| | Das System
ist pervers (von Baal Müller)
Thilo Sarrazin
erquickt uns nicht nur durch seine klare, um Tabus unbekümmerte Sprache,
sondern er erstaunt durch sein ernstliches, besorgtes Nachdenken über die
Zukunft Deutschlands sowie durch die nicht neuen, aber für einen Vertreter
der politischen Klasse ungewöhnlichen Vorschläge, mit denen er
der demographischen Katastrophen-Zusammenballung aus Bevölkerungsschwund,
Überalterung, Verarmung, Überfremdung und intellektueller Auszehrung
begegnen will. Die meisten Lösungsansätze des Volkswirtes liegen
im finanzpolitischen Bereich und zielen darauf ab, die Kinderzahlen der Leistungsträger
zu erhöhen und die Reproduktionsraten der Unterschichten, besonders derjenigen
mit Migrationshintergrund, zu senken. Immer wieder rechnet er vor, wie
das derzeitige Transfersystem Leistungs- und Aufstiegswillen lähmt, indem
es dafür sorgt, daß Grundsicherungsempfänger insbesondere mit
mehreren Kindern ein deutlich höheres Einkommen erhalten als
viele Arbeitstätige, und benennt als Gegenmaßnahmen die Begünstigung
der Bessergestellten (statistisch der Klügeren, Innovativen und Produktiven)
durch entsprechende Kinderfreibeträge, Prämien, die mit Ausbildungserfolg
verkoppelt sind, Abschaffung des einkommensunabhängigen Kindergeldes, Arbeitspflicht
für Transferleistungsempfänger, Kita-Pflicht (um der Vernachlässigung
der Prekariatskinder entgegenzuwirken), Leistungskürzungen bei unentschuldigten
Fehlzeiten in der Schule und so weiter. Libertäre Anarchokapitalisten
Sarrazins Forderungen sind insgesamt maßvoll, kühl und technokratisch;
von einer Rückführung integrationsunwilliger Migranten in größerem
Stil ist bei ihm ebensowenig die Rede wie vom Erhalt des christlichen Abendlandes
er verteidigt lediglich aufklärerisch-säkulare Prinzipien und
tritt für ökonomische Vernunft ein. Konservativ ist er allenfalls aufgrund
seines realistischen Menschenbildes und seiner ausgeprägten Staatsorientierung;
ansonsten ist er, im Gegensatz zum linksliberalen Kulturrelativismus (oder Selbsthaß),
nationalliberal. Vom Rechtspopulismus trennen ihn seine elitäre
Grundhaltung sowie seine verhaltene Skepsis hinsichtlich der Machbarkeit des Notwendigen
im Rahmen der Parteidemokratie. Einem libertären Anarchokapitalisten wie
Hans-Hermann Hoppe nicht ganz unähnlich (wenn auch wegen seines Etatismus
weniger radikal), weist er darauf hin, daß sich in einer Demokratie meist
diejenigen Parteien durchsetzen, die möglichst viele soziale Versprechungen
machen, und daß deren Erfolg an eine breite, transferabhängige Unterschicht
gebunden ist, weshalb grundlegende Reformen systemimmanent ausgeschaltet werden.
Das System ist in vielerlei Hinsicht pervers. Dieser Schluß
hat etwas Bedrohliches, denn er impliziert, daß die von Sarrazin gegen die
Islamisierung in Stellung gebrachte wehrhafte Demokratie, in welche sich die Zuwanderer
integrieren sollen, den Keim ihres Unterganges immer schon in sich trägt
und dies nicht nur aus sekundären, veränderbaren ideologischen
Gründen wie einem überdehnten, sich selbst aufhebenden Toleranzbegriff
oder einer pathologisierten Vergangenheitsbewältigung, sondern
aufgrund der Konstruktion des Ganzen. Neuauflage des preußischen
Dreiklassenwahlrechts Erlaubt man sich, an dieser Stelle weiterzudenken,
so lassen sich Sarrazins Vorschläge, an denen breite Schichten kein Interesse
haben, mit wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen gar nicht umsetzen
die dazu nötigen Mehrheiten müßten, erst recht, wenn die
jetzige demographische Entwicklung noch länger fortschreitet, autoritär
mit Hilfe einer Art Neuauflage des preußischen Dreiklassenwahlrechts geschaffen
werden. Warum sollen die Leistungsträger nicht auch ein höheres
Stimmengewicht haben als diejenigen, die wenig zur Gemeinschaft beitragen? Den
Rahmen böte das gelegentlich diskutierte Familienwahlrecht, bei dem die Eltern
die Stimmen für ihre minderjährigen Kinder wahrnehmen, sowie ein an
berufliche Qualifikationen, Steuerlast und so elementare Partizipationsvoraussetzung
wie Sprachkenntnisse und Alphabetisierung geknüpftes Stimmensplitting.
Der Vorteil eines solchen Modells läge darin, daß sich das Richtige
schnell und effizient durchsetzen ließe, der Haken wäre allerdings,
daß die Kategorien von richtig und falsch nur noch schwer verändert
werden könnten. Ein solcher platonischer Staat, in dem
die Besten herrschen, tendiert möglicherweise zur Erstarrung und würde
nicht mehr angemessen auf neue Herausforderungen reagieren (es sei denn, Innovationsfreude
wäre gerade auch ein Charakteristikum der Qualifiziertesten). Er sei aus
diesem Grunde nicht mit Eifer propagiert wohl aber zur Diskussion gestellt. Junge Freiheit vom 14. Oktober 2010 | | |