Seit
Sonnabend brachten es die Nachrichtenagenturen: Sarrazin behaupte, daß es
ein »jüdisches Gen« gebe. Zeitgleich setzte der Entrüstungssturm
ein. Selbst die, die wie Roland Koch Sarrazin bisher verteidigt hätten (wann
eigentlich?), gingen auf Distanz. Die Wortkombination »Jude« und »Gene«
funktionierte mit der Sicherheit des Pawlowschen Reflexes.Auch in diesem
Blog (**)
wurde gemutmaßt, da habe Sarrazin der Teufel geritten und seine Neigung
zu Selbstdarstellung und Provokation um jeden Preis verführt. Dagegen muß
auf den Kontext hingewiesen werden, in dem die Äußerung fiel, das heißt
die Entwicklung des Gesprächsgangs, der Sarrazin vor die Wahl stellte, entweder
den üblichen Kulturalismus zu akzeptieren, oder in der Konsequenz seines
Ansatzes die Alternative hinreichend deutlich hervorzuheben. »Schon der
Begriff `Volk´ ist heute vielen peinlich«, sagte Sarrazin, »und
daß über dem Eingang zum Reichstag `Dem Deutschen Volke´ steht,
empfinden manche als ärgerlich. Ich empfinde solch eine Einschätzung
als unhistorisch und teile sie nicht.«Wenn »Völker«
keine Konstruktionen oder Erfindungen sind, sondern objektivierbare Größen,
dann ist wichtig, ob es so etwas wie eine ethnische Identität gibt. Daß
diese Frage in den letzten drei Jahrzehnten konsequent tabuiert wurde (ein Erfolg
dieser Strategie war die Änderung unseres »völkischen« Staatsbürgerrechts,
das den Vätern des Grundgesetzes noch gut vereinbar schien mit der Verfassung),
ist unbestreitbar, aber auch, daß es an diesem Punkt um etwas Entscheidendes
geht, nicht um eine Nebensache. Denn warum soll nur legitim sein, die genetischen
Eigenarten von »Indigenen« zu schützen (wie es die UNO verlangt)?
Warum sollen moderne Nationen kein Recht haben, über ihr kollektives So-Sein
zu entscheiden?Wenn Sarrazin in dem Zusammenhang auf das Judentum abhebt,
so hat das in der Sache gute Gründe, weil es sich tatsächlich um ein
relativ leicht abgrenzbares Volk handelt, dessen genetische Besonderheiten
sogar die taz mutmaßte schon ein jüdisches »Intelligenz-Gen«
gut untersucht sind, dessen Ethnogenese kaum zufällig als Modell für
das nation building in Mitteleuropa diente und das sich bis heute beharrlich weigert,
seine Besonderheit aufzugeben. Die israelische Diskussion zu dieser genetisch
untermauerten Identität ist jedenfalls lebhaft.Das gilt nicht nur
für den Staat Israel, dem es nicht genügt, »demokratisch«
zu sein, sondern der sich explizit als »jüdisch« bezeichnet und
das über die Abstammung definiert, sondern auch für die außerhalb
Israels lebenden Juden. Bezeichnenderweise nahm Michael Wolffsohn bei der vorletzten
Sarrazin-Debatte gegen die Polemik Stephan Kramers Stellung, unter Bezugnahme
darauf, daß er selbst »Alt-Jude«, der Sprecher des Zentralrats
der Juden aber bloß »Konvertit« sei. (Ebd., August 2010). |