Als autopoietisch wollen wir Systeme nennen,
die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen
sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren.
Niklas
Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, S. 56 |
Autopoiesis heißt: Selbstreproduktion
des Systems auf der Basis seiner eigenen Elemente.
Niklas
Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, S. 189 |
Ein soziales System kommt zustande, wenn immer
ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch
Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt.
»Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht
aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen.
Niklas
Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1970, S. 269 |
Negentropie ... ist ... eine ... evolutorisch
laufende Umwandlung der Unwahrscheinlichkeit des Entstehens in Wahrscheinlichkeit
der Erhaltung von Differenzen.
Niklas
Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1981, Band 4,
S. 19 |
Systeme haben eine Fähigkeit zur Evolution nur, wenn sie
Unentscheidbares entscheiden können. Das gilt auch für systematische
Theorieentwürfe, ja selbst für Logiken, wie man seit Gödel
nachweisen kann. Aber das läuft keineswegs auf Willkür einiger
(oder gar aller) Einzelentscheidungen hinaus. Dies wird durch Negentropie
oder Komplexität verhindert. Es gibt nämlich noch eine dritte
Schwellenmarkierung. Eine soziologische Theorie, die die Fachverhältnisse
konsolidieren will, muß nicht nur komplexer, sie muß sehr
viel komplexer werden im Vergleich zu dem, was die Klassiker des Fachs
und ihre Exegeten ... sich zugemutet hatten. Das erfordert andere theorietechnische
Vorkehrungen, was Haltbarkeit und Anschlußfähigkeit nach innen
und nach außen betrifft, und erfordert nicht zuletzt den Einbau
einer Reflexion auf Komplexität (also auch eines Begriffs der Komplexität)
in die Theorie selbst. Das Schwellenproblem liegt mithin auch in einem
sehr viel höheren, sich selbst reflektierenden Grade begrifflicher
Komplexität. Das schränkt die Möglichkeiten der Variation
sehr ein und schließt jede Art von arbiträren Entscheidungen
aus. Jeder Schritt muß eingepaßt werden. Und selbst der Willkür
des Anfangs wird, wie im System Hegels, im Fortschreiten der Theorieaufbaus
die Willkür genommen. So entsteht eine selbsttragende Konstruktion.
Sie brauchte nicht »Systemtheorie« zu heißen. Aber wenn
man die anderen Konstruktionsmerkmale konstant halten und den Systembegriff
eliminieren wollte, müßte man etwas erfinden, was seine Funktion
wahrnehmen, seinen Theorieplatz einnehmen könnte; und dieses würde
dem Systembegriff sehr ähneln.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 10-11 |
Die Darstellung der Theorie praktiziert mithin, was sie empfiehlt,
an sich selbst: Reduktion von Komplexität. Aber reduzierte Komplexität
ist für sie nicht ausgeschlossene Komplexität, sondern aufgehobene
Komplexität.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 12 |
Abstraktion ist ... eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 13 |
Es geht nicht um Anpassung, es geht nicht um Stoffwechsel, es
geht um einen eigenartigen Zwang zur Autonomie, der sich daraus ergibt,
daß das System in jeder, also in noch so günstiger Umwelt schlicht
aufhören würde zu existieren, wenn es die momenthaften Elemete,
aus denen es besteht, nicht mit Anschlußfähigkeit, also mit
Sinn, ausstatten und so reproduzieren würde.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 28 |
Die allgemeine Theorie sozialer Systeme erhebt ... den Anspruch,
den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie zu erfassen und in diesem
Sinne universelle soziologische Theorie zu sein. Ein solcher Universalitätsanspruch
ist ein Selektionsprinzip. Es bedeutet, daß man Gedankengut, Anregungen
und Kritik nur akzeptiert, wenn und soweit sie sich ihrerseits dieses
Prinzip zu eigen machen. Hieraus ergibt sich eine eigentümliche Querlage
zu den klassischen soziologischen Kontroversen: Statik versus Dynamik,
Struktur versus Prozeß, System versus Konflikt, Monolog versus Dialog
oder, projiziert auf den Gegenstand selbst, Gesellschaft versus Gemeinschaft,
Arbeit versus Interaktion. Solche Kontrastierungen zwingen jede Seite
zum Verzicht auf Universalitätsanspüche und zur Selbstbewertung
ihrer eigenen Option: bestenfalls zu Behelfskonstruktionen mit Einbau
des Gegenteils in die eigene Option. Solche Theorieansätze sind nicht
nur undialektisch gedacht, sie verzichten auch vorschnell auf eine Ausnutzung
der Reichweite systemtheoretischer Ansätze. Seit Hegel und seit Parsons
kann man dies wissen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 33-34 |
Systemdifferenzierung ist nichts weiter als Wiederholung der Systembildung
in Systemen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 37 |
Komplexität ... heißt Selektionszwang, Selektionszwang
heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko. Jeder komplexe
Sachverhalt beruht auf einer Selektion der Relationen zwischen seinen
Elementen, die er benutzt, um sich zu kostituieren und zu erhalten. ....
Durch Selektionszwang und durch Konditionierung von Selektionen
läßt sich erklären, daß aus einer Unterschicht von
sehr ähnlichen Einheiten (z.B. wenigen Arten von Atomen, sehr ähnlichen
menschlichen Organismen) sehr verschiedenartige Systeme gebildet werden
können. Die Komplexität der Welt, ihrer Arten und Gattungen,
ihrer Systembildungen entsteht also erst durch Reduktion von Komplexiät
und durch selektive Konditionierung dieser Reduktion. Nur so erklärt
sich weiter, daß die Dauer dessen, was dann als Element fungiert,
mit der Selbstregulation des Systems abgestimmt werden kann.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 47 |
So schafft ein System sich als eigenen Kausalbasis eine eigene
Vergangenheit, die es ihm ermöglicht, zum Kausaldruck der Umwelt
in Distanz zu treten, ohne daß allein durch die interne Ursächlichkeit
schon festgelegt wäre, was in Konfrontation mit Außenereignissen
geschieht. Man sieht die Tragweite dieser evolutionären Errungenschaft,
wenn man bedenkt, daß lebende Systeme für die Autonomie des
Lebens auf genetische Determination angewiesen bleiben. (Das
erinnert an die vier Schichten in Nicolai Hartmanns Schichtenlehre; HB.)
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 69 |
Die Methode funktionaler Analyse, die wir durchgehend voraussetzen,
baisert ihrerseits auf dem Informationsbegriff. .... Funktionale Analyse
ist mithin eine Art Theorietechnik, ähnlich wie die Mathematik ....
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 83 |
Wenn (es wirklich zutrifft, daß) Inflationen Verteilungsprobleme
relativ konfliktfrei lösen (mit welchen Nebenfolgen immer), sind
sie ein funktionales Äquivalent für politisch riskantere, weil
konfliktreichere staatliche Planung. (Der vorherrschende
Trend soziologischer Forschung verzichtet freilich auf eine solche methodologisch-theoretische
Konstruktion und beschränkt sich darauf, unbehagliche Kausalitäten,
latente Funktionen usw. einfach bloßzustellen. Man nennt das »kritisch«
oder »progressiv«. Das führt aber nur zu der Frage, wie
denn die zu Grunde liegenden Probleme anders gelöst werden können.)
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 85 |
Das Wissenschaftssystem bedient sich keineswegs nur der funktionalen
Analyse, aber mindestens seit dem 17. Jahrhundert gibt es im Wissenschaftssystem
die These, daß der Funktionsbezug das eigentlich fruchtbare Prinzip
der Selektion (!) wissenschaftlich relevanter Daten sei. Wir nennen die
dafür geltenden Regeln in dieser Systemreferenz auch »funktionale
Methode«.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 87 |
Mit der Wahl eines Problems, das die Einheit der Differenz von
Erkenntnis und Gegenstand formuliert, geht die funktionale Methode über
eine bloße Methodenentscheidung hinaus und beansprucht, Theorie
der Erkenntnis zu sein.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 90 |
Nach einer alten, einsichtigen Regel treten Wahrheiten in Zusammenhängen
auf, Irrtümer dagegen isoliert. Wenn es der funktionalen Analyse
gelingt, trotz großer Heterogeität und Verschiedenartigkeit
der Erscheinungen Zusammenhänge aufzuzeigen, kann dies als Indikator
für Wahrheit gelten, auch wenn die Zusammenhänge nur für
den Beobachter einsichtig sind. Jedenfalls wird es bei dieser Technik
des Einsichtgewinns schwerer und schwerer, die Überzeugung festzuhalten,
die Ergebnisse könnten auf eine fehlerhafte Methode, auf Irrtum,
auf reine Imagination zurückzuführen sein.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 90-91 |
Sinn verweist immer wieder auf Sinn und nie aus Sinnhaftem hinaus
auf etwas anderes. .... Sinn ist ... eine unnegierbare, eine differenzlose
Kategorie.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 96 |
Sinn aber verweis immer wieder auf weiteren Sinn. Die zirkuläre
Geschlossenheit dieser Verweisungen erscheint in ihrer Einheit als Letzthorizont
alles Sinnes: als Welt. Die Welt hat infolgedessen die gleiche
Unausweichlichkeit und Unnegierbarkeit wie Sinn.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 105 |
Die Selbstbeschreibung der Welt muß ... durch eine Leitdifferenz
charakterisiert werden. Hiefür kommt als letztgültige Form nur
die Unterscheidung von Sinn und Welt in Betracht. Die Einheit der
sinnhaften Konstitution von Welt (der welthaften Konstitution von Sinn)
wird für die phänomenologische Beschreibung als Differenz
artikuliert und kann in dieser Form zur Informationsgwinnung dienen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 105 |
Die Welt ist die Einheit der eigenen Differenz von System und
Umwelt.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 106 |
Der allen Sinn immanente Welbezug schließt es aus, daß
wir Sinn als Zeichen definieren. Man muß Verweisungsstruktur
und Zeichenstruktur sorgfältig unterscheiden. (Vorbereitet
ist diese Unterscheidung in den Husserlschen Analysen des Verhältnisses
von Ausdruck und Anzeichen. Vgl. Logische Untersuchungen, II, 1,
3, S. 23 ff..) Die Funktion eines Zeichens erfordert immer Verweisung
auf etwas Bestimmtes unter Ausschluß von Selbstreferenz. Es gibt,
anders gesagt, weder ein Weltzeichen noch ein sich selbst bezeichnendes
Zeichen. Beides, Universalität und Selbstreferenz, ist aber unabdingbare
Eigenschaft von Sinn. Sinn ist daher der fundierende Sachverhalt: Ein
Zeichen muß Sinn haben, um seine Funktion erfüllen zu können,
aber Sinn ist kein Zeichen. Sinn bildet den Kontext aller Zeichenfestlegung,
die conditio sine qua non ihrer Asymmetrisierung, aber als Zeichen genommen
würde Sinn nur als Zeichen für sich selbst, also als Zeichen
für die Nichterfüllung der Funktion des Zeichens stehen können.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 107 |
Wir können ... den Subjektbegriff azufgeben.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 111 |
Wir gehen ... davon aus, daß in aller Sinnerfahrung zunächst
eine Differenz vorliegt, nämlich die Differenz von aktual
Gegebenem und auf Grund dieser Gegebenheit Möglichem.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 111 |
Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz.
Nur das macht es möglich, Zufällen Informationswert zu geben
und damit Ordnung aufzubauen; denn Information ist nichts anderes als
ein Ereignis, das eine Verknüpfung von Differenzen bewirkt .... Hier
liegt der Grund dafür, daß wir auch die Dekomposition des
Sinnes schlechthin nicht nur als Differenz, sondern als Dekomposition
din Differenzen vorfinden. Wir werden diesen Befund durch den Begriff
der Sinndimensionen bezeichnen und unterscheiden Sachdimension,
Zeitdimension und Sozialdimension. Jede dieser Dimensionen
gwinnt ihre Aktualiät aus der Differenz zweier Horizonte, ist also
ihrerseits eine Differenz, die gegegn andere Differenzen differenziert
wird. Jede Dimension ist ihrerseits wieder sinnuniversell gegeben, enthält
also, formal gesehen, keine Einschränkung dessen, was in der Welt
möglih ist. Man kann insofern auch von Weltdeimensionen sprechen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 111 |
Die Sachdimension wird dadurch konstituiert, daß
der Sinn die Verweisungsstruktur des Gemeinten zerlegt in »dies«
und »anderes«. Ausgangspunkt einer sachlichen Artikulation
von Sinn ist mithin eine primäre Disjunktion, die etwas noch
Unbestimmtes gegen anderes noch Unbestimmtes absetzt.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 115 |
Es gehört zu dem schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache
(und die Gesamtdarstellung der Systemtheorie in diesem Buche ist aus diesem
Grunde inadäquat, ja irreführend), die Prädikation auf
Ssatzsubjekte zu erzwingen und so die Vorstellung zu suggerieren und schließlich
die alte Denkgewohnheit immer wieder einzuschleifen, daß es um »Dinge«
gehe, denen irgendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitäten
oder Betroffenheiten zugeschrieben werden. Das Dingschema (und entsprechend.
die Auffassung der Welt als »Realität«) bietet aber nur
eine vereinfachte Version der Sachdimension. Dinge sind Beschränkunghen
von Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension. Am Ding lassen
sich deshalb entsprechende Erfahrungen sammeln und versuchsweise reproduzieren.
In dieser Form geben Dinge handliche Anhaltspunkte für den Umgang
mit Weltbezügen. Sie vertuschen aber auch, daß es stets und
zwangsläufig zwei Horizonte sind, die an der sachlichen Konstitution
von Sinn mitwirken; und daß entsprechend Doppelbeschreibungen, die
nach außen und nach innen profilieren, nötig wären, um
Sachsinn zu fixieren. Wir werden daher immer wieder Anlaß haben,
darauf hinzuweisen, daß der primäre Gegenstand der Systemtheorie
nicht ein Gegenstand (oder eine Gegenstandsart) »System« ist,
sondern die Differenz von System und Umwelt.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 115-116 |
Die Zeitdimension wird dadurch konstituiert, daß
die Differenz von Vorher und Nachher, die an allen Ereignissen unmittelbar
erfahrbar ist, auf Sonderhorizonte bezogen, nämlich in die Vergangenheit
und die Zukunft hinein verlängert wird. Die Zeit wird dadurch von
der Bindung an das unmittelbar Erfahrbare gelöst, sie streift allmählich
auch die Zuordnung zur Differenz von Anwesendem und Abwesendem ab (*),
sie wird zu einer eigenständigen Dimension, die nur noch das Wann
und nicht mehr das Wer/Was/Wo/Wie des Erlebens und Handelns ordnet. (Es
muß unterstrichen werden, daß dies ein sehr langsamer Entwicklumgsprozeß
war und daß selbst innovative Zeitdenker wie Augustin die ferne
Vergangenheit und die ferne Zukunft noch im Dunkel des weit Abwesenden
zusammenfließen sahen. Überhaupt scheint das Ineinssetzen von
Fernzukunft und Fernvergangenheit in mystischen Randzonen der zugänglichen
Welt die noch lange vorhaltende Dominanz des Schemas anwesend/abwesend,
nah/fern zu symbolisieren.) Die Zeit wird neutral im Bezug auf
auf Anwesend und Abwesend, und Abwesendes kann dann ohne Rücksicht
auf die Zeit, die man braucht, um es zu erreichen, als gleichzeitig aufgefaßt
werden. Jetzt wird eine einheitliche, vereinheitlichende Zeitmessung möglich,
und in der Zeitsemantik lassen sich dann auch die Zeitpunktsequenzen von
den Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft-Verhältnissen trennen und zu
ihnen in Beziehung setzen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 116 |
Zeit ist ... für Sinnsysteme die Interpretation der Realität
im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft. Dabei ist
der Horizont der Vergangenheit (und ebenso: der Zukunft) nicht etwa der
Anfnag (bzw.: das Ende) der zeit. Diese Vorstellung des Anfangs bzw. Endes
schließt der Horizontbegriff gerade aus. Vielmehr fungieren die
gesamte Vergangenheit und ebenso die gesamte Zukunft als Zeithorizont
- ob sie nun chronolgisiert und entsprechend linearisiert vorgestellt
werden oder nicht.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 116 |
Zukünfte und Vergangenheiten können, und in dieser Hinsicht
sind sie völlig gleich, nur intendiert bzw. thematisiert, nicht aber
erlebt oder behandelt werden.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 117 |
Die Zeitspanne zwischen Vergangenheit und Zukunft, in der das
Irreversibelwerden einer veränderung sich ereignet, wird als Gegenwart
erfahren. Die Gegenwart dauert so lange, wie das Irreversibelwerden dauert.
Bei genauem Zusehen erkennt man, daß immer zwei Gegenwarten gleichzeitig
gegeben sind und daß erst deren Differenz den Eindruck des Fließens
der Zeit erzeugt.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 117 |
Die Sozialdimension betrifft das, was man jeweils als seinesgleichen,
als »alter Ego« annimmt, und artikuliert die Relevanz dieser
Annahme für jede Welterfahrung und Sinnfixierung. Auch die Sozialdimension
hat weltuniversale Relevanz; denn wenn es überhaupt ein alter Ego
gibt, so sit es, wie das Ego auch, für alle Gegenstände und
für alle Themen relevant.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 119 |
Sozial ist ... Sinn nicht qua Bindung an bestimmte Objekte (Menschen),
sondern als Träger einer eigentümlichen Reduplizierunf von Auffassungsmöglichkeiten.
Entsprechend stehen die Begriffe Ego und Alter (alter Ego) hier nicht
für Rollen oder Personen oder Systeme, sondern ebenfalls für
Sonderhorizonte, die sinnhafte Verweisungen aggregieren und bündeln.
Auch die Sozialdimension wird mithin durch einen Doppelhorizont konstituiert;
sie wird in dem Maße relevant, als sich im Erleben und Handeln abzeichnet,
daß die Auffassungsperspektiven, die ein system auf sich bezieht,
von anderen nicht geteilt werden. Und auch hier heißt die Horizonthaftigkeit
von Ego und Alter Unabschließbarkeit weiterer Exploration. Da somit
ein Doppelhorizont auch in diser Hinsicht konstitutiv ist für die
Eigenständigkeit einer Sinndimension, läßt sich Soziales
nicht auf die Bewußtseinsleistungen eines momadischen Subjekts zurückführen.
Daran sind alle Versuche einer Theorie der subjektiven Konstitution von
»Intersubjektivität« gescheitert.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 119-120 |
Nur wenn sich Dissens als Realität oder als Möglichkeit
abzeichnet, hat man Anlaß, den Doppelhorizont des Sozialen als im
Moment besonders wichtige Orientierungsdimension einzuschalten; und nur
in dem Maße, als dies besonders oft oder in spezifischen Sinnzusammenhängen
besonders deutlich geschieht, entsteht in der gesellschaftlichen Evolution
eine besondere Semantik des Sozialen, die ihrerseits als Theorie dieser
Differenz wieder konsens- bzw- dissensfähig sein kann.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 121 |
So wie in der Sachdimension das Dingschema die Weltbezüge
vereinfacht an die Hand gibt, so wird die Sozialdimension auf Moral reduziert.
Der Realistik entspricht die Moralistik der Weltauffassung.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 121 |
Die hier vorgestellte dimensionale Dekomposition der Welt auf
Grund von Sinn und die Zuordnung eines konstitutiven Doppelhorizontes
zu jeder Dimension ermöglichen weitere Schritte der Analyse; sie
ermöglichen vor allem einen deutlicheren Aufriß der Bedingungen
der Möglichkeit des Bestimmens von Sinn.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 122 |
Für den Prozeß der laufenden Selbstbestimmung von Sinn
formiert sich die Differenz von Sinn und Welt als Differenz von Ordnung
und Störung, von Information und Rauschen, Beides ist, beides bleibt
erforderlich. Die Einheit der Differenz ist und bleibt Grundlage der Operation.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 122 |
Sinnbezogene Operationen selbstreferentieller Systeme werden durch
Auslöseprobleme (primäre Disjunktion [vgl.
Sachdimension; HB], Irreversibilität [vgl.
Zeitdimension; HB, Dissens [vgl. Sozialdimension;
HB) gereizt und die Doppelhorizonte der Sinndimension dadurch unter
Optionsdruck gesetzt.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 123 |
Wird die Sinnselektion der Umwelt zugerechnet, gilt die Charakterisierung
Erleben, und die Anknüpfung für weitere Maßnahmen wird
in der Umwelt des Systems gesucht (obwohl das System als erlebend beteiligt
war!). Wird dagegen die Sinnselektion dem System selbst zugerechnet, dann
gilt die Charakterisierung Handeln (obwohl solches Handeln ohne Bezug
auf die Umwelt gar nicht möglich ist).
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 124 |
Durch Schrift wird Kommunikation aufbewahrbar, unabhängig
von dem lebenden Gedächtnis von Interaktionsteilnehmern, ja sogar
unabhängig von Interaktion überhaupt.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 127 |
Auch ein Widerspruch, auch eine Paradoxie hat Sinn. Nur so ist
Logik überhaupt möglich. Man würde sonst beim ersten besten
Widerspruch in ein Sinnloch fallen und darin verschwinden.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 138 |
Die hier vorgestellte Konzeption als »dialektisch«
... charakterisieren .... Sicher müßte eine gewissenhafte Diskussion
ihres Verhältnisses zu den großen Theorieleistungen des 19.
Jahrhunderts (Hegel, Marx, Darwin), die alle mit Differenz anfangen und
nach Einheit suchen, an diesem Punkte ansetzen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 133 |
Im Übergang zur neuzeitlichen Gesellschaft, das heißt,
im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung
des Gesellschaftssystems haben sich die Plausibilitätsgrundlagen
dieses Metaphysik-Konzepts geändert, und zwar in genau der Hinsicht,
auf die es hier ankommt. Mehr und mehr steht die Gesellschaft in einer
kontinuierlichen Auseinandersetzung mit einer selbstgeschaffenen Realität:
mit Personen, die das, was sie sind, durch Sozialisation und Erziehung
sind; und mit einer physisch-chemisch-organischen Natur, die im Zusammenhang
mit technischen Prozessen dirigiert wird. Man ist also an der Erzeugung
der Probleme, mit denen man sich zu befassen hat, immer schon beteiligt
und hat in gewisser Weise das, was man nicht will, immer schon gewollt.
Auf diese sachlage müßte Metaphysik, wenn sie überhaupt
möglich bleiben soll, ihr Konzept der Selbstrefrenz des Seins einstellen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 144-145 |
Auf der Basis der neuzeitlichen Subjekt-Metaphysik, die von der
Subjektivität des Bewußtseins ausging, sind hierfür keine
letztlich überzeugenden Vorstellungen entwickelt worden - vielleicht
vor allem deshalb nicht, weil die Gegenüberstellung von Sein und
Denken sich nicht zu einer Gegenüberstellung von Sein und subjektivem
Bewußtsein fortentwickeln ließ. Man hat das versucht, hat
insbesondere versucht, das dem Sein zu grunde liegende Bewußtsein
(»subiectum«) selbst sinnlos zu denken. Aber das aus dem Sein
in dieser Weise vertriebene, sich selbst suchende Subjekt spezialisierte
sich auf Erkenntnistheorie oder wurde revolutionär - beides aufs
Ganze gesehen unzulängliche Auswege. Die Ortslosigkeit und Unfixierbarkeit
eines extramundanen Subjekts symbolisiert dann letztlich nur noch den
Fehlbegriff der Theorie - und nicht mehr etwas, was ein bewußtes
Ich in sich selbst entdecken kann.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 145 |
Die alte Auffassung war: daß Wissenschaft auf eine entgegenkommende
Rationalität des Gegenstandes angewiesen sei. Diese Auffassung ist
durch die Transzendentalphilosophie in der als Ontologie vorliegenden
Fassung aufgegeben worden. An ihre Stelle trat, korrelativ zur Erschließung
der Selbstreferenz in das »Subjekt«, die These der Unerkennbarkeit
der Realität »an sich«. Diese These wird durch die hier
vollzogenen Reobjektivierung des selbstreferentiellen Systems nicht für
falsch erklärt, sondern nur generalisiert: Jeses selbstreferentielle
System hat nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht und
keine Umwelt »an sich«.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 146 |
Wohlgemerkt: die Umwelt kann durch Sinnsysteme nur, aber auch
das ist innenbedingt, in der Form von Sinn erfahren und bearbeitet werden.
Das gilt auch für physische, chemische, organische Systeme der Umwelt,
die selbst nicht unter der Form von Sinn operieren. Sinnsysteme in
der Umwelt sind ein Sonderfall, und für diesen Sonderfall gilt,
daß nicht nur strukturierte Komplexität im allgemeinen, sondern
sinnspezifische Generalisierungen die Voraussetzungen herstellen, unter
denen die Umwelt für selbstreferentiell-geschlossen operierende Sinnsysteme
beobachtbar, verständlich, analysierbar ist.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 147 |
Bereits Hegel durchschaute Bedürfnisse als Abstraktion, bereits
Parsons sah sich zur Generalisierung auf »need-dispositions«
gezwungen. Eine auf den Bedürfnisbegriff fundierte Soziologie müßte
daher zunächst einmal klären, woher sie den Mut nimmt, dies
alles zu ignorieren. Naturalismus allein ist jedenfalls noch kein sinnvolles
Programm.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 159 |
Es wäre vergeblich, nach einem psychischen oder gar organischen
Substrat von so etwas wie Person, Intelligenz, Gedächtnis, Lernen
zu suchen. Es handelt sich um Kunstgriffe von Beobachtern, mit denen Nichtbeobachtbares
gedeutet und auf die emergente Ebene des Zwischensystemkontaktes überführt
wird.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 159 |
Handlung ist auf Systeme zugerechntete Selektion. Wie immer sie
dann als Wahl unter Alternativen rationalisiert, als Entscheidung dargestellt,
auf Motive bezogen werden mag: zunächst ist sie nichts weiter als
aktualisierte Kontingenz und, vom Beobachter her gesehen, die ins Unberechenbare
gepflanzte Erwartung.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 160 |
Das System wird in Gang gebracht und orientiert sich daher zunächst
durch die Frage, ob der Partner eine Kommunikation annehmen oder ablehnen
wird, oder auf handlung reduziert: ob eine Handlung ihm nützen
oder schaden wird. Die Position des Eigeninteresses ergibt sich erst
sekundär aus der Art, wie der Partner auf einen Sinnvorschlag reagiert.
Die Verfolgung eigenen Nutzens ist eine viel zu anspruchsvolle Einstellung,
als daß man sie generell voraussetzen könnte (und die entsprechenden
Theorie sind auch sehr spät entwickelte Theorien). Dagegen käme
kein soziales System in Gang, wenn derjenige, der mit Kommunikationen
beginnt, nicht wissen kann oder sich nicht dafür interessieren würde,
ob sein Partner darauf positiv oder negativ reagiert.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 160 |
Es ist daran zu erinnern, das jedes Entweder/Oder künstlich
eingeführt werden muß über einem Untergrund, auf den es
nicht zutrifft. Jede Differenz ist eine sich-oktroyierende Differenz.
Sie gewinnt ihre Operationsfähigkeit, ihre Fähigkeit, Informationsgewinn
zu stimulieren, durch Ausschluß dritter Möglichkeiten. Die
klassische Logik folgt diesem Prinzip. Die Weltlogik kann dagegen nur
eine Logik des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten sein. Wie Logiken
aussehen könnten, die diese berücksichtigen, ist ein seit Hegel
viel diskutiertes Problem. (Diskutiert vor allem
im Hinblick auf Architektur und Operationsfähigkeit einer solchen
Logik. Leider ist der sog. »Positivismusstreit« ganz unterhalb
des hier erforderlichen Denkniveaus geführt worden. Vgl. statt dessen
Gotthatt Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen
Dialektik, 5 Bände, 1968. Auch in allgemeinen Systemtheorien
finden Probleme einer rekursiven, Selbstreferenz zulassenden, vielleicht
»dialektischen« Logik zunhemende Beachtung. Siehe z.B. Heinz
von Foerster, a.a.O ..... Varela, a.a.O. ....) Wir müssen
uns hier mit der Platzierung des Problems begnügen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 285 |
Sieht man den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschat an
(statt als Teil der Gesellschaft selbst), ändert das die Prämissen
aller Fragestellungen der Tradition, also auch die Prämissen des
klassischen Humanismus. Das heißt nicht, daß der Mensch als
weniger wichtig eingeschätzt würde im Vergleich zur Tradition.
Wer das vermutet (und aller Polemik gegen diesen Vorschlag liegt eine
solche Unterstellung offen oder versteckt zu Grunde), hat den Paradigmawechsel in der Systemtheorie nicht begriffen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 288-289 |
Die Umwelt mag manches enthalten, was für das System (unter
welchen Gesichtspunkten immer) wichtiger ist als Bestandteile des Systems
selbst; aber auch die gegenseitige Konstellation ist in der Theorie erfaßbar.
Gewonnen wird mit der Unterscheidung von System und Umwelz aber die Möglichkeit,
den Menschen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt zugleich komplexer
und ungebundener zu begreifen, als dies möglich wäre, wenn er
als Teil der Gesellschaft aufgefaßt werden müßte; denn
Umwelt ist im Vergleich zum System eben derjenige Bereich der Unterscheidung,
der höhere Komplexität und geringeres Geordnetsein aufweist.
Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner
Umwelt konzediert, insbesondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem Verhalten. Er ist nicht mehr Maß der Gesellschaft.
Diese Idee des Humanismus kann nicht kontinuieren. Denn wer wollte ernsthaft
und durchdacht behaupten, daß die Gesellschaft nach dem Bilde des
Menschen, Kopf oben usw., geformt werden könnte.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 289 |
Von Penetration wollen wir sprechen, wenn ein System die
eigene Komplexität (und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz
und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung
stellt. In genau diesem Sinne setzen soziale Systeme »Leben«
voraus. Interpenetration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser
Sachverhalt wechselseitig gegeben ist, wenn also beide (oder
mehr! HB) Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen,
daß sie in das jeweils andere ihre vorkonstituerte Eigenkomplexität
einbringen. Im Falle von Penetration kann man beobachten, daß das
Verhalten des penetrierenden Systems durch das aufnehmende System
mitbestimmt wird (und eventuell außerhalb dieses Systems orientierungslos
und erratisch abläuft wie das einer Ameise ohne Kontakt zum Ameisenhaufen).
Im Falle von Interpenetration wirkt das aufnehmende System auch auf dieStrukturbildung
der penetrierenden Systeme zurück; es greift also doppelt, von außen
und von innen, auf dieses ein. Dann sind trotz (nein: wegen!) dieser Verstärkung
der Abhängigkeit größere Freiheitsgrade möglich.
Das heißt auch: daß Interpenetration im Laufe von Evolution
das Verhalten stärker individualisiert als Pentration.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 290 |
Wir erinnern: Komplexität besagt, daß eine Vielzahl
von Elementen, hier Handlungen, nur selektiv verknüpft werden kann.
Komplexität bedeutet also Selektionszwang. Diese Notwendigkeit ist
zugleich Freiheit, nämlich Freiheit zu unterschiedlicher Konditionierung
der Selektion.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 291 |
Die hier gewählte Begriffsfassung vermeidet mit Absicht den
sehr viel einfacheren Weg, auf die Elemente abzustellen, aus denen die
interpenetrierenden Systeme bestehen. Man könnte versucht sein, sich
damit zu begnügen, zu sagen, daß Menschen und soziale Systeme
sich in einzelnen Elementen, nämlich Handlungen, überschneiden.
Handlungen seien Menschenhandlungen, zugleich aber möglicherweise
auch Bausteine sozialer Systeme. Ohne menschliches Handeln gäbe es
keine sozialen Systeme, so wie umgekehrt der Mensch nur in sozialen Systemen
die Fähigkeit zum Handeln erwerben kann. Diese Auffassung ist nicht
falsch, aber sie ist zu einfach. Der Begriff Element ist kein Letztelement
systemtheoretischer Analyse; das haben wir sowohl am Begriff der Komplexität
als am Begriff des selbstreferentiellen Systems herausgearbeitet. Entsprechend
haben wir den Begriff des Elements entontologisiert. (Vgl.
Kapitel 1, II, 4.) Ereignisse (Handlungen) sind keineswegs Elemente
ohne Substrat. Aber ihrer Einheit entspricht keine Einheit ihres Substrats;
sie wird im Verwendungssystem durch Anschlußfähigkeit erzeugt.
(Die Parallelen, aber auch die Divergenzen, zu Kanu
Behandlung des Komplexitätsproblems werden hier besonders augenfällig.
Auch Kant geht von Mannigfaltigkeit aus und fragt, wie man zur Einheit
kommt. Aber da er die Antwort durch Hinweis auf Bewußtseinssynthesen
geben will, wird die ganze Fragestellung psychologisiert; und da das wiederum
nicht akzeptabel ist, muß der Transzendentalismus draufgesetzt werden.
Heute neigt man dagegen dazu, die gesamte Fragestellung [Erkenntnistheorie
eingeschlossen] zu re-naturalisieren, ohne damit in eine Ontologie zurückzukehren.)
Elemente werden durch die Systeme, die aus ihnen bestehen, selbst konstituiert,
und in diesem Zusammenhang spielt der Umstand mit, daß Komplexität
ein selektives Relationieren der Elemente erfordert. Man kann beim Verweis
auf die Elemente also nicht stehen bleiben, so als ob es um Steinchen
für ein Mosaik gehe; denn dahinter taucht sofort die Frage auf, wie
die Fähigkeit des selektiven Konstituierens der Elemente zu erklären
ist. Viel radikaler, als eine »Handlungstheorie« es sehen
und formulieren kann, greift die Systemtheorie auf strukturelle Bedingungen
der Selektivität zurück.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 292 |
Schließlich fügt sich diesen Überlegungen eine
empirisch getestete Hypothese ein: Soziale Systeme, die auf komplexere
psychische Systeme zurückgreifen können, haben einen geringeren
Strukturbedarf. Sie können höhere Instabilitäten und rascheren
Strukturwechsel verkraften. Sie köpnen sich eher Zufällen aussetzen
und können ihr Regelwerk dadurch entlasten. Auch dies ist nur einsichtig,
wenn man Komplexität und Interpenetration richtig versteht, nämlich
als mit Größe steigender Selektionszwang und als offene Konditionierbarkeit
eben dieses Zwanges.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 294-295 |
Man darf sich Interpenetration weder nach dem Modell der Beziehung
zweier getrennter Dinge vorstellen noch nach dem Modell zweier sich teilweise
überschneidender Kreise. Alle räumlichen Metaphern sind hier
besonders irreführend. Entscheidend ist, daß die Grenzen
des einen Systems in den Operationsbereich des anderen übernommen
werden können. So fallen die Grenzen sozialer Systeme in das
Bewußtsein psychischer Systeme. Das Bewußtsein unterläuft
und trägt damit die Möglichkeit, Sozialsystemgrenzen zu ziehen,
und dies gerade deshalb, weil sie nicht zugleich Grenzen des Bewußtseins
sind. Das Gleiche gilt im umgekehrten Fall: Die Grenzen psychischer Systeme
fallen in den Kommunikationsbereich sozialer Systeme. Kommunikation ist
geradezu gezwungen, sich laufend daran zu orientieren, was psychische
Systeme in ihr Bewußtsein bereits aufgenommen haben und was nicht.
Und auch dies ist nur möglich, weil die Grenzen psychischer Systeme
nicht zugleich Grenzen der kommunikativen Möglichkeiten sind. Jedes
an Interpenetration beteiligte System realisiert in sich selbst das andere
als dessen Differenz von System und Umwelt, ohne selbst entsprechend zu
zerfallen. So kann jedes System im Verhältnis zum anderen eigene
Komplexitätsüberlegenheit, eigene Beschreibungsweisen, eigene
Reduktionen verwirklichen und auf dieser Grundlage eigene Komplexität
dem anderen zur Verfügung stellen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 295 |
Die Systemleistung, die interpenetrierende Systeme füreinander
erbringen, besteht also nicht im Input von Ressourcen, von Energie, von
Information. Auch dies bleibt natürlich möglich. Ein Mensch
sieht etwas und erzählt es, steuert also Information zum sozialen
System bei. Was wir Interpenetration nennen, greift jedoch tiefer, ist
kein Leistungszusammenhang, sondern ein Konstitutionszusammenhang. Jedes
System stabilisiert die eigene Komplexität. Es erhält Stabilität,
obwohl es aus ereignishaften Elementen besteht, also durch die eigene
Struktur zum ständigen Wechsel der eigenen Zustände gezwungen
ist. Es produziert so ein strukturbedingtes Zugleich von Dauer und Wechsel.
Etwas zugespitzt könnte man auch sagen: jedes System stabilisiert
die eigenen Instabilitäten. Es garantiert damit die laufende Reproduktion
noch unbestimmter Potentialitäten. Deren Bestimmung kann konditioniert
werden. Diese Konditionierung läuft immer selbstreferentiell, ist
also immer Moment der autopoietischen Reproduktion der eigenen Elemente;
sie nimmt dabei aber, gerade weil reine Selbstreferenz tautologisch wäre,
immer auch Anstöße aus der Umwelt auf. Selbstreferentielle
Systeme sind deshalb in der Lage, verfügbare Potentialitäten
für den Aufbau von Systemen auf ernergenten Realitätsniveaus
freizuhalten und sich selbst auf die damit geschaffeneSonderumwelt einzustellen.
Der Begriff Interpenetration zieht, so gesehen, die Konsequenzen aus dem
Paradigmawechsel in der Systemtheorie: aus dem Übergang zur System/Umwelt-Theorie
und zur Theorie selbstreferentieller Systeme. Er setzt diese theoretische
Umdisposition auch insofern voraus, als er die Autonomie der interpenetrierenden
Systeme begreift als Steigerung und Selektion von Umweltabhängigkeiten.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 295-296 |
Von Interpenetration soll nur dann die Rede sein, wenn auch die
ihre Komplexität beitragenden Systeme autopoietische Systeme sind.
Interpenetration ist demnach ein Verhältnis von autopoietischen Systemen.
Diese Eingrenzung des Begriffsbereichs macht es möglich, das klassische
Thema Mensch und Gesellschaft aus einem weiteren Blickwinkel zu betrachten,
der mit dem Wortsinn von »Interpenetrieren« nicht ohne weiteres
gegeben ist.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 296 |
So wie die Selbstreproduktion sozialer Systeme dadurch, daß
Kommunikation Kommunikation auslöst, gleichsam von selber läuft,
wenn sie nicht schlicht aufhört, gibt es auch am Menschen geschlossen-selbstreferentielle
Reproduktionen, die sich bei einer sehr groben, hier aber ausreichenden
Betrachtung als organische und als psychische Reproduktion unterscheiden
lassen. Im einen Falle ist das Medium und die Erscheinungsform (ich
nenne »Erscheinungsform« zusätzlich, um auf die aus der
Autopoiesis sich ergebende Möglichkeit der Beobachtung hinzuweisen.)
das Leben, im anderen Falle das Bewußtsein. Autopoiesis qua
Leben und qua Bewußtsein ist Voraussetzung der Bildung sozialer
Systeme, und das heißt auch, daß soziale Systeme eine eigene
Reproduktion nur verwirklichen können, wenn die Fortsetzung des Lebens
und des Bewußtseins gewährleistet ist.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 296-297 |
Diese Aussage klingt trivial. Sie wird niemanden überraschen.
Gleichwohl bringt das Konzept der Autopoiesis zusätzliche Perspektiven
ins Bild. Sowohl für Leben als auch für Bewußtsein ist
die Selbstreproduktion nur im geschlossenen System möglich. Das hatte
der Lebensphilosophie wie der Bewußtseinsphilosophie die Möglichkeit
gegeben, ihren Gegenstand "Subjekt" zu nennen. Trotzdem ist
die Autopoiesis auf beiden Ebenen nur unter ökologischen Bedingungen
möglich, und zu den Umweltbedingungen der Selbstreproduktion menschlichen
Lebens und menschlichen Bewußtseins gehört Gesellschaft. Um
diese Einsicht zu formulieren, muß man, wie bereits mehrfach betont,
Geschlossenheit und Offenheit von Systemen nicht als Gegensatz formulieren,
sondern als Bedingungsverhältnis. Das soziale System, das auf Leben
und Bewußtsein beruht, ermöglicht seinerseits die Autopoiesis
dieser Bedingungen, indem es ermöglicht, daß sie sich in einem
geschlossenen Reproduktionszusammenhang ständig erneuern. Das Leben
und selbst das Bewußtsein brauchen nicht zu "wissen",
daß dies sich so verhält. Aber sie müssen ihre Autopoiesis
so einrichten, daß Geschlossenheit als Basis für Offenheit
fungiert.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 297 |
Interpenetration setzt Verbindungsfähigkeit verschiedener
Arten von Autopoiesis voraus - in unserem Falle: organisches Leben, Bewußtsein
und Kommunikation. Sie macht Autopoiesis nicht zur Ailopoiesis; sie stellt
gleichwohl Abhängigkeitsverhältnisse her, die ihre evolutionäre
Bewährung darin haben, daß sie mit Autopoiesis kompatibel sind.
Von hier aus wird besser verständlich, weshalb der Sinnbegriff theoriebautechnisch
so hochrangig eingesetzt werden muß. Sinn ermöglicht die Interpenetration
psychischer und sozialer Systembildungen bei Bewahrung ihrer Autopoiesis;
Sinn ermöglicht das Sichverstehen und Sichfortzeugen von Bewußtsein
in der Kommunikation und zugleich das Zurückrechnen der Kommunikation
auf das Bewußtsein der Beteiligten. Der Begriff des Sinnes löst
damit den Begriff des animal sociale ab. Es ist nicht die Eigenschaft
einer besonderen Art von Lebewesen, es ist der Verweisungsreichtum von
Sinn, der es möglich macht, Gesellschaftssysteme zu bilden, durch
die Menschen Bewußtsein haben und leben können.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 297-298 |
Dieser Sachverhalt wird klarer, wenn man die reine Selbstreproduktion
als bloße Fortsetzung des Lebens, der Bewußtheit, der Kommunikation
unterscheidet von den Strukturen, mit deren Hilfe dies geschieht. Die
Autopoiesis ist Quelle einer für das System unbestimmbaren Komplexität.
Die Strukturen dienen der bestimmenden Reduktion und ermöglichen
genau dadurch auch die Reproduktion der Unbestimmtheit, die immer wieder
am Bestimmen als Möglichkeitshorizont erscheint. Nur beides zusammen
ermöglicht Interpenetration. Das Interpenetrationsverhältnis
seligiert dann seinerseits die Strukturen, die für die interpenetrierenden
Systeme deren Selbstreproduktion ermöglichen.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 298 |
Der hier gemeinte Sachverhalt ist also nur über komplizierte
Formulierungen zugänglich zu machen. Es sind Differenz und
Ineinandergreifen von Autopoiesis und Struktur (die
eine sich kontinuierlich reproduzierend, die andere sich diskontinuierlich
ändernd), die für das Zustandekommen von Interpenetrationsverhältnissen
zwischen organisch/psychischen und sozialen Systemen auf
beiden Seiten unerläßlich sind. Das Begreifen dieser Sachlage
setzt dies Zusammenspiel einer Mehrheit von Distinktionen voraus. Läßt
man nur eine von ihnen außer Acht, wird man zurückkatapultiert
in die alte und ewig unfruchtbare, ideologisch besetzte Diskussion über
das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 298 |
Wir streichen zwar die Behauptung, das Bewußtsein sei das
Subjekt. Dies ist es nur für sich selbst. Trotzdem kann man nachvollziehen,
daß die Autopoiesis im Medium des Bewußtseins geschlossen
und zugleich offen ist. In jeder Struktur, die sie annimmt, adaptiert,
ändert oder aufgibt, ist sie angeschlossen an soziale Systeme. Das
gilt für »pattern recognition«, für Sprache und
für alles andere. Sie ist trotz dieser Kopplung genuin autonom, weil
nur das Struktur sein kann, was die Autopoiesis des Bewußtseins
anleiten und in ihr sich reproduzieren kann. Damit findet man auch Zugang
zu dem alle soziale Erfahrung transzendierenden Potential des Bewußtseins
und zu einer Typik von Sinnbedarf, die dem Bewußtsein die eigene
Autopoiesis im Wechsel aller spezifischen Sinnstrukturen garantiert. Im
Zusammenhang einer Untersuchung von »Lebensbedingungen« hat
Dieter Henrich Glück und Not als solche Sinngebungen behandelt, die
ein ganzes Bewußtsein durchdringen, ohne in bestimmten Sinnformen
greifbar und korrigierbar zu sein. (Siehe Fluchtlinien:
Philosophische Essays, 1982, S. 11 ff..)
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 299-300 |
Verhältnisse der Interpenetration und Bindungen gibt es nicht
nur zwischen Mensch und sozialem System, sondern auch zwischen Menschen.
Die Komplexität eines Menschen wird für einen anderen von Bedeutung
und umgekehrt. Wir wollen von zwischenmenschlicher Interpenetration sprechen,
wenn es um genau diesen Sachverhalt geht (*),
und wir müssen ihn einbeziehen, bevor wir auf Sozialisation zu sprechen
kommen. (* Zur Terminologie: In Abweisung von früherem
Sprachgebrauch spreche ich hier nicht von interpersonaler Interpenetration,
weil auch das Körperverhalten einbezogen werden muß und weil
Psychisches nicht in der sozial konstituierten Form von Personalität
vorausgesetzt werden soll.)
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 303 |
Der Begriff Interpenetration ändert sich bei dieser Verwendung
nicht. Die Beziehung von Mensch zu Mensch ist damit auf den gleichen Begriff
gebracht wie die Beziehung von Mensch und sozialer Ordnung. Gerade am
identisch gehaltenen Begriff zeigen sich dann unterschiedliche Phänomene
je nachdem, auf welche Arten von Systemen er bezogen wird.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 303 |
Die Nervenzelle ist kein Teil des Nervensystems, der Mensch ist
kein Teil der Gesellschaft. Dies vorausgesetzt, müssen wir genauer
fragen, wie es dann trotzdem möglich ist, die Komplexität des
jeweils anderen Systems für den Aufbau des eigenen zu nutzen. Für
den Bereich psycvhsicher und sozialer Systeme, für den Bereich sinnhaft
prozessierender Systeme also, lautet die Antwort: durch binäre Schematisierung.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 311 |
Die Norm kann ihre Wirklichkeitsprojektion nie voll durchsetzen;
sie erscheint in der Realität daher als Spaltvorgang, als Differenz
von Konformität und Abweichung.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 312 |
Bürokratie ist bekanntlich ein System mit sehr geringer Störempfindlichkeit.
Niklas
Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 525 |
Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoeitischer
Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung
der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme
bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern
aus Kommunikationen.
Niklas
Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986, S. 269 |
Der Mensch ist eigentlich nicht Subjekt, sondern Adjekt der Gesellschaft.
Niklas
Luhmann, Die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und die Soziologie,
Vortrag, 6. November 1986 |
Geld wendet für den Bereich, den es ordnen kann, Gewalt ab
- und insofern dient eine funktionierende Wirtschaft immer auch der Entlastung
von Politik. Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt.
Niklas
Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 85 |
Die »invisible hand« hatte, schon im 17. Jahrhundert,
eine Fortschrittsgarantie symbolisiert. Nachdem sie zunehmend unter Arthrose
zu leiden begann, übernahm das Desiderat des wirtschaftlichen Wachstums
selbst diese Funktion.
. Den Politikern und der öffentlichen
Meinung wird folglich suggeriert, Wirtschaftswachstum sei notwendig, sei
eine Bedingung gesellschaftlicher Stabilität.
Niklas
Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, Kap. 3, IV |
Jedes Reden wiederholt das Schweigen.
Niklas
Luhmann, Reden und Schweigen, 1989, S. 15 |
Die Ethik muß lernen, vor der Moral zu warnen.
Niklas
Luhmann, Interview, 1989 |
Unsere Gesellschaft ist pluralistisch in vielen Dingen, und es
ist schwierig, Normen anders als rein ideologisch zu projektieren. Und
Habermas hat die Position, daß es trotzdem möglich ist, einen
Diskurs zu führen, der im Ergebnis zu einem Konsens über vernünftige
Normen führen soll.
Niklas
Luhmann, Interview, 1993 |
Sinn erfordert immer Differenzen, immer Unterschiede.
Niklas
Luhmann, Interview, 1993 |
Gesellschaft ist eine Differenz zwischen System und Umwelt, die
als Differenz erhalten bleibt und reproduziert wird, und zwar nicht von
der Umwelt, sondern vom System selber.
Niklas
Luhmann, Interview, 1993 |
Im System wird die System/Umwelt-Differenz wiederholt. Das heißt:
Durch Kopie kommt es im System mit den Operationen des Systems erneut
zu einer Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Und dann wird natürlich
nicht alles, was es überhaupt gibt, sondern nur das, was für
das System relevant ist, berücksichtigt. Und erst auf dieser Ebene
des »Re-entry«, des Wiedereintritts einer Unterscheidung in
das Unterschiedene kann man erst die modernen Probleme beurteilen, die
die Gesellschaft mit ökologischen Fragen hat.
Niklas
Luhmann, Interview, 1993 |
Die Gesellschaft würde ich als das umfassende soziale System
ansehen. Heute wäre das praktisch »Weltgesellschaft«.
Also alles, was man über Kommunikation erreichen kann - von jedem
Ausgangspunkt her. Gesellschaft grenzt sich dann gegenüber der Umnwelt
dadurch ab, daß in der Umwelt nicht kommuniziert wird, daß
man auch mit der Umwelt eigentlich nicht kommunizieren kann. .... Kommunikation
ist immer ein gesellschaftsinterner Prozeß. Und das hat wiederum
mit der Autapoiesis zu tun. dh. mit der Selbstreproduktion der Kommunikation
durch Kommunikation.
Niklas
Luhmann, Interview, 02.05.1994 |
Marx selber hat ja auich schon gesagt, daß die Kapitalisten
nicht sehen können, daß sie auf ihren eigenen Untergang zuarbeiten:
Gesetz der fallenden Profitrate (vgl. den
3. Abschnitt des 3. Bandes seines Hauptwerks Das Kapital; HB)
und dergleichen. Die Kapitalisten wissen nicht, daß sie sich selber
ruinieren, und sie können das nicht wissen. Aber Marx wußte
das. Und ich weiß jetzt, natürlich, daß Marx sich auch
in manchen Beziehungen geirrt hat oder in manchen Beziehungen historisch
die Situation beschrieb, die nicht mehr unsere Situation ist.
Niklas
Luhmann, Interview, 02.05.1994 |
Also, wenn ich es zeitlich streng meine, ist
Gegenwart der Punkt ohne Zeitstrecke, in dem Vergangenheit und
Zukunft different sind. Also, das Differential - das ist
Novalis, wenn man will. Das Differential von Vergangenheit und Zukunft
ist die Gegenwart. Und das heißt auch: Je mehr die Vergangenheit
kein Versprechen für die Zukunft mehr enthält, um so wichtiger
wird die Gegenwart.
Niklas
Luhmann, Interview, 1994 |
Selbstkritisch ist die Vernunft nicht aufgrund
ihres europäischen Erbes, sondern nur wenn und nur insofern, als
sie ihren eigenen Realitätsglauben auswechseln kann, also nicht an
sich selber zu glauben beginnt. Die Bewährungsproben liegen in der
Therapie, die weniger schmerzhafte Lösungen zu erreichen versucht
und selbst ein Desengagement in Sachen Realität pflegt. Und sie liegen
in Ansprüchen an Kommunikation, in Ansprüchen an eine subtilere
Sprache ..., die auch unter polykontexturalen Bedingungen noch funktioniert.
Selbstkritische Vernunft ist ironische Vernunft.
Niklas
Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie,
1995, S. 45-46 |
Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete
Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand
ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu nennen,
an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie
der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 11 |
Der neuzeitliche Individualismus und vor allem die Freiheitsthematik
des 19. Jahrhunderts gaben daher einen wichtigen Anlaß, eine Vorstellung
von Weltgesellschaft auszubilden. (Hegel spricht
deshalb in einem sehr bestimmten Sinne von »Weltgeschichte«
Siehe dazu vor allem Joachim Ritter, Hegel und die französische
Revolution, zit. nach der Ausgabe in: Joachim Ritter, Metaphysik
und Politik: Studien zu Aristoteles und Hegel, 1969, S. 183-255. Dort
heißt es [aus Anlaß von Überlegungen zum Problem der
Kolonisation]: »Die industrielle bürgerliche Gesellschaft ist
daher für Hegel schließlich durch ihr eigenes Gesetz dazu bestimmt,
zur Weltgesellschaft zu werden; die für das Verhältnis der
politischen Revolution zur Weltgeschichte entscheidende Beziehung der
Freiheit auf die Menschheit und den Menschen als Gattung ist in dieser
potenziellen Universalität der bürgerlichen Gesellschaft begründet.«
[222].)
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 157 |
In dem Maße, in dem die Kongruenz von Sozialstruktur und
Semantik der traditionalen Gesellschaft sich auflöst und die damit
gegebenen Plausibilitäten nicht mehr verpflichten, wird eine freiere
Begriffsbildung möglich. Das Problem der Rationalität kann abstrakter
formuliert werden. Es läßt sich heute nicht mehr als Ausrichtung
an den Lebensformen eines Zentrums oder einer Spitze begreifen, also auch
nicht mehr als Annäherung an eine Idee oder mit Bezug auf ein normatives
Gebot als Erfüllung oder Abweichung. Die Erosion einer solchen Idealbegrifflichkeit
tangiert schließlich auch die Gegenbegrifflichkeit einer wie immer
imperfekten, korrupten, devianten, widerständigen Realität.
Die traditionelle Form der Rationalität, das heißt die Unterscheidung,
deren eine Seite sie markiert, löst sich auf. Statt dessen wird das
Problem des Verhältnisses von Realität und Rationalität
letztlich dadurch akut, daß jede kognitive und jede handlungsmäßige
Operation als Beobachtung eine Unterscheidung erfordert, um die eine (und
nicht die andere) Seite der Unterscheidung bezeichnen zu können.
Sie muß ihre beobachtungsleitende Unterscheidung als Differenz (und
nicht als Einheit, nicht in der Ununterschiedenheit des Unterschiedenen,
nicht in dem, was beiden Seiten gemeinsam ist) verwenden. Sie darf gerade
nicht, im Sinne Hegels, dialektisch verfahren, sondern sie muß sich
selbst als Beobachtung aus dem, was sie beobachtet, ausschließen.
Dabei wird der Beobachter, gleichgültig welche Unterscheidung er
verwendet, zum ausgeschlossenen Dritten. Aber gerade er, er allein, garantiert
doch mit seiner Autopoiesis die Realität seiner eigenen Operationen
und damit die Realität all dessen, was dabei im Modus der Gleichzeitigkeit
als Welt vorausgesetzt sein muß! Die Praxis des bezeichnenden Unterscheidens
kommt in der Unterscheidung nicht vor. Sie kann nicht bezeichnet werden,
es sei denn durch eine andere Unterscheidung. Sie ist der blinde Fleck
des Beobachtens - und eben deshalb der Ort seiner: Rationalität
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 178 |
Auf Grund dieser in sich asymmetrischen Form der Unterscheidung
von medialem Substrat und Form prozessieren Kommunikationssysteme Kommunikationen.
Sie lenken damit die Fokussierung von Sinn auf das, was jeweils geschieht
und Anschluß sucht. So kommt es zur Emergenz von Gesellschaft, und
so reproduziert sich die Gesellschaft im Medium ihrer Kommunikation, Mit
diesem komplexer gebauten Begriff ersetzen wir die übliche Vorstellung
eines Übertragungsmediums, dessen Funktion darin besteht, zwischen
unabhängig lebenden Organismen zu »vermitteln«. Auch
der alte Sinn von »communicatio«, der Sinn des Herstellens
von »Gemeinsamkeit« des Erlebens, wird damit aufgegeben oder
doch auf einen Nebeneffekt reduziert. Das folgt aus der oben dargelegten
Auffassung, daß es nicht ausreicht, die Funktion der Kommunikation
in der Erweiterung und Entlastung der kognitiven Fähigkeiten von
Lebewesen zu sehen. Überhaupt ist ja schwer zu sehen, wie Lebewesen,
einschließlich Menschen, in der finsteren Innerlichkeit ihres Bewußtseins
(fast ein Hegel-Zitat; Hegel spricht von der »finsteren
Innerlichkeit des Gedankens«, in: Vorlesungen über die Ästhetik,
Band. I, S. 18 - ohne freilich daraus die Konsequenzen zu ziehen, die
uns vorschweben) irgend etwas gemeinsam haben können. Statt
dessen soll uns der Begriff der Kommunikationsmedien erklären, daß
und wie auf der Grundlage von Kommunikation das Unwahrscheinliche doch
möglich ist: die Autopoiesisdes Kommunikationssystems Gesellschaft.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 201-202 |
Die Sprache hat mithin eine ganz eigentümliche Form. Als
Form mit zwei Seiten besteht sie in der Unterscheidung von Laut und Sinn.
Wer diese Unterscheidung nicht handhaben kann, kann nicht sprechen. Dabei
besteht, wie immer bei Formen in unserem Verständnis, ein kondensierter
Verweisungszusammenhang der beiden Seiten, so daß der Laut nicht
der Sinn ist, aber gleich wohl mit diesem Nichtsein bestimmt, über
welchen Sinn jeweils gesprochen wird; so wie umgekehrt der Sinn nicht
der Laut ist, aber bestimmt, welcher Laut jeweils zu wählen ist,
wenn über genau diesen Sinn gesprochen werden soll. Sprache ist,
hegelisch gesprochen, durch eine Unterscheidung-in-sich bestimmt und,
wie wir sagen können, durch die Spezifik genau dieser Unterscheidung
ausdifferenziert.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 213 |
Die These der göttlichen Weltschöpfung ... erzeugt keine
Informationen mehr und dient nur noch, gleichsam zur Schonung der überlieferten
Religion, als Abschlußformel der Bezeichnung der anderenfalls unbeobachteten
Einheit der Welt. (Genau umgekehrt hatte Hegel argumentiert.
Siehe Vorlesungen über die Philosophie der Religion, zit.
nach Werke, Band 16, S. 20 ff.. Hegel sieht im Verzicht auf die detaillierten
Zwecknaturen einen Gewinn für die Frömmigkeit: »Was zum
Nutzen des einen, reicht dem anderen zum Nachteil, ist daher unzweckmäßig:
die Erhaltung des Lebens und der mit dem Dasein zusammenhängenden
Interessen, die das eine Mal befördert werden, sind das andere Mal
ebensosehr gefährdet und vernichtet. So liegt eine Entzweiung
in sich selbst darin, daß, der ewigen Wirkungsweise Gottes zuwider,
endliche Dinge zu wesentlichen Zwecken erhoben werden« [S. 21 f.].
In der Weltgeschichte des Geistes kann dies nur eine vorübergehende
Unzulänglichkeit sein.)
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 418 |
Geschichte als Prozeß. Ihre verbindliche Form hat sie in
der Geschichtsphilosophie Hegels gewonnen. Ihr liegt noch die ins Zeitliche
ausgearbeitete Vorstellung einer Hierarchie von niederen und höheren
Tätigkeiten zu Grunde. Mit den damit gegebenen Unterscheidungen kann
die Theorie im Verschiedenen dasselbe als tätig erweisen. Sie baut,
und gibt sich insofern als logische Metaphysik, das Moment der Negation
ein, mit dem das zu sich selbst kommende Höhere für sich
das Niedere als unzureichend, als Mangel, als Schmerz, als zu Überwindendes
auffaßt. Es entdeckt und realisiert in dieser Negation als eigener
seine »Freiheit«. Es findet damit in sich einen Widerspruch
und hat so die Wahl, an dem Widerspruch zu Grunde zu gehen oder, wie
die Philosophie rät, ihn »aufzuheben«. Um sich in dieser
Weise in sich reflektieren zu können, muß das Prinzip des Werdens
»Geist« sein. Der Geist bewegt sich mit Hilfe seiner Fähigkeit
des Unterscheidens bis hin zu seiner »absoluten« Endform des
Sich-in-sich-Unterscheidens. Der Geist reichert sich also nur an, er löscht
nichts aus. Er vergißt nichts. Er verzichtet auch nicht auf die
Realisation von Möglichkeiten. Deshalb liegt seine Perfektion darin,
daß am Ende nur noch das Ausschließen ausgeschlossen ist,
und dann ist alles Mögliche wirklich geworden.
Zu dieser geschlossenen Form hat es seitdem nie wieder eine Theorie gebracht,
und alle Späteren müssen sich folglich davon unterscheiden.
Alle posthegelianischen Theorien müssen deshalb nicht den Ausschluß
des Ausschließens vorsehen, sondern den Einschluß des Ausschließens.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 422-423 |
Das 19. Jahrhundert hatte eine Semantik der Demographie, der Populationen,
der Erblichkeit bevorzugt. Je unsicherer die Semantik der Subjektivität
und der Freiheit, desto sicherer dann doch das Leben und die Leiblichkeit.
Ohne diesen Hintergrund ist das Interesse Darwins und vor allem das Interesse
der Ideologen an Darwin nicht zu denken. Bei all den zahlreichen Varianten,
die man vorfindet, dient das Inviduum als letzte Referenz; und das gilt
auch für Versuche, Handlungstheorie mit Evolutionstheorie zu kombinieren.
Man gelangt damit nicht über die Theorien des 19. Jahrhunderts hinaus,
die das Individuum für die Selbststeuerung des evolutionären
Prozesses in Anspruch nehmen, also für Entwicklungstheorien, die
sich als Geschichtstheorien vorstellen und oft den Ausdruck Evolution
explizit zurückweisen. Hier scheint denn auch mehr als in der Absage
an religiöse Erklärungen das einigende Band der meisten Evolutions-
oder Geschichtstheorien des 19. Jahrhunderts (Hegelderivate ausgenommen)
zu liegen und damit der unbestrittene Ausgangspunkt aller Kontroversen.
(Das wird nicht prinzipiell anders, wenn man ...
unterscheidet zwischen Personen als sinngebender, handelnder Einheit und
Individuum als eine Einheit, in der eine Fülle von objektiven Ereignissen
passieren ....) Die Systemtheorie erzwingt, verglichen damit, schärfere
Abstraktionen, aber auch größere Genauigkeit in den Begriffen.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 432 |
Die Bedeutung von Zufall in der Evolutionstheorie könnte
so verstanden werden, als ob die Theorie auf ein Postulat der Unkenntnis
gegründet sei - Unkenntnis bezogen auf die mikrophysikalischen, chemischen,
biochemischen, neurophysiologischen, psychologischen Prozesse, die dann
letztlich doch determinieren, was geschieht. Damit würde das Problem
jedoch auf eine erkenntnistheoretische Fassung und auf ein Paradox (Wissen
gründet auf Nichtwissen) reduziert werden. Aber dies ist nur ein
Sonderfall eines viel allgemeineren Gesetzes, daß nämlich Systeme
immer begrenzte (reduzierte und gesteigerte) Resonanzfähigkeit aufweisen
und füreinander, wenn man so formulieren darf, nur über »Fenster«
zugänglich sind. In anderen Begriffen könnte man auch sagen,
daß alle Systeme Messungen durchführen müssen, um Informationen
zu erzeugen, nach denen sie sich richten können. Deshalb ersetzt
ein System Vollkenntnis der Umwelt durch Einstellung auf etwas, was für
es Zufall ist. Nur dadurch ist Evolution möglich.
Im Unterschied zu älteren Annahmen dient der Begriff also nicht der
Negation von Kausalität, er besagt nicht: Ursachelosigkeit des Vorkommens.
»Zufall« ist also auch nicht eine kausale Verlegenheitskonstruktion,
etwa die Ursache, die man (gleichsam zur Vervollständigung des Kausalschemas
der Welterklärung) noch benennen kann, wenn man keine Ursache benennen
kann. Wir geben dem Zufallsbegriff keinerlei kausaltheoretische Bedeutung.
In äußerster Abstraktion kann von Zufall als einem differenztheoretischen
Grenzbegriff gesprochen werden. Zufall heißt dann, daß die
Bestimmung der einen Seite einer Unterscheidung nichts besagt für
die Bestimmung der anderen Seite. So versteht Hegel den Begriff Zufall
und entsprechend den Gegenbegriff Notwendigkeit. Uns genügt eine
nengere Fassung, bezogen auf die Unterscheidung von System und Umwelt.
Wir verstehen unter »Zufall« eine Form des Zusammenhangs von
System und Umwelt, die sich der Synchronisation (also auch der Kontrolle,
der »Systematisierung«) durch das System entzieht. Kein System
kann alle Kausalitäten beachten. Deren Komplexität muß
reduziert werden. Bestimmte Kausalzusammenhänge werden beobachtet,
erwartet, vorbeugend eingeleitet oder abgewendet, normalisiert - und andere
werden dem Zufall überlassen. Die »Irregularität«
von Zufall ist, mit anderen Worten, kein Weltphänomen und folglich
ist es auch nicht sinnvoll, sie in die Diskussion über Determinismus/Indeterminismus
einzubringen. Sie setzt eine Systemreferenz voraus, denn nur so kann ein
Beobachter sagen, für wen etwas Zufall ist.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 448-450 |
Auch der Kunst ist nachgerühmt worden, daß sie im »weichen,
einfachen Element« der Vorstellung etwas gestalten kann, was sich
so in den Natur, die hr als Vorlage dient, nicht findet. (Vgl.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik,
a.a.O., S 215. [Hegel schrieb über die Kunst aber auch z.B: »Der
Geist geht in eine tiefere Epoche der Wahrheit ein, in der er der Kunst
nicht mehr bedarf«; und z.B.: »Die
Kunst ist nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein
Vergangenes.«])
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 482 |
Die Entstehung distinkter Formen innergesellschaftliche Systemdifferenzierung
ist also einerseits ein Resultat von Evolution. Die Differenzierungsformen
selbst sind evolutionäre Errungenschaften. Andererseits wirken sie
auf die Evolution selbst zurück, indem sie jeweils spezifische Schwierigkeiten
haben, eine Trennung der evolutionären Mechanismen einzurichten.
Die Differenzierungsformen unterscheiden sich, wie wir noch ausführlich
sehen werden, im Ausmaß struktureller Komplexität, das sie
ermöglichen, und in den Semantiken, mit denen sie auf die damit verbundenen
Probleme reagieren. Das wirkt sich auf ihre Möglichkeiten aus, die
evolutionären Mechanismen institutionell zu trennen. Hochkultivierte
Gesellschaften, die sich auf Zentrum/Peripherie-Differenzierungen stützen,
haben zum Beispiel schon die Möglichkeit, Kriterien zu formulieren
und anzuwenden; aber sie müssen die in sie eingebauten Ungleichheiten
verteidigen, müssen Unruhen abwehren und benötigen daher eine
stabilitätsbezogene Semantik, an der sie Selektionen orientieren.
Erst unter dem Regime funktionaler Differenzierung kommt es zu Selektionskriterien,
die destabilisierend wirken. Dann aber kollabiert die Differenz von Stabilisierung
und Variation, denn jetzt muß Stabilität primär auf Flexibilität,
Änderbarkeit, Entscheidbarkeit gegründet werden. Mit diesen
Verschiebungen im Übergang von Differenzierungsform zu Differenzierungsform
ändert sich zugleich die Häufigkeit struktureller Änderungen
und damit das Tempo der Evolution. Die Zeit selbst scheint schneller zu
laufen. Schon diese Überlegungen zeigen, daß
die Trennung und (zufallsabhängige) Wiederverknüpfung der evolutionären
Funktionen sich nicht auf Naturgesetze oder auf Notwendigkeiten eines
dialektischen Prozesses stützen kann. (Das
Verhältnis der Evolutionstheorie zur Dialektik und damit zur Geschichtstheorie
Hegels bedürfte einer gründliche:en Untersuchung. Hier sei nur
angemerkt, daß der Begriff der Form eIne Unterscheidung markiert
und damit den Zusammenhang der beiden Seiten der Unterscheidung als notwendig
ausweist. Auf Variation folgt deshalb notwendig Selektion, auf Selektion
notwendig Restabilisierung. Das heißt aber nicht, daß ein
entsprechender Prozeß notwendig ist. Und es heißt auch nicht,
daß innerhalb dieses Prozesses nur Unterscheidungen, die als »Gegensatz«
konstituiert werden, Bewegung in Gang setzen. Diese Prämissen sind
nur haltbar, wenn man etwas wie »Geist« postuliert, das aus
der höheren (späteren) Position heraus etwas bloß Vorhandenes
in die Form des »Mangels« versetzen kann, um den Mangel schließlich
an sich selbst zu kurieren.) Es gibt keine ewige Weltordnung, in
der vorgesehen ist, daß dies so geschieht. Die Evolution verdankt
sich der Evolution. (Heute wohl weitgehend anerkannt.
.... Davon zu unterscheiden ist die Selbstreferenz auf der Theorieebene,
die besagt, daß die Einsichten über Evolution die Evolutionstheorie
dazu bringen, sich selbst als Resultat von Evolution zu begreifen. ....
Die Vernunft allerdings urteilt über solche Zirkel mit unnachsichtiger
Härte, weil sie hier ihr eigenes historisches Privileg der Selbstbegründung
zu verteidigen hat. ....) Sie ermöglicht sich selbst, indem
sie die Bedingungen für die Differenzierung ihrer Mechanismen aufbaut.
Wie alles angefangen hat, müssen wir dem »Big Bang« oder
ähnlichen Mythen überlassen. Für alle späteren Einsatzpunkte
der Evolution kann man immer schon System/Umwelt-Differenzen voraussetzen
und damit jenen Multiplikationsmechanismus, der nur noch Systeme mit Operationen
entstehen läßt, die sich auf eine Gemengelage von Phänomenen
einstellen können, die sie als Unordnung bzw. Ordnung, als Zufall
bzw. Notwendigkeit, als Erwartbares bzw. Irritierendes, und damit eben
auch als Variation konstruieren können, die einen Selektionsdruck
auslöst. Die Theorie selbstreferentieller Evolution verlegt den »Grund«
des Geschehens also nicht mehr in den Anfang (arché, principium).
Sie ersetzt diese traditionelle Weise der Erklärung durch eine differenztheoretische,
nämlich durch eine Spezifikation der Differenz der evolutionären
Funktionen und eine möglichst genaue Lokalisierung der besonderen
Bedingungen ihres Auseinandertretens in der empirischen Realität
evoluierender Systeme. Auf diese Weise erzeugt die Evolutionstheorie ein
praktisch endloses Forschungsprogramm für historische Untersuchungen.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 498-500 |
Kulturvergleiche inhibieren in einem zuvor unbekannten Umfange
das Vergessen. Es werden nicht mehr nur Wahrheiten dem Sog des Vergessens
entrissen, sondern - man kann fast sagen: alles Mögliche. Mehr als
zuvor wird als gleich erkennbar, aber das gibt jeztzt kaum noch Orientierungsgewißheit.
Damit verliert das Gedächtnis die Funktion, Anhaltspunkte zu bieten.
Es verliert die Funktion der Konsistenzprüfung in den laufenden Operationen
(Kommunikationen) der Gesellschaft. Diese Aufgabe muß den Spezialgedächtnissen
der Funktionssysteme überlassen bleiben, die untereinander nicht
mehr integriert werden können. Damit bleibt auch die gesamtgesellschaftliche
Realitätskonstruktion unbestimmt (vgl. Kapitel
5, IX ff. [S. 958 ff.]). Sie wird, wie wir noch sehen werden, ihrerseits
einem Funktionssystem, dem System der Massenmedien übertragen. Was
jetzt als Gesamtformel für Realitätskonstruktionen angeboten
werden kann, ist: daß es eine solche Gesamtformel nicht mehr gibt.
Hegel hatte, wie man weiß, keine Erben.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 591-592 |
Dieser Begriff der Rejektion erlaubt es auch, das Verhältnis
der binären Codes zur Moral (und damit: das Verhältnis der Funktionssysteme
zur Moral) zu klären. Auch die Form der Moral muß rejiziert
werden können. Und wieder heißt dies nicht, daß es auf
Moral in der Gesellschaft nicht mehr ankommen soll, sondern nur: daß
die Codes der Funktionssysteme auf einer Ebene höherer Amoralität
fixiert werden müssen. (Mit dem Begriff der
»höheren Amoralität« wollen wir uns von einem nahen
Verwandten unterscheiden, von Hegels Begriff der »Sittlichkeit«.
Wir folgen also nicht dem doch eigentümlich modernen (weil differenztheoretisch
angesetzten) Duktus der Hegelschen Theorie. Diese geht von einer Unterscheidung
aus (in diesem Falle: Trieb und moralische Pflicht, begriffen nach dem
Muster heiß/kalt), um das bloße Entgegensetzen dieser beiden
Seiten als Anstrengung des Begriffs für unzureichend anzusehen und
die »Aufhebung« dieses Gegensatzes (und damit der Moral) in
einer höheren, beide Seiten berücksichtigenden Einheit zu fordern
und dies begrifflich einzulösen. Das Resultat wird mit der Unterscheidung
von Moral und Sittlichkeit formuliert. Der Begriff der »höheren
Amoralität« verzichtet auf die Apotheose einer solchen Einheit.
Er besagt, an funktional äquivalenter Theoriestelle, nur, daß
auch die Unterscheidung der Moral als Unterscheidung im Interesse anderer
Unterscheidungen zurückgewiesen werden kann, und daß dies im
Aufbau des Systems der modernen Gesellschaft an nicht-beliebigen Stellen
geschieht. An die Stelle des Begriffs der »Aufhebung« setzen
wir, um größeren logischen Strukturreichtum zu gewinnen, Gotthard
Günthers Begriff der Rejektion.) Es darf nicht moralisch besser
sein zu regieren, statt in der Opposition zu stehen. Es darf nicht moralisch
besser sein, eine wahre Theorie statt einer falschen zu vertreten. Und
auch das Recht muß Wert darauf legen, daß die Feststellung
von Unrecht nicht zu einer moralischen Disqualifizierung führt. Erst
wenn dies akzeptiert ist, sieht man die Einsatzpunkte von Moral auch in
binär codierten Systemen, vor allem dort, wo die binäre Codierung
selbst unterlaufen wird - etwa durch Doping beim Sport, durch Bedrohung
der Richter, durch Fälschung der Daten in der empirischen Forschung.
Im übrigen dringt Moral auch unkontrolliert ein. Die moralische Entgleisung
eines Regierungspolitikers ist ein politischer Glücksfall für
die Opposition, und ethische Bedenken können zwar nicht Wahrheit
in Unwahrheit transformieren, aber Forschungsfinanzierungen behindern.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 751-752 |
Was bleibt, ist die eigene Larmoryanz (*),
die feststellt, daß die Gesellschaft den ethischen Amsprüchen
nicht genügt, und mit dieser Feststellung verständlicherweise
kommunikativ erfolgreich agiert. (* Hegel hätte
vielleicht von einem Standpunkt der Rührung gesprochen, mit dem das
Individuum sich in seiner guten Gesinnung selbst affirmiert. Siehe dazu
die Vorlesungen über die Philosophie der Religion, I, a.a.O.
Solnage man »Ethik« auf individuelles Verhalten bezieht und
den Begriff des Individuums empirisch ernst nimmt, wird man darüber
kaum hinauskommen.)
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 798 |
Der Versuch, eine Grenze zu ziehen, um von der anderen Seite aus
Gott und seine Schöpfung zu beobachten, galt in der alten Welt als
Fall des Engels Satan. Der Beobachter muß sich ja, da er das Beobachtete
und anderes sieht, für besser halten und damit Gott verfehlen.
(.... Für ein Säkularisat dieser Theoriefigur
siehe Hegels Ausführungen über »Das Gesetz des Herzens
und der Wahnsinn des Eigendünkels« in der Phänomenologie
des Geistes, a.a.O., S. 266 ff..) In der heutigen Welt ist
dies Sache der Protestbewegungen. Aber sie fallen nicht, sie steigen auf.
Sie verfehlen nicht das Wesen Gottes (Theologen schließen sich sogar
an), so daß auch das Merkmal der Sünde, die Gottesferne, nicht
zutrifft. .... Aber die beobachtungstechnik des Teufels, das Ziehen einer
Grenze in einer Einheit gegen diese Einheit, wird kopiert;
und auch die Folgewirkung tritt ein: das unreflektierte Sich-für-besser-halten.
Entsprechend wir mit Schuldzuweisungen gearbeitet.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 847 |
Der Protest lebt von der Selektion seines Themas. Wollte
er die Selektivität seines Themas und damit sich selbst als Selektor
refelktieren, müßte er die Paradoxie des Protestes in der Einheit
gegen die Einheit erkennen und damit an den Bedingungen der eigenen Möglichkeit
zweifeln. (Auch der Teufel hatte, wenn man auf die
Spitzenleistungen theologischer Reflexion zurückblickt, dieses Problem.
Aber er konnte im Sündenkosmos der Tradition eine einzigartige Position
für sich selbst finden. Er hatte als einziger die Sünde begangen,
die man nicht bereuen kann: die Sünde der Beobachtung Gottes. ....
Auf elegante und in der Theoriestruktur überzeugende Weise löst
schließlich der absolute Geist der Metaphysik Hegels dieses Problem.
Er unterscheidet sich in sich [nicht gegen sich]. Nur hat sich
dafür keine soziale Realisation finden lassen, so daß der Geist
am Ende nichts anderes ist als die Form, die für dieses Problem empfindlich
macht. Er symbolisiert ein Innen ohne Außen, eine Gesellschaft ohne
Umwelt.)
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 860 |
Die Prämisse der »Intersubjektivität« bzw.
des Konsenses kann man ... schlicht aufgeben. (Wir
sehen hier ganz ab von einer tiefergehenden Problematik, mit der Husserl
in der für ihn selbstverständlichen analytischen Strenge gerungen
hat, nämlich der Frage, ob nicht die Vorstellung dre Intersubjektivität
dem Subjektbegriff widerspricht.) Sie läßt sich nicht
auf ein Subjekt, nicht auf ein Sozialapriori, nicht auf die »Lebenswelt«
oder auf sonst etwas zurückführen im Sinne einer Reduktion auf
etwas, was als Voraussetzung aller Kommunikation immer schon gegeben sein
müßte.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 874-875 |
Das System selbst muß auch die Beobachtung seines Beobachtens,
die Beschreibung seiner Beschreibungen leisten. Es kann deshalb weder
als Subjekt noch als Objekt im klassischen Sinne dieser Unterscheidung
begriffen werden.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 875 |
In der Realität gibt es keine Willkür, die gleichsam
am Subjekt haftet. .... Wirkommen aus mit der Beschreibung von Systemverhältnissen
auf der Ebene der Beobachtung erster bzw. zweiter Ordnung, und »Willkür«
wird damit zu einem Beschreibungsnotbehelf.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 876 |
Die deutlich an Zeit und Geschichte orientierte Geistmetaphysik
Hegels benutzt einen Begriff der Bewegung bzw. des Prozesses und läuft
auf einen Begriff des Geistes zu, der jedenfalls insofern noch eindeutig
ist, als er am Ende der Geschichte alle Unterscheidungen in sich aufnimmt
und nur Exkluusionen ausschließt. Im übrigen werden Grenzen
dieser Semantik als Irrationalitäten markiert.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1012-1013 |
Hegels Kritik der romantischen »Subjektivität«
trifft nicht den Kernpunkt. Die Frage ist, warum ein derart gepflegtes
Paradox angeboten wird.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1062 |
Der »Fingerzeig Gottes« wird durch die »unsichtbare
Hand« ersetzt. Das Paradox wird nicht erkannt - aber bezeichnet.
Die pragmatische Lösung liegt im Angebot einer Vielzahl von Unterscheidungen,
die eine Ordnung der Phänomene erlauben, aber nicht zulassen, daß
die Frage nach der Einheit der Unterscheidung selbst gestellt wird. Und
wenn man sie stellt, wie Hegel es tut, wird das Resultat sofort wieder
in neue Unterscheidungen dekomponiert - Geist und Materie, Theorie und
Praxis usw.. Wir können das hier anfallende Material
grob sichten und ordnen, indem wir es nach Sinndimensionen sortieren,
nämlich nach der Unterscheidung von Sachdimension, Zeitdimension
und Sozialdimension. Mit sachbezogenen Unterscheidungen erfaßt man
Gegebenheiten, die man besonders aufzeichnen möchte. Die nach Hegel
geläufige, in die Verfassungen als Prämisse eingebaute Unterscheidung
von »Staat« und »Gesellschaft« hatten wir schon
erwähnt. Die ältere Unterscheidung von »imperium«
und »dominium« hatte noch nicht nach Politik und Wirtschaft
getrennt. Erst nach dem Zusammenbruch der merkantilistischen Wirtschaftspolitik
regiert man mit Systemunterscheidungen .... Zugleich gewinnt die Eigentumsfrage
in den verfassungspolitischen Diskussionen an Bedeutung. Aber erst um
die Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft
als Realitätsbeschreibung geläufig, und dies unabhängig
von ihrer eigentümlichen Situierung in der Hegelschen Theorie. Denn
man will nun diskutieren, ob und wie der Staat gegenüber der Gesellschaft
und ihren Verteilungsproblemen eine besonderen Funktion zu erfüllen
habe, und für diesen Zweck muß die Unterscheidung aus dem Hegelschen
Kontext ausgegliedert werden. Bewaht wird dabei jedoch der eigentümliche
Staatsbezug der Unterscheidung selbst: Der Staat ist zwar nicht mehr das
alles »aufhebende« Resultat der Geschichtsdialektik, aber
er ist diejenige Seite der Unterscheidung, die die Unterscheidung selbst
zu treffen, zu respektieren, zu vollziehen hat; formal gesehen ein »re-entry«
der Form in die Form im Sinne von Spencer Brown.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1063-1065 |
Offenbar fehlt es in allen Fällen an einen brauchbaren (hinreichend
konkretisierbaren) Begriff für das, was dem Unterschiedenen gemeinsam
ist oder was die Unterscheidung selbst vor anderen Unterscheidungen auszeichnet.
(Und man hätte das merken können, hätte man Hegel konsultiert).
Statt dessen wird das, worauf es ankommt, nämlich die moderne
Gesellschaft, auf jeweils eine Seite der Unterscheidung gebracht und durch
den Gegensatz zur jewelis anderen unterschiedlich eingefärbt. So
entsteht eine Mehrzahl von Gesellschaftsbegriffen, je nachdem, wovon Gesellschaft
unterschieden wird. Man kann auf diese Weise die Komplexität der
neuen Lage registrieren, ohne über einen einheitlichen Begriff zu
verfügen, der sie direkt bezeichnet. Die Gesellschaftstheorie kommt
ohne einen Begriff des umfassenden Systems der Gesellschaft aus.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1068-1069 |
Nachdem der Begriff Ideologie zunächst nur die Wissenschaft
von der Steuerung des empirischen Verhaltens durch Ideen bezeichnet hatte
(also etwa das, was wir »Semantik« nennen), gewinnt er mit
Marx einen neuen Sinn. Es greift zu kurz, wenn man nur die polemische
und pejorative Komponente bemerkt. Es geht nicht nur und nicht primär
um eine Beschimpfung, auch wenn Marx selbst sich oft im Ton vergreift.
Entscheidend ist die Verlagerung des Problems der gesellschaftlichen Orientierung
auf eine Ebene zweiter Ordnung und der Verzicht auf eine konsentierte
Realität. Ein Beobachter beobachtet einen anderen Beobachter im Hinblick
auf das, was dieser nicht sehen kann. Ideologien sind, in anderen Worten,
Texte, die etwas enthalten, was sie nicht enthalten, nämlich eine
Auskunft über ihre Verfasser und Benutzer, und in der üblichen
Interpretation besagt dies: eine Auskunft über deren Interessen.
(Seit dieser Entwicklung diskutiert man, und wie
es scheint: ausweglos, wie dieser Interessenbezug »wissenschaftlich«
nachgewiesen werden könne, wenn doch keine Aussicht besteht, darüber
allgemeine Einigung auch mit den beobachteten Interessenten erreichen
zu können. .... Es scheint mithin, daß der Ideologiebegriff
schon aus erkenntnistheoretischen Gründen zur Parteilichkeit zwingt.)
Es geht, mit anderen Worten, um den blinden Fleck, um das Problem
der Latenz. Die Kapitalisten arbeiten nach Marx an ihren eigenen Untergang,
weil sie genau dies nicht wissen und nicht korrigieren können. (Man
mag sich fragen, wie Marx angesichts dieser Theorie sich selbst als Publizist
eingeschätzt hat. Können die Marx lesenden Kapitalisten zumindest
lernen, daß sie nicht sehen können, was sie nicht sehen können?
Und was würde aus einer rekursiven Vernetzung des Sehens des Nichtsehens
folgen? Marx selbst scheint jedoch, wie schon Hegel, nicht in der Lage
gewesen zu sein, die eigene Theorie in der eigenen Theorie zu berücksichtigen
- es sei denn als wissenschaftlichen Beweis für die Aussicht auf,
und Klärung der Bedingungen für, die vorausgesagte Revolution.)
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1079-1080 |
Mit Vorläufern im Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, ferner
in einer Literatur, die man später als »Gegenaufklärung«
bezeichnen wird, und nach Marx mit vielen Neuauflagen, etwa in der Psychoanalyse
Freuds oder in der Soziologie latenter Strukturen und Funktionen, breitet
sich seit dem 19. Jahrhundert eine radikale Neufassung des Problems der
Sozialdimension aus, eben die Fixierung des sozialen Interesses auf ein
Beobachten des Nichtbeobachtenkönnens. Solange man unter »Beobachtern«
nur psychische Systeme versteht, mag das ein belangloses oder allenfalls
ein therapeutisch einsetzbares Privathobby bleiben. Aber was geschieht,
wenn so kommuniziert wird? All diese komplexen Formen
einer Übergangssemantik lassen sich auf eine Frage bringen - auf
die Frage: wer ist der Beobachter? Diese Frage kann nicht beantwortet,
also auch nicht gestellt werden. Die übliche Charakterisierung des
Beobachters als »Subjekt« gestattet es bestenfalls, das Problem
der Sozialdimension als Problem der »Intersubjektivität«
zu bezeichnen. Immerhin hat man damit einen strikt paradoxen Begriff an
der Hand, aber auch nicht mehr; denn das »inter« kann dem
Subjekt, wenn das Subjekt ein Subjekt ist, weder zu Grunde liegen noch
nicht zu Grunde liegen. Der Roman, der Liebesroman, aber auch Hegels Roman
der Liebe zwischen Weltgeschichte und Philosophie, lokalisiert den Beobachter,
der auch das sehen kann, was er selber bisher nicht sehen konnte, am Ende
der Geschichte. Das macht es erforderlich, den Erzähler, der alles
immer schon weiß, und also auch Hegel selber, aus der Geschichte
herauszuhalten. (Vgl. dazu Dietrich Schwanitz, Systemtheorie
und Literatur, 1990, S. 181 ff..) Auch das reicht aber nicht,
um die Frage nach dem Beobachter zu beantworten. Erst recht versagen die
zur Zeit modischen Auskünfte: der Sprachspielpluralismus eines Wittgenstein,
die These eines kulturellen Relativismus oder die Diskurspluralität
der sogenannten »Postmoderne«. Auch hat es wenig Sinn, sich
mit Kontroversen zwischen diesen verschiedenen Positionen zu beschäftigen,
denn das führt nur zur wechselseitigen Rekonstruktion der jeweiligen
Unzulänglichkeiten.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1080-1081 |
Die kritische Soziologie hatte Attitüden des Besserwissens
angenommen. Sie gerierte sich als konkurrierender Beschreiber mit tadelfreien
moralischen Impulsen und besserem Durchblick. Wie immer vorsichtig formuliert
und wie immer den Anforderungen an Wissenschaftlichkeit zu genügen
bestrebt: ihre Perspektive war die eines Beobachters erster Ordnung. Sie
bot eine konkurrierende Gesellschaftsbeschreibung an und stand damit vor
der Aufgabe, sich zu erklären, weshalb andere diese Auffassung nicht
teilten, sondern im Verblendungszusammenhang ihrer Interessen die Gesellschaft
anders beschrieben, etwa als commercial society. Ihre Erklärungsbegriffe
waren daher nicht frei von diffamierenden Intentionen. (So
- von Marx bis Adorno - »Fetischismus ....) Damit war jedoch
schon eine ambivalente, auf Dauer nicht haltbare Position erreicht. Das
Beschreiben dessen, der gesellschaftskonform, konservativ, affirmativ
usw. denkt, und die Erklärung, weshalb er dies tut, ja tun muß,
kompensierte in gewisser Weise das Stagnieren eigener Theorieentwicklung.
Ideologiekritik wurde Schwerpunkt, und in gewissem Umfange verlagerte
sich die eigene Gesellschaftsbeschreibung auf die Bemühung, zu erklären,
auf Grund welcher gesellschaftlicher Bedingungen andere nicht in der Lage
sind, die Gesellschaft (inklusive sich selber) so zu beschreiben, wie
es von den Kritikern für richtig gehalten wurde. Und in dem Maße,
in dem konservative Einstellungen (das heißt: Einstellungen gegen
die Ideen der französischen Revolution) an Überzeugungskraft
verloren, und in dem Maße, in dem die Vorstellungswelt des Liberalismus
durch Übertragung auf wirtschaftliche Sachverhalte an dynamischer
Stabilität gewann, nahm diese Faszination der Kritiker durch ihre
Gegner zu. Sie mußten schließlich das Etikett »neokonservativ«
erfinden, um ihre Gegner zu formieren und sich selbst das Geschäft
der Kritik zu ermöglichen. Die Dauerproduktion von Dissens im Blick
auf vernünftige Verständigung, und wer wird hier nicht an das
intellektuelle Schicksal von Jürgen Habermas denken, ist die konsequente
Endposition dieser großen bürgerlichen Tradition von Krise
und Kritik. Die Kritik (im geläufigen Verständnis)
setzt eine Diagnose der Gesellschaft voraus, die diese beschreibt als
in einer Krise befindlich. Krisen sind vorübergehende Zustände.
Man muß die Hoffnung nicht aufgeben. Die krisenhaften Erscheinungen
der Gegenwart werden auf Fehlentwicklungen, vor allem Industriekapitalismus,
zurückgeführt, die man korrigieren kann. Es muß gleichsam
eine gute Gesellschaft hinter der Gesellschaft geben, auf die man Strukturen
und Effekte zurückdirigieren kann, um in eine bessere Zukunft zu
gelangen. Noch in den 1970er Jahren konnte man lesen, daß die ökologischen
Probleme der modernen Gesellschaft ein Phänomen kapitalistischer
Gesellschaften seien und unter sozialistischen Bedingungen nicht auftreten
würden. In dem Maße jedoch, in dem die moderne Gesellschaft
den Erfahrungen. mit sich selber realistisch Rechnung zu tragen lernt,
verschwindet diese Doppelung der Zurechnungsebenen und mit ihr verschwindet
die Krise. Bei allen Schwierigkeiten und bei allen, bei weitem nicht ausgeschöpften
Möglichkeiten der Korrektur müssen wir mit der Gesellschaft
zurechtkommen, die als Resultat von Evolution entstanden ist. Und selbst
der Utopiebedarf ist noch dieser Gesellschaft zuzurechnen.
Die Beobachtung solcher Sachlagen erfordert eine Position dritter Ordnung,
die sich jedoch nicht prinzipiell (sondern nur in ihrer Reflektiertheit)
von einer Position des Beobachtens zweiter Ordnung unterscheidet. Es handelt
sich nicht nur um ein Kettenphänomen, nicht nur darum, daß
A beobachtet, wie B C beobachtet, oder Habermas beschreibt, wie Hegel
Kant beschreibt; sondern um eine Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit
der Beobachtung zweiter Ordnung und ihrer Folgen für das; was dann
noch gemeinsame Welt oder Beschreibungen ermöglichende Gesellschaft
sein kann. Es liegt nahe, in dieser Situation, gleichsam als Weiterentwicklung
der kritischen Soziologie, die mit »Kritik« bezeichnete Unterscheidung
durch die Unterscheidung von Beobachtern zu ersetzen. Das wiederum setzt
die Einsicht voraus, daß es sich bei allem Beobachten und Beschreiben
(auch bei dem zweiter und dritter Ordnung) um kontextabhängige Realoperationen
handelt. Auch ein Beobachter zweiter Ordnung ist immer ein Beobachter
erster Ordnung insofern, als er einen anderen Beobachter als sein Objekt
herausgreifen muß, um durch ihn (wie immer kritisch) die Welt zu
sehen. Das zwingt ihn zum autologischen Schluß, das heißt:
zur Anwendung des Begriffs der Beobachtung auf sich selber. Der Beobachter
ist eben kein Subjekt mehr mit transzendental begründeten Sonderrechten
im Safe; er ist der Welt, die er erkennt, ausgeliefert. Ihm ist keine
Selbstexemption gestattet. Er muß sich auf der Innenseite oder auf
der Außenseite der Form, die er benutzt, verorten. Er ist selbst,
sagt Spencer Brown, ein »mark«.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1115-1118 |
Was Selbstbeschreibungen des Gesellschaftssystems angeht, also
des Systems, das in sich selbst Beobachtung erster und Beobachtung zweiter
Ordnung ermöglicht, führt der Übergang von der ersten zur
zweiten Ebene dazu, die Realität als kontingent, als auch anders
möglich zu beschreiben. ( Kein Zufall also,
daß die These der Kontingenz der Welt zuerst in der Theologie formuliert
worden ist, nämlich als Resultat der Bemühungen, Gott als Schöpfergott,
also als Beobachter zu beobachten. Dabei bot jedoch der Gedanke an Gott
als den Erstbeobachter, der sich selbst nicht unterscheiden muß,
um beobachten zu können, besondere Garantien, die aufgegeben werden
müssen, wenn man die Position des Erstbeobachters mit normalen empirischen
Systemen besetzt denkt.) Die Selbstbeschreibung endet für
den Beobachter erster Ordnung mit Angaben über invariante Grundlagen,
über die Natur und über Notwendiges. Heute nimmt der Wertbegriff,
der Superunbezweifelbares symbolisiert, diesen Platz ein. Für den
Beobachter zweiter Ordnung erscheint die Welt dagegen als Konstruktion
über je verschiedenen Unterscheidungen. Ihre Beschreibung ist infolgedessen
nicht notwendig, sondern kontingent, und nicht mit Bezug auf Natur richtig,
sondern artifiziell. Sie ist selbst ein autopoietisches Produkt. Dabei
wird (und darin liegt die autologische Komponente) die Differenz von notwendig/kontingent
und von natürlich/artifiziell nochmals reflektiert und auf die Unterscheidung
von Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung zurückgeführt,
Die Ambition einer gemeinsamen Grundlage, eines Grundsymbols, eines Abschlußgedankens
muß aufgegeben -bzw. den Philosophen überlassen werden. Die
Soziologie findet, jedenfalls auf diesem Wege, nicht zu dem, was Hegel
»Geist« genannt hatte. Sie ist keine Geisteswissenschaft.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1122 |
Wenn man weiterhin von einem »Projekt der Moderne«
sprechen will, so ist dieses Projekt unvollendet, ja noch nicht einmal
adäquat entworfen. Es kann nicht auf der Basis des Subjektbegriffs
ausgeführt werden, wenn dieser Begriff weiterhin nur das individuelle
Bewußtsein bezeichnet. Man wird weiter an Hegel denken - der bisher
einzige voll durchdachte Versuch. Aber dann dürfte man einen Terminus
wie Geist nicht ans Ende der Geschichte setzen, darin keinen Abschlußgedanken,
keine Überlegenheitsfigur sehen, und man müßte (gegen
Hegel und mit Darwin) jede Verwendung von Ausdrücken wie »niedriger«
oder »höher« vermeiden. Der Beobachter des Beobachters
ist kein »besserer« Beobachter, nur ein anderer. Er mag Wertfreiheit
bewerten oder dem Vorurteil der Vorurteilslosigkeit folgen; er sollte
dabei aber, wie diese Formulierungen anzeigen, zumindest bemerken, daß
er autologisch operiert.
Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1142 |
Etwas, ... was zufällig entstanden ist, hat eine hohe Reproduktionswahrscheinlichkeit
bekommen.
Niklas
Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Interview, 02.10.1997 |
Evolution ist die Umformung von Entstehungsunwahrscheinlichkeit
inf Erhaltungswahrscheinlichkeit.
Niklas
Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Interview, 02.10.1997 |
Als Christus ist er Sohn Gottes. Als Teil der Trinität ist
er Gott, also sein eigener Vater, so wie Gottvater sein eigener Sohn ist.
Das Mysterium sabotiert die Unterscheidung, auf der es beruht.
Niklas
Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, postum, S. 83 |
Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich,
obwohl wir sie jeden Tag erleben, praktizieren und ohne sie nicht leben
würden.
Niklas
Luhmann, Aufsätze und Reden, postum, S. 78 |
Die Kommunikation hat keinen eigenen Zweck, keine immanente Entelechie.
Sie geschieht, oder geschieht nicht. Das ist alles, was man dazu sagen
kann.
Niklas
Luhmann, Aufsätze und Reden, postum, S. 102 |
Der Partner für den radikalen Konstruktivismus ist demnach
nicht die Erkenntnistheorie der Tradition, sondern ihre Theologie (und
zwar eine Theologie, die wegen ihrer Ansprüche an Genauigkeit über
das hinaus ging, was die Theologie verkraften konnte).
Niklas
Luhmann, Aufsätze und Reden, postum, S. 228 |
Gibt es eine irreduzible Grundstruktur unseres Denkens? Eine derartige
Struktur würde Möglichkeit und Grenzen der Beschreibung unserer
Untersuchungsgegenstände bestimmen. Diese Struktur wäre die
Grundlage von Theologie, Mathematik, Soziologie, Quantenphysik etc.. Vermittels
einer derartigen Struktur sollten sich Isomorphien etwa zwischen Theologie
und Quantenphysik identifizieren lassen.
Niklas
Luhmann, Aufsätze und Reden, postum, S. 229 |
Reduktion von Komplexität.
Moral macht Mut zur Wut.
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