1973
veröffentlichte Konrad Lorenz Die acht Todsünden der zivilisierten
Menschheit, eine kulturkritische, pessimistische Analyse der gesellschaftlichen
Verfallserscheinungen und Zivilisationskrankheiten seiner Zeit. Er schrieb diese
Analyse entlang der wissenschaftlichen Grundsätze der Ethologie, der von
ihm mitbegründeten und ausdifferenzierten Lehre vom Verhalten der Tiere und
Menschen. Dieses Verhalten kann in seinem rezenten, also jeweils aktuellen Zustand
beobachtet und als die Funktion eines Systems beschrieben werden, »das seine
Existenz wie seine besondere Form einem historischen Werdegang verdankt, der sich
in der Stammesgeschichte, in der Entwicklung des Individuums und beim Menschen,
in der Kulturgeschichte abgespielt hat« (Konrad Lorenz).Es steht
also die Frage im Raum, warum wir Heutigen uns so oder so verhalten, und Lorenz
betont an mehreren Stellen seiner Analyse, daß er erst über die Deformierung
menschlichen Verhaltens zu der Frage gelangt sei, welche Notwendigkeit eigentlich
hinter dem So-Sein des Menschen stehe: »Wozu dient der Menschheit ihre maßlose
Vermehrung, ihre sich bis zum Wahnsinn steigernde Hast des Wettbewerbs, die zunehmende,
immer schrecklicher werdende Bewaffnung, die fortschreitende Verweichlichung des
verstädterten Menschen u.s.w. usf.? Bei näherer Betrachtung aber zeigt
sich, daß so gut wie alle diese Fehlleistungen Störungen ganz bestimmter,
ursprünglich sehr wohl einen Arterhaltungswert entwickelnder Verhaltens-Mechanismen
sind. Mit anderen Worten, sie sind als pathologisch aufzufassen.«In
acht Kapiteln wirft Lorenz seinen ethologisch geschulten Blick auf anthropologische
Konstanten und zeitbedingte Entwicklungen und kommt zu verheerenden Ergebnissen:
Rundumversorgung und Massenkonsum, Verweichlichung und Überbevölkerung,
Indoktrinierbarkeit und genetischer Verfall all dies trage dazu bei, aus
den Menschen eine degenerierende, leicht manipulierbare Masse zu machen. Vom Wunsch
einer Höherentwicklung und Veredelung menschlicher Möglichkeiten bleibt
nicht viel übrig.»Maßlos«, »Wahnsinn«,
»Fehlleistungen«, »pathologisch«: Man hat Lorenz die Verwendung
solcher Vokabeln vorgeworfen und beanstandet, er werte bereits durch seine Wortwahl
den Gegenstand, den er doch zunächst bloß zu beobachten habe. Der Vorwurf
stimmt: Lorenz weist sich mit seinen Todsünden als Konservativer Kulturkritiker
aus, der dem Menschen als Masse nicht viel abgewinnen kann und aufgrund seiner
Alltags- und Fallstudien einen Niedergang aus einstiger Höhe konstatieren
muß. Was aber ist an der Beschreibung von Lorenz anders als an den vielen
Kritiken und Analysen, die bis heute das konservative Feuilleton füllen?Lorenz
hat als Naturwissenschaftler harte Fakten zur Hand, mit denen er seine Beobachtungen
und Ableitungen stützt. Er geht als Ethologe von Dispositionen aus, die den
Menschen wie ein Korsett umklammern. Seinen Genen, seinen Antrieben, Reflexen
und phylogenetischen Dispositionen kann er nicht entfliehen, er ist in Zwangsläufigkeiten
eingesperrt wie in einen Käfig. Auf Seite 56 in diesem Heft ist das unter
dem Begriff »Verhausschweinung« einmal polemisch durchdekliniert:
Die acht Todsünden sind voll von weiteren Beispielen. Wenn Lorenz etwa die
dem Menschen typische Erhöhung der ökonomischen Umlaufgeschwindigkeit
und die daraus resultierende Rastlosigkeit in Konsum und Bedarfsbefriedigung als
»Wettlauf mit sich selbst« bezeichnet, stellt er als Erklärungsmodell
das Prinzip des Regelkreises daneben und zeigt, warum lawinenartige Prozesse aufgrund
ausschließlich positiver Rückkoppelung ins Verheerende und letztlich
ins Verderben führen. Dasselbe gilt auch für die Überbevölkerung,
die Lorenz als die zentrale Todsünde an den Anfang stellt und von der her
er die meisten anderen Fehlentwicklungen ableitet, etwa auch »Das Abreißen
der Traditionen«: Lorenz beschreibt, wie gefährlich es für die
Entwicklung eines Kindes ist, wenn es bei seinen Eltern und in seiner nahen Umgebung
vergebens nach rangordnungsmäßiger Überlegenheit sucht und in
seinem Streben und seiner Entwicklung ohne (verehrungswürdiges) Ziel bleiben
muß. Lorenz macht das Verschwinden unmittelbar einleuchtender Hierarchien
zum einen an der modernen Arbeitswelt fest: Die Austauschbarkeit von Mutter und
Vater am Schreibtisch ist ein revolutionärer Vorgang der letzten zwei Generationen.
Der andere Grund liegt in der Übertragung einer Gleichheitslehre vom Menschen
auf möglichst alle Lebensbereiche: »Es ist eines der größten
Verbrechen der pseudodemokratischen Doktrin, das Bestehen einer natürlichen
Rangordnung zwischen zwei Menschen als frustrierendes Hindernis für alle
wärmeren Gefühle zu erklären: ohne sie gibt es nicht einmal die
natürlichste Form von Menschenliebe, die normalerweise die Mitglieder einer
Familie miteinander verbindet.«Während nun das gender mainstreaming
das Lorenz noch nicht so nennen konnte Orgien der Gleichheit zelebriert,
Mann und Frau also weiterhin auf Ununterscheidbarkeit getrimmt werden, scheint
es mit der pseudo-demokratischen Doktrin nicht mehr überall so aussichtslos
gut zu stehen, wie Lorenz es noch vermuten mußte. Wenn sich ihr Zeitalter
in der großen Politik seinem Ende zuzuneigen scheint, hat man doch bis in
den Kindergarten hinein die Durchsetzung des Abstimmungsprinzips bei gleicher
Stimmgewichtung von Erwachsenem und Kleinkind festzustellen. Dies alles scheint
einem Abbau der Notwendigkeit einer Entscheidung zu folgen: Wenn die Zeit keine
in ihrer Besonderheit wirksam herausmodellierten Männer und Frauen, sondern
vor allem in ihrem Einheitsgeschmack und ihrer Funktionstüchtigkeit herausmodellierte
Verbraucher erfordert, verhält sich die zivilisierte Menschheit wohl so,
wie sie sich derzeit verhält. Und wenn es nichts ausmacht, ob die Fähigen
(etwa: die Erzieher) oder alle (etwa: die Kleinkinder) mitentscheiden, dann hat
man tatsächlich alle Zeit der Welt und kann die Konsequenzen von Fehlentscheidungen
immer wieder ausbügeln und die beim Ausbügeln neu entstandenen
Falten wiederum, und so weiter.An Beispielen wie dem vom Verlust der
Rangordnung und am Hinweis auf eine pseudo-demokratische Doktrin hat sich die
Kritik festgebissen. Neben vielen Reflexen gibt es bedenkenswerte Einwürfe,
etwa den von Friedrich Wilhelm Korff, der eine Neuausgabe der Todsünden mit
einem Nachwort versah. Er schreibt mit viel Sympathie über Lorenz provozierendes
Buch und weist den Leser auf eine seltsame Unstimmigkeit, ein Pendeln zwischen
zwei Ebenen hin. Auf der einen Seite nämlich lasse die aus dem unerbittlichen
stammesgeschichtlichen Verlauf herrührende Fehlentwicklung der zivilisierten
Menschheit keinerlei Raum für Hoffnung: Etwas, das qua Gen oder Arterhaltungstrieb
so und nicht anders ablaufen könne, sei nicht aufzuhalten und nicht korrigierbar.
Auf der anderen Seite finde sich Lorenz eben nicht mit der Rolle des kühl
diagnostizierenden Wissenschaftlers ab, sondern gerate ins Predigen und formuliere
pro Kapitel mindestens einen Aufruf, aus der Kausalkette der zwangsläufigen
Entwicklung auszusteigen. Lorenz selbst hat diese Verwischung der Kategorien »Wissenschaft«
und »Predigt« in einem »Optimistischen Vorwort« für
spätere Ausgaben aufzufangen versucht, indem er etwa auf die Breitenwirkung
der Ökologie-Bewegung hinwies, von der bei Verfassen seiner Schrift noch
nicht viel zu bemerken war. Im Grund aber bleiben die Todsünden bis heute
ein starkes Stück Konservativer Kulturkritik.Was also versuchte
Konrad Lorenz mit seinem Buch? Er versuchte auf den permanenten Ernstfall hinzuweisen,
den der »Abbau des Menschlichen« (auch ein Buchtitel von Lorenz) verursacht:
Das Erlahmen der Abwehrbereitschaft ist der Ernstfall an sich, und der Beweis,
daß es längst ernst war, wird durch den tatsächlich von außen
eintretenden Ernstfall nur noch erbracht: Kluge Prognosen konnten ihn lange vorher
schon absehen.Es gibt kaum ein besseres Beispiel für dieses Erlahmen
der Abwehrbereitschaft als die Umdeutung des Wortes »Toleranz«. Die
heutige Form der Toleranz ist die 9. Todsünde der zivilisierten Menschheit.
Ob sie in der Notwendigkeit ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung liegt, vermag
nur ein Ethologe zu sagen. Festzustehen scheint, daß ihr trotz vielstimmiger
Warnrufe und glasklarer Fakten nicht beizukommen ist. Vielleicht ist diese weiche,
pathologische Form der Toleranz tatsächlich ein wichtiger Indikator für
einen an das Ende seiner Kraft gelangten Lebensentwurf, hier also: den europäischen.Toleranz
ist nämlich zunächst ganz und gar nichts Schwaches, sondern die lässige
Geste eines Starken gegenüber einem Schwachen. Während ich hier sitze
und vermessen den acht Todsünden von Lorenz eine neunte aufsattle, toleriere
ich, daß eine meiner Töchter im Zimmer über mir trotz angeordneter
Bettruhe vermutlich einen Tanz einstudiert. Von Toleranz diesen rhythmischen Erschütterungen
gegenüber kann ich nur sprechen, weil ich a) einen klaren Begriff von angemessenem
Verhalten in mir trage und die Störung als Abweichung von dieser Norm erkenne,
b) in der Lage wäre, diese Abweichung nicht zu tolerieren, sondern sie zu
beenden, c) sie tatsächlich im Verlauf meines Vater-Seins schon unzählige
Male nicht toleriert habe.Zur Verdeutlichung hilft es, mit allen drei
Kriterien ein wenig zu spielen: Wer a) nicht hat, also Angemessenheit und Norm
nicht kennt, muß nicht tolerant sein: Er wird jede Entwicklung hinnehmen
und sich einpassen oder verschwinden, wenn es gar nicht mehr geht; wer b) nicht
kann, der empfundenen Störung und Beeinträchtigung also hilflos gegenübersteht,
kann keine Toleranz mehr üben: Er kann bitten und betteln und sich die Haare
raufen oder über das Argument und die Mitleidsschiene den anderen zur Rücksichtnahme
bewegen. Das Kräfteverhältnis hat sich jedoch verschoben, und wenn der
Störer keine Rücksicht nehmen will, bleibt dem Schwächeren nur
übrig, sich mit seiner Unterlegenheit abzufinden. Und c)? Toleranz kann kein
Dauerzustand sein. Wer den Regelverstoß dauerhaft toleriert, setzt eine
neue Regel, weitet die Grenze des Möglichen aus, akzeptiert eine Verschiebung
der Norm. Zur Toleranz gehört der Beweis der Intoleranz wie zur Definition
des Guten das Böse.Toleranz ist also eine Haltung der Stärke,
niemals eine, die aus einer Position der Schwäche heraus eingenommen werden
kann. Wer schwach ist, kann nicht tolerant sein; wer den Mut zur eigentlich notwendigen
Gegenwehr nicht aufbringt, kann seine Haltung nicht als Toleranz beschreiben,
sondern muß von Feigheit, Rückzug und Niederlage sprechen: Er gibt
Terrain auf geistiges, geographisches, institutionelles Terrain. Es kann
das versteht sich von selbst ab einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll
sein, sich zurückzuziehen und neue Grenzen der Toleranz zu ziehen. Solche
Korrekturen und Anpassungen an den Lauf der Dinge hat es immer gegeben, und starre
Gebilde haben die Neigung zu zersplittern, wenn der Druck zu groß wird.
Aber eine Neuordnung in diesem Sinn ist ein Beweis für Lebendigkeit und nicht
einer für Schwäche und das oben beschriebene Erlahmen der Abwehrbereitschaft.Auch
der Spiegel-Kolumnist und Wortführer einer »Achse des Guten«
(www.achgut.de), Henryk M. Broder, hält Toleranz für ein gefährliches,
weil sprachverwirrendes Wort. In seinem jüngsten Buch übt er die Kritik
der reinen Toleranz und schreibt gleich im Vorwort Sätze, die an Deutlichkeit
nichts zu wünschen übriglassen: »In einer Gesellschaft, in der
ein Regierender Bürgermeister die Teilnehmer einer SM-Fete persönlich
in der Stadt willkommen heißt; in einer Gesellschaft, in der ein rechtskräftig
verurteilter Kindesmörder Prozeßkostenbeihilfe bekommt, um einen Prozeß
gegen die Bundesrepublik führen zu können, weil er noch nach Jahren
darunter leidet, daß ihm bei einer Vernehmung Ohrfeigen angedroht wurden;
in einer Gesellschaft, in der jeder frei darüber entscheiden kann, ob er
seine Ferien im Club Med oder in einem Ausbildungscamp für Terroristen verbringen
möchte, in einer solchen Gesellschaft kann von einem Mangel an Toleranz keine
Rede sein. Dermaßen praktiziert, ist Toleranz die Anleitung zum Selbstmord.
Und Intoleranz ist eine Tugend, die mit Nachdruck vertreten werden muß.«Das
sind klare Worte, die außerdem Broders Montagetechnik veranschaulichen.
Sein Buch ist theoretisch schwach und lebt von Fundstücken aus Presse und
Internet mal ausführlich beleuchtet, mal bloß aneinandergereiht.
Jeder Schnipsel belegt den bestürzenden Zustand der Verteidigungsbereitschaft
selbst der banalsten Werte unseres Volkes, unserer Nation, unseres kulturellen
Großraums. Nicht ohne Grund stellt unsere Zeitschrift ihre Begriffsdefinitionen
auf der letzten Seite unter ein Motto von Konfuzius: »Zuerst verwirren sich
die Worte, dann verwirren sich die Begriffe und zuletzt verwirren sich die Sachen.«
Broders Kritik der reinen Toleranz kann als Sammlung gefährlicher Wort- und
Begriffsverwirrungen gelesen werden, etwa wenn er neben die Toleranz ein anderes
ruiniertes Wort stellt: Zivilcourage. Jeder will ja diese Eigenschaft besitzen,
will im entscheidenden Moment »Sophie Scholl« sein (jedoch ohne Fallbeil
[und wohl auch eher »Hans Scholl«, denn: es
war Hans Scholl, der die die Widerstandsgruppe »Weiße Rose«
gründete und u.a. auch seine jüngere Schwester Sophie motivierte! HB]).
Leute wie Wolfgang Thierse aber haben das Wort Zivilcourage bis auf weiteres kaputtgemacht,
indem sie während eines Massenauflaufs gegen »Rechts« jedem Teilnehmer
Zivilcourage attestierten. Neben einhunderttausend anderen Leuten zu stehen und
eine Kerze zu halten, ist jedoch kein Beweis für Mut, es ist allenfalls ein
Vorsatz, beim nächsten beobachteten Glatzen-Angriff auf einen schwarzen Mitbürger
intolerant zu reagieren. »Toleranz ist gefühlte Zivilcourage, die man
nicht unter Beweis stellen muß«, schreibt Broder etwas verwirrend,
aber er meint das Richtige, nämliche dasselbe wie Armin Mohler, der stets
und vehement davon abriet, Leute schon für ihre guten Vorsätze zu prämieren.Das
Gebot der Stunde ist also die Intoleranz, oder besser: das Lehren und das Erlernen
der Intoleranz dort, wo das Eigene in seiner Substanz bedroht ist. Hier können
wir ein seltsames Phänomen beobachten: den Sieg der Erfahrung über die
Theorie. »So ist es nicht der klassische Spießer, der überall
sein fürchterliches Gesicht zeigt, sondern der chronisch tolerante Bildungsbürger,
der für jede Untat so lange Verständnis äußert, wie sie nicht
unmittelbar vor seiner Haustür passiert« (wiederum Broder). Dann aber!
Dann aber! Dann kann man nur hoffen, daß aus Erfahrung klug wurde, wessen
Vorstellungsvermögen nicht hinreichte, die Lage des Ganzen (etwa: der Nation)
zu seiner eigenen Sache zu machen.Broders Buch, Ulfkottes neue Schrift
oder die Zurüstung zum Bürgerkrieg von Thorsten Hinz: Die Beispiele
für die verheerende Auswirkung der reinen Toleranz auf die Verteidigungsbereitschaft
und -fähigkeit auch nur unserer eigenen Nation sind längst gesammelt
und können gelesen und ausgewertet werden. Aber die Flucht in die 9. Todsünde,
die Toleranz, scheint zu süß zu sein, und sie ist wohl angemessen für
den Teil der Welt, der »schon Hemmungen hat, sich selbst zivilisiert
zu nennen, um die anderen nicht zu kränken« (ein letztes Mal: Broder).
(Ebd., Februar 2009). |