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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  http://www.Junge Freiheit.de/        1. Dezember 2006

 


Angst vor dem Volk
Krise der Demokratie: Die Herrschenden mißtrauen den Beherrschten
(von Karlheinz Weißmann)

Es gibt zwei grundsätzliche Probleme politischer Ordnung: die Neigung der Herrschenden, ihre Position um jeden Preis zu behaupten, und die Neigung der Beherrschten, sich nicht beherrschen zu lassen.

Was den ersten Punkt betrifft, so handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit, die keiner Erläuterung bedarf. Es liegt in der Natur des Machtbesitzes, mit einer Prämie verbunden zu sein, die kaum jemand freiwillig aufgibt. Was die zweite Schwierigkeit angeht, so ist zwar bekannt, daß man auf Bajonetten schlecht sitzt, heikler bleibt die Beantwortung der Frage, wie man die Beherrschten zur Hinnahme oder - besser noch - Bejahung des Beherrschtwerdens veranlassen kann.

Der Aufstieg der modernen Demokratie erklärt sich aus der Verheißung, daß sie beide Probleme weitgehend oder vollständig beheben könne: Herrschaft auf Zeit durch gewählte Repräsentanten, institutionelle Kontrolle und Prinzip der Rechtsgleichheit, Abstimmungsverfahren und Mehrheitsentscheidung sollten Machtmißbrauch ausschließen; in einer Demokratie würde die Staatsordnung von allen bereitwillig getragen, da sie die Staatsordnung aller wäre. Daß die hochgespannte Erwartung nicht ohne weiteres in Erfüllung gehen würde, zeichnete sich schon nach den ersten Erfolgen der demokratischen Bewegung im 19. Jahrhundert ab. Der Liberale John Stuart Mill, der eben noch als "Demokrat" gegolten hatte, gab offen zu, daß man nur aus polemischen Gründen mit dem "Volk" argumentiert habe, seine tatsächliche Beteiligung an der Macht erscheine kaum sinnvoll; der mündige Bürger, die Voraussetzung der Demokratie, stehe nicht in unbegrenzter Zahl zur Verfügung.

Versuche, die Demokratisierung aufzuhalten, abzubrechen oder umzubiegen, scheiterten indes an der Wucht, mit der sich dieser Prozeß in Europa, den beiden Amerikas und den weißen Siedlungskolonien in Übersee vollzog. Schon am Ende des Ersten Weltkriegs war er weitgehend erfolgreich. Aber nach Etablierung des demokratischen Prinzips kehrte überraschenderweise das Problem zurück, wie man die Zustimmung der Vielen zur bestehenden Ordnung sichern sollte. Die Loyalität der Massen war auch dann ungewiß, wenn die Identität von Herrschern und Beherrschten behauptet wurde.

Noch am besten haben jene Staaten die Schwierigkeiten bewältigt, die über eine lange gewachsene Demokratietradition verfügten - vor allem Großbritannien und die skandinavischen Länder - und in denen bestimmte, nichtdemokratische, Bestände geschützt waren, die die Stabilität des Verfassungsganzen förderten. Wo es keine so günstigen Bedingungen gab, drohte sich regelmäßig die radikale Alternative dieser "organischen Demokratie" durchzusetzen: die "totalitäre Demokratie". Der von Jakob Talmon geprägte Begriff bezeichnet Systeme, die ihre Legitimität zwar aus der Zustimmung des Volkes ableiten, aber den Souverän einer permanenten Mobilisierung und einer Erziehung mit allen Mittel des positiven (Propaganda) und negativen Zwangs (Terror) unterwerfen. In der totalitären Demokratie, dem Sowjetsystem ebenso wie dem Nationalsozialismus, ist auch die Wiederkehr des ersten Problems aller politischen Ordnung offenkundig: Diese Staatsformen werden regelmäßig von einer Nomenklatura beherrscht, die keine Machtkonkurrenz duldet und Regeln aufstellt, die von ihr selbst nicht eingehalten werden müssen.

Man hat es als besonderen Vorzug des dritten Typus der Demokratie angesehen, daß er diese Dysfunktion vermied. Gemeint ist die alimentierende Demokratie, also eine Demokratie, die ihre Bürger durch Versorgung bindet. Versorgt wird man entweder mit ökonomischen Vorteilen - so im Fall des Wohlfahrtsstaates - oder ökonomischen Chancen wie im Fall des amerikanischen Systems. Die alimentierende Demokratie war im 20. Jahrhundert oft gefährdet, aber nach dem Kollaps der Sowjetunion rückte ihr Endsieg in greifbare Nähe. Nur hielt auch dieser Triumph nicht, was er versprach. In den alimentierenden Demokratien waren längst politische Klassen entstanden, die sich abschotteten und über Möglichkeiten verfügten, um Mitbewerber von der Einflußnahme fernzuhalten. Die in ihren Verfassungen festgelegten Grundrechte und das Mehrheitsprinzip wurden regelmäßig in Frage gestellt, wenn das der Machterhaltung diente; im Namen aller möglichen demokratiefremden Prinzipien hat man Sondergesetze und Privilegien für korporativ erfaßte Bevölkerungsteile geschaffen und eine Gesellschaftspädagogik entwickelt, die zwar sanfter ist als die totalitäre, aber doch darauf ausgeht, den Souverän nach einem Bild zu formen, das nicht seinem Wesen entspricht.

Die Effizienz dieser Herrschaftspraxis ist unbestreitbar, und doch wächst das Unbehagen. Das hat nur am Rande mit dem Verbleib der "unterentwickelten" Regionen zu tun, wichtiger ist das Mißtrauen der Herrschenden gegenüber den Beherrschten. Die hat man gezielt in eine unorganische Größe überführt, die alte Gleichung demos=ethnos aufgehoben und eine Menge von Einzelnen geschaffen, die wenig mehr verbindet als das Interesse daran, daß die Versorgung aufrechterhalten wird. Je heterogener aber die Bevölkerungen, desto stärker die Gefahr, daß sich Teile verselbständigen und den Loyalitätsglauben ganz verlieren. Da dem immer weniger durch Alimentierung begegnet werden kann, greift man auf klassische Polizeimaßnahmen und neuartige, umfassende Kontrollen zurück.

Klügere Beobachter haben indes bemerkt, daß zum Gelingen der Integration des Einzelnen in das größere Ganze Bestände gehören, wie sie nur in der organischen Demokratie vorhanden waren. Vom Fußballpatriotismus über die "Aktion Gemeinsinn" bis zum Appell der Kirchen an die "Tugenden", von der kommunitaristischen Theorie bis zur Debatte über "Ligaturen", die dem Individuum mehr gesellschaftlichen Halt geben sollen, reicht mittlerweile die lange Kette hilfloser Versuche, etwas wiederzugewinnen, was längst verloren ist und jedenfalls nicht nach Wunsch "konstruiert" werden kann.

Was die Stärke der organischen Demokratie ausgemacht hat, wurde zerstört, um die Durchgriffschancen zu erhöhen. Jetzt sind die Ressourcen aufgebraucht, und die Mächtigen haben Angst vor dem "großen Lümmel" wie die Mächtigen in vordemokratischen Zeiten. Die Sorgen schwinden nicht einmal bei besseren Wirtschaftsdaten. Anfang des Monats ergab eine Umfrage in Deutschland zum ersten Mal, daß über die Hälfte der Beteiligten kein Zutrauen mehr in die Demokratie hat.

Junge Freiheit vom 1. Dezember 2006


 

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