Das 20. Jahrhundert erscheint im Abstand weniger Jahre als das
problematischste der bisherigen Geschichte. Die menschenverachtenden Willkürregime,
die Massenverfolgungen und Massenmorde, die Rebarbarisierung des Krieges
besonders bei der Partisanen- und Luftkriegsführung, die brutalen
Vertreibungen einschließlich der »ethnischen Säuberungen«
noch in den neunziger Jahren dies alles spricht der lange gehegten
Idee eines ständigen allgemeinen Fortschritts der Menschheit Hohn;
zugleich rückten die irreparable Zerstörung lebenswichtiger
Ressourcen und die atomare Selbstvernichtung der Menschheit erstmals in
den Bereich des Möglichen.
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Hanno Kesting,
Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg,
1959. |
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Der Ablauf der Geschichte selbst war es, der alle geschichtsphilosophischen
Ansätze in nichts zusammenfallen ließ, die wie die Aufklärungsphilosophie,
der Positivismus oder der Marxismus von dem unaufhaltsamen Weg
des »guten« Menschen in eine immer schönere Zukunft ausgingen.
Alle diese Deutungsmodelle sind vom Sturm der Ereignisse, die sie zu interpretieren
wähnten, hinweggefegt worden. Wie hohl klingen heute die menschheitsbeglückenden
Verheißungen etwa des französischen Aufklärungsphilosophen
Condorcet: »Es kommt der Tag, da die Sonne nur noch auf eine Welt
freier Menschen herabscheint, die keinen Herrn anerkennen als die eigene
Vernunft. Dann werden Tyrannen und Sklaven, Priester und ihre verdummten
Werkzeuge nur noch in der Geschichte und auf der Bühne vorkommen.«
Weitaus besser stehen nach Ablauf dieses katastrophalen Jahrhunderts
jene Geschichtsdenker da, die von Tacitus über Machiavelli
bis Gehlen die Natur des Menschen pessimistischer und damit offenbar
realistischer eingeschätzt haben und nicht der Versuchung erlegen
sind, Richtung und Ziel des historischen Geschehens präzisieren zu
wollen. Wie wohltuend wirkt vor dem Hintergrund zahlloser ideologisch
bestimmter Geschichtsdeutungen etwa die Lektüre eines Jacob Burckhardt
nicht obwohl, sondern weil er keine Axiome gelten ließ außer
dem historischen Kontinuum selbst.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang aber auch
solche geschichtsphilosophischen Systeme, die erst während des 20.
Jahrhunderts entstanden sind. Als die mit Abstand wichtigsten Entwürfe
sind hier Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes und Arnold J.
Toynbees A Study of History zu nennen, beide aus der besonders turbulenten
Zeit der Weltkriege stammend. Spenglers Werk liegt zwar im wesentlichen
bereits 1912 vor, erscheint aber erst nach dem Ersten Weltkrieg, während
Toynbee vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt.
Die epochale Bedeutung beider Werke liegt nicht in der großen
Wirkung, die sie ausgeübt haben, nicht einmal vorrangig in ihrer
inhaltlichen Aussage, sondern vor allem in dem methodischen Zugriff. Erstmals
wird hier nicht nur das progressive Erklärungsmodell, seit der Aufklärung
praktisch ein geschichtsphilosophisches Dogma, prinzipiell in Frage gestellt,
es wird darüber hinaus die Möglichkeit, die Menschheitsentwicklung
im linearen Sinne zu beschreiben, grundsätzlich ausgeschlossen. An
die Stelle der linearen tritt bei beiden Autoren die zyklische Geschichtsdeutung,
die im Altertum weit verbreitet seit der Spätantike
keine Rolle mehr gespielt hat, wenn man davon absieht, daß sie außerhalb
des engeren Bereichs der Geschichte in der deutschen Klassik, besonders
von Hölderlin, und dann vor allem von Nietzsche (»Ewige Wiederkehr«)
neu belebt worden war.
Das lineare Geschichtsmodell geht darauf zurück, daß nach
christlicher Auffassung alles menschliche Geschehen in den göttlichen
Heilsplan eingebettet ist; es setzt sich daher mit dem Sieg des Christentums
im weströmischen Reich während des 4. Jahrhunderts allmählich
durch und gewinnt während des Mittelalters kanonische Bedeutung.
Danach hat alle Menschengeschichte einen Anfang: den Schöpfungsakt
Gottes, und ein Ziel: das Jüngste Gericht und das ewige Leben der
als gerecht Befundenen im Paradies. Nicht nur die wesentlichen heilsgeschichtlichen
Vorgänge, der Sündenfall, die Menschwerdung Gottes und der Erlösungstod
und die erwartete Wiederkehr Christi, sonders alles Geschehen überhaupt
läßt sich damit im linearen Sinne interpretieren: Richtung
und Ziel der Weltgeschichte sind eindeutig definiert.
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Karl Löwith,
Weltgeschichte und Heilsgeschehen,
2004. |
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Es ist das Verdienst von Karl Löwith, deutlich gemacht zu haben,
daß nicht nur die mittelalterliche Geschichtsphilosophie, sondern
auch die der Neuzeit auf diesem christlichen Heilsdogma beruht. In seinem
bald nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen
weist er nach, daß sich alle bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten
geschichtsphilosophischen Systeme von dem heilsgeschichtlichen Grundmuster
herleiten, auch wenn sie, wie seit dem 18. Jahrhundert zunehmend der Fall,
eine ausgesprochen antichristliche Tendenz aufweisen. Besonders deutlich
wird dies beim Marxismus, der genau wie das Christentum ein ursprüngliches
Paradies, einen Sündenfall den Übergang zum Privateigentum
, eine Menschheitserlösung die Weltrevolution der Arbeiterklasse
und ein freilich irdisches Paradies kennt, von den vergleichbaren
äußeren Formen, in denen sich dieser Glaube darstellt, ganz
abgesehen (Helden- und Märtyrerverehrung, »Exkommunikation«
von Abweichlern, »heilige Texte«, Prozessionen in Form von
Massenaufmärschen).
Die Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, wie sich im
einzelnen besonders bei Voltaire, Rousseau, Condorcet, Herder oder Hegel
zeigen ließe, stellt folglich in ihrem Kern die säkularisierte
Variante des christlichen Heilsmodells dar freilich mit einem bezeichnenden
Unterschied. Hatte das Christentum eine durchaus realistische Vorstellung
von der naturgegebenen Schwäche des Menschen, seiner »Sündhaftigkeit«,
so geht man seit der Aufklärung immer mehr zu der Vorstellung über,
daß der Mensch von Natur gut ist und daß, schaltet man die
traditionellen Autoritäten aus, seiner permanenten Aufwärtsentwicklung
im äußerlich-materiellen, aber auch im geistig-moralischen
Sinne nichts entgegensteht. Die logische Folge ist eine entschieden progressive
Wendung des weiterhin linear verstandenen Geschichtsablaufs der
»Fortschritt« in allen Lebensbereichen wird zum Credo nicht
nur von Literaten und Politikern, sondern von breiten Bevölkerungsschichten.
Dabei erliegt das aufstrebende Bürgertum der Faszination des tatsächlichen
Fortschritts, der ja etwa in Wissenschaft und Technik, Medizin und Kommunikation
nicht zu leugnen ist, und überträgt die Fortschrittsidee auch
auf den geistig-moralischen und den politischen Bereich. Das Ziel der
säkularen Heilserwartung steht außer Frage: die Menschheit
wird sich zu immerlichteren Höhen hinaufentwickeln.
Wie eine Bombe mußte hier Spenglers These einschlagen, daß
es eine Menschheit in diesem Sinne gar nicht gebe (»Kenntnis auch
nur der allgemeinsten Geschichte dieser Welt ist für alle Zeiten
unmöglich«), daß sich vielmehr jeweils untereinander
nicht verbundene Kulturkreise entwickelten, und zwar nach der Art organischer
Wesen, daß jeder dieser Kulturkreise eine Frühzeit, eine Zeit
höchster Blüte und eine Spätzeit habe, nach etwa eintausendjähriger
Dauer aber unwiderruflich zugrunde gehe. Die abendländische Kultur,
so schließt Spengler aus der vergleichenden Betrachtung »gleichzeitiger«
Phasen anderer Kulturen, wird dieses Schicksal ab Beginn des dritten Jahrtausends
erleiden, um dann wie alle anderen in die Phase der »Zivilisation«
überzugehen (FALSCH ! DENN
DIE ZIVILISATION BEGANN BEREITS UM 1800 ! ) In
dieser Zeit zählen nur noch funktionale Intelligenz, Technik und
Geld, während alle produktiven Kräfte des Lebens Kunst,
Kultur im engeren Sinne und jede eigenständige schöpferische
Leistung erloschen sind.
Alle Kulturen durchlaufen nach Spengler einen Frühling (in der
antiken Kultur die Zeit zwischen Homer und Hesiod, in der abendländischen
die germanische Frühzeit und das Hochmittelalter), einen Sommer (Vorsokratiker,
Pythagoräer Reformation, cartesianisches Zeitalter), einen
Herbst (Sophisten, Plato, Aristoteles Aufklärung, Goethe,
Hegel) und einen Winter (Hellenismus, Stoizismus Darwin, Marx,
Nietzsche). Dabei bilden sie während der jeweils parallelen Epochen
in Kunst, Wissenschaft und Politik verwandte, gleichwohl kulturspezifische
Formen, Inhalte und Abläufe aus (zum Beispiel Dorik »gleichzeitig«
mit Gotik, griechische Geometrie mit moderner Infinitesimalmathematik,
Stoizismus mit Sozialismus). Nach dem »Klimakterium« der jeweiligen
Kultur folgt jedoch unvermeidbar das Zeitalter des kulturlosen Fellachentums,
der »Plebejermoral« und des Nihilismus: »Sie predigen
das Evangelium der Menschlichkeit, aber es ist die Menschlichkeit des
intelligenten Stadtmenschen ... der die Kultur satt hat, dessen reine,
nämlich seelenlose Vernunft nach einer Erlösung von ihr und
ihrer gebietenden Form sucht .... Die Heraufkunft des Nihilismus ... ist
keiner der großen Kulturen fremd. Sie gehört mit innerster
Notwendigkeit zum Ausgang dieser unzähligen Organismen.«
Auch bei Toynbee tritt an die Stelle der linearen Geschichtsbetrachtung
die zyklische. A Study of History stellt den Werdegang von 21 Kulturen
dar, die alle ihre Geburt, ihr Wachstum, ihren Niedergang und ihren Zerfall
erleben. Die Entstehung einer Kultur vollzieht sich dabei stets nach dem
Prinzip von challenge and response: Für eine größere Menschengruppe
ergibt sich eine besondere Herausforderung äußerer Natur, der
man in schöpferischer Weise begegnet, wodurch die Kräfte geweckt
werden, die dann in der Folgezeit den Gang der betreffenden Kultur bestimmen.
So besteht die Herausforderung, die zur Entstehung der ägyptischen
Kultur führt, in der jährlichen Nilschwemme, die nicht nur eine
leistungsfähige Landwirtschaft und einen entsprechenden Handel hervorbringt,
sondern im Zusammenhang mit der Bewältigung der sich alljährlich
stellenden Aufgaben auch die Entwicklung der Schrift, der Wissenschaft
(Geometrie, Astronomie), der Administration und der Staatsorganisation
anstößt. In gleicher Weise bildet nach Toynbee die Weite des
Meeres um die Insel Kreta die Herausforderung für die Entwicklung
der minoischen Kultur (als Folge Entstehung von Flotte, Handel und Kulturaustausch),
während die Geburt der griechischen Kultur mit den außerordentlich
unfruchtbaren Böden Attikas zusammenhängt, auf denen nur die
Olive gedeiht; wegen der einseitigen landwirtschaftlichen Produktion werden
Handwerker, in erster Linie Töpfer, und Händler für den
Vertrieb des Olivenöls benötigt, so daß sich schließlich
eine Siedlung mit Fernhandel und Flotte, die Polis Athen, bildet.
Die einzelnen Kulturen entwickeln sich bei Toynbee nicht so isoliert
voneinander wie bei Spengler, vielmehr gibt es mannigfache Beziehungen
zwischen ihnen, auch Mutter- und Tochterkulturen. Wie Spengler geht jedoch
auch Toynbee von der Parallelität bestimmter innerlich verwandter
Entwicklungsphasen aus. So fällt jeweils in die Epoche des Niedergangs
eine »Zeit der Wirren«, in die des Zerfalls das »Zeitalter
der Großstaaten«. Auch Toynbees Kulturen, die er »Gesellschaftskörper«
nennt, enden in Sterilität, wenngleich diese sich nicht so extrem
darstellt wie bei Spengler: »Ein Versagen der schöpferischen
Kraft in der Minderheit, als Antwort darauf ein Rückgang der Nachahmung
auf seiten der Mehrheit und ein sich daraus ergebender Verlust der sozialen
Einheit im Gesellschaftskörper als ganzem.« Schließlich
wird das Proletariat tonangebend auch das »innere Proletariat«,
das sich durchaus mit dem Besitz materieller Güter verträgt:
»Der wahre Stempel des Proletariertums ist weder Armut noch niedrige
Geburt, sondern das Bewußtsein ... seines Platzes in der Gesellschaft
beraubt ... zu sein sowie das Ressentiment, das dieses Bewußtsein
einflößt.«
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Ernst Nolte,
Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert,
1991. |
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Betrachtet man aus dem kritischen Abstand, den die seither vergangenen
Jahrzehnte gestatten, die beiden geschichtsphilosophischen Werke unter
formalen, inhaltlichen und methodologischen Gesichtspunkten, so wird zunächst,
wie nicht anders zu erwarten, eine gewisse Zeitgebundenheit der Autoren
deutlich Toynbee polemisiert wiederholt gegen »Militarismus«
und »Rassismus« und verweist damit auf die Entstehungszeit
seines Buches, übrigens auch dadurch, daß er dem British Commonwealth
noch einen hohen Stellenwert beimißt. Spengler verwendet unbefangen
und mit auffallender Häufigkeit Begriffe wie »Rasse«
oder »Blut« und gibt sich damit ebenso als Kind seiner Zeit
zu erkennen wie durch die apodiktisch-undifferenzierte Art der Darstellung
und den unbekümmerten Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der
möglichen Widerspruch gar nicht in Erwägung zieht. Mit großem
Gestus wendet er sich gegen manche geistig- politischen Vorstellungen
seiner Epoche, aber er tut es wie Nietzsche im Stil der
Epoche. Seinen Kritikern begegnet er mit blanker Verachtung, während
Toynbee bereits im Vorfeld seiner Veröffentlichung mit Spezialisten
und Fachhistorikern über bestimmte Passagen seines Werks korrespondiert
hat und sich damit besser absicherte. (OB
DAS WIRKLICH BESSER IST, BLEIBT DIE FRAGE.)
Beide Werke sind ungeachtet ihrer großen Verkaufserfolge auch
auf inhaltlichen Widerspruch gestoßen, nicht nur von seiten der
Fachwelt. Bei der grundlegenden Konzeption, dem Umfang und der Vielfalt
der behandelten Gegenstände und dem jeweils erhobenen Anspruch erscheint
das nicht eben verwunderlich. Auf Widerspruch stieß vor allem der
tiefe Pessimismus, mit dem beide Autoren die Kulturentwicklung betrachten.
Zu Beginn des dritten Jahrtausends läßt sich nun allerdings
kaum mehr übersehen, daß sich die abendländische Kultur
derzeit nicht eben beeindruckend darstellt. Qualität und Dichte der
künstlerisch-literarischen Leistungen in Europa sind seit der Zeit
Spenglers, die ja noch den Symbolismus und den Expressionismus hervorgebracht
hat, erheblich zurückgegangen, von den vorangehenden kunstgeschichtlichen
Epochen ganz zu schweigen. Was Toynbee über die gesellschaftliche
Spaltung, das innere Proletariertum und dessen Ressentiment gegenüber
besser ausgestatteten Mitbürgern sagt, über die Bedeutung des
Neides in der Gesellschaft also, erscheint bei kritischer Betrachtung
unserer gesellschaftlichen Verhältnisse ebenfalls wohlbegründet.
Schließlich kommt man nach der Entwicklung der letzten Jahrzehnte
gar nicht umhin, der Vorstellung Spenglers vom »Klimakterium«,
das er ausdrücklich auch im demographischen Sinn versteht, zumindest
in diesem Punkt voll zuzustimmen.
Begründeter scheint die Kritik, die sich gegen die postulierte
Allgemeingültigkeit, die Quasi-Naturgesetzmäßigkeit richtet,
die beide Autoren für ihre Theorien in Anspruch nehmen. Es fällt
tatsächlich schwer zu glauben und ist nach allen Erfahrungen in anderen
Lebensbereichen unwahrscheinlich, daß sich zeitlich und räumlich
sehr weit voneinander entfernte Kulturen in allen ihren Phasen so frappierend
ähnlich, wie behauptet, entwickelt haben sollen. (SIE
HABEN ES, WEIL DIE ZYKLIZITÄT WIE EIN GESETZ WIRKT [vgl. außerdem
den Unterschied von Homologien
und Analogien].) Wenn, um je ein Beispiel anzuführen,
Toynbee auf der Allgemeingültigkeit des Prinzips von challenge
and response beharrt, Spengler die absolute Isolation der jeweiligen
Einzelkulturen als unantastbaren Grundsatz seines Systems ansieht, so
widerspricht solcher Rigorismus nicht nur aller Lebenserfahrung, sondern
läßt sich auch mit dem Stand der heutigen Forschung nicht in
Einklang bringen.
Damit erhebt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen inhaltlicher
Aussage und methodischem Ansatz. Könnte es sein, daß der epochale,
aber schlagartig-unvermittelte Übergang von der linearen zur zyklischen
Geschichtsbetrachtung von gewissen Irritationen und Trübungen begleitet
gewesen ist, die sich erst im weiteren Verlauf der geschichtsphilosophischen
Entwicklung wieder verloren haben oder verlieren werden. Es wäre
nicht das erste Mal, daß ein einschneidender Paradigmenwechsel nicht
sofort, sondern erst im Laufe der Zeit zu überzeugenden Resultaten
geführt hat. So hat es nach der »kopernikanischen Wende«
noch lange gedauert, bis sich die Astronomie und die Physik zu Wissenschaften
im heutigen Sinne entwickelten. Auch die Geographie, die Chemie und die
Medizin standen während der Renaissance und auch noch danach vielfach
im Banne von Vorstellungen, die mit sachlicher Forschung wenig zu tun
hatten, wohl aber geeignet waren, den jeweiligen Gegenstand zu verzeichnen.
Es erscheint durchaus denkbar, daß auch die ersten Vertreter einer
zyklischen Geschichtsphilosophie in ihrem verständlichen Bemühen,
das absolut unhaltbar gewordene progressiv-lineare Modell durch ein tragfähigeres
zu ersetzen, in einen zu angestrengten Gestus verfielen und möglicherweise
noch unter dem Eindruck der gerade damals große Triumphe feiernden
Naturwissenschaften die einzelnen Kulturen als allzu geschlossene
Regelsysteme interpretiert haben.
Gerade das 20. Jahrhundert, das Spengler nur zu einem Drittel, Toynbee
zu drei Vierteln erlebt hat, bietet reichlich Anschauungsmaterial dafür,
daß Geschichte bloß teilweise als sinnvolles System von Kausalketten
und logisch begründeten Abläufen interpretiert werden kann,
daß es daneben auch viel anscheinend Sinnloses, Ordnungs- und Strukturloses
gibt, das sich dem rationalen Zugriff entzieht. Trotz aller technisch-gesellschaftlichen
Zwänge des Massenzeitalters behauptet sich nach wie vor die menschliche
Freiheit als geschichtswirksames Phänomen: Nicht nur überindividuelle
Zwangsläufigkeiten, sondern auch die bewußte Einzelentscheidung
und der persönliche Gestaltungswille beeinflussen den Gang der Ereignisse.
Eine sehr wichtige, häufig unterschätzte Rolle spielt ferner,
etwa bei militärischen Entscheidungen oder in der Biographie handelnder
Personen, der schlichte Zufall, ferner kollektive Psychosen, Seuchen wie
Pest oder Aids, Naturkatastrophen, Epidemien, Klima- und Umweltveränderungen.
Dies alles, wiewohl von erheblicher Bedeutung für historische Abläufe,
läßt sich entweder gar nicht oder nur teilweise in ein geschlossenes
System integrieren; manche dieser Erscheinungen entziehen sich einer befriedigenden
logischen Durchdringung überhaupt.
Der Untergang des Abendlandes und A Study of History haben
das unbestrittene Verdienst, die Geschichtsphilosophie aus der Sackgasse
geführt zu haben, in die sie sich durch die bewußte oder unbewußte
Bindung an die christliche Heilsgeschichte und vor allem durch die weitgehende,
im Nachhinein geradezu peinlich oder jedenfalls unverständlich wirkende
Unterwerfung unter das Fortschrittsdogma manövriert hatte. Hinsichtlich
Form, Inhalt und Methodik beider Neuansätze sind jedoch aus heutiger
Sicht Abstriche zu machen. Die Autoren neigen in wesentlichen Punkten
zu einem von der Sache nicht zwingend gebotenen Rigorismus, der zwar die
jeweiligen geschichtsphilosophischen Systeme als in sich geschlossen erscheinen
läßt, aber vielfach über das Ziel hinausschießt.
Die polternddröhnende Sprache, die selbstgefällige, arrogant
wirkende Attitüde, mit der Spengler sein Ideengut vorträgt,
sind heute nur schwer zu verdauen.
Beide Geschichtsdenker, Spengler in radikaler, Toynbee in moderaterer
Weise, neigen dazu, nach Form und Inhalt zu überziehen und dadurch
ihre fruchtbaren, gut begründeten und vor allem dringend erforderlichen
Neuansätze unnötig zu belasten. Strenggenommen haben sie lediglich
eine simple geometrische Figur die aufsteigende Gerade durch
eine andere, ebenso simple den Kreis ersetzt. Geschichte
ist komplizierter. (Ebd., Mai 2005,
S. 34-38).
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