Ein schönes historisches Bild feiert
im Verlauf der Finanzkrise Wiederauferstehung: das Bild vom »ehrbaren Kaufmann«,
der seine Geschäfte energisch mit den Prinzipien christlicher und »alter
teutscher« Moral und Anständigkeit verbindet und sich darin durch keinerlei
Versuchung in Form von lockenden Spekulationsgewinnen irre machen läßt.
»Wir brauchen den ehrbaren Kaufmann, um so schnell wie möglich aus
dem Desaster herauszukommen«, so tönt es jetzt von Angela Merkel bis
Peer Steinbrück, und der Beifall, den sie finden, ist allgemein. (Ebd.,
Dezember 2008, S. 14).Geprägt hat den Begriff - laut Philippe
Dollinger, dem Verfasser des grundlegenden Werkes Die Hanse - vor langer
Zeit der Lübecker Bürgermeister und geniale Hansekaufmann Hinrich Castorp
(1420-1488), als er auf einem der damaligen »Hansetage« die angereisten
Größen der mächtigen mittelalterlichen Handelsvereinigung gewissermaßen
moralisch aufrüsten wollte. Wir brauchen uns weder vor Königen noch
vor Bischöfen zu verstekken, mahnte Castorp, unser Gewerbe ist gottgewollt,
und es ist von Gott geregelt und gesegnet wie die Arbeiten des Landmanns und des
Handwerkers in den Städten. Unter Ehrbarkeit verstand Castorp (und verstanden
alle Späteren, die seine Rede aufnahmen und bekräftigten) die unbedingte
Einhaltung des biblischen Dekalogs beim Handelsgeschäft: »Du sollst
nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst das Hab und Gut
deines Nächsten achten und respektieren.« Das war keine Selbstverständlichkeit,
im Gegenteil, die Händler umwehte seit Urzeiten der Geruch des Falschredens,
des Betrügens und der Mißachtung des Eigentums anderer. Die Bibel weiß:
»Ein Kaufmann kann sich nur schwer hüten vor Unrecht und Sünde«
(Jesus Sirach 26, 28). Und Buddha lehrte: »Kein Lotus ohne Stempel, kein
Kaufmann ohne Betrug«. Das Mißtrauen war von Anfang an da, und es
nahm im Laufe der Zeiten eher noch zu. (Ebd., Dezember 2008, S. 14-15).Händler,
Kaufleute waren »anwesend und dazwischen« beim Tausch von Lebensgütern,
und es fiel ihren Mitmenschen, ob Gelehrten oder Tölpeln, seit jeher schwer,
sie als notwendige Funktionäre des Lebens ernst zu nehmen. Sie schufen nichts,
sie transportierten nichts (das taten die Seeleute und Karawanentreiber), sie
»vermittelten« nur, sie schätzten den Wert der Tauschgüter
ein, sie waren, bei Lichte betrachtet, keine Funktionäre, sondern selber
Funktion. Ihr einziges »Arbeitsgerät«, das Geld, spiegelte das
genau ab. Auch das Geld war bloße Funktion, kein Wert an sich, sondern lediglich
ein Zeichen, ein Symbol für Werte. Und dieses Symbol verwandelte unter der
Hand ein konkretes Lebensgut während des Tausches in eine bloße Zahl,
in eine Summe, eine Quantität. Das löste von Anfang an schwerste Irritationen
aus. (Ebd., Dezember 2008, S. 15).Aristoteles, der erste
wissenschaftliche Ökonom der Weltgeschichte, hat die ungeheure Bedeutung
dieses Verwandlungsprozesses bereits im vierten Jahrhundert vor Christus voll
durchschaut und daraus spezifische Konsequenzen gezogen. Das Geschäft der
Händler, sah er, ist prinzipiell zweideutig, es ist einerseits »Beschaffungskunst«,
andererseits »Bereicherungskunst«, sogenannte »Chrematistik«.
Letztere tauscht nicht mehr bieder eine für den Haushalt, den »Oikos«,
benötigte Sache gegen eine andere, sondern macht den Tausch zum Eigenzweck,
um einen in Geld abbildbaren Gewinn daraus zu ziehen, welcher nicht in den Sachen
und nicht in den Bedürfnissen selbst liegt. (Ebd., Dezember 2008, S.
15).Für Aristoteles war das eine schlimme Störung nicht
nur der ökonomischen Harmonie, sondern auch des menschlichen Grundwerts der
Gerechtigkeit. Der Beruf des Händlers, des Kaufmanns, spaltete sich für
ihn auf in einen ehrbaren, moralisch rechtfertigbaren Teil, eben die Beschaffungskunst,
und in einen moralisch nicht mehr rechtfertigbaren, die Chrematistik, in seiner
Sicht eine Art höheres Gaunertum. Ihr abschreckendes Symbol war König
Midas, der bekanntlich alles, was er anfaßte, in Gold verwandelte - und
eben dadurch letztlich verhungern mußte. Als glänzendes Gegenbeispiel
schildert Aristoteles Thales von Milet, einen der sprichwörtlichen »sieben
Weisen« der Antike, der mit Hilfe der Astronomie die Höhe der jeweiligen
Olivenernte habe voraussagen können. Er hätte auf Grund dieses Exklusivwissens
überlegen spekulieren und sich dadurch außerordentlich bereichem können,
ließ es aber sein, weil er um den Wert der Gerechtigkeit wußte und
sich nie freiwillig in die Niederungen absoluter Tugendferne hineinbegeben hätte.
(Ebd., Dezember 2008, S. 15).Logisch folgte aus der Ablehnung der
Chrematistik die Ablehnung des Zinsnehmens. »Das Geld«, schrieb Aristoteles
in seiner Politeia, »ist um des Tausches willen erfunden worden.
Durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst, und das ist eindeutig
wider die Natur und wider die Gerechtigkeit«. Dieser Satz gewann im Abendland
für Jahrtausende kultischen Rang und absolute Gültigkeit. Sämtliche
Könige und Bischöfe verurteilten das Zinsnehmen, zumal ja auch die Bibel
ausdrücklich ein Zinsverbot fordert (Lukas 6,35, Jesus spricht: »Tut
wohl und leihet, daß ihr nichts davon hoffet!«); da sie aber, um zu
Geld für ihre Bauten und Feldzüge zu kommen, sich auf Geschäfte
mit Geldleuten einlassen mußten, welche Zins durchaus forderten und auch
erhielten, wurden diese Geldleute, meistens Juden, wenigstens kulturell stigmatisiert
und aus der »Gesellschaft der guten Leute« ausgeschlossen. (Ebd.,
Dezember 2008, S. 15).Erst zur Zeit der großen Deutschen
Hanse und der norditalienischen Handelsstädte im hohen Mittelalter änderte
sich das allmählich. Thomas von Aquin, der damals führende (Sozial-)Philosoph,
gab das Tempo vor. Zwar kannte er selbstverständlich das Jesuswort, wußte
dessen Verbot aber variantenreich zu relativieren. Ein Darlehensnehmer, schreibt
er, könne doch ein Geschenk an den Gläubiger zahlen, dafür, daß
dieser ihm aus der Not geholfen habe. Und dann die entscheidende Stelle: »Ein
Zinsnehmer nimmt beim Verleihen von Geld ja nicht nur ein bestimmtes Risiko auf
sich, was das Wiederkriegen zum vollen Wert und zum verabredeten Termin betrifft,
sondern auch einen Verlust an eigenen Lebensmöglichkeiten, und das muß
gerechterweise honoriert werden. Und wer sein Geld als Gesellschafter in ein Unternehmen
einbringt, der darf auch einen bestimmten Anteil am Gewinn fordern, auch wenn
er sich nicht selbst direkt an der Operation beteiligt hat« (Thomas von
Aquin, Summa theologiae II/II, 36). (Ebd., Dezember 2008, S. 14).Wir
haben hier das wohl erste abendländische Dokument dessen, was man im engeren
Sinne Kapitalismus nennt. Der Kapitalist, der Kapitaleinsetzer, rückt moralisch
gleichberechtigt neben den Arbeiter. Das Kapital darf sich - Aristoteles und Jesus
hin oder her - »durch sich selbst« vermehren, der antike und auch
frühkirchliche, biblische Bann, der bisher über diese Weise des Geldverdienens
verhängt war, ist gebrochen. Thomas war sich der sensationellen Neuartigkeit
seines Urteils durchaus bewußt; davon zeugt, daß er gleich einen ganzen
Katalog von Kautelen aufstellte, die das Kapital ehrbar halten und so die These
von der moralischen Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit für die Zeitgenossen
annehmbar machen sollten. (Ebd., Dezember 2008, S. 15-16).Kapitalgewinne
sind unaufhebbar sozialpflichtig, schreibt Thomas, sie verpflichten zu Hilfe und
Unterstützung der Armen wie der gesamten Gemeinschaft. Ordensleute, Klöster
und Kirchen, aber auch weltliche Herrschaften sollen sich grundsätzlich nicht
an Geldgeschäften und Gewinnspekulationen beteiligen. Ein Odeur von Mißbilligung
bleibt also, aber die Büchse der Pandora, wenn man so will, ist geöffnet,
und sie war nicht wieder zuzukriegen, es sei denn unter Hinnahme schwerster Verluste
an Fortschritt und technischer Innovationskraft. Einer der Hauptfehler des Kommunismus
war ja zweifellos, daß er den Faktor Kapital vollständig aus seinen
Plänen herauszuhalten versuchte - mit verheerenden, letzten Endes tödlichen
Folgen für das ganze System. (Ebd., Dezember 2008, S. 16).Es
geht - auch in der gegenwärtigen Finanzkrise - nicht um die Alternative Kapitalismus
oder Kommunismus beziehungsweise Staatswirtschaft, sondern einzig darum, den Kapitalismus
ehrbar zu halten. Thomas von Aquin war es vorrangig um die Einforderung von Sozialpflichtigkeit
zu tun; beim Hanseaten Hinrich Castorp trat die Ermahnung hinzu, sich nicht erst
nach Abschluß der Geschäfte sozial zu geben und vom Gewinn zu spenden,
sondern bereits während der Geschäfte in jeder Hinsicht anständig
zu bleiben, die entscheidenden Operationen transparent und überschaubar zu
gestalten und eventuelle Risiken nie auf Kosten anderer, immer nur auf eigene
Kosten einzugehen. Eben in solchem Verhalten offenbare sich der ehrbare Kaufmann.
(Ebd., Dezember 2008, S. 16).Nicht verkehrt ist es, darauf hinzuweisen,
daß dieses einst von der Hanse entworfene Ideal vom ehrbaren Kaufmann die
ganze deutsche Wirtschaftsgeschichte durchaus geprägt hat; nicht zuletzt
dadurch unterscheidet sie sich positiv von der angelsächsischen. Deutsche
Kaufleute waren - nach einer berühmten Unterscheidung von Carl Schmitt (in
seinem Buch Land und Meer, 1942) - »Landtreter«, im Unterschied
zu den angelsächsischen »Seeschäumern«. Während die
Landtreter, wenn sie über ihre Heimatregion hinausgriffen, ständig unmittelbar
mit anderen Kulturen konfrontiert wurden, mit denen sie sich messen und arrangieren
mußten, pflügten die Seeschäumer zunächst einmal weite, schier
unendliche Meere, auf denen gar nichts war, »leerer Raum«. Und das
hatte Folgen. Die neuen Völker, bei denen sie schließlich anlandeten,
gehörten in der Sicht der Ankömmlinge selber zum leeren Raum, zur »offenen
Grenze«, waren leicht unterwerfbar oder gar schlicht ignorierbar. Sie waren
weder ernsthafte Verhandlungspartner noch ebenbürtige Rivalen, die in harter,
offener Auseinandersetzung besiegt, respektive bekehrt werden mußten, sondern
bloße Manövriermasse im Kalkül der »Kolonisatoren«.
Gut möglich, daß sich diese originäre Seeschäumer-Mentalität
bis ins moderne angelsächsische Geschäftsgebaren fortgesetzt hat und
auch noch die jüngsten Operationen von Wall Street mit oberfaulen Krediten
und irren »Derivaten« und »Zertifikaten« prägt. (Siehe
auch: Die Seeschäumer und der solide Kleinkredit, in: JF, Nr. 42,
10. Oktober 2008 **).
(Ebd., Dezember 2008, S. 16).Die Welt in all ihren Differenzierungen
und Variabilitäten ist in der Sicht dieser Leute zur bloßen Manövriermasse
für Seeschäumer geworden, zum leeren Raum im Kalkül von Händlern,
die zu lange nur Meer, im aktuellen Fall also: nur Geldscheine und nichts als
Geldscheine, gesehen haben und die nun alle konkreten Formen des Lebens ebenfalls
für nichts als Geld halten. So etwas tut keinem gut, siehe König Midas.
Für die Landtreter ihrerseits waren die Geschäftsfelder über die
Zeiten hinweg identisch mit alter Kulturlandschaft, welche Respekt erheischte
und auf die es Rücksicht zu nehmen galt. Die Geschäfte litten unter
derlei Rücksichtnahme nicht. Die Effizienz deutscher Kaufleute war, sofern
man ihnen nicht von außen interessengeleitete Fesseln anlegte, stets mindestens
so groß wie die der angelsächsischen, und zwar ohne daß sie sich
je in hausgemachte Exzesse von Manchestertum und Hyperspekulation verrannten.
Die Entdeckungen und Innovationen der deutschen Realwirtschaft bewegten die Welt
und verliehen ihr Esprit, ihre großen Unternehmerpersönlichkeiten,
Borsig, Siemens und die veilen anderen Deutschen stehen, was Sozialpflichtigkeit
und Vermeidung irrealer Risiken betrifft, untadelig da. (Ebd., Dezember
2008, S. 16).Die Einübungen, die letzthin zutage traten, sind
allerneuesten Datums. Seit fast zwanzig Jahren war ein von vielen Seiten betriebener
ideologischer Angriff auf das deutsche Wirtschaftsmodell zu beobachten, das als
»rheinischer Kapitalismus«, »Deutschland AG« oder auch
»schief gewickelte Soziale Marktwirtschaft« maliziös belächelt
oder frontal attackiert wurde, unter Dauerhinweis auf das angeblich unendlich
überlegene angelsächsische Wall-Street-Modell. Führende deutsche
Wirtschaftsmanager wie Mathias Döpfner (Axel Springer AG) erklärten
sich in Spiegel-Interviews und anderswo als »glühende Anhänger
des us-amerikanischen Kapitalismus« und riefen die deutschen »Hinterwäldler«
zur Nachahmung auf. Sämtliche großen Zeitungen legten ihrem traditionellen
Wirtschaftsteil extra einen »Finanzwirtschaftsteil« bei und gaben
zu verstehen, daß einzig dort die »eigentlichen«, nämlich
satte Gewinne versprechenden Geschäfte beleuchtet und (begeistert) kommentiert
würden. (Ebd., Dezember 2008, S. 16-17).Kein Wunder
also, daß mit als erste die ehemals biederen deutschen Landesbanken wie
verrückt neuartige (also: betrügerische) angelsächsische »Finanzprodukte«
zu kaufen begannen und die rot-grüne Schröder-Fischer-Regierung in Berlin
auch noch die letzten Kontroll-Instanzen für Banken- und Börsenaufsicht
außer Gefecht setzte. Ein regelrechter »neo-liberaler« Rausch
setzte ein und befiel vor allem Bankmanager, Wirtschaftsnobelpreisträger
und andere »Experten«. Jetzt, da die Katastrophe da ist, will niemand
etwas gewußt haben - und sie haben es wohl auch tatsächlich nicht gewußt.
Das System, das »erfolgreichste Modell« (Döpfner), schuf sich
»Experten« nach seinem eigenen Maß. Sie haben buchstäblich
keine Ahnung von dem, womit sie spekulieren. Alles, was sie machen, ist pure Luftballon-Aufblaserei,
darauf abgestellt, Augenblickseffekte zu erzielen und mitzunehmen, was nur mitzunehmen
ist, bevor die Blase platzt. (Ebd., Dezember 2008, S. 17).Ob
die jetzt geplatzte Blase die letzte in der modernen Wirtschaftsgeschichte gewesen
ist? Skeptiker bezweifeln das, weisen auf die dem Kapitalismus angeblich
innewohnende »schöpferische Zerstörung« hin und raten zur
Hinnahme des »Unausweichlichen«. Andererseits sind sich im Grunde
alle darüber einig, daß Krisen von der Dimension der gegenwärtigen
eine derartige globale Zerstörungswucht entfalten, daß danach kein
Stein mehr auf dem anderen steht und faktisch keine Erholung, geschweige denn
Erholung auf höherem Niveau, mehr möglich ist. Wie sprach der bekannte
Ökonom Joseph E. Stieglitz in Hinblick auf die jüngsten Ereignisse?
»Noch ein solcher Tsunami, und die Weltwirtschaft ist Vergangenheit.«
(Joseph E. Stieglitz, Der Schatten der Globalisierung, 2004). Die momentane
Krise muß einfach die letzte ihrer Art gewesen sein, weil es bei Wiederholung
nur noch allgemeinen Untergang gäbe. (Ebd., Dezember 2008, S. 17).Prinzipiell
krisenverhindernde Lehren und Programme sind gefragt. Aber manchmal erweist sich,
daß die wirksamsten »neuen« Lehren und Programme in Wirklichkeit
die bewährten alten sind, auf die man sich »nur« zu besinnen
braucht, um dem Ungeheuer erfolgreich in den Rachen greifen zu können. Das
hanseatische Ideal vom ehrbaren Kaufmann enthält ein solches altneues Programm.
Worauf es jetzt ankommt, ist (übrigens nicht nur in der Wirtschaft), den
eigenen bewährten Traditionen zu vertrauen, sie bedachtsam und kaltblütig
anzuwenden und sich darin von niemandem irre machen oder gar gewaltsam daran hindern
zu lassen. Man kann so auch ein Beispiel setzen, das in anderen Weltregionen zum
Wohle aller bedacht werden mag. (Ebd., Dezember 2008, S. 17). |