"Ein
Lebensstil, der die Grundlage unserer Gesellschaft zerstört" Im
Gespräch: Der Soziologe Meinhard Miegel über sein neues Buch "Epochenwende",
die Krise Europas als Krise der Welt, das Ende des Individualismus und die Renaissance
des Konservativen (von Moritz Schwarz / Jörg Fischer) Herr Professor
Miegel, was halten Sie von Oswald Spengler? Miegel: Ein sehr bemerkenswerter
Mann. Allerdings teile ich weder seine Diagnose noch seine Therapie. Nicht
nur bei der Lektüre Ihres neuen Titels "Epochenwende. Gewinnt der Westen
die Zukunft?", ebenso bei Ihren früheren Büchern "Das Ende
des Individualismus" und "Die deformierte Gesellschaft" gewinnt
man allerdings den gegenteiligen Eindruck. Miegel: Das höre ich immer
wieder. Entweder ist Oswald Spengler oder bin ich nicht richtig gelesen worden. Warum
sträuben Sie sich so gegen eine Parallelisierung? Fürchten Sie als "Spenglerianer"
von der "Political Correctness" stigmatisiert zu werden? Miegel:
Ich sträube mich nicht gegen Parallelisierungen, sondern gegen Schubfächer.
Spengler ist Spengler. Ich bin ich. Wenn Sie lieber auf Ihre Inhalte zu
sprechen kommen wollen, dann müssen wir als erstes über Demographie
reden. Sie weisen in "Epochenwende" darauf hin, daß in der Soziologie
der Menschheit nun ein Faktor aufgetreten ist, den es zuvor in der Geschichte
noch nicht gegeben hat. Miegel: Bleiben wir ruhig bei Spengler. Seit seiner
Zeit hat sich die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland und Europa annähernd
verdoppelt - mit weitreichendsten Folgen. Verglichen mit Spenglers Zeit ist die
heutige Gesellschaft schon aufgrund ihrer Altersstruktur ein Aliud - etwas grundlegend
Anderes. Während des längsten Teils der Menschheitsgeschichte bestand
die Gesellschaft im wesentlichen immer nur aus zwei Generationen: den Eltern und
ihren Kindern. Heute leben fünf Generationen gleichzeitig. Die Europäer
altern, und zwar mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Und Europa ist
nur der Anfang? Miegel: So ist es. Die übrige Menschheit folgt den
Europäern auf den Fersen. Selbst in den unterentwickeltsten Ländern
haben die Menschen heute eine Lebenserwartung wie die Europäer in den vierziger
Jahren. Und sie holen rasch weiter auf. Weltweit müssen wir uns also auf
eine völlig neue Herausforderung vorbereiten: eine alte Menschheit. Diese
unvermeidliche Herausforderung ist aber nur die eine Hälfte des Problems,
das Sie beschreiben. Die andere - vor der Sie in allen Ihren Büchern nachdrücklich
warnen - ist eine im Grunde vermeidbare: die Vergeudung unserer kulturellen und
zivilisatorischen Ressourcen. Miegel: In der Tat pflegen viele heute einen
Lebensstil, der dazu angetan ist, die Grundlagen einer Gesellschaft zu beschädigen,
wenn nicht gar zu zerstören. Wie Spengler sehen Sie in diesem Niedergang
allerdings zugleich die Etappe eines historischen Prozesses - der auch deshalb
stattfindet, weil hier in Europa gewissermaßen die Zukunft zuerst eintritt. Miegel:
Alle solchen Entwicklungen sind historische Prozesse. Schauen Sie, wir Europäer
einschließlich unserer überseeischen Cousins und Cousinen waren in
den zurückliegenden 200 Jahren extrem privilegiert. Wir hatten gegenüber
der übrigen Menschheit beträchtliche Wissens- und Könnensvorsprünge,
funktionierende rechtliche und staatliche Ordnungen, eine hohe Kapitalakkumulation,
Zugang zu praktisch allen Ressourcen und und und ... Das erlaubte uns einen in
der Menschheitsgeschichte einmalig hohen Lebensstandard. Doch mittlerweile sind
zahlreiche Völker dabei aufzuholen. Das bedeutet nicht den Untergang des
Abendlandes. Aber bislang bestehende Unterschiede werden eingeebnet. Es
gilt allerdings genau auseinanderzuhalten, wovon Sie wann sprechen: Einmal ist
da - wie eben beschrieben - der Abstieg, der sich durch den natürlichen Verlust
der Vorrangstellung ergibt. Zum anderen wäre da aber der Abstieg, der sich
selbstverschuldet durch gesellschaftliche Mißwirtschaft ergibt. Oder, wie
Sie es formulieren: "Die Kultur des Westens zerstört sich selbst." Miegel:
Wenn große Bevölkerungsteile den Sinn ihres Lebens in der Aufrechterhaltung
und Mehrung ihrer Konsumfähigkeit sehen, ist das alarmierend. Diese Fokussierung
auf rein Materielles hat zwar dazu beigetragen, daß noch nie so viele materielle
Güter erwirtschaftet worden sind wie jetzt. Aber die Gesellschaft als solche
hat unter dieser Fokussierung gelitten. Die Folge: Weithin fehlt heute der Typ
Gesellschaft, der Voraussetzung für dynamisches Wirtschaften ist. Ihre
Antwort auf diese "deformierte Gesellschaft" erinnert - nicht im
Detail, aber en gros - wieder sehr an Oswald Spengler. Miegel: Ich möchte
Bewußtsein für veränderte Sicht- und Verhaltensweisen wecken.
Die derzeit dominierenden haben begonnen, sich ad absurdum zu führen. Das,
was Sie in Ihren Büchern als notwendige Tugenden beschreiben, um "die
Zukunft zu gewinnen", könnte man als eine "konservative Revolution"
bezeichnen. Miegel: Ich kann mit solchen Begriffen nicht viel anfangen.
Aber wenn Sie so empfinden, will ich Ihnen nicht widersprechen. Sie unterlassen
nichts, um beim Leser den Eindruck einer Gesellschaft in Dekadenz hervorzurufen. Miegel:
Dekadenz ist für mich ein kulturell-zivilisatorischer Terminus. Im
Grunde läßt sich Ihre Kritik auf eine Generalformel bringen: der Verlust
der Bindung. - Ob im privaten, ob in der Gesellschaft, ob zwischen Mensch und
Natur. Miegel: Richtig. Die Bindung ist in der politischen Philosophie
der Grundbegriff der konservativen Idee. Miegel: Gegen "konservativ"
habe ich nichts. Wer ist politisch verantwortlich für die Entstehung
der "deformierten Gesellschaft"? Miegel: Alle und keiner. Wir
reden von historischen Prozessen. Gibt es angesichts dieser Geschichtsergebenheit
noch Raum für eine gute und eine schlechte Politik? Miegel: Natürlich.
Wenn eine Politik mit Wort und Tat alles unternimmt, um die Zerrüttung einer
Gesellschaft zu beschleunigen, verdient sie wohl kaum das Prädikat "gute
Politik". Warum fühlen sich heute so viele Väter und mitunter auch
Mütter frei, ihre minderjährigen Kinder im Stich zu lassen? Doch nicht
zuletzt deshalb, weil ihnen immer wieder gesagt worden ist, ihre Selbstverwirklichung
habe unbedingten Vorrang. Die Scherben, die sie hinterließen, werde der
Staat schon wegräumen. Auf die Frage, warum Menschen kinderlos sind, ist
die am häufigsten gegebene Antwort: Ich kann mich auf meinen Partner nicht
verlassen. Zu häufig können sich Mann und Frau nicht aufeinander, Kinder
nicht auf ihre Eltern, Eltern nicht auf ihre Kinder verlassen. Die einstmals bestehende
Pflicht von Großeltern, gegebenenfalls für ihre Enkel aufzukommen und
ebenso umgekehrt, wurde von der Politik als "Sippenhaft" diffamiert.
Insofern spielt Politik schon eine Rolle. Der besorgte Bürger mag nach
der Lektüre Ihrer Bücher zu dem Schluß kommen, daß es unverantwortlich
ist, weiterhin diese politischen Eliten in ihrer Pflichtvergessenheit zu bestätigen,
sprich weiterhin den etablierten Parteien seine Stimme zu geben. Was raten Sie
ihm? Miegel: Vergessen Sie nicht, wir leben in einer Demokratie, und die
Parteien spiegeln schon recht genau Volkes Willen wider. Das Ganze ist ein Wechselspiel.
Politik und Bevölkerung beeinflussen sich gegenseitig. Wem die Richtung nicht
paßt, muß deshalb selbst politisch aktiv werden. Viele Leser
Ihrer Bücher wünschen sich: Meinhard Miegel müßte eine Reformpartei
gründen! Miegel: In Deutschland fehlt es nicht an Parteien, sondern
an guter Politik. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Sie hätten
die Chance gehabt, Minister zu werden. Warum haben Sie sich dagegen entschieden? Miegel:
Auch hier gilt: Es gibt genügend Personal. Viele Politiker wissen jedoch
nicht, was eigentlich nottut. Deshalb arbeite ich in einem Institut, das politisch
relevante Sachverhalte samt Lösungsvorschlägen aufbereitet und der Politik
zugänglich macht. Das Erarbeitete auch noch in praktisches Handeln umzusetzen,
würde jedermanns Kräfte übersteigen. Alle Ihre Reformanstöße
sind inhaltlich Konservativer Natur. Wenn konservative Werte also im Grunde die
Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft sind, warum hat dann die CDU ein
solches Problem mit konservativen Inhalten? Miegel: Weil solche Inhalte
nicht dem sogenannten Zeitgeist entsprechen. Sie zu leben ist mühsam. Dann
sollte Angela Merkel vielleicht langsam mal damit beginnen, beim Volk dafür
zu werben. Bislang kommt ihr aber noch nicht einmal das Wort "konservativ"
über die Lippen. Miegel: Das liegt vermutlich an der Verwirrung vieler
Begriffe. "Konservativ" wird weithin mit "reaktionär"
gleichgesetzt, "liberal" ist in Verbindung mit "neo" zu einem
Schimpfwort geworden. In Deutschland wäre schon viel erreicht, wenn wir uns
wieder einer gewissen Sprachhygiene befleißigen würden. Es ist doch
ein Unding, daß heute Menschen durch den Begriff "neoliberal"
oder auch "konservativ" regelrecht stigmatisiert werden können.
Umgekehrt kann allem und jedem mit dem nichtssagenden Begriff "sozial gerecht"
eine Art Weihe verliehen werden. Das macht politisch notwendige Debatten schwierig.
Die Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht, vor allem aber auch in begrifflicher
Hinsicht, desorientiert. Zum Beispiel auch im Falle des Begriffs Familie,
wie Sie schreiben. Miegel: Zum Beispiel. Ihr Buch enthält ein
Plädoyer für die Besinnung auf die Familie. Kann man sagen, daß
die Familie im Zentrum Ihres gesellschaftlichen Reformdenkens steht? Miegel:
Ich bin kein Familienpolitiker. Klar ist für mich allerdings, daß der
heranwachsende Mensch ein festes Bezugssystem braucht. Das findet er in der Regel
in der Familie. Wie definieren Sie Familie? Miegel: Familie ist, wo
Eltern und Kinder sind. Ist die Familie für Sie nur nutzenbringend
oder auch sinnstiftend? Miegel: Diese Frage sollten Sie einem Philosophen
stellen. Sie bekennen sich also zum funktionellen Wert der Familie, sehen
darin aber nicht unbedingt eine sinnstiftende gesellschaftliche Institution. Soweit
war sogar die rot-grüne Bundesregierung schließlich auch. Miegel:
Sie interpretieren da etwas in meine Antworten, das nicht in ihnen enthalten ist.
Mit dem Begriff "sinnstiftend" sollten wir sehr behutsam umgehen. Aber
zurück zur Familie. Ich sehe es als problematisch an, wenn dieser Begriff
heute auf alle möglichen Beziehungssysteme angewandt wird. Das trägt
dazu bei, daß auch dieser Begriff langsam, aber sicher seinen Inhalt verliert.
Familie sollte das bleiben, was sie ist: eine Gemeinschaft von Eltern und Kindern.
Alles andere sollte eigenständige Bezeichnungen erhalten. Eine Vision
von der Familie haben Sie also offenbar auch nicht. Mutet da Ihr Appell - die
Familie aus bloßer Einsicht heraus so wichtig zu nehmen, als wäre sie
eine Institution, ohne sich zu ihr als sinnstiftender Institution zu bekennen
- nicht an wie der Versuch, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen? Miegel:
Ich habe doch klar gesagt, was für mich Familie heißt. Was sollen in
diesem Zusammenhang "Vision", "Institution" oder "Bekenntnis"?
Können wir nicht zum schlichten Kern der Dinge zurückkehren? Eben Eltern
und Kinder, die meinetwegen zusammen mit Großeltern und Enkeln eine Gemeinschaft
bilden. Die Familienpolitik der unionsgeführten Bundesregierung, beziehungsweise
der CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen findet viel Lob, zum Beispiel
für das Elterngeld. Vom Familienverständnis her wirkt alles jedoch recht
sozialdemokratisch. Miegel: Wir leben in einer völlig durchmonetarisierten
und -kommerzialisierten Gesellschaft. Da darf es nicht verwundern, wenn auch Kinder
und Eltern in diesen Strudel geraten sind. Kinder werden gewissermaßen als
finanzielle Schadensfälle angesehen, für die die Gesellschaft die Eltern
zu entschädigen hat. Kinder, so heißt es, kosten ja nicht nur Geld.
Oft beeinträchtigen sie auch die Einkommenschancen der Eltern. Diese Sichtweise
wird von allen Parteien mehr oder minder geteilt. Christdemokraten und Sozialdemokraten
unterscheiden sich in dieser Frage nur mäßig. "Die Nation
hat eine wichtige historische Rolle gespielt" Die Familie könnte
man als ein Konzept der Bindung an der "Wurzel des Gesellschafts-Baumes"
bezeichnen. Die Nation wäre dann ein Konzept der Bindung auf Höhe der
Wipfel. Ist sie also ebenso ein Zukunftsmodell? Miegel: Die Nation, wie
wir sie heute kennen, ist im wesentlichen ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts.
Sie hat eine große historische Rolle gespielt und spielt sie zum Teil auch
heute noch. Aber für die Ewigkeit ist sie nicht bestimmt. Sie setzen
statt dessen auf ein Netz von "Euroregionen". Miegel: Je fester
sich die Europäische Union formiert, desto stärker werden die vor-nationalen
Regionen an Bedeutung gewinnen. Kritiker wenden ein, dies sei eine typisch
deutsche Idee, denn außer den Deutschen sei in Europa niemand bereit, seine
Nation zugunsten von Euroregionen aufzugeben. Miegel: Die Regionalisierung
ist doch in vollem Gange. Selbst in einem so traditionsbewußten Land wie
Großbritannien haben Schotten und Waliser ihre regionalen Eigenständigkeiten
nicht nur entdeckt, sie zelebrieren sie. Ähnliches gilt für Frankreich
oder Italien. Warum sollte es denn den Regionen gelingen, den Nationalstaat
zu ersetzen? Die EU etwa vermag dies bis heute nicht - und zwar nicht deshalb,
weil ihr die Kompetenzen fehlen, sondern weil es ihr nicht gelingt, die Loyalität
der Bürger im selben Maße zu binden, wie das der Nationalstaat immer
noch tut. Miegel: Wundert Sie das? Den Nationalstaat kennen die Bürger
seit langem. Europa kennen sie noch nicht. Aber wir sollten nicht vergessen, daß
sich die Menschen auch an den Nationalstaat gewöhnen mußten, und zwar
über Generationen hinweg. Europas Zukunft wird jedoch nicht nur geprägt
sein von der Frage nach der Nation, sondern auch nach der Migration. Ersetzt sie
als Europas Konfliktherd - so wie wir das unlängst in Frankreich erlebt haben
- künftig die "nationalen Friktionen" der Vergangenheit? Miegel:
Ich hoffe nicht. Aber unbestreitbar ist die Integration der Zuwanderer weithin
mangelhaft. Das schafft Konfliktherde. Wenn beispielsweise in einer Schulklasse
mehrere Sprachen gesprochen werden und die Schüler es ablehnen, sich auf
eine Sprache zu verständigen, gibt es Probleme. "Multikulti"
hat zwar durch die Ereignisse in Holland und Frankreich einen "Dämpfer"
erhalten, gilt aber nach wie vor sogar in der Union als Leitbild, wie zum Beispiel
jüngst die Äußerungen von CDU-Bundestagspräsident Norbert
Lammert bestätigt haben (JF 2/06). Ist die "multikulturelle Gesellschaft"
tatsächlich die Lösung? Miegel: Das, was wir von zwanzig Jahren
an "multikulturellen Konzepten" diskutiert haben, ist heute samt und
sonders vom Tisch. Davon reden nicht einmal mehr die Grünen. Damals mußte
noch um das Elementarste gekämpft werden: Weder waren damals die Apologeten
der multikulturellen Gesellschaft bereit anzuerkennen, daß es einer verbindlichen
Verkehrssprache bedarf, noch daß das Grundgesetz die gesellschaftliche Grundlage
darstellt. Diese Zugeständnisse wurden aber nur gemacht, um das Konzept
zu retten, das an der Realität zu scheitern drohte. Miegel: Das ist
richtig, aber das Konzept ist derart ausgedünnt, daß es fast einer
Aufgabe gleichkommt. Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir damals
alles debattieren mußten! Ein Beispiel: Da die Würde des Menschen unantastbar
ist, sei es inakzeptabel, etwa einen Angehörigen eines Nomadenvolkes ins
Gefängnis zu sperren, da diese Strafe in seiner Kultur nicht üblich
sei und daher seine Menschenwürde verletze. Eine dort übliche Strafe
sei hingegen das Auspeitschen. Also war die Frage: Müssen wir einen solchen
Menschen auspeitschen, wenn er wegen eines Vergehens bestraft werden soll? Ihnen
geht es aber doch nicht um die glückliche Überwindung der Verirrungen
der Vergangenheit, sondern um das "Gewinnen der Zukunft". Reichen dazu
die Einsichten im Rahmen einer reformierten "multikulturelle Gesellschaft"
aus? Miegel: Nein, die Zukunft ist dadurch noch nicht gewonnen. Bis dahin
ist es noch ein langer Weg, bei dem es auch Rückschritte gibt. So sind Angehörige
der zweiten oder dritten Zuwanderergeneration heute mitunter weniger integrationsbereit,
als es ihre Eltern oder Großeltern waren. Hier gilt es, Mindeststandards
zu setzen und durchzusetzen. Entscheidend ist eine gemeinsame Sprache und Rechtsordnung. "Das
Grundgesetz im Lichte unserer Kultur verstehen" Haben Sie nicht einen
entscheidenden Faktor vergessen: die Kultur? Glauben Sie im Ernst, kulturelle
Widersprüche mit dem Grundgesetz in der Hand lösen zu können? Miegel:
Das Grundgesetz wie die gesamte Rechtsordnung ist Teil einer bestimmten Kultur
und muß deshalb auch im Lichte dieser Kultur gesehen werden. Im übrigen
sollten wir nicht immer nur wie gebannt auf die Konfliktfälle starren, auch
wenn es diese zweifellos gibt. Viel häufiger ist doch das weitgehend problemlose
Miteinander. Ich finde es beispielsweise durchaus bemerkenswert, wie sich das
oft sehr unterschiedliche Geburtenverhalten von Zuwanderern innerhalb kurzer Zeit
den Verhaltensformen der Aufnahmeländer anpaßt. Sie haben immer
noch nicht gesagt, in welche Richtung sich die Politik bewegen soll. Miegel:
In Richtung Integration. Offizielle Linie der CDU bis in die neunziger Jahre
war - wenn auch politisch nicht umgesetzt - möglichst gar keine
Einwanderung, wenn nicht gar Rücksiedlung. Miegel: Angesichts der demographischen
Entwicklung können wir uns das nicht mehr leisten. Sie schreiben doch
selbst in Ihren Büchern, daß Zuwanderung keine Antwort auf die demographische
Krise ist? Miegel: Langfristig nicht, aber immerhin gewinnen wir Zeit. Lassen
Sie mich prognostizieren. Folge eins: Wir "nutzen" die Zeit, um uns
noch länger um die Lösung des Problems herumzudrücken. Folge zwei:
Wir produzieren mit diesem Behelf zusätzliche Kosten. Folge drei: Wir importieren
sozialen und ethnischen "Sprengstoff". Miegel: Deshalb plädiere
ich auch erstens für eine moderate und zweitens für eine kontrollierte
Zuwanderung von netto etwa 200000 Menschen im Jahr, die drittens dank einer entsprechenden
Politik auch integriert werden. Das bedeutet im Idealfall grundgesetztreue,
aber kulturell parallele Gesellschaften. Miegel: Wieso? Die Leute gehen
auf die gleiche Schule, in die gleiche Fabrik und ins gleiche Kino. Wo beginnt
da die Parallelgesellschaft? Nun gut, die einen feiern Weihnachten, die anderen
Ramadan und wieder andere gar nichts. Soviel Parallelgesellschaft ist verkraftbar. Die
Lehre aus den Ereignissen in Frankreich oder Holland ist also nicht "Es geht
nicht", sondern "Man muß es nur richtig machen"? Miegel:
So ist es. Schauen Sie sich doch bloß einmal die Wurzeln der Europäer
an. Die Vorfahren von vielen sind doch erst in historisch junger Zeit aus Asien
hierher eingewandert. Woher zum Beispiel kommen die Germanen? Deshalb hatten
wir auch 2000 Jahre lang die heftigsten Auseinandersetzungen, bis wir in zwei
Weltkriegen, nach Rassen- und Klassenmorden den Ausgleich erreicht haben. Miegel:
Nicht nur deshalb hatten wir in Europa die monströsesten Konflikte. Es ging
auch und vor allem um Macht, religiöse Überzeugungen und anderes mehr.
Die USA haben in dieser Hinsicht manche Klippe umschifft. Ausrottung der
Indianer, Negersklaverei, brutale Diskriminierung der asiatischen Einwanderer,
Sezessionskrieg, Rassenfrage bis an den Rand des Bürgerkriegs. Miegel:
Das alles ist unbestreitbar. Dennoch funktioniert die Zuwanderung in die USA alles
in allem recht gut. Voraussetzung ist allerdings: Die Zuwanderer müssen bereit
sein, sich in die Gesellschaft der USA einzubringen. Das muß auch für
Europa gelten. Im "Ende des Individualismus" sprechen Sie davon,
daß sonst fremde Kulturen versuchen werden, sich in Europa anzusiedeln. Miegel:
Kulturen sind ständigen Veränderungen unterworfen. Um so wichtiger ist
eine geordnete Zuwanderung integrationswilliger Menschen. Hier befindet sich Europa
im Wettlauf mit der Zeit. Im Wettlauf mit der Zeit befinden wir uns ebenfalls
bei der Sicherung der Rentensysteme. Sie sind auch als die "Kassandra der
Rente" bekannt geworden . Kurt Biedenkopf forderte bereits in den achtziger
Jahren eine steuerfinanzierte Grundrente. Alles darüber hinaus sollte jeder
privat finanzieren. Warum konnte er seine Vorstellungen nicht durchsetzen? Miegel:
Nicht nur Kurt Biedenkopf, auch ich habe mich bereits in den achtziger Jahren
für eine steuerfinanzierte Grundsicherung - ich spreche nicht von Grundrente,
das ist etwas anderes - eingesetzt. Wir konnten unsere Vorstellungen nicht durchsetzen,
weil zum einen weder Politik noch Bevölkerung die Dramatik der demographischen
Veränderungen begriffen hatten und zum anderen dem bestehenden System Machtstrukturen
zugrunde liegen, die nicht leicht zu überwinden sind. Private Rentenversicherungen
sind den Risiken des Kapitalmarktes ausgesetzt. Von den eingezahlten Geldern müssen
zudem immense Verwaltungskosten, Vertreterprovisionen und die Renditeerwartungen
der Anteilseigner bezahlt werden. Inzwischen ist die Garantieverzinsung auf zwei
Prozent gesunken. Wie kann man das als Alternative empfehlen? Miegel: Wer
ein einigermaßen ordentlich geführtes Portfolio besitzt, erzielt deutlich
mehr als nur zwei Prozent Rendite. Zumindest erleidet er - anders als in der gesetzlichen
Rentenversicherung - keine realen Verluste. Frauen, die Kinder erziehen
und daher nicht arbeiten gehen, bekommen in der Gesetzlichen Rentenversicherung
(GRV) Kindererziehungszeiten angerechnet. Bei privaten Versicherern gilt hingegen:
Keine Beiträge, keine Rente. Wie soll dieses Problem gelöst werden? Miegel:
Die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung, die ihrem Wesen nach überhaupt
keine Versicherung ist, und private Vermögensbildung sind zwei grundlegend
verschiedene Systeme. Die gesetzliche Rentenversicherung wird unter Gesichtspunkten
politischer Opportunitäten gesteuert - heute so und morgen so. Gezahlt wird
immer nur nach Kassenlage. Bei der privaten Vermögensbildung ist das nicht
möglich. Private Versicherer stehen wie die GRV auch vor demographischen
Herausforderungen: Da die Menschen im Durchschnitt immer älter werden, beziehen
sie auch länger Rente. Die revidierten Sterbetabellen senken auch erheblich
die zu erwartende Privatrente. Ist die Privatisierung der Rente daher nur eine
Scheinlösung? Miegel: Nein. Ersparnisse kommen auf dem Weltmarkt zum
Einsatz und können an den hohen Renditeerwartungen aufstrebender Volkswirtschaften
teilhaben. Ähnliche Chancen hat die gesetzliche Rentenversicherung nicht. In
den USA gibt es zunehmende Altersarmut. Immer mehr Rentner müssen zusätzlich
arbeiten, weil die privaten Rentenversicherer ihre Zahlungsversprechen nicht einhalten
können - nicht nur wegen der geplatzten "New-Economy"-Blase. Auch
in Deutschland sinken sowohl Garantiezins wie Überschußbeteiligung.
Sollte das nicht klar ausgesprochen werden, um später Enttäuschungen
zu vermeiden? Miegel: Es sollte nicht nur, es muß klar ausgesprochen
werden. Die Zeiten saftiger Renditen sind bis auf weiteres vorüber. Aber
wie gesagt, noch sind Renditen möglich. Auch Altkanzler - und Volkswirt!
- Helmut Schmidt hat vor Illusionen bei der privaten Rentenversicherung gewarnt:
"Ob aber die Versorgung über Versicherungsbeiträge finanziert wird,
über Steuern oder private Vorsorge: In allen Fällen fließt die
Altersversorgung Rente aus dem gleichzeitig erarbeiteten Volkseinkommen."
Die Verfechter der privaten Altersvorsorge müßten sich klarmachen:
"Sie liefern sich dem Auf und Ab der Kapitalmärkte aus. Sie sind also
letztlich wie alle Rentenversicherten davon abhängig, daß es genug
Menschen gibt, die arbeiten, konsumieren und Mehrwert erwirtschaften." Was
entgegnen Sie dieser Warnung? Miegel: Schmidt hat recht und unrecht zugleich.
Die Rentenversicherten sind gnadenlos dem Auf und Ab einer eng begrenzten Volkswirtschaft
ausgesetzt, die z.B. im Falle Deutschlands auf Schrumpfung programmiert ist. Private
Vermögen können hingegen - ich wiederhole mich - an den Chancen expandierender
Volkswirtschaften teilhaben. Prof. Dr. Meinhard Miegel gilt als
kompetentester Analytiker und schärfster Kritiker der umfassenden sozialen
Krise unserer Gesellschaft. Überalterung, Geburtenschwund, Zuwanderung, Integration,
Individualismus und hedonistischer Lebensstil, Rentenkrise, Veränderung der
Arbeitswelt, Werteverfall, Political Correctness und das Versagen des politischen
Systems angesichts der Herausforderungen der Gegenwart - Miegel verknüpft
die Problemfelder der Gesellschaft zu einem Panorama der Krise unserer Zeit. Der
langjährige Leiter des renommierten Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft
in Bonn (IWG) war von 1973 bis 1977 Mitarbeiter des Generalsekretärs der
CDU, Kurt Biedenkopf, und ab 1975 Leiter der Hauptabteilung Politik der Bundesgeschäftsstelle
der CDU. Geboren wurde der Soziologe und Jurist 1939 in Wien. Unter seinen zahlreichen
Veröffentlichungen stechen vor allem die Bestseller "Das Ende des Individualismus.
Die Kultur des Westens zerstört sich selbst" (Verlag Bonn aktuell, 1993)
und "Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen"
(Propyläen, 2002) durch ihre konservative Kulturkritik hervor. Zuletzt erschienen:
"Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?" (Propyläen, 2005). Junge Freiheit vom 13. Januar 2006 |