Wir
Zeitgenossen der Wende zum 21. Jahrhundert haben das zweifelhafte Privileg, dem
Untergang gleich zweier gesellschaftlicher Ordnungssysteme beiwohnen zu können.
20 Jahre nach der staatssozialistischen Formation implodiert nach einer heißen
Phase heftigster innerer und äußerer Expansion und mit voraussichtlich
weit größeren Knalleffekten nun auch der angelsächsisch geprägte
Wirtschaftsmodus des sogenannten »Freien Westen«.*
* *Was derzeit, kurz vor dem »Showdown«, von den Akteuren
des Schauspiels, »Rettung der Finanzmärkte« dargeboten wird,
folgt noch dem Strickmuster einer klassischen Gaunerkomödie und hat auch
deren Unterhaltungswert: Da gibt der größte Bankrotteur (die schuldtilgungsunfähigen
Staaten) mit nobler Geste Patronatserklärungen für die gleichfalls völlig
bankrotten Banken ab und verteilt dazu Mittel, die er sich von eben diesen Banken
leihen wird. Die dabei zur Sprache kommenden Summen reichen in Zahlenräume,
in denen bis vor kurzem allein die Astronomen heimisch waren. In der monetären
Alchimistenküche haben offenbar neben den bekannten auch besonders »innovative«
Transmutationen stattgefunden: Aus Gold wurde Papiergeld, aus Papiergeld Buchgeld,
das, einen nigromantischen Kunstgriff später, Schaumgeld wurde und sich wundersam
vermehrte zu Derivaten und Derivaten-Derivaten. Die Rollenverteilung
in der Gaunerkomödie - mit dem Staat als tadelnder Retter, die Banken als
reuige Sünder, dem Markt als entsprungene Bestie -, das ist schon eine dreiste
Camouflage: Denn es waren die Staaten, die in Kumpanei mit der Finanzindustrie
diesen Schneeball ins Rollen brachten, die Scheingeldmassen sauber wuschen und
umlauffähig machten. Und der bestialische Markt waltet (anders als Rating-Agenturen,
WP-Gesellschaften und ganze Kompanien nationaler und internationaler Aufsichtsbehörden)
spät zwar, doch unbestechlich und penibel (und gegen alle Widerstände)
seines Amtes, macht seine Nagelproben an den Werten und wischt das Schaumgeld
aus den Büchern - und breche dabei zusammen, wen der Staatskumpan nicht rettet.
* * *Kontrolliert und planvoll kann dieses kreditzerrüttete System
nicht mehr heruntergefahren werden. Es gibt nur die Möglichkeit, es vollständig
zurückzusetzen, sei es durch eine praktisch weltweite Währungsreform
oder auf dem Umweg über eine geldpolitisch von der Leine gelassene (oder
von ihr sich losreißende) Hyperinflation. Ansonsten: Irgendwann ein Über-Nacht-Kollaps,
der die Realwirtschaft auf einen Schlag verwüstet: stockender Zahlungsverkehr,
reißende Versorgungsketten, wirtschaftliche Desintegration - und am Ende
kehrt jeder vor der eigenen Tür, wobei die Frage offen bleibt, wer dabei
den Besenschrank verwaltet: ein Staat, lokale Autoritäten oder mafiöse
Banden. Aber selbst das beschreibt noch nicht den Umfang des bevorstehenden
Desasters, denn absehbar ist auch der nächste Stoß: eine schnelle Verknappung
des Erdöls als Brenn-, Kraft- und Chemierohstoff, mit einem nachfolgend heftigen
Schrecken darüber, wie grundlegend, bis in die einfachsten Lebensvollzüge
hinein wir ölabhängig geworden sind.Peak-Öl
ist hier nicht das Thema. Darum nur kurz: Die internationale Energieagentur (eine
Einrichtung der OECD und als solche eine amtliche Optimismus-Trompete) hat in
ihrem soeben erschienenen Energie-Ausblick 2008 die Rate des jährlichen Fördermengenrückgangs
(»depletion rate«) auf 5,6 bis 8,5 erhöht. Dabei kommt es gar
nicht sehr darauf an, wann diese Sinkflug-Kurve den Nullpunkt schneidet, sondern
darauf, ab welchem Punkt Rationierung und Zuteilung beginnen. Das grüne »weg
vom Öl« münzt eine Zwangsläufigkeit in eine politische Parole
um, und tut so, als stünden für das schwindende Erdöl urlaubsbunte
Substitute (Sonne, Wasser, Geothermie, Wind) bereit, verschweigt aber, daß
dieser Ersatz mit einer dramatischen Energieveramung einhergehen wird. Denn alle
technischen Alternativen sind von einem deutlich positiven Saldo zwischen energetischem
Ertrag und Aufwand (EROEI) weit entfernt. |
Damit geht
- so oder so oder noch katastrophischer - ein Wirtschafts- und Lebensmodus zu
Bruch, der allein auf die Illusion baute, daß Leistungen der Zukunft folgenlos
und auf ewig zum Gegenstand heutigen Konsums gemacht werden könnten. Am Beginn
dieser letzten wirtschaftlichen Hochfieberphase der »Emanzipationsmoderne«
stand die Heilsbotschaft, daß von nun an der Brunnen zum Kruge kommen und,
festgemauert, auch nimmermehr zerbrechen werde. Der ökonomische Hausverstand
nahm das zwar mit Skepsis, ließ sich aber mit schwindendem Widerstreben
einschenken. Er wird in Kürze, unter allerdings eher ungemütlichen Umständen,
die Genugtuung erfahren, daß seine Skepsis hoch berechtigt war.
Es war die Fiktion eines ewigen Plus Ultra, der eigentlich seltsame, weil
völlig erfahrungsfremde Gedanke, daß es Expansion ohne Kompression,
ein Auf ohne ein Ab geben könnte. Die wirkliche Welt verläuft oszillativ,
und diese Erfahrung ist tief geerdet, weil sie von den physiologischen Rhythmen
und allem Naturerleben täglich beglaubigt wird. Daß der gegenteilige,
nämlich kumulative Prozeßtyp der ständigen Steigerung materiell
wirksam werden könne, ist eine Idee, die (nach Kenneth Boulding) nur Verrückten
oder Ökonomen kommen kann - und den wenigen geschichtlichen »people
of plenty«, Völkern, die plötzlich einen ganzen, fruchtbaren,
rohstoffreichen, fast menschenleeren Kontinent (ersatzweise ein koloniales Weltreich)
zu ihrer Lebensfristung zur Verfügung haben und deshalb meinen, die lex
parsimoniae sei für sie auf Dauer außer Kraft gesetzt. Aber auch
denen hilft eines Tages die Wirklichkeit über diesen Irrtum hinweg.
* * *Ein kleiner Schritt aus dem Alltag zur Seite auf einen imaginär-externen
»point of view«, ein kleiner Moment der Besinnung, in dem man die
Fähigkeit gewinnt, sich von der »Normalität« befremden zu
lassen - und man blickt auf eine Szene gigantischen Mißlingens.
Eine Ökonomie mit allerschwersten Stoffwechselstörungen, die nach letzter
Luft und allem schnappt, was sich noch irgendwie verwerten läßt. Alle
Quellen sind erschöpft, und die Senken laufen über von Müll und
Schutt und Schlacken; überall Abfall, materieller Unrat, der auf der äußeren,
und geistiger Unrat, der auf der inneren Epidermis Allergien provoziert. Man sehe
sich in einem beliebigen 1950er-Jahre-Bildband Straßenszenen an und vergleiche
die Gesichter der Passanten mit heutigen, um zu ermessen, wieviel seelische Verheerung
da stattgefunden hat. Keine gesellschaftliche Institution, die den Status
eines fortgeschrittenen, zumindest beginnenden Kollapses nicht erreicht hätte.
Nichts funktioniert mehr in diesem System, und an jedem Tag, den es noch wackelnd
steht, ruiniert es funktionszwangsläufig weiter seine Fundamente. Nichts
mehr im Rückgriff (auf Reserven), alles im Vorgriff auf die Zukunft.Oder
grundlegender: Alle Energie, die uns ab Sonnenaufgang zuströmt, baut Strukturen
auf, schafft Gebilde und formt Gestalten in die Höhe. Die in unserer Verbrennungskultur
technisch mobilisierte Energie wirkt nur darauf hin, Strukturen zu schleifen,
Gebildeaufzulösen und alle restlichen Kohäsionskräfte zu schwächen
und auf Null zu bringen. Der Verlust an Form, sagt Sloterdijk besänftigend
gegenüber dieser konservativen Dauerklage, werde immer durch einen Gewinn
an »Freiheit« ausgeglichen. Wohl wahr - das ist das Wesen aller Erosions-
und Korrosionsprozesse: Auf dem Weg vom Bauwerk zur Ruine befreien sich die Ziegel
aus ihrem Verbund in einen Haufen, und im weiteren Zerfall der Ziegel gewinnen
die Sandkörner ihre Freiheit im Wind, der sie verweht. Angesichts
der Konsequenz, mit der diese »Auflösung aller Dinge« seit 200
Jahren abläuft, fällt es tatsächlich schwer, nicht zum Verschwörungstheoretiker
zu werden. Aber: Wahrscheinlich haben alle Entwicklungen, eben auch geschichtliche,
einen Vektorpunkt in der Zukunft, einen Attraktor, der die Prozesse durch mehrere,
auch alternative (und an verschiedenen Punkten durchaus wählbare) Rinnen,
Bahnen (oder »Chreoden«: C. H. Waddington) auf sich lenkt. Einmal
in einem solchen verzweigungsfreien Bahnstück läuft dann alles »wie
am Schnürchen« - auch die destruktiven Prozeßschritte. Damit
wären die »Drahtzieher« aber evolutionäre Kräfte und
eben keine Dunkelmänner aus den Hinterzimmern der Wallstreet. Und: Der ziehende
»Attraktor« ist immer gleichzeitig ein Umlenkpunkt, der dann, endlich,
auch die Richtung ändert.Also: Alles mißlungen
und alles vertan. Gab es Weggabelungen? * * *Die
Welt klaffte, Robert Musil zufolge, 1914 »in deutsch und widerdeutsch«.
Woran das »Widerdeutsche« Anstoß nahm, ist uns im Nachgang zu
dem dreißigjährigen Krieg zwischen Deutschland und der Welt (1914-1945)
ausführlichst erläutert worden: Es war der »Reaktionäre Modernismus«
des Kaiserreichs, der Empörung weckte, der skeptische Antimodernismus mit
den Unterabteilungen Antikapitalismus, Demokratiekritik und Irrationalismus. Das
ist zwar nicht ganz rund, denn die Engländer waren auf die Deutschen ja nicht
etwa wegen eines modernitätswidrigen Müßiggangs schlecht zu sprechen,
sondern eher im Gegenteil, und man tut den Angelsachsen gewiß nicht Unrecht
mit der Unterstellung, daß ein unter kaiserlichem Regiment weiterhin nur
»reaktionär« dichtendes und denkendes Volk ihren Abscheu weit
weniger erweckt hätte als eines, das gleichzeitig das Stahlkochen vervollkommnet,
Elektromotoren baut und überhaupt die englische Industrie in nur wenigen
Jahrzehnten peinlich deklassiert. Der Konflikt, der sich da aufgebaut
hatte, war also tatsächlich ein wirtschaftlicher, aber er reichte auf deutscher
Seite wesentlich tiefer: Seit Beginn des 19. Jahrhunderts begegnet das deutsche
Denken der englischen Nationalökonomie mit großer Neugier, aber steigender
Skepsis und wachsender Sorge, hält sie für »ordinär«,
geistvergessen (Adam Müller) und für eine banale »Naturlehre der
menschlichen Selbstsucht« (Bruno Hildebrandt, 1848).Dies
waren über fast 150 Jahre die Konstanten der Kritik: | 1. |
Die deutsche Nationalökonomie dachte von ihren Ressourcen
her, von dem, was da war, an Landschaft, an Gewerben, an Institutionen und politischen
Formen, an Gewohnheiten und Mentalitäten. | 2. | Und
sie dachte auf ihre Ressourcen hin, denn wirtschaftlicher Zuwachs füllte
in diesem Denken nicht Speicher oder Konten, sondern vergrößerte das
»produktive Vermögen« (Hegel): »... überhaupt gar
nicht mit Summen hat es die Nationalökonomie zu thun, sondern mit Quellen«.
(Friedrich B. W. von Hermann: Staatswirtschaftliche Untersuchungen, 1832).
Und es ist von Belang, daß das deutsche Wort »Vermögen«
ans Können und Leisten angeknüpft bleibt und nicht ans Eigentum. | 3. | Und
sie dachte in Zeiten und Räumen, denn wirtschaftliche Kräfte betätigen
sich nicht im Irgendwo nach universalen Gesetzen, sondern im Hier und Jetzt, aus
einem geschichtlichen Umfeld und aus geprägten kulturellen Mentalitäten
heraus. | Der Grundtenor der deutschen Opposition war
also immer, daß es um die »produktiven Kräfte« gehe, die
in erster Linie von Menschen betätigt werden. Nicht die Befriedigung der
Bedürfnisse, sei das erste Ziel, sondern die Erhaltung und die Kräftigung
der fortdauernden Möglichkeiten dazu. Das ist das preußische
Prinzip: Alle zu heben, und niemanden sacken zu lassen, eine »Ertüchtigung«
aller Stände, Schichten und Menschen, Wirtschaft als ein Ineinander von materieller
und ideeller Allokation, eine Gleichzeitigkeit von wirtschaftlichem und kulturellem
Wachstum, und eben immer wieder Hegels Hebung des »allgemeinen Vermögens«,
die Birger P. Priddat als eine »sublunare Theoriefigur in der deutsche Ökonomie«
bezeichnet. Auch die später so geschichtsmächtig gewordene linke Schwester
dieser Kritik, der Marxismus also, stammt aus demselben Humus, was man seiner
frühen, kritischen Seite noch anmerkt, während Marx sich später
revolutionsgewißheitshalber, aber mit sichtbar melancholisch eingetrübtem
Temperament, hinter den »wegbereitenden« Lauf der Dinge klemmen mußte.
Das Absinken ganzer Schichten, denen jede ökonomische Reserve und schließlich
auch die Fähigkeit zur »Selbstanspannung« abhanden kommt, die
»Proletarisierung« also, die mögliche Ansteckung mit dem »hochgradig
pathologischen Charakter der englischen Gesellschaftsstruktur« (Röpke),
war ein Schreckensbild, das die deutsche Ökonomie seit dem späten 19.
Jahrhundert stets begleitete und sie bis in die 1960er Jahre nicht mehr verließ.
Was auch immer über diesen »Gemeinschaftsgedanken« der
Deutschen ausgeschüttet wurde, welche Dämonen in ihm gesucht und gefunden
wurden, seit mindestens zehn Jahren nimmt die Faszination dieser anderen wirtschaftlichen
Orientierung unübersehbar zu. (Sie ist, auch von ihren ausländischen
Bewunderern, schwer ansprechbar, am unverdächtigsten noch als »stakeholder-socitey«).
Und selbst der mentalitätslinke, us-amerikanische Soziologe Richard Sennet
weiß in seinem Ekel vor dem neoliberalen Furor heute nicht mehr, wohin er
gedanklich anders flüchten sollte als in das preußische Modell, auf
das er wehmütig zurückblickt: »Es funktionierte ja. Immerhin sorgte
es für soziale Integration ..., das Modell bildete einen bemerkenswerten
Gegensatz zum Kapitalismus von heute, der Menschen nicht einbezieht, sondern ausschließt
.... Es diente den gewöhnlichen Leuten, indem es ihnen eine Lebensgeschichte
gab; sie wußten, wo sie hingehörten. Doch im ausgehenden 20. Jahrhundert
zerfiel es.« (Weltwoche Nr. 31, 2005). Es zerfiel erstens nicht
ganz von selbst und zweitens auch nicht vollständig. Aber es war (siehe oben)
in seinem »reaktionären« Festhalten an einem »eigenen Weg«
ein Stein des Anstoßes und damit Ursache für den großen Krieg
im 20. Jahrhundert, dessen erste Runde 1914 begann: Bei Max Scheler ist zu lesen,
daß dieser im Kern deutsch-englische Krieg von deutscher Seite »...
auf Befreiung abzielt von jenen neukapitalistischen Lebensformen überhaupt,
in denen mit England zu konkurrieren und sie dabei selbst anzunehmen, die welthistorische
Situation uns zwang. Nicht also siegreiche Konkurrenz mit England, sondern steigende
Erlösung vom Zwang einer Konkurrenz mit England ... ist das Hauptziel (...
dieses Krieges). Der Kapitalistische Geist Deutschlands - so mächtig er schließlich
wurde - ist nicht aus deutschem Wesen autochthon entsprungen, sondern nur in gleichem
Maße entstanden, als der Eintritt in die uns umgebende Weltwirtschaft und
der damit erst gegebene Konkurrenzzwang ihn uns im Gegensatze zu unserer älteren,
nach dem Gegenseitigkeitsprinzip organisierten Wirtschaft aufnötigten.«
(Max Scheler, Genius des Krieges, 1914)-Es ist diese Ausgangslage,
die im Deutschland der Vorkriegszeit so etwas wie einen antikolonialistischen
Affekt hervorruft mit Motivlagen und Argumentationsmustern, die Rolf Peter Sieferle
(in seinem Epochenwechsel, 1994) in den antiimperialistischen und antikolonialistischen
Bewegungen der 1950er bis 1970er Jahre wiederfindet. Deutschland also als »antikolonialistische
Vormacht« (Johann Plenge, 1919)? Und das führt zu einer Antwort
auf die völlig tabuisierte, aber nicht dauernd stillzustellende Frage, aus
welchen Quellen den damaligen Deutschen die Kraft zuwuchs, zweimal innerhalb eines
halben Jahrhunderts gegen alle Großmächte zu kämpfen und jeweils
nur knapp zu unterliegen.Der Widerstand jedenfalls zog sich durch in
einer nie vollständig unterbrochenen Linie von Hegel, Novalis, Friedrich
List, Roscher, Schmoller, Sombart, und dann, nach dem zweiten Teil dieses 30jährigen
Krieges, noch einmal durch die Freiburger Schule von Rüstow und Röpke
wiederbelebt, deren Ton in ihren letzten Jahrzehnten immer schärfer wurde.
Was die in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren hochkritisch gewordene
Freiburger Schule um Rüstow und Röpke gegen die »Staatskrippen-Tendenzen«
argumentativ aufbietet und als »Vitalpolitik« auf einen faßbaren
und klingenden Begriff bringt, lohnt heute jedes Studium. Bei Manuscriptum erscheint
in Kürze eine Röpke-Auswahl in diesem Sinne. Und 2003 hat Werner Abelshauser
den Faden noch einmal aufgenommen und den deutschen »Sonderweg« erstaunlich
unumwunden als Gegenstand und Anlaß eines langandauernden »Kulturkampfs«
bezeichnet, der (aus seiner Sicht) im 2. Weltkrieg heiß geworden sei, »...
daß der 2. Weltkrieg auch als Bruderkrieg zwischen unterschiedlichen Zweigen
der kapitalistischen Großfamilie ausgetragen wurde und die Beseitigung korporativistischer
Besonderheiten des deutschen Wirtschaftssystems weit oben auf der Liste amerikanischer
Kriegsziele stand«. Aber auch die totale Niederlage 1945 konnten
die Traditionslinien nicht kappen. Der Rheinische Kapitalismus war so wenig angelsächsisch
wie der Preußische Sozialismus marxistisch war. Und noch die Deutschland-AG
der 1980er Jahre war eine weitere, schon etwas schwundhafte Evolutionsform auf
der langen Linie; sie wurde erst in den späten 1990er Jahren mit der ökonomischen
»Modernisierung« Deutschlands und der Öffnung für die »internationalen
Kapitalmärkte« gesetzgeberisch geschleift - konsequenterweise durch
die »68er« im Amte, die, wie schon 30 Jahre vorher kulturell, diesmal
auf ordnungspolitischem Feld Deutschland zu einer weiteren Ankunft im Westen verhalfen
- also einer weiteren Ankunft in der Mitte des Bergrutsches, diesmal aber ganz
kurz vor dessen längst absehbarem Aufschlag im Tale. *
* *Wir haben es wieder und wieder gehört: Deutschland, die widerlegte
Nation. Worin eigentlich widerlegt? ... Gewiß; in seinem
Beharren auf einem Recht zum »eigenen Weg« (das es im übrigen
mit China und Japan teilte, die deswegen auch den angelsächsischen Knüppel
zu spüren kriegten) sicher nicht oder nur militärisch. In der Gangbarkeit
dieses Weges noch viel weniger. Es illustriert - wahlweise die Ironie oder die
Logik der Geschichte, daß Deutschland und Japan noch über eine weitgehend
intakte, vielfältige, im Notfall konversionsfähige industrielle Infrastruktur
verfügen, während England und die USA in dieser Hinsicht mittlerweile
reines Brachland sind.* * *Jeffrey Herf wollte
in seinem Reactionary Modernism noch in Horkheimers und Adornos Dialektik
der Aufklärung (1947) einen Übergriff sehen, weil auch darin ein
deutsches Denkproblem zu einem Weltproblem gemacht werde. Nein, Deutschland hat
sich tatsächlich »den Kopf zerbrochen« für die Welt - und
zwar auf der Suche nach Wegen, auf denen sich vorbeikommen ließe an genau
der zivilisatorischen Sackgasse, an deren Ende die Welt jetzt in völliger
Rat- und Orientierungslosigkeit herumrennt. (Ebd., Dezember 2008, S. 4-8). |