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Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900)

Friedrich Wilhelm Nietzsche, 1882
1882

NACH OBEN Morgenröte (Gedanken über die Moral als Vorurteil), 1881 Nietzsche

 Vorrede
 1. Buch
 2. Buch
 3. Buch
 4. Buch
 5. Buch

 

Morgenröte Vorrede

„»Es gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben.« (Rigveda).“ (Ebd., 1881, Leitspruch).

„In diesem Buche findet man einen »Unterirdischen« an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, daß man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat –, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne daß die Not sich allzusehr verriete, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint es nicht, daß irgendein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt? Daß er vielleicht seine eigne lange Finsternis haben will, sein Unverständliches, Verborgenes, Rätselhaftes, weil er weiß, was er auch haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Morgenröte? Gewiß, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will, er wird es euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische, wenn er erst wieder »Mensch geworden« ist. Man verlernt gründlich das Schweigen, wenn man so lange, wie er, Maulwurf war, allein war.“ (Ebd., 1881, Vorrede, S. 5).

„Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefährliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben, wie angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird – gehorcht! So lang die Welt steht, war noch keine Autorität willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisieren, die Moral als Problem, als problematisch nehmen: wie? war das nicht – ist das nicht – unmoralisch?“ (Ebd., 1881, Vorrede, S. 6-7).

„Aber die Moral gebietet nicht nur über jede Art von Schreckmitteln, um sich kritische Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten: ihre Sicherheit liegt noch mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht, – sie weiß zu »begeistern«. Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulocken, ja es gibt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiß: so daß er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht.“ (Ebd., 1881, Vorrede, S. 7).

„Die Moral versteht sich eben von alters her auf jede Teufelei von Überredungskunst: es gibt keinen Redner, auch heute noch, der sie nicht um ihre Hilfe anginge (man höre zum Beispiel selbst unsere Anarchisten reden: wie moralisch reden sie, um zu überreden! Zuletzt heißen sie sich selbst noch gar »die Guten und Gerechten«.) Die Moral hat sich eben von jeher, so lange auf Erden geredet und überredet worden ist, als die größte Meisterin der Verführung bewiesen – und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche Circe der Philosophen.“ (Ebd., 1881, Vorrede, S. 7).

„Woran liegt es doch, daß von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben? Daß alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und ernsthaft für aere perennius hielten? Oh wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt noch auf diese Frage bereithält, »weil von ihnen allen die Voraussetzung versäumt war, die Prüfung des Fundamentes, eine Kritik der gesamten Vernunft« – jene verhängnisvolle Antwort Kants, der damit uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger trüglichen Boden gelockt hat! (– und nachträglich gefragt, war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, daß ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisieren solle? daß der Intellekt selbst seinen Wert, seine Kraft, seine Grenzen »erkennen« solle? war es nicht sogar ein wenig widersinnig? –) Die richtige Antwort wäre vielmehr gewesen, daß alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben, auch Kant –, daß ihre Absicht scheinbar auf Gewißheit, auf »Wahrheit«, eigentlich aber auf »majestätische sittliche Gebäude« ausging: um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kants zu bedienen, der es als seine eigne »nicht so glänzende, aber doch auch nicht verdienstlose« Aufgabe und Arbeit bezeichnet, »den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen« (Kritik der reinen Vernunft, II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht gelungen, im Gegenteil! – wie man heute sagen muß. Kant war mit einer solchen schwärmerischen Absicht eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andre das Jahrhundert der Schwärmerei genannt werden darf: wie er es, glücklicherweise, auch in bezug auf dessen wertvollere Seiten geblieben ist (zum Beispiel mit jenem guten Stück Sensualismus, den er in seine Erkenntnistheorie hinübernahm). Auch ihn hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseaus fühlte und bekannte, nämlich Robespierre (vgl. Rede vom 7. Juni 1794). Andrerseits konnte man es ... nicht tiefer, gründlicher, deutscher treiben ..., als es Kant getrieben hat: um Raum für sein »moralisches Reich« zu schaffen, sah er sich genötigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches »Jenseits«, – dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nötig! Anders ausgedrückt: er hätte sie nicht nötig gehabt, wenn ihm nicht eins wichtiger als alles gewesen wäre, das »moralische Reich« unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen, – er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von seiten der Vernunft zu stark! Denn angesichts von Natur und Geschichte, angesichts der gründlichen Unmoralität von Natur und Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von alters her, Pessimist; er glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern trotzdem daß ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird. Man darf sich vielleicht, um dies »trotzdem daß« zu verstehen, an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern großen Pessimisten, der es einmal mit der ganzen lutherischen Verwegenheit seinen Freunden zu Gemüte führte: »wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glauben?« Nichts nämlich hat von jeher einen tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, nichts hat sie mehr »versucht«, als diese gefährlichste aller Schlußfolgerungen, welche jedem rechten Romanen eine Sünde wider den Geist ist: credo quia absurdum est: – mit ihr tritt die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogmas auf: aber auch heute noch, ein Jahrtausend später, wittern wir Deutschen von heute, späte Deutsche in jedem Betrachte – etwas von Wahrheit, von Möglichkeit der Wahrheit hinter dem berühmten realdialektischen Grund-Satze, mit welchem Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf – »Der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend« –: wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten.“ (Ebd., 1881, Vorrede, S. 7-8).

„Aber nicht die logischen Werturteile sind die untersten und gründlichsten, zu denen die Tapferkeit unsres Argwohns hinunterkann: das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gültigkeit dieser Urteile steht und fällt, ist, als Vertrauen, ein moralisches Phänomen .... Vielleicht hat der deutsche Pessimismus seinen letzten Schritt noch zu tun? Vielleicht muß er noch einmal auf eine furchtbare Weise sein credo und sein absurdum nebeneinanderstellen? Und wenn dies Buch bis in die Moral hinein, bis über das Vertrauen zur Moral hinweg pessimistisch ist, – sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein? Denn es stellt in der Tat einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt – warum doch? Aus Moralität! Oder wie sollen wirs heißen, was sich in ihm – in uns – begibt? denn wir würden unsrem Geschmacke nach bescheidenere Worte vorziehn. Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein »du sollst«, auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze über uns, – und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu leben wissen, hier, wenn irgendworin, sind auch wir noch Menschen des Gewissens: daß wir nämlich nicht wieder zurückwollen in das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas »Unglaubwürdiges«, heiße es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe; daß wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; daß wir von Grund aus allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte; feind jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb-und Halben aller Romantik und Vaterländerei; feind auch der Artisten-Genüßlichkeit, Artisten-Gewissenlosigkeit, welche uns überreden möchte, da anzubeten, wo wir nicht mehr glauben – denn wir sind Artisten –; feind, kurzum, dem ganzen europäischen Feminismus (oder Idealismus, wenn man's lieber hört), der ewig »hinanzieht« und ewig gerade damit »herunter bringt«: – allein als Menschen dieses Gewissens fühlen wir uns noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden, wenn auch als deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstande, als deren Erben, als Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt, der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit Lust verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt daß ihr eine Formel wollt, – die Selbstaufhebung der Moral. “ (Ebd., 1881, Vorrede, S. 9-10).

 

Morgenröte 1. Buch

Nachträgliche Vernünftigkeit. – Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich so mit Vernunft durchtränkt, daß ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft? Widerspricht der gute Historiker im Grunde nicht fortwährend?“ (Ebd., 1881, S. 12).

Vorurteil der Gelehrten. – Es ist ein richtiges Urteil der Gelehrten, daß die Menschen aller Zeiten zu wissen glaubten, was gut und böse, lobens- und tadelnswert sei. Aber es ist ein Vorurteil der Gelehrten, daß wir es jetzt besser wüßten als irgendeine Zeit.“ (Ebd., 1881, S. 12).

Alles hat seine Zeit. – Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: – den ungeheuren Umfang dieses Irrtums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht noch nicht ganz eingestanden. – Ebenso hat der Mensch allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebensoviel und nicht mehr Wert haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit der Sonne hat.“ (Ebd., 1881, S. 12).

Gegen die erträumte Disharmonie der Sphären. – Wir müssen die viele falsche Großartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle Dinge vor uns Anspruch haben! Und dazu tut not, die Welt nicht disharmonischer sehen zu wollen, als sie ist!“ (Ebd., 1881, S. 13).

Umlernen des Raumgefühls. – Haben die wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück beigetragen? Gewiß ist, daß die Weite des Raumes zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück erst mit Hilfe der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist. Diese Art von Raumgefühl wird folglich, unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert: so wie wir von ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem als Punkt zu empfinden.“ (Ebd., 1881, S. 13-14).

Begriff der Sittlichkeit der Sitte. – Im Verhältnis zu der Lebensweise ganzer Jahrtausende der Menschheit leben wir jetzigen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit: die Macht der Sitte ist erstaunlich abgeschwächt und das Gefühl der Sittlichkeit so verfeinert und so in die Höhe getragen, daß es ebensogut als verflüchtigt bezeichnet werden kann. Deshalb werden uns, den Spätgeborenen, die Grundeinsichten in die Entstehung der Moral schwer, sie bleiben uns, wenn wir sie trotzdem gefunden haben, an der Zunge kleben und wollen nicht heraus: weil sie grob klingen! Oder weil sie die Sittlichkeit zu verleumden scheinen! So zum Beispiel gleich der Hauptsatz: Sittlichkeit ist nichts anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen. In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, gibt es keine Sittlichkeit; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet »böse« so viel wie »individuell«, »frei«, »willkürlich«, »ungewohnt«, »unvorhergesehen«, »unberechenbar«. Immer nach dem Maßstab solcher Zustände gemessen: wird eine Handlung getan nicht weil das Herkommen sie befiehlt, sondern aus anderen Motiven (zum Beispiel des individuellen Nutzens wegen), ja selbst aus eben den Motiven, welche das Herkommen ehemals begründet haben, so heißt sie unsittlich und wird so selbst von ihrem Täter empfunden: denn sie ist nicht aus Gehorsam gegen das Herkommen getan worden. Was ist das Herkommen? Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt. – Wodurch unterscheidet sich dies Gefühl vor dem Herkommen von dem Gefühl der Furcht überhaupt? Es ist die Furcht vor einem höheren Intellekt, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen, unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem, – es ist Aberglaube in dieser Furcht. – Ursprünglich gehörte die ganze Erziehung und Pflege der Gesundheit, die Ehe, die Heilkunst, der Feldbau, der Krieg, das Reden und Schweigen, der Verkehr untereinander und mit den Göttern in den Bereich der Sittlichkeit: sie verlangte, daß man Vorschriften beobachtete, ohne an sich als Individuum zu denken. Ursprünglich also war alles Sitte, und wer sich über sie erheben wollte, mußte Gesetzgeber und Medizinmann und eine Art Halbgott werden: das heißt, er mußte Sitten machen, – ein furchtbares, lebensgefährliches Ding! – Wer ist der Sittlichste? Einmal der, welcher das Gesetz am häufigsten erfüllt: also, gleich dem Brahmanen, das Bewußtsein desselben überallhin und in jeden kleinen Zeitteil trägt, so daß er fortwährend erfinderisch ist in Gelegenheiten, das Gesetz zu erfüllen. Sodann der, der es auch in den schwersten Fällen erfüllt. Der Sittlichste ist der, welcher am meisten der Sitte opfert: welches aber sind die größten Opfer? Nach der Beantwortung dieser Frage entfalten sich mehrere unterschiedliche Moralen; aber der wichtigste Unterschied bleibt doch jener, welcher die Moralität der häufigsten Erfüllung von der der schwersten Erfüllung trennt. Man täusche sich über das Motiv jener Moral nicht, welche die schwerste Erfüllung der Sitte als Zeichen der Sittlichkeit fordert! Die Selbstüberwindung wird nicht ihrer nützlichen Folgen halber, die sie für das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vorteil: der einzelne soll sich opfern, – so heischt es die Sittlichkeit der Sitte. – Jene Moralisten dagegen, welche wie die Nachfolger der sokratischen Fußtapfen die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit dem Individuum als seinen eigensten Vorteil, als seinen persönlichsten Schlüssel zum Glück ans Herz legen, machen die Ausnahme – und wenn es uns anders erscheint, so ist es, weil wir unter ihrer Nachwirkung erzogen sind: sie alle gehen eine neue Straße unter höchlichster Mißbilligung aller Vertreter der Sittlichkeit der Sitte, – sie lösen sich aus der Gemeinde aus, als Unsittliche, und sind, im tiefsten Verstande, böse. Ebenso erschien einem tugendhaften Römer alten Schrotes jeder Christ, welcher »am ersten nach seiner eigenen Seligkeit trachtete«, – als böse. – Überall, wo es eine Gemeinde und folglich eine Sittlichkeit der Sitte gibt, herrscht auch der Gedanke, daß die Strafe für die Verletzung der Sitte vor allem auf die Gemeinde fällt: jene übernatürliche Strafe, deren Äußerung und Grenze so schwer zu begreifen ist und mit so abergläubischer Angst ergründet wird. Die Gemeinde kann den einzelnen anhalten, daß er den nächsten Schaden, den seine Tat im Gefolge hatte, am einzelnen oder an der Gemeinde wieder gut mache, sie kann auch eine Art Rache am einzelnen dafür nehmen, daß durch ihn, als angebliche Nachwirkung seiner Tat, sich die göttlichen Wolken und Zorneswetter über der Gemeinde gesammelt haben, – aber sie empfindet die Schuld des einzelnen doch vor allem als ihre Schuld und trägt dessen Strafe als ihre Strafe –: »die Sitten sind locker geworden, so klagt es in der Seele eines jeden, wenn solche Taten möglich sind.« Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die seltneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, daß sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja daß sie sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müßte.“ (Ebd., 1881, S. 14-17).

Gegenbewegung zwischen Sinn der Sittlichkeit und Sinn der Kausalität. – In dem Maße, in welchem der Sinn der Kausalität zunimmt, nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab: denn jedesmal, wenn man die notwendigen Wirkungen begriffen hat und gesondert von allen Zufällen, allem gelegentlichen Nachher (post hoc) zu denken versteht, hat man eine Unzahl phantastischer Kausalitäten, an welche als Grundlagen von Sitten bisher geglaubt wurde, zerstört – die wirkliche Welt ist viel kleiner als die phantastische – und jedesmal ist ein Stück Ängstlichkeit und Zwang aus der Welt verschwunden, jedesmal auch ein Stück Achtung vor der Autorität der Sitte: die Sittlichkeit im großen hat eingebüßt. Wer sie dagegen vermehren will, muß zu verhüten wissen, daß die Erfolge kontrollierbar werden.“ (Ebd., 1881, S. 17).

Volksmoral und Volksmedizin. – An der Moral, welche in einer Gemeinde herrscht, wird fortwährend und von jedermann gearbeitet: die meisten bringen Beispiele über Beispiele für das behauptete Verhältnis von Ursache und Folge, Schuld und Strafe hinzu, bestätigen es als wohlbegründet und mehren seinen Glauben: einige machen neue Beobachtungen über Handlungen und Folgen und ziehen Schlüsse und Gesetze daraus: die wenigsten nehmen hie und da Anstoß und lassen den Glauben an diesen Punkten schwach werden. – Alle aber sind einander gleich in der gänzlich rohen, unwissenschaftlichen Art ihrer Tätigkeit; ob es sich um Beispiele, Beobachtungen oder Anstöße handelt, ob um den Beweis, die Bekräftigung, den Ausdruck, die Widerlegung eines Gesetzes, – es ist wertloses Material und wertlose Form, wie Material und Form aller Volksmedizin. Volksmedizin und Volksmoral gehören zusammen und sollten nicht mehr so verschieden abgeschätzt werden, wie es immer noch geschieht: beides sind die gefährlichsten Scheinwissenschaften.“ (Ebd., 1881, S. 18).

Die Folge als Zutat. – Ehemals glaubte man, der Erfolg einer Tat sei nicht eine Folge, sondern eine freie Zutat – nämlich Gottes. Ist eine größere Verwirrung denkbar? Man mußte sich um die Tat und um den Erfolg besonders bemühen, mit ganz verschiedenen Mitteln und Praktiken!“ (Ebd., 1881, S. 18).

Zur neuen Erziehung des Menschengeschlechts. – Helft, ihr Hilfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen! Es gibt kein böseres Unkraut! Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn gelegt – und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon dies, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen! – aber man hat mehr getan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des Straf-Begriffs. Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber als Strafe empfinden zu heißen, – es ist, als ob die Phantasterei von Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet hätte!“ (Ebd., 1881, S. 18-19).

Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität. – Wenn trotz jenem furchtbaren Druck der »Sittlichkeit der Sitte«, unter dem alle Gemeinwesen der Menschheit lebten, viele Jahrtausende lang vor unserer Zeitrechnung und in derselben im ganzen und großen fort bis auf den heutigen Tag (wir selber wohnen in der kleinen Welt der Ausnahmen und gleichsam in der bösen Zone): – wenn, sage ich, trotzdem neue und abweichende Gedanken, Wertschätzungen, Triebe immer wieder herausbrachen, so geschah dies unter einer schauderhaften Geleitschaft: fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens bricht. Begreift ihr es, weshalb es der Wahnsinn sein mußte? Etwas in Stimme und Gebärde so Grausenhaftes und Unberechenbares wie die dämonischen Launen des Wetters und des Meeres und deshalb einer ähnlichen Scheu und Beobachtung Würdiges? Etwas, das so sichtbar das Zeichen völliger Unfreiwilligkeit trug, wie die Zuckungen und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien? Etwas, das dem Träger eines neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor sich und nicht mehr Gewissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet und Märtyrer desselben zu werden? – Während es uns heute noch immer wieder nahegelegt wird, daß dem Genie, anstatt eines Kornes Salz, ein Korn Wahnwurz beigegeben ist, lag allen früheren Menschen der Gedanke viel näher, daß überall, wo es Wahnsinn gibt, es auch ein Korn Genie und Weisheit gäbe, – etwas »Göttliches«, wie man sich zuflüsterte. Oder vielmehr: man drückte sich kräftig genug aus. »Durch den Wahnsinn sind die größten Güter über Griechenland gekommen«, sagte Plato mit der ganzen alten Menschheit. Gehen wir noch einen Schritt weiter: allen jenen überlegenen Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgendeiner Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zu geben, blieb, wenn sie nicht wirklich wahnsinnig waren, nichts übrig, als sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen – und zwar gilt dies für die Neuerer auf allen Gebieten, nicht nur auf dem der priesterlichen und politischen Satzung: – selbst der Neuerer des poetischen Metrums mußte durch den Wahnsinn sich beglaubigen. (Bis in viel mildere Zeiten hinein verblieb daraus den Dichtern eine gewisse Konvention des Wahnsinns: auf welche zum Beispiel Solon zurückgriff, als er die Athener zur Wiedereroberung von Salamis aufstachelte.) – »Wie macht man sich wahnsinnig, wenn man es nicht ist und nicht wagt, es zu scheinen?« diesem entsetzlichen Gedankengange haben fast alle bedeutenden Menschen der älteren Zivilisation nachgehangen; eine geheime Lehre von Kunstgriffen und diätetischen Winken pflanzte sich darüber fort, nebst dem Gefühle der Unschuld, ja Heiligkeit eines solchen Nachsinnens und Vorhabens. Die Rezepte, um bei den Indianern ein Medizinmann, bei den Christen des Mittelalters ein Heiliger, bei den Grönländern ein Angekok, bei den Brasilianern ein Paje zu werden, sind im wesentlichen dieselben: unsinniges Fasten, fortgesetzte geschlechtliche Enthaltung, in die Wüste gehen oder auf einen Berg oder eine Säule steigen, oder »sich auf eine bejahrte Weide setzen, die in einen See hinaussieht« und schlechterdings an nichts denken als das, was eine Verzückung und geistige Unordnung mit sich bringen kann. Wer wagt es, einen Blick in die Wildnis bitterster und überflüssigster Seelennöte zu tun, in welchen wahrscheinlich gerade die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten geschmachtet haben! Jene Seufzer der Einsamen und Verstörten zu hören: »Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, daß ich endlich an mich selber glaube! Gebt Delirien und Zuckungen, plötzliche Lichter und Finsternisse, schreckt mich mit Frost und Glut, wie sie kein Sterblicher noch empfand, mit Getöse und umgehenden Gestalten, laßt mich heulen und winseln und wie ein Tier kriechen: nur daß ich bei mir selber Glauben finde! Der Zweifel frißt mich auf, ich habe das Gesetz getötet, das Gesetz ängstigt mich wie ein Leichnam einen Lebendigen: wenn ich nicht mehr bin als das Gesetz, so bin ich der Verworfenste von allen. Der neue Geist, der in mir ist, woher ist er, wenn er nicht von euch ist? Beweist es mir doch, daß ich euer bin; der Wahnsinn allein beweist es mir.« Und nur zu oft erreichte diese Inbrunst ihr Ziel zu gut: in jener Zeit, in welcher das Christentum am reichsten seine Fruchtbarkeit an Heiligen und Wüsten-Einsiedlern bewies und sich dadurch selber zu beweisen vermeinte, gab es in Jerusalem große Irrenhäuser für verunglückte Heilige, für jene, welche ihr letztes Korn Salz darangegeben hatten.“ (Ebd., 1881, S. 19-21).

Die ältesten Trostmittel. – Erste Stufe: der Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Mißgeschick etwas, wofür er irgend jemand anderes leiden lassen muß, – dabei wird er sich seiner noch vorhandenen Macht bewußt, und dies tröstet ihn. Zweite Stufe: der Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Mißgeschick eine Strafe, das heißt die Sühnung der Schuld und das Mittel, sich vom bösartigen Zauber eines wirklichen oder vermeintlichen Unrechtes loszumachen. Wenn er dieses Vorteils ansichtig wird, welchen das Unglück mit sich bringt, so glaubt er einen anderen nicht mehr dafür leiden lassen zu müssen, – er sagt sich von dieser Art Befriedigung los, weil er nun eine andere hat.“ (Ebd., 1881, S. 21-22).

Erster Satz der Zivilisation. – Bei rohen Völkern gibt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt zu sein scheint: peinliche und im Grunde überflüssige Bestimmungen (wie zum Beispiel die unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben, niemals eine Kohle mit dem Messer zu spießen, niemals ein Eisen ins Feuer zu legen – und der Tod trifft den, welcher in solchen Stücken zuwiderhandelt!), die aber die fortwährende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitten zu üben, fortwährend im Bewußtsein erhalten: zur Bekräftigung des großen Satzes, mit dem die Zivilisation beginnt: jede Sitte ist besser als keine Sitte.“ (Ebd., 1881, S. 22).

Die gute und die böse Natur. – Erst haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet: sie sahen überall sich und ihresgleichen, nämlich ihre böse und launenhafte Gesinnung, gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubtieren, Bäumen und Kräutern: damals erfanden sie die »böse Natur«. Dann kam einmal eine Zeit, da sie sich wieder aus der Natur herausdichteten, die Zeit Rousseaus: man war einander so satt, daß man durchaus einen Weltwinkel haben wollte, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual: man erfand die »gute Natur«.“ (Ebd., 1881, S. 22-23).

Die Moral des freiwilligen Leidens. – Welcher Genuß ist für Menschen im Kriegszustande jener kleinen, stets gefährdeten Gemeinde, wo die strengste Sittlichkeit waltet, der höchste? Also für kraftvolle, rachsüchtige, feindselige, tückische, argwöhnische, zum Furchtbarsten bereite und durch Entbehrung und Sittlichkeit gehärtete Seelen? Der Genuß der Grausamkeit: so wie es auch zur Tugend einer solchen Seele in diesen Zuständen gerechnet wird, in der Grausamkeit erfinderisch und unersättlich zu sein. An dem Tun des Grausamen erquickt sich die Gemeinde und wirft einmal die Düsterkeit der beständigen Angst und Vorsicht von sich. Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit. Folglich denkt man sich auch die Götter erquickt und festlich gestimmt, wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet, – und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt, daß das freiwillige Leiden, die selbsterwählte Marter einen guten Sinn und Wert habe. Allmählich formt die Sitte in der Gemeinde eine Praxis gemäß dieser Vorstellung: man wird bei allem ausschweifenden Wohlbefinden von nun an mißtrauischer und bei allen schweren schmerzhaften Zuständen zuversichtlicher; man sagt sich: es mögen wohl die Götter ungnädig wegen des Glücks und gnädig wegen unseres Leidens auf uns sehen, – nicht etwa mitleidig! Denn das Mitleiden gilt als verächtlich und einer starken, furchtbaren Seele unwürdig; – aber gnädig, weil sie dadurch ergötzt und guter Dinge werden: denn der Grausame genießt den höchsten Kitzel des Machtgefühls. So kommt in den Begriff des »sittlichsten Menschen« der Gemeinde die Tugend des häufigen Leidens, der Entbehrung, der harten Lebensweise, der grausamen Kasteiung, – nicht, um es wieder und wieder zu sagen, als Mittel der Zucht, der Selbstbeherrschung, des Verlangens nach individuellem Glück, – sondern als eine Tugend, welche der Gemeinde bei den bösen Göttern einen guten Geruch macht und wie ein beständiges Versöhnungsopfer auf dem Altare zu ihnen empordampft. Alle jene geistigen Führer der Völker, welche in dem trägen furchtbaren Schlamm ihrer Sitten etwas zu bewegen vermochten, haben außer dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nötig gehabt, um Glauben zu finden – und zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber! Je mehr gerade ihr Geist auf neuen Bahnen ging und folglich von Gewissensbissen und Ängsten gequält wurde, um so grausamer wüteten sie gegen das eigene Fleisch, das eigene Gelüste und die eigene Gesundheit, – wie um der Gottheit einen Ersatz an Lust zu bieten, wenn sie vielleicht um der vernachlässigten und bekämpften Gebräuche und der neuen Ziele willen erbittert sein sollte. Glaube man nicht zu schnell, daß wir jetzt von einer solchen Logik des Gefühls uns völlig befreit hätten! Die heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich befragen. Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nötig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von »Weltgeschichte«, von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet; und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lärm um die letzten Neuigkeiten ist, gibt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als die uralte Tragödie von den Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten. Nichts ist teurer erkauft als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, welches jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der »Sittlichkeit der Sitte« zu empfinden, welche der »Weltgeschichte« vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wißbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung war! – Ihr meint, es habe sich alles dies geändert, und die Menschheit müsse somit ihren Charakter vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!“ (Ebd., 1881, S. 23-25).

„Sittlichkeit und Verdummung. – Die Sitte repräsentiert die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche, – aber das Gefühl für die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiskutabilität der Sitte. Und damit wirkt dies Gefühl dem entgegen, daß man neue Erfahrungen macht und die Sitten korrigiert: das heißt, die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt.“ (Ebd., 1881, S. 25).

Freitäter und Freidenker. – Die Freitäter sind im Nachteil gegen die Freidenker, weil die Menschen sichtbarer an den Folgen von Taten als von Gedanken leiden. Bedenkt man aber, daß diese wie jene ihre Befriedigung suchen, und daß den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung gibt, so ist in Ansehung der Motive alles eins: und in Ansehung der Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, daß man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit – das heißt: nicht wie alle Welt urteilt. Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurückzunehmen, mit der die Menschen alle jene bedacht haben, welche durch die Tat den Bann einer Sitte durchbrachen, – im allgemeinen heißen sie Verbrecher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als schlechter Mensch gegolten: aber wenn man, wie es vorkam, hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zufrieden gab, so veränderte sich das Prädikat allmählich; – die Geschichte handelt fast nur von diesen schlechten Menschen, welche später gutgesprochen worden sind!“ (Ebd., 1881, S. 25-26).

»Erfüllung des Gesetzes.« – Im Falle, daß die Befolgung einer moralischen Vorschrift doch ein anderes Resultat ergibt, als versprochen und erwartet wird, und den Sittlichen nicht das verheißene Glück,[1028] sondern wider Erwarten Unglück und Elend trifft, so bleibt immer die Ausflucht des Gewissenhaften und Ängstlichen übrig: »es ist etwas in der Ausführung versehen worden.« Im allerschlimmsten Falle wird eine tief leidende und zerdrückte Menschheit sogar dekretieren: »es ist unmöglich, die Vorschrift gut auszuführen, wir sind durch und durch schwach und sündhaft und der Moralität im innersten Grunde nicht fähig, folglich haben wir auch keinen Anspruch auf Glück und Gelingen. Die moralischen Vorschriften und Verheißungen sind für bessere Wesen, als wir sind, gegeben.«“ (Ebd., 1881, S. 26).

Werke und Glaube. – Immer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener Grundirrtum fortgepflanzt: daß es nur auf den Glauben ankomme, und daß aus dem Glauben die Werke notwendig folgen müssen. Dies ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verführerisch, daß es schon andere Intelligenzen als die Luthers (nämlich die des Sokrates und Plato) betört hat: obwohl der Augenschein aller Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur Tat, noch die Gewandtheit zur Tat geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vielteiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muß, damit irgend etwas aus einer Vorstellung sich in Aktion verwandeln könne. Vor allem und zuerst die Werke! Das heißt Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige »Glaube« wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert!“ (Ebd., 1881, S. 27).

Worin wir am feinsten sind. – Dadurch, daß man sich viele tausend Jahre lang die Sachen (Natur, Werkzeuge, Eigentum jeder Art) ebenfalls belebt und beseelt dachte, mit der Kraft zu schaden und sich den menschlichen Absichten zu entziehen, ist das Gefühl der Ohnmacht unter den Menschen viel größer und viel häufiger gewesen, als es hätte sein müssen: man hatte ja nötig, sich der Sachen ebenso zu versichern, wie der Menschen und Tiere, durch Gewalt, Zwang, Schmeichelei, Verträge, Opfer, – und hier ist der Ursprung der meisten abergläubischen Gebräuche, das heißt eines erheblichen, vielleicht überwiegenden und trotzdem vergeudeten und unnützen Bestandteils aller von Menschen bisher geübten Tätigkeit! – Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war, hat sich das Gefühl der Macht in solcher Feinheit entwickelt, daß es jetzt hierin der Mensch mit der delikatesten Goldwaage aufnehmen kann. Es ist sein stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Kultur.“ (Ebd., 1881, S. 27-28).

Der Beweis einer Vorschrift. – Im allgemeinen wird die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift, zum Beispiel der, Brot zu backen, so bewiesen, daß das in ihr besprochene Resultat sich ergibt oder nicht ergibt, vorausgesetzt, daß sie genau ausgeführt wird. Anders steht es jetzt mit den moralischen Vorschriften: denn hier sind gerade die Resultate nicht zu übersehen, oder deutbar und unbestimmt. Diese Vorschriften ruhen auf Hypothesen von dem allergeringsten wissenschaftlichen Werte, deren Beweis und deren Widerlegung aus den Resultaten im Grunde gleich unmöglich ist: – aber einstmals, bei der ursprünglichen Roheit aller Wissenschaft und den geringen Ansprüchen, die man machte, um ein Ding für erwiesen zu nehmen, – einstmals wurde die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift der Sitte ebenso festgestellt wie jetzt die jeder anderen Vorschrift: durch Hinweisung auf den Erfolg. Wenn bei den Eingeborenen in Russisch-Amerika die Vorschrift gilt: du sollst keinen Tierknochen ins Feuer werfen oder den Hunden geben, – so wird sie so bewiesen: »tue es und du wirst kein Glück auf der Jagd haben.« Nun aber hat man in irgendeinem Sinne fast immer »kein Glück auf der Jagd«; es ist nicht leicht möglich, die Güte der Vorschrift auf diesem Wege zu widerlegen, namentlich wenn eine Gemeinde und nicht ein einzelner als Träger der Strafe gilt; vielmehr wird immer ein Umstand eintreten, welcher die Vorschrift zu beweisen scheint.“ (Ebd., 1881, S. 28).

Sitte und Schönheit. – Zugunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, daß bei jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeging an unterwirft, die Angriffs- und Verteidigungsorgane – die körperlichen und geistigen – verkümmern: das heißt, er wird zunehmend schöner! Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es, welche häßlich erhält und häßlicher macht. Der alte Pavian ist darum häßlicher als der junge, und der weibliche junge Pavian ist dem Menschen am ähnlichsten: also am schönsten. – Hiernach mache man einen Schluß auf den Ursprung der Schönheit der Weiber!“ (Ebd., 1881, S. 29).

Die Tiere und die Moral. – Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen, des Anmaßenden, das Zurückstellen seiner Tugenden sowohl wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleichgeben, Sich-einordnen, Sich-verringern, – dies alles als die gesellschaftliche Moral ist im groben überall bis in die tiefste Tierwelt hinab zu finden, – und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein. Deshalb lernen die Tiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, daß manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermöge der sogenannten »chromatischen Funktion«), daß sie sich tot stellen oder die Formen und Farben eines anderen Tieres oder von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen annehmen (das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). So verbirgt sich der einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes »Mensch« oder unter der Gesellschaft, oder paßt sich an Fürsten, Stände, Parteien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an: und zu allen den feinen Arten, uns glücklich, dankbar, mächtig, verliebt zu stellen, wird man leicht das tierische Gleichnis finden. Auch jenen Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam: man will sich nicht täuschen lassen, sich nicht durch sich selber irreführen lassen, man hört dem Zureden der eigenen Leidenschaften mißtrauisch zu, man bezwingt sich, und bleibt gegen sich auf der Lauer; dies alles versteht das Tier gleich dem Menschen, auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Tiere ausübt, es lernt von dort aus auf sich zurückblicken, sich »objektiv« nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntnis. Das Tier beurteilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigentümlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen einzelne einer bestimmten Gattung gibt es ein für allemal den Kampf auf und ebenso errät es in der Annäherung mancher Arten von Tieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit, – kurz alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist tierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, daß auch der höchste Mensch sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriff dessen, was ihm alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als tierhaft zu bezeichnen.“ (Ebd., 1881, S. 29-30).

Der Stolz auf den Geist. – Der Stolz des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Tieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die große Kluft legt, – dieser Stolz hat seinen Grund in einem Vorurteil über das, was Geist ist: und dieses Vorurteil ist verhältnismäßig jung. In der großen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegenteil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Tieren oder Bäumen abzustammen (die vornehmen Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der Bescheidenheit, – und ebenfalls infolge eines Vorurteils.“ (Ebd., 1881, S. 34).

Die Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit. – Jene bösen Zufälle, welche eine Gemeinde treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, daß Verstöße gegen die Sitte begangen sind oder daß neue Gebräuche erfunden werden müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen. Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellekts: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso grundsätzlich den wahren natürlichen Folgen einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fliehen, sondern das vermeintliche Mißfallen der Götter an der Versäumnis eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hält dies zuletzt, nur insofern es Symbol sein kann, noch für wertvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit, und spinnt alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an: die sogenannte höhere Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel. Es ist traurig: aber einstweilen müssen dem wissenschaftlichen Menschen alle höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt. Nicht daß sie es an sich oder für immer sein müßten: aber gewiß wird von allen allmählichen Reinigungen, welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle eine der allmählichsten sein.“ (Ebd., 1881, S. 35-36).

Triebe durch die moralischen Urteile umgestaltet. – Derselbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefühl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der Demut, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich ans Herz gelegt und gut geheißen hat. Das heißt: es hängt sich ihm entweder ein gutes oder ein böses Gewissen an! An sich hat er, wie jeder Trieb, weder dies noch überhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust: er erwirbt dies alles erst, als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf Gut und Böse getauften Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon moralisch festgestellt und abgeschätzt sind. – So haben die älteren Griechen anders über den Neid empfunden als wir; Hesiod zählt ihn unter den Wirkungen der guten, wohltätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstößiges, den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zustande der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut festgestellt und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschätzung der Hoffnung: man empfand sie als blind und tückisch; Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes, daß kein neuerer Erklärer es verstanden hat, – denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christentum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen dagegen, welchen der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gänzlich verschlossen schien, und denen in zahllosen Fällen eine Anfrage um die Zukunft zur religiösen Pflicht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoffnung begnügen, mußte wohl, dank allen Orakeln und Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradiert werden und ins Böse und Gefährliche hinabsinken. – Die Juden haben den Zorn anders empfunden als wir und ihn heilig gesprochen: dafür haben sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein Europäer nicht vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen Jehova nach ihren zornigen heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die großen Zürner unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand.“ (Ebd., 1881, S. 38-39).

Das Vorurteil vom »reinen Geiste«. – Überall, wo die Lehre von der reinen Geistigkeit geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstört: sie lehrte den Körper geringschätzen, vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen; sie gab verdüsterte, gespannte, gedrückte Seelen, – welche noch überdies glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie vielleicht heben zu können! »Im Körper muß sie liegen! er blüht immer noch zu sehr!« – so schlossen sie, während tatsächlich derselbe gegen seine fortwährende Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache über Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Übernervosität war endlich das Los jener tugendhaften Reingeistigen: die Lust lernten sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns kennen – und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das Höheziel des Lebens und als den verurteilenden Maßstab für alles Irdische nahm.“ (Ebd., 1881, S. 40).

Zur Wertbestimmung der vita contemplativa . – Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist, – kurz, welche Gegenrechnung die vita activa uns zu machen hat, wenn wir allzu stolz mit unseren Wohltaten uns vor ihr brüsten. Erstens: die sogenannten religiösen Naturen, welche der Zahl nach unter den Kontemplativen überwiegen und folglich ihre gemeinste Spezies abgeben, haben zu allen Zeiten dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerten, die tätige Hand lähmen, – das haben sie verstanden, ebenso wie sie für elende Zeiten und Empfindungen ihre Tröstungen, Almosen, Handreichungen und Segenssprüche gehabt haben. Zweitens: die Künstler, etwas seltener als die Religiösen, aber doch immer noch eine häufige Art von Menschen der vita contemplativa , sind als Personen zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen: diese Wirkung ist von den erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer Werke in Abzug zu bringen. Drittens: die Philosophen, eine Gattung, in der sich religiöse und künstlerische Kräfte beisammen vorfinden, doch so, daß etwas Drittes, das Dialektische, die Lust am Demonstrieren, noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Übeln nach der Weise der Religiösen und der Künstler gewesen und haben noch dazu durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht; doch war ihre Zahl immer sehr klein. Viertens: die Denker und die wissenschaftlichen Arbeiter; sie waren selten auf Wirkungen aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslöcher. So haben sie wenig Verdruß und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand des Spottes und Gelächters sogar, ohne es zu wollen, den Menschen der vita activa das Leben erleichtert. Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nützliches für alle geworden: wenn dieses Nutzens halber jetzt sehr viele zur vita activa Vorherbestimmte sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen, im Schweiße ihres Angesichts und nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwünschungen, so trägt doch an solchem Ungemach die Schar der Denker und wissenschaftlichen Arbeiter keine Schuld; es ist »selbstgeschaffene Pein«.“ (Ebd., 1881, S. 41-42).

»Erkenne dich selbst« ist die ganze Wissenschaft. – Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen.“ (Ebd., 1881, S. 47).

Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit. – Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe, nebst anderem greulichen Getier, und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des letzten Menschen und Totengräbers (mit der Aufschrift »nihil humani a me alienum puto«). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer als am Anfang stehen! – es gibt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer »Erdenbahn« zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgendein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!“ (Ebd., 1881, S. 47-48).

Wo sind die neuen Ärzte der Seele? – Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die größte Krankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntnis hielt man die augenblicklich wirkenden, betäubenden und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, für die eigentlichen Heilkräfte, ja man merkte es nicht einmal, daß man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens bezahlte, daß die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später an der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesamtgefühl von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, – dafür sorgten die Ärzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. – Man sagt Schopenhauer nach, und mit Recht, daß er die Leiden der Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe: wo ist der, welcher endlich auch einmal die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist?“ (Ebd., 1881, S. 49-50).

Mißbrauch der Gewissenhaften. – Die Gewissenhaften und nicht die Gewissenlosen waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Bußpredigten und Höllenängsten zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist gerade denen das Leben am meisten verdüstert worden, welche Heiterkeit und anmutige Bilder nötig hatten – nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinübernehme. Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit und Tierquälerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben! Und von den Menschen, welche durch sie den höchsten Genuß ihrer Macht haben wollten!“ (Ebd., 1881, S. 50).

Gedanken über die Krankheit! – Die Phantasie des Kranken beruhigen, daß er wenigstens nicht, wie bisher, mehr von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat als von der Krankheit selber, – ich denke, das ist etwas! Und es ist nicht wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?“ (Ebd., 1881, S. 50-51).

Die Verzweifelnden. – Das Christentum hat den Instinkt des Jägers für alle die, welche irgendwodurch überhaupt zur Verzweiflung zu bringen sind, – nur eine Auswahl der Menschheit ist deren fähig. Hinter ihnen ist es immer her, ihnen lauert es auf. Pascal machte den Versuch, ob nicht mit Hilfe der schneidendsten Erkenntnis jedermann zur Verzweiflung gebracht werden könnte; – der Versuch mißlang, zu seiner zweiten Verzweiflung.“ (Ebd., 1881, S. 57).

Brahmanen- und Christentum. – Es gibt Rezepte zum Gefühle der Macht, einmal für solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind; sodann für solche, welchen gerade dies fehlt. Für Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanentum Sorge getragen, für Menschen der zweiten Gattung das Christentum.“ (Ebd., 1881, S. 57).

Preis der Gläubigen. – Wer solchen Wert darauf legt, daß an ihn geglaubt werde, daß er den Himmel für diesen Glauben gewährleistet, und jedermann, sei es selbst ein Schächer am Kreuze, – der muß an einem furchtbaren Zweifel gelitten und jede Art von Kreuzigung kennen gelernt haben: er würde sonst seine Gläubigen nicht so teuer kaufen.“ (Ebd., 1881, S. 58).

Der erste Christ. – Alle Welt glaubt noch immer an die Schriftstellerei des »heiligen Geistes« oder steht unter der Nachwirkung dieses Glaubens: wenn man die Bibel aufmacht, so geschieht es, um sich zu »erbauen«, um in seiner eigenen, persönlichen großen oder kleinen Not einen Fingerzeig des Trostes zu finden, – kurz, man liest sich hinein und sich heraus. Daß in ihr auch die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläubischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht, die Geschichte des Apostels Paulus, – wer weiß das, einige Gelehrte abgerechnet? Ohne diese merkwürdige Geschichte aber, ohne die Verwirrungen und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe es keine Christenheit; kaum würden wir von einer kleinen jüdischen Sekte erfahren haben, deren Meister am Kreuze starb. Freilich: hätte man eben diese Geschichte zur rechten Zeit begriffen, hätte man die Schriften des Paulus nicht als die Offenbarungen des »heiligen Geistes«, sondern mit einem redlichen und freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persönliche Not dabei zu denken, gelesen, wirklich gelesen – es gab anderthalb Jahrtausend keinen solchen Leser –, so würde es auch mit dem Christentum längst vorbei sein: so sehr legen diese Blätter des jüdischen Pascal den Ursprung des Christentums bloß, wie die Blätter des französischen Pascal sein Schicksal und das, woran es zugrunde gehen wird, bloßlegen. Daß das Schiff des Christentums einen guten Teil des jüdischen Ballastes über Bord warf, daß es unter die Heiden ging und gehen konnte, – das hängt an der Geschichte dieses einen Menschen, eines sehr gequälten, sehr bemitleidenswerten, sehr unangenehmen und sich selber unangenehmen Menschen. Er litt an einer fixen Idee, oder deutlicher: an einer fixen, stets gegenwärtigen, nie zur Ruhe kommenden Frage: welche Bewandtnis es mit dem jüdischen Gesetze habe? und zwar mit der Erfüllung dieses Gesetzes? In seiner Jugend hatte er ihm selber genugtun wollen, heißhungrig nach dieser höchsten Auszeichnung, welche die Juden zu denken vermochten, – dieses Volk, welches die Phantasie der sittlichen Erhabenheit höher als irgendein anderes Volk getrieben hat und welchem allein die Schöpfung eines heiligen Gottes, nebst dem Gedanken der Sünde als eines Vergehens an dieser Heiligkeit, gelungen ist. Paulus war zugleich der fanatische Verteidiger und Ehrenwächter dieses Gottes und seines Gesetzes geworden und fortwährend im Kampfe und auf der Lauer gegen die Übertreter und Anzweifler desselben, hart und böse gegen sie und zum äußersten der Strafen geneigt. Und nun erfuhr er an sich, daß er – hitzig, sinnlich, melancholisch, bösartig im Haß, wie er war – das Gesetz selber nicht erfüllen konnte, ja, was ihm das Seltsamste schien: daß seine ausschweifende Herrschsucht fortwährend gereizt wurde, es zu übertreten, und daß er diesem Stachel nachgeben mußte. Ist es wirklich die »Fleischlichkeit«, welche ihn immer wieder zum Übertreter macht? Und nicht vielmehr, wie er später argwöhnte, hinter ihr das Gesetz selber, welches sich fortwährend als unerfüllbar beweisen muß und mit unwiderstehlichem Zauber zur Übertretung lockt? Aber damals hatte er diesen Ausweg noch nicht. Vielerlei lag ihm auf dem Gewissen – er deutet hin auf Feindschaft, Mord, Zauberei, Bilderdienst, Unzucht, Trunkenheit und Lust an ausschweifenden Gelagen – und wie sehr er auch diesem Gewissen, und noch mehr seiner Herrschsucht, durch den äußersten Fanatismus der Gesetzes-Verehrung und -Verteidigung wieder Luft zu machen suchte: es kamen Augenblicke, wo er sich sagte: »Es ist alles umsonst! die Marter des unerfüllten Gesetzes ist nicht zu überwinden.« Ähnlich mag Luther empfunden haben, als er der vollkommene Mensch des geistlichen Ideals in seinem Kloster werden wollte: und ähnlich wie Luther, der eines Tages das geistliche Ideal und den Papst und die Heiligen und die ganze Klerisei zu hassen begann, mit einem wahren tödlichen Haß, je weniger er ihn sich eingestehen durfte, – ähnlich erging es Paulus. Das Gesetz war das Kreuz, an welches er sich geschlagen fühlte: wie haßte er es! wie trug er es ihm nach! wie suchte er herum, um ein Mittel zu finden, es zu vernichten, – nicht mehr es für seine Person zu erfüllen! Und endlich leuchtete ihm der rettende Gedanke auf, zugleich mit einer Vision, wie es bei diesem Epileptiker nicht anders zugehen konnte: ihm, dem wütenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen totmüde war, erschien auf einsamer Straße jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte, und Paulus hörte die Worte: »warum verfolgst du mich?« Das Wesentliche, was da geschah, ist aber dies: sein Kopf war auf einmal hell geworden; »es ist unvernünftig,« hatte er sich gesagt, »gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja der Ausweg, hier ist ja die vollkommene Rache, hier und nirgends sonst habe und halte ich ja den Vernichter des Gesetzes!« Der Kranke des gequältesten Hochmutes fühlt sich mit einem Schlage wieder hergestellt, die moralische Verzweiflung ist wie fortgeblasen, denn die Moral ist fortgeblasen, vernichtet, – nämlich erfüllt, dort am Kreuze! Bisher hatte ihm jener schmähliche Tod als Hauptargument gegen die »Messianität«, von der die Anhänger der neuen Lehre sprachen, gegolten: wie aber, wenn er nötig war, um das Gesetz abzutun! – Die ungeheuren Folgen dieses Einfalls, dieser Rätsellösung wirbeln vor seinem Blicke, er wird mit einem Male der glücklichste Mensch, – das Schicksal der Juden, nein, aller Menschen scheint ihm an diesen Einfall, an diese Sekunde seines plötzlichen Aufleuchtens gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlüssel der Schlüssel, das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich fürderhin die Geschichte! Denn er ist von jetzt ab der Lehrer der Vernichtung des Gesetzes! Dem Bösen absterben – das heißt, auch dem Gesetz absterben; im Fleische sein – das heißt, auch im Gesetze sein! Mit Christus eins geworden – das heißt, auch mit ihm der Vernichter des Gesetzes geworden; mit ihm gestorben – das heißt, auch dem Gesetze abgestorben! Selbst wenn es noch möglich wäre, zu sündigen, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, »ich bin außerhalb desselben«. »Wenn ich jetzt das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so würde ich Christus zum Mithelfer der Sünde machen«; denn das Gesetz war dazu da, daß gesündigt werde, es trieb die Sünde immer hervor, wie ein scharfer Saft die Krankheit; Gott hätte den Tod Christi nie beschließen können, wenn überhaupt ohne diesen Tod eine Erfüllung des Gesetzes möglich gewesen wäre; jetzt ist nicht nur alle Schuld abgetragen, sondern die Schuld an sich vernichtet; jetzt ist das Gesetz tot, jetzt ist die Fleischlichkeit, in der es wohnt, tot – oder wenigstens in fortwährendem Absterben, gleichsam verwesend. Noch kurze Zeit inmitten dieser Verwesung! – das ist das Los des Christen, bevor er, eins geworden mit Christus, aufersteht mit Christus, an der göttlichen Herrlichkeit teilnimmt mit Christus und »Sohn Gottes« wird, gleich Christus. – Damit ist der Rausch des Paulus auf seinem Gipfel, und ebenfalls die Zudringlichkeit seiner Seele, – mit dem Gedanken des Einswerdens ist jede Scham, jede Unterordnung, jede Schranke von ihr genommen, und der unbändige Wille der Herrschsucht offenbart sich als ein vorwegnehmendes Schwelgen in göttlichen Herrlichkeiten. – Dies ist der erste Christ, der Erfinder der Christlichkeit! Bis dahin gab es nur einige jüdische Sektierer.“ (Ebd., 1881, S. 58-62).

Unnachahmlich. – Es gibt eine ungeheure Spannung und Spannweite zwischen Neid und Freundschaft, zwischen Selbstverachtung und Stolz: in der ersten lebte der Grieche, in der zweiten der Christ.“ (Ebd., 1881, S. 62).

Wozu ein grober Intellekt nütze ist. – Die christliche Kirche ist eine Enzyklopädie von vorzeitlichen Kulten und Anschauungen der verschiedensten Abkunft und deshalb so missionsfähig: sie mochte ehemals, sie mag jetzt kommen, wohin sie will, sie fand und findet etwas Ähnliches vor, dem sie sich anpassen und dem sie allmählich ihren Sinn unterschieben kann. Nicht das Christliche an ihr, sondern das Universal-Heidnische ihrer Gebräuche ist der Grund für die Ausbreitung dieser Weltreligion; ihre Gedanken, die zugleich im Jüdischen und im Hellenischen wurzeln, haben von Anbeginn an über die nationalen und rassemäßigen Absonderungen und Feinheiten, gleich als über Vorurteile, sich zu erheben gewußt. Man mag diese Kraft, das Verschiedenste ineinander wachsen zu lassen, immerhin bewundern: nur vergesse man auch die verächtliche Eigenschaft dieser Kraft nicht, – die erstaunliche Grobheit und Genügsamkeit ihres Intellekts in der Zeit der Kirchenbildung, um dergestalt mit jeder Kost fürlieb zu nehmen und Gegensätze wie Kieselsteine zu verdauen.“ (Ebd., 1881, S. 63-63).

Die christliche Rache an Rom. – Nichts ermüdet vielleicht so sehr als der Anblick eines beständigen Siegers, – man hatte Rom zweihundert Jahre lang ein Volk nach dem andern sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt, alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet – ja, wenn das Reich baute, so baute man mit dem Hintergedanken des »aere perennius«; – wir, die wir nur die »Melancholie der Ruinen« kennen, können kaum jene ganz andersartige Melancholie der ewigen Bauten verstehen, gegen welche man sich zu retten suchen mußte, wie es gehen wollte, – zum Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens. Andere suchten andere Trostmittel gegen die an Verzweiflung grenzende Müdigkeit, gegen das tötende Bewußtsein, daß alle Gedanken- und Herzensgänge nunmehr ohne Hoffnung seien, daß überall die große Spinne sitze, daß sie unerbittlich alles Blut trinken werde, wo es auch noch quelle. – Dieser jahrhundertalte wortlose Haß der ermüdeten Zuschauer gegen Rom, so weit nur Rom herrschte, entlud sich endlich im Christentum, indem es Rom, die »Welt« und die »Sünde« in eine Empfindung zusammenfaßte: man rächte sich an ihm, indem man den plötzlichen Untergang der Welt sich in der Nähe dachte; man rächte sich an ihm, indem man wieder eine Zukunft vor sich stellte – Rom hatte alles zu seiner Vorgeschichte und Gegenwart zu machen gewußt – und eine Zukunft, in Vergleich zu welcher Rom nicht mehr als das Wichtigste erschien; man rächte sich an ihm, indem man vom letzten Gericht träumte, – und der gekreuzigte Jude als Symbol des Heils war der tiefste Spott auf die prachtvollen römischen Prätoren in der Provinz, denn nun erschienen sie als die Symbole des Unheils und der zum Untergange reifen »Welt«.“ (Ebd., 1881, S. 90).

Das »Nach-dem-Tode«. – Das Christentum fand die Vorstellung von Höllenstrafen im ganzen römischen Reiche vor: über ihr haben die zahlreichen geheimen Kulte mit besonderem Wohlgefallen gebrütet, als über dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht. Epikur hatte für seinesgleichen nichts Größeres zu tun geglaubt, als die Wurzeln dieses Glaubens auszureißen: sein Triumph, der am schönsten im Munde des düsteren und doch hellgewordenen Jüngers seiner Lehre, des Römers Lukretius, ausklingt, kam zu früh, – das Christentum nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen Schrecknisse in seinen besonderen Schutz, und tat klug daran! Wie hätte es ohne diesen kühnen Griff ins volle Heidentum den Sieg über die Popularität der Mithras- und Isiskulte davontragen können! So brachte es die Furchtsamen auf seine Seite, – die stärksten Anhänger eines neuen Glaubens! Die Juden, als ein Volk, welches am Leben hing und hängt, gleich den Griechen und mehr als die Griechen, hatten jene Vorstellungen wenig angebaut: der endgültige Tod als die Strafe des Sünders, und niemals wieder auferstehen als äußerste Drohung, – das wirkte schon stark genug auf diese sonderbaren Menschen, welche ihren Leib nicht loswerden wollten, sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Ägyptizismus, in alle Ewigkeit zu retten hofften. (Ein jüdischer Märtyrer, von dem im zweiten Buche der Makkabäer zu lesen ist, denkt nicht daran, auf seine herausgerissenen Eingeweide Verzicht zu leisten: bei der Auferstehung will er sie haben, – so ist es jüdisch!) Den ersten Christen lag der Gedanke an ewige Qualen ganz fern, sie dachten »vom Tode« erlöst zu sein und erwarteten von Tag zu Tag eine Verwandlung, und nicht mehr ein Sterben. (Wie seltsam muß der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben! Wie mischten sich da Verwunderung, Frohlocken, Zweifel, Scham, Inbrunst! – wahrlich ein Vorwurf für große Künstler!) Paulus wußte nichts Besseres seinem Erlöser nachzusagen, als daß er den Zugang zur Unsterblichkeit für jedermann eröffnet habe, – er glaubt noch nicht an die Auferstehung der Unerlösten, ja infolge seiner Lehre vom unerfüllbaren Gesetze und vom Tode als Folge der Sünde argwöhnt er, im Grunde sei bisher niemand (oder sehr wenige, und dann aus Gnade und ohne Verdienst) unsterblich geworden; jetzt erst beginne die Unsterblichkeit ihre Tore aufzutun, – und zuletzt seien auch für sie sehr wenige auserwählt: wie der Hochmut des Auserwählten nicht unterlassen kann hinzuzufügen. – Anderwärts, wo der Trieb nach Leben nicht gleich groß war, wie unter Juden und Judenchristen, und die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht ohne weiteres wertvoller erschien als die Aussicht auf einen endgültigen Tod, wurde jener heidnische und doch auch nicht ganz unjüdische Zusatz von der Hölle ein erwünschtes Werkzeug in der Hand der Missionäre: es erhob sich die neue Lehre, daß auch der Sünder und Unerlöste unsterblich sei, die Lehre vom Ewig-Verdammten, und sie war mächtiger als der nunmehr ganz verbleichende Gedanke vom endgültigen Tode. Erst die Wissenschaft hat ihn sich wieder zurückerobern müssen, und zwar indem sie zugleich jede andere Vorstellung vom Tode und jedes jenseitige Leben ablehnte. Wir sind um ein Interesse ärmer geworden: das »Nach-dem-Tode« geht uns nichts mehr an! – eine unsägliche Wohltat, welche nur noch zu jung ist, um als solche weit- und breithin empfunden zu werden. – Und von neuem triumphiert Epikur!“ (Ebd., 1881, S. 64-66).

Nicht europäisch und nicht vornehm. – Es ist etwas Orientalisches und etwas Weibliches im Christentum: das verrät sich in dem Gedanken »wen Gott lieb hat, den züchtigt er«; denn die Frauen im Orient betrachten Züchtigungen und strenge Abschließung ihrer Person gegen die Welt als ein Zeichen der Liebe ihres Mannes und beschweren sich, wenn diese Zeichen ausbleiben.“ (Ebd., 1881, S. 67).

Böse denken heißt böse machen. – Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite – großen idealfähigen Mächten – höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ. Ist es nicht schrecklich, notwendige und regelmäßige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend bei jedem Menschen notwendig und regelmäßig machen zu wollen! Noch dazu bleibt es ein geheimgehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend: denn nicht alle haben den Mut Shakespeares, ihre christliche Verdüsterung in diesem Punkte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten getan hat. – Muß denn etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse heißen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, daß hier der eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohltut, – man trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur! Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben! Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern! – Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen: der »Teufel« Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, dank der Munkelei und Geheimtuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, – in einer dem Altertum unbegreiflichen Übertreibung, der später einmal auch noch das Gelächter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei, vom Größten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet: vielleicht daß ihrethalben die Nachwelt urteilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Kultur liege etwas Kleinliches und Verrücktes.“ (Ebd., 1881, S. 67-68).

Die strafende Gerechtigkeit. – Unglück und Schuld, – diese beiden Dinge sind durch das Christentum auf eine Waage gesetzt worden: so daß, wenn das Unglück groß ist, das auf eine Schuld folgt, jetzt immer noch unwillkürlich die Größe der Schuld selber danach zurückbemessen wird. Dies aber ist nicht antik, und deshalb gehört die griechische Tragödie, in der so reichlich und doch in so anderem Sinne von Unglück und Schuld die Rede ist, zu den großen Befreierinnen des Gemüts, in einem Maße, wie es die Alten selber nicht empfinden konnten. Sie waren so harmlos geblieben, zwischen Schuld und Unglück keine »adäquate Relation« anzusetzen. Die Schuld ihrer tragischen Heroen ist wohl der kleine Stein, über welchen diese stolpern und deswegen sie wohl den Arm brechen oder sich ein Auge ausschlagen: die antike Empfindung sagte dazu: »Ja, er hätte etwas bedachtsamer und weniger übermütig seinen Weg machen sollen!« Aber erst dem Christentum war es vorbehalten, zu sagen: »Hier ist ein schweres Unglück und hinter ihm muß eine schwere, gleichschwere Schuld verborgen liegen, ob wir sie schon nicht deutlich sehen! Empfindest du Unglücklicher nicht so, so bist du verstockt, – du wirst noch Schlimmeres zu erleben haben!« – Sodann gab es im Altertum wirklich noch Unglück, reines, unschuldiges Unglück; erst im Christentum wird alles Strafe, wohlverdiente Strafe: es macht die Phantasie des Leidenden auch noch leidend, so daß er bei allem Übel-ergehen sich moralisch verwerflich und verworfen fühlt. Arme Menschheit! – Die Griechen haben ein eigenes Wort für die Empörung über das Unglück des andern: dieser Affekt war unter christlichen Völkern unstatthaft und hat sich wenig entwickelt, und so fehlt ihnen auch der Name für diesen männlicheren Bruder des Mitleidens.“ (Ebd., 1881, S. 71).

»In hoc signo vinces.« – So vorgeschritten Europa auch sonst sein mag: in religiösen Dingen hat es noch nicht die freisinnige Naivität der alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, daß in Indien vor vier Jahrtausenden mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, daß die Priester mächtiger seien als die Götter, und zweitens, daß die Bräuche es seien, worin die Macht der Priester begriffen liege: weshalb ihre Dichter nicht müde wurden, die Bräuche (Gebete, Zeremonien, Opfer, Lieder, Metren) als die eigentlichen Geber alles Guten zu preisen. Wie viel Dichterei und Aberglaube hier auch immer dazwischengelaufen sein mag: die Sätze sind wahr! Einen Schritt weiter: und man warf die Götter beiseite, – was Europa auch einmal tun muß! Noch einen Schritt weiter: und man hatte auch die Priester und Vermittler nicht mehr nötig, und der Lehrer der Religion der Selbsterlösung, Buddha, trat auf: – wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Kultur! Wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die Macht der Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also die Moral im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt – ja was kommt dann? Doch raten wir nicht herum, sondern sehen wir zunächst zu, daß Europa nachholt, was in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden als Gebot des Denkens getan wurde! Es gibt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europas, welche nicht mehr »an Gott glauben«, – ist es zu viel gefordert, daß sie einander ein Zeichen geben? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch zu erkennen geben, – sie werden sofort eine Macht in Europa sein und, glücklicherweise, eine Macht zwischen den Völkern! Zwischen den Ständen! Zwischen Arm und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und den ruhigsten, beruhigendsten Menschen!“ (Ebd., 1881, S. 81-82).

 

Morgenröte 2. Buch

Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. – »Die Sittlichkeit leugnen« – das kann einmal heißen: leugnen, daß die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, – es ist also die Behauptung, daß die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. Sodann kann es heißen: leugnen, daß die sittlichen Urteile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, daß sie Motive des Handelns wirklich sind, daß aber auf diese Weise Irrtümer, als Grund alles sittlichen Urteilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Dies ist mein Gesichtspunkt: doch möchte ich am wenigsten verkennen, daß in sehr vielen Fällen ein feines Mißtrauen nach Art des ersten Gesichtspunktes, also im Geiste des Larochefoucauld, auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. – Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchimie leugne, das heißt ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, daß es Alchimisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. – Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, daß zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern daß es einen Grund in der Wahrheit gibt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht – vorausgesetzt, daß ich kein Narr bin –, daß viele Handlungen, welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, daß viele, die sittlich heißen, zu tun und zu fördern sind – aber ich meine: das eine wie das andere aus anderen Gründen als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen.“ (Ebd., 1881, S. 85-86).

Unsere Wertschätzungen. – Alle Handlungen gehen auf Wertschätzungen zurück, alle Wertschätzungen sind entweder eigene oder angenommene, – letztere bei weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht, – das heißt: wir halten es für ratsamer, uns so zu stellen, als ob sie auch die unsrigen wären – und gewöhnen uns an diese Verstellung, so daß sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Wertschätzung: das will besagen, eine Sache in bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem anderen Lust oder Unlust macht, – etwas äußerst Seltenes! – Aber wenigstens muß doch unsre Wertschätzung des anderen, in der das Motiv dafür liegt, daß wir uns in den meisten Fällen seiner Wertschätzung bedienen, von uns ausgehen, unsere eigene Bestimmung sein? Ja, aber als Kinder machen wir sie und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urteile in der Art, wie wir über unsre Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit) urteilen und es nötig finden, vor ihren Wertschätzungen zu huldigen.“ (Ebd., 1881, S. 86).

Der Schein-Egoismus. – Die allermeisten, was sie auch immer von ihrem »Egoismus« denken und sagen mögen, tun trotzdem ihr Leben lang nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgeteilt hat; – infolgedessen leben sie alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Wertschätzungen, einer immer im Kopfe des andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen: eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen Anschein zu geben weiß! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt; in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urteile über »den Menschen«, – alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstraktum »Mensch«, das heißt an eine Fiktion; und jede Veränderung, die mit diesem Abstraktum vorgenommen wird, durch die Urteile einzelner Mächtiger (wie Fürsten und Philosophen), wirkt außerordentlich und in unvernünftigem Maße auf die große Mehrzahl, – alles aus dem Grunde, daß jeder einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiktion entgegenzustellen und sie damit zu vernichten vermag.“ (Ebd., 1881, S. 86-87).

Gegen die Definitionen der moralischen Ziele. – Man hört allerwärts jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt: es sei die Erhaltung und Förderung der Menschheit; aber das heißt eine Formel haben wollen, und weiter nichts. Erhaltung, worin? muß man sofort dagegen fragen, Förderung, wohin? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin? und Wohin? in der Formel ausgelassen? Was läßt sich also mit ihr für die Pflichtenlehre festsetzen, was nicht schon, stillschweigend und gedankenlos, jetzt als festgesetzt gilt! Kann man aus ihr genügend absehen, ob man eine möglichst lange Existenz der Menschheit ins Auge zu fassen habe? Oder die möglichste Enttierung der Menschheit? Wie verschieden würden in beiden Fällen die Mittel, das heißt die praktische Moral, sein müssen! Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit geben: dies hieße gewiß nicht ihr die höchste ihr mögliche Dauer verbürgen! Oder gesetzt, man dächte an ihr »höchstes Glück« als das Wohin und Worin: meint man dann den höchsten Grad, den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten? Oder eine, übrigens gar nicht zu berechnende, letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit aller? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin? Ist nicht durch sie, im großen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen aufgetan worden, daß man eher urteilen könnte, mit jeder Verfeinerung der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und mit seinem Lose des Daseins unzufriedener geworden? Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit?“ (Ebd., 1881, S. 87-88).

„Es ist nicht wahr, daß die Moralität, wie das Vorurteil will, der Entwicklung der Vernunft günstiger sei als die Unmoralität. – Es ist nicht wahr, daß das unbewußte Ziel in der Entwicklung jedes bewußten Wesens (Tier, Mensch, Menschheit usw.) sein »höchstes Glück« sei: vielmehr gibt es auf allen Stufen der Entwicklung ein besonderes und unvergleichbares, weder höheres noch niederes, sondern eben eigentümliches Glück zu erlangen. Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwicklung und weiter nichts. – Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel hätte, könnte man vorschlagen »so und so soll gehandelt werden«: einstweilen gibt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral nicht in Beziehung zur Menschheit setzen, es ist dies Unvernunft und Spielerei. – Der Menschheit ein Ziel anempfehlen ist etwas ganz anderes: dann ist das Ziel als etwas gedacht, das in unserem Belieben ist; gesetzt, es beliebte der Menschheit so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich darauf hin auch ein Moralgesetz geben, ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher sollte das Moralgesetz über dem Belieben stehen: man wollte dies Gesetz sich nicht eigentlich geben, sondern es irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher es sich befehlen lassen.“ (Ebd., 1881, S. 120).

„Sokrates und Plato, in diesem Stücke große Zweifler und bewunderungswürdige Neuerer, waren doch harmlos gläubig in betreff jenes verhängnisvollsten Vorurteils, jenes tiefsten Irrtums, daß »der richtigen Erkenntnis die richtige Handlung folgen müsse«, – sie waren in diesem Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dünkels: daß es ein Wissen um das Wesen einer Handlung gebe. »Es wäre ja schrecklich, wenn der Einsicht in das Wesen der rechten Tat nicht die rechte Tat folgte«, – dies ist die einzige Art, wie jene Großen diesen Gedanken zu beweisen für nötig hielten, das Gegenteil schien ihnen undenkbar und toll – und doch ist dies Gegenteil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und stündlich bewiesene Wirklichkeit! Ist es nicht gerade die »schreckliche« Wahrheit: daß, was man von einer Tat überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu tun, daß die Brücke von der Erkenntnis zur Tat in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind niemals das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, daß die äußeren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, – nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso!“ (Ebd., 1881, S. 102-103).

Was ist denn der Nächste! – Was begreifen wir denn von unserm Nächsten als seine Grenzen, ich meine das, womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt ? Wir begreifen nichts von ihm als die Veränderungen an uns, deren Ursache er ist, – unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen geformten Raume. Wir legen ihm die Empfindungen bei, die seine Handlungen in uns hervorrufen, und geben ihm so eine falsche, umgekehrte Positivität. Wir bilden ihn nach unsrer Kenntnis von uns, zu einem Satelliten unsres eigenen Systems: und wenn er uns leuchtet oder sich verfinstert, und wir von beidem die letzte Ursache sind, – so glauben wir doch das Gegenteil! Welt der Phantome, in der wir leben! Verkehrte, umgestülpte, leere, und doch voll und gerade geträumte Welt!“ (Ebd., 1881, S. 105).

»Ursache und Wirkung!« – Auf diesem Spiegel – und unser Intellekt ist ein Spiegel – geht etwas vor, das Regelmäßigkeit zeigt, ein bestimmtes Ding folgt jedesmal wieder auf ein anderes bestimmtes Ding – das nennen wir, wenn wir es wahrnehmen und nennen wollen, Ursache und Wirkung, wir Toren! Als ob wir da irgend etwas begriffen hätten und begreifen könnten! Wir haben ja nichts gesehen als die Bilder von »Ursachen und Wirkungen«! Und eben diese Bildlichkeit macht ja die Einsicht in eine wesentlichere Verbindung, als die der Aufeinanderfolge ist, unmöglich!“ (Ebd., 1881, S. 109).

Die Zwecke in der Natur. – Wer, als unbefangener Forscher, der Geschichte des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muß zu dem großen Ergebnis kommen: daß das Sehen nicht die Absicht bei der Entstehung des Auges gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als der Zufall den Apparat zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel: und die »Zwecke« fallen uns wie Schuppen von den Augen!“ (Ebd., 1881, S. 110).

Vernunft. – Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist? Wie billig auf eine unvernünftige Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn erraten müssen wie ein Rätsel.“ (Ebd., 1881, S. 110).

Was ist Wollen! – Wir lachen über den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: »ich will, daß die Sonne aufgehe«; und über den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: »ich will, daß es rolle«; und über den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: »hier liege ich, aber ich will hier liegen!« Aber, trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders als einer von diesen dreien, wenn wir das Wort gebrauchen: »ich will«?“ (Ebd., 1881, S. 110).

Vom »Reiche der Freiheit«. – Wir können viel, viel mehr Dinge denken, als tun und erleben, – das heißt unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja es merkt sie nicht. Wäre unser Intellekt streng nach dem Maße unserer Kraft und unserer Übung der Kraft entwickelt, so würden wir den Grundsatz zu oberst in unserem Denken haben, daß wir nur begreifen können, was wir tun können, – wenn es überhaupt ein Begreifen gibt. Der Durstige entbehrt des Wassers, aber seine Gedankenbilder führen ihm unaufhörlich das Wasser vor die Augen, wie als ob nichts leichter zu beschaffen wäre, – die oberflächliche und leicht zufriedengestellte Art des Intellektes kann das eigentliche notleidende Bedürfnis nicht fassen und fühlt sich dabei überlegen: er ist stolz darauf, mehr zu können, schneller zu laufen, im Augenblick fast am Ziele zu sein, – und so erscheint das Reich der Gedanken im Vergleich mit dem Reiche des Tuns, Wollens und Erlebens als ein Reich der Freiheit: während es, wie gesagt, nur ein Reich der Oberfläche und der Genügsamkeit ist.“ (Ebd., 1881, S. 110-111).

Vergessen. – Daß es ein Vergessen gibt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, daß die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorläufig haben wir in diese Lücke unserer Macht jenes Wort »Vergessen« gesetzt: gleich als ob es ein Vermögen mehr im Register sei. Aber was steht zuletzt in unserer Macht! – Wenn jenes Wort in einer Lücke unserer Macht steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lücke unseres Wissens um unsere Macht stehen?“ (Ebd., 1881, S. 111).

Nach Zwecken. – Von allen Handlungen werden wohl am wenigsten die nach Zwecken verstanden, weil sie immer als die verständlichsten gegolten haben und für unser Bewußtsein das Alltäglichste sind. Die großen Probleme liegen auf der Gasse.“ (Ebd., 1881, S. 111).

Der Traum und die Verantwortlichkeit. – In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer – in diesen Komödien seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können, was wir träumen! Ich schließe daraus: daß die große Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume bewußt sein muß. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den Hochmut des Menschen ausgebeutet haben! – Muß ich hinzufügen, daß der weise Ödipus recht hatte, daß wir wirklich nicht für unsere Träume – aber ebensowenig für unser Wachen verantwortlich sind, und daß die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage dies vielleicht zu oft: aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrtum.“ (Ebd., 1881, S. 112).

Die moralischen Moden. – Wie sich die moralischen Gesamt-Urteile verschoben haben! Diese größten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wußten nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens an andere, des Lebens für andere; man würde sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften für ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht daß sie uns antworten würden: »habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder häßlichen Gegenstand, so denkt doch ja an andere mehr als an euch! Ihr tut gut daran!«“ (Ebd., 1881, S. 120).

„Aus dem allen folgt, daß, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Überlegenheit-Gebendes liegt; was beide Empfindungen auf ewig voneinander trennt.“ (Ebd., 1881, S. 125).

Angeblich höher! – Ihr sagt, die Moral des Mitleidens ist eine höhere Moral als die des Stoizismus? Beweist es! aber bemerkt, daß über »höher« und »niedriger« in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen abzumessen ist: denn es gibt keine absolute Moral. Nehmt also die Maßstäbe anderswo her und – nun seht euch vor!“ (Ebd., 1881, S. 126).

Wehe, wenn dieser Trieb erst wütet! – Gesetzt, der Trieb der Anhänglichkeit und Fürsorge für andere (die »sympathische Affektion«) wäre doppelt so stark, als er ist, so wäre es gar nicht auf der Erde auszuhalten. Man bedenke doch nur, was jeder aus Anhänglichkeit und Fürsorge für sich selber an Torheiten begeht, täglich und stündlich, und wie unausstehlich er dabei anzusehn ist: wie wäre es, wenn wir für andere das Objekt dieser Torheiten und Zudringlichkeiten wür den, mit denen sie sich bisher nur selber heimgesucht haben! Würde man dann nicht blindlings flüchten, sobald ein »Nächster« uns nahe käme? Und die sympathische Affektion mit ebenso bösen Worten belegen, mit denen wir jetzt den Egoismus belegen?“ (Ebd., 1881, S. 130).

»Unegoistisch!« – Jener ist hohl und will voll werden, dieser ist überfüllt und will sich ausleeren, – beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt man beidemal mit einem Worte: Liebe, – wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?“ (Ebd., 1881, S. 131).

„Dürfen wir unsern Nächsten nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln?“ (Ebd., 1881, S. 132).

„Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuopfern?“ (Ebd., 1881, S. 132).

„Warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? so daß ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nötig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für alle machen solle?“ (Ebd., 1881, S. 132).

„Endlich: wir teilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er sich als Opfer fühlen kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch über unser Mitleid hinweg gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist dies nicht eine höhere und freiere Haltung und Stimmung als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten wohl oder wehe tut? Wir dagegen würden doch durch das Opfer – in welchem wir und die Nächsten einbegriffen sind – das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht stärken und höher heben, gesetzt auch, daß wir nicht mehr erreichten. Aber schon dies wäre eine positive Vermehrung des Glücks. – Zuletzt, wenn dies sogar – – doch hier kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden.“ (Ebd., 1881, S. 132-133).

Ausblick in die Ferne. – Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl definiert hat, welche um des anderen willen und nur um seinetwillen getan werden, so gibt es keine moralischen Handlungen! Sind nur die Handlungen moralisch – wie eine andere Definition lautet –, welche in Freiheit des Willens getan werden, so gibt es ebenfalls keine moralischen Handlungen! – Und was ist also das, was man so nennt und das doch jedenfalls existiert und erklärt sein will? Es sind die Wirkungen einiger intellektuellen Fehlgriffe. – Und gesetzt, man machte sich von diesen Irrtümern frei, was würde aus den »moralischen Handlungen«? – Vermöge dieser Irrtümer teilten wir bisher einigen Handlungen einen höheren Wert zu, als sie haben: wir trennten sie von den »egoistischen« und den »unfreien« Handlungen ab. Wenn wir sie jetzt diesen wieder zuordnen, wie wir tun müssen, so verringern wir gewiß ihren Wert (ihr Wertgefühl), und zwar unter das billige Maß hinab, weil die »egoistischen« und »unfreien« Handlungen bisher zu niedrig geschätzt wurden, auf Grund jener angeblichen tiefsten und innerlichsten Verschiedenheit. – So werden gerade sie von jetzt ab weniger oft getan werden, weil sie von nun an weniger geschätzt werden? – Unvermeidlich! Wenigstens für eine gute Zeit, solange die Waage des Wertgefühls unter der Reaktion früherer Fehler steht! Aber unsere Gegenrechnung ist die, daß wir den Menschen den guten Mut zu den als egoistisch verschrienen Handlungen zurückgeben und den Wert derselben wiederherstellen, – wir rauben diesen das böse Gewissen! Und da diese bisher weit die häufigsten waren und in alle Zukunft es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde der Handlungen und des Lebens seinen bösen Anschein! Dies ist ein sehr hohes Ergebnis! Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf, es zu sein!“ (Ebd., 1881, S. 133-134).

 

Morgenröte 3. Buch

Kleine abweichende Handlungen tun not! – In den Angelegenheiten der Sitte auch einmal wider seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie alle und damit allen eine Artigkeit und Wohltat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für das Abweichende unserer Meinungen: – das gilt bei vielen leidlich freigesinnten Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als »honett«, »human«, »tolerant«, »nicht pedantisch«, und wie die schönen Worte lauten mögen, mit denen das intellektuelle Gewissen in Schlaf gesungen wird: und so bringt dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei Atheist, und jener tut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhaß verdammt, und ein dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne sich zu schämen. »Es ist nicht wesentlich, wenn unsereiner auch tut, was alle immerdar tun und getan haben« – so klingt das grobe Vorurteil! Der grobe Irrtum! Denn es gibt nichts Wesentlicheres, als wenn das bereits Mächtige, Altherkömm liche und vernunftlos Anerkannte durch die Handlung eines anerkannt Vernünftigen noch einmal bestätigt wird: damit erhält es in den Augen aller die davon hören, die Sanktion der Vernunft selber! Alle Achtung vor euren Meinungen! Aber kleine abweichende Handlungen sind mehr wert!“ (Ebd., 1881, S. 135).

Der Zufall der Ehen. – Wäre ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott, so würden mich die Ehen der Menschen mehr als alles andere ungeduldig machen. Weit, weit kann ein einzelner vorwärts kommen, in seinen siebenzig, ja in seinen dreißig Jahren – es ist zum Erstaunen, selbst für Götter! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermächtnis dieses Ringens und Siegens, den Lorbeer seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort aufhängt, wo ihn ein Weiblein zerpflückt: sieht man, wie gut er zu erringen, wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, daß er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten könne: so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich »es kann aus der Menschheit auf die Dauer nichts werden, die einzelnen werden verschwendet, der Zufall der Ehen macht alle Vernunft eines großen Ganges der Menschheit unmöglich – hören wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels ohne Ziel zu sein!« – In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Götter Epikurs in ihre göttliche Stille und Seligkeit zurück: sie waren der Menschen und ihrer Liebeshändel müde.“ (Ebd., 1881, S. 135-136).

Hier sind neue Ideale zu erfinden. – Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande der Verliebtheit einen Entschluß über sein Leben zu fassen und einer heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein für allemal festzusetzen: man sollte die Schwüre der Liebenden öffentlich für ungültig erklären und ihnen die Ehe verweigern: – und zwar, weil man die Ehe unsäglich wichtiger nehmen sollte! so daß sie in solchen Fällen, wo sie bisher zustande kam, für gewöhnlich gerade nicht zustande käme! Sind nicht die meisten Ehen der Art, daß man keinen dritten als Zeugen wünscht? Und gerade dieser dritte fehlt fast nie – das Kind – und ist mehr als ein Zeuge, nämlich der Sündenbock!“ (Ebd., 1881, S. 136).

Eidformel. – »Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch mehr, und jeder soll es mir ins Gesicht sagen dürfen.« – Diese Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der üblichen Anrufung Gottes dabei: sie ist stärker. Auch der Fromme hat keinen Grund, sich ihr zu widersetzen: sobald nämlich der bisherige Eid nicht mehr hinreichend nützt, muß der Fromme auf seinen Katechismus hören, welcher vorschreibt »du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht unnützlich führen!«“ (Ebd., 1881, S. 137).

Ein Unzufriedener. – Das ist einer jener alten Tapferen: er ärgert sich über die Zivilisation, weil er meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge, Ehren, Schätze, schöne Weiber – auch den Feigen zugänglich zu machen.“ (Ebd., 1881, S. 137).

Trost der Gefährdeten. – Die Griechen, in einem Leben, welches großen Gefahren und Umstürzen sehr nahe stand, suchten im Nachdenken und Erkennen eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes refugium. Wir, in einem unvergleichlich sichreren Zustande, haben die Gefährlichkeit ins Nachdenken und Erkennen getragen und erholen und beruhigen uns von ihr am Leben.“ (Ebd., 1881, S. 138).

Erloschene Skepsis. – Kühne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener als in der alten und mittelalterlichen – wahrscheinlich deshalb, weil die neue Zeit nicht mehr den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das heißt: wir sind dazu unfähig geworden, an eine uns bestimmte Zukunft zu glauben, so wie die Alten glaubten, welche – anders als wir – in Beziehung auf das, was kommt, viel weniger Skeptiker waren als in Beziehung auf das, was da ist.“ (Ebd., 1881, S. 138).

Aus Übermut böse. – »Daß wir uns nur nicht zu wohl fühlen!« – das war die heimliche Herzensangst der Griechen in der guten Zeit. Deshalb predigten sie sich das Maß. Und wir!“ (Ebd., 1881, S. 138).

Kultus der »Naturlaute«. – Wohin weist es, daß unsre Kultur gegen die Äußerungen des Schmerzes, gegen Tränen, Klagen, Vorwürfe, Gebärden der Wut oder der Demütigung, nicht nur geduldig ist, daß sie dieselben gut heißt und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet? – während der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah und ihnen durchaus keine Notwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie Plato – das heißt: keiner von den unmenschlichsten Philosophen – von dem Philoktet der tragischen Bühne redet. Sollte unsrer modernen Kultur vielleicht »die Philosophie« fehlen? Sollten wir, nach der Abschätzung jener alten Philosophen, vielleicht samt und sonders zum »Pöbel« gehören?“ (Ebd., 1881, S. 138).

Klima des Schmeichlers. – Die hündischen Schmeichler muß man jetzt nicht mehr in der Nähe der Fürsten suchen – diese haben alle den militärischen Geschmack, und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der Nähe der Bankiers und Künstler wächst jene Blume auch jetzt noch.“ (Ebd., 1881, S. 139).

Die Totenerwecker. – Eitle Menschen schätzen ein Stück Vergangenheit von dem Augenblick an höher, von dem an sie es nachzuempfinden vermögen (zumal wenn dies schwierig ist), ja sie wollen es womöglich jetzt wieder von den Toten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der Tat nicht gering: es wird zu viel Kraft an alle möglichen Toten-Erweckungen weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten aus diesem Gesichtspunkte.“ (Ebd., 1881, S. 139).

Eitel, begehrlich und wenig weise. – Eure Begierden sind größer als euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch größer als eure Begierden – solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus recht viel christliche Praxis und dazu ein wenig Schopenhauersche Theorie anzuraten!“ (Ebd., 1881, S. 139).

Schönheit gemäß dem Zeitalter. – Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so müssen sie die Schönheit gedunsen, riesenhaft und nervös bilden: so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maßes, die Schönheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich häßlich nennen! Aber die albernen »Klassizisten« haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht!“ (Ebd., 1881, S. 150).

Die Ironie der Gegenwärtigen. – Augenblicklich ist es Europäer-Art, alle großen Interessen mit Ironie zu behandeln, weil man vor Geschäftigkeit in ihrem Dienste keine Zeit hat, sie ernst zu nehmen.“ (Ebd., 1881, S. 150).

Gegen Rousseau. – Wenn es wahr ist, daß unsre Zivilisation etwas Erbärmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschließen »diese erbärmliche Zivilisation ist Schuld an unsrer schlechten Moralität«, oder gegen Rousseau zurückzuschließen »unsere gute Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Zivilisation. Unsere schwachen, unmännlichen, gesellschaftlichen Begriffe von Gut und Böse und die ungeheure Überherrschaft derselben über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer starken Zivilisation, zerbrochen: wo man der schlechten Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser Pfeiler.« So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von beiden? Man prüfe.“ (Ebd., 1881, S. 150-141).

Vielleicht verfrüht. – Gegenwärtig scheint es so, daß unter allerhand falschen, irreführenden Namen und zumeist in großer Unklarheit, von seiten derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisieren und damit sich ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrien, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend lebten. Dies sollte man im ganzen und großen billig und gut finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und jedem das Gewehr um die Schulter hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, daß es keine allein-moralisch-machende Moral gibt und daß jede ausschließlich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tötet und der Menschheit zu teuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Taten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheure Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden – diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden!“ (Ebd., 1881, S. 141).

Welche Moral nicht langweilt. – Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich immer wieder lehren und vorpredigen läßt, stehen in Beziehung zu seinen Hauptfehlern, und deshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen die Mäßigung, der kalte Mut, der gerechte Sinn und überhaupt die Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier sokratischen Tugenden – denn man hatte sie so nötig und doch gerade für sie so wenig Talent!“ (Ebd., 1881, S. 142).

Scheidewege. – Pfui! Ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muß, voll und ganz, oder unter die Räder gerät! Wo es sich von selber versteht, daß jeder das ist, wozu er von oben her gemacht wird! Wo das Suchen nach »Konnexion« zu den natürlichen Pflichten gehört! Wo keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam gemacht wird »er kann Ihnen einmal nützen«! Wo man sich nicht schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten! Wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferware der Natur bezeichnet hat, welche andre verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür verantwortlich zu fühlen; gleich als ob man sagte: »an solcher Art, wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstände!«“ (Ebd., 1881, S. 150).

Die unbedingten Huldigungen. – Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehörtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke: so muß ich mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der unbedingten Gefühle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen großen Männern. Es gibt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen: jedesmal einen Strom, in seinem eignen, selbstgegrabenen Strombette, und so mächtig bewegt, daß es öfter scheinen könnte, als wollte er den Berg hinaufströmen. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben möge: wer möchte nicht gern andrer Meinung sein als Schopenhauer, im ganzen und großen! – Und wer könnte jetzt einer Meinung mit Richard Wagner sein, im ganzen und im kleinen? so wahr es auch sein mag, was jemand gesagt hat, daß überall, wo er Anstoß nimmt und wo er Anstoß gibt, ein Problem vergraben liegt, – genug, er selber bringt es nicht an das Licht. – Und endlich, wie viele möchten von ganzem Herzen mit Bismarck einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es fürderhin zu sein! Zwar: ohne Grundsätze, aber mit Grundtrieben, ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben deshalb ohne Grundsätze – das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben, vielmehr als das Rechte und Naturgemäße gelten; aber leider war es bisher so durchaus nicht deutsch! ebenso wenig als Lärm um Musik und Mißklang und Mißmut um den Musiker, ebenso wenig als die neue und außerordentliche Stellung, welche Schopenhauer wählte: nämlich weder über den Dingen, noch auf den Knien vor den Dingen – beides hätte noch deutsch heißen können –, sondern gegen die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich in eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guter Letzt gar als der Gegner seiner selber! – was kann der unbedingte Verehrer mit einem solchen Vorbilde anfangen! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern, die untereinander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagners, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarcks, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu tun! Wohin sich mit seinem Durste nach der »Huldigung in Bausch und Bogen« flüchten! Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Takte guter Musik auslesen, die sich einem ans Herz legen und denen man sich gern ans Herz legt, weil sie ein Herz haben, – könnte man mit diesem kleinen Raub beiseite gehen und den ganzen Rest – vergessen! Und ein eben solches Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen – auslesen, sich ans Herz legen und namentlich den Rest vergessen! Ja, wenn nur das Vergessen nicht so schwer wäre! Da gab es einen sehr stolzen Menschen, der durchaus nur von sich selber etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als er aber das Vergessen nötig hatte, konnte er es sich selber nicht geben, sondern mußte dreimal die Geister beschwören; sie kamen, sie hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie: »nur dies gerade steht nicht in unserer Macht!« Sollten die Deutschen sich die Erfahrung Manfreds nicht zunutze machen? Warum erst noch die Geister beschwören! Es ist unnütz, man vergißt nicht, wenn man vergessen will.“ (Ebd., 1881, S. 142-144).

Ein Vorbild. – Was liebe ich an Thukydides, was macht, daß ich ihn höher ehre als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, daß zu jedem Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu entdecken. Er hat eine größere praktische Gerechtigkeit als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe getan haben. Im Gegenteil: er sieht etwas Großes in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht; was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen, was nicht typisch wäre! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene Kultur der unbefangensten Weltkenntnis zu einem letzten herrlichen Ausblühen, welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Kultur, welche auf den Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, getauft zu werden verdient und leider von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blaß und unfaßbar zu werden beginnt, – denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr unsittliche Kultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen Schulen kämpfte! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, daß es Widerwillen macht, sie aufzudröseln: so laufe der alte Irrtum (error veritate simplicior) seinen alten Weg!“ (Ebd., 1881, S. 145).

Das Griechische uns sehr fremd. – Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europäisch: im Verhältnis zum Griechischen ist diesem allen die Massenhaftigkeit und der Genuß an der großen Quantität als der Sprache des Erhabenen zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und Athen und vor der ganzen griechischen Architektur so erstaunt darüber wird, mit wie kleinen Massen die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen lieben. – Ebenfalls: wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber in ihrer Vorstellung! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntnis! Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsre Vorstellungen von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) – so müßte das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende Musik läßt es schon erraten! (In der Musik nämlich lassen sich die Menschen gehen, weil sie wähnen, es sei niemand da, der sie selber unter ihrer Musik zu sehen vermöge.)“ (Ebd., 1881, S. 146).

Andere Perspektive des Gefühls. – Was ist unser Geschwätz von den Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele – die Leidenschaft für die männliche nackte Schönheit ist! Erst von da aus empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine völlig andere Perspektive als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders.“ (Ebd., 1881, S. 146).

Tragödie und Musik. – Männer in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemüts, wie zum Beispiel die Griechen in der Zeit des Äschylus, sind schwer zu rühren, und wenn das Mitleiden einmal über ihre Härte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer »dämonischen Gewalt«, – sie fühlen sich dann unfrei und von einem religiösen Schauder erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand; solange sie in ihm sind, genießen sie das Entzücken des Außer-sich-seins und des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermut des Leidens: es ist das so recht ein Getränk für Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und Bittersüßes, das einem nicht leicht zuteil wird. – An Seelen, die so das Mitleiden empfinden, wendet sich die Tragödie, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nütze ist, von Zeit zu Zeit erweicht zu werden: aber was soll die Tragödie denen, welche den »sympathischen Affektionen« offenstehen wie die Segel den Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer geworden waren, zur Zeit Platos – ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit unserer Groß-und Kleinstädter! – aber doch klagten schon die Philosophen über die Schädlichkeit der Tragödie. Ein Zeitalter voller Gefahren wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit im Preise steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen wieder so hart machen, daß tragische Dichter ihnen not tun: einstweilen aber waren diese ein wenig überflüssig, – um das mildeste Wort zu gebrauchen. – So kommt vielleicht auch für die Musik noch einmal das bessere Zeitalter (gewiß wird es das bösere sein!) dann, wenn die Künstler sich mit ihr an streng persönliche, in sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden haben: aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersönlichen, neugierigen und nach allem lüsternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters!“ (Ebd., 1881, S. 147-148).

Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. – Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode: »moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für andere« sehe ich einen sozialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellektuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, daß dem Leben alle Gefährlichkeit genommen werde, welche es früher hatte, und daß daran jeder und mit allen Kräften helfen solle: deshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädikat »gut« bekommen! – Wie wenig Freude müssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden Notstand, für jedes Leiden anderwärts Luchsaugen zu haben! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen Affektionen? – Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem andern mehr nützt, indem man ihm unmittelbar fortwährend beispringt und hilft – was doch nur sehr oberflächlich geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen Übergreifen und Umbilden wird – oder indem man aus sich selber etwas formt, was der andre mit Genuß sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstraßen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat.“ (Ebd., 1881, S. 149-150).

Grundgedanke einer Kultur der Handeltreibenden. – Man sieht jetzt mehrfach die Kultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebensosehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die ältern Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht alles zu taxieren, ohne es zu machen, und zwar zu taxieren nach dem Bedürfnisse der Konsumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse; »wer und wie viele konsumieren dies?« ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinktiv und immerwährend an: auf alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, um für sich den Wert einer Sache festzusetzen. Dies zum Charakter einer ganzen Kultur gemacht, bis ins Unbegrenzte und Feinste durchgedacht und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden Klasse Recht haben dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben an diese Propheten. Credat Judaeus Apella – mit Horaz zu reden.“ (Ebd., 1881, S. 150).

„Unser Zeitalter, soviel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist.“ (Ebd., 1881, S. 153).

Regieren. – Die einen regieren, aus Lust am Regieren; die andern, um nicht regiert zu werden: – diesen ist es nur das geringere von zwei Übeln.“ (Ebd., 1881, S. 153).

Die sogenannte klassische Erziehung. – Zu entdecken, daß unser Leben der Erkenntnis geweiht ist; daß wir es wegwerfen würden, nein! daß wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorspreche gibt:
»Schicksal, ich folge dir! Und wollt ich nicht,
ich müßt' es doch und unter Seufzen tun!«“
(Ebd., 1881, S. 163).

„Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als daß alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich, ja kaum zugänglich ist, und daß die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. “ (Ebd., 1881, S. 165).

„Bei manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der Tat als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgendeines dämonischen Wesens, welches sich ihm infolge einer Schuld einverleibt hat, – da heißt es: jeder Kranke ist ein Schuldiger! Und wir – sollten wir noch nicht reif für die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dürfen: jeder »Schuldige« ist ein Kranker? – Nein, die Stunde dafür ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor allem die Ärzte, für welche das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst und Heilwissenschaft umgewandelt haben muß; noch fehlt allgemein jenes hungrige Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird; noch sind die Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen und höheren Schulen; noch gibt es keine stillen Vereine solcher, welche sich untereinander verpflichtet haben, auf die Hilfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Übeltätern zu verzichten; noch hat kein Denker den Mut gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer, welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte: »willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneußt dein der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, – es geneußt dein alle Kreatur.«“ (Ebd., 1881, S. 173-174).

 

Morgenröte 4. Buch

Gewissensfrage. – »Und in summa: was wollt ihr eigentlich neues?« – Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sündern und die Folgen zu Henkern machen.“ (Ebd., 1881, S. 185).

Die Nützlichkeit der strengsten Theorien. – Man sieht einem Menschen viele Schwächen der Moralität nach und handhabt dabei ein grobes Sieb, vorausgesetzt, daß er sich immer zur strengsten Theorie der Moral bekennt! Dagegen hat man das Leben der freigeistischen Moralisten immer unter das Mikroskop gestellt: mit dem Hintergedanken, daß ein Fehltritt des Lebens das sicherste Argument gegen eine unwillkommene Erkenntnis sei.“ (Ebd., 1881, S. 185).

Moral der Opfertiere. – »Sich begeistert hingeben«, »sich selber zum Opfer bringen« – das sind die Stichworte eurer Moral, und ich glaube es gerne, daß ihr, wie ihr sagt, »es damit ehrlich meint«: nur kenne ich euch besser, als ihr euch kennt, wenn eure »Ehrlichkeit« mit einer solchen Moral Arm in Arm zu gehen vermag. Ihr seht von der Höhe derselben herab auf jene andere nüchterne Moral, welche Selbstbeherrschung, Strenge, Gehorsam fordert, ihr nennt sie wohl gar egoistisch, und gewiß! – ihr seid ehrlich gegen euch, wenn sie euch mißfällt, – sie muß euch mißfallen! Denn indem ihr euch begeistert hingebt und aus euch ein Opfer macht, genießt ihr jenen Rausch des Gedankens nunmehr eins zu sein mit dem Mächtigen, sei es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr euch weiht: ihr schwelgt in dem Gefühle seiner Macht die eben wieder durch ein Opfer bezeugt ist. In Wahrheit scheint ihr euch nur zu opfern, ihr wandelt euch vielmehr in Gedanken zu Göttern um und genießt euch als solche. Von diesem Genusse aus gerechnet – wie schwach und arm dünkt euch jene »egoistische« Moral des Gehorsams, der Pflicht, der Vernünftigkeit: sie mißfällt euch, weil hier wirklich geopfert und hingegeben werden muß, ohne daß der Opferer sich in einen Gott verwandelt wähnt, wie ihr wähnt. Kurz, ihr wollt den Rausch und das Übermaß, und jene von euch verachtete Moral hebt den Finger auf gegen Rausch und Übermaß – ich glaube euch wohl, daß sie euch Mißbehagen macht!“ (Ebd., 1881, S. 188).

Das »Erhebende« am Unglück des Nächsten. – Er ist im Unglück, und nun kommen die »Mitleidigen« und malen ihm sein Unglück aus – endlich gehen sie befriedigt und erhoben fort: sie haben sich an dem Entsetzen des Unglücklichen wie an dem eignen Entsetzen geweidet und sich einen guten Nachmittag gemacht.“ (Ebd., 1881, S. 192).

Kettenträger. – Vorsicht vor allen Geistern, die an Ketten liegen! Zum Beispiel vor den klugen Frauen, welche ihr Schicksal in eine kleine, dumpfe Umgebung gebannt hat, und die darin alt werden. Zwar liegen sie scheinbar träge und halb blind in der Sonne da: aber bei jedem fremden Tritt, bei allem Unvermuteten fahren sie auf, um zu beißen, sie nehmen an allem Rache, was ihrer Hundehütte entkommen ist.“ (Ebd., 1881, S. 193).

Furcht und Intelligenz. – Wenn es wahr ist, was man jetzt des Bestimmtesten behauptet, daß die Ursache des schwarzen Hautpigments nicht im Lichte zu suchen sei: könnte es vielleicht die letzte Wirkung häufiger und durch Jahrtausende gehäufter Wutanfälle sein (und Blutunterströmungen der Haut)? Während bei anderen intelligenteren Stämmen das ebensohäufige Erschrecken und Bleichwerden endlich die weiße Hautfarbe ergeben hätte? – Denn der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz: und sich oft der blinden Wut überlassen das Zeichen davon, daß die Tierheit noch ganz nahe ist und sich wieder durchsetzen möchte. – Braun-grau wäre also wohl die Urfarbe des Menschen – etwas Affen- und Bärenhaftes, wie billig.“ (Ebd., 1881, S. 199).

Der Dämon der Macht. – Nicht die Notdurft, nicht die Begierde - nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen. Man gebe ihnen alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung - sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt sein. Man nehme ihnen alles und befriedige diesen: so sind sie beinahe glücklich - so glücklich, als eben Menschen und Dämonen sein können. Aber warum sage ich dies noch? Luther hat es schon gesagt, und besser als ich, in den Versen: »Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr’, Kind und Weib: lass fahren dahin - das Reich muss uns doch bleiben!« Ja! Ja! Das »Reich«!“ (Ebd., 1881, S. 207).

Das Theater hat seine Zeit. – Wenn die Phantasie eines Volkes nachläßt, entsteht der Hang in ihm, seine Sagen sich auf der Bühne vorführen zu lassen, jetzt erträgt es die groben Ersatzstücke der Phantasie – aber für jenes Zeitalter, dem der epische Rhapsode zugehört, ist das Theater und der als Held verkleidete Schauspieler ein Hemmschuh anstatt ein Flügel der Phantasie: zu nah, zu bestimmt, zu schwer, zu wenig Traum und Vogelflug.“ (Ebd., 1881, S. 208).

Zwei Freunde. – Es waren Freunde, aber sie haben aufgehört, es zu sein, und sie knüpften von beiden Seiten zugleich ihre Freundschaft los, der eine, weil er sich zu sehr verkannt glaubte, der andere, weil er sich zu sehr erkannt glaubte, – und beide haben sich dabei getäuscht! – denn jeder von ihnen kannte sich selber nicht genug.“ (Ebd., 1881, S. 216).

Griechisches Ideal. – Was bewunderten die Griechen an Odysseus? Vor allem die Fähigkeit zur Lüge und zur listigen und furchtbaren Wiedervergeltung; den Umständen gewachsen sein; wenn es gilt, edler erscheinen als der Edelste; sein können, was man will; heldenhafte Beharrlichkeit; sich alle Mittel zu Gebote stellen; Geist haben – sein Geist ist die Bewunderung der Götter, sie lächeln, wenn sie daran denken –: dies alles ist griechisches Ideal! Das Merkwürdigste daran ist, daß hier der Gegensatz von Scheinen und Sein gar nicht gefühlt und also auch nicht sittlich angerechnet wird. Gab es je so gründliche Schauspieler!“ (Ebd., 1881, S. 223).

Furcht und Liebe. – Die Furcht hat die allgemeine Einsicht über den Menschen mehr gefördert als die Liebe, denn die Furcht will erraten, wer der andre ist, was er kann, was er will: sich hierin zu täuschen wäre Gefahr und Nachteil. Umgekehrt hat die Liebe einen geheimen Impuls, in dem andern so viel Schönes als möglich zu sehen oder ihn sich so hoch als möglich zu heben: sich dabei zu täuschen, wäre für sie eine Lust und ein Vorteil – und so tut sie es.“ (Ebd., 1881, S. 224).

Die Gutmütigen. – Die Gutmütigen haben ihr Wesen durch die beständige Furcht erlangt, welche ihre Voreltern vor fremden Übergriffen gehabt haben, – sie milderten, beschwichtigten, baten ab, beugten vor, zerstreuten, schmeichelten, duckten sich, verbargen den Schmerz, den Verdruß, glätteten sofort wieder ihre Züge – und zuletzt vererbten sie diesen ganzen zarten und wohlgespielten Mechanismus auf ihre Kinder und Enkel. Diesen gab ein günstigeres Geschick keinen Anlaß zu jener beständigen Furcht: nichtsdestoweniger spielen sie beständig auf ihrem Instrumente“ (Ebd., 1881, S. 224-225).

Schwache Sekten. – Die Sekten, welche fühlen, daß sie schwach bleiben werden, machen Jagd auf einzelne intelligente Anhänger und wollen durch Qualität ersetzen, was ihnen an Quantität abgeht. Hierin liegt keine geringe Gefahr für die Intelligenten.“ (Ebd., 1881, S. 226).

Das Urteil des Abends. – Wer über sein Tages- und Lebenswerk nachdenkt, wenn er am Ende und müde ist, kommt gewöhnlich zu einer melancholischen Betrachtung: das liegt aber nicht am Tage und am Leben, sondern an der Müdigkeit. – Mitten im Schaffen nehmen wir uns gewöhnlich keine Zeit zu urteilen über das Leben und das Dasein, und mitten im Genießen auch nicht: kommt es aber einmal doch dazu, so geben wir dem nicht mehr recht, welcher auf den siebenten Tag und die Ruhe wartete, um alles, was da ist, sehr schön zu finden, – er hatte den besseren Augenblick verpaßt.“ (Ebd., 1881, S. 227).

Gastfreundschaft. – Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist: das Feindliche im Fremden zu lähmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind empfindet, nimmt die Gastfreundschaft ab; sie blüht, so lange ihre böse Voraussetzung blüht“ (Ebd., 1881, S. 227).

Womöglich ohne Arzt leben. – Es will mir scheinen, als ob ein Kranker leichtsinniger sei, wenn er einen Arzt hat, als wenn er selber seine Gesundheit besorgt. Im ersten Falle genügt es ihm, streng in bezug auf alles Vorgeschriebene zu sein; im andern Falle fassen wir das, worauf jene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit, mit mehr Gewissen ins Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbieten uns viel mehr, als auf Veranlassung des Arztes geschehen würde. – Alle Regeln haben diese Wirkung: vom Zwecke hinter der Regel abzuziehen und leichtsinniger zu machen. – Und wie würde der Leichtsinn der Menschheit ins Unbändige und Zerstörerische gestiegen sein, wenn sie jemals vollkommen ehrlich der Gottheit als ihrem Arzte alles überlassen hätte, nach dem Worte »wie Gott will«! “ (Ebd., 1881, S. 229).

Der Wohltätige. – Der Wohltätige befriedigt ein Bedürfnis seines Gemüts, wenn er wohltut. Je stärker dieses Bedürfnis ist, um so weniger denkt er sich in den andern hinein, der ihm dient, sein Bedürfnis zu stillen, er wird unzart und beleidigt unter Umständen. (Dies sagt man der jüdischen Wohltätigkeit und Barmherzigkeit nach: welche bekanntlich etwas hitziger ist als die andrer Völker.)“ (Ebd., 1881, S. 234).

Redefreiheit. – »Die Wahrheit muß gesagt werden, und wenn die Welt in Stücke gehen sollte!« – so ruft, mit großem Munde, der große Fichte! – Ja! Ja! Aber man müßte sie auch haben! – Aber er meint, jeder solle seine Meinung sagen, und wenn alles drunter und drüber ginge. Darüber ließe sich mit ihm noch rechten.“ (Ebd., 1881, S. 240).

Keine Utilitarier. – »Die Macht, der viel Böses angetan und angedacht wird, ist mehr wert als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfährt«, – so empfanden die Griechen. Das heißt: das Gefühl der Macht wurde von ihnen höher geschätzt als irgendein Nutzen oder guter Ruf.“ (Ebd., 1881, S. 242).

Gefährliche Tugenden. – »Er vergißt nichts, aber er vergibt alles.« – Dann wird er doppelt gehaßt, denn er beschämt doppelt, mit seinem Gedächtnis und mit seiner Großmut“ (Ebd., 1881, S. 252).

Die Ängstlichen. – Gerade die ungeschickten ängstlichen Wesen werden leicht zu Totschlägern: sie verstehen die kleine zweckentsprechende Verteidigung oder Rache nicht, ihr Haß weiß aus Mangel an Geist und Geistesgegenwart keinen andern Ausweg als die Vernichtung.“ (Ebd., 1881, S. 256).

Ohne Haß. – Du willst von deiner Leidenschaft Abschied nehmen? Tue es, aber ohne Haß gegen sie! Sonst hast du eine zweite Leidenschaft. – Die Seele des Christen, die sich von der Sünde freigemacht hat, wird gewöhnlich hinterher durch den Haß gegen die Sünde ruiniert. Sieh die Gesichter der großen Christen an! Es sind die Gesichter von großen Hassern“ (Ebd., 1881, S. 256).

Remedium amoris. – Immer noch hilft gegen die Liebe in den meisten Fällen jenes alte Radikalmittel: die Gegenliebe.“ (Ebd., 1881, S. 257).

Grenze aller Demut. – Zu der Demut, welche spricht: credo quia absurdum est, und ihre Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl schon mancher: aber keiner, so viel ich weiß, bis zu jener Demut, die doch nur einen Schritt davon entfernt ist und welche spricht: credo quia absurdus sum.“ (Ebd., 1881, S. 258).

 

Morgenröte 5. Buch

Für wen die Wahrheit da ist. – Bis jetzt sind die Irrtümer die trostreichen Mächte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten dieselbe Wirkung und wartet ein wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade dies – zu trösten – nicht zu leisten vermöchten? – Wäre dies denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zuständen leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, daß sie gerade ihnen nützlich sein müßten? Es ist doch kein Beweis gegen die Wahrheit einer Pflanze, wenn festgestellt wird, daß sie zur Genesung kranker Menschen nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, daß man ohne weiteres annahm, es könne auch durch die Erkenntnis nichts aufgedeckt werden, was nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es könne, es dürfe gar keine anderen Dinge geben. – Vielleicht folgt aus alledem der Satz, daß die Wahrheit als Ganzes und Zusammenhängendes nur für die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedenvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur imstande sein werden, sie zu suchen: denn die anderen suchen Heilmittel für sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellekt und dessen Freiheit denken, – sie suchen nicht die Wahrheit. Daher kommt es, daß diese anderen so wenig echte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist dies das Urteil der Kranken über die Spiele der Gesunden. – Auch die griechischen Götter verstanden nicht zu trösten; als endlich auch die griechischen Menschen allesamt krank wurden, war dies ein Grund zum Untergang solcher Götter.“ (Ebd., 1881, S. 261-262).

Farbenblindheit der Denker. – Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen, wie man sich eingestehen muß, das Auge für Blau und Grün blind war, und sie statt des ersteren ein tieferes Braun, statt des zweiten ein Gelb sahen (wenn sie also mit gleichem Worte zum Beispiel die Farbe des dunklen Haares, die der Kornblume und die des südländischen Meeres bezeichneten, und wiederum mit gleichem Worte die Farbe der grünsten Gewächse und der menschlichen Haut, des Honigs und der gelben Harze: so daß ihre größten Maler bezeugtermaßen ihre Welt nur mit Schwarz, Weiß, Rot und Gelb wiedergegeben haben), – wie anders und wie viel näher an den Menschen gerückt mußte ihnen die Natur erscheinen, weil in ihrem Auge die Farben des Menschen auch in der Natur überwogen, und diese gleichsam in dem Farbenäther der Menschheit schwamm! (Blau und Grün entmenschlichen die Natur mehr, als alles andere.) Auf diesem Mangel ist die spielende Leichtigkeit, welche die Griechen auszeichnet, Naturvorgänge als Götter und Halbgötter, das heißt als menschartige Gestalten zu sehen, großgewachsen. – Dies sei aber nur das Gleichnis für eine weitere Vermutung. Jeder Denker malt seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, als es gibt, und ist gegen einzelne Farben blind. Dies ist nicht nur ein Mangel. Er sieht vermöge dieser Annäherung und Vereinfachung Harmonien der Farben in die Dinge hinein, welche einen großen Reiz haben und eine Bereicherung der Natur ausmachen können. Vielleicht ist dies sogar der Weg gewesen, auf dem die Menschheit den Genuß im Anblick des Daseins erst gelernt hat: dadurch, daß ihr dieses Dasein zunächst in einem oder zwei Farbtönen und dadurch harmonisiert vorgeführt wurde: sie übte sich gleichsam auf diese wenigen Töne ein, bevor sie zu mehreren übergehen konnte. Und noch jetzt arbeitet sich mancher einzelne aus einer teilweisen Farbenblindheit in ein reicheres Sehen und Unterscheiden hinaus: wobei er aber nicht nur neue Genüsse findet, sondern immer auch einige der früheren aufgeben und verlieren muß.“ (Ebd., 1881, S. 262-263).

Die Verschönerung der Wissenschaft. – Wie die Rokoko-Gartenkunst entstand, aus dem Gefühl »die Natur ist häßlich, wild, langweilig – auf! wir wollen sie verschönern!«, – so entsteht aus dem Gefühl »die Wissenschaft ist häßlich, trocken, trostlos, schwierig, langwierig – auf! laßt uns sie verschönern!« immer wieder etwas, das sich die Philosophie nennt. Sie will, was alle Künste und Dichtungen wollen, – vor allem unterhalten: sie will dies aber, gemäß ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und höheren Art, vor einer Auswahl von Geistern. Für diese eine Gartenkunst zu schaffen, deren Hauptreiz wie bei jener »gemeineren« die Täuschung der Augen ist (durch Tempel, Fernblicke, Grotten, Irrpfade, Wasserfälle, um im Gleichnisse zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei wunderbaren und plötzlichen Beleuchtungen vorzuführen und so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, daß man in ihr »wie in der wilden Natur« und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne, – das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, träumt sogar davon, auf diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat. – Dies geht nun seinen Gang und erreicht eines Tages seine hohe Flut: jetzt schon beginnen die Gegenstimmen gegen die Philosophie laut zu werden, welche rufen »Rückkehr zur Wissenschaft! Zur Natur und Natürlichkeit der Wissenschaft!« – womit vielleicht ein Zeitalter anhebt, das die mächtigste Schönheit gerade in den »wilden, häßlichen« Teilen der Wissenschaft entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat.“ (Ebd., 1881, S. 263-264).

Die neue Leidenschaft. – Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei? – Weil sie die Menschen unglücklicher machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten mehr Glück: täuschen wir uns nicht! – Sondern unser Trieb zur Erkenntnis ist zu stark, als daß wir noch das Glück ohne Erkenntnis oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des Entdeckens und Erratens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; – ja vielleicht sind wir auch unglücklich Liebende! Die Erkenntnis hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde nichts fürchtet, als ihr eignes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, daß die gesamte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müßte als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden hat. Vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntnis zu grunde geht! – auch dieser Gedanke vermag nichts über uns! Hat sich denn das Christentum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei – wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit als den Rückgang der Erkenntnis! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zugrunde geht, so wird sie an einer Schwäche zugrunde gehen: was will man lieber? Dies ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande?“ (Ebd., 1881, S. 265-266).

Mit neuen Augen sehen. – Gesetzt daß unter Schönheit in der Kunst immer die Nachbildung des Glücklichen zu verstehen ist – und so halte ich es für die Wahrheit –, je nachdem eine Zeit, ein Volk, ein großes in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen vorstellt: was gibt dann der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu genießen wissen. Folglich muß man wohl glauben, das jetzige uns eigene Glück liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität? So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, daß die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen »Seligkeiten« an sich geworden sind!“ (Ebd., 1881, S. 267).

Nicht unvermerkt zugrunde gehen. – Nicht einmal, sondern fortwährend bröckelt es an unserer Tüchtigkeit und Größe; die kleine Vegetation, welche zwischen allem hineinwächst und sich überall anzuklammern versteht, diese ruiniert das, was groß an uns ist, – die alltägliche, stündliche übersehene Erbärmlichkeit unsrer Umgebung, die tausend Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmütigen Empfindung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unsrer Geselligkeit, unsrer Tageseinteilung herauswächst. Lassen wir dies kleine Unkraut unbemerkt, so gehn wir an ihm unbemerkt zugrunde! – Und wollt ihr durchaus zugrunde gehn, so tut es lieber auf einmal und plötzlich: dann bleiben vielleicht von euch erhabene Trümmer übrig! Und nicht, wie jetzt zu befürchten steht, Maulwurfshügel! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen, bescheiden wie vordem und zu erbärmlich selbst zum Triumphieren!“ (Ebd., 1881, S. 268).

Kasuistisch. – Es gibt eine bitterböse Alternative, der nicht jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist: als Passagier eines Schiffes zu entdecken, daß Kapitän und Steuermann gefährliche Fehler machen und daß man ihnen in nautischem Wissen überlegen sei, – und nun sich zu fragen: Wie! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie beide gefangen nehmen ließest? Verpflichtet dich deine Überlegenheit nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsams untergräbst? – Dies ist ein Gleichnis für höhere und bösere Lagen: wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere Überlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fällen gewährleistet. Der Erfolg? Aber da muß man eben schon das Ding tun, welches alle Gefahren in sich trägt – und nicht nur Gefahren für uns, sondern für das Schiff.“ (Ebd., 1881, S. 268-269).

Vorrechte. – Wer sich selber wirklich besitzt, das heißt, wer sich endgültig erobert hat, betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht dies niemandem zuzugestehen, er kann es aber auch einem andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde zum Beispiel, – aber er weiß, daß er damit ein Recht verleiht und daß man nur aus dem Besitze der Macht heraus Rechte verleihen kann.“ (Ebd., 1881, S. 269).

Mensch und Dinge. – Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge.“ (Ebd., 1881, S. 269).

Die Regel. – »Die Regel ist mir immer interessanter als die Ausnahme« – wer so empfindet, der ist in der Erkenntnis weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.“ (Ebd., 1881, S. 270).

Zur Erziehung. – Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: niemand lernt, niemand strebt darnach, niemand lehrt – die Einsamkeit ertragen.“ (Ebd., 1881, S. 271).

Rangordnung. – Es gibt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker – solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen –, drittens gründliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen – was sehr viel mehr wert ist als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! –, endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit sein sollte! Es sind die lieben Untergründlichen.“ (Ebd., 1881, S. 271-272).

Meister und Schüler. – Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.“ (Ebd., 1881, S. 272).

Die Wirklichkeit ehren. – Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Tränen und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres Jubels und würden noch immer so denken, wenn wir ihn nicht erlebt hätten! Wozu können uns also die Erlebnisse fortreißen! Was sind unsere Meinungen! Man muß, um sich nicht zu verlieren, um seine Vernunft nicht zu verlieren, vor den Erlebnissen flüchten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen; er war voller Empfindung und wußte, wie leicht die Wellen der Empfindung über seiner Vernunft zusammenschlugen. – So hätte sich demnach der Weise zu sagen: »ich will die Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, weil ich sie kenne und fürchte«? – er müßte es machen wie afrikanische Völkerschaften vor ihren Fürsten: welche ihnen nur rückwärts nahen und ihre Verehrung zu gleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen?“ (Ebd., 1881, S. 272).

Die Lockung der Erkenntnis. – Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Blick durch das Tor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber; und vermutlich werden sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern: so heftig ist ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle Sinne – dieser Ton der süßen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und im hundert-ersten und schönsten: »Laß den Wahn schwinden! Dann ist auch das ›Wehe mir!‹ verschwunden; und mit dem "Wehe mir!" ist auch das Wehe dahin.« (Mark Aurel.)“ (Ebd., 1881, S. 274).

Wem ein Hofnarr nötig ist. – Die sehr Schönen, die sehr Guten, die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend etwas die volle und gemeine Wahrheit – denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich ein wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemäß das, was man an Wahrheit mitteilen könnte, in der Form einer Anpassung vorbringt (also Farben und Grade des Tatsächlichen fälscht Einzelheiten wegläßt oder hinzutut und das, was sich gar nicht anpassen lassen will, hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren halten – ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen zu können.“ (Ebd., 1881, S. 274).

Moralisches Interregnum. – Wer wäre jetzt schon imstande, das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urteile ablösen wird! – so sicher man auch einzusehen vermag, daß diese in allen Fundamenten irrtümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit muß von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen – zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medizin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und tun am besten, in diesem Interregnum so sehr als nur möglich, unsre eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“ (Ebd., 1881, S. 275).

Die erste Natur. – So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustoßen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den meisten vertrocknet der Keim davon.“ (Ebd., 1881, S. 276).

Seine gefährlichen Stunden ausnützen. – Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt: wie zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innre des Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewußt haben muß, als dem weisesten Historiker es auch nur möglich wäre. Nun leben wir alle vergleichungsweise in einer viel zu großen Sicherheit, als daß wir gute Menschenkenner werden könnten: der eine erkennt aus Liebhaberei, der andere aus Langerweile, der dritte aus Gewohnheit; niemals heißt es: »erkenne, oder geh zugrunde!« Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern ins Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie: sie scheinen uns immer noch den »gefiederten Träumen« zu ähnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben könnten – als ob etwas an ihnen in unserm Belieben stünde, als ob wir auch von diesen unsern Wahrheiten erwachen könnten!“ (Ebd., 1881, S. 278).

Zweimal Geduld. – »Damit machst du vielen Menschen Schmerz.« – Ich weiß es; und weiß auch dies, daß ich doppelt dafür leiden muß, einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache, die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem ist es nicht weniger nötig, so zu tun, wie ich tue.“ (Ebd., 1881, S. 281).

Das Reich der Schönheit ist größer. – Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die allem eigene Schönheit zu entdecken und gleichsam auf der Tat zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch machen, jenes Stück Küste mit Felsen, Meerbuchten, Ölbäumen und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt: so sollten wir auch unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher, Gutes und Böses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sich offenbare, welche bei diesem sonnenhaft, bei jenem gewitterhaft und bei einem dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den bösen Menschen als eine wilde Landschaft zu genießen, die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn derselbe Mensch, so lange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Karikatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? -Ja, es ist verboten: bisher war es nur erlaubt, im Moralisch-Guten nach Schönheit zu suchen, – Grund genug, daß man so wenig gefunden und sich so viel nach imaginären Schönheiten ohne Knochen hat umtun müssen! -So gewiß es hundert Arten von Glück bei den Bösen gibt, von denen die Tugendhaften nichts ahnen, so gibt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit: und viele sind noch nicht entdeckt.“ (Ebd., 1881, S. 282).

Die Unmenschlichkeit des Weisen. – Bei dem schweren, alles zermalmenden Gange des Weisen, welcher, nach dem buddhistischen Liede, »einsam wandelt wie das Rhinozeros«, – bedarf es von Zeit zu Zeit der Zeichen einer versöhnlichen und gemilderten Menschlichkeit: und zwar nicht nur jener schnelleren Schritte, jener artigen und geselligen Wendungen des Geistes, nicht nur des Witzes und einer gewissen Selbstverspottung, sondern selbst der Widersprüche, der gelegentlichen Rückfälle in die herrschende Ungereimtheit. Damit er nicht der Walze gleiche, welche wie das Verhängnis daherrollt, muß der Weise, der lehren will, seine Fehler zu seiner Beschönigung gebrauchen, und indem er sagt »verachtet mich!« – bittet er um die Gunst, der Fürsprecher einer anmaßlichen Wahrheit zu sein. Er will euch ins Gebirge führen, er wird euer Leben vielleicht in Gefahr bringen: dafür überläßt er es euch willig, vorher und nachher, an einem solchen Führer Rache zu nehmen – es ist der Preis, um den er sich selber den Genuß macht voranzugehen. – Gedenkt ihr dessen, was euch durch den Sinn ging als er euch einmal durch eine finstere Höhle auf schlüpfrigen Wegen geleitete? Wie euer Herz, klopfend und mißmutig, sich sagte: »dieser Führer da könnte Besseres tun als hier herumzukriechen! Er gehört zu einer neugierigen Art von Müßiggängern; – ist es nicht schon zu viel Ehre für ihn, daß wir ihm überhaupt einen Wert zuzuerkennen scheinen, indem wir ihm folgen?«“ (Ebd., 1881, S. 282-283).

Sich nicht rechtfertigen. – A: Aber warum willst du dich nicht rechtfertigen? – B: Ich könnte es, hierin und in hundert Dingen, aber ich verachte das Vergnügen, das in der Rechtfertigung liegt: denn diese Dinge sind für mich nicht groß genug, und lieber will ich Flecken an mir tragen, als jenen Kleinlichen zu ihrer hämischen Freude zu verhelfen, daß sie sagen könnten: »er nimmt diese Dinge doch sehr wichtig!« Dies ist eben nicht wahr! Vielleicht müßte mir noch mehr an mir selber gelegen sein, um eine Pflicht zu haben, fehlerhafte Vorstellungen über mich zu berichtigen, – ich bin zu gleichgültig und träge gegen mich und so auch gegen das, was durch mich gewirkt wird.“ (Ebd., 1881, S. 284).

Wo man sein Haus bauen soll. – Wenn du in der Einsamkeit dich groß und fruchtbar fühlst, so wird dich die Geselligkeit verkleinern und veröden: und umgekehrt. Machtvolle Milde, wie die eines Vaters: – wo diese Stimmung dich ergreift, da gründe dein Haus, sei es nun im Gewühl oder in der Stille. Ubi pater sum, ibi patria.“ (Ebd., 1881, S. 285).

Schwer werden. – Ihr kennt ihn nicht: er kann viel Gewichte an sich hängen, er nimmt sie doch alle mit in die Höhe. Und ihr schließt, nach eurem kleinen Flügelschlage, er wolle unten bleiben, weil er diese Gewichte an sich hänge!“ (Ebd., 1881, S. 285).

Am Erntefeste des Geistes. – Das häuft sich von Tag zu Tage und quillt auf, Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken über sie und Träume über diese Gedanken – ein unermeßlicher, entzückender Reichtum! Sein Anblick macht schwindeln; ich begreife nicht mehr, wie man die Geistig-Armen selig preisen kann! – Aber ich beneide sie mitunter dann, wenn ich müde bin: denn die Verwaltung eines solchen Reichtums ist eine schwere Sache, und ihre Schwere erdrückt nicht selten alles Glück. – Ja, wenn es genügte, ihn nur anzublicken! Wenn man nur der Geizhals seiner Erkenntnisse wäre!“ (Ebd., 1881, S. 285-286).

Von der Skepsis erlöst. – A: Andre kommen mißlaunig und schwach, zernagt, wurmstichig, ja halb zerfressen aus einer allgemeinen moralischen Skepsis heraus – ich aber mutiger und gesünder als je, mit wiedererworbenen Instinkten. Wo scharfer Wind weht, die See hoch geht und keine kleine Gefahr zu bestehen ist, da wird mir wohl. Zum Wurm bin ich nicht geworden, ob ich gleich oftmals wie ein Wurm habe arbeiten und graben müssen. – B: Du hast eben aufgehört, Skeptiker zu sein! Denn du verneinst! – A: Und damit habe ich wieder Ja-sagen gelernt.“ (Ebd., 1881, S. 286).

Liebe und Wahrhaftigkeit. – Wir sind aus Liebe arge Verbrecher an der Wahrheit und gewohnte Hehler und Stehler, welche mehr wahr sein lassen, als uns wahr scheint, – deshalb muß der Denker immer wieder von Zeit zu Zeit die Personen, welche er liebt (es werden nicht gerade die sein, welche ihn lieben), in die Flucht jagen, damit sie ihren Stachel und ihre Bosheit zeigen und aufhören, ihn zu verführen. Demnach wird die Güte des Denkers ihren ab- und zunehmenden Mond haben.“ (Ebd., 1881, S. 287).

Auch deshalb Einsamkeit! – A: So willst du wieder in deine Wüste zurück? – B: Ich bin nicht schnell, ich muß auf mich warten – es wird spät, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst ans Licht kommt, und oft muß ich länger Durst leiden, als ich Geduld habe. Deshalb gehe ich in die Einsamkeit – um nicht aus den Zisternen für jedermann zu trinken. Unter vielen lebe ich wie viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben – und ich werde böse auf jedermann und fürchte jedermann. Die Wüste tut mir dann not, um wieder gut zu werden.“ (Ebd., 1881, S. 292).

Das böse Prinzip. – Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muß: denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als »das böse Prinzip«. Wir dürfen hieraus erraten, wie die ziemlich freisinnige und neuerungssüchtige Stadt Athen dem Rufe Platos bei seinen Lebzeiten mitgespielt hat: was Wunders, daß er – der, wie er selber sagt, den »politischen Trieb« im Leibe hatte – dreimal einen Versuch in Sizilien gemacht hat, wo sich damals gerade ein gesamtgriechischer Mittelmeer-Staat vorzubereiten schien? In ihm und mit seiner Hilfe gedachte Plato für alle Griechen das zu tun, was Mohammed später für seine Araber tat: die großen und kleinen Bräuche und namentlich die tägliche Lebensweise von jedermann festzusetzen. Möglich waren seine Gedanken so gewiß die des Mohammed möglich waren: sind doch viel unglaublichere die des Christentums, als möglich bewiesen worden! Ein paar Zufälle weniger und ein paar andere Zufälle mehr – und die Welt hätte die Platonisierung des europäischen Südens erlebt; und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so würde mutmaßlich in Plato das »gute Prinzip« von uns verehrt werden. Aber der Erfolg fehlte ihm: und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten – die härteren Namen sind mit dem alten Athen zugrunde gegangen.“ (Ebd., 1881, S. 294).

Das reinmachende Auge. – Von »Genius« wäre am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe, an den Charakter und das Temperament nur lose angeknüpft erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit über sie erheben kann. Dagegen haben gerade solche am lebhaftesten von ihrem »Genius« gesprochen, welche von ihrem Temperament nie loskamen und ihm den geistigsten, größten, allgemeinsten, ja unter Umständen kosmischen Ausdruck zu geben wußten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese Genies konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich vorzufinden, wiederzufinden, wohin sie auch nur flogen, – das ist ihre »Größe«, und kann Größe sein! – Die anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das reine, reinmachende Auge, das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit einem Male geschenkt: es gibt eine Übung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens.“ (Ebd., 1881, S. 295).

Nicht fordern! – Ihr kennt ihn nicht! Ja, er unterwirft sich leicht und frei den Menschen und den Dingen und ist gütig gegen beide; seine einzige Bitte ist, in Ruhe gelassen zu werden, – aber nur solange Menschen und Dinge nicht Unterwerfung fordern. Alles Fordern macht ihn stolz, scheu und kriegerisch.“ (Ebd., 1881, S. 295).

Sterbliche Seelen! – In betreff der Erkenntnis ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft: daß der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nötig, sich zu überstürzen und halbgeprüfte Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem mußte. Denn damals hing das Heil der armen »ewigen Seele« von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens ab, sie mußte sich von heut zu morgen entscheiden – die »Erkenntnis« hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den guten Mut zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert – es ist alles nicht so wichtig! – und gerade deshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Großartigkeit ins Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentieren! Ja die Menschheit darf es mit sich! Die größten Opfer sind der Erkenntnis noch nicht gebracht worden – ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserm Tun jetzt voranlaufen.“ (Ebd., 1881, S. 297).

Freundschaft. – Jener Einwand gegen das philosophische Leben, daß man mit ihm seinen Freunden unnützlich werde, wäre nie einem Modernen gekommen: er ist antik. Das Altertum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht und fast mit sich ins Grab gelegt. Dies ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben wir die idealisierte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle großen Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, daß Mann neben Mann stand, und daß nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste, Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, – wie die Passion zu empfinden lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Efeus und der Weinreben daran.“ (Ebd., 1881, S. 298).

Die Praktischen. – Wir Denker haben den Wohlgeschmack aller Dinge erst festzustellen und nötigenfalls ihn zu dekretieren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich groß und das lächerlichste Schauspiel der Welt, so wenig sie um dieselbe wissen und so stolz sie über uns Unpraktische hinwegzureden lieben: ja sie würden ihr praktisches Leben geringschätzen, wenn wir es geringschätzen wollten: – wozu uns hier und da ein kleines Rachegelüst reizen könnte.“ (Ebd., 1881, S. 298-299).

Nicht pathetisch nehmen. – Das, was wir tun, um uns zu nützen soll uns keinen moralischen Lobspruch eintragen, weder von andern, noch von uns selber; ebensowenig das, was wir tun, um uns an uns zu freuen. In solchen Fällen das Pathetisch-nehmen abweisen und sich selber alles Pathetischen enthalten ist der gute Ton bei allen höheren Menschen: und wer sich an ihn gewöhnt hat, dem ist die Naivität wiedergeschenkt.“ (Ebd., 1881, S. 300).

Die Versucherin. – Die Ehrlichkeit ist die große Versucherin aller Fanatiker. Was sich Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schönen Weibes zu nahen schien und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war wohl die Ehrlichkeit und vielleicht, in seltneren Fällen, sogar die Wahrheit.“ (Ebd., 1881, S. 301).

An die Stärkeren. – Ihr stärkeren und hochmütigen Geister, nur um eins seid gebeten: legt uns anderen keine neue Last auf, sondern nehmt etwas von unserer Last auf euch, da ihr ja die Stärkeren seid! Aber ihr macht es so gerne umgekehrt: denn ihr wollt fliegen, und deshalb sollen wir auch noch eure Last zu unsrer tragen: das heißt wir sollen kriechen!“ (Ebd., 1881, S. 301-302).

Zur Liebe verführen. – Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verführen!“ (Ebd., 1881, S. 302).

Die kleinen Dosen. – Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Großes auf einmal zu schaffen? So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Wertschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, – nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben – bis wir, sehr spät vermutlich, inne werden, daß die neue Wertschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und daß die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt abgewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben. – Man fängt ja an, auch dies einzusehen, daß der letzte Versuch einer großen Veränderung der Wertschätzungen, und zwar in bezug auf die politischen Dinge – die »große Revolution« –, nicht mehr war als eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoffnung auf plötzliche Genesung beizubringen wußte – und damit alle politischen Kranken bis auf diesen Augenblick ungeduldig und gefährlich gemacht hat.“ (Ebd., 1881, S. 309).

Wie man versteinern soll. – Langsam, langsam hart werden wie ein Edelstein – und zuletzt still und zur Freude der Ewigkeit liegen bleiben.“ (Ebd., 1881, S. 313).

„Bis zum Haß gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es! Ihr müßt die Geschichte fälschen, damit sie für euch zeugt, ihr müßt Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgötter und Ideale nicht in Schatten stellen!“ (Ebd., 1881, S. 317).

„Das Christentum war für eine andere Gattung antiker Sklaven gemacht, für die willens- und vernunftschwachen, also für die große Masse der Sklaven.“ (Ebd., 1881, S. 320).

Der Wahn der sittlichen Weltordnung.Es gibt gar keine ewige Notwendigkeit, welche forderte, daß jede Schuld gebüßt und bezahlt werde – es war ein schrecklicher, zum kleinsten Teile nützlicher Wahn, daß es eine solche gäbe –: ebenso wie es ein Wahn ist, daß alles eine Schuld ist, was als solche gefühlt wird. Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über Dinge, die es gar nicht gibt, haben den Menschen so verstört!“ (Ebd., 1881, S. 331-332).

Dichter und Vogel. – Der Vogel Phönix zeigte dem Dichter eine glühende und verkohlende Rolle. »Erschrick nicht!« sagte er, »es ist dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit und noch weniger den Geist derer, die gegen die Zeit sind: folglich muß es verbrannt werden. Aber dies ist ein gutes Zeichen. Es gibt manche Arten von Morgenröten.«“ (Ebd., 1881, S. 333-334).

Feld-Apotheke der Seele. – Welches ist das stärkste Heilmittel? – Der Sieg.“ (Ebd., 1881, S. 334).

Das Leben soll uns beruhigen. – Wenn man, wie der Denker, für gewöhnlich in dem großen Strome des Gedankens und Gefühls lebt, und selbst unsere Träume in der Nacht diesem Strome folgen: so begehrt man vom Leben Beruhigung und Stille, – während andre gerade vom Leben ausruhen wollen, wenn sie sich der Meditation übergeben.“ (Ebd., 1881, S. 334).

Wir Luft-Schiffahrer des Geistes! – Alle diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste hinausfliegen – gewiß! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken – und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schließen, daß es vor ihnen keine ungeheure freie Bahn mehr gebe, daß sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere großen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmutigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andre Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Scharen viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir strebten, und wo alles noch Meer, Meer, Meer ist! – Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer ? Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, daß auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, – daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder?“ (Ebd., 1881, S. 335-336).

 

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