich um ein Meisterstück der Diplomatie. Der Philosoph will mit
dem Hauptgedanken herausrücken - aber wie kann er das in einem bloßen
»Vorspiel« ()
und in der Maske eines »freien Geistes«? Wie weit ist die »Philosophie
der Zukunft« ()
von dieser Maske entfernt? Die Lösung ist echtester Nietzsche: die Philosophie
des Willens zur Macht wird lediglich als eine Möglichkeit hingestellt. So
beginnt denn der verschlagene Stilist mit Sätzen wie: »Gesetzt, daß«
(),
fährt fort mit »ist es nicht erlaubt« (),
»man muß die Hypothese wagen« ()
usw.. Der Schluß steht dementsprechend im Konjunktiv: »Die Welt von
innen gesehen ... sie wäre eben »Wille zur Macht« und
nichts außerdem« ().
(Ebd., S. 713-714).Das
Hauptthema im Conditionalis pianissimo vorgetragen wie vertraut ist das
jedem Leser Nietzsches! Was wird bei Schlechta aus dieser anmutigen Einführung
des Themas: »Das klingt für einen Gedanken, der tragen soll, nicht
sehr zuversichtlich.« (Der Fall Nietzsche, S. 121).
Es ist mehr als ein bloßes Ausgleiten, wenn man ein Stilmittel als eine
sachliche Distanzierung im Hauptpunkt auslegt. »Erfreulicherweise«,
so meint Schlechta, wird bei dieser Einführung weniger behauptet als erklärt,
wie vorsichtig sei hier »unser Autor«. Wir finden, daß unser
Autor hier etwas mißhandelt wird. Der von Schlechta beiseite geschobene
Peter Gast hat einen der schönsten Aphorismen Nietzsches an den Schluß
des »Willens zur Macht« gestellt. Und siehe da, hier findet sich der
Indikativ, der von Schlechta im »Jenseits« ()
nicht ohne Befriedigung vermißt wurde. »Diese Welt ist der Wille zur
Macht -und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht
-und nichts außerdem!« ().
(Ebd., S. 714-715).
Die dionysische Welt des Willens zur Macht tritt uns Zug für
Zug als das negative Spiegelbild des teleologischen Harmonismus entgegen. Was
Nietzsche mit seinen Verneinungen bekämpft, ist die Ontologie der Zwecke
des weisen und gütigen Gottes, die er weder in der Natur noch in der Geschichte
finden kann. Zum Philosophen wird er dadurch, daß er diese Ontologie bis
in ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen hinein verfolgt. Die naive Voraussetzung
eines »an sich« der Dinge und Prozesse wird von ihm unerbittlich zerstört.
Es ist nicht gleichgültig, daß Schlechta sich den Begriff des »Großen
Mittag« zu einer Analyse gewählt hat, der kein Bestandteil des philosophischen
Begriffsystems ist, sondern nur ein berauschendes Bild. Solche Mißgriffe
gehen letztlich auf eine falsche Auslegung des Begriffs der Irrtümlichkeit
im System des Willens zur Macht zurück. Wenn Nietzsche sagt: es gibt nichts
als perspektivische Schätzungen und Scheinbarkeiten, so wird das von Schlechta
so verstanden: alles ist schwankend, alles ist Thesis, es gibt keine objektive
sinnvolle Korrespondenz zwischen uns und den Dingen und Verhältnissen (Nietzsches
Werke in drei Bänden, III, 1445).
Alle Aussagen Nietzsches jedoch über Irrtum und Scheinbarkeit richten sich
mit ihrer Spitze gegen das prätendierte »an sich« der überlieferten
Erkenntnistheorie. Wenn man diese Invektiven gegen die »Wahrheit«
richtig interpretiert, dann liest man sie als Hinweise auf den Menschen, dessen
»Perspektiven« aus dem Prozeß der Erkenntnis nicht ausgeschaltet
werden dürfen. Nur wenn man alles Wahrnehmen und Erkennen auf ein der Welt
entnommenes »Subjekt« bezieht, ist alles wirkliche Erkennen des Menschen
irrtümlich und scheinbar. Wer in der Rückführung des Erkennens
auf den Menschen eine Minderung des Begriffs der Wahrheit, einen Übergang
zum Relativismus oder gar einen Schleichweg zum Nihilismus erblicken möchte,
vergreift sich an dem Willen zur Macht des Nietzscheschen Denkens, das nie etwas
anderes angestrebt hat als die Wiederherstellung des Menschen. Indem Nietzsche
den sinnlichen Menschen der Welt gegenüber bestehen läßt und als
Ganzes in den Erkenntnisprozeß einbezieht, gelangt er zu neuen Vorstellungen
von Wahrheit und Irrtum. Daß in seiner Erkenntniskritik die negativen Ausdrücke
überwiegen, kann den Philosophen nicht wunder nehmen. In diesen Negationen
kündigt sich der moderne Begriff des Menschen an, der von den idealistischen
Irrtümern der Vergangenheit abgehoben wird. (Ebd., S. 715).
Alfred Baeumler
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