Die Gesellschaft der Gesellschaft.
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Vorwort.
Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete
Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand
ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu nennen,
an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie
der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine. Die Schwierigkeiten
des Projekts waren, was die Laufzeit angeht, realistisch eingeschätzt
worden. Die Literaturlage in der Soziologie bot damals wenig Anhaltspunkte
dafür, ein solches Projekt überhaupt für möglich zu
halten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Ambition einer Theorie der
Gesellschaft durch neomarxistische Vorgaben blockiert war. Der kurz darauf
veröffentlichte Band einer Diskussion mit Jürgen Habermas trug
den Titel: »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie: Was
leistet die Systemforschung?« Die Ironie dieses Titels lag darin,
daß keiner der Autoren sich für Sozialtechnologie stark machen
wollte, aber Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden, wie eine
Theorie der Gesellschaft auszusehen habe; und es hat symptomatische Bedeutung,
daß der Platz einer Theorie der Gesellschaft in der öffentlichen
Wahrnehmung zunächst nicht durch eine Theorie, sondern durch eine
Kontroverse eingenommen wurde. (Ebd., S. 11.)
Gesellschaft als soziales System.
I. Die Gesellschaftstheorie der Soziologie. - Die folgende
Untersuchungen betreffen das Sozialsystem der modernen Gesellschaft. Ein
solches Vorhaben, und darüber muß man sich als erstes Rechenschaft
geben, aktualisiert eine zirkuläre Beziehung zu seinem Gegenstand.
Weder steht vorab fest, um welchen Gegenstand es sich handelt. Mit dem
Wort Gesellschaft verbindet sich keine eindeutige Vorstellung. Selbst
das, was man üblicherweise als »sozial« bezeichnet, hat
keine eindeutig objektive Referenz. Noch kann der Versuch, die Gesellschaft
zu beschreiben, außerhalb der Gesellschaft stattfinden. Er benutzt
Kommunikation. Er aktiviert soziale Beziehungen. Er setzt sich in der
Gesellschaft der Beobachtung aus. Wie immer man den Gegenstand definieren
will: die Definition selbst ist schon eine der Operationen des Gegenstandes.
Die Beschreibung vollzieht das Beschriebene. Sie muß also im Vollzug
der Beschreibung sich selber mitbeschreiben. Sie muß ihren Gegenstand
als einen sich selbst beschreibenden Gegenstand erfassen. Mit einer Formulierung,
die aus der logischen Analyse der Linguistik stammt, könnte man auch
sagen, daß jede Gesellschaftstheorie eine »autologische«
Komponente aufweisen muß. (Lars Löfgren
spricht in einem ähnlichen Sinne von »autolinguistisch«
als einer Form, die durch die Unterscheidung von Ebenen logisch »entfaltetet«
werden muß.) Wer das aus wissenschaftstheoretischen Gründen
meint verbieten zu müssen, muß auf Gesellschaftstheorie, auf
Linguistik und auf viele Themenbereiche verzichten. (Ebd., S. 16.)
Der Forscher versteht sich selbst als Subjekt außerhalb
seines Themas. Im Bereich der Gesellschaftstheorie ist diese Auffassung
jedoch nicht durchzuhalten, denn die Arbeit an einer solchen Theorie verwickelt
zwangsläufig in selbstreferentielle Operationen. Sie kann nur innerhalb
des Gesellschaftssystems kommuniziert werden.
(Ebd., S. 17.)
In einer langen Geschichte hatte die Beschreibung des sozialen
Lebens der Menschen (man kann für ältere Zeiten nicht ohne Vorbehalte
von »Gesellschaft« sprechen) sich an Ideen orientiert, denen
die vorgefundene Wirklichkeit nicht genügte. Das galt für die
alteuropäische Tradition mit ihrem Ethos der natürlichen Perfektion
des Menschen und mit ihrer Bemühung um Erziehung und um Vergebung
der Sünden. Es gilt aber auch noch für die Moderne, gilt für
die Aufklärung und für ihre Doppelgottheit Vernunft und Kritik.
Noch in diesem Jahrhundert wird dies Bewußtsein des Ungenügens
wachgehalten (man denke an Husserl und Habermas) und mit der Idee der
Moderne verknüpft.
(Ebd., S. 21-22.)
Die Tradition hatte, wenn man so sagen darf, auf natürliche
Fragen geantwortet und zum guten Teil deshalb in ihren Antworten überzeugt.
In der wissenschaftlichen Evolution treten dagegen an deren Stelle theorieabhängige
wissenschaftliche Probleme, deren Lösungen nur noch im wissenschaftlichen
Kontext beurteilt werden können.
(Ebd., S. 23.)
Man könnte daran erinnern, daß die Theologie für
die Funktion der Beobachtung Gottes und seiner Schöpfung die Figur
des Teufels erfunden hatte .... Das Problem dürfte ... in den Schwierigkeiten
logischer und theorietechnischer Art liegen, denen man sich stellen muß,
wenn man, wie die Linguistik sagt, mit »autologischen« Konzepten
arbeitet und sich nötigt, sich selbst im eigenen Gegenstand, also
Soziologie als Selbstbeschreibung der Gesellschaft zu entdecken. In letzter
Konsequenz führte das dazu, daß man zwar die Vorstellung beibehalten
kann, Realität sei am Widerstand zu erkennen, den sie ausübe,
aber zugeben muß, daß solcher Widerstand gegen Kommunikation
nur durch Kommunikation geleistet werden könne. Könnte man sich
darauf einlassen, würde damit die Subjekt/Objekt-Unterscheidung »dekonstruiert«
werden, und damit wäre auch den vorherrschenden Erkenntnisblockierungen
ihre heimliche Stütze genommen. Und dann könnte man die humanistische
ebenso wie die regionalistische Begriffstradition an ihrer eigenen Unbrauchbarkeit
zerbrechen lassen.
(Ebd., S. 33.)
Wie soll die Soziologie ... eine Gesellschaftstheorie formulieren,
wenn sie nicht angeben kann, was sie mit diesem Begriff sucht?
(Ebd., S. 34.)
Soziologie ... als autopoeitisches System.
(Ebd., S. 34.)
Die folgenden Untersuchungen wagen diesen Übergang zu einem
radikal antihumanistischen, einem radikal antiregionalistischen und einem
radikal konstruktivistischen Gesellschaftsbegriff.
(Ebd., S. 34-35.)
Ohne von Sinn Gebrauch zu machen, kann keine
gesellschaftliche Operation anlaufen.
(Ebd., S. 44.)
Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden
Operationen, also auch nur in dem Moment, in dem er durch Operationen
bestimmt wird, und weder vorher noch nachher. Sinn ist demnach eine Produkt
der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität,
die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt.
(Ebd., S. 44.)
Psychische und soziale Systeme bilden ihre
Operationen als beobachtende Operationen aus, die es ermöglichen,
das System selbst von seiner Umwelt zu unterscheiden - und dies obwohl
(und wir müssen hinzufügen: weil) die Operation nur im
System stattfinden kann. Sie unterscheiden, anders gesagt, Selbstreferenz
und Fremdreferenz. Für sie sind Grenzen daher keine materiellen Artefakte,
sondern Formen mit zwei Seiten.
(Ebd., S. 45.)
Abstrakt gesehen handelt es sich dabei um ein
»re-entry« einer Unterscheidung in das durch sie selbst Unterschiedene.
Die Differenz System/Umwelt kommt zweimal vor: als durch das System
produzierter Unterschied und als im System beobachteter
Unterschied. Mit dem Begriff des »re-entry« zitieren wir zugleich
angebbare Konsequenzen, die George Spencer Brown als Schranken eines auf
Arithemetik und Algebra beschränkten mathematischen Kalküls
dargestellt hat. (Siehe: Laws of Forms, ...
S. 56 ff..) Das System wird für sich selbst unkalkulierbar.
Es erreicht einen Zustand von Unbestimmtheit, der nicht auf die Unvorhersehbarkeit
von Außeneinwirkungen (unabhängige Variable) zurückzuführen
ist, sondern auf das System selbst. Es braucht deshalb ein Gedächtnis,
eine »memory function«, die ihm die Resultate vergangener
Selektionen als gegenwärtigen Zustand verfügbar machen (wobei
Leistungen des Vergessens und des Erinnerns eine Rolle spielen. (Kybernetiker
würden hier von Wiedereinführung des Outputs als Input in dasselbe
System sprechen.) Und es versetzt sich selbst in den Zustand des
Oszillierens zwischen positiv und negativ gewerteten Operationen und zwischen
Selbstreferenz und Fremdreferenz. (Mit dieser Unterscheidung
gehen wir aus Gründen, die in der Systemtheeorie liegen, über
Spencer Brown hinaus.) Es konfrontiert sich selbst mit einer für
es selbst unbestimmbaren Zukunft, für die gleichsam Anpassungsreserven
für unvorhersehbare Lagen gespeichert sind. (Ebd., S. 45-46.)
Das für das System selbst sichtbare Resultat dieser Konsequenzen
des re-entry soll im folgenden mit dem Begriff »Sinn«
bezeichnet werden.
(Ebd., S. 46.)
Akzeptiert man diese Theoriedisposition, kann
man nicht von einer vorhandenen Welt ausgehen, die aus Dingen, Substanzen,
Ideen besteht, und auch nicht mit dem Weltbegriff deren Gesamtheit (universitas
rerum) bezeichnen. Für Sinnsysteme ist die Welt kein Riesenmechanismus,
der Zustände aus Zuständen produziert und dadurch die Systeme
selbst determiniert. Sondern die Welt ist ein unermeßliches Potential
für Überraschungen, ist virtuelle Information, die aber Systeme
benötigt, um Information zu erzeugen, oder genauer: um ausgewählten
Irritationen den Sinn von Information zu geben. Folglich muß jegliche
Identität als Resultat von Informationsverarbeitung oder, wenn zukunftsbezogen,
als Problem begriffen werden. Identitäten »bestehen«
nicht, sie haben nur die Funktion, Rekursionen zu ordnen, so daß
man bei allem Prozessieren von Sinn auf etwas wiederholt Verwendbares
zurück- und vorgreifen kann. Das erfordert selektives Kondensieren
und zugleich konfirmierendes Generalisieren von etwas, was im Unterschied
zu anderem als dasselbe bezeichnet werden kann. (Ebd., S. 46-47.)
Daß sinnhafte Identitäten (empirische Objekte, Symbole,
Zeichen, Sätze usw.) nur rekursiv erzeugt werden können, hat
weitreichende epistemologische Konsequenzen. Einerseits wird dadurch klar,
daß der Sinn solcher Entitäten weit über das hinausreicht,
was im Moment einer Beobachtungsoperation erfaßt werden kann. Andererseits
heißt dies gerade nicht, daß es solche Gegenstände immer
schon und auch dann »gibt«, wenn sie nicht beobachtet werden.
(Ebd., S. 47.)
Man kann die Form von Sinn bezeichnen als Differenz von Aktualität
und Möglichkeit und kann damit zugleich behaupten, daß diese
und keine andere Unterscheidung Sinn konstruiert. Man hat demnach, wenn
man über Sinn spricht, etwas Greifbares (Bezeichenbares, Unterscheidbares)
im Sinn; und das heißt auch, daß mit der Sinnthese eingeschränkt
wird, was dann noch über Gesellschaft ausgemacht werden kann. Gesellschaft
ist ein sinnkonstituierendes System.
(Ebd., S. 50.)
Die Modalisierung der Aktualität durch die Unterscheidung
aktuell/möglich bezieht sich auf den Sinn, der jeweils in den Systemoperationen
aktualisiert wird. Sie ist doppelt asymmetrisch gebaut, denn auch der
aktualisierte Sinn ist und bleibt möglich und der mögliche Sinn
aktualisierbar. In der Unterscheidung ist demnach ein »re-entry«
der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene mitvorgesehen. Sinn
ist also eine Form, die auf beiden Seiten eine Kopie ihrer selbst in sich
selbst enthält. Das führt zur Symmetrisierung des zunächst
asymmetrisch gegebenen Unterschieds von aktuell und möglich, und
folglich erscheint Sinn als weltweit überall dasselbe. Re-asymmetrisierungen
sind möglich, ja fürs Beobachten erforderlich, aber sie müssen
durch weitere Unterscheidungen eingeführt werden, zum Beispiel durch
die Unterscheidung System/Umwelt oder durch die Unterscheidung Bezeichnendes/Bezeichnetes.
(Ebd., S. 50.)
Die am tiefsten eingreifende ... Umstellung liegt darin, daß
nicht mehr von Objekten die Rede ist, sondern von Unterscheidungen, und
ferner daß Unterscheidungen nicht als vorhandene Sachverhalte (Unterschiede)
begriffen werden, sondern daß sie auf eine Aufforderung zurückgehen,
sie zu vollziehen, weil man anderenfalls nichts bezeichnen könnte,
also nichts zu beobachten bekäme, also nichts fortsetzen könnte.
Man kann dies mit Hilfe des Formbegriffs verdeutlichen .... Formen sind
... zu sehen ... als Grenzlinien, als Markierungen einer Differenz, die
dazu zwingt, klarzustellen, welche Seite man bezeichnet, das heißt,
auf welcher Seite der Form man sich befindet und wo man dementsprechend
für weitere Operationen anzusetzen hat. Die andere Seite der Grenzlinie
(der »Form«) ist gleichzeitig mitgegeben. Jede Seite der Form
ist die andere Seite der anderen Seite.
(Ebd., S. 60.)
Keine Seite ist etwas für sich selbst. Man aktualisiert sie
nur dadurch, daß man sie, und nicht die andere, bezeichnet. In diesem
Sinne ist Form entfaltete Selbstreferenz, und zwar zeitlich
entfaltete Selbstreferenz. Denn man hat immer von der bezeichneten Seite
auszugehen und braucht die Zeit für eine weitere Operation, um auf
der bezeichneten Seite zu bleiben oder die formkonstituierende Grenze
zu kreuzen.
(Ebd., S. 61.)
Jede Bestimmung, jede Bezeichnung, alles Erkennen, alles Handeln
vollzieht als Operation das Etablieren einer solchen Form, vollzieht wie
der Sündenfall einen Einschnitt in die Welt mit der Folge, daß
eine Differenz entsteht, das Gleichzeitigkeit und Zeitbedarf entstehen
und daß die vorausliegende Unbestimmtheit unzugänglich wird.
(Ebd., S. 62.)
Für die Systemtheorie selbst wird mit Hilfe dieses Formbegriffs
klargestellt, daß sie nicht besondere Objekte (oder sogar nur: technische
Artefakte oder analytische Konstrukte) behandelt, sondern daß ihr
Thema eine besondere Art von Form ist, eine besondere Form von Formen,
könnte man sagen, die die allgemeinen Eigenschaften jeder Zwei-Seiten-Form
am Fall von »System und Umwelt« expliziert. Alle Eigenschaften
von Form gelten auch hier: so die Gleichzeitigkeit von System und Umwelt
und der Zeitbedarf aller Operationen. Vor allem aber ist mit dieser Darstellungsweise
deutlich zu machen, daß System und Umwelt als die zwei Seiten einer
Form zwar getrennt, aber nicht ohne die jeweils andere Seite existieren
können.
(Ebd., S. 63.)
Akzeptiert man diesen differenztheoretischen
Ausgangspunkt, dann erscheinen alle Entwicklungen der neueren Systemtheorie
als Variationen zum Thema »System und Umwelt«. Zunächst
ging es darum, mit Vorstellungen über Stoffwechsel oder Input und
Output zu erklären, daß es Systeme gibt, die nicht dem Entropiegesetz
unterworfen, sondern in der Lage sind, Negentropie aufzubauen und damit
gerade durch die Offenheit und die Umweltabhängigkeit des Systems
dessen Unterschied zur Umwelt zu verstärken. (Ebd., S. 64.)
Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen,
sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser
Elemente selbst erzeugen. Die Elemente (und zeitlich gesehen sind das
die Operationen), aus denen autopoietische Systeme bestehen, haben keine
unabhängige Existenz.
(Ebd., S. 65.)
Elemente sind Informationen, sind Unterschiede, die im System
einen Unterschied machen. Und insofern sind es Einheiten der Verwendung,
für die es in der Umwelt des Systems keinerlei Enstprechung gibt.
(Ebd., S. 66.)
Autopoiesis ist also, recht verstanden, zunächst Erzeugung
einer systeminternen Unbestimmtheit, die nur durch systemeigene
Strukturbildungen reduziert werden kann. Das erklärt nicht zuletzt,
daß Gesellschaftssysteme das Medium Sinn erfunden haben, um diese
Offenheit für weitere Bestimmungen in den systeminternen Operationen
Rechnung zu tragen. Sie kennen als eigene Operationen deshalb nur Sinnformen
seligierende Kommunikationen.
(Ebd., S. 67.)
Etwas ausführlicher gesagt, heißt das, daß nur
operativ geschlossene Systeme eine hohe Eigenkomplexität aufbauen
können, die dann dazu dienen kann, die Hinsichten zu spezifizieren,
in denen das System auf Bedingungen seiner Umwelt reagiert, während
es sich in allen übrigen Hinsichten dank seiner Autopoiesis Indifferenz
leisten kann. (Das Paradebeispiel hierfür ist
heute das Gehirn.)
(Ebd., S. 68.)
Die Einsichten in die zirkuläre, selbstreferentielle
und insofern logisch symmetrische Bauweise dieser Systeme haben zu der
Frage geführt, wie denn diese Zirkel unterbrochen und Asymmetrien
hergestellt werden. Wer sagt denn, was Ursache und was Wirkung ist? Oder
noch radikaler: was vorher und was nachher, was innen und was außen
geschieht? Die Instanz, die darüber befindet, wird heute oft »Beobachter«
genannt. Dabei ist keineswegs nur an Bewußtseinsprozesse ... zu
denken. Der Begriff wird hochabstrakt und unabhängig von dem materiellen
Substrat, der Infrastruktur oder der spezifischen Operationsweise benutzt,
die das Durchführen von Beobachtungen ermöglicht. Beobachten
heißt einfach ...: Unterscheiden und Bezeichnen.
(Ebd., S. 69.)
Das Gesellschaftssystem wird demnach nicht durch ein bestimmtes
»Wesen«, geschweige denn durch eine bestimmte Moral (Verbreitung
von Glück, Solidarität, Angleichung von Lebensverhältnissen,
vernünftig-konsensuelle Integration u.s.w.) charakterisiert, sondern
allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert und reproduziert.
Das ist Kommunikation.
(Ebd., S. 70.)
Seit den bahnbrechenden Analysen von Mead weiß man, daß
Kommunikation nicht schon dadurch zustandekommt, daß ein Organismus
wahrnimmt, wie ein anderer sich verhält, und sich darauf einstellt;
und auch nicht dadurch, daß er die Gesten des anderen, etwa Drohgesten
oder Spielgesten, imitiert. Auf diese Weise käme es nur zu wechselseitiger
Irritierung und Stimulation der (Autopoiesis der) Organismen, zu mehr
oder weniger okkasionellen und eventuell relativ häufigen Koordinationen.
Entscheidend ist vielmehr nach Mead, daß Symbole entstehen, die
es dem einzelnen Organismus ermöglichen, sich in sich selbst
mit dem Verhalten anderer abzustimmen und zugleich selbst die entsprechenden
»vocal gestures« zu benutzen; oder mit Maturana gesprochen:
daß es zur Koordination der Koordinationen der Organismen kommt.
Diese Erklärung kann in Richtung auf eine Semiotik des Sozialen ausgebaut
werden.
(Ebd., S. 84.)
Denn die Gesellschaft kennt als das umfassende
soziale System keine sozialen Systeme außerhalb ihrer Grenzen. Sie
kann also gar nicht von außen beobachtet werden. .... Die Gesellschaft
ist ... der Extremfall eines Systems, das zur Selbstbeobachtung gezwungen
ist, ohne dabei wie ein Objekt zu wirken, über das nur eine einzige
richtige Meinung bestehen kann, so daß alle Abweichung als Irrtum
zu behandeln ist. Selbst wenn die Gesellschaft routinemäßig
sich selbst von ihrer Umwelt unterscheidet, ist keineswegs vorab klar,
was damit von seiner Umwelt unterschieden wird. Und selbst wenn Texte,
also Beschreibungen, angefertigt werden, die Beobachtungen steuern und
koordinieren, bedeutet das nicht, daß es nur jeweils eine richtige
Beschreibung gibt.
(Ebd., S. 88.)
Es gibt im Falle von Gesellschaft eben keine externe Beschreibung,
an der man sich korrigieren könnte - so sehr Literaten und Soziologen
sich um eine solche Position bemühen.
(Ebd., S. 89.)
Operative Geschlossenheit hat zur Konsequenz,
daß das System auf Selbstorganisation angewiesen ist. Die
eigenen Strukturen können nur durch eigene Operationen aufgebaut
und geändert werden - also zum Beispiel Sprache nur durch Kommunikation
und nicht unmittelbar durch Feuer, Erdbeben, Weltraumstrahlungen oder
Wahrnehmungsleistungen.
(Ebd., S. 93.)
Wie leicht erkennbar, wird die regelmäßige strukturelle
Kopplung von Bewußtseinssystemen und Kommunikationssystemen durch
Sprache ermöglicht.
(Ebd., S. 108.)
Daß Kommunikationssysteme über Sprache an Bewußtseinssysteme
gekoppelt sind so wie Bewußtseinssysteme an Kommunikationssysteme,
hat sehr weittragende Konsequenzen für den strukturellen Aufbau der
entsprechenden Systeme, also für deren Morphogenese, für deren
Evolution.
(Ebd., S. 113.)
Die einzige Alternative zur strukturellen Kopplung Bewußtsein/Kommunikation,
die sich gegenwärtig bereits andeutet, aber unabschätzbare Folgen
haben würde, ist der Computer. Bereits heute sind Computer in Gebrauch,
deren Operationen weder für das Bewußtsein noch für Kommunikationen
zugänglich sind, und zwar weder zeitglich noch rekonstruktiv. Obwohl
produzierte und programmierte Maschinen, arbeiten solche Computer in einer
Weise, die für Bewußtsein und Kommunikation intransparent bleibt
- und trotzdem über strukturelle Kopplungen auf Bewußtsein
und Kommunikation einwirkt. Sie sind streng genommen unsichtbare Maschinen.
Das Problem wird falsch gestellt und wohl auch verharmlost, wenn man fragt,
ob Computer bewußtseinsanalog arbeitende Maschinen sind und Bewußtseinssysteme
ersetzen oder gar überbieten können. Auch kommt es nicht darauf
an, ob die internen Operationen des Computers wie Kommunikationen aufgefaßt
werden können. Man wird vermutlich alle Analogien dieser beiseitelassen
müssen und statt dessen fragen müssen, welche Konsequenzen es
haben wird, wenn Computer eine ganz eigenständige strukturelle Kopplung
zwischen einer für sie konstruierbaren Realität und Bewußtseins-
bzw. Kommunkationssystemen herstellen können.
(Ebd., S. 117-118.)
Wir gehen ... davon aus, daß Kommunikationssysteme über
Sprache an Bewußtseinssysteme gekoppelt sind und nur deshalb sich
Indifferenz gegenüber allem anderen leisten können. Aber zugleich
kann man es für wahrscheinlich halten, daß der Computer andere
Formen struktureller Kopplung ermöglichen wird.
(Ebd., S. 118.)
In dem Maße, in dem man Kommunikationssysteme als autopoietische
Systeme eigener Art zu untersuchen beginnt, müssen auch die überlieferten
Vorstellungen von »Kognition« überprüft werden.
Auch dabei geht es um eine Neubeschreibung des humanistischen Erbes der
europäischen Tradition.
(Ebd., S. 120.)
Maschinen können nicht mehr als Supplemente körperlicher
Aktivität aufgefaßt werden und erzwingen deshalb eine Neubeschreibung
des Verhältnisses von Mensch und Maschine. Forschungen über
»künstliche Intelligenz« zeigen diese Veränderung
an - bis hin zu der Frage, ob die Frage nach dem Verhältnis von Mensch
und Maschine überhaupt noch eine kognitionstheoretisch adäquate
Problemstellung ist.
(Ebd., S. 122.)
Es belibt ... dabei, daß die Wissenschaft es mit selbsterzeugten
(und nur deshalb absoluten!) Gewißheiten zu tun hat. Wenn man aber
das zugesteht, muß man eine sehr viel weitergehende Prämisse
akzeptieren, nämlich die, daß die Wissenschaft es durchweg
mit selbsterzeugten Ungewißheiten zu tun hat. Denn Gewißheit
ist eine Form, die man nur verwenden kann, wenn man ihre andere Seite,
die Ungwißheit, mitakzeptiert.
(Ebd., S. 127-128.)
Die Systemtheorie muß eine ihrer Lieblingsideen aufgeben,
aus den kausalen Beziehungen zwischen System und Umwelt auf Anpassung
des Systems an die Umwelt zu schließen. Auch die Evolutionstheorie
wird auf diesen Gedanken verzichten müssen. Systeme erzeugen durch
operative Schließung eigene Freiheitsgrade, die sie ausschöpfen
können, solange es geht, das heißt: solange die Umwelt es toleriert.
Es eignen sich dafür nur wenige, hinreichend strukturaufnahmefähige
Formen der Autopoiesis, vor allem natürlich die äußerst
robuste Biochemie des Lebens. Der Gesamteffekt aber ist, nach allem, was
man sieht, nicht Anpassung, sondern Abweichungsverstärkung.
(Ebd., S. 133.)
Die verbreitete Neigung, ... »Verantwortung« anzumahnen,
kann nur als Verzweiflungsgeste beobachtet werden.
(Ebd., S. 133.)
Ohne Beobachter gibt es keine Komplexität.
(Ebd., S. 144.)
Die Bestimmung der Gesellschaft als das umfassende
Sozialsystem hat zur Konsequenz, daß es für alle anschlußfähige
Kommunikation nur ein einziges Gesellschaftssystem geben kann. Rein faktisch
mögen mehrere Gesellschaftssysteme existieren, so wie man früher
von einer Mehrzahl von Welten gesprochen hat; aber wenn, dann ohne kommunikative
Verbindung dieser Gesellschaften, oder so, daß, von den Einzelgesellschaften
aus gesehen, eine Kommunikation mit den anderen unmöglich ist oder
ohne Konsequenzen bleibt.
(Ebd., S. 145.)
Solange die Welt dinghaft begriffen wurde - als Gesamtheit der
Dinge oder als Schöpfung -, mußte alles, was rätselhaft
blieb, in der Welt vorgesehen sein - als Gegenstand von admiratio: als
Wunder, als Geheimnis, als Mysterium, als Anlaß zu Schrecken und
Entsetzen oder zu hilfloser Frömmigkeit. Dies ändert sich, wenn
die Welt nur noch ein Horizont, nur noch die andere Seite jeder Bestimmung
ist. Dieser Weltbegriff war spätestens mit der Philosophie des transzendentalen
Bewußtseins erreicht. (Man kann mit Friedrich
Schlegel auch so formulieren: Der Verzicht auf die Annahme von »Dingen
außer uns« zwingt nicht zum Verzicht auf den Begriff der Welt.
Siehe die Jenaer Vorlesung Transzendentalphilosophie [1800-1801],
zit. nach Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Band XII, ... S. 37. Bereits
Schlegel begründete dies im übrigen mit der These, daß
nur das ins Bewußtsein eingehen könne, was durch Unterscheidungen
bestimmt werden könne.)
(Ebd., S. 147.)
Der neuzeitliche Individualismus und vor allem
die Freiheitsthematik des 19. Jahrhunderts gaben daher einen wichtigen
Anlaß, eine Vorstellung von Weltgesellschaft auszubilden. (Hegel
spricht deshalb in einem sehr bestimmten Sinne von »Weltgeschichte«
Siehe dazu vor allem Joachim Ritter, Hegel und die französische
Revolution, zit. nach der Ausgabe in: Joachim Ritter, Metaphysik
und Politik: Studien zu Aristoteles und Hegel, 1969, S. 183-255. Dort
heißt es [aus Anlaß von Überlegungen zum Problem der
Kolonisation]: »Die industrielle bürgerliche Gesellschaft ist
daher für Hegel schließlich durch ihr eigenes Gesetz dazu bestimmt,
zur Weltgesellschaft zu werden; die für das Verhältnis der
politischen Revolution zur Weltgeschichte entscheidende Beziehung der
Freiheit auf die Menschheit und den Menschen als Gattung ist in dieser
potenziellen Universalität der bürgerlichen Gesellschaft begründet.«
[222].) (Ebd., S. 157.)
In dem Maße, in dem die Kongruenz von
Sozialstruktur und Semantik der traditionalen Gesellschaft sich auflöst
und die damit gegebenen Plausibilitäten nicht mehr verpflichten,
wird eine freiere Begriffsbildung möglich. Das Problem der Rationalität
kann abstrakter formuliert werden. Es läßt sich heute nicht
mehr als Ausrichtung an den Lebensformen eines Zentrums oder einer Spitze
begreifen, also auch nicht mehr als Annäherung an eine Idee oder
mit Bezug auf ein normatives Gebot als Erfüllung oder Abweichung.
Die Erosion einer solchen Idealbegrifflichkeit tangiert schließlich
auch die Gegenbegrifflichkeit einer wie immer imperfekten, korrupten,
devianten, widerständigen Realität. Die traditionelle Form der
Rationalität, das heißt die Unterscheidung, deren eine Seite
sie markiert, löst sich auf. Statt dessen wird das Problem des Verhältnisses
von Realität und Rationalität letztlich dadurch akut, daß
jede kognitive und jede handlungsmäßige Operation als Beobachtung
eine Unterscheidung erfordert, um die eine (und nicht die andere) Seite
der Unterscheidung bezeichnen zu können. Sie muß ihre beobachtungsleitende
Unterscheidung als Differenz (und nicht als Einheit, nicht in der Ununterschiedenheit
des Unterschiedenen, nicht in dem, was beiden Seiten gemeinsam ist) verwenden.
Sie darf gerade nicht, im Sinne Hegels, dialektisch verfahren, sondern
sie muß sich selbst als Beobachtung aus dem, was sie beobachtet,
ausschließen. Dabei wird der Beobachter, gleichgültig welche
Unterscheidung er verwendet, zum ausgeschlossenen Dritten. Aber gerade
er, er allein, garantiert doch mit seiner Autopoiesis die Realität
seiner eigenen Operationen und damit die Realität all dessen, was
dabei im Modus der Gleichzeitigkeit als Welt vorausgesetzt sein muß!
Die Praxis des bezeichnenden Unterscheidens kommt in der Unterscheidung
nicht vor. Sie kann nicht bezeichnet werden, es sei denn durch eine andere
Unterscheidung. Sie ist der blinde Fleck des Beobachtens - und eben
deshalb der Ort seiner: Rationalität.
(Ebd., S. 178.)
Ein so gestelltes Problem kennt keine befriedigende Lösung.
Es hilft auch nicht, erneut die Unterscheidung von Denken und Sein oder
von Subjekt und Objekt zu bemühen. Die Theorie kann sich nicht selbst
purgieren, indem sie nur ihr Objekt, hier also nur die Gesellschaft, für
paradox hält und so die Paradoxie gleichsam ausscheidet, um sich
selbst davon zu befreien. Denn alle Begriffe, mit denen sie ihr Objekt
analysiert (System, Beobachtung, blinder Fleck, Sinn, Kommunikation usw.)
treffen auch auf sie selber zu: Das Analyseniveau, auf das wir uns mit
den vorstehenden Überlegungen eingelassen haben, zwingt zu autologischen
Schlüssen. Aber gerade weil das Problem der Rationalität als
Paradox formuliert und weil Kommunikation von Rationalität nur als
paradoxe Kommunikation möglich ist, kann man Auswege, kann man Abhilfen
erkennen, die in dieser Perspektive als funktional rational gelten können.
Das Problem der Rationalität wird durch Bezug auf eine fundierende
Paradoxie gespalten. Eben daraus, daß die Paradoxie zu nichts führt
außer zu sich selbst, folgt, daß mit Bezug auf dieses im Beobachten
nicht zu überbietende Problem etwas geschehen muß, und zwar
operativ geschehen muß. Und immer schon geschehen ist! Denn
jede Paradoxie ist nur paradox für einen Beobachter, der seine Beobachtungen
bereits systematisiert hat. Die Paradoxie kann sich, anders gesagt, nicht
selber »entfalten«; sie findet sich im Beobachten, aber immer
nur auf Grund einer Unterscheidung, die (unter Verzicht auf die Frage
nach ihrer eigenen Einheit) sie immer schon entfaltet hat. Zum Beispiel
mit Hilfe der Unterscheidung von System und Umwelt. Der Lauf der Welt
kann nur operativ in Gang gesetzt werden. Oder mit dem Theorem Heinz von
Foersters: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind,
können wir entscheiden.« (So Heinz
von Foerster, Wahrnehmung, in: Ars Electronica [Hrsg.],
Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 27-40 [30].)
(Ebd., S. 178-179.)
Ein als Auflösung einer Paradoxie angelegter Ausweg läßt
sich mit dem Begriff des Wiedereintritts der Form in die Form oder der
Unterscheidung in das Unterschiedene bezeichnen. (»Re-entry«
im Sinne von Spencer-Brown, a.a.O., S. 56 ff., 69 ff.) Da die
Form in der Form die Form ist und zugleich nicht ist, handelt es sich
um ein Paradox, aber zugleich um ein entfaltetes Paradox; denn man kann
nun Unterscheidungen wählen (nicht alle eignen sich), deren Wiedereintritt
interpretiert werden kann. Ein Beobachter dieses Wiedereintritts hat dann
die doppelte Möglichkeit, ein System sowohl von innen (seine Selbstbeschreibung
»verstehend«) als auch von außen zu beschreiben, also
sowohl einen internen als auch einen externen Standpunkt einzunehmen.
Es versteht sich: er kann nicht beides zugleich, da er hierbei die Unterscheidung
innen/außen verwenden muß. Aber diese Unmöglichkeit läßt
sich kompensieren durch die Möglichkeit, das eigene Beobachten aus
der jeweils anderen Position heraus zu beobachten.
(Ebd., S. 179-180.)
Rückblickend kann man jetzt erkennen, daß diese Figur
des re-entry der Form in die Form schon immer als heimliche Struktur
dem Rationalitätsbegriff zu Grunde lag, ohne Argument werden zu können.
So wurde zwischen Sein und Denken unterschieden und vom Denken als Bedingung
der Rationalität Übereinstimmung mit dem Sein verlangt. Die
Rationalität war, in dieser offiziellen Version, die Übereinstimmung
selbst; und mit Bezug darauf hatten wir oben vom alteuropäischen
Rationalitätskontinuum gesprochen. Aber das Denken mußte ja
- vor der Erfindung eines extramundanen Subjekts, das die alteuropäische
Tradition sprengte - selber sein. Also lag der Unterscheidung von Sein
und Denken ein re-entry der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene,
in das Denken zu Grunde. Und war dann nicht vielleicht immer schon diese
Figur der heimliche Grund der Rationalitätsprätention? Gleiches
gilt für die Unterscheidung von Natur und Handlung, die ihre Konvergenz
ja auch nur unter der Voraussetzung erreichen konnte, daß das Handeln
als rational galt, wenn es seiner eigenen rationalen Natur entsprach.
In der Darstellung von Rationalität als Konvergenz konnte diese Struktur
aber nicht reflektiert werden. Deshalb erzeugt die alteuropäische
Tradition nur eine Parallelontologie des Seins und des Denkens, der Natur
und des Handelns. Sie kann deren Zusammenhang nur voraussetzen und Gott
dafür danken. Was gegenüber der Tradition distanziert, ist also
nur die Entdeckung dieses re-entry. Sie setzt abstraktere
Begriffsmittel voraus, die dann ihrerseits Anlaß geben, sich von
der anthropologischen, über Denken und Handeln artikulierten Version
von Rationalität zu distanzieren und zu einer formaleren systemtheoretischen
Darstellung überzugehen.
(Ebd., S. 180-181.)
Wenn zunächst die Zweckrationalität als Form in sich
selbst hineinkopiert wird, so heißt dies, daß die Rationalität
selbst als Mittel gedacht wird. Aber dann: zu welchem Zweck? Offenbar
muß der Zweck selbst jetzt externalisiert werden, damit die Rationalität
ihm dienen kann. Das war schon vorbereitet durch die Unterscheidung Zweck/Motiv.
Weitergehend könnte man auch sagen, die Rationalität diene der
Selbstdarstellung als rational. Oder der Legitimation. Oder der Begründung
des Handeins. In all diesen Varianten wird die Rationalität gleichsam
gödelisiert. Sie stützt sich auf einen extern vorgegebenen Sinn,
um sich intern als geschlossen, als vollständige Unterscheidung
darstellen zu können. Die Einbeziehung dieser externen Vorgabe in
den Kalkül kann dies Problem nur wiederholen. (Es führt daher
nicht weiter, das Problem mit Russell und Tarski durch die Unterscheidung
(!) von Ebenen lösen zu wollen.) Rationalität mit Vollzug ihres
re-entry ist daher von vornherein »Ideologie«. Sie
bleibt angewiesen auf Operationen, die sie selbst nicht leisten, nicht
begründen kann. Denn jedes re-entry bringt das System in einen
Zustand des »unresolvable indeterminacy«.
(Ebd., S. 181-182.)
Diese Auslegung des Schicksals moderner Rationalität läßt
sich durch eine systemtheoretische Analyse ergänzen und präzisieren.
Angewandt auf die Unterscheidung von System und Umwelt, fordert diese
Regel des Wiedereintritts, daß die Unterscheidung von System und
Umwelt im System wiedervorkommt. Im System! Es bedarf also keines Ausgriffs
auf ein umfassendes System, keiner letzten Weltgarantie von Rationalität,
also auch keiner »Herrschaft« als Form ihrer Realisierung.
Das System selbst erzeugt und beobachtet die Differenz von System und
Umwelt. Es erzeugt sie, indem es operiert. Es beobachtet sie, indem dies
Operieren im Kontext der eigenen Autopoiesis eine Unterscheidung von Selbstreferenz
und Fremdreferenz erfordert, die dann zur Unterscheidung von System und
Umwelt »objektiviert« werden kann. Das System kann die eigenen
Operationen nach wie vor immer nur an die eigenen Operationen anschließen,
aber es kann die dafür richtungweisenden Informationen entweder sich
selbst oder seiner Umwelt entnehmen. Kein Zweifel, daß dies real
moglich ist, auch und gerade für operativ geschlossene Systeme. Es
geht dabei um ein operatives Ausprobieren von Unterscheidungen - und Ausprobieren
in dem Sinne, daß ihre Verwendung Differenzen erzeugt, die in der
Form von Systemen entweder kontinuieren oder nicht kontinuieren.
(Ebd., S. 182.)
Ganz ähnliche Überlegungen lassen sich in der Begrifflichkeit
der neueren Semiotik formulieren. Hier ist die primäre Differenz
zunächst mit Zeichen gesetzt. Als rational gilt das Bemühen,
die Welt lesbar zu machen mit Hilfe relativ weniger Zeichen, die aber
für praktisch unendlich viele Kombinationen zur Verfügung stehen.
Die Tradition hatte Zeichen als Referenz, als Hinweis auf etwas Vorhandenes,
etwas »Anwesendes« gedacht. Die Kritik dieser Tradition, etwa
bei Jacques Derrida, hält nur noch das operative Faktum des take
off, des Ablösens, der Erzeugung von différence
durch différance fest. Das Zeichen verdankt sich seiner
anderen Seite, die für Bezeichnungen nicht zur Verfügung steht
- dem »unmarked space« Spencer Browns, der »Weiße«
des Papiers, der Stille, in die Laute sich einzeichnen. Das Stillhalten
der Stille ist und bleibt Voraussetzung für das Kombinationsspiel
der Zeichen, das sich eigener Unterscheidungen bedient. Man sieht: es
geht um das Erzeugen von Differenz durch Indifferenz. Die einzig funktionsfähigen
Unterscheidungen sind nicht die letzte Unterscheidung, und dies auch dann
nicht, wenn sie sich zu der Unterscheidung von System und Umwelt aufsummieren.
(Ebd., S. 182-183.)
Systemrationalität setzt, wenn man dem oben gegebenen Begriffsvorschlag
folgt, einen solchen Wiedereintritt der Form in die Form voraus. Damit
allein ist sie jedoch noch nicht erreicht. Wir müssen zusätzlich
beachten, daß Rationalität im Kontext einer Unterscheidung
von Realität definiert und angestrebt werden muß. Sie verdankt
sich also ihrerseits einer Unterscheidung, die nicht die letzte Unterscheidung
ist. Unter der Bedingung von Realität muß die Autopoiesis fortgesetzt
werden. Wenn nicht, entfällt die entsprechende Realität. Indem
das System autopoietisch operiert, tut es, was es tut, und nichts anderes.
Es zieht also eine Grenze, bildet eine Form und läßt alles
andere beiseite. Daraufhin kann es das Ausgeschlossene als Umwelt und
sich selbst als System beobachten. Es kann die Welt anhand der Unterscheidung
von Selbstreferenz und Fremdreferenz beobachten und dadurch, daß
es das tut, die eigene Autopoiesis fortsetzen. Die Selbstbeobachtung kann
nie rückgängig machen, was geschehen ist, da sie selbst es im
Kontext von Autopoiesis benutzt und fortsetzt.. Sie kann auch nie einholen,
was sie autopoietisch als Differenz produziert hat. Im realen Operieren
zerteilt sie die Welt, den unmarkierten Raum, in System und Umwelt, und
das Ergebnis entzieht sich der beobachtenden Erfassung - so wie in traditioneller
Terminologie kein Auge in der Lage ist, die plenitudo entis zu
sehen. Nach diesen Umformulierungen des Problems erscheint Rationalität
nicht mehr als paradox, sie erscheint als unmöglich.
(Ebd., S. 183-184.)
Das hat jedoch den Vorteil, daß man sich Annäherungsmöglichkeiten
überlegen kann. Ein System kann Eigenkomplexität und damit Irritabilität
aufbauen. Es kann die Unterscheidung System/Umwelt auf beiden Seiten durch
weitere Unterscheidungen ergänzen und damit seine Beobachtungsmöglichkeiten
erweitern. Es kann Bezeichnungen wiederverwenden und damit Referenzen
kondensieren oder sie nicht wiederverwenden und damit löschen. Es
kann erinnern und vergessen und damit auf lrritationshäufigkeiten
reagieren. Mit all dem kann der Wiedereintritt der Unterscheidung in das
Unterschiedene angereichert und mit komplexeren Anschlußfähigkeiten
ausgestattet werden. Im Unterschied zu Traditionskonzepten geht es dabei
nicht um Annäherung an ein Ideal, nicht um mehr Gerechtigkeit, nicht
um mehr Bildung, nicht um Selbstverwirklichung eines subjektiven oder
objektiven Geistes. Es geht nicht um Erreichen von Einheit (denn das wäre,
wie gesagt, Rückkehr in die Paradoxie oder in ihr Substitut: die
Unmöglichkeit). Systemrationalität heißt: eine Unterscheidung,
nämlich die von System und Umwelt, der Realität auszusetzen
und an ihr zu testen.
(Ebd., S. 184.)
Man kann sich dies am Beispiel der ökologischen Probleme
der modernen Gesellschaft verdeutlichen, Zunächst ist davon aus zugehen,
daß zum Beispiel die Marktwirtschaft als operativ geschlossenes
System funktioniert und deshalb nicht zugleich das »ökologische
System« (wenn es denn ein System ist) optimieren kann. Es wäre
gewiß nicht rational, diese Bedingungen zu ignorieren. Das hieße
sich blindstellen. Die Probleme können auch nicht dadurch gelöst
werden, daß man Umwelteingriffe unterläßt oder gar die
Differenz von System und Umwelt löscht, also den Betrieb von Gesellschaft
einstellt. Das würde heißen: Rationalität als Endkatastrophe
anzustreben. (Es ist nicht schwierig, sich kleinere Formate desselben
Prinzips vorzustellen, etwa den Vorschlag, Energieerzeugung, chemische
Produktion etc. einzustellen). Ein rationaler Umgang mit den Problemen
kann nur in der Gesellschaft und nur unter der Bedingung der Fortsetzung
ihrer Autopoiesis angestrebt werden, und das impliziert immer: Erhaltung
der Differenz. Dasselbe Problem wiederholt sich innerhalb der Gesellschaft
auf der Ebene ihrer einzelnen Funktionssysteme. Auch hier liegen die Rationalitätschancen
in der Erhaltung und in der Ausnutzung von Differenzen, nicht in ihrer
Eliminierung. Die Irritabilität der Systeme muß verstärkt
werden, was nur im Kontext ihres selbstreferentiell geschlossenen Operierens
geschehen kann. Genau darauf zielt aber die Systemtheorie, wenn sie die
Unterscheidung von System und Umwelt als die Form des Systems behandelt.
Mehr als durch irgendeine andere Theorie der Gesellschaft rücken
dadurch ökologische Probleme und im genau gleichen Sinne Humanprobleme
in den Mittelpunkt der theoretischen Konzeption. Diese Zentrierung auf
Differenz schärft den Blick auf die genannten Probleme in einer Weise,
die jede Hoffnung nimmt, daß sie gelöst werden könnten
und damit verschwinden würden. Nur wenn man dies akzeptiert, kann
man Probleme wie Arbeitsprogramme behandeln und versuchen, die Position
des Gesellschaftssystems in Bezug auf seine humane und seine nichthumane
Umwelt nach Kriterien zu verbessern, die in der Gesellschaft selbst konstruiert
und variiert werden müssen.
(Ebd., S. 184-185.)
Diese Überlegungen machen zugleich einsichtig, wie sehr das
Rationalitätsproblem der Moderne mit der Differenzierungsform des
Gesellschaftssystems zusammenhängt. Wenn die moderne Gesellschaft
im Übergang zu einer vorherrschend funktionalen Differenzierung auf
ein Leitsystem, auf eine Spitze oder ein Zentrum verzichten muß,
kann sie auch keine einheitliche Rationalitätsprätention für
sich selbst mehr erzeugen. Das schließt es nicht aus, daß
die Funktionssysteme je für sich die Einheit der Differenz von System
und Umwelt zu reflektieren suchen. Dabei kann auch die Naturumwelt und
die Humanumwelt des Gesellschaftssystems mit in Betracht gezogen werden,
und ökologische ebenso wie humanistische Empfindlichkeiten zeigen
diese Möglichkeiten und ihre Grenzen an. Auch in dieser Frage muß
man jedoch Systemreferenzen auseinanderhalten: Kein Funktionssystem kann
in sich die Gesellschaft reflektieren, weil dies die Mitberücksichtigung
der Operationsbeschränkungen aller anderen Funktionssysteme in jedem
einzelnen erfordern würde. Die gesellschaftliche Rationalität
wird unter modernen Bedingungen im wortgenauen Sinne eine Utopie. Für
sie gibt es keinen Standort in der Gesellschaft mehr. Aber das wenigstens
kann man noch wissen, und selbstverständlich spricht nichts dagegen
- ja gerade dieses Argument spricht dafür, in den gesellschaftlichen
Funktionssystemen eine stärkere Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen
Umwelt zu initiieren. Denn niemand sonst kann es tun.
(Ebd., S. 185-186.)
Systemrationalität in diesem auf die Paradoxie des Beobachtens
gegründeten Sinne erhebt keinen Anspruch auf den Titel »Vernunft«.
Für einen Kompetenzbegriff dieser Art fehlt das Subjekt. »Vernunft«
war ein Titel gewesen, mit dem die Ahnungslosigkeit in bezug auf Widersprüche
zwischen Zwecken und Mitteln ausgezeichnet wurde. In diesem Sinne galt
die Vernunft als unschuldig. Sie rühmt sich, »kritisch«
zu sein. Mit dem Pathoswort »Kritik« wird jedoch eine Schwäche
verdeckt, die man heute nicht länger ignorieren kann. Die Vernunft
ist darauf angewiesen, daß ihr Weltzustände, praktisch also
Texte, zur Beurteilung vorgelegt werden. Das Problem ist jedoch, daß
man von einer Kritik der Zustände nicht zu einem rationalen Konzept
für Änderungen kommt. Das sieht man heute überall - bei
der Produktionsplanung in Betrieben und in der ökologischen Politik,
beim Entwurf von Kunstwerken und beim Entwurf von Theorien, die vom bisher
Üblichen abweichen. Immer sind Routinen vorausgesetzt, die einen
Änderungsbedarf erkennen lassen und damit steuern, wo Eingriffe angesetzt
werden können. Daraus ergibt sich jedoch kein Hinweis auf die Rationalität
von Änderungen, geschweige denn ein Konzept für die rationale
Anpassung an Änderungen. Eine Kritik der Routinen würde vielmehr
die kognitiven Grundlagen für die Wahrnehmung eines Ände ungsbedarfs
auflösen. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb Evolutionstheorien
immer dort faszinieren, wo Rationalitätsansprüche nicht durchgehalten
werden können.
(Ebd., S. 186-187.)
Auch kann man Vernunft nicht begreifen als einen Satz von Kriterien
(oder eine Instanz für deren Festlegung), nach denen vor und nach
der Kommunikation erkennbar festgestellt werden kann, ob sie zu akzeptieren
ist oder nicht. Annehmen oder Ablehnen ist stets eine neue, eine selbständige
Kommunikation. Vernunft kann deshalb allenfalls retrospektiv zitiert werden
zur Symbolisierung einer gelungenen Verständigung; und sie wird vor
allem dann gebraucht, wenn man von Interessenlagen absehen will.
(Ebd., S. 187.)
Zieht man die Grundparadoxie des Beobachtens
und des Wiedereintritts von Unterscheidungen in sich selbst in Betracht,
bleibt zwar das Problem des blinden Flecks, bleibt also die Notwendigkeit,
die Paradoxie zu invisibilisieren. Jede Beobachtung muß ihre eigene
Paradoxie entfalten, das heißt, durch eine hinreichend funktionierende
Unterscheidung ersetzen. Jede Theorie, die den Anspruch erhebt, die Welt
zu beschreiben, und in diesem Sinne universelle Geltung anstrebt, muß
diese Notwendigkeit der Invisibilisierung mit in Rechnung stellen. Sie
muß sie zumindest bei anderen (als deren »Ideologie«,
als deren »Unbewußtes«, als deren »Latenzbedarf«)
berücksichtigen. Sie muß also auf einer Ebene der Beobachtung
zweiter Ordnung formuliert werden. Dann läßt sich aber der
»autologische« Rückschluß auf das eigene Beobachten
nicht vermeiden.
(Ebd., S. 187.)
Rückblickend kann man jetzt auch besser verstehen, weshalb
das Rationalitätskontinuum der alteuropäischen Tradition aufgegeben
werden mußte. Jede Beobachtung (Erkennen und Handeln eingeschlossen)
ist und bleibt an die Selektion einer Unterscheidung gebunden, und Selektion
heißt zwangsläufig: etwas unberücksichtigt lassen. Die
Titel des 20. Jahrhunderts dafür lauten: Pragmatismus, Histolismus
(=> 19. Jahrhundert; Anm. HB), Relativismus,
Pluralismus. Sie waren jedoch als Einschränkungen universalistischer
Rationalitätsansprüche formuliert worden. Wenn aber jedes Beobachten
genötigt ist, die eigene Paradoxie aufzulösen und dafür
keine vernünftigen (unschuldigen) Gründe angeben kann, verlieren
Unvollständigkeitstheoreme jeder Art den Beiklang des Zurückbleibens
hinter dem, was an sich erstrebenswert wäre. Man wird jetzt von der
Universalität des Selektionszwangs, von der Universalität des
Unterscheidens und des Grenzen-Ziehens ausgehen müssen, und eine
Vernunft, die dies nicht wahrhaben will, gerät damit in die Nähe
einer totalitären, wenn nicht terroristischen Logik. Und auch sie
hat ihr (gut verstecktes) Invisibilitätstheorem. Denn sie kann nicht
angeben, was mit denen zu geschehen hat, die partout nicht einsehen können,
was die Vernunft ihnen vorschlägt.
(Ebd., S. 187-188.)
Rationalität scheint der Fluchtpunkt gewesen zu sein, auf
den hin man auch bei zunehmender Komplexität der Gesellschaft immer
noch an eine letzte Harmonie glauben konnte (und die Wirtschaft profitiert
noch heute davon, wenn sie ihre Selbstbeschreibung an Annahmen über
die Rationalität ihrer Entscheidungspraxis legitimiert). Davon ausgehend
sieht man aber auch, daß die Perspektive der Rationalität zugleich
die Auflösung dieser letzten Harmonievorstellung registriert - zunächst
durch Annahme einer gute Ergebnisse garantierenden »invisible
hand«, dann über Evolutionstheorie bis hin zu einer Relativierung
auf subjektive Präferenzen, die zwar als sozial interdependent, aber,
wenn so, nicht als stabil vorausgesetzt werden können. Schließlich
muß man sogar zweifeln, ob der Bezug des Problems der Rationalität
auf das Individuum haltbar ist - sei es im Sinne des rational choice,
sei es im Sinne der kommunikativen Verständigung. Denn vielleicht
ist auch dies nur ein Traditionselement; würden wir doch Rationalität
von Mitgliedern einer Organisation oder einer Profession erwarten, aber
wohl kaum von Personen in ihrem Privatleben. Auf dieser absteigenden Linie
kann die Soziologie keinen Halt bieten, schon gar nicht über Begriffe
wie Ethik, Kultur oder Institution. Die Systemtheorie kann immerhin sich
die Relativierung auf Systemreferenzen zunutzemachen und die Frage stellen,
mit Bezug auf welches System denn die Frage der Rationalität ihr
größtes Gewicht erhält. Und dann dürfte die Antwort
eindeutig sein: mit Bezug auf das umfassende Sozialsystem der Gesellschaft
und deren Formen der Respezifikation von zu allgemein geratenen Kriterien,
nämlich Organisationen und Professionen.
(Ebd., S. 188-189.)
Damit ist freilich nicht behauptet, daß die Gesellschaft
über Normen, Regeln oder Direktiven Rahmenrichtlinien für das
geben könne, was für Teilsysteme der Gesellschaft das Prädikat
rational verdient. Die Gesellschaft steuert sich, wie wir noch mehrfach
sehen werden, allenfalls über Fluktuationen, die funktionale oder
regionale Systeme zur Verarbeitung von dissipativen Strukturen und damit
zur Selbstorganisation zwingen. Hier mögen ganz andere Paradoxien
und ganz andere Unterscheidungen, jedenfalls andere Unterscheidungen von
Selbstreferenz und Fremdreferenz eine Rolle spielen. Das muß konkreteren
Untersuchungen überlassen bleiben, ändert aber nichts daran,
daß man den Begriff der Rationalität in erster Linie auf das
System der Weltgesellschaft beziehen muß, wenn man begreifen will,
wie der Kontext für andere Systemrationalitäten reproduziert
wird.
(Ebd., S. 189.)
Wie immer man aber über den Begriff der Rationalität
und seine Bedingungen entscheiden wird: die Berufung auf Rationalität
dient in der laufenden Kommunikation dazu, die Unverhandelbarkeit einer
Position zu markieren. Dafür besteht ein Bedarf. Und zugleich spekuliert
man bei solchem Vorgehen mit der Trägheit des Kommunikationsprozesses.
Er wird nicht von seinem Thema ablassen und sich den Bedingungen von Rationalität
zuwenden, nur weil jemand behauptet, etwas sei rational oder nicht rational.
Selbst wenn die begriffliche Klärung zu keinem Ende führt, muß
das die Einschaltung der Berufung auf Rationalität in die laufende
Kommunikation nicht entmutigen. Sie ist gleichsam der Boden, der dem Bedürfnis
der Klärung der Bedingungen von Rationalität immer neue Nahrung
gibt. (Ebd., S. 189.)
Kommuniaktionsmedien.
I. Medium und Form. - Sieht man einmal davon ab, daß
ein Gesellschaftssystem faktisch bereits existiert und Kommunikation durch
Kommunikation reproduziert, ist ein solcher Sachverhalt extrem unwahrscheinlich.
Die Kommunikation macht sich nur selber wahrscheinlich. Als Einzelereignis
kann sie nicht vorkommen. Jede Kommunikation setzt andere Operationen
gleichen Typs voraus, auf die sie reagieren und die sie stimulieren kann.
Ohne rekursive Bezugnahmen dieser Art fände sie überhaupt keinen
Anlaß, sich zu ereignen. (Ebd., S. 190.)
Das heißt vor allem: daß der Anschluß von Kommunikation
an Kommunikationen nicht willkürlich, nicht zufällig geschehen
kann, denn sonst wäre Kommunikation für Kommunikation nicht
als Kommunikation erkennbar. Es muß erwartungsleitende Wahrscheinlichkeiten
geben, anders ist die Autopoiesis der Kommunikation nicht möglich.
Aber das verschiebt nur unser Problem in die Frage, wie denn die Kommunikation
selbst ihre eigene Unwahrscheinlichkeit des Sichereignens überwinden
kann.
(Ebd., S. 190.)
Die Unwahrscheinlichkeit einer kommunikativen Operation kann man
an den Anforderungen verdeutlichen, die erfüllt sein müssen,
damit sie zustandekommt. Kommunikation ist, wie oben ausgeführt (vgl.
Kapitel 1, V), eine Synthese aus drei Selektionen. Sie besteht
aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede dieser Komponenten ist
in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis. Information ist eine Differenz,
die den Zustand eines Systems ändert, also eine andere Differenz
erzeugt. Warum soll aber gerade eine bestimmte Information und keine andere
ein System beein drucken? Weil sie mitgeteilt wird? Aber unwahrscheinlich
ist auch die Auswahl einer bestimmten Information für Mitteilung.
(Ebd., S. 190.)
Warum soll jemand sich überhaupt und warum gerade mit dieser
bestimmten Mitteilung an bestimmte andere wenden angesichts vieler Möglichkeiten
sinnvoller Beschäftigung? Schließlich: warum soll jemand seine
Aufmerksamkeit auf die Mitteilung eines anderen konzentrieren, sie zu
verstehen versuchen und sein Verhalten auf die mitgeteilte Information
einstellen, wo er doch frei ist, all dies auch zu unterlassen? Schließlich
werden all diese Unwahrscheinlichkeiten in der Zeitdimension nochmals
multipliziert. Wie kann es sein, daß Kommunikation schnell genug
zum Ziele führt, und vor allem: wie kann es sein, daß auf eine
Kommunikation mit erwartbarer Regelmäßigkeit eine andere (nicht:
dieselbe!) folgt?
(Ebd., S. 191.)
Wenn schon die einzelnen Komponenten der Kommunikation für
sich genommen unwahrscheinlich sind, ist es ihre Synthese erst recht.
Wie soll jemand auf die Idee kommen, einen anderen, dessen Verhalten ja
gefährlich sein kann oder auch komisch, nicht nur schlicht wahrzunehmen,
sondern es im Hinblick auf die Unterscheidung von Mitteilung und Information
zu beobachten? Wie soll der andere erwarten und sich darauf einstellen
können, daß er so beobachtet wird? Und wie soll jemand sich
ermutigt fühlen, eine Mitteilung (und welche?) zu wagen, wenn gerade
das Verstehen des Sinnes der Mitteilung den Verstehenden befähigt,
sie abzulehnen? Geht man von dem aus, was für die beteiligten psychischen
Systeme wahrscheinlich ist, ist also kaum verständlich zu machen,
daß es überhaupt zu Kommunikation kommt.
(Ebd., S. 191.)
Fragen dieser Art sind im Prinzip an die Evolutionstheorie und
an die Systemtheorie zu richten. Wir kommen im nächsten und im übernächsten
Kapitel darauf zurück. Aber auch die Kommunikation selbst hat an
ihrer immanenten Unwahrscheinlichkeit zu tragen. Wie Kommunikation möglich
ist, und was sich zur Kommunikation eignet, ist durch die Lösung,
oder genauer: durch die Transformation, dieses Problems bedingt.
(Ebd., S. 191.)
Das Problem wird kaum je mit dieser Schärfe gestellt. Üblicher
weise begnügt man sich damit, das Vorkommen von Kommuni kation durch
ihre Funktion zu erklären und die Funktion in der Entlastung und
Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten von Lebewesen zu sehen. Lebewesen
leben aus zwingenden biologischen Gründen als Einzelwesen. Sie leben
aber nicht unabhängig voneinander. Sie sind in den höher entwickelten
Arten mit Eigenbeweglichkeit und mit Möglichkeiten der Fernwahrnehmung
ausgestattet. Wenn dies gegeben ist, kann es evolutionär erfolgreich
sein, nicht nur die Reichweite der Eigenwahrnehmung zu vergrößern,
sondern zusätzlich Informationen auszutauschen, statt sich jede Information
selber zu beschaffen. Die Literatur kennt mehrere Bezeichnungen für
diesen Sachverhalt, etwa »vicarious learning« oder
»economy of cognition«. Der Gesichtspunkt ist jeweils:
daß man sich mit Hilfe anderer sehr viel mehr und vor allem schneller
Informationen beschaffen kann, als es mit Hilfe der eigenen Sinnesorgane
möglich wäre. Entsprechend wird in neueren Theorien über
»Hominisation« betont, daß die Absonderung eines besonderen
Evolutionszweigs »Mensch« nicht direkt auf überlegene
Fähigkeiten im Umgang mit der äußeren Natur zurückzuführen
ist, sondern auf die besonderen kognitiven Anforderungen des sozialen
Feldes, in dem diese in Richtung Mensch evoluierenden Primaten existieren.
(Siehe dazu Eve-Marie Engels, Erkenntnis als
Anpassung? Eine Studie zur evolution ären Erkenntnistheorie,
Frankfurt 1989, S. 183 ff..) Der Ausweg aus der damit angezeigten
Herausforderung liegt in der gleichzeitigen Entwicklung von extremer Sozialabhängigkeit
und hochgradiger Individualisierung, und das wird erreicht durch Aufbau
einer komplexen Ordnung sinnhafter Kommunikation, die dann die weitere
Evolution des Menschen bestimmt.
(Ebd., S. 191-193.)
Das Argument ist hilfreich, reicht aber als Erklärung nicht
aus. Man kann ihm Angaben über die Umwelt des Kommunlkationssystems
Gesellschaft (oder entsprechender Systeme tierischer Kommunikation) entnehmen.
Wenn Lebewesen nicht einzeln leben müßten, wenn es keine Vorteile
von Information auf Distanz gäbe und wenn es nicht hilfreich wäre,
die Grenzen des eigenen Sinnesapparates, mag er auch für Distanzwahrnehmung
geeignet sein, durch Distanzwahrnehmung der Distanzwahr nehmung anderer
Lebewesen zu erweitern, könnten sich keine Kommunikationssysteme
bilden. Die dies ermöglichende Umwelt erklärt viel. Sie erklärt
aber gerade nicht, daß es zur Autopoiesis von Kommunikation, zur
operativen Schließung kommunikativer Systeme kommt; so wenig wie
eine chemische Erklärung der Autopoiesis des Lebens gelingen kann.
Schon generell gilt, daß durch Angabe der Funktion nicht erklärt
werden kann, daß etwas existiert und durch welche Strukturen es
sich selbst ermöglicht. Und erst recht reicht eine funktionale Erklärung,
die auf Bedürfnisse oder Vorteile in der Umwelt verweist, nicht aus,
um zu erklären, wie das System funktioniert. Sobald man sieht, wie
extrem unwahrscheinlich ein solches Zustandekommen und Funktionieren ist,
muß man, bei aller Voraussetzung einer konduzierenden Umwelt, die
Erklärung im System selbst suchen.
(Ebd., S. 193.)
Stellt man etwas höhere Ansprüche an begriffliche Genauigkeit,
dann sieht man rasch, daß die Vorteile der sozialen Erweiterung
kognitiver Fähigkeiten von Lebewesen gerade nicht dadurch gewonnen
werden können, daß man sie voneinander abhängig macht.
Die traditionsreiche Rede von den »Beziehungen« zwischen Lebewesen
(unter anderen: Menschen) verschleiert diesen Sachverhalt. Lebewesen leben
einzeln, leben als strukturdeterminierte Systeme. So gesehen ist es ein
konstellationsbedingter Zufall, wenn das eine, obwohl es tut, was es tut,
dem anderen nützen kann. Abhängigmachen hieße also: Unwahrsheinlichkeiten
miteinander zu multiplizieren. Vorteile können deshalb nur dadurch
gewonnen werden, daß Lebewesen von einem System höherer
Ordnung abhängig werden, unter dessen Bedingungen sie Kontakte
miteinander wählen können, also gerade nicht voneinander abhängig
werden. Für Menschen ist dies System höherer Ordnung, das selber
nicht lebt, das Kommunikationssystem Gesellschaft. (Es
ist also nicht nur ein System konzentrierter Abhängigkeit von politischer
Herrschaft im Sinne von Hobbes. Es ist auch nicht nur ein System aufgelöster
und wählbarer Abhängigkeiten, wie es sich mit dem Übergang
von Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft ergeben hat. Dies sind Beispiele
für erfolgreiche evolutionäre Errungenschaften im Bereich unserer
Problemstellung. Aber sie führen uns nicht zu einer Gesellschaftstheorie
oder wenn, dann zu einer Theorie, die die Gesellschaft durch einen Primat
der Politik oder durch einen Primat der Wirtschaft definiert.)
Es muß, mit anderen Worten, auf der Ebene des emergenten Systems
eine eigene Operationsweise (hier: Kommunikation), eine eigene Autopoiesis,
eine selbst-ge währleistete Fortsetzbarkeit der Operationen geben;
sonst hätte die Evolution von Möglichkeiten des vicarious learning
nie er folgreich ablaufen können.
(Ebd., S. 193-194.)
Damit ist auch gesagt, daß eine »Übertragung«
von Information von einem Lebewesen auf ein anderes (bzw. von einem Bewußtseinssystem
auf ein anderes) unmöglich ist. Kommunikation kann deshalb nicht
als Übertragungsprozeß begriffen werden. Informationen sind
stets systemintern konstituierte Zeitunterschiede, nämlich Unterschiede
in Systemzuständen, die aus einem Zusammenspiel von selbstreferentiellen
und fremdreferentiellen, aber stets systemintern prozessierten Bezeichnungen
resultieren. Das gilt schon für die neurophysiologischen Systembildungen
und erst recht dann für Kommunikationssysteme.
(Ebd., S. 194-195.)
Kommunikationssysteme konstituieren sich selbst mit Hilfe einer
Unterscheidung von Medium und Form. Die Unterscheidung von Medium und
Form soll uns dazu dienen, den systemtheoretisch unplausiblen Begriff
der Übertragung zu ersetzen. (Sie ersetzt auch
oder ergänzt jedenfalls, Saussures Unterscheidung von »langue«
und »parole«. Man kann diese Unterscheidung verallgemeinern
zur Unterscheidung von Struktur und Ereignis. Aber dann sieht man auch,
daß ihr all das fehlt, was die Systemtheorie leistet, nämlich
eine Erklärurig dafür zu bieten, wie Ereignisse Strukturen produzieren
und Strukturen Ereignisse dirigieren. Die Unterscheidung Medium/ Form
ist in diesem Zwischenreich angesiedelt. Sie setzt kopplungsfähige
Elementarereignisse [paroles] ebenso voraus wie die Notwendigkeit einer
strukturierten Sprache, um diese Kopplung durchzuführen und sie von
Moment zu Moment zu variieren.) Sie erspart uns außerdem
die Suche nach »letzten Elementen«, die es nach den Erkenntnissen
der: Nuklearmetaphysik à la Heisenberg ohnehin nicht gibt. An die,
Stelle der ontologischen Fixpunkte, über die in den Debatten zwischen
Reduktionismus und Holismus gestritten worden war, tritt eine beobachterabhängige
Unterscheidung. Wenn wir von »Kommunikationsmedien« sprechen,
meinen wir immer die operative Verwendung der Differenz von medialem Substrat
und Form. (Wir folgenmit dieser Verwendung des Ausdrucks
»Kommunikationsmedien« dem eingeführten Sprachgebrauch.
Wo es auf größere Genauigkeit ankommt und nur die eine Seite
der Unterscheidung im Unterschied zu (und nicht in Einheit mit) der anderen
bezeichnet werden soll, werden wir, wie oben im Text, von »medialem
Substrat« sprechen.) Kommunikation ist nur, und das ist unsere
Antwort auf das Unwahrscheinlichkeitsproblem, als Prozessieren dieser
Differenz möglich.
(Ebd., S. 195.)
Ähnlich wie der Informationsbegriff ist auch die (eng mit
ihm zusammenhängende) Unterscheidung von Medium und Form stets ein
systeminterner Sachverhalt. Ebenso wie für Information gibt es auch
für die Medium/Form-Differenz keine Umweltkorrespondenz (obwohl natürlich
in der Umwelt gegebene Bedingungen der Möglichkeit und entsprechende
strukturelle Kopplungen). Kommunikation setzt also keinerlei letzte Identitäten
(Atome, Partikel) voraus, die sie nicht selbst durch eigene Unterscheidungen
bildete. Vor allem »repräsentieren« weder »Information«
noch »Medium/Form« physikalische Sachverhalte der Umwelt im
System. Das gilt bereits für die Wahrnehmungsmedien (»Licht«
ist kein physikalischer Begriff) und erst recht für alle Kommunikationsmedien,
die wir im folgenden behandeln werden. Das bedeutet auch, daß die
Komplexitätsadäquität sich stets nach der Art und Weise
richten muß, in der das informationserarbeitende System seine eigene
Autopoiesis strukturiert.
(Ebd., S. 195-196.)
Die Unterscheidung von medialem Substrat und
Form dekomponiert das allgemeine Problem der strukturierten Komplexität
mit Hilfe der weiteren Unterscheidung von lose und strikt gekoppelten
Elementen. (Wir finden uns hier ganz in der Nähe
der naturwissenschaftlichen Unterscheidung von Gleichgewicht und Ungleichgewichtszuständen,
wie sie insbesondere von Ilya Prigogine benutzt und mit der Unterscheidung
von Entropie und Negentropie oder von Unordnung und Ordnung gleichgesetzt
wird. Diese Formulierungen hinterlassen den Eindruck; als ob es sich um
verschiedene, miteinander inkompatible Zustände handele. Die naturwissenschaftliche
Entwicklung selbst führt jedoch bereits darüber hinaus, wenn
man etwa an die Chaos-Forschung denkt. Das Problem verschiebt sich damit
in die Theorie der Zeit und insbesondere in die Frage, wie »Gleichzeitigkeit«
im Verhältnis zu »Zeit« zu verstehen ist. Jedenfalls
geht die Unterscheidung Medium/ Form davon aus, daß die Zustände
der losen bzw. festen Kopplung gleichzeitig gegeben sind und sachlich
unterschieden werden müssen. Es handelt sich nicht um eine Theorie
der Entstehung von Ordnung als Entwicklung von Medium zu Form.)
Diese Unterscheidung geht davon aus, daß nicht jedes Element mit
jedem anderen verknüpft werden kann; aber sie reformuliert das damit
gestellte Selektionsproblem, bevor sie es behandelt, noch einmal durch
eine weitere, vorgeschaltete Unterscheidung, um dann Formen (in diesem
engeren Sinne strikter Kopplung) als Selektion im Bereich eines Mediums
darstellen zu können. (Ebd., S. 196.)
Schon den Wahrnehmungsprozessen der Organismen liegt eine solche
Unterscheidung zu Grunde. (Siehe Fritz Heider, Ding
und Medium, Symposion I, 1926, S. 109-157.) Sie setzen spezifische
Wahrnehmungsmedien wie Licht oder Luft oder elektromagnetische Felder
voraus, die durch den wahrnehmenden Organismus zu bestimmten Formen gebunden
werden können, die dann auf Grund komplexer neurophysiologischer
Prozesse als bestimmte Dinge, bestimmte Geräusche, spezifische Signale
usw. erscheinen und verwertet werden können. Und schon hier kann
das Medium Form werden: Licht wird in den Kathedralen zugelassen, wird
Form, um mlt den Säulen und Bögen spielen zu können. Die
physikalische Struktur der Welt muß das ermöglichen, aber die
Differenz von Medium und Form ist eine Eigenleistung des wahrnehmenden
Organismus.
(Ebd., S. 196-197.)
Auf ganz anderen Grundlagen findet man dieselbe Unterscheidung
als Operationsgrundlage kommunikativer Systeme. Auch hier gibt es, wir
hatten in der Klärung des Sinnbegriffs und in der Analyse von Sprache
darauf schon vorgegriffen (vgl. Kapitel 1, III und
VI), ein systemspezifisches Medium und, darauf bezogen, in das
Medium sich einprägende Formen. Die lose gekoppelten Wörter
werden zu Sätzen verbunden und gewinnen dadurch eine in der Kommunikation
temporäre, das Wortmaterial nicht verbrauchende, sondern reproduzierende
Form. Die Unterscheidung Medium/Form übersetzt die Unwahrscheinlichkeit
der operativen Kontinuität des Systems in eine systemintern handhabbare
Differenz und transformiert sie damit in eine Rahmenbedingung für
die Autopoiesis des Systems. Das System operiert in der Weise, daß
es das eigene Medium zu eigenen Formen bindet, ohne das Medium dabei zu
verbrauchen (so wenig wie das Licht durch das Sehen von Dingen verbraucht
wird). Die jeweils aktualisierten Formen, die gesehenen Dinge, die gesprochenen
Sätze koppeln die Elemente des Systems für momentane Verwendung,
aber sie vernichten sie nicht. Die Differenz von Medium und Form bleibt
in der operativen Verwendung erhalten und wird durch sie reproduziert.
Es kommt dabei auf die Differenz selbst an, und nicht nur auf die jeweils
in der Operation verdichtete Form. Denn die Möglichkeit, Farbeindrücke
wahrzunehmen oder Wörter auszusprechen, setzt gerade voraus, daß
diese Einheiten in der Operation nicht konsumiert, sondern in ihrer Verwendbarkeit
im Kontext anderer Formen reproduziert werden. An dieser Stelle sei daran
erinnert, daß wir unter »Form« die Markierung einer
Unterscheidung verstehen. Also ist auch die Unterscheidung von Medium
und Form eine Form. Die Unterscheidung impliziert sich selbst, sie macht
jede Theorie, die mit ihr arbeitet, autologisch. Um zu explizieren, was
wir unter Medium und Form verstehen, müssen wir Sprache verwenden,
benutzen wir also die Unterscheidung von Medium und Form. Unter den Perspektiven
der herkömmlichen Erkenntnistheorie wäre das ein Fehler, der
alles, was daraus folgt, unbrauchbar macht. Wir werden aber auf dasselbe
Problem stoßen, wenn wir in den nächsten Kapiteln mit den Unterscheidungen
Variation/Selektion (Evolutionstheorie) und System/Umwelt (Theorie der
Systemdifferenzierung) arbeiten. Für universalistisch ansetzende
Theorien sind Autologien dieser Art unvermeidlich, und wenn man sie antrifft,
ist das kein Einwand, sondern im Gegenteil: ein Beleg für den theoretischen
Rang der Begrifflichkeit.
(Ebd., S. 197-198.)
Um so wichtiger ist es, die Form der Unterscheidung von Medium
und Form möglichst genau zu beschreiben, damit man jeweils feststellen
kann, welche Unterscheidung eine Operation verwendet und wo damit jeweils
ihr blinder Fleck liegt, den sie selbst nicht beobachten kann. Wir tun
dies mit Hilfe der Unterscheidung von loser und strikter Kopplung der
Elemente. Ein Medium besteht in lose gekoppelten Elementen, eine Form
fügt dieselben Elemente dagegen zu strikter Kopplung zusammen. Nehmen
wir als Beispiel das Medium Handlung, und stellen wir uns die Gesellschaft
als Gesamtheit ihrer Handlungen vor. Dann beruht Freiheit auf der strikten
Kopplung von Handlungen in der Zurechnung auf einzelne Personen, die an
der Form ihrer Handlungen erkennbar sind; und lose Kopplung gäbe
dann die Möglichkeit, Handlungen für jeweils auftauchende Zwecke
zu rekrutieren, weil sie nicht an Personen gebunden sind. Gesellschaften,
die ein hohes Maß an Freiheit gewährleisten, enden in der Unverfügbarkeit
des Handeins für kollektive Zwecke und, das ist nur scheinbar paradox,
in einem Riesenstaat, der viel Geld braucht, um seine Programme trotz
Freiheit zu realisieren. Kopplung ist ein Begriff, der Zeit impliziert.
Man müßte von Koppeln und Entkoppeln sprechen - von einer nur
momentanen Integration, die Form gibt, sich aber wieder auflösen
läßt. Das Medium wird gebunden - und wieder freigegeben. Ohne
Medium keine Form und ohne Form kein Medium, und in der Zeit ist es möglich,
diese Differenz ständig zu reproduzieren. Die Differenz von loser
und strikter Kopplung ermöglicht, in welcher sachlichen Ausprägung,
auf welcher Wahrnehmungsbasis auch immer, ein zeitliches Prozessieren
von Operationen in dynamisch stabilisierten Systemen und ermöglicht
damit autopoietische Systeme dieses Typs. Im Hinblick auf dies laufende
Binden und Lösen des Mediums kann man auch sagen, daß das Medium
im System »zirkuliere«. Es hat seine Einheit in der Bewegung.
(Ebd., S. 198-199.)
Dieser zeitliche Vorgang des laufenden Koppelns und Entkoppelns
dient sowohl der Fortsetzung der Autopoiesis als auch der Bildung und
Änderung der dafür nötigen Strukturen - wie bei einer von-Neumann-Maschine.
Er unterläuft also die klassische Unterscheidung von Struktur und
Prozeß. Das heißt nicht zuletzt, daß die Einheit des
Systems nicht mehr durch (relative) strukturelle Stabilität definiert
sein kann, obwohl es nach wie vor um Systemerhaltung geht, sondern durch
die Spezifik, in der ein Medium Formbildungen ermöglicht.
(Ebd., S. 199.)
Derselbe Zeitbezug zeigt sich auch am allgemeinen Medium Sinn,
das sowohl psychischer als auch sozialer Formenbildung dient. Da Sinn
immer nur ereignishaft aktualisiert werden kann und dies in Horizonten
geschieht, die eine Vielzahl weiterer Aktualisierungsmöglichkeiten
appräsentieren, ist jeder im Moment erlebte bzw. kommunizierte Sinn
eine Form, das heißt: die Markierung eines Unterschieds und insofern
determinierte Festlegung. Aber zugleich bilden hier anknüpfende Verweisungen
auf ein »Und-so-weiter« weiterer Möglichkeiten ein Verhältnis
loser Kopplung ab, das nur durch weitere Aktualisierungen gebunden werden
kann. Die feste Kopplung ist das, was gegenwärtig (und sei es: als
konkrete Erinnerung oder als Antizipation) realisiert ist. Die lose Kopplung
liegt in den dadurch nicht festgelegten Möglichkeiten des Übergangs
vom einen zum ande ren.
(Ebd., S. 199-200.)
Die Zirkulation kommt dadurch zustande, daß die Form stärker
ist als das mediale Substrat. Sie setzt sich im Bereich der lose gekoppelten
Elemente durch - und dies ohne jede Rücksicht auf Selektionskriterien,
Rationalitätsgesichtspunkte, normative Direktiven oder andere Wertpräferenzen
- vielmehr einfach als strikte Kopplung. Anders als die Theorie des kommunikativen
Handelns von Jürgen Habermas es postuliert, vermeiden wir den Einbau
von Rationalitätsprätentionen in den Begriff der Kommunikation
* und behaupten nur einen Zusammenhang
von Durchsetzungsstärke und zeitlicher Flüchtigkeit der Form.
(* Bei Habermas führt dies dazu, daß
Formen der Kommunikation, die sich dem nicht fügen, trotzdem zugelassen,
aber - anders weiß die Theorie sich dann nicht mehr zu helfen -
abgewertet werden müssen, zum Beispiel als nur »strategisches«
Handeln. Siehe für die volle Exposition: Jürgen Habermas, Theorie
des komfuunikativen Handeins, Frankfurt 1981, und viel Sekundärliteratur.)
Kommunikationsmedien präjudizieren nicht -ebensowenig wie der Begriff
des Systems oder der Begriff der Evolution -in Richtung Rationalität.
Auf dieser elementaren Ebene gilt nur: es geschieht, was geschieht. Andererseits
sind Formen weniger be ständig als das mediale Substrat. Sie erhalten
sich nur über be sondere Vorkehrungen wie Gedächtnis, Schrift,
Buchdruck. Aber selbst dann, wenn eine Form als wichtig bewahrt wird,
und hierfür setzen wir den Begriff der Semantik ein, bleibt die freie
Kapazität des medialen Substrats zu immer neuen Kopp lungen erhalten.
Die ungebundenen (oder kaum gebundenen) Elemente sind massenhaft vorhanden,
Wörter zum Beispiel be liebig oft verwendbar, ohne daß damit
eine knappe Menge von Verwendungsmöglichkeiten abnähme. Allerdings
»kondensie ren« häufige Verwendungen oft auch den Wortsinn,
so daß die Kombinationsfähigkeit, die Art und Reichweite der
Verwen dungsmöglichkeiten, im Laufe des Prozessierens der Differenz
von medialem Substrat und Form, hier also im Laufe der Sprachgeschichte,
Variationen unterliegt.
(Ebd., S. 200-201.)
Schließlich ist zu beachten, daß nicht das mediale
Substrat, sondern nur die Formen im System operativ anschlußfähig
sind. Mit den formlosen, lose gekoppelten Elementen kann das System nichts
anfangen. Das gilt bereits für die Wahrnehmungsmedien. Man sieht
nicht das Licht, sondern die Dinge, und wenn man Licht sieht, dann an
der Form der Dinge. (Genau umgekehrt hatte die ältere
Optik votiert, die Lichtpartikel als Input, als von außen eindringende
Sensationen begriffen hatte. Heute schließt man dagegen aus, daß
Stimuli wahrgenommen werden können.) Man hört nicht die
Luft, sondern Geräusche; und die Luft selbst muß schon ein
Geräusch machen, wenn sie hörbar werden will. Dasselbe gilt
für die Kommunikationsmedien. Auch hier bilden, wenn man auf Sprache
abstellt, nicht schon Wörter sondern erst Sätze einen Sinn,
der in der Kommunikation prozessiert werden kann. (Wir
bestreiten natürlich nicht, daß es Ein-Wort-Sätze, Ausrufe
etc. geben kann. So kann es genügen, »Vorsicht!« zu rufen
und »wieso?« zu antworten.) Neben der zeitlichen gibt
es also auch eine sachliche Asymmetrie in der Unterscheidung loser und
strikter Kopplung; und auch diese Asymmetrie isteine der Bedingungen der
Autopoiesis des Kommunikationssystems Gesellschaft.
(Ebd., S. 201.)
Auf Grund dieser in sich asymmetrischen Form der Unterscheidung
von medialem Substrat und Form prozessieren Kommunikationssysteme Kommunikationen.
Sie lenken damit die Fokussierung von Sinn auf das, was jeweils geschieht
und Anschluß sucht. So kommt es zur Emergenz von Gesellschaft, und
so reproduziert sich die Gesellschaft im Medium ihrer Kommunikation, Mit
diesem komplexer gebauten Begriff ersetzen wir die übliche Vorstellung
eines Übertragungsmediums, dessen Funktion darin besteht, zwischen
unabhängig lebenden Organismen zu »vermitteln«. Auch
der alte Sinn von »communicatio«, der Sinn des Herstellens
von »Gemeinsamkeit« des Erlebens, wird damit aufgegeben oder
doch auf einen Nebeneffekt reduziert. Das folgt aus der oben dargelegten
Auffassung, daß es nicht ausreicht, die Funktion der Kommunikation
in der Erweiterung und Entlastung der kognitiven Fähigkeiten von
Lebewesen zu sehen. Überhaupt ist ja schwer zu sehen, wie Lebewesen,
einschließlich Menschen, in der finsteren Innerlichkeit ihres Bewußtseins
(fast ein Hegel-Zitat; Hegel spricht von der »finsteren
Innerlichkeit des Gedankens«, in: Vorlesungen über die Ästhetik,
Band. I, S. 18 - ohne freilich daraus die Konsequenzen zu ziehen, die
uns vorschweben) irgend etwas gemeinsam haben können. Statt
dessen soll uns der Begriff der Kommunikationsmedien erklären, daß
und wie auf der Grundlage von Kommunikation das Unwahrscheinliche doch
möglich ist: die Autopoiesisdes Kommunikationssystems Gesellschaft.
(Ebd., S. 201-202.)
II. Verbreitungsmedien und Erfolgsmedien. - Die folgenden
Analysen bauen auf einer Unterscheidung auf, die einführend kurz
erläutert werden muß. Die gesellschaftliche Kommunikation bildet
verschiedene Medien/Formen aus, je nachdem, welches Problem zu lösen
ist. Von Verbreitungsmedien wollen wir sprechen, wenn es um die Reichweite
sozialer Redundanz geht. Verbreitungsmedien bestimmen und erweitern den
Empfängerkreis einer Kommunikation. In dem Maße, in dem dieselbe
Information verbreitet wird, wird Information in Redundanz verwandelt.
Redundanz erübrigt Information. Sie kann zur Bestätigung sozialer
Zusammengehörigkeit verwendet werden: Man erzählt schon Bekanntes,
um Solidarität zu dokumentieren. Aber damit ist kein Zugewinn an
Information verbunden. Man kann jeden fragen, der die Information erhalten
hat. Wenn man wiederholt nachfragt, entsteht keine neue Information.
(Ebd., S. 202.)
Die Verbreitung kann mündlich erfolgen in Interaktionen unter
Anwesenden. Schrift erweitert bereits den Empfängerkreis in zunächst
noch kontrollierbarer Form. Mit Zunahme der Schriftbeherrschung kann man
aber bald nicht mehr wissen, wer weche Texte gelesen hat und ihren Inhalt
erinnert. Erst recht wird durch die Erfindung der Druckpresse und dann
nochmals im System der modernen Massenmedien die soziale Redundanz anonymisiert.
Man muß im Zweifel mit Bekanntsein einer verbreiteten Information
rechnen und kann sie nicht nochmals kommunizieren. Jetzt entsteht ein
Bedarf für laufend neue Information, den das System der Massenmedien
befriedigt, das seine eigene Autopoiesis diesem selbsterzeugten Verlust
von Informationen verdankt.
(Ebd., S. 202-203.)
In dem Maße, in dem die Verbreitungsmedien soziale Redundanz
erzeugen, läuft nicht nur die Zeit schneller; es wird auch ungewiß
und schließlich unklärbar, ob mitgeteilte Informationen als
Prämissen für weiteres Verhalten angenommen oder abgelehnt werden.
Es sind zu viele, unübersehbar viele beteiligt, und man kann nicht
mehr feststellen, ob und wozu eine Kommunikation motiviert hatte. Kontroversdiskussionen
darüber finden teilweise in den Massenmedien statt, und deren System
liebt Konflikte: Aber damit kann nicht geklärt, sondern allenfalls
simuliert werden, welche Kommunikationen gesellschaftsweit angenommen
und welche abgelehnt oder schließlich schlichtweg vergessen werden.
(Ebd., S. 203.)
Angesichts dieser Lage kann die Evolution stagnieren oder sie
kann Lösungen für die neuen Probleme entdecken. Zunächst
scheint es nahegelegen zu haben, als Folge der Erfindung von Schrift Religion
zu straffen und verstärkt als homogenisiertes Motivationsmittel einzusetzen.
Damit wird jedoch die Einheitlichkeit, die Kosmologie dieses Motivationsmittels
überspannt. Eine ganz andersartige, mit Religionen nur noch oberflächlich
integrierbare Lösung findet die Gesellschaft schließlich in
der Entwicklung eines neuen Typs von Medien, die wir Erfolgsmedien nennen
wollen, nämlich symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien.
(Ebd., S. 203.)
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien leisten eine neuartige
Verknüpfung von Konditionierung und Motivation. Sie stellen die Kommunikation
in jeweils ihrem Medienbereich, zum Beispiel in der Geldwirtschaft oder
dem Machtgebrauch in politischen Ämtern, auf bestimmte Bedingungen
ein, die die Chancen der Annahme auch im Falle von »unbequemen«
Kommunikationen erhöhen. So gibt man eigene Güter her oder leistet
Dienste, wenn (und nur wenn) dafür bezahlt wird. So folgt man den
Weisungen staatlicher Ämter, weil mit physischer Gewalt gedroht wird
und man davon ausgehen muß, daß diese Drohung in der Gesellschaft
als legitim (zum Beispiel als rechtmäßig) angesehen wird. Mit
Hilfe der Institutionalisierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien
kann also die Schwelle der Nichtakzeptanz von Kommunikation, die sehr
naheliegt, wenn die Kommunikation über den Bereich der Interaktion
unter Anwesenden hinausgreift, hinausgeschoben werden. Auch in der kulturellen
Selbstbeschreibung der Gesellschaft werden diese Erfolgsmedien derart
prominent, daß gar keine Information darüber gesammelt wird,
wieviel Kommunikation dann doch nicht befolgt oder wieviel Information
schlicht vergessen wird. Die Gesellschaft beschreibt sich selbst dann
so, als ob mit durchgängigem, durch Prinzipien, Codes und Programme
gesichertem Konsens zu rechnen sei. So als ob es eine »öffentliche
Meinung« gäbe. Der Rest bleibt in der Form von »pluralistic
ignorance« unbeleuchtet.
(Ebd., S. 203-204.)
Sprache allein legt noch nicht fest, ob auf eine Kommunikation
mit Annahme oder mit Ablehnung reagiert wird. Solange aber Sprache nur
mündlich, also nur in Interaktionen unter Anwesenden ausgeübt
wird, gibt es genug soziale Pressionen, eher Angenehmes als Unangenehmes
zu sagen und die Kommunikation von Ablehnungen zu unterdrücken. Wenn
es nur mündliche Kommunikation gibt, wirkt Sprache zugleich als »intrinsic
persuader« (Parsons). Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
entstehen erst, wenn die gesellschaftliche Evolution diese Schwelle überwunden
hat und Komplexität in größeren räumlichen und zeitlichen
Dimensionen und doch in derselben Gesellschaft entstehen läßt.
Dann muß Kommunikation zunehmend auf noch unbekannte Situationen
eingestellt werden. Die Gesellschaft hilft sich, wenn Evolution ihr hilft,
einerseits mit Systemdifferenzierungen, andererseits mit der Ausbildung
von Spezialmedien der Einschränkung von Kontingenz durch Verknüpfung
von Konditionierung und Motivierung, eben den symbolisch generalisierten
Kommunikationsmedien, wobei die Differenzierung dieser Medien zugleich
die Systemdifferenzierung vorantreibt, nämlich den Anlaß bildet
für die Ausdifferenzierung wichtiger gesellschaftlicher Funktionssysteme.
(Ebd., S. 204-205.)
Wir halten bei diesem knappen Überblick über die Hypothesen,
die die folgenden Untersuchungen leiten werden, nur fest, daß ihre
theoretische Grundlage in der Annahme liegt, daß die Gesellschaft
ein auf der Basis von Kommunikation operativ geschlossenes Sozialsystem
ist und daß deshalb ihre Evolution den Problemen der Autopoiesis
von Kommunikation folgt, die ihrerseits in ihren Bedingungen durch
die Evolution selbst laufend verändert werden. Damit ist ein komplexes
Forschungsprogramm anvisiert, das in den folgenden Abschnitten und in
den anschließenden Kapiteln auf den erforderlichen Umwegen über
Sachfragen der verschiedensten Art eingelöst werden soll.
(Ebd., S. 205.)
III. Sprache. - Das grundlegende Kommunikationsmedium,
das die reguläre, mit Fortsetzung rechnende Autopoiesis der Gesellschaft
garantiert, ist die Sprache. Zwar gibt es durchaus sprachlose Kommunikation
- sei es mit Hilfe von Gesten, sei es als ablesbar an schlichtem Verhalten,
zum Beispiel am Umgang mit Dingen, mag dies nun als Kommunikation gemeint
gewesen sein oder nicht. Man kann sich aber schon fragen, ob es solche
Kommunikation geben, das heißt: ob man einen Unterschied von Mitteilungsverhalten
und Information überhaupt beobachten könnte, wenn es keine Sprache,
also keine Erfahrung mit Sprache gäbe. Außerdem ist interpretierbares
Verhalten immer so situationsspezifisch bestimmt, daß kaum Spielraum
besteht für eine Differenzierung von Medium und Form; genau das leistet
aber die Sprache. Jedenfalls ist die Autopoiesis eines Kommunikationssystems,
die ja reguläre Aussicht auf weitere Kommunikation voraussetzt, ohne
Sprache unmöglich, obgleich sie, wenn er möglicht, sprachlose
Kommunikation zuläßt.
(Ebd., S. 205-206.)
Wenn man nach einem vorsprachlichen Kommunikationsmedium fragt,
das noch nicht sinnkonstituierend gewirkt hat, so kann dies nur in der
Gesamtheit der Verhaltensmöglichkeiten anwesender Individuen gelegen
haben. Dabei wird die Bewegung-im-Raurn eine erhebliche Rolle gespielt
haben. Im Anschluß an George Herbert Mead könnte man auch von
einer rekursiven Sequenz von Gebärden (gestures) sprechen, wobei
nicht der Einzelakt, sondern die Rekursivität (der Anschluß
an Vorheriges) ernergente Effekte auslöst. In solchen, in der Form
von Episoden realisierten Zusammenhängen findet man auch artspezifische,
aber nur sehr begrenzt einsetzbare Signale. Signale sind noch nicht Zeichen,
noch nicht Hinweis auf etwas anderes, sondern nur Auslöser für
»anticipatory reactions« (solche Vorweganpassungen
an eine noch nicht sichtbare Zukunft [die Bäume werfen ihre Blätter
ab, bevor es schneit] funktionieren natürlich nur auf Grund von Regelmäßigkeiten
in den Abläufen der Umwelt - sie eignen sich nicht zur vorübergehenden
Anpassung an vorübergehende Lagen) auf Grund typischer, sich
wiederholender Zusammenhänge gegenwärtiger und künftiger
Ereignisse, die aber nicht als Zusammenhänge erkannt werden. Unter
solchen Bedingungen kann es bereits zur Morphogenesis relativ komplexer
sozialer Ordnungen kommen, allein unter der Voraussetzung, daß reaktive
Verhaltensmuster auf ihre eigenen Resultate wiederangewandt werden. Es
muß nicht vorausgesetzt werden, daß die Beteiligten die da
durch entstehenden Strukturen erkennen und auf sie reagieren können.
Entsprechend beschränkt muß das Formbildungspotential gewesen
sein, das aber offensichtlich ausreicht, um Rangordnungen und individuelle
Partnerpräferenzen einzurichten. Im vorsprachlichen Bereich, ja selbst
im Verhältnis von Men chen und Tieren, findet man die wohl wichtigste
Vorbereitung für die Evolution von Sprache: das Wahrnehmen des Wahrnehmens
und insbesondere: das Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens. Das sind selbst
in entwickelten Gesellschaften, selbst heute nach wie vor unentbehrliche
Formen der Sozialität, vor allem im Geschlechterverhältnis.
Sozialität auf dieser Ebene nutzt die Komplexität und die Fokussierfähigkeit
des Wahrnehmens und erzeugt eine Gegenwart - fast ohne Zukunft. Selbst
wenn man dies als gleichsam präprähistorische Gegebenheit und
damit Adaptierung des sozialen Zusammenlebens an diese Möglichkeit
unterstellen kann, wird es bei diesem Sozialzustand keine Metakommunikation,
keine auf Kommunikation bezogene Kommunikation gegeben haben, zum Beispiel
keine Bestätigung des Empfangs einer Mitteilung, keine Wiederholung
derselben Mitteilung, kein Aufbau sequentieller, »punktierter«
Komplexität, bei der die Kommunikation voraussetzt, daß sie
mit anderen Inhalten bereits erfolgreich operiert hatte. Wie weit man
unter diesen Bedingungen schon von einer autopoietischen Schließung
eines gegenüber dem Lebensvollzug eigen ständigen Sozialsystems
sprechen kann, das zum Beispiel den Tod ganzer Generationen überdauert,
müssen wir offen lassen, und ebenso die Frage, ob und wie weit man
schon eine »Sprache« im Sinne Maturanas annehmen kann, also
eine Koordination der Koordination des Verhaltens einzeln lebender Lebewesen.
(Im übrigen setzt Maturana bei der Beschreibung
rekursiver Interaktionen zwischen Organismen als ».Sprache«
einen Beobachter voraus, der feststellen kann, daß das Verhalten
so gewählt wird, daß es sich einer Koordination fügt.
Siehe etwa Humberto R. Maturana, The Biological Foundations of Self-Consciousness
and the Physical Domain of Existence, in: Niklas Luhmann et al., Beobachter:
Konvergenz der Erkenntnistheorien?, München 1990, S. 47-117 [92
ff.]. Der Begriff der Sprache In dieser Fassung liegt in der Nähe
des sozialpsychologisch-soziologischen Begriffs der doppelten Kontingenz.)
In jedem Falle ist Sprache in dem uns geläufigen Sinne mit ihrer
eindeutigen Bevorzugung akustischer und, darauf auf bauend, optischer
Medien eine historische Sonderkonstruktion der Evolution, die auf einer
scharfen Auswahl ihrer Mittel beruht. (Disziplingeschichtlich
würde daraus folgen, daß die Linguistik ihr Forschungsprogramm
nicht nur an den Sprachstrukturen ausrichten kann, sondern sich um Erweiterung
ihrer Theoriegrundlagen, etwa in Richtung auf Bezugspunkte einer funktionalen
Analyse oder in Richtung auf eine allgemeine, Sprache als Sonderfall einschließende
Semiologie bemühen müßte.)
(Ebd., S. 206-208.)
Wir können hier jedoch keine Untersuchung über die Evolution
von Sprache anstellen, sondern unterstellen nur, daß wie bei jeder
Evolution autopoietischer Systeme eine Art Hilfskonstruktion den take
off ermöglicht hat. Vermutlich hat dabei die Verwendung von Gesten
und Lauten als Zeichen eine Rolle gespielt. Zeichen sind ebenfalls Formen,
das heißt markierte Unterscheidungen. Sie unterscheiden, folgt man
Saussure, das Be zeichnende (signifiant) vom Bezeichneten (signifié).
In der Form des Zeichens, das heißt im Verhältnis von Bezeichnendem
zum Bezeichneten, gibt es Referenzen: Das Bezeichnende bezeichnet das
Bezeichnete. Die Form selbst (und nur sie sollte man Zeichen nennen) hat
dagegen keine Referenz; sie fungiert nur als Unterscheidung und nur dann,
wenn sie faktisch als solche benutzt wird.
(Ebd., S. 208.)
Zeichen sind mithin Strukturen für (wiederholbare) Operationen,
die keinen Kontakt zur AußenweIt erfordern. Sie dienen auch nicht,
wie oft angenommen, der »Repräsentation« von Sachverhalten
der Außenwelt im Inneren des Systems. Vielmehr ist die Unterscheidung
von Bezeichnendem und Bezeichnetem eine interne Unterscheidung, die nicht
voraussetzt, daß es das in der Außenwelt gibt, was bezeichnet
wird. Ihre Besonderheit liegt vielmehr in der Isolierung dieser
Unterscheidung, mit der erreicht wird, daß das Verhältnis von
Bezeichnendem und Bezeichnetem unabhängig vom Verwendungskontext
stabil bleibt. (In Anschluß an Saussure (l'arbitraire
du signe) spricht man üblicherweise von Willkür der Zeichenfestlegung.
Das ist jedoch mißverständlich. Siehe dazu die Kritik von Roman
Jakobson, Zeichen und System der Sprache, 1962, zit. nach dem Abdruck
in ders., Semiotik: Ausgewählte Texte 1919-1982, Frankfurt
1988, S. 427-436. Willkür gibt es nur im Verhältnis von Bezeichnendem
und Bezeichnetem. Sie ist Bedingung der lsoation des Zeichengebrauchs.
Die Zeichen selbst [als Form dieser Unterscheidung] sind jedoch abhängig
von Tradition und von hoher Redundanz in ihrer Anschlußfähigkeit.
Wenn sie von Moment zu Moment neugeschaffen werden müßten,
wären sie weder lernbar noch benutzbar. Willkür und Tradition
schließen einander nicht aus, im Gegenteil - sie bedingen sich wechselseitig
- wie Medium und Form.) Vom Mitspielen anderer Sinnverweisungen,
von der Rücksicht auf andere Zusammenhänge (vermittelt zum Beispiel
durch die Materialität des Zeichenträgers) wird abgesehen. Ähnlich
wie bei der Technik ist also auch bei der kulturellen Erfindung von Zeichen
das Weltverhältnis der Ausdifferenzierung, der Isolation und der
dadurch bedingten Wiederholbarkeit entscheidend. Das erklärt auch
die Möglichkeit von Fehlern. Kleinste Abweichungen oder Verwechslungen
können Zeichen außer Funktion setzen. (Man sagt statt Zeichen
Weichen oder Zeiten oder Ziehen - und schon ist nicht mehr zu verstehen,
was gemeint ist). Die Erzeugung von Redundanzen, von Beschränkungen
des Überraschungseffektes in der Zeichenverwendung hängt also
an der Genauigkeit des Opierens bekannter Muster. Das aber ist, ebenso
wie die Isolation selbst, nur durch willkürliche Festlegung der Zeichen
erreichbar.
(Ebd., S. 208-209.)
Die Evolution einer stereotypisierten Zeichenverwendung ist jedoch
nur eine Vorbedingung der Evolution von Sprache. Sie läßt wichtige
Eigenarten der Sprache unerklärt, und zwar vor allem das Entscheidende:
die operative Schließung des Sprache verwendenden Kommunikationssystems.
Die nur episodenhaft realisierbare Rekursivität von Gebärdenabfolgen
wird zur rekursiven Zeichenverwendung fortentwickelt, womit eine Welt
entsteht, auf die man sich immer wieder und auch nach längeren Unterbrechungen
erneut beziehen kann. Die Vorbedingungen und Anlässe, die in der
Evolution der Form »Zeichen« liegen, müssen deshalb von
dem Zustandekommen der operativen Schließung eines über Sprache
verfügenden Kommunikationssystems sorgfältig unterschieden werden.
Durch Sprache wird die Selbstreferenz von Sinn generalisiert, und dies
mit Hilfe von Zeichen, die selbst diese Generalisierung sind, also nicht
im Hinweis auf etwas anderes bestehen.
(Ebd., S. 209-210.)
Zeichen geben in einzelnen Situationen, die dies verständlich
sein ließen, mag also der Anlaß gewesen sein und die Möglichkeit
häufiger Wiederholung geboten haben, aber im Ergebnis ist etwas ganz
anderes entstanden. Die Unwahrscheinlichkeitsschwelle sehen wir in der
Frage, wie jemand überhaupt dazu kommt, einen anderen unter dem Gesichtspunkt
einer Differenz von Information und Mitteilungsverhalten zu beobachten.
(In der Semiotik von Charles S. Peirce steht an
dieser Stelle der formalere, schwer zu interpretierende Begriff »interpretant«.)
Wir gehen also nicht von der Sprechhandlung aus, die ja nur vorkommt,
wenn man erwarten kann, daß sie erwartet und verstanden wird, sondern
von der Situation des Mitteilungsempfängers, also dessen, der den
Mitteilenden beobachtet und ihm die Mitteilung, aber nicht die Information,
zurechnet. Der Mitteilungsempfänger muß die Mitteilung als
Bezeichnung einer Information, also beides zusammen als Zeichen (als Form
der Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem) beobachten (obwohl
ihm auch andere, zum Beispiel rein wahrnehmungsmäßige, Möglichkeiten
der Beobachtung zur Verfügung stehen). Dies setzt nicht unbedingt
Sprache voraus. So sieht man, daß die Hausfrau tapfer vom Angebrannten
ißt, um mitzuteilen (oder so vermutet man), daß man es sehr
wohl noch essen könne. Dabei bleibt der Tatbestand der Kommunikation
jedoch unscharf und mehrdeutig, und der Mitteilende kann, zur Rede gestellt,
leugnen, eine Mitteflung beabsichtigt zu haben; und eben deshalb wählt
er nonverbale Kommunikation. Das heißt aber auch, daß es schwierig
ist, an seine Mitteilung eine andere anzuschließen, also ein Kommunikationssystem
zu bilden. Dies wird durch Sprache anders. Während vor der Entwicklung
von Sprache Lebewesen strukturell gekoppelt lebten und dadurch einer Ko-Evolution
ausgesetzt waren, ermöglicht Sprache zusätzlich operative Kopplungen,
die von den Teilnehmern reflexiv kontrolliert werden können. Das
vermehrt die Möglichkeiten, sich bestimmten Umwelten auszusetzen
oder sich ihnen zu entziehen, und bietet der Selbstorganisation der Teilnehmer
die Chance, sich selbst von dem, was kommuniziert wird, zu distanzieren.
Man bleibt wahrnehmbar, aber faßbar nur in dem, was man überlegt
zur sprachlichen Kommunikation beiträgt. Das hat zur Folge, daß
sich mit der Normalisierung und rekursiven Festigung dieser Kopplungsoperationen
ein eigenes autopoietisches System sprachlicher Kommunikation bildet,
das selbstdeterminierend operiert und zugleich mit reflektierter Teilnahme
von Individuen voll kompatibel ist. Es kommt jetzt zu einer Ko-Evolution
von Individuen und Gesellschaft, die etwaige ko-evolutive Verhältnisse
zwischen Individuen (zum Beispiel Mutter/Kind-Beziehungen) überdeterminiert.
(Ebd., S. 210-211.)
Auch auf der Ebene der Wahrnehmungsmedien kommt
es zu schwerwiegenden Änderungen. Sprechen ist ein auf Kommunikation
spezialisiertes, für diese Funktion ausdifferenziertes und dadurch
für die Wahrnehmung sehr auffälliges Verhalten. Im akustischen
(und bei Schrift: im optischen) Wahrnehmungsmedium ist die Sprache so
formprägnant ausdifferenziert, daß, wenn sie benutzt wird,
darüber kein Zweifel bestehen kann und die entsprechenden Wahrnehmungen
anderer unterstellt werden können. Jeder Teilnehmer weiß von
sich selbst und vom anderen, daß sprachliche Sinnfixierungen kontingent
gewählt werden (womit sich laufend bestätigt, daß es sich
»nur« um Zeichen handelt). Dem, was akustisch oder optisch
wahrgenommen und so unterschieden werden kann, wird eine zweite Selektionsweise
aufgepfropft. Schon das »Material« der Sprache ist geformt
und nur so wahrnehmbar; aber es wird zusätzlich mit Verweisungen
besetzt, die umgebungsunabhängig fungieren und deshalb wiederholten
Gebrauch ermöglichen. Sprachzeichen sind und bleiben daher stets
auch anders möglich. Sie gewinnen aber zugleich eine Form, die Rückfragen
und, wenn Schrift benutzt wird, Textinterpretationen ermöglicht.
Der Abschluß kommunikativer Episoden kann damit aufgeschoben, die
Sequenz von elementaren Aussagefolgen auf sich selbst zurückgeleitet
werden. (Damit ist zugleich gesagt, daß Sinnklärungen
und Interpretationen keine andere »Qualität« oder »Sinnebene«
des Systems in Anspruch nehmen, sondern ebenso prozessiert werden wie
alles, was überhaupt kommuniziert wird, nämlich als Sequenz
kommunikativer Operationen. Daß psychische Systeme sich dabei zeitweilig
unkommunikativ und nachdenkend verhalten können, ist damit natürlich
nicht bestritten.) Der Sprachprozeß wird dadurch in seiner
Selbstdetermination unabhängig von den Wahrnehmungen der Beteiligten,
die er voraussetzt. Das System schirmt sich gegen das Rauschen der Wahrnehmungen
durch eigene Rekursionen ab und läßt nur Irritationen zu, mit
denen es eigensprachlich umgehen kann. In sprachlicher Fassung reproduziert
die Kommunikation das, was sie für ihre Autokatalyse braucht, selber,
nämlich doppelte Kontingenz; und sie erneuert damit, was immer das
Anfangen ermöglicht hatte, ständig ihre eigenen Voraussetzungen.
Weder der Sprecher noch der Hörer kann den Tatbestand der Kommunikation
als solchen leugnen. Man kann allenfalls mißverstehen oder schwer
verstehen oder interpretieren oder sonstwie nachträglich über
die Kommunikation kommunizieren. Die Probleme der Kommunikation werden
in die Kommunikation zurückgeleitet. Das System schließt sich.
Eine normalerweise entropische Entwicklung von Kommunikationsansätzen
in Richtung Nichtkommunikation wird durch Sprache umgedreht und in die
Richtung des Aufbaus komplizierter, interpretationsfähiger, sich
auf bereits Gesagtes stützender Kommunikationsweisen gelenkt. Die
an sich unwahrscheinliche Autopoiesis eines Kommunikationssystems wird
auf diese Weise wahrscheinlich. Aber sie bewahrt zugleich ihre Unwahrscheinlichkeit
in der Weise, daß jede bestimmte Aussage angesichts der Unzahl anderer
Möglichkeiten extrem unwahrscheinlich wird. Die deutliche Außenabgrenzung
des Systems führt zum Aufbau strukturierter Komplexität, die
nun jedes bestimmte Einzelereignis im System unwahrscheinlich macht. Aber
genau darin kann das System sich selber helfen, indem es rekursiv prozessiert
und für eine Einschränkung der konkret gegebenen Wahlmöglichkeiten
sorgt. (Ebd., S. 211-212.)
Sprache ist an den Hörsinn gebunden, und das erzwingt, anders
als das Sehen, zeitliche Sequenzierung der Kommunikation, also Herstellung
einer Ordnung im Nacheinander. Die jeweils anklingenden Unterscheidungen
müssen einander im Nacheinander Sinn geben; ihre Rekursionen benötigen
Zeit und können sich nicht aus der gleichzeitig gesehenen Welt ergeben
- und dies auch dann nicht, wenn man jemanden sprechen sieht. Entsprechend
erfordert Sprache eine zeitlich flexible Organisation, die mögliche
Sequenzen nicht schon strukturell festlegt; das heißt: eine Grammatik.
Auch eine Taubstummensprache wird in diesen zeitlichen Duktus eingepaßt,
und selbstverständlich auch der Umgang mit Schrift. Das Medium der
Akustik erfordert deshalb von vornherein höhere Abstraktionen und
deswegen auch entschiedenere Bedeutungsfestlegungen der einzelnen Komponenten.
Nur auf diese Weise wird Wiederholbarkeit möglich, und nur so kann
trotz Ungleichzeitigkeit und trotz einer Ungleichzeitigkeit, die eine
andere ist als die der Bewegungen in der Welt draußen, ein Sinnzusammenhang
produziert, eine zweite Welt der Kommunikation der ersten Welt des Gesehenen
überlagert werden.
(Ebd., S. 213.)
Die Sprache hat mithin eine ganz eigentümliche Form. Als
Form mit zwei Seiten besteht sie in der Unterscheidung von Laut und Sinn.
Wer diese Unterscheidung nicht handhaben kann, kann nicht sprechen. Dabei
besteht, wie immer bei Formen in unserem Verständnis, ein kondensierter
Verweisungszusammenhang der beiden Seiten, so daß der Laut nicht
der Sinn ist, aber gleich wohl mit diesem Nichtsein bestimmt, über
welchen Sinn jeweils gesprochen wird; so wie umgekehrt der Sinn nicht
der Laut ist, aber bestimmt, welcher Laut jeweils zu wählen ist,
wenn über genau diesen Sinn gesprochen werden soll. Sprache ist,
hegelisch gesprochen, durch eine Unterscheidung-in-sich bestimmt und,
wie wir sagen können, durch die Spezifik genau dieser Unterscheidung
ausdifferenziert.
(Ebd., S. 213.)
Sprachliche Kommunikation ist also zunächst: Prozessieren
von Sinn im Medium der Lautlichkeit. Von Medium ist hier nicht deshalb
die Rede, weil Laute Formen im Wahrnehmungsmedium des Bewußtseins
sind, sondern deshalb, weil sie zu wiederholt verwendbaren Wörtern
(zunächst Morphemen; HB) kondensiert
sind und als solche dann lose gekoppelt zur Verfügung stehen. Das
wiederum setzt Grammatik und vielleicht die Chomskyschen Tiefenstrukturen
voraus (*), die sicherstellen, daß
genügend Spielraum für die Bildung von Sätzen besteht und
es gleichwohl nicht beliebig zugehen kann, sondern genügend Redundanzen
für Rekursionen, für rasches Verstehen und vor allem für
rasches Sprachlernen vorhanden sind. (* Hiermit
wollen wir uns freilich nicht auf die weitere These Chomskys einlassen,
daß es sich um angeborene Strukturen handeln müsse,
weil anders das Tempo des Spracherwerbs nicht zu erklären sei. Siehe
Noam Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, dt. Übers. Frankfurt
1969, insb. S. 68 ff.. Was Chomsky durch Angeborensein zu erklären
versucht, soll hier vielmehr durch strukturelle Kopplung erklärt
werden und durch die dadurch bewirkte Intensivierung von (herkunftsbestimmten)
Irritationen und Irritationsverarbeitungen. )
(Ebd., S. 213-214.)
Um selber eine spracheigene Differenz von Medium und Form einrichten
zu können, muß das mediale Substrat der Sprache, die Differenz
von Laut und Sinn, unterspezifiziert sein. Ohne Unterspezifikation
wäre nichts mehr zu sagen, weil allesimmer schon gesagt ist. Dies
Problem wird durch die Differenzierung von Wörtern
(zunächst Morphemen; HB) und Sätzen gelöst. Auch
Wörter (zunächst Morpheme; HB)
sind zwar Lautkonstellationen mit Sinn; aber sie legen noch nicht fest,
zu welchen Sätzen sie kombiniert werden. Erst über diese Differenz
vermittelt die Sprache der Kommunikation die Fähigkeit zu vorübergehender
Anpassung an vorübergehende Lagen; und dann auch die Fähigkeit
zu vorübergehenden Sinnkonstruktionen, die man später bestätigen
oder widerrufen kann. Und erst so kann man damit rechnen, daß Kommunikation
an Kommunikation anschließen kann und immer etwas zu sagen bleibt.
(Ebd., S. 214.)
Bloße Wahrnehmungsmedien sind an die Gleichzeitigkeit des
Wahrnehmens und des Wahrgenommenen gebunden. Das gilt auch, wenn man das
Wahrnehmen anderer wahrnimmt; und es gilt wohl auch für die einfachen
Formen der Wahrnehmung von Zeigezeichen. Die operativ bedingte Gleichzeitigkeit
der Beobachtung mit der Welt, die beobachtet wird, kann nicht durchbrochen
werden, und das gilt auch, wenn der Sinn (wie beim Hören) sich erst
aus einer Sequenzierung ergibt. Der Zukunftsbezug des Wahrnehmens hängt
davon ab, daß die Umwelt durch ihre Konstanten hinreichend garantiert,
daß eine Jetzt-Reaktion adäquat auf Zukunft vorbereitet. Erst
Sprache ermöglicht eine Durchbrechung dieser Gleichzeitigkeitsprämisse
und eine vor bereitende Synchronisation von zeitdistanten Ereignissen
- und dies zunächst unabhängig davon, ob die Sprache über
Formen verfügt, mit denen man den Unterschied von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft (zum Beispiel durch Flexion von Verben) zum Ausdruck
bringen kann. Sprache ermöglicht es ja, vorauszusehen oder doch einzuschränken,
was später gesagt werden kann. Zunächst geht es einfach um eine
zeitliche Abkopplung des rekursiv operierenden Sprachverlaufs von den
Zeitsequenzen der Umwelt, also um die Ausdifferenzierung einer Eigenzeit
des Kommunikationssystems, die es ermöglicht, den im System ablaufenden
Kommunikationsprozeß von Ereignissequenzen der Umwelt zu unterscheiden.
Erst wenn dies garantiert ist, können Sprachformen entstehen, die
Zeitverhältnisse zum Ausdruck bringen, zum Beispiel in der einfachen
Form einer wenn/dann-Konditionalisierung. Die Sprache kann, in mehr oder
weniger elaborierter Form, auch etwas bezeichnen, was nicht mehr oder
noch nicht wahrgenommen werden kann. Und erst das erlaubt eine Problematisierung
von Synchronisation, die dann ein Lernen über Versuch und Irrtum
ermöglicht.
(Ebd., S. 214-215.)
Erst diese Ausdifferenzierung einer Eigenzeit sprachlicher Kommunikation
führt zu der Errungenschaft, die man für den wichtigsten evolutionären
Zugewinn sprachlicher Kommunikation halten muß. Mit Hilfe von Sprache
kann etwas gesagt werden, was noch nie gesagt worden ist. »Elvira
ist ein Engel«. Anders als bei Gesten und anders als bei einfachem
Verhalten oder beim Gebrauch von Dingen versteht man den Satz, auch wenn
man ihn noch nie gehört hat. (Man kann sich
das an den Schwierigkeiten verdeutlichen, die die Künste überwinden
mußten, um die Möglichkeit zu gewinnen, »neue«
Kunstwerke zu schaffen und in ihrer Originalität verständlich
zu machen. Daß nur originale Kunstwerke als Kunstwerke zählen
und daß man, um sie schätzen zu können, erkennen muß,
worin sie von der Vorgängerkunst, aber auch von der wahrnehmbaren
Natur abweichen, stellt extrem hohe Anforderungen an ein daraufhin geschultes
Beobachten. Dazu gehört dann auch ein Unterbinden des Vergessens,
weil erst das Kennen der Vorgängerkunst ein Erkennen des Neuheitswertes
ermög licht. Bei sprachlicher Kommunikation ist diese Möglichkeit
von vorn herein eingebaut.) Genau genommen kommt es nicht einmal
darauf an, ob der Satz ein weltgeschichtliches Original und noch nie gesagt
worden ist. Entscheidend ist, daß es nicht nötig ist, sich
an Sinn und Kontext früheren Gebrauchs zu erinnern. Die Sprache erleichtert,
anders gesagt, das Vergessen. Sie entlastet das soziale Gedächtnis
und dient insofern dem ständigen Freimachen von Kapazität für
neue Kommunikationen.
(Ebd., S. 215-216.)
Selbstverständlich ist diese Kapazität für neuen,
noch nie benutzten Sinn nicht schrankenlos zu haben. Sie erzeugt ihrerseits
Kontexte, von denen sie sich abhängig macht. Aber: wie wenig auch
immer die Möglichkeit, nie Gehörtes zu sagen, in den Frühphasen
der Evolution genutzt worden sein mag: sie stellt ein evolutionäres
Potential zur Verfügung, das mehr und mehr ausgenutzt werden kann,
wenn die Komplexität und die Differenzierung der Gesellschaft zunehmen
und damit Sonderbedingungen für Erkennen und Verstehen von Neuheit
schaffen.
(Ebd., S. 216.)
Das alles findet man bereits unter der Bedingung einer nur laut
lichen (oralen) Verwendung von Sprache voll entwickelt. Unter den Bedingungen
heutiger Schriftkulturen kann man sich nur schwer in Situationen einfühlen,
in denen Sprache nur das war. Laute sind ja extrem instabile Elemente.
Sie reichen außerdem räumlich nicht sehr weit, setzen also
Anwesenheit der Sprecher und Hörer voraus. Raum und Zeit müssen
in kompakten, situativen Formen präsent sein, um gesprochene Sprache
zu ermöglichen. Geformte Sätze lösen sich, sobald sie ausgesprochen
sind, ins Nicht-mehr-Hörbare auf. Systembildung auf der Basis von
Kommunikation setzt deshalb Vorsorge für Wiederverwendbarkeit, setzt
mit anderen Worten Gedächtnis voraus. (Ebd., S. 216.)
Es liegt nahe, und in gewisser Weise trifft es auch zu, daß
Gesellschaften, die auf lautliche Kommunikation angewiesen sind, damit
auch von rein psychischen Gedächtnisleistungen abhängig bleiben.
Aber das erklärt nicht genug und gilt im übrigen ja in noch
viel stärkerem Maße für Schriftkulturen, die nur funktionieren,
wenn alle Teilnehmer sich laufend daran erinnern können, wie geschrieben
und gelesen wird. Ein soziales Gedächtnis muß sich außerhalb
von (was nicht heißt: unabhängig von) psychischen Gedächthisleistungen
bilden. Es besteht denn auch allein in der Verzögerung von
Wiederverwendungen der Wörter (zunächst
Morpheme; HB) und des mit ihrer Hilfe gebildeten Aussagesinns.
Psychische Systeme werden gleichsam nur als Zwischenspeicher benutzt.
Entscheidend für das soziale Gedächtnis ist das Abrufen von
Gedächtnisleistungen in späteren sozialen Situationen, wobei
das psychische Substrat über langere Zeiträume hinweg durchaus
wechseln kann. (In welchem Sinne es ein darüber
hinausgehendes »kollektives Gedächtnis« geben kann, wird
seit einiger Zelt gefragt - und bezweifelt. .... Dabei spielt auch die
Frage eine Rolle, ob Gedächtnis für wahlfreien Zugriff zur Verfügung
steht [wie im Falle von Schrift] oder nur in der Form von festgelegten
Sequenzen individuelle Reproduktionen ermöglicht [wie im Falle der
Erzähler und Sänger].) Wer die Vorteile verstehen will,
die in der Erfindung von Schrift liegen, muß sich zunächst
den vorausliegenden Mechanismus klar machen, der alle Gedächtnisleistungen
über die Zeitform der Verzögerung erbringen muß.
(Ebd., S. 216-217.)
Daß für distinkte lautliche Wahrnehmungsmöglichkeiten
und deren Reaktivierbarkeit im Prozeß späterer Kommunikation
gesorgt ist, erklärt aber noch nicht, wie dieSprache ihre rekursive
Anwendung organisieren, wie sie Kommunikation ermöglichen kann. Die
alteuropäische Zeichen-Theorie hatte hier mit Außenbeziehungen
argumentiert. Sie hatte mit einer die Sprachgemeinschaft der Menschen
haltenden Welt gerechnet und der Sprache repräsentationale Funktion
zugesprochen. Namen erkennen und Namen geben setzte danach eine Kenntnis
der Natur voraus. (Siehe die Diskussion in Platons
Kratylos, 292-297.) Wenn dies aufgegeben wird - und die
neuere Linguistik hat es aufgegeben: was garantiert, wenn nicht die Welt,
die Haltbarkeit der Sprache?
(Ebd., S. 217.)
Für eine Auflösung dieses Rätsels könnte sich
der aus der mathematischen Logik stammende Begriff des »Eigenverhaltens«
eignen. (Siehe [im Anschluß an David Hilbert]
Heinz von Foerster, Objects: Token for (Eigen-) Behaviors, in ders.,
Observing Systems, Seaside Cal., 1981, S. 274-285. Hier geht es
allerdings nicht um Sprache, sondern um Errechnen der ldentilät von
Objekten unter Wiederverwendung der Resultate bereits erfolgter Rechnungen.
Eine Anwendung auf Sprache, die sich geradezu aufdrängt, ist mir
nicht bekannt.) Er bezeichnet eine im rekursiven Verfahren der
Anwendung des Verfahrens auf die Resultate des Verfahrens sich einstellende
Stabilität. (Bei der Übernahme des Begriffs
in die Theorie empirischer Systeme ist allerdings zu beachten, daß
Rekursivität dann nicht mehr streng exklusiv verstanden werden kann.
Man muß statt dessen mit der operativen Geschlossenheit des Systems
argumentieren.) (Ebd., S. 217-218.)
Sprache entsteht durch Wiederverwendung von Lauten bzw. Lautgruppen.
Oder genauer gesagt: sie erzeugt irn Duktus der Wiederverwendung einerseits
die Identität von Wörtern (zunächst
von Morphemen; HB) , sie kondensiert spracheigene Identitäten:
und andererseits konfirmiert sie im gleichen Zuge diese Kondensate in
immer neuen Situationen, sie generalisiert. Dieser Prozeß der Sprachbildung
führt mithin zur Ausdifferenzierung eines Eigenverhaltens des Kommunikationssystems
und sekundär dann auch zu einer sprachabhängigen Ordnung der
Wahrnehmungsleistungen des Einzelbewußtseins.
(Ebd., S. 218.)
Dabei gelingt diese Wiederverwendung nur, wenn die Wörter
nicht mit den Dingen verwechselt werden - so sehr man zunächst immer
mit der Hilfsannahme einer geheimen Verwandtschaft von Wörtern und
Dingen und eines entsprechen den Einflußes der Sprache auf die Dinge
gearbeitet hat. Es fällt ja auf, daß Sprache nur funktioniert,
wenn durchschaut wird und durchschaut wird, daß durchschaut wird,
daß die Wörter nicht die Gegenstände der Sachwelt
sind, sondern sie nur bezeichnen. Dadurch entsteht eine neue, eine
emergente Differenz, nämlich die von realer Realität und semiotischer
Realität. (Statt von semiotischer Realität
könnten wir auch von imaginärer, imaginierender, konstruierender,
konstituierender usw. Realität sprechen.) Erst dann kann es
überhaupt eine reale Welt geben, weil es erst dann eine Position
geben kann, von der aus die Realität als Realität bezeichnet,
das heißt unterschieden werden kann. Das bedeutet keineswegs, daß
die Realität eine bloße Fiktion ist und daß sie, wie
man gemeint hatte, »in Wirklichkeit gar nicht existiert«.
Aber es bedeutet, daß man diese Unterscheidung von realer Realität
und semiotischer Realität in die Welt einführen muß, damit
überhaupt etwas - und sei es die semiotische Realität - als
real bezeichnet werden kann.
(Ebd., S. 218-219.)
Aber diese Unterscheidung, die der Welt erst ihre Härte,
ihre Schicksalhaftigkeit, auch ihre Unzulänglichkeit verleiht, muß
ihrerseits erzeugt werden. Sie ist nicht allein dadurch gegeben, daß
sie als transzendentale Bedingung der Möglichkeit in Anspruch genommen
wird. Insofern folgen wir dem »linguistic turn«, der
das transzendentale Subjekt durch Sprache, aber das heißt jetzt:
durch Gesellschaft ersetzt. (Vorgezeichnet findet
man ein solches Programm bereits bei Max Adler, aber ohne zureichend ausgearbeitete
Gesellschaftstheorie. Siehe Max Adler, Das Soziologische in Kants Erkenntnistheorie:
Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Naturalismus und Kritizismus,
1924; ders., Kant und der Marxismus: Gesammelte Aufsätze zur Erkenntniskritik
und Theorie des Sozialen, 1925; ders., Das Rätsel der Gesellschaft:
Zur erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialwissenschaften, 1925.
Und, wenn es schon um Genealogie geht, wird man auch Wittgensteins Tractatus
nennen müssen.) Im Eigenverhalten des Kommunikationssystems
Gesellschaft wird jener imaginäre Raum von Bedeutungen stabilisiert,
der im rekursiven Anwenden von Kommunikation auf Kommunikation nicht zerstört,
sondern etabliert wird; und dies gerade dank seines Eigenwertes, also
durch die Erfahrung, daß gerade das Durchschauen des Durchschauens
die Ergebnisse liefert, die eine Fortsetzung des rekursiven Kommunizierens,
also die Autopoiesis der Gesellschaft ermöglichen. Das muß
nicht gelingen. Aber Systeme dieser Art entstehen und evoluieren nur,
wenn es gelingt. Man könnte daher auch sagen, daß Sprache in
einer Art self-fulfilling prophecy entsteht, - der Begriff hier
allerdings nicht im klassischen Sinne von Merton gemeint, also nicht als
bloßes Methodenproblem der empirischen Sozialforschung, sondern
als konstitutiv für Gesellschaft schlechthin. (Ebd., S. 219.)
Mit Hilfe dessen, was schon Form ist, nämlich mit Hilfe der
Wörter kann ein neues mediales Substrat gebildet werden - eine sehr
große, nur lose gekoppelte Menge solcher Wörter, die dann ihrerseits
zu strikt gekoppelten Formen, nämlich Sätzen, verknüpft
werden, wobei in der jeweiligen Kopplung das mediale Substrat nicht verbraucht,
sondern durch Gebrauch jeweils erneuert wird. Jeder Satz besteht mithin
aus beliebig wiederverwendbaren Komponenten, wobei die laufende Satzbildung
den Wortbestand einer Sprache regeneriert, Wortsinn kondensiert und konfirmiert,
also anreichert, aber auch nie wiedergebrauchte Wörter dem Vergessen
überläßt. Nur Sätze sind im rekursiven Netzwerk sprachlicher
Kommunikation bezugsfähig, sie können mit vage vorgestellter
Wortgestalt antizipiert und als fixierter Sinn erinnert werden. Sie können
zitiert, sinngemäß kolportiert, bestätigt oder auch widerrufen
werden; und sie transportieren in diesem Sinne die Autopoiesis des Systems
durch Kopplung/Entkopplung des Wortbestandes. Sie bilden eine emergente
Ebene der kommunikativen Konstitution von Sinn, und diese Emergenz ist
nichts anderes als die Autopoiesis der sprachlichen Kommunikation, die
sich ihr eigenes mediales Substrat schafft.
(Ebd., S. 219-220.)
Erst für diese Funktion werden die eigentümlichen Sprach
strukturen geschaffen. mit denen sich die Fachleute für Sprache im
Detail beschäftigen, die aber als latente Strukturen fungieren und
selbst nicht Gegenstand der Kommunikation sind. Fragt man nach diesen
Strukturen der Sprache, wird normalerweise auf Beschränkungen der
Verwendung von (zunächst Phonemen, dann Morphemen;
HB) Wörtern, auf Syntax, Grammatik und dergleichen verwiesen.
(Daß diese Strukturen sich ihrerseits evolutionär
verändern [zum Beispiel die Einschmelzung des griechischen Aorist
in eine der Formen lateinischer Perfektbildung mit Erhaltung des akustisch
auffälligen »s«], kann hier nicht näher behandelt
werden.) Auch die entsprechenden Tiefenstrukturen ergeben sich
aus dem Zeitdruck der Verwendung von Sprache, einschließlich dem
Zeitdruck des sozialen Lernens des Sprechens der nachwachsenden Generationen.
(Chomsky hatte bekanntlich die Theorie solcher Tiefenstrukturen
im Hinblick auf angeborene Anlagen zum Sprachlernen entwickelt und damit
das Tempo des Sprachlernens zu erklären versucht. Die Kurzcharakterisierung
im Text geht von der umgekehrten Annahme aus: daß das Erfordernis,
im Generationsaustausch rasch lernbar zu sein, ein »constraint«
in der Evolution von Sprache gewesen sein muß und daß sich
deshalb nur solche Strukturen halten, die dies ermöglichen - was
immer an neurophysiologischen Gegebenheiten vorliegt. Anders gesagt: es
kann nur Sprachen geben, deren Selbstorganisation genügend Redundanz
aufweist, um rasche Kommunikation und rasches Sprachlernen zu ermöglichen.)
(Ebd., S. 220.)
Es ist leicht zu sehen, daß diese kondensierte Komplexität
dazu dient, unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeiten zu erzeugen. Sie macht
ja jeden bestimmten Satz extrem unwahrscheinlich, zugleich aber auch ganz
normal, daß das bei jeder Kommunikation so ist. Aber erst im Kommunizieren
läßt sich diese Paradoxie entfalten, und zwar durch die Autopoiesis
des Kommunikationssystems, also dadurch, daß durch rekursive Rückgriffe
auf vorherige Kommunikation und Aussicht auf spätere jeweils eingeschränkt
wird, was sinnvoll gesagt werden kann. Geht man davon aus, daß die
Sprache die Autopoiesis der Kommunikation strukturiert, kommt eine radikale
und viel einfachere Struktur in den Blick. Wir wollen sie den (binären)
Code der Sprache nennen. (Soziologen tendieren eher
dazu, den linguistischen Begriff des Code zu übernehmen .... Um den
allgemeinen Verwendungszusammenhang von Zeichen bzw. Symbolen zu bezeichnen,
sprechen wir im folgenden von Semantik und reservieren den Begriff des
Code für strikt binäre Strukturen. Damit soll zugleich klargestellt
sein, daß wir nicht den linguistischen, sondern den kybernetischen
Begriff des Code verwenden.) Er besteht darin, daß die Sprache
für alles, was gesagt wird, eine positive und eine negative Fassung
zur Verfügung stellt.
(Ebd., S. 221.)
Diese Duplikation dient als eine Struktur, die sich ausschließlich
auf sprachliche Kommunikation bezieht und psychisch nur durch Teilnahme
an Kommunikation gelernt werden kann. (Damit soll
nicht bestritten sein, daß es bei psychischen Systemen, ja selbst
bei Tieren vorsprachliche Irritationen gibt, wenn Erwartungen enttäuscht
werden, also Konsistenzprüfungen versagen.) Außerdem
setzt die Codierung voraus, daß die Sprache bereits ldentitäten
konstituiert hat, also über Möglichkeiten des Unterscheidens
und Bezeichnens verfügt, so daß man feststellen kann, worauf
sich Bejahungen und Verneinungen beziehen. Die Codierung ändert und
erweitert den Bedarf für ldentitäten, sie muß negationsfeste
ldentitäten voraussetzen können. Es geht jetzt nicht mehr nur
darum, für die Wahrnehmung und ihr Gedächtnis Wiedererkennbarkeit
(einschließlich: Wiedererkennbarkeit von Wörtern) zu ermöglichen.
Von ldentitäten muß jetzt außerdem verlangt werden, daß
sie dieselben bleiben, wenn die Kommunikation von Bejahung zu Verneinung
oder von Verneinung zu Bejahung übergeht. So kann sich schließlich
das Repertoire möglicher Kommunikation vom Wahrnehmbaren, auf das
man zeigen kann, ablösen, und nur so kann Kommunikation Streit (und
damit soziokulturelle Evolution) erzeugen. Anders als die klassische Logik
und die ihr entsprechende Ontologie es vorgesehen hatten, gibt es also
keinen primordialen Unterschied von Sein und Nichtsein oder positiv bzw.
negativ bezeichnenden Operationen. Vielmehr ist die Welt selbst in bezug
auf positiv und negativ unqualifizierbar. Eben deshalb kann und muß
man unterscheiden, wenn man etwas bezeichnen will; oder anders ge sagt:
eine Unterscheidung negiert nicht etwa das, was sie nicht bezeichnet,
sondern setzt es als »unmarked space« (im
Sinne des Formenkalküls von George Spencer Brown ...) gerade
voraus.
(Ebd., S. 221-222.)
Ferner ist für das Verständnis dieser Errungenschaft
die Einsicht wichtig, daß der Gebrauch von Negationen noch nicht
zu einem logischen Widerspruch führt. (Als
Ausnahme - und der Status einer Ausnahme ist hier entscheidend! - hat
man den Gottesbegriff diskutiert. Hier soll, wie in der Lehre von den
Gottesbeweisen behauptet worden ist, die Existenz Gottes ein notwendiges
Prädikat der Idee sein.) Er öffnet vielmehr nur einen
Kontingenzraum, für den in der Kommunikation zu unterstellen ist,
daß alles, was bejaht wird, auch verneint werden kann und umgekehrt.
Nur wenn man dies voraussetzt, kann man positive und negative Aussagen
einer Wahrheitsprüfung unterziehen, und nur dafür kann dann
neben anderen Instrumenten eine »Logik« entwickelt werden.
Dies setzt, als hinzugesetzte Erfindung, das Gesetz vom ausgeschlossenen
Dritten (tertium non datur) voraus.
(Ebd., S. 222-223.)
Man weiß nicht, ob das eine evolutionäre Bedingung
für das Entstehen von Negation gewesen ist oder nur ein erfolgreich
benutzter Nebeneffekt: jedenfalls ermöglicht die Negation eine erfolgreiche
Domestikation des Schemas bestimmt/unbestimmt, einer der fundierenden
Unterscheidungen, die einen Umgang mit Sinn ermöglichen. (Siehe
dazu Philip G. Herbst..., der ein grundlegendes Implikationsverhältnis
der nicht weiter zurückführbaren Unterscheidungen Sein/Nichtsein,
innen/außen und bestimmt/unbestimmt vermutet.) Durch Negation
kann etwas so bezeichnet werden, daß unbestimmt bleibt, was tatsächlich
vorliegt. »Kein Mensch in der Wüste« - das läßt
offen, was sonst in der Wüste vorkommt, und sogar, wo die Menschen
sich tatsächlich aufhalten, und schließlich auch: welcher Mensch
überhaupt gemeint ist. Und trotzdem ist die Kommunikation sofort
verständlich und weiterbehandelbar - zum Beispiel als Warnung. Schon
einfachste Gesellschaften haben es offenbar ganz wesentlich mit der Normalisierung
des Ungewöhnlichen zu tun und mit der Stabilisierung eigener Pathologien
durch Wiederholung. Dafür bilden Negativbezeichnungen die Brücke
zur Normalität. All dies bleibt jedoch ein internes Problem des Kommunikationssystems
Gesellschaft. Da in der Außenwelt nichts Negatives, also auch nichts
Unbestimmtes existiert, läuft die Codierung der Sprache auf eine
Verdoppelung der Aussagemöglichkeiten hinaus. Die erste Frage wäre
daher: was soll das? Wozu leistet die Sprache sich diesen Luxus?
(Ebd., S. 223.)
Wir sehen in dieser Struktur eine Kompensation für Probleme,
die sich aus der Ausdifferenzierung des Kommunikationssystems der Gesellschaft
ergeben, eine Bedingung und Folgeeinrichtung also der autopoietischen
Autonomie.
(Ebd., S. 223.)
Ein autopoietisches, selbstreferentielles System benötigt
einen solchen Code, um die eigene Selbstreferenz zu symbolisieren und
zugleich für die Unterbrechung der konstitutiven Zirkularität
zu sorgen. Die beiden Werte sind ineinander übersetzbar, denn das
Negieren erfordert eine positive Operation des Systems, und die Position
ist logisch gleichwertig mit der Negation ihrer Negation. Zugleich impliziert
diese tautologische Struktur aber eine latente Unterbrechungsbereitschaft.
Sie macht das System empfindlich, zunächst für Zufälle,
dann für Selbstorganisation, die Anhaltspunkte dafür bieten,
ob Jas oder Neins angebracht sind. Gesellschaft entsteht also überhaupt
erst durch diesen in der Sprache angelegten Symmetriebruch, an den dann
Konditionierungen anschließen können. Die bloße Relation
der Werte allein wäre noch kein System, aber sie wird nur erzeugt
im Hinblick auf ihre Kapazität, Systembildungen auszulösen.
(Ebd., S. 223-224.)
Dieser in sich schon komplexe, aber offensichtlich evolutionsfähige
Sachverhalt reguliert auch die Entstehung von Zeit. Schon für das
Kreuzen der Grenze zwischen den beiden Werten (also für das Negieren
von etwas, was dabei identisch bleibt) benötigt das System Zeit.
Und das gilt erst recht für die Entfaltung der Tautologie, für
das asymmetrisierende Konditionieren, denn dabei muß die gegebene
Ausgangslage im Auge behalten werden und zugleich die Bistabilität
des Systems in die Zukunft projiziert werden. Um seine Autopoiesis fortsetzen
zu können, benötigt ein solches System (in der Ausdrucksweise
von Spencer Brown) »memory« and »oscillation«,
und zur Unterscheidung (Beobachtung) dieser beiden Bedingungen bildet
es die Differenz der Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft, die von
der jeweils operativ aktuellen Gegenwart aus als ihre Vergangenheit bzw.
ihre Zukunft gleichzeitig beobachtet werden können. Einerseits
muß es jeweils wissen, ob von einer Ja-Fassung oder einer Nein-Fassung
der Kommunikation auszugehen ist und was dies im laufenden Zusammenhang
besagt. Und andererseits steht damit nicht fest, ob der kommunizierte
Sinn anschließend angenommen oder abgelehnt werden wird. Auch wenn
man im großen und ganzen von einem Fortbestand der Welt, wie sie
ist, auszugehen hat, kann die Zukunft der Kommunikation selbst nur über
eine Oszillatorfunktion präsentiert werden, die unterschiedlich besetzt
ist, je nachdem, um was es sich gerade handelt. Das sind mit der Codierung
der Sprache gegebene geschichtliche Universalien, die aber je nach den
Gesellschaftsstrukturen, die realisiert sind, sehr unterschiedliche semantische
Formen annehmen können.
(Ebd., S. 224-225.)
Wir übertreiben nicht, wenn wir festhalten: Die Sprachcodierung
ist die Muse der Gesellschaft. Ohne ihre Doppelung aller Zeichen, die
Identitäten fixieren, hätte die Evolution keine Gesellschaft
bilden können, und wir finden deshalb auch keine einzige, der dieses
Erfordernis fehlt.
(Ebd., S. 225.)
Mit der Ausdifferenzierung einer Gesellschaft, die Sprache benutzt
und Zeichen verwendet, entsteht das Problem des Irrtums und der
Täuschung, des unabsichtlichen und des absichtlichen
Mißbrauchs der Zeichen. Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit,
daß die Kommunikation gelegentlich mißglückt, in die
Irre geht oder auf einen Irrweg geführt wird. Vielmehr ist dieses
Problem, da dies jederzeit passieren kann, jederzeit präsent
- eine Art Universalproblem des von Hobbes am Falle der Gewalt entdeckten
Typs. Mit Bezug auf dieses Problem kann man verstehen, daß die Gesellschaft
Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und dergleichen moralisch prämiiert
und im Kommunikationsprozeß auf Vertrauen angewiesen ist. Aber damit
ist nur bestätigt, daß nicht vorkommen sollte, was doch möglich
bleibt. Fragt man nochmals nach, wie der Kommunikationsprozeß selbst
auf dieses Problem reagiert, dann sieht man den Vorteil der Codierung,
denn sie ermöglicht es, etwas Mitgeteiltes zu bezweifeln, es nicht
anzunehmen, es explizit abzulehnen und diese Reaktion verständlich
auszudrücken, sie also in den Kommuikationsprozeß selbst wiedereinzubringen.
Die Bezugnahme auf psychische und moralische Qualitäten wie Aufrichtigkeit
und Vertrauen behält ihren Sinn, aber da kein Kommunikationsprozeß
psychische Prämissen dieser Art prüfen kann (die Prüfung
selbst würde das, was sie sucht, zerstören), müssen die
Bedingungen psychologisch dekonditioniert werden und als Themen der Kommunikation
selbst behandelt werden. Das setzt die Ja/Nein-Codierung der Sprache voraus.
(Ebd., S. 225-226.)
Da das Problem allgemein ist und den gesamten Sprachgebrauch durchzieht,
muß auch die Problemlösung durch Codierung allgemein sein.
Die gesamte Sprache wird codiert, das heißt: jeder Satz kann negiert
werden. Die allgemeine Unsicherheit im Hinblick auf den Fehlgebrauch von
sprachlichen Zeichen wird durch die Codierung in eine Bifurkation von
Anschlußmöglichkeiten transformiert. Die weitere Kommunikation
kann dann entweder auf Annahme oder auf Ablehnung gegründet werden.
Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten; aber eben deshalb kann man
auch Unentschiedenheit zum Ausdruck bringen oder die Entscheidung aufschieben
und der weiteren Kommunikation überlassen. Ohne binäre Codierung
wäre nicht einmal ein solcher Aufschub möglich, denn man könnte
gar nicht erkennen, was aufgeschoben wird.
(Ebd., S. 226.)
Die Codierung der sprachlichen Kommunikation hat so weit reichende
Folgen, daß es sich lohnt, auf einige ihrer Merkmale kurz einzugehen.
Vor allem ist zu beachten, daß sie das gesamte System der sprachlichen
Kommunikation vollständig erfaßt. Was immer dazu beigetragen
wird, läuft auf die Alternative der Annahme oder der Ablehnung zu.
»Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn«. (Aus
Ottiliens Tagebuch, in: Die Wahlverwandtschaften, zit. nach:
Goethes Werke (Hrsg. Ludwig Geiger), Band 5, S. 500.) Will
man dieses Risiko vermeiden, muß man auf Kommunikation verzichten.
(Ebd., S. 226.)
Diese Allgemeinheit und Zwangsläufigkeit der Codierung besagt
auch, daß sie nicht dazu dient, gute und schlechte Nachrichten zu
sortieren. Man kann schlimme Nachrichten (»Der Wasserhahn tropft«)
sehr wohl positiv formulieren und damit als Kommunikation in die Alternative
von Annahme oder Ablehnung laufen lassen. Voraussetzung ist, daß
das, was eventuell anzunehmen oder abzulehnen ist, identisch gehalten
wird.
(Ebd., S. 226.)
(Daran wird erneut erkennbar, daß der Code eine Duplikationsregel
ist). Man kann beim Annehmen oder Ablehnen selbstverständlich Modifikationen
vornehmen, vor allem wenn man die Härte einer Ablehnung abschwächen
will. (»Der Wasserhahn tropft nicht, er war nur nicht fest zugedreht«.)
Aber immer läuft die Kommunikation an thematischen Identitäten
entlang, und auch das ist ein Effekt der Codierung. Sie wirkt thematisch
disziplinierend, weil sie dazu auffordert, darauf zu achten, daß
über Dasselbe geredet wird. (Daß diese
Disziplin oft nicht eingehalten wird, lehrt die Alltagserfahrung. Aber
zugleich zeigt die dann eintretende Irritation, daß Erfordernisse
geordneter Kommunikation verletzt sind und daß es wenig Sinn hat,
so weiterzureden.)
(Ebd., S. 227.)
Die Codieryng enthält als solche keine Präferenz für
Ja-Fassungen bzw. für Nein-Fassungen, so wie die Sprache als solche
ja auch nicht dazu da ist, ein Annehmen der Kommunikation gegenüber
einem Ablehnen zu begünstigen. Im Prinzip müssen deshalb auch
Jas und Neins gleich gut verständlich sein. Es mag sein, daß
das Anfertigen und Verstehen von negationshaltigen Sätzen etwas mehr
Zeit für Informationsverarbeitung und etwas mehr psychischen Aufwand
erfordert, aber das dürfte praktisch kaum ins Gewicht fallen, wenn
Gründe für eine negative Stellungnahme vorliegen. Wichtiger
sind die sozialen Konditionierungen des Negationsgebrauchs; und etwaige
Schwierigkeiten psychischer Systeme sind nur ein Indikator mehr dafür,
daß es sich bei ihnen um Operationen von Systemen in der Umwelt
der Gesellschaft handelt.
(Ebd., S. 227.)
Daß die Codierung sich auf die Kommunikation bezieht und
nicht auf die Ansichten und Einstellungen der Teilnehmer, kann man auch
als Vorbehalt der Selbstberichtigung des Kommunikationsprozesses
formulieren. Die Berichtigung (die Negierung vorheriger Kommunikation)
obliegt nicht notwendigerweise dem Mitteilungsempfänger. Auch der
Mitteilende kann in der weiteren Kommunikation korrigieren, was erselbst
gesagt hatte. Ferner braucht die Korrektur sich nicht auf explizit und
im Detail erinnerte frühere Kommunikationen zu beziehen. Sie mag
sich auch auf Erwartungen beziehen, die als Resultat früherer Kommunikation
vorliegen, so daß die Negation schon in der Initiative zu einer
Kommunikation zum Ausdruck kommt und als Negation eines externen Sachverhalts
erscheint (»Der Wasserhahn war nicht fest zugedreht«). Wir
vermuten, daß alle direkt auf Weltsachverhalte bezogene Negationen
ihren Anlaß in früherer Kommunikation haben und in der Vermutung,
daß der Kommunikationsprozeß unter dem Einfluß erinnerter
Kommunikation abläuft und deshalb mit Negation korrigiert werden
muß.
(Ebd., S. 227-228.)
Zwei weitere Eigentümlichkeiten sprachlicher Kommunikation
folgen aus ihrer Codierung. Die eine besteht darin, daß aller Negationsgebrauch
mindestens implizit Unterscheidungen voraussetzt, so daß
festgestellt werden kann, welche Optionen offen sind, wenn etwas negiert
wird. Wenn etwas als nicht rot bezeichnet wird, kommen andere Farben in
Betracht; und auch umgekehrt halten positive Formulierungen wie: das Auto
fuhr langsam, für den Fall ihrer Negation bestimmte Alternativen
bereit. (Man kann nicht negieren, um zu sagen: es fuhr auf vier Rädern.
)
(Ebd., S. 228.)
Ferner kann man die Aussicht auf Ja/Nein-Bifurkation durch Markierung
dirigieren. Man markiert diejenigen Komponenten einer Kommunikation, bei
denen man Informationswert und Widerspruchsmöglichkeit voraussetzt,
und läßt andere unmarkiert. Vor allem Werteinstellungen, von
denen man selbst verständlich voraussetzt, daß sie geteilt
werden, werden im Regelfall unmarkiert kommuniziert. Fehlmarkierungen
zeichnen typisch Sprecher aus, die mit dem kulturellen oder situativen
Kontext der Kommunikation nicht hinreichend vertraut sind und deshalb
die Wahrscheinlichkeiten nicht richtig einschätzen können. Aber
das Problem dieser Zuspitzung entsteht nur, weil die Kommunikation codiert
ist und deshalb zu steuern versucht, in welchen Hinsichten sie Annahme
bzw. Ablehnung, Überraschung und Widerstand zu gewärtigen hat.
(Ebd., S. 228-229.)
Der wohl wichtigste Effekt der Codierung aber ist, daß die
elementare Operation einer Kommunikation mit dem Verstehen abgeschlossen
ist und daß zur Mitteilung von Annahme, Ablehnung oder Unschlüssigkeit
eine weitere Kommunikation erforderlich ist. Denn gerade das Verstehen
einer Kommunikation ist ja Voraussetzung dafür, daß sie angenommen
oder abgelehnt werden kann; und welchen Pfad die Kommunikation an dieser
Stelle wählt, kann nur durch eine weitere Kommunikation verdeutlicht
werden. Im Verstehen konvergieren die Interessen, denn man hat normalerweise
kein besonderes Interesse daran, unverständlich zu sprechen oder
nicht verstehen zu können. (Zugestanden sei,
daß es expressive Interessen an unverständlicher Ausdrucksweise
geben kann, zum Beispiel in der religiös inspirierten Kommunikation;
oder daß es, zum Beispiel unter kritischen Rationalisten, die Manie
gibt, zu sagen, daß man nicht verstehen könne, was der andere
sagt, was für diese Sekte dann gleichbedeutend ist mit dem Vorwurfsbegriff
»Metaphysik«. Aber dann will man wenigstens darin verstanden
werden, daß man nicht verstanden werden will oder nicht verstehen
kann und dafür Gründe zu haben meint.) Erst die Ja/Nein-Bifurkation
bietet also Gelegenheit für das Einbringen von Interessen in den
Kommunikationsprozeß, und das gemeinsame Interesse an Verständlichkeit
ist nur deshalb akzeptabel, weil es gleich darauf diese Bifurkation gibt.
(Ebd., S. 229.)
Die sprachliche Kommunikation hat, sagen wir zusammenfassend,
ihre Einheit in der Ja/Nein-Codierung. Das schließt es, ernst genommen,
aus, aus der Sprache selbst eine Idealnorm des Bemühens um Verständigung
abzuleiten. (So bekanntlich, um nochmals darauf
hinzuweisen, Jürgen Habermas - bei aller Betonung der Ja/Nein-Stellung
des Adressaten. Siehe z. B.: Nachmetaphysisches Denken: Philosophische
Aufsätze, Frankfurt, 1988, S. 146: »Ohne die Möglichkeit
zur Ja/Nein-Stellungnahme bleibt der Kommunikationsvorgang unvollständig«.)
Notwendig ist nur die Autopoiesis der Kommunikation, und diese Autopoiesis
wird nicht durch ein Telos der Verständigung, sondern durch den binären
Code garantiert. Denn für eine codierte Kommunikation gibt es kein
Ende, sondern nur die in allem Verstehen reproduzierte Option, über
Annahme oder über Ablehnung weiterzumachen. Anders gesagt: die Codierung
schließt jede Metaregel aus, da man zur Kommunikation einer solchen
Regel ja wieder bejahend oder verneinend Stellung nehmen könnte.
(Gegenüber Habermas und Apel finden wir uns
daher in der gegenwärtig laufenden Kontroverse auf der Seite von
Lyotard, wenngleich mit anderer Begründung.) Die Codierung
der Sprache überwindet die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit
eines sich operativ abschließenden Kommunikationssystems. Sie garantiert,
soweit das im System selbst möglich ist, die Autopoiesis der gesellschaftlichen
Kommunikation, indem sie sie transformiert in die Freiheit, zu allen erreichten
Bestimmtheiten folgenreich ja oder nein zu sagen. Deshalb evoluieren in
komplexen Gesellschaften nicht Konsenspflichten sondern, wie wir ausführlich
zeigen wollen, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. (Ebd.,
S. 229-230.)
IV. Geheimnisse der Religion und die Moral. - Die Codierung
schließt das System. Alles andere läßt sie offen. Die
Entscheidung zwischen dem Annehmen und dem Ablehnen kommunizierter Sinnofferten
kann aber nicht offen bleiben. Die durch den Code erzwungene Bifurkation
führt vielmehr dazu, daß das System Bedingungen entwickelt,
die Anhaltspunkte dafür liefern, wann Annehmen und wann Ablehnen
angebracht ist. Wie die Systemtheorie weiß, gehören Konditionierungen
zu den allgemeinsten Erfordernissen jeder Systembildung. Sie legen nicht-beliebige
Zusammenhänge fest in dem Sinne, daß die Festlegung bestimmter
Merkmale beschränkten Spielraum läßt für die Festlegung
anderer. In anderer Terminologie, die von der Frage ausgeht, wie man sich
über ein Systeminformieren kann, spricht man auch von Redundanzen,
die die Varietät des Systems einschränken: Ein Merkmal macht
das Vorliegen anderer mehr oder weniger wahrscheinlich. Diesen Theorierahmen
zugrundelegend, können wir auch sagen, daß der Sprachcode die
Form ist, durch die ein System sich der Selbstkonditionierung aussetzt.
Die Codierung der Sprache bedeutet mithin, daß die Srelbstkonditionierung
der Gesellschaft Strukturen entwickelt, die es ermöglichen, Erwartungen
im Hinblick auf Annehmbarkeit bzw. Ablehnbarkeit von Kommunikationen zu
bilden. Erst über solche Strukturen wird die Unwahrscheinlichkeit
der Kommunikation in Wahrscheinlichkeit transformiert. Erst durch solche
Strukturen wird das geschlossene System für Umwelteinflüsse
geöffnet.
(Ebd., S. 230-231.)
Die uns geläufige Kongruenz von Religion und Moral hat vermutlich
nur den Sinn, ein Kommunikationsproblem zu lösen, das sich daraus
ergibt, daß die Sprache für alles, was gesagt werden kann,
eine Ja-Fassung und eine Nein-Fassung zur Verfügung stellt. Deshalb
kann es keine der Verneinbarkeit entzogenen Begründungen geben und
deshalb muß die Moral ihre Grundlagen in die inkommunikablen Geheimnisse
der Religion verlegen (und wer diese Notwendigkeit mißachtet wie
Kant oder Bentham oder die Wertethiker unserer Tage, wird mit Unergiebigkeit
seiner Maximen bestraft).
(Ebd., S. 242.)
Der geschichtlich wohl wichtigste Ausweg ist die Verschiebung
des Geheimnisses der Religion in das (nicht eingestehbare) Paradox der
Moral. (Gut erkennbar ist dieser Vorgang am Mythos
vom Paradies und vom Sündenfall. Es bleibt ein Geheimnis Gottes,
weshalb er die Fähigkeit zum moralischen Unterscheiden verbieten
wollte. Aber das Verbot war offenbar, doch dies bleibt die nicht eingestehbare
Paradoxie der Moral, nur dazu da, übertreten zu werden.) Die
Moral selbst kann, ja muß weitgehend auf Geheimnisse (und damit
auf Religion) verzichten. Sie muß, soll sie ihre eigene Funktion
erfüllen, nicht geheim sein, sondern bekannt. Nur für ihre eigene
Paradoxie, für das Verdrängen der Frage, warum denn die Moral
selbst gut sei, obwohl sie doch gutes und schlechtes Verhalten vorsehe,
bedarf sie zunächst noch einer religiösen Fundierung im Willen
Gottes, der dann seinerseits unter die Beschränkung gerät, ausschließlich
gut handeln zu müssen. (Statsitisch gesehen
sind Götter, die sich um die moralischen Affären der Menschen
kümmern und sich dabei selbst für das Gute und gegen das Schelchte
engagieren, eindeutig in der Minderheit. Nur 25% der von George P. Murdock
... erfaßten Gesellschaftssysteme kennen einen Hochgott, der die
Menschen moralisch beurteilt. ....) Die Religion selbst wird moralisiert,
damit sie die Moral begründen kann; und warum es überhaupt Schlechtigkeit
gibt, obwohl Gott doch mit einem Wort die ganze Welt gut machen könnte,
bleibt das letzte Geheimnis der Religion. Zugleich hat dieses Bündnis
von Moral und Religion den Vorteil, mit Schrift und mit der dadurch bedingten
Versachlichung der Welt kompatibel zu sein. (Wenn
man den ursprünglichen Sinn von »res« im Auge behält,
könnte man hier auch von »Reifikation« sprechen. Es geht
um die Konstitution externer Referenzen, die von der Art, wie man über
sie spricht, unabhängig sind. Daß auch das »Ding«
in sich geheimnisvoll ist, hat Martin Heidegger wieder bewußt gemacht.
Siehe direkt zum Thema: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze
..., S. 163-181. Der Vorteil der Dinghaftigkeit ist jedoch, daß
man dieses Geheimnis weder kommunikativ noch sonstwie respektieren muß.)
So gelingt es, in erheblichem Umfange Mystifikationen durch strukturierte
Komplexität zu ersetzen, zumindest auf den konkreteren Sinnebenen
der Kommunikation.
(Ebd., S. 243-244.)
Vor allem geht es um einen im Verhälnis zur Sprache neuartigen
Code, nämlich um die Unterscheidung von gutem und schlechtem Verhalten.
Wie der Sprachcoode selbst enthält auch dieser Code nur zwei Werte,
und ebenfalls einen positiven und einen negativen Wert. Der Moralcode
steht aber quer zum Sprachcode mit der Folge, daß sowohl das Annehmen
als auch das Ablehnen einer Kommunikation sowohl gut als auch schlecht
sein kann. Darin liegt, verglichen mit der zuvor behandelten Restriktion
der Kommunikation, die Unwahrscheinlichkeit der Moral und speziell die
Unwahrscheinlichkeit, daß die durch die Sprache freigesetzten Risiken
auf diese Weise kontrolliert werden können.
(Ebd., S. 244.)
Hochkulturen sind Gesellschaften mit moralisierter (und moralisierender)
Religion.
(Ebd., S. 284.)
Nach Erfindung der Schrift kann man nicht mehr davoan ausgehen,
daß Gesellschaft und Semantik sich in laufend synchronisierter Übereinstimmung
befinden.
(Ebd., S. 288.)
Mit all dem fördert der Buchdruck heimlich den Trend zur
Individualisierung der Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunkation, und
dies in doppelter Weise. Wenn etwas bekannt ist, aber jemand es nicht
kennt, hat er sich dies selbst zuzuschreiben. Er hat nicht genug gelesen.
Ihm fehlt es an Bildung. Und andererseits reizt das Bekanntsein dazu,
mit abweichenden Meinungen oder neuen Interpretationen hervorzutreten,
zum sich als Individuum bemerkbar zu machen.
(Ebd., S. 298-299.)
Es braucht gut zweihundert Jahre seit Gutenbergs Erfindung der
Druckpresse, bis die Funktion des Buchdruckes als einer technischen Infrastruktur
für die Erhaltung und Fortschreibung eines Gedächtnisses der
Gesellschaft sichtbar wird - abgelöst von dem, wss Individuen mehr
oder weniger zufällig erinnern und was dann mit ihnen stirbt Zum
Bereithalten dieses gedächtnisses werden allgemein zugängliche,
»öffentliche« Bibliotheken eingerichtet.
(Ebd., S. 299.)
Die eigentlich folgereiche Veränderung scheint jedoch in
der Erfindung und Entwicklung elektronischer Maschinen der der Informationsverarbeitung
zu liegen. Wie verzaubert durch eine lange humanistische Tradition hatte
man das Problem zunächst in der Frage gesehen, ob die Computer und
ihre »künstliche Intelligenz« dem Bewußtsein Gleichwertiges
oder Überlegenes leisten und wie sich Überlegenheiten und Unterlegenheiten
auf die einzelnen Leistungsgebiete verteilen. Das Fluchtziel der Geisteswissenschaft
war und bleib das das menschliche Subjekt. Es fragt sich aber, ob dies
die richtige Problemstellung ist und ob nicht in dieser Konkurrenzlage
über kurz oder lang der Computer der Sieger bleibt, wenn ihm die
Gesellschaft »Chancengleichheit« zubilligt. Eine ganz andere
Frage ist, ob und wie weit Computer die gesellschaftkonstituierende Leistung
der Kommunikation ersetzen oder überbieten können. Dazu
müßten sie ja Wissen als Formen behandeln, also wissen können,
was andere Computer nicht wissen. Bereits in den Kybernetik-Konferenzen
der 1950er Jahre war formuliert worden, daß man menschliches Bewußtsein
als Maschine konstruieren könne, sofern nur präzise genug angegeben
werden könne, was die Maschine leisten solle. Das heißt aber,
daß es in dem dann »künstliche Intelligenz« genannten
Forschuungsbereich nur um Programmierung geht. Damit ist aber das Problem
in die sprachliche Kommunikation verschoben, deren Vorteil eben darin
liegt, daß sie auch mit schwammigen Ausdrücken funktioniert,
wenn nur bei Bedarf selbstkorrigierende Operationen zur Verfügung
stehen. Kommunkation ist ein laufendes Prozessieren der Differenz von
Wissen und Nichtwissen, ohne daß es dazu nötig wäre, die
Wissens-/Nichtwissensbestände in den beteiligten Individuen oder
Maschinen zu ermitteln. Sie sind ebenso Ergebnis wie Voraussetzung von
Kommunikation. Hier gibt es, zur Zeit jedenfalls, gute Argumente für
Unentbehrlichkeit und Überlegenheit mündlicher und schriftlicher
Kommunikation, die dann ferilich sich des Computers bedienen kann, um
die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern und sich auf das Wesentliche,
nicht auf Technik delegierbare zu konzentrieren.
(Ebd., S. 303-304.)
Wahrscheinlich ist aber diese Frage des Vergleichs von Computerleistungen
mit Bewußtsein oder mit Kommunkation ein Nebenproblem.
(Ebd., S. 304.)
Vor allem aber ändert der Computer ... das Verhältnis
von (zugänglicher) Oberfläche und Tiefe.
(Ebd., S. 304.)
Während durch Schrift eine räumliche /und damit auch
zeitliche) Entkopplung der Kommunikationskomponenten Mittelung und Verstehen
erreicht worden war, aber unter der strengen Voraussetzung, daß
es sachlich um dieselbe Information ging (wie immer diese dann »hermeneutisch«
modifiziert werden mochte), kann der Computer auch die Sachdimension des
Sinns der Kommunikation in die Entkopplung einbeziehen. Was daraus werden
kann, entzieht sich derzeit auch den kühnsten Spekulationen.
(Ebd., S. 310.)
Wenn es in der Evolution der Verbreitungsmedien durchgehende Trends
gibt, die mit der Erfindung der Schrift beginnen und in den modernen elektronischen
Medien ihren Abschluß finden, dann sind es, so können wir zusammenfassen,
der Trend von hierarchischer zu heterarchischer Ordnung und der Verzicht
auf räumliche Integration gesellschaftlicher Operationen.
(Ebd., S. 312.)
Wenn man nur noch Beobachter zu beobachten hat, liegt darin zunächst
eine drastische Reduktion; aber zugleich eine Reduktion, die in jedem
Falle die Option öffnet, ob man das Beobachtete dem Beobachter und
seiner Unterscheidung zurechnen will oder dem, was er beobachtet.
(Ebd., S. 313.)
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
dienen nicht (wie vor allem das Recht) primär der Absicherung von
Erwartungen gegen Enttäuschungen. Sie sind eigenständige Medien
mit einem direkten Bezug zum Problem der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation.
Sie setzen jedoch die Ja/Nein-Codierung der Sprache voraus und übernehmen
die Funktion, die Annahme einer Kommunikation erwartbar zu machen in Fällen,
in denen die Ablehnung wahrscheinlich ist. Sie entstehen erst, wenn es
Schrift gibt und die Ablehnung von kommunizierten Sinnzumutungen damit
nochmals wahrscheinlicher wird. Sie reagieren auf das Problem, daß
mnehr Information normalerweise weniger Akzeptanz bedeutet.
(Ebd., S. 316.)
Grenzen sind nicht Teile, man könnte fast sagem Teilgebiete
des Systems, während es außerdem noch »innere«
Teile gibt, die davon profitieren, daß sie keinen Kontakt mit der
Umwelt haben. Vielmehr ist ein soziales System nicht anderes als die eine
Seite, die innere Seite, die operierende Seite der From System, und mit
jeder Operation des Systems wird die Distinktheit des Systems im Unterscheid
zur Umwelt reproduziert. Die Autopoiesis eines Sinnsystems ist nichts
anderes als die Reproduktiobn dieser Differenz.
(Ebd., S. 316.)
Erst mit Hilfe der Schrift lassen sich Themen so objektivieren,
daß über sie kontrovers diskutiert werden kann. Vermutlich
auf Grund solcher Dialoge gewöhnt man sich an eine Beobachtung zweiter
Ordnung, die sich vorbehält, noch zu prüfen, ob ein für
wahr gehaltenes Wissen richtiger- oder fälschlicherweise als Wissen
angenommen wird. (Daß damit eine für
die Folgezeit maßgebende Indirektheit des »Seinsbzugs«
erreicht ist, wird man Heidegger zugeben können.)
(Ebd., S. 326.)
Sozialform der »doppelten Kontingenz« ..., die wir
mit den Positionsbegriffen Ego und Alter bezeichnen. Warum? Die normale
Antwort lautet, daß Ego und Alter sowieso schon existieren, daß
sie verschiedene Menschen sind, die hin und wieder miteinander kommunizieren
..., daß jeder Mensch immer beides ist, wenn (und nur wenn)
er sich an Kommunikation beteiligt, Warum aber, präziser gefragt,
die Verdopplung? Unsere Antwort lautet, daß die Selbstreferenz sozialer
Systeme eine immanente Dualität zur Voraussetzung hat, damit ein
Zirkel entstehen kann, dessen Unterbrechung dann Strukturen entstehen
läßt.
(Ebd., S. 332-333.)
Zurechnungen betreffen niemals das innere Geschehen (die Autopoiesis)
der beteiligten Systeme, sondern immer nur ihr Verhalten, wie es durch
einen Beobachter gesehen und auf die Umwelt bezogen wird. Sie sind immer
ein artifizielles Geschehen, das in den Realqualitäten zwar suggestive
Bedingungen findet, durch sie aber nicht voll determiniert ist. Der Zurechnungsprozeß
selbst ist also sozial konditioniert, wobei die Frage nach der Zurechnung
des Zurechnens eine jener Endlosfragen ist, die nicht zugelassen, sondern
durch »Gründe« verdeckt und invisibilisiert werden. (Für
Kausalzurechnungen liegt das auf der Hand: Die Zurechnung von Wirkungen
auf Ursachen ist nicht selbst eine Ursache, eine Urursache der Wirkungen.)
(Ebd., S. 333-334.)
Da Kommunikation sich nur beobachten kann,
wenn zwischen Information und Mitteilung unterschieden wird, kann der
Akzent der Zurechnung entweder auf Information (Erleben) oder auf Mitteilung
(Handeln) gelegt werden; und dies gilt für beide Seiten: für
die, die eine Kommunikation initiiert, und für die, die darufhin
über (Kommunikation von) Annahme und Ablehnung zu entscheiden hat.
Wenn eine Selektion (von wem immer) dem System selbst zugerechnet wird,
wollen wir von Handlung (im Unterschied zu
den »Handlungstheorien« verwenden wir also keinen »objektiven«
Handlungsbegriff, setzen aber selbstverständlich voraus, daß
auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung Handlungen als Objekte erlebt
bzw. behandelt werden, was nicht im Widerspruch steht zu dem sogenannten
»subjektiven« Handlungsbegriff, der nur besagt, daß
Handlungen frei gewählt (wir sage; intern zugerechnet) werden müssen,
was in unserer Sprache heißen würde, daß man den Handelnden
[als Beobachter einer Situation] beobachten muß, wenn man verstehen
will, wie er handelt - wir merken dies nur an, um gegen verbreitete Bedenken
von Handlungstheoretikern zu zeigen, daß im Übergang von der
Ebene erster Ordnung zur Ebene zweiter Ordnung nichts verlorengeht, sondern
alles, wenn auch in einer komplexeren strukturreicheren Sprache, rekonstruiert
werden kann) sprechen, wird sie der Umwelt zugerechnet, von Erleben.
Entsprechend unterscheiden sich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
danach, ob sie die beiden sozialen Positionen Ego und Alter als erlebend
oder als handelnd voraussetzen. Beide Unterscheidungen präsentieren
kein Alltagswissen. Es geht nicht um eine vollständige Klassifikation
der Phänomene. Die Festlegung der Zurechnung auf Erleben bzw. Handeln
und die Markierung der Beteiligung als Ego bzw. Alter (mit Bezug auf Personen,
die immer beides sind) findet nur statt, wenn sie gebraucht wird. Sie
erfolgt in Verwendungszusammenhängen, also nur dann, wenn es für
die Autopoiesis des Kommunikationssystems darauf ankommt. So aktiviert
also die Zuspitzung von Kommunikationsproblemen in Konstellationen, die
für Medienbildung in Frage kommen, Unterschiede der Zurechnung als
Erleben bzw. Handeln und der Markierung als Ego bzw. Alter, die anderenfalls
nicht vorkommen würden und auch nicht aus der »Natur der Sache
begründet werden können.
(Ebd., S. 334-335.)
Die sich daraus ergebenden Konstellationen lassen sich in der
Form einer Tabelle zusammenstellen:
|
Erleben |
Handeln |
Erleben |
Ae => Ee
Wahrheit
Werte |
Ae => Eh
Liebe |
Handeln |
Ah => Ee
Eigentum/Geld
Kunst |
Ah => Eh
Macht/Recht |
Mit Hilfe von Zurechnungen kann der Kommunikationsprozeß gefaßt
und das Problem der doppelten Kontingenz asymmetrisiert und dadurch enttautologisiert
werden. Die Kommunikation läuft von Alter zu Ego. (Wir
kehren die übliche Reihenfolge Ego-Alter um, um daran zu erinnern,
daß wir den Kommunikationsprozeß vom Beobachter, also vom
Verstehen her konstruieren, und nicht handlungstheoretisch.)
Erst muß Alter etwas mitteilen, nur dann kan Ego verstehen und annehmen
oder ablehnen. Dies basale Einheit wird heraussubstrahiert, obwohl doppelte
Kontingenz immer als Zirkel gebaut ist (»wenn
Du tust, was ich will, tue ich, was Du willst«) und Kommunikation
als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen in rekursiver Vernetzung
mit anderen Kommunikationen erzeugt wird.
(Ebd., S. 336.)
Nur dort, wo Zurechnungen Kausalität platzieren,
können Konditionierungen angebracht werden. Insofern dirigiert (nicht
determiniert!) das Zurechnungsschema die Konditionierungen der Selektion
und über diese die erwartbare Motivation. Es macht mithin einen Unterschied
aus, ob Alter und Ego als handelnd oder erlebend (sie sind beide natürlich
immer beides) konditioniert werden. Im Prinzip muß man deshalb,
wie unsere Tabelle zeigt, mit vier verschieden Konstellationen rechnen,
nämlich (1) Alter löst durch Kommunikation seines Erlebens ein
entsprechendes Erleben von Ego aus; (2) Alters Erleben führt zu einem
entsprechenden Handeln Egos; (3) Alters Handeln wird von Ego nur erlebt;
und (4) Alters Handeln veranlaßt ein entsprechendes Handeln von
Ego.
(Ebd., S. 336-337.)
Die Wahrheit ist (wie jedes symbolisch generalisiertes
Medium) ein Medium der Weltkonstruktion und nicht ein nur für bestimmte
Zwecke geeignetes Mittel.
(Ebd., S. 339.)
Die Reduktion auf externe Selektion dokumentiert, daß das
Medium Wahrheit keine unterschiedlichen Meinungen toleriert. Der Wahrheitsgehalt
einer Aussage kann deshalb nicht auf den Willen oder das Interesse eines
der Beteiligten zurückgeführt werden, denn das hieße,
daß er für die anderen nicht verbindlich wäre.
(Ebd., S. 339-340.)
Im Falle von Werten mag man zweifeln,
ob überhaupt ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium
vorliegt, oder ob wir hier, wenn überhaupt, ein Medium im Prozeß
des Entstehens beobachten können; denn eine entsprechende Semantik
gibt es erst seit etwa zweihundert Jahren. (Es gibt
keine auch nur annähernd zureichende wort- und begriffsspezifische
Forschung. Was man findet, versteht sich durchweg als Vorgeschichte des
wirtschaftswissenschaftlichen Wertbegriffs. .... Jedenfalls ist bereits
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ganz allgemeine Verwendung
des Wertbegriffs geläufig. Man spricht zum Beispiel vom Wert von
Zwecken.)
(Ebd., S. 340.)
Es muß, so meint man, oberhalb aller Kontingenzen, unbezweifelbare
Bezugspunkte geben ..., die sich jeweils verschieben, wenn auch hier Kontingenzen
entdeckt werden. Das impliziert, das Werte nicht als handlungsfähig,
sondern umgekehrt Handlungen als wertabhängig gedacht werden müsse.
Unter den Zurechnungskonstellationen kommt deshalb nur der Bezug Erleben
in Betracht. der, wie man sagen könnte, pragmmatische Kontext der
Wertlehre führt hier in die Irre. Auch belibt die Behauptung harmlos,
Werte hätten einen normativen Sinn; sie seine nicht bloß Präferenzen,
sondern gesollte Präferenzen. Es kann keine Rede davon sein, daß
Werte in der Lage wären, Handlungen zu seligieren. dazu sind sie
viel zu abstrakt und im übrigen aus der Sicht der Handlungssituationen
stets imn der Form des Wertkonflikts gegeben. (Die
verbreitete Darstellung des Wertproblems mit Hilfe der Unterscheidung
subjektiv/objektiv verschleiert genau dieses Problem: daß es sich
immer zugleich um fraglose Unterstellungen und daurch nicht geregelte
Konflikte handelt.) Ihre Funktion liegt allein darin, in kommunikativen
Situationen eine Orientierung des Handelns zu gewährleisten, die
von niemandem in Frage gestellt wird. Werte sind also nichts anderes als
eine hochmobile Gesichtspunktmenge. Sie gleichen nicht, wie einst die
Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt,
um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten.
(Ebd., S. 341-342.)
Werte sind das Medium für eine Gemeinsamkeitsunterstellung,
die einschränkt, was gesagt und verlangt werden kann, ohne zu determinieren,
was getan werden soll.
(Ebd., S. 343.)
Wie immer bei symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
kommt es auf die soziale, nicht auf die psychische Ordnungsleistung an.
Werte sind sozial stabil, weil psychisch labil.
(Ebd., S. 343.)
Entstanden ist Geld vermutlich nicht im Hinblick
auf seine Tausch vermittelnde Funktion, sondern als Zeichen für unausgeglichene
Leistungsverhältnisse, zuerst wohl in Haushaltswirtschaften. Noch
im 18. Jahrhundert war Staatsverschuldung das primäre Instrument
der Geldschöpfung, und auch »Bank«noten waren zunächst
als (übertragbare) Schuldscheine konzipiert. Aber dann mußte
man immer wissen, wer der Schuldner war und ob man seiner Zahlungsfähigkeit
trauen konnte oder nicht. Erst in jüngster Zeit ist diese Einschränkung
aufgegeben worden. Schuldner ist dann, wenn man diese Bezeichnung überhaupt
noch brauchen darf, die Wirtschaft selbst, die sich das Geld schuldet,
das sie zirkulieren läßt. Zahlungsfähigkeit kann nicht
mehr anders als in der Form einer Garantie der Verwendbarkeit des Geldes,
also in Form der Autopoiesis des Wirtschaftssystems gewährleistet
werden. Die Funktion des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums
Geld ist derart unwahrscheinlich, daß sie nie als die Evolution
ermöglichender Faktor hätte dienen können, sondern erst
in einer schon funktionierenden Geldwirtschaft sichtbar wird.
(Ebd., S. 348-349.)
Sowohl Wahrheit als auch Geld neutralisieren
die gefährliche, konfliktnahe Machtkommunikation, indem sie Ego nur
Erleben zumuten, und Sozialutopien benutzen daher gern die Vorstellung,
die Gesellschaft lasse sich allein durch Wahrheiten oder allein durch
den Markt steuern. Das hieße jedoch auf wichtige Ordnungsmöglichkeiten
verzichten, nämlich auf all das, was über konditionierte Willkür
an langen Handlungsketten organisiert werden kann. Denn weder Wahrheit
noch Geld können festlegen, was der Empfänger mit dem Empfangenen
tut - und genau dies ist die Funktion von Macht.
(Ebd., S. 356-357.)
Zu einer vollen Entfaltung der symbolisch generalisierten
Kommunikationsmedien kommt es erst unter der Voraussetzung einer funktionalen
Differenzierung des Gesellschaftssystems; denn nur dann können die
Medien als Katalysatoren dienen für die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen
der Gesellschaft.
(Ebd., S. 358.)
Es gibt für die moderne Gesellschaft, für eine Gesellschaft
mit voll entwickelten symbolisch generalisierten Medien keine Supermedium,
das alle Kommunikationen auf eine ihnen zugrunde liegende Einheit beziehen
könnte. Man mag hier erneut an Moral (manche sagen: Ethik) denken.
Aber der Versuch, alle moralischen Schwachstellen der Gesellschaft mit
Ethik (also mit einer Reflexion der Moral) zu kurieren, grenzt ans Lächerliche.
(Ebd., S. 359.)
(1) Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien benötigen
einen einheitlichen Code (Zentralcode) für den gesamten Medienbereich.
(Wir hatten im vorigen Abschnitt [S. 332-358] bereits
notiert, daß diese Voraussetzung beim Medium Wertbeziehungen nicht
erfüllt ist und daher auch eine Ausdifferenzierung dieses Mediums
nicht gelingen kann. [Vgl. S. 340-344.] Mit Werten hat man es überall
zu tun.) Ein Code besteht aus zwei entgegengesetzten Werten und
schließt auf dieser Ebene (nicht natürlich »im Leben«)
dritte und weitere Werte aus. Damit wird die unbestimmte, tendenziell
zunehmende Möglichkeit der Ablehnung des kommunizierten Sinnvorschlags
in ein hartes Entweder/Oder überführt, also eine »analoge«
Situation in eine »digitale« transformiert; und gewonnen wird
damit eine klare Entscheidungfrage, die für Alter und Ego dieselbe
ist. Nicht deren Meinungen werden codiert, sondern die Kommunikation selbst,
und dies in einer Weise, die auf Lernfähigkeit angewiesen ist, nämlich
auf Spezifikation der Kriterien für eine richtige Zuordnung des positiven
bzw. negativen Wertes (während aus der uncodierten Ausgangssituation
nur zunehmende Enttäuschung, Verhärtung, Konflikt resukltieren
könnten).
(Ebd., S. 359-360.)
Geld muß knapp gehalten werden, um Güter
im Überfluß erzeugen zu können, während in Wirklichkeit
das Umgekehrte der Fall ist.
(Ebd., S. 374.)
Sobald es eine Beobachtung zweiter Ordnung gibt, wird alles
Beobachten in dem jeweiligen Medienbereich auf die Ebene zweiter Ordnung
bezogen. Auch der Beobachter erster Ordnung weiß sich durch einen
Beobachter zweiter Ordnung (der er selber sein kann) beobachtet. Für
das Wahrheitsmedium faßt man dies Erfordernis unter den Ausdruck
»Empirie« zusammen. Deshalb müssen auch alle Konditionierungen
des Mediums auf der Ebene zweiter Ordnung angesetzt werden. Damit wird,
mit immensen Folgen, die Beobachtung erster Ordnung freigegeben und auf
Überraschungen eingestellt.
(Ebd., S. 375.)
Unter all diesen Bedingungen selbstreferentieller Zirkularität
bleibt das Medium eine durch Codierung bestimmte, unverwechselbare Einheit.
Elementare Operation, Strukturbildung, Strukturänderung, Kreuzen
im Code und Ebenenwechsel werden im selben Medium vollzogen. (Es
ist bemerkenswert, daß genau diese Idee auch der Von-Neumann-Maschine,
dem Computer, zugrunde liegt.) In diesem Sinne nehmen die Medien
eine Universalzuständigkeit für alle Kommunikationen in Anspruch,
die in ihren Anwendungsbereich fallen. Sie tun das im Sinne von »Sofern«-Abstraktionen:
Sofern es um Probleme und um Zurechnungskonstellationen des Wahrheitsmediums
geht, ist dieses Medium allein zuständig. In der Sprache der Parsonsschen
pattern variables formuliert, kombinieren die Medien mithin »universalism«
und »specificity«, und Parsons hält das mit Recht für
eine typisch moderne Konstellation, die ältere Gesellschaften nicht
erreichen konnten. (Wie verbreitete Einwände
gegen den Universalitätsanspruch der Systemtheorie zeigen, sind selbst
heute Lebende diesem kombinatorischen Problem oft nicht gewachsen, obwohl
bereits Kant vorbildlich mit »Sofern«-Abstraktionen gearbeitet
hatte.) Der Universalismus betrifft den weltweiten, durch externe
Umstände nicht eingeschränkten Anwendungsbereich, die Spezifizität
betrifft die Unterscheidung (hier: den Code), die dem Beobachten zugrunde
liegt.
(Ebd., S. 375-376.)
Die Notwendigkeit, in der Kommunikation auf
Körperlichkeit Rücksicht zu nehmen, kann man als Symbiose
bezeichnen und die entsprechenden Ausdrucksmittel als symbiotische
Symbole. Symbiotische Symbole ordnen die Art und Weise, in der Kommunikation
sich durch Körperlichkeit irritieren läßt: die Art und
Weise also, in der die Effekte struktureller Kopplung im Kommunikationssystem
verarbeitet werden, ohne daß dies die Geschlossenheit des Systems
sprengen und eine nichtkommunikative Operationsweise erfordern würde.
.... Was Wahrheit angeht, bezieht sich das symbiotische Symbol auf die
körperlich mögliche Wahrnehmung, oder genauer: auf die
Möglichkeit des Wahrnehmens der Wahrnehmungen anderer. .... Im Bereich
des Mediums Liebe findet man eine genaue Entsprechung im symbolischen
Gebrauch sexueller Referenzen. Ähnlich wie im Falle der Wahrheit
findet man auch im Falle der Liebe das symbiotische Symbol nicht als Absicherung
der Kommunikation durch eine tiefliegende motivationale Grundlage, sondern
als Irritationsquelle, die in die Semantik eingebaut werden muß.
.... Eigentum und Geld beziehen sich, was Symbiosis angeht, auf Bedürfnisse.
.... Im Falle von Macht heißt das symbiotische Symbol physische
Gewalt. (Ebd., S. 378-380.)
Die Funktion der symbolisch generalisierten
Kommunikationsmedien ist es, Selektionen so zu konditionieren, daß
Kommunikationen angenommen werden, obwohl dies von der Zumutung her unwahrscheinlich
ist. In bezug auf auf den tatsächlichen Motivationserfolg kann ein
symbolisches Medium aber zu viel oder zu wenig gebraucht werden. Den erstgenannten
Fall bezeichnen wir als Inflation, den anderen als Deflation.
(Ebd., S. 382.)
Die Anregung zur Generalisierung dieserer zunächst nur für
Geld üblichen Unterscheidung hat Parsons gegeben, wennglich begrifflich
wenig entwickelt. Im Rahmen der allgemeinen Theorie des Handlungssystems
genügt eine Verankerung in den »Realien«, die Handeln
ermöglichen (siehe auch Stefan Jensen, Systemtheorie,
Stuttgart 1983, S, 57, als Beispiel für Inflation: »es zirkulieren
zuviel Wörter [Symbole] gegenüber zu wenig Realien
- es wird zuviel über Liebe geredet und zu wenig Liebe praktiziert«),
und im übrigen eine Analogie zu den Inflationen und Deflationen des
Geldes. Wir finden uns demgegenüber in einer theoretisch schwierigen
Situation. Was heißt »zu viel« und »zu wenig«
erfolgreiche Motivation?
(Ebd., S. 383.)
Wir sehen das Problem nicht im Ausmaß der »Deckung«
des Mediums durch »Realien« (schon für die Geldtheorie
würde das nicht ausreichen), sondern im Vertrauen (hierzu
näher: Niklas Luhmann, Vertrauen - ein Mechanismus der Reduktion
sozialer Komplexität, 1968) in bezug auf die weitere
Verwendung des durch die Kommunikation reduzierten Sinnes (Zirkulation).
Das mag, muß aber nicht von »Deckung« durch Realien
abhängen; und vor allem bestehen zwischen den einzelnen Medien erhebliche
Unterschiede in der Frage, was als Realdeckung fungieren kann.
(Ebd., S. 383.)
Zu Inflationen kommt es, wenn die Kommunikation ihr Vertrauenspotential
überzieht, das heißt: mehr Vertrauen voraussetzt, als sie erzeugen
kann. Zur Deflation kommt es im umgekehrten Fall, also wenn Möglichkeiten,
Vertrauen zu gewinnen, nicht genutzt werden. Im Falle von Inflation reagiert
das Medium mit Entwertung der Symbole (in der Wirtschaft gemessen an Preissteigerung).
Im Falle von Deflation reagiert das Medium mit zu stark beschränkenden
Konditionierungen, das heißt: mit Verringerung der Zirkulation.
Die Kalkulation mit Weiterverwendbarkeit (= Liquidität) der Mediensymbole
setzt eine Kalkulation der Kalkulation anderer voraus. Insofern ist mit
Inflationen und Deflationen erst zu rechnen, wenn das Medium auf ein Beobachten
zweiter Ordnung eingestellt ist. Grenzfälle von Inflation sind erreicht,
wenn man damit rechnen muß, daß die inflationären Korrekturen
(Entwertung) nicht mehr ausreichen, sondern die Abnahme der Symbole verweigert
wird. Grenzfälle der Deflation sind erreicht, wenn die Konditionierungen
so scharf zugreifen, daß sie keine Kommunikation mehr zulassen.
Und auch dann wird die Annahme verweigert, weil man unter solchen Bedingungen
sicher ist, mit den Resultaten nichts anfangen zu können. In diesen
Fällen der Hyperinflation/-deflation kommt die ursprüngliche
Unwahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationen mit besonderem Zumutungsgehalt
wieder zum Vorschein - aber jetzt in entwickelten Gesellschaften, die
das nicht mehr ertragen können. Nur diese Grenzfälle des Korrekturversagens
kann man als Mißtrauen bezeichnen, während es in den anderen
Fällen um ein zunehmend aufwendiges Erhalten des Vertrauens geht.
(Ebd., S. 383-384.)
Wahrheit wird inflationiert, wenn sie mehr Verwendungsmöglichkeiten
in Aussicht stellt, als sich realisieren lassen. (Eine
Fallstudie hierzu, die Inflationierung des Kantischen Philosophie im letzten
Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts betreffend, ist: Niklas Luhmann, Theoriesubstitution
in der Erziehungswissenschaft: Von der Philantropie zum Neuhumanismus,
in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Sematik, Band 2, Frankfurt
1981, S. 105-194. Ein anderes Beispiel, das auf ein gesellschaftlich suggeriertes
Interesse an Individuen zurückzuführen ist, behandelt Wolfgang
Walter, Vererbung und Gesellschaft: Zur Wissenssoziologie des hereditären
Diskurses, Dissertaion, Bielefeld 1989.) Für Wertbeziehungen
findet man ein eindrucksvolles Beispiel bereits vor ihrer Ausdifferenzierung,
nämlich in den Devotionsbewegungen des 17. Jahrhunderts und in der
gleichzeigen Erfindung der »Mode«. Für heutige Bedingungen
können Werte als inflationsstabil gelten, denn es tut ihnen keinen
Abbruch und man muß sie nicht entwerten, wenn man sieht, daß
man mit ihnen nichts anfangen kann. Man folgt dem Rat der Mode und geht
zu anderen Werten über. Liebe wird inflationiert, wenn sie
mehr Beachtung der Welt des anderen in Aussicht stellt, als sich lebenspraktisch
umsetzen läßt. Hier sorgen der Roman, und heute: der Trivialroman
und entsprechende Filme, für Dauerinflationierung - nicht ohne deflationistische
Gegentendenzen in der Literatur auszulösen. Inflationen des Geldmediums
liegen vor, wenn das Geld nicht zu dem Wert wiederverwendet werden kann,
zu dem man es angenommen hatte. (Aus diesem Grunde
können nur generell Preissteigerungen als Inflationsindex gelten,
weil bei der Annahme des Geldes noch nicht feststeht, wofür man es
ausgeben wird.) Inflationen in der Kunst entstehen vor allem
dann, wenn auf die Schwierigkeit der Herstellung von Kunstwerken und die
darin leigende Knappheit verzichtet, wenn also Kunst von Können abstrahiert
wird. Dann mögen Inflationen gelichzeitig mit Deflationen auftreten,
indem Moden, Namenspflege und Galeriebetrieb dazu führen, daß
die Werke einiger Künstler überschätzt und die anderen
unterschätzt werden. Im Falle von Macht schließlich
liegt die Inflation darin, daß eine Politik in Aussicht gestellt
wird, die sich nicht durchführen läßt. Die moderne Technik
politischer Kommunikation, gute Absichten nur noch auszustrahlen, reflektiert
bereits eine Dauerinflation, und die Entwertung der Symbole findet dadurch
statt, daß die Wörter der Politiker von vornherein diskontiert
werden. Von Zeit zu Zeit ist es dann gut, die Politiker daran zu erinnern,
daß nur Götter die Verhältnisse durch Wörter ändern
können.
(Ebd., S. 384-385.)
Der Überblick zeigt, daß die Funktion der Medien, unwahrscheinliche
Motivation in Aussicht zu stellen, zur Inflationierung tendiert. Eingeführte
Medien erzwingen Vertrauen und Vertrauen in das Vertrauen anderer, und
eben deshalb haben sie eine hohe Inflationstoleranz. Deshalb ist es auch
wenig sinnvoll, nach Gleichgewichtszuständen zu suchen, in denen
weder Inflationen noch Deflationen gegeben sind, und diese Zustände
für normal zu halten. Auch kann es Inflationen und Deflationen gleichzeitig
geben, und nur hochzentralisierte Medien wie zum Beispiel das Geld machen
das unwahrscheinlich. (Man hat aber »Stagflation« [ein
Kofferwort aus den Wörtern »Stagnation« und Inflation«;
HB] unter diesem Gesichtspunkt dikutiert.) Deflationierungen kommen
eher in der Form von Korrekturbewegungen vor - so das Insistieren auf
Empirie gegen »große« Theorie in der us-amerikanischen
Soziologie, die Regionalisierungsbewegungen in der Politik, der Fundamentalismus
in der Religion. Jedenfalls handelt es sich auch bei Inflation/Deflation
um eine Form mit zwei Seiten und einer Trennlinie, die nur als zu überschreitende
Grenze, aber nicht als perfekter Zustand zu verstehen ist.
(Ebd., S. 385-386.)
Auch unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten
ist es wichtig, zwischen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
und den durch sie gebildeten Systemen zu unterscheiden. Medien können
entstehen und differenziert werden, bevor es entsprechende Funktionssysteme
gibt. Die für die Systembildung nötige Codierung, deren Programmtypik
und deren Sondersemantik kann auf provisorischer Basis vorbereitet werden.
Wir konnten die Anfänge dafür bis in die Antike zurückverfolgen.
Besonders deutlich sind solche Vorentwicklungen am Umfang einer Geldwirtschaft
in der Antike und dann wieder seit dem Hochmittelalter abzulesen (eine
ähnliche »Vorentwicklung« sieht Sloterdijk bezüglich
derjenigen, die er »die schrecklichen Kinder der Neuzeit«
nennt: »sie waren es, die ihre Herkunftskulturen mit unwillkommener
Variation in Unruhe versetzten: in der Antike selten, im Übergang
zwischen Mittelalter und Renaissance bereits in höherer Frequenz,
in der Moderne chronisch und mit unbeirrbarer Angriffslust, um nicht von
Angriffspflicht zu reden« [Peter Sloterdijk, Die schrecklichen
Kinder der Neuzeit, 2014, S. 227-228]; HB), aber auch am juristisch
elaborierten Fallrecht mit Ansätzen zu einer begrifflichen Systematisierung,
vor allem römischer, aber auch englischer Provenienz. (Hier
muß angemerkt werden, daß das germanische Recht das römische
Recht überall beseitigte und später auf dem Festland, aber eben
nicht in England [und später auch nicht in seinen Kolonien {also
auch nicht in den späteren Vereinigten Staaten von Amerika}] wieder
übernahm und sich selbst beseitigte! HB.) Ohne solche Vorarbeiten
wäre der Übergang von einer stratifizierten zu einer funktional
differenzierten Gesellschaft kaum möglich gewesen (für
Oswald Spengler war dies eine für Abendländer - aufgrund
ihres faustischen Ursymbols und ihres Seelenbildes - typische
und darum geradezu notwendige Entwicklung, wie man beispielsweise
auch an der Entwicklung der abendländischen Mathematik erkennen kann,
die aus Zahlen Funktionen gemacht hat! HB), und wie immer
bei solchen »preadaptive advances« ist ausschlaggebend, daß
ein vorläufiger Kontext zur Verfügung steht, der die Errungenschaften
stabilisiert, ohne daß die Systeme schon gebildet sind, die dann
endgültig zu einer operativen Schließung und autopoietischen
Autonomie der entsprechenden Funktionsweise führen werden. Denn wenn
es zur Systembildung kommt, kann man davon ausgehen, daß es Operationen
des dafür nötigen Typs immer schon gegeben hat, und kann sich
daran machen, die Beschränkugen, die eine ältere Ordung oktroyiert
hatte - etwa die Zersplitterung grundherrlicher und klerikaler Gerichtsbarkeiten
oder die dualen Währungssysteme des Mittelalters oder die Leibeigenschaft
und die Adelsbindung von Grundbesitz -, nach und nach abzubauen.
(Ebd., S. 392-393.)
Will man nachzeichnen, welche Konsequenzen die Veränderungen
im Kommunikationssystem Gesellschaft für die Moral haben, genügt
es nicht, sich auf ideengeschichtliche Analysen zu stützen. So wichtig
solche Indikatoren sein mögen: wir benötigen eine formalere
Begrifflichkeit, da es darum geht, das Verhältnis der Verbreitungstechnologien
und der symbolisch generalisierten, aber problemspezifischen Kommunikationsmedien
zur Moral zu beurteilen. Deshalb greifen wir auf die Unterscheidung von
Medium und Form zurück. Das spezifische, aber zugleich universale
Medium der Moral wird durch die codierte Unterscheidung von Achtung und
Mißachtung bereitgestellt. Dessen Elemente bestehen aus Kommunikationen,
die zum Ausdruck bringen, ob betsimmte Personen zu achten oder zu mißachten
sind. Die Form der Elemente des mediums (also die Form des medialen
Substrats im Unterschied zu zu den im Medium gebildeten Formen)
unterscheiden sich nur durch die spezifische Codierung Achtung/Mißachtung,
gut/schlecht und durch die Unterscheidung von bloßer Anerkennung
von Fertigkeiten bzw. Leistungen. Sowohl der Bezug auf einzelne Personen
(man kann nicht die Menschheit achten bzw. verachten) als auch die Formalität
der Code-Differenz garantieren die lose Kopplung der Elemente des Mediums.
Die hohe Individualisierung der Personenreferenzen in der modernen Gesellschaft
verstärkt dieses »loose coupling«. Man kann nicht gut
eine ganze Familie verachten, weil einer ihrer Angehörigen im Gefängnis
sitzt oder die Tochter (seit geraumer Zeit eher:
der Sohn! HB) ein uneheliches Kind bekommen hat. Das Medium selbst
hat infolge dieser losen Kopplung hohe Stabilität. Es wäre deshalb
durchaus irrig, wollte man behaupte, daß in der modernen Gesellschaft
die Bedeutung der Moral abnimmt. Das Medium der Moral ist und bleibt verfügbar,
und zwar sowohl auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden als auch
im Bereich der Kommunikation über Massenmedien. Vor allem das Fernsehen
hat zu einer unübersehbaren Alltagsaktualität moralischer Kommunikation
geführt.
(Ebd., S. 400-401.)
Dies alles zugestanden, dürfte die wichtigste Veränderung
der Funktion moralischer Kommunikation darin liegen, daß die Moral
nicht mehr dazu dienen kann, die Gesellschaft im Blick auf ihren bestmöglichen
Zustand zu integrieren. Dies ist schon dadurch ausgeschlossen, daß
die besonderen symbolisch generalisierten Kommunkationsmedien eigenen
binären Codes folgen, deren Positiv-/Negativwerte nicht mit denen
der Moral gleichgesetzt werden können. Machthaber, Eigentümer,
Liebhaber, erfolgreiche Forscher sind nicht in bezug auf je ihren Code
zugleich als moralisch besser ausgewiesen, und erst recht würde die
Gesellschaft es nicht akzeptieren, diejenigen, die mactlos sind, kein
Eigentum haben, nicht lieben können usw. deshalb der moralischen
Verachtung preiszugeben. Wenn die Inkongruenz aller Codes untereinander
und in ihrem Verhältnis zum Moralcode offen zutage tritt, muß
die Gesellschaft darauf verzichten, sich selbst als moralische Anstalt
zu begreifen.
(Ebd., S. 403-404.)
Aber das schließt moralisierende Kommunikation keineswegs
aus. Manches deutet vielmehr daruf hin, daß die Moral jetzt eine
Art Alaramierfunktion übernimmt.
(Ebd., S. 404.)
Unter dem Namen Ethik schafft die Gesellschaft
sich die Möglichkeit, die Negation des Systems in das System einzuführen
und auf honorige Weise darüber zu reden. Daß es diese Gegensoll-Ethik
gibt, belegt die Autonomie und die operative Schließung des Systems,
das in der Lage ist, auch mit der Negation des Systems im System umzugehen.
Denn von außen kann die Gesellschaft nicht negiert, sondern nur
destruiert werden.
(Ebd., S. 405.)
Will man wissen, wie weit und mit welchen Konsequenzen
symbolisch generalisierte Medien die moderne Gesellschaft bestimmen und
ihre weitere Evolution konditionieren, muß man nicht nur auf die
Unausgewogenheit ihres eigenen Wachstums denken. Auch in anderen Hinsichten
ist ihre Wirkungsweise begrenzt, denn gerade in der Begrenzung liegen
ihre Chancen. Die Gesellschaft ist kein Nullsummenspiel. Sie entwickelt
Komplexität mit Hilfe von dafür geeigneten Kompelxitätsreduktionen.
(Ebd., S. 405-406.)
Wenn Medien die Autopoiesis eines Systems organisieren, gibt es
in diesem System immer viel mehr Kommunikation als nur das autopoietische
Minimum (so wie eine Zelle viel mehr chemische Moleküle enthält
als nur die, welche die Autopoiesis im strengen Sinne durchführen).
(Ebd., S. 406.)
In dem Maße, in dem die Systemdifferenzierung der Gesellschaft
sich auf symbolisch generalisierte Kommunkationsmedien stützt, wird
diese Distanz zur Moral funktionsnotwendig, aber zugleich wird die Moral
selbst damit zur frei flottierenden, störenden und stützenden
Orientierung; jedenfalls aber nicht zu einem Leitprinzip vernünftiger
Begründung.
(Ebd., S. 406.)
Die Religion selbst wäre jedoch gut beraten, wenn sie auf
Distanz zur Moral achten würde.
(Ebd., S. 407.)
Schließlich ist zu beachten, daß symbolisch generalisierte
Kommunikationsmedien nur für Funktionsbereiche geeignet sind, in
denen das Problem und der angestrebte Erfolg in der Kommunikation selbst
liegen. Ihre Funktion ist erfüllt, wenn die Selektion einer Kommunikation
weiteren Kommunikationen als Prämisse zugrunde gelegt wird. Sie eignen
sich deshalb nicht für Kommunikationsbereiche, deren Funktion in
einer Änderung der Umwelt liegt - sei dies eine Änderung der
physisch-chemisch-biologischen Umstände, sei es eine Änderung
der menschlichen Körper, sei es eine Änderung der Bewußtseinstrukturen.
Es gibt deshalb keine symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien für
Technologie, für Krankenbehandlung und für Erziehung. In diesen
Fällen tritt das Problem, das die Autokatalyse von symbolisch generalisierte
Medien in Gang setzt, nämlich das Problem sehr hoher Ablehnungswahrscheinlichkeit,
gar nicht auf. Zumindest für Krankenbehandlung und für Erziehung
sind eigene gesellschaftliche Funktionssysteme ausdifferenziert, die ohne
eigenes Kommunikationsmedium zurechtkommen müssen, vor allem mit
hoher Abhängigkeit von organisierter Interaktion. Keiner der drei
Problembereiche ist durch ein eizelnes Kommunikationsmedium beherrscht,
nicht durch Wahrheit und auch nicht durch Geld, obwohl der gegenwärtige
Entwicklungsstand ohne ausdifferenzierte Wissenschaft und ohne Geldwirtschaft
undenkbar wäre. (Wir behaupten diese Eigenständigkeit
extern gerichteter [immer natürlich: kommunkativer] Bemühungen
explizit auch für Technologie, sehen also auch und gerade in der
heutigen Technologie mehr als nur angewandte Wissenschaft. Siehe Kapitel
3, IX. Zahllose technologische Probleme - vom Eisenbahnbau bis zur ...
Sicherheitstechnologie - können nicht durch »Lesen« gelöst
werden, sondern sind auf Bau und Ausprobieren genau der Anlagen angewiesen,
die man kontruieren will. Daß dies wissenschaftlich ausgebildetes
Personal voraussetzt, versteht sich von selbst. Aber auch dessen Ausbildung
ist keine Forschung, sondern Erziehung.) Man muß deshalb
davon ausgehen, daß die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems
bei aller Bedeutung der symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
nicht einfach dem Medienschema folgen kann, sondern sich nach den Problemen
richtet, die die Gesellschaft auf ihrem jeweiligem Entwicklungsniveau
zu lösen hat.
(Ebd., S. 407-408.)
Die spezifische Modernität der Werte liegt letztlich darin,
daß sie als Form wie auch bei allen Anwendungen nicht auf Einheit
hinführen, sondern auf Differenz.
(Ebd., S. 409.)
Im Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien - der Sprache, der
Verbreitungsmedien und der symbolisch generalisierten Medien - kondensiert
das, was man mit einem Gesamtausdruck Kultur nennen könnte.
Kondensierung soll dabei heißen, daß der jeweils benutzte
Sinn durch Wiederbenutzung in verschiedenen Situationen einerseits derselbe
bleibt (denn sonst läge keine Wiederbenutzung vor), sich aber andererseits
konfirmiert und dabei mit Bedeutungen anreichert, die nicht mehr auf eine
Formel gebracht werden können. Das legt die Vermutung nahe, daß
der Verweisungsüberschuß von Sinn selbst ein Resultat der Kondensierung
und Konfirmierung von Sinn ist, die sich damit ihr eigenes Medium schafft.
(Ebd., S. 409.)
Evolution.
Gesellschaft ist das Resultat von Evolution.
Man spricht auch von »Emergenz«. Das ist aber nur eine Metapher,
die nichts erklärt, sondern logisch auf eine Paradoxie zurückführt.
(Ebd., S. 413.)
Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen
.... (.... Das heute bereits klassische »Paradigma«
dafür ist die chemische Unwahrscheinlichkeit von DNS-Molekülen.)
Für Statistiker ist das eine Trivialität (oder auch eine falsche
Anwendung statistischer Begriffe). Denn schließlich ist jede Merkmalsgesamtheit,
etwa die Eigenart eines bestimmten Menschen, wenn man nach den Bedinungen
des Zusammenkommens eben dieser Merkmale fragt, extrem unwahrscheinlich,
nämlich das Resultat eines zufälligen Zusammentreffens; aber
zugleich ist diese Unwahrscheinlichkeit in jedem Falle gegeben, also ganz
normal. Die Statistik kann und muß dieses Problem ignorieren. Für
die Evolutionstheorie liegt in der Auflösung dieser Paradoxie jedoch
der Ausgangspunkt. Die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens isolierter
Individuen oder auch isolierter Familien wird transformiert in die (geringere)
Unwahrscheinlichkeit ihrer strukturellen Koordination, und damit beginnt
die soziokulturelle Evolution. Die Evolutionstheorie verlagert das
Problem in die Zeit und versucht zu klären, wie es möglich ist,
daß immer voraussetzungsreichere, immer unwahrscheinlichere Strukturen
entstehen und als normal funktionieren. (In strukturalistischer
Manier könnte eine entsprechende Theorie der Wahrscheinlichkeit des
Unwahrscheinlichen mit Hilfe des Begriffs der Gewalt konstruiert
werden. Die universell verteilte virtuelle wird gedoppelt und in legitime
und nichtlegitime Gewalt unterschieden. Das geschieht nicht durch Sozialkontrakt
[Hobbes], sondern durch Evolution. In ihrer legitimen Form dient die Gewalt
[heute {noch! HB} als Staatsgewalt] dem Austreiben der illegitimen Gewalt.
Mit dieser Differenzierung wird Gewalt also durch Einschließen des
Ausschließens gekennzeichnet, und Legitimität ist, so gesehen,
kein Wertbegriff, sondern eben dieses Einschließen des Ausschließens
- eine Paradoxie, deren Auflösung sich als Staatsgewalt [oder als
deren funktionales Äquivalent] konstituiert. Siehe hierzu auch Dirk
Baecker, Gewalt im System, 1996, S. 92-109.) Ihre Grundaussage
ist: daß Evolution geringe Entstehenswahrscheinlichkeit in hohe
Erhaltungsswahrscheinlichkeit transformiert. Dies ist nur eine andere
Formulierung der geläufigeren Frage, wie aus Entropie (trotz des
Entropiesatzes) Negentropie entstehen kann. Es geht, mit nochmals anderen
Worten, um die Morphogenese von Komplexität. (Ebd., S. 413-415.)
Die neueren Evolutionstheorien erklären die Morphogeneses
von Komplexität nicht mit einem entsprechenden Gesetz (das
dann empirisch verifiziert werden kann) und auch nicht mit Rationalitätsvorteilen
von Komplexität, was eine zielstrebige, wenn nicht intentionale Deutung
von Evolution nahelegen würde. Vielmehr nimmt man an, daß die
Evolution sich rekursiv verhält, das heißt: dasselbe
Verfahren iterativ auf die eigenen Resultate anwendet. Dann muß
man aber genauer definieren, um was für ein »Verfahren«
es sich handelt. Wir werden dies im folgenden in Anlehnung an das neodarwinistische
Schema von Variation, Selektion und Restabilisierung versuchen.
(Ebd., S. 415-416.)
Eine weitere Annahme, für die wir empirische Evidenz in Anspruch
nehmen, lautet, daß im Laufe der Evolution die auf dem Erdball zu
findende Biomasse und ebenso, seitdem es Sprache gibt, die Menege der
kommunikativen Ereignisse zugenommen haben. Dies ist zunächst eine
rein quantitative und insofern leicht verifizierbare Feststellung. Will
man den Befund erklären, führt das zu der Annahme, daß
Mengensteigerungen dieser Art nur durch Differenzierungen möglich
sind. Und im Bereich der sprachlichen Kommunikation wird man hinzufügen
müssen, daß die mögliche Menge enorm zunehmen wird, wenn
Kommunikation auch neinläufigm also in der Form des Bestreitens oder
Ablehnens von Kommunikation möglich ist. (Vgl.
S. 221 ff..) Hinter der Annahme eienes quantitativen Wachstums
steht also die Voraussetzung struktureller Differenzierungen nichtbeliebiger
Art. Man kann dies auch auf die übliche Formel der Komplexitätssteigerung
bringen, etwa mit Darwin auf die Formel der Differenzierung und Spezialisierung
der Teile, sofern man nur die Zusatzannahme fallen läßt, daß
höhere Komplexität einer besseren Anpassung des Systeme an die
Umwelt dient. Mit all dem sind Richtungsangaben vorgeschlagen, aber dies
erklärt noch nicht, weshalb es zur Transformation von Unwahrscheinlichkeiten
in Wahrscheinlichkeiten und zu jenen differenzierungsgestützten Mengenzunahmen
gekommen ist. Der Evolutionstheorie ist ein Problem vorgelegt, aber damit
ist nur ein Rahmen abgesteckt, in dem nach Lösungen genau dieses
Problems zu suchen ist.
(Ebd., S. 416.)
Die Evolutionstheorie arbeitet durchaus mit Kausalannahmen, verzichtet
aber darauf, Evolution kausalgesetzlich zu erklären.
(Ebd., S. 416.)
Evolution ist ... eine Theorie des Wartens auf nutzbare Zufälle,
und dies setzt zunächst einmal voraus, daß es bestands- und/oder
reproduktionsfähige Systeme gibt, die sich selbst erhalten - und
warten können. Zeit gehört mithin zu den wesentlichen Voraussetzungen
von Evolution, und dies besagt unter anderem, daß zeitlich enge
Bindungen zwischen Umweltzuständen und Systemzuständen unterbrochen
sein müssen. Man nennt das heute auch »lose Kopplung«.
Evolution heißt demnach zunächst, daß die Zahl der Voraussetzungen,
auf die eine Ordnung sich stützen kann, zunimmt. Durch einen Prozeß
der sich selbst verstärkenden Abweichung von Grundannahmen der Gleichverteilung
entsteht eine Ordnung, in der Positionen, Abhängigkeiten, Erwartungen
in Abhängigkeit von eben dieser Ordnung mehr oder weniger sicher
erwartet werden können. Wenn überhaupt sinnhafte Kommunikation
möglich wird, wird die gleiche Wahrscheinlichkeit jeder bestimmten
Mitteilung zu jedem bestimmten Zeitpunkte ihrerseits unwahrscheinlich.
Spezifische Wahrscheinlichkeiten werden zu Erwartbakeiten verdichtet,
aber in einer fundamentalen Ungesichertheit aller Erwartungen macht sich
noch bemerkbar, daß sie an sich unwahrscheinlich sind.
(Ebd., S. 417.)
Die These der göttlichen Weltschöpfung ... erzeugt keine
Informationen mehr und dient nur noch, gleichsam zur Schonung der überlieferten
Religion, als Abschlußformel der Bezeichnung der anderenfalls unbeobachteten
Einheit der Welt. (Genau umgekehrt hatte Hegel argumentiert.
Siehe Vorlesungen über die Philosophie der Religion, zit.
nach Werke, Band 16, S. 20 ff.. Hegel sieht im Verzicht auf die detaillierten
Zwecknaturen einen Gewinn für die Frömmigkeit: »Was zum
Nutzen des einen, reicht dem anderen zum Nachteil, ist daher unzweckmäßig:
die Erhaltung des Lebens und der mit dem Dasein zusammenhängenden
Interessen, die das eine Mal befördert werden, sind das andere Mal
ebensosehr gefährdet und vernichtet. So liegt eine Entzweiung
in sich selbst darin, daß, der ewigen Wirkungsweise Gottes zuwider,
endliche Dinge zu wesentlichen Zwecken erhoben werden« [S. 21 f.].
In der Weltgeschichte des Geistes kann dies nur eine vorübergehende
Unzulänglichkeit sein.) (Ebd., S. 418.)
Geschichte als Prozeß. Ihre verbindliche
Form hat sie in der Geschichtsphilosophie Hegels gewonnen. Ihr liegt noch
die ins Zeitliche ausgearbeitete Vorstellung einer Hierarchie von niederen
und höheren Tätigkeiten zu Grunde. Mit den damit gegebenen Unterscheidungen
kann die Theorie im Verschiedenen dasselbe als tätig erweisen. Sie
baut, und gibt sich insofern als logische Metaphysik, das Moment der Negation
ein, mit dem das zu sich selbst kommende Höhere für sich
das Niedere als unzureichend, als Mangel, als Schmerz, als zu Überwindendes
auffaßt. Es entdeckt und realisiert in dieser Negation als eigener
seine »Freiheit«. Es findet damit in sich einen Widerspruch
und hat so die Wahl, an dem Widerspruch zu Grunde zu gehen oder, wie
die Philosophie rät, ihn »aufzuheben«. Um sich in dieser
Weise in sich reflektieren zu können, muß das Prinzip des Werdens
»Geist« sein. Der Geist bewegt sich mit Hilfe seiner Fähigkeit
des Unterscheidens bis hin zu seiner »absoluten« Endform des
Sich-in-sich-Unterscheidens. Der Geist reichert sich also nur an, er löscht
nichts aus. Er vergißt nichts. Er verzichtet auch nicht auf die
Realisation von Möglichkeiten. Deshalb liegt seine Perfektion darin,
daß am Ende nur noch das Ausschließen ausgeschlossen ist,
und dann ist alles Mögliche wirklich geworden.
(Ebd., S. 422-423.)
Zu dieser geschlossenen Form hat es seitdem nie wieder eine Theorie
gebracht, und alle Späteren müssen sich folglich davon unterscheiden.
Alle posthegelianischen Theorien müssen deshalb nicht den Ausschluß
des Ausschließens vorsehen, sondern den Einschluß des Ausschließens.
(Ebd., S. 423.)
Die Evolutionstheorie (wie weit immer sie sich heute von Darwin
entfernt haben mag) benutzt eine ganz andersartige Unterscheidung, um
die Unterscheidung bewegt/unbewegt (vgl. die Paradoxie
des unbewegten Bewegers, in der diese Unterscheidung zusammengefaßt
war; HB) zu ersetzen. Sie unterscheidet nicht Epochen, sondern
Variation, Selektion (nach Mersch:
Reproduktionsinteresse; HB) und Restabilisierung
(Vererbung; nach Mersch: Reproduktion;
HB). Sie erklärt damit, in der alten Sprache ausgedrückt,
die Entstehung der Wesensformen und Substanzen aus dem Akzidentellen.
Sie löst die Ordnung der Dinge von jeder Bindung an einen Ursprung,
an einen formgebenden Anfang ab. Sie kehrt das begriffliche Gerüst
der Weltbeschreibung einfach um.
(Ebd., S. 425-426.)
Solange man mit Darwin von einer »natürlichen Selektion«
ausging, lag darin zugleich eine Garantie für Stabilität. Nicht
alle, aber die gut angepaßten Systeme galten deshalb als stabil,
solange sich die Umwelt nicht änderte. Einbe besondere Funktion der
Restabilisierung kam nicht in Frage. Das wird anders, wenn man das Prinzip
der natürlichen Selektion aufgibt (was man
- zumindest teilweise - sollte und muß! HB) und die
Evolutionstheorie auf Co-Evolution strukturell gekoppelter, autopoietischer
Systeme umstellt. Dann müssen diese Systeme selbst für ihre
Stabilität sorgen, um weiterhin an Evolution teilnehmen zu können.
Man braucht jetzt drei evolutionäre Funktionen oder Mechanismen,
von denen Variation und Selektion Ereignisse bezeichnen, die Funktion
der Restabilisierung dagegen die Selbstorganisation evoluierender systeme
als Voraussetzung dafür, daß Variation und Selektion überhaupt
möglich sind.
(Ebd., S. 426-427.)
Restabilisierung ... als der dritte Faktor
der Evolution (die anderen beiden sind Variation
und Selektion; HB) ist mithin Anfang und Ende zugleich,
ist ein Begriff für ihre Einheit, die, weil es auf Strukturveränderung
hinausläuft, als dynamische Stabilität beschrieben werden kann.
Im zeitabstrakten Modell beschreibt die Evolutionstheorie ein zirkuläres
Verhältnis. Sie deutet damit zugleich an, daß, und wie, Zeit
als asymmetrischer Faktor einspringt. Eben deshalb scheint es bei oberflächlicher
Beschreibung, die freilich das Ausgangsparadox völlig verdrängt,
um einen Prozeß zu gehen.
(Ebd., S. 428.)
Nach diesen Klarstellungen braucht kaum noch betont zu werden,
daß die Evolutionstheorie keine Theorie deds Fortschritts ist. Sie
nimmt Emergenz und Destruktion von systemen mit Gleichmut hin. Darwin
hat sich denn auch (allerdings nicht ganz konsequent) geweigert, Ausdrücke
wie »höher« oder »niedriger« zur Charakterisierung
der Arten zu verwenden. Schon die Vorstellung, Evolution verbessere die
Anpassung der Systeme an ihre Umwelt, läßt sich nicht als Fortschritt
begreifen, weil man dabei unterstellen muß, daß die Umwelt
sich laufend ändert und immer neue Anpassungen auslöst. Ebenso
fraglich wird, ob man weiterhin Spezialisierung als eine Art evolutionären
Attraktor ansehen kann, der - aber wie eigentlich? - dazu führt,
daß mehr und mehr spezifische Kompetenzen, Rollen, Organisationen,
Systeme ausdifferenziert werden. Offenbar hat sich hier die ökonomische
Theorie der Arbeitsteilung und der Beschränkung von Konkurrenz durch
Diversifikation von Märkten der Evolutionstheorie aufgedrängt
und ist, vor allem durch Spencer, zu einem allgemeinen historischen Gesetz
generalisiert worden - nur um die Evolutionstheorie zu provozieren, dann
ihrerseits den Evolutionsvorteil des Unspezifizierten zu entdecken. Solche
Vorstellungen brauchen nicht der pauschalen Ablehnung zu verfallen; aber
man muß mit Hilfe der Evolutionstheorie im enegeren Sinne prüfen,
ob und wie weit sie haltbar sind. (Ebd., S. 428-429.)
Aber immer realisieren sich Strukturen nur in der Dirigierung
(Einschränkung des Möglichkeitsbereichs) des Fortgangs von Operation
zu Operation. Und es ist dieser Operationsbezug (in unserem Falle also:
Kommunikationsbezug), der die Strukturen der Gesellschaft der Evolution
aussetzt.
(Ebd., S. 431.)
Evolution ist immer und überall.
(Ebd., S. 431.)
Das 19. Jahrhundert hatte eine Semantik der Demographie, der Populationen,
der Erblichkeit bevorzugt. Je unsicherer die Semantik der Subjektivität
und der Freiheit, desto sicherer dann doch das Leben und die Leiblichkeit.
Ohne diesen Hintergrund ist das Interesse Darwins und vor allem das Interesse
der Ideologen an Darwin nicht zu denken. Bei all den zahlreichen Varianten,
die man vorfindet, dient das Inviduum als letzte Referenz; und das gilt
auch für Versuche, Handlungstheorie mit Evolutionstheorie zu kombinieren.
Man gelangt damit nicht über die Theorien des 19. Jahrhunderts hinaus,
die das Individuum für die Selbststeuerung des evolutionären
Prozesses in Anspruch nehmen, also für Entwicklungstheorien, die
sich als Geschichtstheorien vorstellen und oft den Ausdruck Evolution
explizit zurückweisen. Hier scheint denn auch mehr als in der Absage
an religiöse Erklärungen das einigende Band der meisten Evolutions-
oder Geschichtstheorien des 19. Jahrhunderts (Hegelderivate ausgenommen)
zu liegen und damit der unbestrittene Ausgangspunkt aller Kontroversen.
(Das wird nicht prinzipiell anders, wenn man ...
unterscheidet zwischen Personen als sinngebender, handelnder Einheit und
Individuum als eine Einheit, in der eine Fülle von objektiven Ereignissen
passieren ....) Die Systemtheorie erzwingt, verglichen damit, schärfere
Abstraktionen, aber auch größere Genauigkeit in den Begriffen.
(Ebd., S. 432.)
Die Systemtheorie hat es nicht mit einer besonderen Art von Objekten
zu tun, sondern benutzt eine bestimmte Unterscheidung, nämlich die
Unterscheidung von System und Umwelt.
(Ebd., S. 433.)
Nur die Differenz von System und Umwelt ermöglicht Evolution.
Anders gesagt: Kein System kann aus sich heraus evoluieren. Wenn nicht
die Umwelt stets anders variierte als das System, würde die
Evolution in einem raschen »optimal fit« ein rasches Ende
finden. Daraus folgt auch, daß Evolution zwar nicht Anpassung des
Systems an die Umwelt bewirken muß, wohl aber Angepaßtheit
des Systemns an die Umwelt als eine Art Mindestbedingung voraussetzt.
(Ebd., S. 433.)
Vor allem aber ist zu beachten, daß die Differenz von System
und Umwelt jeder Änderung einen Multiplikationseffekt gibt.
Sie ändert ein System und damit zugleich die (relevante oder irrelevante)
Umwelt anderer Systeme. Jede Änderung setzt also mit hoher Wahrscheinlichkeit
eine Mehrzahl von Wirkungen in Gang, die gleichzeitig und dadurch unabhängig
voneinander Wirkungen erzeugen, für die dann wieder das gleiche gilt.
Die Welt wird aus sich heraus dynamisch, und zwar gerade wegen der Gleichzeitigkeit
des Geschehenden und wegen der damit verbundenen Unmöglichkeit einer
Koordination. Wenn, mit anderen Worten, sowohl das System, das man beobachtet,
als auch die Systeme in seiner Umwelt evoluieren (also: ko-evoluieren)
kommt es zu einem »co-evolution of unsustainability« (einer
«Ko-Evolution der Unnachhalitigkeit«! HB), und darauf
können Beobachter nur mit der Beobachtung von »Zufällen«
reagieren. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, welche
Rolle der »Zufall« in der Evolutionstherie spielt.
(Ebd., S. 433-434.)
Nimmt man diesen differenztheoretischen Ausgangspunkt ernst, wird
ein alter Streit über das relative Gewicht externer und interner
Ursachen (exogene vs. endogene Evolution) obsolet. Mit Hilfe des Begriffs
der »Population« hatte die ältere Evolutionstheorie die
Ursachen für Variation systemintern lokalisiert. Das hat einerseits
dazu geführt, in demographischen Variablen, hauptsächlich im
unwiderstehlichen Trieb der Menschen, sich zu vermehren, den Auslösefaktor
aller evolutionären Höherentwicklung zu sehen, so z.B. für
den Übergang zur Landwirtschaft, für Arbeitsteilung, für
die Bildung von Hierarchien. Solche Ein-Faktor-Erklärungen gelten
heute als überholt. Auch von dem hier vertretenen Gesellschaftsbegriff
aus müßte man aber von Variablen wie Kommunikationsdichte oder
Häufigkeit und Diversität des Informationsanfalls ausgehen und
vor allem: zirkuläre Verhältnisse der Abweichungsverstärkung
in Betracht ziehen.
(Ebd., S. 434-435.)
Eine Population besteht, und insofern löst der Begriff den
älteren typologischen Essentialismus der Arten und Gattungen ab,
aus Individuen, und das heißt: aus verschiedenen Individuen.
Sie ist also eine polymorphe Einheit. Dabei wird nicht etwa, wie im späteren
Sozialdarwinismus, das Vorkommen besonders kreativer, innovationsstarker,
durchsetzungsfähiger Individuen als Quelle der Variation angesehen,
sondern die Verschiedenheit der Individuen im Kollektiv der Population.
Für die Biologie heißt das, daß die genetische Heterogenität
der Populationen mehr als vielleicht die »natürliche Selektion«
Evolution erklärt.
(Ebd., S. 435.)
Andererseits wurde der Selektionsmechanismus in die Umwelt ausgelagert.
In diesem Sinne wurde von »natürlicher Selektion« gesprochen.
Wenn man die Systemtheorie jedoch radikal als Theorie der Produktion und
Reproduktion einer Differenz von System und Umwelt formuliert, ist es
wenig sinnvoll, diese Verteilung auf interne (Variation) und externe (Selektion)
Faktoren beizubehalten. Es genügt dann auch nicht, lediglich den
Begriff der »natürlichen Selektion« zu kritisieren ....
Ebensowenig überzeugt das entgegengesetzte Manöver, nämlich
der soziologischen Theorie, die bisher endogene Ursachen deutlich favorisiert
hatte, den Begriff der »natürlichen Selektion« und in
diesem Sinne Orientierung an externen Ursachen zu empfehlen. Kausalaussagen
setzen immer eine Selektion, also eine Zurechnung von Ursachen und Wirkungen
voraus, also einen Beobachter. Aber die Evolution rechnet nicht zu, und
sie beobachtet sich auch nicht selber.
(Ebd., S. 435-436.)
Von einer Evolution des Sozialsystems Gesellschaft kann man dagegen
nur sprechen, wenn man nicht an ein lebendes, sondern an ein kommunizierendes
System denkt, das in jeder seiner Operationen Sinn reproduziert, Wissen
voraussetzt, aus eigenem Gedächtnis schöpft, kulturelle Formen
benutzt.
(Ebd., S. 436.)
Typen autopoietischer Operationen und entsprechender
Systembildungen - wir denekn an Leben, an Bewußtsein und an Kommunikation
- sind gleichsam Einmalerfindungen der Evolution, die sich auf Grund ihres
Strukturentwicklungspotentials bewähren. Die Bewährung aber
liegt in der Spezifikation von sehr verschiedenen Formen, die sich im
Medium der autopoietischen Notwendigkeit bilden und weiter spezifizieren
können. Dies Zusammenspiel von Selbstfortsetzung und Strukturbildung
ermöglicht und erzwingt Evolution, ohne daß man dabei »natürliche
Selektion« oder andere Arten externer Strukturdeterminanten unterstellen
müßte. Also kommt es auch gar nicht auf eine nahezu optimale,
jedenfalls konkurrenzüberlegene Anpassung an die Umwelt an. Unter
gleichen ökologischen Bedingungen können sehr verschieden ausgestattete
Lebewesen überleben.
(Ebd., S. 438.)
Hiermit wird auf grundsätzliche Weise
dem Forschungsprogramm der Soziobiolgie widersprochen. Die genetische
Determination des Lebens ist ein unbestrittener Ausgangspunkt. Aber darus
folgt gerade nicht, daß auch Sozialordnungen von da aus determiniert
seien (wobei natürlich zu konzedieren ist, daß keine Sozialordnung
Bestand haben kann, die verlangen würde, daß die Menschen ständig
auf den Händen statt auf den Füßen kaufen). Vielmehr wird
die genetische Determination des Lebens kompensiert durch eine mit hohen
(kann man sagen: höheren? [ja! HB])
Freiheitsgraden ausgestattete gesellschaftliche Ordnung sozialer Systeme.
(Dies erinnert mich sehr an die Kategorien- bzw.
Schichtenlehre von Nicolai Hartmann, in der die »höheren«
Schichten »freier« sind als die »niedrigeren«,
von denen sie jedoch »getragen« [und insofern: »determiniert«]
werden. HB.) Und diese entwickelt Strukturdetermination eigenen
Typs.
(Ebd., S. 438-439.)
Zunächst sei daran erinnert, daß
alle autopoietischen Systeme ihre Operationen immer nur in der je aktuellen
Gegenwart durchführen. Auch die rekursive Vernetzung der Operationen
erfolgt in der Gegenwart auf Grund gegenwärtig verfügbarer Bedingungen
und Anschlußmöglichkeiten. Für die Operation (und das
gilt auch für Kommunikation, wenn dies eine autopoietische Operation
sein soll) gibt es daher nie einen Anfang, weil das System immer schon
angefangen haben muß, um seine Operationen aus eigenen Produkten
reproduzieren zu können, und ebenso kein Ende, weil jede weitere
Operation im Hinblick auf weitere Operationen produziert wird. (Bei
der behandlung von Interaktionen, die als Episoden angelegt sind, werden
wir auf diese Frage nochmals zurückkommen und zeigen, daß Episodisierung
nur mit Hilfe der Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaftz, also
nur in einer ihrerseits endlosen Gesellschaft möglich ist.
Vgl. S. 816.) Nur ein Beobachter (und das kann das operierende
System selber sein) kann einen Anfang und ein Ende feststellen, wenn er
eine entsprechende Konstruktion des Vorher/nachher zu Grunde legt. Nur
wenn das System operiert und wenn es hinreichende Komplexität aufgebaut
hat, um sich selbst in der Zeitdimension beschreiben zu können, kann
es seinen Anfang »postizipieren«. Die Bestimmung eines Anfangs,
eines Ursprungs, einer »Quelle« und eines (oder keines) »Davor«
ist ein im System selbst angefertigter Mythos - oder die Erzählung
eines anderen Beobachters.
(Ebd., S. 440-441.)
Ohnehin ist ja die Zeitdimension kein System/Umwelt-Schema in
dem Sinne, daß Systeme in der zeit existierten und Vergangenheit
bzw. Zukunft ihre Umwelt bildeten. Die System/Umwelt-Differenz kann ausschließlich
in der Sachdimension (da, wo differenziert
wird; HB) beobachtet werden. Der Beobachter kann sie dann zwar
als Differenz in die Vergangenheit bzw. Zukunft verlängert denken
und sich dabei einen Anfang und ein Ende vorstellen - aber auch dies nur
als gegenwärtige mit der jeweiligen Umwelt gleichzeitige Operation.
(Ebd., S. 441-442.)
So kommt zum Beispiel Kommunikation (also Gesellschaft) immer
dann in Gang, wenn man beim Beobachten (das dadurch »Verstehen«
wird) Mitteilung und Information unterscheiden kann. Das ist auch vorsprachlich
schon möglich, aber die Sprache drängt diese Unterscheidung
derart zwingend auf, daß der Verstehende, wenn er dann slebst spricht,
sich auf eben den Mechanismus stützen kann, der ihm das Verstehen
ermöglicht. So entsteht eine rekursive Schließung, die keinerlei
Elemente aus der Umwelt benutzt, sondern mit einer emergenten Unterscheidung
arbeitet. daß auch das Bewußtsein sich mit Hilfe solcher Rückgriffe
reproduziert, ist ebenfalls leicht naczuweisen. (Nach
dem Unfall weiß man, was man erlebt hat und warum man sich so verhalten
hat, wie man sich verhalten hat, so als ob alles unter bewußter
Kontrolle abgelaufen sei; oder man weß [aber man weiß!], daß
man sich nicht deutlich genug erinnern kann.)
(Ebd., S. 442.)
Diese Exklusivität von Sprache hat gerade im Verhältnis
zur Umwelt wichtige Vorteile. Sie ermöglicht ein laufendes Sicheinlassen
des Systems auf eine ständig wechselnde Umwelt; also nicht nur eine
Einmalanpassung der Systemstrukturen an dauernde oder wiederkehrende Umweltzustände,
sondern (wie schon beim Sehvermögen von Organismen) ein vorübergehendes
Sicheinlassen auf vorübergehende Zustände auf Grund von
Strukturbedingungen, die nur im System und nicht in der Umwelt gegeben
sind. Alle in der Gesellschaft eingerichteten Teilsysteme können
sich dann auf besondere Opportunitäten spezialisieren. Wann die Evolution
dieser Bedingung »angefangen« hat, läßt sich dann
nicht mehr objektiv-eindeutig bestimmen, vielmehr wird eine solche Zäsur
im System selbst konstruiert, so als ob es sich um ein Ereignis gehandelt
habe, dem das geschlossene System seine Existenz und seine Kriterien verdankt.
Nur ein besonders ausgerüsteter Beobachter wird dann die Frage nach
den Vorentwicklungen, den die Schließung ermöglichenden und
begünstigenden Vorbedingungen stellen und nach Maßgabe seiner
Erkenntnismöglichkeiten beantworten können. Dieser Grundvorgang
läßt sich vielfach variieren, wo immer es gelingt, autopoietische
Systeme zu bilden. Eine Adelsschicht schließt sich über Endogamie
oder über andere Mechanismen ab - aber natürlich nur, wenn man
die Familien erkennen kann, die dafür in Betracht kommen. Und dann
erst werden Genealogien konstruiert, die bei Heroen oder Göttern
oder Familienstiftern enden. (Daß hierzu auch
Schrift erforderlich ist, ohne die man schwerlich zu stabilen Ahnen kommt,
läßt sich an griechischen Beispielen studieren. ....)
Die Ausdifferenzierung eines Rechtssystems setzt vorhandene Mengen von
Streit- und Streitlösungsereignissen voraus, an denen man Regeln
der weiteren Praxis erkennen kann, auch wenn das, was man erinnert, überhaupt
nicht im Sinne einer Anwendung von Regeln abgelaufen war. Die Wissenschaft
kann als eigenes autopoietisches System nur entsteven, wenn es hinreichend
große Mengen von Wissen schon gibt, das man dann kritisch daraufhin
durchsehen kann, ob es sich um wahres oder um unwahres Wissen handelt.
Die ersten Geldprägungen waren nicht für Tauschzwecke bestimmt
gewesen, sondern dienten als Verrechnungseinheiten in hauswirtschaftlichen
Zusammenhängen. Geld kam zunächst als Zeichen für unausgeglichene
Leistungsverhältnisse, gewissermaßen als Ersatz für D.ankbarkeit
in Gebrauch. (Vgl. auch S. 348 f..) Nachdem
es dann aber eine hinreichend große Menge solcher Geldstücke
gab und eine Tauschwirtschaft entwickelt genug war, um am Problem des
Findens passender Gegenstücke zu stagnieren, konnte sich eine Gel,dwirtschaft
ausdifferenzieren -wie gering am Anfang auch Umfang und Komplexität
der Geschäfte gewesen sein mögen. Mit der Ausdifferenzierung
einer auf Münzgeld beruhenden Wirtschaft kommt es dann zu einer rapiden
wirtschaftlichen Entwicklung, die sich weder auf den vorigen Stand noch
auf die »Erfindung« des Münzgeldes zurückführen
läßt, sondern nur auf ihr eigenes rekursives Netzwerk, das
Annahmebereitschaft von wie immer wertgarantiertem Geld unterstellen kann.
Oder, um mit einem Beispiel aus der Frühmoderne zu schließen:
Der unter dem Titel Souveränität ausdifferenzierte Staat setzt
Herrschaftsstrukturen älterer Art voraus, versteht sie aber im Rückblick
dann völlig neu - so als ob es immer schon souveräne Rechtskonzentration
gegeben hätte und nur die Mißbräuche des Adels das alte
System ruiniert hätten. Mit der Verkündung des souveränen
Staates nehmen, besonders im Frankreich der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts, die Geschichtsschreiber ihre Arbeit auf. Die Gegenwart braucht
eine zu ihr passende Vergangenheit.
(Ebd., S. 442-445.)
Unsere Analysen zeigen, daß das Problem des allmählichen
Anfangens nur gelöst werden kann, wenn man den zu Grunde liegenden
Zeitbegriff revidiert. Ebenso einschneidende Änderungen sind erforderlich,
um den Begriff der Anpassung anzupassen.
(Ebd., S. 445.)
Schon in der über Spencer und Darwin hinausgehenden
Evolutionstheorie haben sich schwerwiegende Bedenken gegen die Annahme
ergeben, über »natural selection« würden die bestangepaßten
(oder doch: die am wenigsten schlecht angepaßten) Systeme zum. Überleben
ausgewählt. (.... Eine verbreitete Kritik läuft
auf einen Vorwurf der Tautologie hinaus [Anpassung=Überleben=Anpassung];
aber das ließe sich ausräumen.) Irritiert hat ferner,
daß offensichtlich manche Arten von Lebewesen über Jahrmillionen
unverändert existieren können, während andere durch Anpassungsdruck
evoluieren. (Hier hatte zunächst das Konzept
der evolutionären »Nische« geholfen, aber das verschiebt
nur die Problemstellung, denn damit bekommt nun die Unterscheidung Nischel/Nichtnische
eine für die Theorie zentrale Bedeutung.) Außerdem gibt
es in sehr vielen Fällen - und diese Einsicht ist für die Evolutionstheorie
erklärungswesentlich - Angepaßtsein schon vor dem Bedarf. So
gab es schon vor der Erfindung des DDT daran angepaßte Insekten,
die dann überleben konnten. Im allgemeinen beschränkt die biologische
Kritik des älteren Adaptionismus sich auf die Feststellung, daß
nicht alle Veränderungen der Phänotypik von Lebeweien
als bessere Anpassung erklärt werden können. Erst die Theorie
autopoietischer Systeme erzwingt eine begriffliche Revision. Für
sie ist Angepaßtsein Voraussetzung, nicht Resultat von Evolution;
und Resultat dann allenfalls in dem Sinne, daß die Evolution ihr
Material zerstört, wenn sie Angepaßtsein nicht länger
garantieren kann. Die Erklärungslast trägt jetzt der Begriff
der »strukturellen Kopplung«. Über strukturelle Kopplung
ist eine für die Fortsetzung der Autopoiesis ausreichende Anpassung
immer schon garantiert. Die Bewegungsfähigkeit der Lebewesen harmoniert
mit der auf der Erde gegebenen Schwerkraft. Aber damit ist noch nicht
gesagt, in welchen Formen; ob als Saurier oder als Insekten, diese Gelegenheit
genutzt wird. Und so hängt auch die gesellschaftliche Kommunikation
in vielen Hinsichten (zum Beispiel, was mögliches Tempo betrifft)
von der strukturellen Kopplung an Bewußtseinssysteme ab, ohne daß
damit determiniert wäre, was kommuniziert wird und wie das autopoietische
System der Gesellschaft seine Grenzen zur Umwelt zieht. Von der Evolution
ist also keine immer bessere Anpassung der Übrigbleibenden zu erwarten;
und ein Blick auf die ökologischen Probleme der modernen Gesellschaft
dürfte wohl genügen, um einer solchen Annahme jede Plausibilität
zu entziehen. Gerade weil autopoietische Systeme operativ geschlossene
Systeme sind, haben sie einen großen Spielraum für die Entwicklung
von Strukturen, die sich als mit Autopoiesis kompatibel erweisen. Auf
der Basis des Angepaßtseins können so immer gewagtere Unangepaßtheiten
entstehen - solange die Fortsetzung der Autopoiesis selbst nicht unterbrochen
wird.
(Ebd., S. 445-446.)
Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen
muß und kann die Bedeutung des Begriffs der Komplexität für
ein Verständnis von Evolution neu bestimmt werden. Die alte Vorstellung,
Evolution sei ein Prozeß, der von einfachen zu komplexen Verhältnissen
führe, ist schon deshalb unhaltbar, weil es keine einfachen Verhältnisse
gibt; und außerdem deshalb, weil offenbar weniger komplexe und komplexere
System auch heute noch zusammen existieren, also nicht etwa die einen
durch die anderen (etwa wegen »besserer« Anpassungfähigkeit)
ersetzt worden sind. Wenn man Richtungsangaben dieser Art findet, handelt
es sich um simplifizierende Selbstbeschreibungen der modernen Geseilschaft,
und speziell für sie sind solche Beschreibungen auch plausibel, weil
sie ohnehin nur noch ein einziges globales System ist und keine »einfachen«
Gesellschaften in sich oder neben sich duldet. Die Evolution selbst benötigt
keine Richtungsangaben. Sie ist ohnehin kein zielorientierter Prozeß.
(Ebd., S. 446-447.)
Jedenfalls ist die Evolutionstheorie durchaus kompatibel mit der
Beobachtung, daß hochkomplexe Systeme wieder zerstört oder
aufgegeben werden, daß sie oft eine zu geringe Evolutionsfähigkeit
besitzen und daß die Evolution nicht selten hochkomplexe Arrangements
durch überlegene Vereinfachung ersetzt. (Wer
an der These festhält, daß Evolution ein komplexitätssteigernder
Prozeß sei, muß diese Phänomene folglich als »Devolution«
bezeichnen. ....) Vor allem im Blick auf Sprache ist die These
einer im Laufe der Evolution immer zunehmenden Komplexität unhaltbar.
Bei all diesen Einwendungen kann jedoch nicht bestritten werden, daß
es im Laufe der Evolution zu Komplexitätstests und zum Aufbau komplexerer
Systeme neben anderen kommt. Komplexität ist ein epigenetisches Produkt
der Operationsweise autopoietischer Systeme. (Auf
anderen Theoriegrundlagen wird auch von Biologen betont, daß Komplexität
epigenetisch mitproduziert wird, daß aber der eigentliche Effekt
der Evolution im Aufbau von Systemstrukturen bestehe. ....) Sie
erlaubt unter weiter zu klärenden Bedingungen mehr (oder »weichere«)
strukturelle Kopplungen zwischen System und Umwelt und folglich differenziertere
lrritierbarkeiten des Systems. Aber niemals kann Komplexität selbst
ein Selektionskriterium sein (sie ist dafür zu komplex). (Dies
gilt bereits für die physisch-chemische und erst recht für die
organische Evolution. ....) lm einzelnen muß man daher immer
fragen, »what kinds of situations would give positive selective
value to increased or decreased complexity«, und nur weil beides
möglich ist, kommt es im Laufe der Evolution auch zum Aufbau
hochkomplexer Systeme. Diese Neukonzipierung des Verhältnisses von
Evolutionstheorie und Systemtheorie kann der Tatsache Rechnung tragen,
daß Neuentwicklungen oft abrupt und sehr rasch und unter Sonderbedingungen
erfolgen, also sich gerade nicht aus den bereits realisierten Strukturen
von Großsystemen oder Populationen ergeben. Man denke an die Besonderheiten
der hebräischen oder der griechischen Randkultur der alten Welt,
also an das, was Parsons »seed-bed societies« genannt hat.
Schließlich bedarf auch der vielleicht wichtigste, jedenfalls skandalträchtigste
Begriff der Evolutionstheorie einer systemtheoretischen Reintegration:
der Begriff des Zufalls.
(Ebd., S. 447-448.)
Die Bedeutung von Zufall in der Evolutionstheorie
könnte so verstanden werden, als ob die Theorie auf ein Postulat
der Unkenntnis gegründet sei - Unkenntnis bezogen auf die mikrophysikalischen,
chemischen, biochemischen, neurophysiologischen, psychologischen Prozesse,
die dann letztlich doch determinieren, was geschieht. Damit würde
das Problem jedoch auf eine erkenntnistheoretische Fassung und auf ein
Paradox (Wissen gründet auf Nichtwissen) reduziert werden. Aber dies
ist nur ein Sonderfall eines viel allgemeineren Gesetzes, daß nämlich
Systeme immer begrenzte (reduzierte und gesteigerte) Resonanzfähigkeit
aufweisen und füreinander, wenn man so formulieren darf, nur über
»Fenster« zugänglich sind. In anderen Begriffen könnte
man auch sagen, daß alle Systeme Messungen durchführen müssen,
um Informationen zu erzeugen, nach denen sie sich richten können.
Deshalb ersetzt ein System Vollkenntnis der Umwelt durch Einstellung auf
etwas, was für es Zufall ist. Nur dadurch ist Evolution möglich.
(Ebd., S. 448-449.)
Im Unterschied zu älteren Annahmen dient der Begriff also
nicht der Negation von Kausalität, er besagt nicht: Ursachelosigkeit
des Vorkommens. »Zufall« ist also auch nicht eine kausale
Verlegenheitskonstruktion, etwa die Ursache, die man (gleichsam zur Vervollständigung
des Kausalschemas der Welterklärung) noch benennen kann, wenn man
keine Ursache benennen kann. Wir geben dem Zufallsbegriff keinerlei kausaltheoretische
Bedeutung. In äußerster Abstraktion kann von Zufall als einem
differenztheoretischen Grenzbegriff gesprochen werden. Zufall heißt
dann, daß die Bestimmung der einen Seite einer Unterscheidung nichts
besagt für die Bestimmung der anderen Seite. So versteht Hegel den
Begriff Zufall und entsprechend den Gegenbegriff Notwendigkeit. Uns genügt
eine nengere Fassung, bezogen auf die Unterscheidung von System und Umwelt.
Wir verstehen unter »Zufall« eine Form des Zusammenhangs von
System und Umwelt, die sich der Synchronisation (also auch der Kontrolle,
der »Systematisierung«) durch das System entzieht. Kein System
kann alle Kausalitäten beachten. Deren Komplexität muß
reduziert werden. Bestimmte Kausalzusammenhänge werden beobachtet,
erwartet, vorbeugend eingeleitet oder abgewendet, normalisiert - und andere
werden dem Zufall überlassen. Die »Irregularität«
von Zufall ist, mit anderen Worten, kein Weltphänomen und folglich
ist es auch nicht sinnvoll, sie in die Diskussion über Determinismus/Indeterminismus
einzubringen. Sie setzt eine Systemreferenz voraus, denn nur so kann ein
Beobachter sagen, für wen etwas Zufall ist. (Ebd., S. 449-450.)
Diese eher negative Charakterisierung ergänzen wir durch
eine positive. Zufall ist die Fähigkeit eines Systems, Ereignisse
zu benutzen, die nicht durch das System selbst (also nicht im Netzwerk
der eigenen Autopoiesis) produziert und koordiniert werden können.
So gesehen sind Zufälle Gefahren, Chancen, Gelegenheiten. »Zufall
benutzen« soll heißen: ihm mit Mitteln systemeigener Operationen
strukturierende Effekte abzugewinnen. Die Effekte können, gemessen
an vorhandenen Strukturen, sowohl konstruktivais auch destruktiv sein
(sofern dies sich langfristig gesehen überhaupt unterscheiden läßt).
In jedem Fall erweitert die Beobachtung von Zufällen die Informationsverarbeitungskapazität
des Systems und korrigiert damit, im Ausmaß des Möglichen,
die Engigkeit der eigenen Strukturbildungen, ohne die Orientierungsvorteile
dieser Engführung preiszugeben.
(Ebd., S. 450.)
Die Eigenständigkeit der Evolutionstheorie
liegt in der Eigenständigkeit ihrer Unterscheidungen. Seit Darwin
spricht man von Variation und Selektion. Da Selektion jedoch zweischneidig
wirkt, indem sie das Vorhandene entweder gegen Variation schützt
oder aber ändert, brauchen wir einen weiteren Begriff. Wir werden
von Restabilisierung sprechen. Wie unsere Rahmentheorie lehrt (siehe
I., S. 413-431), geht es dabei um ein Paradoxieauflösungsprogramm,
um die Entfaltung der Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen.
Deshalb werden mit diesen Begriffen Formen bezeichnet, also identifizierbare
Unterschiede, und das dürfte gerade hier unmittelbar einsichtig sein.
Variation heißt nicht einfach Veränderung (denn das wäre
dann ja schon die Evolution), sondern Herstellung einer Variante für
mögliche Selektion. Und ebenso meint Selektion im evolutionstheoretischen
Kontext nicht einfach die pure Tatsache, daß etwas so-und-nicht-anders
geschieht, sondern der Begriff bezeichnet Selektion aus Anlaß einer
Variation, die im System vorkommt. Es geht also um korrespondierende Begriffe,
die außerhalb der Evolutionstheorie keine Verwendung haben, und
eben dieses immanente Bezogensein ihrer Leitunterscheidung gibt dem Begriff
der Evolution seine Form.
(Ebd., S. 451.)
Während Phasenmodelle die Differenz in die bloße Sukzession
verlegen und den historischen Prozeß dann nur noch als Einheit dieser
Differenzen beschreiben können, setzt die Evolutionstheorie die Erzeugung
von Differenz im Zeitlauf selbst voraus und kann dadurch das Differenzprinzip
reflexiv werden lassen. Die Variation erzeugt, wie immer sie empirisch
operiert, eine Differenz, nämlich im Unterschied zum bisher Üblichen
eine Abweichung. Diese Differenz erzwingt eine Selektion - gegen oder
für die Innovation. Die Selektion wiederum erzwingt, wenn sie das
Neue wählt, Kaskaden von Anpassungs- oder Abgrenzungsbewegungen im
System, und, wenn sie es beim Alten beläßt, Bestätigungen
für diese Option, da das vordem Selbstverständliche kontingent
geworden ist. Die Unterscheidungen der Evolutionstheorie bezeichnen mithin
Differenzen, die Differenzen prozessieren. Und es ist diese Struktur,
die es unnötig werden läßt, von einerm Endziel oder einem
Gesetz der geschichtlichen Bewgung zu sprechen.
(Ebd., S. 451-452.)
Wir schlagen vor, die unterschiedlichen Komponenten
der Evolution auf unterschiedliche Komponenten der Autopoiesis des Gesellschaftssystems
zu beziehen, und zwar in folgender Weise:
(1) |
Durch Variation werden die
Elemente des Systems variiert, hier also die Kommunikationen.
Variation besteht in einer abweichenden Reproduktion der Elemente
durch die Elemente des Systems, mit anderen Worten: in unerwarteter,
überraschender Kommunikation. |
(2) |
Die Selektion betrifft die
Strukturen des Systems, hier also Kommunikation steuernde Erwartungen.
Sie wählt an Hand abweichender Kommunikation solche Sinnbezüge
aus, die Strukturaufbauwert versprechen, die sich für wiederholte
Verwendung eignen, die erwartungsbildend und -kondensierend wirken
können; und sie verwirft, indem sie die Abweichung der Situation
zurechnet, sie dem Vergessen überläßt oder sie sogar
explizit ablehnt, diejenigen Neuerungen, die sich nicht als Struktur,
also nicht als Richtlinie für die weitere Kommunikation zu
eignen scheinen. |
(3) |
Die Restabilisierung betrifft
den Zustand des evoluierenden Systems nach einer erfolgten,
sei es positiven, sei es negativen Selektion. Dabei wird es zunächst
um das Gesellschaftssystem selbst im Verhältnis zu seiner Umwelt
gehen. Man denke etwa an die Erstentwicklung von Landwirtschaft
mit Konsequenzen, die im Sozialsystem der Gesellschaft »systemfähig«
sein müssen. Oder an die Vermeidung einer Agrarisierung (aus
ökologischen oder anderen Gründen), die dann zur Entstehung
von »Nomadenvölkern« am Rande von bereits politisch
entwickelten Bauerngesellschaften führt. Im weiteren Verlauf
der gesellschaftlichen Evolution verlagert die Restabilisierungsfunktion
sich dann mehr und mehr auf Teilsysteme der Gesellschaft, die sich
in der inflergesellschaftlichen Umwelt zu bewähren haben. Dann
geht es letztlich um das Problem der Haltbarkeit gesellschaftlicher
Systemdifferenzierung. |
(Ebd., S. 454-455.)
Elemente, Strukturen und Einheit des Reproduktionszusammenhanges
sind notwendige Komponenten eines autopoietischen Systems. Es gibt keine
Elemente ohne System, kein System ohne Elemente usw.. Diese Bedingung
gegeben, fragt sich, wie dann Evolution überhaupt möglich ist,
wenn sie einen nach Variation, Selektion und Restabilisierung differenzierten
Zugriff auf diese einzelnen Komponenten voraussetzt. Mit dieser Frage
rekonstruieren wir zugleich die These der Unwahrscheinlichkeit aller Evolution
und der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit der durch sie erzeugten
Systemformen.
(Ebd., S. 455.)
Schon dem Begriff des autopoietischen Systems ist zu entnehmen,
daß diese Komponenten des Systemaufbaus und der Evolution in einem
zirkulären Verhältnis zueinander stehen. Die Unterscheidung
von Variation, Selektion und Restabilisierung suggeriert zwar eine zeitliche
Abfolge, und sie ist auch so gemeint. Ebenso richtig ist jedoch, daß
Variation bereits Stabilität oder, wenn man so will, Normalreproduktion
voraussetzt. Evolution ist daher immer nur Modifikation bestehender Zustände;
und wenn man sie mit Begriffen wie Innovation oder Emergenz zu fassen
versucht, sind das schon abgezogene Beschreibungen, bei denen man fragen
kann, weshalb auf Diskontinuität und nicht auf Kontinuität geachtet
wird.
(Ebd., S. 455.)
Ebenso künstlich ist jede Episodenbildung, die bei Variation
ansetzt und mit Restabilisierung ihr Resultat bezeichnet. Lediglich der
Selektionsbegriff kann nicht, und darin erweist sich seine Schlüsselstellung
im Konzept der Evolution, den Anfang oder das Ende einer Evolutionsepisode
bezeichnen. Mit Selektion kann ein autopoietisches System eine Strukturänderung
weder anfangen noch enden. In grober Vereinfachung kann man Evolution
daher auch als Strukturselektion bezeichnen und, wenn ,man bedenkt, daß
Strukturen die Selektion der Operationen steuern, als Selektion von Selektionen.
(An dieser Stelle werden Bezüge auf einen sehr
viel allgemeineren Evolutionsbegriff erkennbar, auf die wenigstens anmerkungsweise
hingewiesen werden soll. Er würde sich auf die Erklärung synergetischer
Effekte, dissipativer Strukturen etc. kurz auf sehr allgemeine Prozesse
der Differenzbildung [Abweichungsverstärkung] beziehen, die auch
an physikalischen, also an nichtautopoietischen Systemen nachgewiesen
werden können. Es soll nicht bestritten werden, daß eine solche
Theorie auch auf soziale Systeme angewandt werden könnte; nur ist
sie hierfür nicht spezifisch genug.)
(Ebd., S. 455-456.)
Bis heute fehlt in der soziologischen Literatur eine befriedigende
Erklärung evolutionärer Variation - so wie ja auch in der Biologie
Mutation zunächst nur als abrupt und unerklärlich auftretende
Änderung des Erbgutes begriffen wurde. In der älteren Soziologie
begnügte man sich mit dem Hinweis auf die praktisch, unendlichen
Variationsmöglichkeiten individuellen Verhaltens. Noch heute argumentieren
Handlungstheoretiker - sei es gegen, sei es in Absicht auf eine Ergänzung
von Systemtheorie -, daß man für die Erklärung gesellschaftlichen
Wandels auf motivstarkes individuelles Handeln zurückgreifen, dieses
also (mitsamt den handelnden Individuen?) in den sozialen Systemen verorten
müsse. Das läßt sich ... nicht halten.
(Ebd., S. 456-457.)
Der primäre Variationsmechanismus findet sich bereits in
der Sprachförmigkeit der Kommunikation (und hier liegt denn auch
die Parallele zum Erfordernis chemischer Stabilität genetischer Mutationen).
Die Sprache macht Variation bereits als Variation von komplexen Feinregulierungen
abhängig. Die Kommunikation muß sprachlich annähernd richtig,
muß jedenfalls verständlich sein. Die Variation liegt also
nicht im gelegentlichen Sichversprechen oder in Schreib- oder Druckfehlern.
Dies wären viel zu seltene und belanglose Vorfälle, als daß
sie einer Gesellschaft ausreichende Selektionschancen eröffnen könnten.
Die sprachliche Kommunikation muß mit Hilfe von akzeptablen Wörtern
und Satzkonstruktionen vorweg schon eine Sinnverdichtung leisten, in der
kleinere technische Defekte verschwinden; und die evolutionäre Variation
kommt nur dadurch zustande, daß sprachlich gelungene Sinnzumutungen
im Kommunikationsprozeß infrage gestellt oder rundheraus abgelehnt
werden. Die Variation kann in einer ungewöhnlichen Mitteilung liegen,
aber auch, und vermutlich häufiger, im unerwarteten Nichtakzeptieren
einer Mitteilung angesichts einer Situation, die dies als möglich
oder als aussichtsreich motiviert. Sie muß aber auf jeden Fall sprachlich
verständlich sein - und dies nicht nur im Hinblick auf den Sinn,
der direkt negiert wird, sondern auch im Hinblickauf ein Wieso, Wozu,
Was dann?
(Ebd., S. 459.)
Genauer gefaßt und auf seine kommunikative Verwendung hin
betrachtet, liegt der Variationsmechanismus in der Erfindung der Negation
und in der dadurch ermöglichten Ja/Nein-Codierung sprachlicher
Kommunikation. (Die näheren Ausführungen
dazu finden sich oben in Kapitel 2, III [S. 205-230].) Man achte
auf die Unwahrscheinlichkeit dieser evolutionären Errungenschaft.
Zunächst ist ja jede sprachliche Kommunikation ein positives, tatsächlich
erfahrbares Ereignis in der wirklichen Welt; und zwar ein unterscheidendes
Ereignis, das etwas Bestimmtes bezeichnet. Das, was man beobachten kann,
ist zunächst nur die Operation des Unterscheidens selbst - ganz unabhängig
von der Frage, ob sie etwas, und was sie, positiv oder negativ referiert.
Das, was nicht bezeichnet wird, bleibt im »unmarked state«
der Welt und wird gerade nicht negiert (denn das würde ja eine Bezeichnung
erfordern). Die Möglichkeit, eine Kommunikation als Negation aufzufassen
und erst recht die Möglichkeit, eine solche Möglichkeit vorgreifend
in Rechnung zu stellen, ist ein sehr voraussetzungsvolles Resultat (wir
argumentieren zirkulär!) ihrer eigenen Evolution.
(Ebd., S. 459-460.)
Variation kommt mithin durch eine Kommunkationsinhalte ablehnende
Kommunikation zustande. Sie produziert ein abweichendes Element - nicht
mehr und nicht weniger. Dabei blickt dr Prozeß auf die in der Kommunikation
schon geäußerte oder angedeutete oder erwartete Ausnahmeerwartung.
Er blickt also in die Vergangenheit ....
(Ebd., S. 461.)
Die Ablehnung widerspricht der Annahmeerwartung .... Alle
Variation tritt mithin als Widerspruch auf - nicht im logischen, aber
im ursprünglicheren dialogischen Sinne. Sie kann gar nicht anders
vorkommen denn als Selbstwiderspruch des Systems. (Hierzu
allgemein: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 488 ff.. Die
oben im Text eingenommene Position ist zu unterscheiden von der verbreiteten
Auffassung, daß strukturelle Widersprüche Anlaß
geben zur Variation des Systems - sei es in der durch die Dialaktik vorgeschriebenen
Weise, sei es als »variety pool« mit noch unbestimmten Entwicklungsmöglichkeiten.
.... Es ist durchaus vorstellbar, daß es strukturelle Bedingungen
gibt, die mehr als alles andere dazu anregen, Kommunikationen abzulehnen.
Aber die Struktur selbst kann nicht als »widerspruchsvoll«
bezeichnet werden, und zwar weder in einem logischen noch in einem dialogischen
Sinne. Sie wird operativ zur Vermittlung von Anschlüssen verwendet
oder nicht verwendet; und nur ein Beobachter kann hier Widerspruch konstruieren.)
Sie fügt sich damit - sie kommuniziert! - den Erfolgserfordernissen
der Autopoiesis des Systems, sie sorgt für Fortgang der Kommunikation,
wenngleich mit freieren Anschlußmöglichkeiten und mit einer
immanenten Tendenz zum Konflikt.
(Ebd., S. 461-462.)
Würde die Variation nur oder überwiegend im Hinblick
auf Selektionschancen erfolgen, wäre sie mit einem zu hohen Entwicklungsrisiko
verbunden; denn die soziale Wirklichkeit ist extrem konservativ eingestellt
und negiert nicht so leicht Vorhandenes und Bewährtes im Hinblick
auf etwas Unbekanntes, dessen Konsenschancen noch nicht erprobt sind und
in der gegebenen Situation auch nicht getestet werden können.
(Ebd., S. 463.)
Nur durch Nichtkoordination von Variation und Selektion, das heißt:
durch Vermeidung von Kommunikation über diese Beziehung, kann Evolution
hinreichend wahrscheinlich sein und hinreichend rasch zum Aufbau einer
in sich unwahrscheinlichen Ordnung führen. In diesem genauen Sinne
kann man auch die Beziehung von Variation und Selektion als Zufall
bezeichnen. Die Bestimmtheit der Variation sagt nichts aus über die
Chancen der Selektion.
(Ebd., S. 464.)
Zugleich muß aber im Funktionsbereich der Variation die
Dialektik von Überschußproduktion, Inhibierung und Desinhibierung
mit den Mitteln höherer Komplexität den Bedingungen höherer
Komplexität angepaßt werden. Man braucht, mit anderen Worten,
Zusatzeinrichtungen der Häufung und Beschleunigung von Variation
(so wie in der Evolution des Lebens die biochemische Mutation durch bisexuelle
Reproduktion ergänzt worden ist). In der gesellschaftlichen Evolution
ist das auf zweierlei Weise geschehen: durch das Verbreitungsmedium
Schrift und durch Stärkung der Konfliktfähigkeit und
Konflikttoleranz in der Gesellschaft (oder anders gesagt: durch Verzicht
auf die Externalisierung aller Konflikte, wie sie für segmentäre
Gesellschaften charakteristisch ist).
(Ebd., S. 464.)
Wenn Schrift als Verbreitungsmedium (also nicht nur zu Aufhebungszwecken)
angenommen wird, hat dies einen Doppeleffekt: Die Kommunikation kann größere
räumliche und zeitliche Reichweite gegeben weund sie wird von den
Zwängen der Interaktion entlastet, das heißt: sowohl im Herstellen
(Schreiben) als auch im Rezipieren (Lesen) fereier gestellt. Die größere
Verbreitung schafft die Möglichkeit, durch eine Änderung
vieles ändern zu können, und zwar unübersehbar vieles.
Damit verliert sich oder reduziert sich auf bestimmte magisch-religiöse
Praktiken die Vorstellung, man könne durch das Wort unmittelbar etwas
ändern.
(Ebd., S. 464.)
Konflikte testen Ablehnungspotentiale. Sie führen zu einer
laufenden Beobachtung des Beobachtens und damit zu einem intensiven Informationsaustausch.
(Ebd., S. 466.)
Differenzierung von Konfliktgründen und Konflikthemen.
Es kann tiefliegende strukturelle Gründe für ein immer neues
Ausbrechen von Konflikten geben, aber die Konflikte selbst suchen sich
andere Anlässe und Themen, weil der strukturelle Auslöser ohnehin
kein »lösbares Problem« ist. Die penetrante Suche mancher
Soziologen nach den »eigentlichen« Gründen des Konflikts,
ihr marxistisches Erbe mit anderen Worten, hat verdeckt, daß gerade
in dieser Differenz von Gründen und Themen eine Errungenschaft liegt,
sofern das System groß genug ist, um die Konfliket aushalten zu
können. (Systeme, die unter diesem Gesichtspunkt
»zu klein« sind - seien es Familien, seien es [kleine!
HB] Organisationen -, werden heute zum Gegenstand einer »Systemtherapie«,
die sich um ein Re-arrangieren ihrer Konflikte bemüht.)
(Ebd., S. 468.)
Zu den Unberechenbarkeiten, die mit diesen Erweiterungen der Variationsmöglichkeiten
ausgelöst werden, gehören die entsprechenden Transformationen
der Semantik und deren Folgen. Je mehr Ablehnungsmöglichkeiten zugelassen
werden, desto gewichtiger wird der Bedarf an Nichtnegierbarkeiten.
(Ebd., S. 469.)
Mit der Ausdifferenzierung besonderer Funktionssystem entstehen,
auf sie bezogen, Kontingenzformeln, die eine systemspezifische Unbestreitbarkeit
behaupten können, etwa Knappheit für das Wirtschaftssystem,
Legitimität für das politische System, Gerechtigkeit für
das Rechtssystem, Limitationalität (*)
für das Wissenschaftssystem. (* Dieser weniger
gebräuchliche Ausdruck soll besagen, daß von begrenzten Möglichkeiten
ausgegangen werden muß, wenn man behaupten will, daß die Feststellung
von Wahrheiten bzw. von Unwahrheiten den Bereich der noch zu prüfenden
Fragen verkleinert und nicht [worauf ja manches hindeutet] vergrößert.
Nur unter dieser Prämisse hat es zum Beispiel Sinn, die »Falsifizierbarkeit«
von Hypotehsen zu fordern.) Aber in der Festlegung solcher Formeln
auf jeweils besondere Funktionssysteme bleibt offen, was sie gesamtgesellschaftlich
besagen. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts übliche Erlösungsformel
lautet: Werte. Aber sie ist der gleichen Korrisionsprozeß ausgesetzt.
Einmal in die Welt gesetzt, läßt sie es zu, von »Umwertung
der Werte« oder von »Wertwandel« zu sprechen.
(Ebd., S. 469-470.)
Man beginnt ... das Neue als solches zu schätzen (der
Umbruch erfolgt im 17. Jahrhundert, in dem man für Religion, aber
auch für Politik an der alten Warnung vor Neuerungen noch festhält,
zugleich aber für alles, was »gefallen« soll, eine Positivierung
durchsetzt. ....), dem Begriff der »Kritik« den Sinn
des Ablehnens des Kritisierten zu unterschieben und »Alternativen«
nicht mehr als bloße OPtionen zu verstehen, sondern als Varianten,
die ohne nähere Prüfungen besser sind als das Vorhandene. Es
kommt, zusammenfassend gesagt, zu einer semantischen Hypertrophie der
Variation - und folglich zu einer eingebauten Enttäuschung der Gesellschaft
über sich selbst.
(Ebd., S. 472.)
Die Unterscheidung von Variation und Selektion
ist die Form des Begriffs der Evolution. »Form« bedeutet die
Notwendigkeit einer »anderen Seite« und hier, daß, wenn
Variation vorkommt, Selektion notwendig ist.
(Ebd., S. 473.)
Da Variation und Selektion nur »zufällig« gekoppelt
sind, kann man eine Theorie evolutionärer Selektion separat ausarbeiten.
(Daß dies eine theoretische Abstraktion ist,
versteht sich von selbst.) Festzuhalen ist ..., daß die Selektionsfunktion
nur vom Faktum der Variation abhängt, nicht aber davon, welche konkreten
Auslöser es in die Welt gesetzt hatten.
(Ebd., S. 473.)
Jede Variation hat zwangsläufig Selektion zur Folge.
Auch wenn keine positive Selektion stattfindet, findet Selektion statt,
weil dann die operationsgebundene Variation vergeht, ohne Strukturen zu
ändern und alles so bleibt, wie es war und ist. Selegiert wird dann
der bisherige Zustand - und nicht die Innovation. Die Selektion selbst
ist also eine Zwei-Seiten-Form: wenn nicht positiv dann negativ. Daß
sie Form ist, unterschedet sie zugleich von der Variation, die ihrerseits
Form ist, weil sie vorkommen oder nicht vorkommen kann. Die Form der Evolution
(Variation/Selektion) ist mithin eine Form zweiter Stufe, eine aus Formen
gebildete Form.
(Ebd., S. 474.)
Grundlegende bedingung aller Evolution ist daher, daß Einrichtungen
der Variation und Einrichtungen der Selektion nicht zusammenfallen, sondern
getrennt bleiben. In kybernetischer Terminologie formuliert, verbindet
die Operation sich mit dem System in der Form des Feedbacks. Dabei kann
es sich um negatives oder positives Feedback handeln, um Einhalten einer
gegebenen Schwankungsbreite der Systemzustände oder um Abweichungsverstärkung,
um Aufbau von Komplexität, die sich dann mit ihren eigenen Problemen
zur Geltung bringt.
(Ebd., S. 474-475.)
Erst über Seketion einer dies Ereignis benutzenden, bestätigenden,
kondensierenden Struktur kommt etwas Unwahrscheinliches zustande, nämlich
eine markante Abweichung vom Ausgangszustand. Es ist klar, daß klassische
Theorien linearer Kausalgesetzlichkeit solche Phänomenen nicht erklären
können. Es ist nicht so, daß geeignete Ursachen bei Vorliegen
der notwendigen Nebenbedingungen zwangsläufige Wirkugen produzieren,
sondern Ereignisse, die immer wieder vorkommen, werden gelegentlich (aber
aufs ganze gesehen häufig genug) durch Prozesse zirkulärer Abweichungsverstärkung
benutzt, um Strukturen zu bilden, die es vorher nicht gab.
(Ebd., S. 476-477.)
Wenn man die Theorie operativ geschlossener, strukturdeterminierter
Systeme akzeptiert, muß man davon ausgehen, das Systeme ihre Strukturen
nur mit den eigenen Operationen ändern können, wie immer diese
in der Form von Störung, Irritation, Enttäuschung, Mangel etc.
auf Umweltgeschehnisse reagieren. Wir müssen also die Gesellschaft
selbst auf ihre Selektionsmechanismen untersuchen.
(Ebd., S. 477-478.)
Über Religion setzt die Gesellschaft (gemeint
ist die im altertümlichen Mesopotmaien; HB) sich selbst unter
Anpassungsdruck und entwickelt geheilgte Selektionskriterien, mit denen
sie wilde Variationen abfangen und sortieren kann.
(Ebd., S. 480.)
Auch der Kunst ist nachgerühmt worden, daß sie im »weichen,
einfachen Element« der Vorstellung etwas gestalten kann, was sich
so in den Natur, die hr als Vorlage dient, nicht findet. (Vgl.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik,
a.a.O., S 215. [Hegel schrieb über die Kunst aber auch z.B: »Der
Geist geht in eine tiefere Epoche der Wahrheit ein, in der er der Kunst
nicht mehr bedarf«; und z.B.: »Die
Kunst ist nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein
Vergangenes.«])
(Ebd., S. 482.)
Solange das Selektionsgeschehen an feststehenden, nur zeitweilig
gestörten Zuständen orientiert ist, hat es nicht viel Sinn,
von einer dritten evolutionären Funktion zu sprechen. Die Selektion
selbst sorgt für Stabilität, und wenn ihr das mißlingt
(wie in einer durch Korruption oder Sünde bestimmten Welt zu erwarten),
muß eben immer wieder neu und möglichst gut seligiert werden.
Noch der frühmoderne Staat war im Hinblick auf diese Aufgabe beschreiben
worde, und »Frieden« war der dies empfehlende Begriff. Denn
wo Frieden gesichert ist, kann man es jedem überlassen, für
sein Seelenheil und sein irdisches Auskommen selber zu sorgen.
(Ebd., S. 485.)
Orientiert denn nicht gerade die heutige Gesellschaft ihre Selektionen
nur noch an dem, was im Moment oder vorübergehend als brauchbar erscheint?
(Ebd., S. 486.)
Für Lebewesen wird die Funktion der Restabilisierung durch
die Bildung von Populationen erfüllt - Populationben hier begriffen
als reproduktive Isoaltion eines Gen-Pools, der in begrenztem Umfange
Variationen aufnehmen und in der reproduktion einbeziehen kann. Jede Population
kann nur in sich selbst Nachwuchs produzieren, Schlangen und Katzen können
nich Schlatzen zeugen.
(Ebd., S. 486.)
Im Jahre 1789 wurden Pariser Unruhen als »Revolution«
beobachtet und mit einem eigens dafür modifizierten Begriff beschrieben.
Die Folgen waren weder aufzuhalten noch zu kontrollieren, und man kann
sie wohl als ein hundertjähriges Mißlingenb weiterer Revolutionen
beschreiben, die dann aber in ihren Konsequenzen das politische System
Frankreichs auf eine repräsentative Demokratie umstellten. Codifizierungen
des Rechts, Freigabe der Wirtschaft an in ihr selbst durchsetzungsfähige
Kräfte, Säkularisierungen im Bereich der Religion, Privatisierung
auch der Großen Familien waren Ausgleichsentwicklungen, die als
Restablisierungen der revolutionären Innovationen begriffen werden
können. - Aber auch wo revolution negat9iv selegiert, also abgelehnt
wurde ..., waren Restabilisierungen nötig .... Allgemeiner formuliert;
Variationen können im Unbemerkten verschwinden, Selektionen werden
aber normalerweise im Systemgedächtnis festgehalten, und man muß
dann im weiteren mit dem Wissen zurechtkommen, daß etwas Mögliches
nicht realisiert wurde.
(Ebd., S. 487-488.)
In jedem Falle bezeichnet der Begriff der Restabilisierung Sequenzen
des Einbaus von Dtrukturänderungen in ein strukturdeterminierte operierendes
System; und er trägt dabei der einsicht Rechnung, daß dies
auch über Variationen und Selektionen, immer aber durch eigene Operationen
des Systems geschieht. In jedem Falle führt Selektion, ob positiv
oder negativ, zum Ansteigen der Komplexität des Systems, und darauf
muß das System mit Restabilisierung reagieren.
(Ebd., S. 488.)
Externalisierungen können natürlich nie endgültige
Problemlösungen sein. Die Probleme kehren in veränderter Form
in die Beziehungen zwischen System und Umwelt zurück. Man kann dies
an den ökologischen Problemen studieren, in die die moderne Gesellschaft
geraten ist, aber auch an innergesellschaftlichen Problemen, zum Beispiel
an der Diskussion über die fragwürdig gewordene »Externalisierung
von Kosten« durch die Geldwirtschaft. .... Strukturelle Probleme
werden an bestimmten Stellen sichtbar, etwa ... im Zeitalter des Wohlfahrtsstaates
daran, daß die Politik von einer erfolgreich operierenden Wirtschaft
abhängig wird und zugleich eigene Erfolge nur dadurch erreichen kann,
daß sie mehr und mehr Ressourcen der wirtschaftlichen Kalkulation
entzieht. »Inflation« ist dann die Folge der Externalisierung
politischer Konflikte, aber zugleich auch ein Problem, für dessen
Dauerüberwachung und ständige Behandlung sich spezifische Geschicklichkeiten
und Instrumente entwickeln lassen. Neuerungen werden dann gleichsam am
Bildschirm der Inflation kontrolliert, und man sieht so relativ rasch,
ob es noch geht oder nicht. Auch für hochgeneralisierte Problemverteilungsmechanismen
- und die Geldwirtschaft ist dafür berühmt - lassen sich wieder
spezifische Techniken des Umgangs ausfindig machen, so wie für Zivilisationskrankheiten
der verscheidneen Art.
(Ebd., S. 490.)
Flüssiges Wasser enthält in sich selbst die Möglichkeit,
zu Eis zu erstarren oder zu verdampfen; und nur deshalb können Veränderungen
der Temperatur diese Wirkungen erzeugen.
(Ebd., S. 495.)
Die Evolution hat zwar nie die in ihrem basalen Substrat liegenden
Möglichkeiten ausgeschöpft. Das gilt für Proteine, für
Photosynthese, für Sinn n und für Sprache. Das Resultat ist
immer Diversifikation strukturdeterminierter Systeme gewesen. Die Fülle
des Seins findet sich in der Vielzahl realisierter Möglichkeiten.
Die gesellschaftliche Evolution hat unzählige tribale Gesellschaften
hervorgebracht. Hochkulturen findet man, je nach Zählung, noch in
zwanzig bis dreißig Exemplaren (nein, denn
man findet - genau genommen - nur noch vier! HB) Eine funktional
differenzierte Gesellschaft gibt es dagegen nur noch in einem einzigen
Fall. (Und dieser »Fall« ist ein rein
abendländischer, also einer, der auf nur eine der vier noch
existierenden Hochkulturen [Historienkulturen] aufgebaut ist, und zwar
auf faustische Weise und eben darum auch »funktional differenziert«!
HB) Also Evolution in nur einem Fall? Das scheint auf einen Verzicht
auf alle Redundanzen und alle Abweichsicherheiten hinauszulaufen. Wenn
es diese Gesellschaft nicht mehr gibt, gibt es keine andere - es sei denn,
daß neue Formen aus ihr selbst heraus entstehen. Wir werden die
Möglichkeiten innergesellschaftlicher Evolutionen zu untersuchen
haben (vgl. unter XI [S. 557-569]), aber
offensichtlich ist das allein keine angemessene Antwort auf die hier gestellt
Frage. Die Antwort kann nur in dieser Gesellschaft selbst gefunden werden,
zum Beispiel in ihrer Fähigkeit (oder: Unfähigkeit!
HB), Tempo auszuhalten, für Ausfälle Ersatz zu finden,
Reserven für Unvorhergesehenes zu kapitalisieren und vor allem: mit
diesen Erfordernissen sozialisierend zu wirken und die Bewußtseinssysteme
der Menschen mit diesen Gegebenheiten vertraut zu machen. Denn es ist
nur allzu verständlich, wenn Menschen, die in langer Kultur anderes
gewohnt waren, unter solchen Bedingungen nervös werden.
(Ebd., S. 497.)
Gesellschaftliche Evolution erfordert und realisiert,
das haben wir zu zeigen versucht, eine Differenzierung der evolutionären
Funktionen, das heißt: ihre Realisation durch unterschiedliche Sachverhalte.
Dabei verschiebt sich im Laufe der Evolution und mit zunehmender Differenzierung
der evolutionären Funktionen das Trennproblem. In schriftlosen, segmentären
Gesellschaften muß es schwierig gewesen sein, Variation und Selektion
zu trennen, denn ihnen stand nur die Interaktion unter Anwesenden als
Systemform für Kommunikation zur Verfügung, und die segmentäre
Form der Systemdifferenzierung sorgte dafür,. daiß in der innergesellschaftlichen
Umwelt überall ähnliche Verhältnisse vorausgesetzt werden
konnten. In hochkultivierten Gesellschaften erleichtert sowohl die Schrift
als auch die Differenzierung auf der Basis von Ungleichheit diesen primären
Trennvorgang. Eben damit wird es aber schwierig, Selektion und Restabilisierung
zu unterscheiden. Die Selektionen werden als Antwort auf Störungen
und als Wiederherstellung einer Ruhelage, eines stabilen Gesellschaftszustandes
begriffen. Wenn auch zwischen Selektion und Restabilisierung eine Trennlinie
gezogen wird, und das ermöglicht der Übergang zu einer primär
funktionalen Differenzierung, verschiebt sich erneut das Problem. Denn
jetzt wird es, wie wir gesehen haben, schwierig, zwischen Restabilisierung
und Variation zu unterscheiden. Die Formen gesellschaftlicher Differenzierung
korrespondieren offenbar mit Schwerpunktproblemen beim Separieren der
evolutionären Funktionen.
(Ebd., S. 498.)
Die Entstehung distinkter Formen innergesellschaftliche Systemdifferenzierung
ist also einerseits ein Resultat von Evolution. Die Differenzierungsformen
selbst sind evolutionäre Errungenschaften. Andererseits wirken sie
auf die Evolution selbst zurück, indem sie jeweils spezifische Schwierigkeiten
haben, eine Trennung der evolutionären Mechanismen einzurichten.
Die Differenzierungsformen unterscheiden sich, wie wir noch ausführlich
sehen werden, im Ausmaß struktureller Komplexität, das sie
ermöglichen, und in den Semantiken, mit denen sie auf die damit verbundenen
Probleme reagieren. Das wirkt sich auf ihre Möglichkeiten aus, die
evolutionären Mechanismen institutionell zu trennen. Hochkultivierte
Gesellschaften, die sich auf Zentrum/Peripherie-Differenzierungen stützen,
haben zum Beispiel schon die Möglichkeit, Kriterien zu formulieren
und anzuwenden; aber sie müssen die in sie eingebauten Ungleichheiten
verteidigen, müssen Unruhen abwehren und benötigen daher eine
stabilitätsbezogene Semantik, an der sie Selektionen orientieren.
Erst unter dem Regime funktionaler Differenzierung kommt es zu Selektionskriterien,
die destabilisierend wirken. Dann aber kollabiert die Differenz von Stabilisierung
und Variation, denn jetzt muß Stabilität primär auf Flexibilität,
Änderbarkeit, Entscheidbarkeit gegründet werden. Mit diesen
Verschiebungen im Übergang von Differenzierungsform zu Differenzierungsform
ändert sich zugleich die Häufigkeit struktureller Änderungen
und damit das Tempo der Evolution. Die Zeit selbst scheint schneller zu
laufen.
(Ebd., S. 498-499.)
Schon diese Überlegungen zeigen, daß die Trennung und
(zufallsabhängige) Wiederverknüpfung der evolutionären
Funktionen sich nicht auf Naturgesetze oder auf Notwendigkeiten eines
dialektischen Prozesses stützen kann. (Das
Verhältnis der Evolutionstheorie zur Dialektik und damit zur Geschichtstheorie
Hegels bedürfte einer gründliche:en Untersuchung. Hier sei nur
angemerkt, daß der Begriff der Form eIne Unterscheidung markiert
und damit den Zusammenhang der beiden Seiten der Unterscheidung als notwendig
ausweist. Auf Variation folgt deshalb notwendig Selektion, auf Selektion
notwendig Restabilisierung. Das heißt aber nicht, daß ein
entsprechender Prozeß notwendig ist. Und es heißt auch nicht,
daß innerhalb dieses Prozesses nur Unterscheidungen, die als »Gegensatz«
konstituiert werden, Bewegung in Gang setzen. Diese Prämissen sind
nur haltbar, wenn man etwas wie »Geist« postuliert, das aus
der höheren (späteren) Position heraus etwas bloß Vorhandenes
in die Form des »Mangels« versetzen kann, um den Mangel schließlich
an sich selbst zu kurieren.) Es gibt keine ewige Weltordnung, in
der vorgesehen ist, daß dies so geschieht. Die Evolution verdankt
sich der Evolution. (Heute wohl weitgehend anerkannt.
.... Davon zu unterscheiden ist die Selbstreferenz auf der Theorieebene,
die besagt, daß die Einsichten über Evolution die Evolutionstheorie
dazu bringen, sich selbst als Resultat von Evolution zu begreifen. ....
Die Vernunft allerdings urteilt über solche Zirkel mit unnachsichtiger
Härte, weil sie hier ihr eigenes historisches Privileg der Selbstbegründung
zu verteidigen hat. ....) Sie ermöglicht sich selbst, indem
sie die Bedingungen für die Differenzierung ihrer Mechanismen aufbaut.
Wie alles angefangen hat, müssen wir dem »Big Bang« oder
ähnlichen Mythen überlassen. Für alle späteren Einsatzpunkte
der Evolution kann man immer schon System/Umwelt-Differenzen voraussetzen
und damit jenen Multiplikationsmechanismus, der nur noch Systeme mit Operationen
entstehen läßt, die sich auf eine Gemengelage von Phänomenen
einstellen können, die sie als Unordnung bzw. Ordnung, als Zufall
bzw. Notwendigkeit, als Erwartbares bzw. Irritierendes, und damit eben
auch als Variation konstruieren können, die einen Selektionsdruck
auslöst. Die Theorie selbstreferentieller Evolution verlegt den »Grund«
des Geschehens also nicht mehr in den Anfang (arché, principium).
Sie ersetzt diese traditionelle Weise der Erklärung durch eine differenztheoretische,
nämlich durch eine Spezifikation der Differenz der evolutionären
Funktionen und eine möglichst genaue Lokalisierung der besonderen
Bedingungen ihres Auseinandertretens in der empirischen Realität
evoluierender Systeme. Auf diese Weise erzeugt die Evolutionstheorie ein
praktisch endloses Forschungsprogramm für historische Untersuchungen.
(Ebd., S. 499-500.)
Wenn Evolution kein Prozeß ist und wenn
sie ein zirkuläres Verhältnis ihrer Funktion voraussetzt, abstrahiert
die Theorie zunächst von Zeit. Ebensowenig kann jedoch bezweifelt
werden, daß Evolution in der Zeit stattfindet. Damit ist nicht nur
gemeint, daß ein Strukturwandel datiert werden kann - durch Hinweis
auf mehr oder weniger lange Zeiträume. Er findet nicht nur in der
Zeit statt, sondern nutzt auch historische Situationen, die sich aus der
Evolution selbst ergeben haben und möglicherweise einmalig sind oder
eine gewisse Typik aufweisen, die eine Mehrfachentstehung evolutionärer
Errungenschaften - des Auges, des Testaments etc. - wahrscheinlich machen.
Solche Situationen bieten einerseits Gelegenheiten und andererseits Beschränkungen,
sie bieten Selektionsmöglichkeiten, deren Reproduktion aber nur unter
bestimmten Bedingungen möglich ist. Wir kommen unter Begriffen wie
preadaptive advances, evolutionäre Errungenschaften, Geschichte darauf
zurück. Im Moment ist nur festzuhalten, daß der Evolutionstheorie
kein lineares Zeitkonzept zugrunde liegt, auch wenn sie für Datierungen
sich an Zeitmessungen hält, sondern daß die Zeit, in der strukturelle
Neuerungen geschehen, die Form einer historisch einmaligen Gegenwart annimmt,
in der eine Kombination von Gelegenheiten und Beschränkungen verfügbar
ist; und zwar als Kombination, denn es gibt keine Gelegenheiten ohne Beschränkungen,
so wie es keine Variation und Selektion ohne Stabilität gibt. Evolution
ist, anders gesagt, nur in empirischer Konkretion möglich, obwohl
die Evolutionstheorie das, was dann als geändert und damit als neu
erscheint, nicht kausal erklären kann.
(Ebd., S. 500-501.)
Dieselbe Einsicht läßt sich auch systemtheoretisch
gewinnen. Angesichts der Systemgrundlagen aller Evolution, angesichts
des unauflösbaren Zusammenhangs von elementaren Operationen, Strukturbildungen
und operativer Schließung des nach außen sich abgrenzenden
Systems kann Differenzierung der evolutioniren Funktionen nicht heißen,
daß es zu einer kausalen Separierung käme. Gemeint ist allerdings,
daß die Funktionen der Variation, der Selektion und der Restabilisierung
durch das evoluierende System nicht koordiniert, nicht aufeinander abgestimmt
werden können; denn das würde ja heißen, daß von
vornherein nur so viel variiert wird, wie als Beitrag zur »Systemerhaltung«
seligiert werden kann. Verzicht auf diese Art zweckmäßiger
Koordination besagt, daß es vom System aus gesehen Zufall ist, wenn
Variationen zu positiven bzw. negativen Selektionen führen, und daß
es weiterhin Zufall ist, ob und wie diese Selektionen, die sich eigener
Kriterien bedienen, im System stabilisiert werden können. Mit »Zufall«
ist dann auch gesagt, daß das evoluierende System an diesen inneren
Grenzen unkontrolliert umweltempfindlich ist. Hier können zufällig
vorhandene, eventuell vorübergehende Umweltbedingungen einwirken,
und auf diese Weise kann das System, ohne dies zu planen, Gelegenheiten
nutzen, um Strukturänderungen kommunikativ plausibel durchführen
zu können, die in anderen historischen Situationen unmöglich
wären. So gibt die Einführung von Schrift der schon bestehenden
Differenz von kompetenten und inkompetenten Rollen im Umgang mit heiligen
Dingen neue Möglichkeiten und neue Probleme auf - etwa die der Festigung
einer für heilig gehaltenen Tradition. So mag es für die Entwicklung
des talmudischen Judentums und dessen Umgang mit Problemen der Interpretation
der heiligen Texte einen Unterschied gemacht haben, daß die politische
Einheit des jüdischen Volkes zerstört worden war, also auch
keine diskriminierende politische Unterstützung und Stabilisierung
theologischer Kontroversen erwartet werden konnte wie im Falle des Islam
und des Christentums. So produziert die regionale und politische Segmentierung
Europas (also das Scheitern der Reichsidee am Widerstand der Kirche im
11./12. Jahrhundert) eine Fülle von differentiellen Fortschritten
in einzelnen Regionen, die dann wie Experimente mit Fortschritt wirken,
mit denen oder gegen die andere Regionen ihren Weg in Richtung funktionale
Differenzierung bestimmen können. So gibt es in Frankreich schon
sehr früh einen Nationalstaat (nach spanischem
Vorbild; HB), aber eine kunsttheoretische Literatur entsteht erst
nach der Einrichtung der Academie Royale de Peinture et Sculpture (1648)
- und beides, die Literatur und die Akademie, nach italienischem Vorbild,
Diese Überlegungen sprengen auch die klassische Theorienunterscheidung
von endogen bzw. exogen induzierter Evolution, die sich systemtheoretisch
ohnehin nicht halten läßt, Sie muß ersetzt werden durch
eine komplexere Theorie, nämlich durch die Hypothese, daß ein
evoluierendes System bei Differenzierung der evolutionären Funktionen
mehr Außeneinflüsse aufnehmen, mehr auf historische Lagen reagieren
und deshalb schneller (aber immer: rein intern) evoluieren wird.
(Ebd., S. 501-502.)
Wenn es zutrifft, daß Evolution durch ein Auseinanderziehen
ihrer Funktionen (durch Realisation ihrer Form) zustande kommt, kann man
daraus schließen, daß der betriebsnotwendige Zufall, wenn
man so sagen darf, im Laufe der Evolution einen höheren Organisationsgrad
erhält. Es wird immer wahrscheinlicher, daß das Unwahrscheinliche,
der Zufall, eintritt, weil die hochkomplexen Strukturen evoluierter Systeme
mehr Möglichkeiten des Abweichens und auch mehr Möglichkeiten
des Verkraftens von Abwelchungen bleten. Daraus folgt dann, daß
die Evolution im Laufe der Evolution schneller zu laufen beginnt. Dies
kann natürlich nicht heißen, daß im Laufe der Evolution
sich alle Systeme oder alle Systemarten immer rascher zu ändern beginnen.
Schon die Eidechsen würden protestieren. Es kann also nur darum gehen,
daß es bei fortgeschrittener Evolution auch morphogenetische Transformationen
gibt, die rascher ablaufen und zugleich Formen erzeugen, die ein hoheres
Änderungstempo in der Umwelt und im System selbst durchhalten können.
(Ebd., S. 503.)
Mindestens an dieser Stelle ist die Evolutionstheorie auf einen
engen Forschungsverbund mit Systemtheorie angewiesen. Die Systemtheorie
würde sagen: je größer die (durch Evolution erreichte)
Systemkomplexität, desto wahrscheinlicher sind Innovationen. Die
Notwendigkeit der Form Variation/Selektion/Restabilisierung korrespondiert
mit der Notwendigkeit der Form System/Umwelt. Beide Notwendigkeiten plazieren
den Zufall in der Weise, daß die Bestimmtheit der Variation nichts
für die Bestimmtheit der Selektion und die Bestimmtheit der Umwelt
nichts für die Bestimmtheit des Systems besagt. Evoluierende Systeme
sind, mit anderen Worten, strukturdeterminierte Systeme und in höheren
Organisationsformen dann Systeme, die eine interne Repräsentation
für extern induzierte Zufälle einrichten können. Wir hatten
von »Irritation« gesprochen. Dem höheren Tempo der Evolution
entsprechen also nicht etwa mehr und mehr Überlappungen, Verquickungen,
Entdifferenzierungen an den Systemgrenzen, sondern im Gegenteil: operative
Geschlossenheit und Selbstorganisation bei steigender Irritierbarkeit.
(Ebd., S. 503-504.)
Will man das Ergebnis von Evolution im allgemeinen
beschreiben, genügen Formulierungen wie: Ermöglichung höherer
Komplexität. Damit ist jedoch nur eine nahezu unbrauchbare Pauschalformel
gefunden. Man muß daher genauer erkunden, was denn und wie es höhere
Komplexität ermöglicht. Damit verschiebt sich die Problemstellung
von einer Ebene, auf der das System als Einheit beschrieben wird (es »ist«
komplex), auf die Ebene der Systemstrukturen. Auch auf dieser Ebene braucht
man einen Begriff, der ein Resultat von Evolution bezeichnen kann, einen
Begriff für ein strukturelles Arrangement mit deutlicher Überlegenheit
über funktionale Äquivalente. Man denke an das Auge oder an
Geld, an bewegliche Daumen oder an Telekommunikation. Konsolidierte Gewinne
dieser Art, die besser als andere mit komplexen Verhältnissen kompatibel
sind, wollen wir evolutionäre Errungenschaften nennen.
(Ebd., S. 505-506.)
So reduziert ein Straßennetz die Bewegungsmöglichkeiten,
um leichtere und schnellere Bewegung zu ermöglichen und damit die
Bewegungschancen zu vergrößern, aus denen man konkret auswählen
kann. Steigerung durch Reduktion von Komplexität: evolutionäre
Errungenschaften wählen Reduktionen so, daß sie mit höherer
Komplexität kompatibel sind, ja sie oft erst (und oft erst sehr allmählich)
ermöglichen.
(Ebd., S. 507.)
Für keine der evolutionären Errungenschaften, nicht
einmal für das Entstehen von Landwirtschaft, gibt es eindeutige Ursachen.
Es können ganz verschiedene Ausgangslagen sein, die »äquifinal«
wirken und das Finden der Form begünstigen. Das setzt voraus, daß
es in der Evolution nur begrenzte Möglichkeiten gibt, Komplexitätsgewinne
zu realisieren. Das liegt offenbar an der eigentümlichen Kombination
von Verzicht und Gewinn, von Reduktion von Komplexität zum Aufbau
von Komplexität. Das gibt der Evolution eine Richtung im Sinne zunehmender
Komplexität, während gleichzeitig Gesellschaften sehr wohl überleben
können (also nicht an ungelösten Problemen scheitern), die bestimmte
evolutionäre Errungenschaften nicht kennen.
(Ebd., S. 507-508.)
Evolutionäre Errungenschaften entstehen also nicht, weil
sie sich zur Lösung bestimmter Probleme eignen. Vielmehr entstehen
die Probleme mit den Errungenschaften.
(Ebd., S. 508.)
Evolutionäre Errungenschaften tendieren dazu, Resultate der
Evolution zu zementieren. Man wird sie nicht wieder los.
(Ebd., S. 510.)
Die für die Anpassung der Haushaltsökonomie an städtische
oder auch territoriale Politik so wichtigen Gilden und Zünfte sind
als religiöse Bruderschaften entstanden und haben erst später
jene Vermittlungsfunktion übernommen.
(Ebd., S. 512.)
Wenn also evolutionäre Errungenschaften in diese fundamentalen
Strukturen, sei es der Verbreitungsmedien der Kommunikation, sei es der
Systemdifferenzierung, eingreifen und den Übergang von der einen
zu einer anderen ermöglichen, entsteht für den Beobachter der
Eindruck bestimmter Gesellschaftsformationen, die sich deutlich voneinander
unterscheiden. Mit sehr groben Vereinfachungen kann er dann schriftlose
und literarische Kulturen unterscheiden oder deutlich stratifizierte Gesellschaften
von segemntären Gesellschaften oder von der modernen Gesellschaft,
die auf einer operativen Schließung von Funktionssystemen beruht.
Da es aber zwei Bereiche solcher Unterscheidungen gibt, Kommunikationsmedien
und Differenzierungsformen, kommt auch dann keine eindeutige Epochenabgrenzung
zustande. Man kann sagen, die moderne Gesellschaft (des
Abendlandes! HB) beginne im 15. Jahrhundert mit dem Übergang
von den spätmittelalterlichen durchorganisierten Großwerkstätten
der Manuskriptproduktion zu einer Anfertigung von Texten mit Hilfe der
Gutenbergschen Druckpresse. Oder man kann sagen, die moderne Gesellschaft
(des Abendlandes! HB) beginne im 18. Jahrhundert
mit der Beobachtung des Zusammenbruchs der Stratifikation und der Neuformierung
operativ geschlossener Funktionssysteme. (Diese
Beschreibungen treffen zu auf die abendländische »Gesellschaft«
[Kultur], aber nicht auf den Rest der »Weltgesellschaft«
bzw. nur insofern, als er von der abendländischen Kultur zwar kolonialisiert,
aber nicht bzw. nur teilweise »verabendländisiert« und
also [in dem hier gebrauchten Sinne des Wortes] modernisiert worden ist.
Darum ist es zweifelhaft, ob es die »eine Gesellschaft« als
die »Weltgesellschaft« wirklich gibt. HB.) Der Sachverhalt
gibt keine eindeutigeren Zäsuren her. Wenn man wissen will, wie die
moderne Gesellschaft sich selber historisch abgrenzt, muß man sie
deshalb von einer Ebene zweiter Ordnung aus beobachten. Man muß
beschreiben, wie sich selbst beschreibt.
(Ebd., S. 516.)
Technik. .... Technik als Organersatz (Gehlen
im Anschluß an Kapp). .... Technik als etwas »Artifizielles«
verstanden. (Das gilt auch und erst recht [aber
keineswegs nur] für die neuzeitliche Tradition - und erspart dann
weitgehend die Suche nach einer theoretisch ausgearbeiteten Begrifflichkeit.
»Im Zentrum [der zeitgenössischen Literatur
über Technik; NL] steht ... der Begriff des Artefakts, der
[das? NL] als Werkzeug, Maschine oder Automat
Mittel zur Erreichung nichttechnischer Ziele ist«, liest man bei
Wolfgang Krohn, a.a.O..)
(Ebd., S. 519.)
Damit korrespondiert eine seit dem Spätmittelalter zunehmende
Umstellung von Was-Fragen auf Wie-Fragen, die durch Gutenbergs Buchdruck,
selbst eine als Technik gefeierte Errungenschaft, universell verbreitet
wird. .... Durchweg begünstigt die techiknahe Semantik des Vorstellens
und Herstellens (Heidegger) die Annahme eines außerhalb stehenden
Subjekts, das die technischen Möglichkeiten von außen nutzt,
ohne selbst nach Art einer Technostruktur zu fungieren.
(Ebd., S. 520.)
Die maßgebende Unterscheidung, die die Form »Technik«
bestimmt, ist nun die zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren
Sachverhalten. Extrem abstrakt formuliert, geht es also um gelingende
Reduktion von Komplexität.
(Ebd., S. 525.)
Wir beobachten also eine Neuformulierung des alten Problems der
Beziehung von Natur und Technik, und der Vorteil (wie wohl auch das Motiv)
dieser Neufassung ist: die Probleme der technischen Intervention in natürliche
Systeme bzw. Systemzusammenhänge zu beleuchten. Überspitzt formuliert,
legt dies die Vermutung nahe, daß die Vermehrung des Wissens über
die Natur nur noch zur Vermehrung des Nichtwissens über die Auswirkungen
technischer Intervention führen kann; und das gilt explizit auch
für die Auswirkungen der modernen Medizin. (Ebd., S. 525-526.)
Diese Abhängigkeit von Technik hat zur Folge, daß die
strukturelle Kopplung von physikalischer Welt und Gesellschaft nicht mehr
mit dem Begriff der Natur erfaßt werden kann, so als ob es eine
in der Natur fundierte analogia entis gäbe. An die Stelle des Naturbegriffs
treten in diesem Zusammenhang die Doppelbegriffe Energie/Arbeit und Energie/Ökonomie.
Die Technik konsumiert Energie und leistet Arbeit und verbindet auf diese
Weise die phyikalischen Gegebenheiten mit der Gesellschaft. Wie immer,
so dient auch diese struktuerelle Kopplung der Kanalisierung von Irritationen.
Die Technik selbst definiert und verändert die Grenzen der Umwandlung
von Energie in Arbeit. Die Risiken, auf die man sich dabei einlassen muß,
nehmen zu, und die Zukunft hängt von Techniken ab, die derzeit noch
nicht zur Verfügung stehen. (Ebd., S. 532-533.)
Politisch gesehen gibt es völlig neue Droh- und Sanktionspotentiale,
die darin bestehen, daß Regionen von den Vorteilen technischer Versorgung
abgeschnitten oder umgekehrt: die Mitwirkung an ökologisch kontrollierten
oder weniger riskanten Technikentwicklungen verweigern.
(Ebd., S. 534-535.)
Es ist ... nicht zu verkennen, daß die Wurzeln des Problems
in der Zeitdimension und speziell in unterschiedlichen Formen der Vergegenwärtigung
von Zukunftsgewißheit liegen.
(Ebd., S. 535.)
Die Abspaltung einer besonderen Ideenevolution geht, ungeachtet
der konkreten historischen Bedingungen ihrer Ermöglichung, letztlich
auf den Unterschied zwischen Operation und Beobachtung zurück.
(Ebd., S. 537.)
Die Schrift selbst stellt so neuartige Anforderungen an die Explikation
des (allein aus dem Text heraus zu verstehenden) Gedankenguts, daß
sie neue Wörter, neue Begriffe, Ideen über Ideen (also »Philosophie«)
absondert.
(Ebd., S. 541.)
Um 1600 beginnt das Wort »System« seine Karriere -
zunächst als Buchtitel und zur Ankündigung der Absicht, ein
Buch mit einer ordentlichen Stoffgliederung zu verfassen. (Siehe
vor allem die Traktate zu verschiedenen Sachgebieten von Bartholomäus
Keckermann, a.a.O.).
(Ebd., S. 541.)
Man kann im Gedruckten latente Potentialitäten für andere
Meinungen entdecken und aktualisieren.
(Ebd., S. 544.)
Diese Andeutungen haben hier vor allem den Zweck, erneut (vgl.
etwas ausführlicher: Kapitel 2, V [S. 249-290] und VI [S. 291-302]),
auf die Bedeutung der Zäsuren hinzuweisen, die in der Einführung
der Schrift und der Druckpresse liegen. Für eine Theorie der Ideenevolution
(im Unterschied zu detaillierten Untersuchungen zu ideengeschichtlichen
Fragen) haben sie deshalb Bedeutung, weil sie die Trennbarkeit der evolutionären
Funktionen und damit die Bedingungen der Möglichkeit einer eigenständigen
Ideenevolution betreffen. Dann bleibt aber noch zu klären, ob eine
solche Trennung von Variation, Selektion und Restabilisierung speziell
für Ideenevolution überhaupt realisiert werden kann und welche
Formen die einzelnen evolutionären Mechansimen in diesem Fall annehmen.
- Die Variation findet ihren Ansatzpunkt in der schriftlichen Fixierung
des Materials und in den Freiheiten, die man darin findet, daß man
weder beim Schreiben noch beim Lesen der dichten Überwachung durch
ein Interaktionssystem ausgesetzt ist. .... - Zu beachten ist ferner,
daß sich bei schriftlicher Kommunikation die bedingungen für
die strukturelle Kopplung von Bewußtseinsvorgängen und Kommunikationsvorgängen
verändern. Da die Umwelt nur über Bewußtsein Kommunikation
irritieren kann, kommt einer solchen Veränderung erhebliche Bedeutung
zu. Sie wirkt selektiv, denn die meisten Bewußtseinssysteme schalten
sich beim Schreiben und Lesen von selber ab. Sie wissen nicht weiter,
sie ermüden, sie hören auf. Übrig bleiben auch hier Spezialisten,
die das Umsetzen von Texten in Texte gekonnt betreiben, gleichsam als
Annex des Kommunikationsprozesses, aber Mühe haben und inhaltliche
wie stilistische Anstrengungen unternehmen müssen, um noch als Individuen
erkennbar zu sein. (Gute Testmöglichkeiten
bieten die Teilnahme an dem anonymisierten Gutachtersystem moderner Zeitschriftenredaktionen.
Gelegentlich, aber selten, kann ein Gutachter erraten, von wem der zugesandte
Beitrag stammt. Und fast immer sind es Zufallskenntnisse, die dazu verhelfen.)
.... - Der Prozeß gegen Galilei, das Erdbeben von Lisabon, das für
Voltaire ein willkommener Anlaß war, die Frage der Tgheodizee aufzugreifen,
oder die Anlässe des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges
- ein Sichabstützen auf im Moment einsichtige Sachverhalte genügt
der Selektion. Sie kann auf dieser Grundlage dann allerdings nicht zugleich
die Funktion der Restabilisierung mitübernehmen. (Ebd., S.
544-549.)
Immerhin steigert der der Buchdruck die Komplexität des Möglichen
so rasch und so weitreichend, daß Innovationen ihre Plausibilitäten
ihrerseits seligieren können.
(Ebd., S. 541.)
Am Ende des 18. Jahrhunderts scheint auch die bisherige Form der
Ideeneveolution mit schriftbezogener Varianz, plausibler oder evidenter
Selektion und normativer bzw. dogmatisch-unbezweiflter Stabilität
ihre Ende erreicht zu haben.
(Ebd., S. 553.)
Deutlich ist außerdem zu erkennen, daß die jetzt (seit
Ende des 18. Jahrhunderts; HB) plausiblen Ideen und Begriffe mit
mehr Unordnung in der Umwelt des Gesellschaftssystems und in den gesellschaftsinternen
Umwelten der Funktionssysteme des Gesellschaftssystems zurechtkommen müssen.
Auf der Suche nach Festem und Notwendigem werden immer neue Kontingenzen
aufgedeckt bis hin zur Kontingenz der Naturgesetze selbst. .... Refernzprobleme
und Codeprobleme, also die Unterscheidungen Selbstreferenz/Fremdreferenz,
... wahr/unwahr, gut/schlecht, Recht/Unrecht, lassen sich nicht mehr in
Übereinstimmung bringen - offensichtlich geworden am Scheitern des
logischen Positivismus und dann auch der analytischen Philosophie mit
Veruschen, die Begriffsgruppen Referenz, Sinn und Wahrheit zu integrieren.
(Ebd., S. 554.)
Die eigene Codierung und Programmierung von Funktionssystemen
ist Resultat und zugleich Bedingung ihrer Evolution.
(Ebd., S. 565.)
In dem Maße, in dem Teilsystemevolutionen auf der Basis
besonderer Funktionen und Codierungen in Gang gekommen sind und dann innerhalb
dieser Systeme für evolutionäre Strukturveränderungen sorgen,
die im Verhältnis der Systeme zueinander nicht mekr koordiniert sind,
verändern sich die Bedingungen, auf die die Evolution des Gesellsxchaftssystems
reagiert. Daß die gesellschaftliche Evolution mehr und mehr zum
Resultat von Teilsystemevolutionen wird, muß erhebliche Auswirkungen
haben. Es bedeutet sicher nicht, daß man nicht mehr von gesellschaftlicher
Evolution sprechen könnte, denn die Teilsysteme vollziehen ja selbst
die (abweichende) Reproduktion der Gesellschaft. Auch geht es, in der
Systemreferenz Gesellschaft gesehen, nach wie vor um Sprache, um symbolisch
generalisierte Medien und um das Verhältnis von System und Umwelt.
Was man beobachten kann, sind jedoch Veränderungen in der semantischen
Selbstbeschreibung der Gesellschaft (vgl. 5. Kapitel
[866-1149].).
(Ebd., S. 567.)
Die Evolutionstheorie beschreibt Systeme, die
sich in vielen einzelnen Operationen von Moment zu Moment reproduzieren
und dabei Strukturen benutzen oder nicht benutzen, ändern oder nicht
ändern. Das alles geschieht in einer Gegenwart und in einer gleichzeitig
(und insofern unbeeinflußbar) vorhandenen Welt. Ein solches System
braucht für seine operative Reproduktion zunächst keine Geschichte.
(Aber auch Eveolution bezieht sich auf Zeit, auf
Veränderungen, auf Vergangenheit - wie Geschichte! HB) Ich,
der ich beim Schreiben dieses Buches an dieser Stelle angelangt bin, brauche
nur den nächsten Satz zu finden. Hier ist er.
(Ebd., S. 569.)
Entsprechend kann die Theorie gesellschaftlicher Evolution keine
Theorie sein, die es sich vornimmt, den Verlauf der Geschichte oder auch
nur bestimmte Ereignisse kausal zu erklären. (Kausalität
ist aber nicht der einzige Aspekt in der Geschichtswissenschaft; u.a.
gehört auch der Aspekt der reinen Beschreibung zu ihren zentralen
Aufgaben. HB.) Die Zielvorstellung ist nur, ein theoretisches Schema
für historische Untersuchungen bereitzustellen, das unter günstigen
Umständen zur Einschränkungen der möglicherweise kausal
relevante Ursachen führen kann. Doch Hypothesen für solche Übergänge
müßten im Hinblick auf bestimmte historische Sachlagen erts
noch entwickelt werden. Sie können weder aus der Evolutionstheorie
abgeleitet werden noch, entsprechend generalisiert, die Evolutionstheorie
»verifizieren«. Das Unterscheidungsschema der Evolutionstheorie
Variation-Selektion-Restabilisierung ist ja zirkulär konstruiert.
(In der Geschichte ist auch vieles zirkulär!
HB.) Alle historischen Analysen müssen jedoch von bstimmten
Situationen ausgehen und für Zwecke einer evolutionstheoretischen
Erklärung Herausarbeiten, wie in diesen Situationen Gelegenheiten
und Beschränkungen ineinandergreifen. (Wie
gesagt: In der Geschichte ist auch vieles zirkulär! HB.)
(Ebd., S. 570.)
In der historischen und der sozialwissenschaftlichen Literatur,
die sich mit dem Sonderweg Europas seit dem Mittelalter, also mit der
Entstehung der modernen Gesellschaft befaßt, liegen Faktortheorien
im Streit, die sich auf die Auszeichnung entweder der Religion oder der
Wirtschaft oder der politischen Staatsbildung oder des Rechts konzentrieren.
Offenbar setzt sich im Rückblick auf das Mittelalter das Schema der
Differenzierung von Funktionssystemen durch. Wenn ein Primärfaktor
behauptet wird, wird die Referenz anderer anerkannt und ihm zugeordnet.
Wallerstein etwa berücksichtigt die Segementierung der europäischen
Staatenwelt als Folge der internationalen Arbeitsteilung der Wirtschaft.
(Vgl. Immanuel Wallerstein, a.a.O..) Weber
leitet den Primat religiöser Orientierung aus einem Legitimationsbeadrf
freigesetzter ökonomischer Motive ab. (Vgl.
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus,
1904, a.a.O., S. 1-14.) Neuere Autoren geben der Politik den Primat
zurück und sehen den entscheidenden Faktor in der Verhinderung einer
Reichsbildung und in der segmentären, territorialstaatlichen Ordnung
politischer Gewaltkontrolle. Mit ebenso guten (»guten«?
HB) Gründen wird auch die frühe Ausdifferenzierung einer
systematisierten Rechtskultur als spezifisch europäische Eigenart
mit Abweichung erzeugender Wirkung genannt. (Die
Kultur sollte - wie insbesondere früher - als Primärfaktor
gelten! Unter den hier genanten vier »Faktoren« gilt dann
der politische Faktor als der bedeutendste innerhalb des Primärfaktors
Kultur. HB.) Solange solche Primat-Theorien aufgestellt
werden, wird es diese Kontroversen geben. Methodisch ist dazu zu bemerken,
daß sich viele gute (»gute«? HB)
Argumente, aber eben nicht die Hypothese eines besonders wichtigen Faktors,
aus den Quellen entnehmen lassen. (Doch; nämlich
die Kultur. HB.) Und theoretisch wäre die Frage, ob
es überhaupt sinnvoll ist, den Übergang zu funktionaler Differenzierung
(wenn es denn darum geht) auf den wie immer historisch relativen Vorrang
eines der Funktionssysteme zurückzuführen.
(Ebd., S. 571-572.)
Eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution verzichtet auf kausale
Erklärungen (oder beschränkt sie auf Kleinstausschnitte der
gesamtgesellschaftlichen Evolution). Sie ersetzt das Kausalschema durch
die Annahmen zirkulärer evolutionärer Bedingungen. (Das
tun bestimmte Geschichtstheorien aber auch. Wie gesagt: In der Geschichte
ist auch vieles zirkulär! HB.) In jeder historischen Situation
ist die Gesellschaft sich selbst als nicht-triviale, als historische Maschine
gegeben. die Variation, Selektion und Restabilisierung nach dem im Moment
gegebenen Sachstand einsetzt. Es kommt nur darauf an, daß diese
evolutionären Mechanismen getrennt werden können, und das erfordert
eine Mindestkomplexität des Systems. Im Ergebnis entsteht dadurch
ein Trend zur Abweichungsverstärkung, in dem, um bei unseren Beispielen
zu bleiben, die frühen territorialstaatlichen Organisationen (etwa
die normannischen Staaten von England und Sizilien oder die Republiken
Italiens) von Rechtsinstrumenten Gebrauch machen können, die zugleich
von der Kirche im Kampf gegen die theokratischen Ambitionen der deutschen
Reichskaiser benutzt werden und die ihre wesentliche Anregung dem Zufallsfund
der römischen Texte und ihrer Glossierung für Lehrzwecke verdanken.
Die Entwicklung der Geldwirtschaft (etwa des Kreditwesens) benutzt dieselben
Instrumente, die aber zugleich im Zuge der ersten Geldinflation in England
(um 1200) den Eigentumsbegriff von feudalrechtlichen Grundlagen ablösen.
Viel hängt dabei von einer nicht nur in den Städten funktionierenden,
territorialstaatlichen Gerichtsbarkeit ab (was zum Beispiel durch Landbesitz
gesicherte Kredite angeht) und damit von der Konsolidierung politischer
Kontrolle über ein Territorium, die ihrerseits aber nicht weiträumig
wirkt, um auch den Handel regulieren zu können. Typisch für
diese Frühform funktionaler Differenzierung scheint daher zu sein,
daß sich evolutionäre Errungenschaften sehr spezifischer Art
im Attraktionsbereich einzelner Funktionen entwickeln und auf andere Evolutionsmöglichkeiten
wie Zufälle wirken, die in der geschichtlichen Situation genutzt
werden können.
(Ebd., S. 572-573.)
In jedem Falle benötigt ein System, das historische Ursachen
für seinen gegenwärtigen Zustand feststellen oder sich im Unterschied
zu früheren Zuständen als verschieden, zum Beispiel als »modern«,
charakterisieren will, ein Gedächtnis, um die Unterscheidungen prozessieren
zu können. Aber: was ist ein Gedächtnis? - Von Gedächtnis
soll hier nicht im Sinne einer möglichen Rückkehr in die Vergangenheit,
aber auch nicht im Sinne eines Speichers von Daten oder Informationen
die Rede sein, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann. Vielmehr
geht es um eine gegenwärtig benutzte Funktion, die alle anlaufenden
Operationen testet im Hinblick auf Konsistenz mit dem, was das System
als Realität konstruiert. In unserem Themenbereich handelt es sich
bei diesen Operationen um Kommunikationen; also nicht um neurobiologische
Veränderungen von Gehirnzuständen und auch nicht um das, was
ein einzelnes Bewußtsein sich bewußt macht. Die Funktion des
Gedächtnisses besteht deshalb darin, die Grenzen möglicher Konsistenzprüfungen
zu gewährleisten und zugleich die Informationsverarbeitungskapazitäten
wieder frei zu machen, um das System für neue Irritationen zu öffnen.
Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt also im Vergessen,
im Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der
Resultate früherer Beobachtungen.
(Ebd., S. 578-579.)
Nur ausnahmsweise wird also das Vergessen inhibiert. Und wiederum
ausnahmsweise werden Erinnerungen mit Zeitindex versehen, wodurch verhindert
wird, daß zu viel heterogenes Material als beständige Eigenschaft
von Objekten zu viel Inkonsistenzen erzeugt. Nur ausnahmsweise werden
die Eigenwerte des Systems über Zeitmarkierungen wie vergangen/zukünftig
oder sogar über datierungen so aufgelöst, daß temporäre
Objekte, zeitbegrenzte Objekte, zeitbegrenzte Einheiten, Episoden usw.
entstehen, deren gegenwärtige Relevanz dann nochmals gefiltert werden
kann.
(Ebd., S. 580.)
Gegenwart ist aber nichts anderes als die Unterscheidung von Vergangenheit
und Zukunft. Sie ist keine iegenständige Zeitetappe, sondern nimmt
nur soviel Operationszeit in Anspruch, wie benötigt wird, um Unterschiede
in den Zeithorizonten der Vergangenheit und der Zukunft (in welcher sachlichen
Hinsicht auch immer) zu beobachten. Wenn das Gedächtnis seine Funktion
nur im aktuellen Operieren, also nur in der Gegenwart ausüben kann,
so heißt dies: daß es mit der Differenz von Vergangenheit
und Zukunft zu tun hat; daß es diesen Unterschied verwaltet - und
nicht etwa einseitig vergangenheitsbezogen operiert. Man kann daher auch
sagen: das Gedächtnis kontrolliert den Widerstand der Operationen
des Systems gegen die Operationen des Systems. Es hält mit seinen
Konsistenzprüfungen das fest, was dem System nach Bearbeitung dieses
inneren, selbstorganisierten Widerstandes als »Realität«
(im Sinne von »res«) erscheint. Und das wiederum heißt:
es kontrolliert, von welcher Realität aus das System in die Zukunft
blickt.
(Ebd., S. 581.)
Kann man sich das etwas genauer vorstellen? - Wir gehen einen
Schritt weiter mit der These, daß die Transferfunktion des Gedächtnisses
sich auf Unterscheidungen bezieht: oder genauer: auf Bezeichnungen
von etwas im Unterschied zu anderem. Das Gedächtnis oiperiert dann
mit dem, was erfolgreich bezeichnet worden ist, und tendiert dazu, die
andere Seite der Unterscheidung zu vergessen. Es kann zwar auch Unterscheidungen
als Form markieren, etwa die Unterscheidung von gut und böse; aber
dann tendiert es dazu, zu vergessen, wovon diese Unterscheidung unterschieden
worden war. Diese Eigenart des Diskriminierens im Schema Vergessen/Erinnern
ist nicht zuletzt sprachlich bedingt und insofern eine Besonderheit sozialer
systeme. Durch die Subjekt/Prädikat-Struktur unserer Sprache ist
zwar nicht ausgeschlossen, aber mit erheblichen Umständlichkeiten
belastet, wenn man bei allen Komponenten eines satzes immer miterwähnen
wollte, wovon sie unterschieden werden.
(Ebd., S. 581-582.)
Das soziale Gedächtnis ist keinesfalls das, was Kommunikationen
als Spuren im individuellen Bewußtseinssystemen hinterlassen. Sondern
es geht um eine Eigenleistung kommunikativer Operationen, um ihre eigene,
unentbehrliche Rekursivität.
(Ebd., S. 583-584.)
Das soziale Gedächtnis würde zwar nicht funktionieren,
gäbe es keine Bewußtseinssysteme mit Gedächtnis (soe wie
Bewußtseinssysteme ihrerseits aufneurophysiologisch reproduzierte
Gedächtnisleistungen angewiesen sind); aber es baut nicht auf die
Gedächtnisleistungen der Bewußtseinssysteme auf, denn diese
sind viel zu verschieden und in der Kommunikation nicht auf einen Nenner
zu bringen. Man darf zwar annehmen, daß der variationsspielarum
der Evolution beschränkt ist, wenn Individuen über ein stark
ausgeprägtes Kollektivgedächtnis verfügen und die Kommunikation
hinreichend ähnliche Erinnerungen bei allen Teilnehmern voraussetzen
kann. Aber das erklärt gerade nicht, wie evolutionäre Variation
überhaupt möglich ist und wie soziale Kommunikation Erinnerung
(Vergangenheit) und Oszillatiob (Zukunft) trennt.
(Ebd., S. 584.)
Das soziale Gedächtnis als Kultur ....
- Kultur ... ist ... das Gedächtnis der Gesellschaft, also der Filter
von Vergessen/Erinnern und die Inanspruchnahmde von Vergangenheit zur
Bestimmung des Variationsrahmens der Zukunft.
(Ebd., S. 587-588.)
Gesellschaft ... als Differenz.
(Ebd., S. 591.)
Die auf Vergleiche bezogene, aus Vergleichen entwickelte Unterscheidungstechnik
der Kultur hat erhebliche Konsequenzen für die Art und Weise, in
der die Gesellschaft auf ihre eigene Evolution reagiert.
(Ebd., S. 591.)
Kulturvergleiche inhibieren in einem zuvor unbekannten Umfange
das Vergessen. Es werden nicht mehr nur Wahrheiten dem Sog des Vergessens
entrissen, sondern - man kann fast sagen: alles Mögliche. Mehr als
zuvor wird als gleich erkennbar, aber das gibt jeztzt kaum noch Orientierungsgewißheit.
Damit verliert das Gedächtnis die Funktion, Anhaltspunkte zu bieten.
Es verliert die Funktion der Konsistenzprüfung in den laufenden Operationen
(Kommunikationen) der Gesellschaft. Diese Aufgabe muß den Spezialgedächtnissen
der Funktionssysteme überlassen bleiben, die untereinander nicht
mehr integriert werden können. Damit bleibt auch die gesamtgesellschaftliche
Realitätskonstruktion unbestimmt (vgl. Kapitel
5, IX ff. [S. 958 ff.]). Sie wird, wie wir noch sehen werden, ihrerseits
einem Funktionssystem, dem System der Massenmedien übertragen. Was
jetzt als Gesamtformel für Realitätskonstruktionen angeboten
werden kann, ist: daß es eine solche Gesamtformel nicht mehr gibt.
Hegel hatte, wie man weiß, keine Erben.
(Ebd., S. 591-592.)
Das besagt nun aber keineswegs, daß jeder
Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft abreißt: denn das
müßte ja auch heißen, das beide Zeithorizonte nicht mehr
unterschieden werden können, da sie wechselseitig füreinander
»unmarked states« wären. So etwas scheint die Legende
vom »Ende der Geschichte« (**|**|**|**)
vorzuschweben; aber es steht im krassen Widerspruch zu dem, was die Gesellschaft
alltäglich in ihren Kommunikationen voraussetzt und reproduziert.
An diesem Punkte könnte die vorstehend skizzierte Theorie des gesellschaftlichen
Gedächtnisses weiterhelfen. (Ebd., S. 592.)
Anscheinend operiert unsere Kultur so, daß sie in die Vergangenheit
Unterscheidungen hineinliest, die dann Rahmen liefern, in denen Zukunft
osziliieren kann. Die Unterscheidungen geben Formen an, die bestimmen,
was von etwas Bestimmtem aus die »andere Möglichkeit«
wäre. Die Konkretion der jeweils verwendeten Unterscheidungen bleibt
variabel; aber um sie variieren zu können, muß man Unterscheidungen
unterscheiden, sie als Formen markieren und sich damit denselben Bedingungen
des Oszillierens innerhalb von implizit oder explizit vorausgesetzten
Unterscheidungen überlassen. Es scheint keine verbindliche »primary
destinction« mehr zu geben - weder die von Sein und Nichtsein, noch
die der logischen Wahrheitswerte, weder die der Wissenschaft, noch die
der Moral. (Vgl. Kapitel 5, IV-VIII [S. 893-958]).
Aber das heißt nicht, daß es ohne Unterscheidungen ginge.
Die Konsequenz ist nur, daß man genötigt ist, zu beobachten,
wer welche Unterscheidungen verwendet, um seine Vergangenheit seiner Zukunft
vorzugeben.
(Ebd., S. 592-593.)
Während wir annehmen, daß Evolution geschieht, wie
sie geschieht, und dies in einer Weise, die die Kopplung von Vergangenheit
und Zukunft in den Formen Variation/Selektion/Restabilisierung dem Zufall
überläßt, ist das operative Gedächtnis des Systems
gerade mit der Kopplung von Vergangenheit und Zukunft beschäftigt;
aber dies so, daß es diese Zeithorizonte zunächst einmal unterscheiden
muß, um sie koppeln zu können. Die Evolution kennt keine Anfänge.
(Ebd., S. 592-593.)
Differenzierung.
Vom Teilsystem aus gesehen, ist der Rest des
umfassenden Systems jetzt Umwelt. Das Gesamtsystem erscheint für
das Teilsystem dann als Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt.
Die Systemdifferenzierung generiert, mit anderen Worten, systeminterne
Umwelten. Es handelt sich also um ein »re-entry« (Wiedereintritt;
HB) der Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie Unterschiedene,
in das System. (Im Vorgriff auf spätere Analysen
sei noch angemerkt, daß hier von Operationen die Rede ist, die System
und Umwelt trennen. Soweit es um Beobachtungen geht, führt ein entsprechendes
re-entry zur systeminternen Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz.)
(Ebd., S. 597.)
Systemdifferenzierung heißt gerade nicht, daß das
ganze in Teile zerlegt wird und, auf dieser Ebene gesehen, dann nur noch
aus den Teilen und den »Beziehungen« zwischen den Teilen besteht.
Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das umfassende System,
dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene
(teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt. Durch
Systemdifferenzierung multipliziert sich gewissermaßen das System
in sich selbst durch immer neue Unterscheidungen von Systemen und Umwelten
im System.
(Ebd., S. 598.)
Im Kontext von Systemdifferenzierung ist mithin jede Veränderung
eine doppelte, ja eine vielfache Veränderung. Jede Änderung
eines Teilsystems ist zugleich eine Änderung der Umwelt anderer Teilsysteme.
Was immer passiert, passiert mehrfach - je nach Systemreferenz. So mag
eine rasche Vermiderung des Bedarfs an Arbeitskräften in der Wirschaft
aus konjunkturellen oder aus Konkurrenzgründen einen Rationalitäs-
und Rentabilitätszuwachs bedeuten, zugleich aber im politischen System,
in den betroffenen Familien, im Erziehungssystem der Schulen und Hochschulen
oder auch als ein neues Forschungsthema der Wissenschaft (»Zukunft
der Arbeit«) auf Grund einer Veränderung in der Umwelt
dieser Systeme ganz andere Kausalreihen auslösen. Und dies, obwohl
es für alle Systeme dasselbe Ereignis ist! Daraus resultiert
eine enorme Dynamisierung, ein geradezu explosiver Reaktionsdruck, gegen
den die einzelnen Teilsysteme sich nur durch ein Hochmauern von Schwellen
der Indifferenz schützen können. Differenzierung bewirkt deshalb
zwangsläufig: Zunahme von Abhängigkeiten und von Unabhängigkeiten
zugleich unter Spezifikation und systemeigener Kontrolle der Hinsichten,
in denen man abhängig bzw. unabhängig ist. Und als Resultat
formieren die Teilsysteme sich schließlich als operativ geschlossene
autopoietisches Systeme.
(Ebd., S. 599-600.)
Nur mit der Unterscheidung von System und Umwelt erfaßt
das System die Welteinheit bzw. die Einheit des umfassenden Systems, und
zwar mit einer jeweils selbstbezüglichen Unterscheidung. Mit System-zu-System-Beziehungen
(zum Beispiel solchen von Familie und Schule) erfaßt es nur Welt-
bzw. Gesellschaftsausschnitte. Gerade diese Ausschnitthaftigkeit ermöglicht
es dann aber, das jeweils andere System als System-in-einer-eigenen-Umwelt
zu beobachten udn damit die Welt bzw. die Gesellschaft aus der Perspektive
des Beobachtens von Beobachtungen (Beobachtungen zweiter Ordnung) zu rekonstruieren.
In der Umwelt der anderen systeme kommt dann auch dasjenige System, das
sie beobachtet, wieder vor. Das Gesamtsystem, das diese Perspektive eröffnet,
erpreßt sich damit gleichsam selbst zur Selbstrefexion.
(Ebd., S. 600-601.)
Im Unterschied zum Gesellschaftssystem gibt es für dessen
Teilsysteme ja zwei Umwelten: die gesellschaftsexterne und die gesellschaftsinterne.
(Ebd., S. 604.)
Das Problem des Konflikts ist die zu strake Integration der Teilsysteme,
die immer mehr Ressourcen für den Streit mobilisieren und sonstiger
Verfügung entziehen müssen, und das Problem einer komplexen
Gesellschaft ist es dann, für hinreichen Desintegration zu sorgen.
(Ebd., S. 604.)
Wie bereits mehrfach betont, kann das Gesellschaftssystem
Kommunikationen nur als systeminterne Operationen verwenden, also nicht
mit der gesellschaftsexternen Umwelt kommunizieren. Dies gilt aber nicht
für die durch Differenzierung geprägten gesellschaftsinternen
Verhältnisse. Es gibt also durchaus Kommunikationen, die systeminterne
Systemgrenzen überschreiten. Daraus ergibt sich ein im Laufe der
gesellschaftlichen Evolution zunehmender Bedarf für Organisation.
Denn nur als Organisation, das heißt nur in der Form der Repräsentation
seiner eigenen Einheit, kann ein System mit seiner Umwelt kommunizieren.
Dieser Prozeß des Nahelegens von Organisationsbildung setzt sich
unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme
fort, etwa für Firmen, die ihre Produkte am Markt anbieten bzw. sich
die dafür notwendigen Ressourcen am Markt beschaffen müssen;
oder für alle möglichen gesellschaftlichen Gruppierungen, die,
wenn der Staat einmal organisiert ist, ihm gegenüber spezifische
Interessen zu vertreten suchen. Ähnlich wie im Verhältnis Gesellschaft/Interaktion
gibt es also auch im Verhältnis Gesellschaft/Organisation einen langfristigen
und schwer reversiblen Effekt der Evolution gesellschaftlicher Differenzierungsformen.
(Vgl. Kapitel 4, XIV [S. 826-847].) Wir finden
uns hier an der Stelle, an der die soziologische Klassik (Weber, Michels)
»Bürokratie« als Bedingung moderner Gesellschaftsordnung
analysiert hatte. (Ebd., S. 607-608.)
Der geschichtliche Reichtum und die empirische
Verschiedenartigkeit vormoderner Gesellschaften läßt jede Klassifikation
und damit erst recht jeden Versuch einer Epochenbildung scheitern. Und
doch gibt es unbestreitbar so etwas wie Typenunterschiede und ganz ohne
Zweifel Entwicklungssequenzen, die auf vorherigen Errungenschaften aufbauen
und in der modernen Gesellschaft - wie immer man das verstehen will -
noch einmal überboten werden. Der Begriff der Systemdifferenzierung,
den wir im vorigen Abschnitt (vgl. S. 595-608)
vorgestellt haben, soll uns den Zugang zu diesem schwierigen Terrain erschließen.
Deshalb haben wir den Struktur- und Perspektivenreichtum des Konzepts
und seine Aufgeschlossenheit für evolutionäre Veränderungen
besonders betont. Ergänzend benötigen wir für konkretere
Analysen jetzt noch den Begriff der Formen der Differenzierung.
(Ebd., S. 609.)
Von »Form« sprechen wir auch hier in dem in Kapitel
1 (vgl. S. 16-189) eingeführten Sinne.
Eine Form ist eine Unterscheidung, die zwei Bereiche trennt. Der Systembegriff
selbst bezeichnet die Unterscheidung von System und Umwelt. Von Differenzierungsform
wollen wir sprechen, wenn es darum geht, wie in einem Gesamtsystem das
Verhältnis der Teilsysteme zueinander geordnet ist. Wir müssen
also zunächst noch einmal System/Umwelt-Beziehungen und System-zu-System-Beziehungen
unterscheiden. In System/Umwelt-Beziehungen stehen Systeme, also jeweils
die Innenseite der Form »System«, einem »unmarked space«
(Spencer Brown) gegenüber, der vom System aus nicht erreicht und
nicht - es sei denn inhaltsleer - bezeichnet werden kann. Die Referenz
auf »die Umwelt« trägt nichts zu den Systemoperationen
bei. »Die Umwelt« gibt keine Information. Sie ist nur ein
Leerkorrelat für Selbstreferenz. Geht es dagegen um System-zu-System-Beziehungen,
tauchen in der Umwelt bezeichnungsfähige Einheiten auf. Auch hier
kann das System seine eigenen Grenzen nicht operativ überschreiten
(denn sonst müßte es in der Umwelt operieren), aber es kann
beobachten, das heißt bezeichnen, welche spezifischen Sachverhalte
in der Umwelt (hier: andere Systeme) für es in spezifischer Weise
relevant sind. In der System/Umwelt-Beziehung operiert das System universalistisch,
das heißt in der Form eines Schnitts durch die Welt. In System-zu-System-Beziehungen
operiert es spezifisch, das heißt in bestimmten kontingenten
Beobachtungsweisen. (Ebd., S. 609-610.)
Der Begriff der Differenzierungsform bezieht sich auf den zuletzt
genannten Fall. Er betrifft also nicht die Art und Weise, wie aus der
Sicht eines Systems die Welt oder aus der Sicht eines Teilsystems das
Gesamtsystem rekonstruiert wird. Er bezeichnet nicht diese, wenn man so
sagen darf: Retotalisierung des Systems in sich selbst. Aber er betrifft
einen sehr ähnlichen Sachverhalt (und eben deshalb ist Genauigkeit
in den Unterscheidungen wichtig).
(Ebd., S. 610.)
Von Form der Systemdifferenzierung sprechen wir mithin,
wenn von einem Teilsystem aus erkennbar ist, was ein anderes Teilsystem
ist, und das Teilsystem sich durch diesen Unterschied bestimmt. Die Form
der Differenzierung ist also nicht nur eine Einteilung des umfassenden
Systems, sie ist vielmehr die Form, mit der Teilsysteme sich selbst als
Teilsysteme beobachten können - als dieser oder jener Clan, als Adel,
als Wirtschaftssystem der Gesellschaft. Und dabei vertritt die so geformte
(unterschiedene) Differenz zugleich die Einheit des umfassenden Systems
der Gesellschaft, das man dann nicht gesondert beobachten muß. Aber
wie wird die andere Seite der Unterscheidung der Beliebigkeit, dem »alles,
was es sonst noch gibt« entzogen? Wie kommt es zur Bestimmbarkeit
anderer Teilsysteme durch eine Unterscheidung, die sich dann ihrerseits
in die Welt des sonst noch Vorhandenen einkerbt? Adel und Volk oder Politik
und Wirtschaft.
(Ebd., S. 610.)
Um zu erkennen, wie dies geschieht, bedarf es eines Rückgriffs
auf das differenzierte Gesellschaftssystem, das die Einheit der Unterscheidung,
die Teilsysteme trennt, garantiert und sich in dieser Strukturvorgabe
selbst verwirklicht. Die Beziehungen zwischen den Teilsystemen haben eine
Form, wenn das Gesamtsystem festlegt, wie sie geordnet sind. Aus der Theorie
der Systemdifferenzierung läßt sich nicht ableiten, daß
es eine solche Formfestlegung geben muß; und erst recht nicht, daß
für diese Funktion jeweils nur eine einzige Form vorgesehen ist.
Aber es kann sein und kommt, wie wir zeigen werden, ganz regelmäßig
vor, daß solche Formen gefunden werden, um die Differenzierungsverhältnisse
in einer für alle Teilsysteme gleichen Weise zu ordnen. Die Gesamtheit
der internen System/Umwelt-Beziehungen, mit der die Gesellschaft sich
selber multipliziert, wäre dafür viel zu komplex. Die Formbestimmung
des Verhältnisses der Systeme zueinander ist dafür eine vereinfachte
Fassung, die dann als Struktur des Gesamtsystems dient und auf diese Weise
die Kommunikation orientiert. (Ebd., S. 610-611.)
Ohne behaupten und begründen zu können, daß es
in jedem Gesellschaftssystem eine dominante Differenzierungsform geben
müsse, sehen wir darin doch die wichtigste Gesellschaftsstruktur,
die, wenn sie sich durchsetzt, die Evolutionsmöglichkeiten des Systems
bestimmt und auf die Bildung von Normen, weiteren Differenzierungen, Selbstbeschreibungen
des Systems usw. Einfluß nimmt. Die Bedeutung von Differenzierungsformen
für die Evolution von Gesellschaft geht auf zwei miteinander zusammenhängende
Bedingungen zurück. Die erste besagt, daß es innerhalb vorherrschender
Differenzierungsformen begrenzte Entwicklungsmöglichkeiten gibt.
So können in segmentären Gesellschaften größere,
wiederum segmentäre Einheiten gebildet werden, etwa Stämme oberhalb
von Haushalten und Familien; oder in stratifikatorisch differenzierten
Gesellschaften innerhalb der Grunddifferenz vonAdel und gemeinem Volk
weitere Ranghierarchien. Solche Wachstumsmöglichkeiten finden jedoch,
fast ist man versucht zu sagen: organische Schranken. Weitere Evolution
ist dann unmöglich, oder sie erfordert den Übergang zu einer
anderen Differenzierungsform. Es kommt nicht vor, daß ein Teilsystem
innerhalb einer Differenzierungsform durch ein Teilsystem aus einer anderen
Differenzierungsform ersetzt wird; denn das würde die Form, das heißt:
die Markierung der Differenz, zerstören. Ein Familienhaushalt kann
innerhalb segmentärer Ordnungen besondere Prominenz, auch erbliche
Prominenz gewinnen (etwa als Priesterfamilie oder als Häuptlingsfamilie),
kann aber nicht durch Adel ersetzt werden, weil dies Übergang von
Exogamie zu Endogamie, also ganz andere Größenordnungen erfordern
würde. Und ebensowenig kann der Adel durch den Staat oder die Wissenschaft
als Teilsysteme einer funktional differenzierten Gesellschaft ersetzt
werden. Evolution erfordert an solchen Bruchstellen eine Art latente Vorbereitung
und eine Entstehung neuer Ordnungen innerhalb der alten, bis sie ausgereift
genug sind, um als dominierende Gesellschaftsformation sichtbar zu werden
und der alten Ordnung die Überzeugungsgrundlagen zu entziehen. Das
heißt nicht zuletzt, daß Gemengelagen mehrerer Differenzierungsformen
typisch, ja geradezu evolutionsnotwendig sind, wenngleich es zu spektakulären
Typenveränderungen nur kommt, wenn dominierende Formen abgelöst
werden.
(Ebd., S. 611-612.)
Von Primat einer Differenzierungsform (und auch das ist keine
Systemnotwendigkeit) soll die Rede sein, wenn man feststellen kann, daß
eine Form die Einsatzmöglichkeiten anderer reguliert. In diesem Sinne
sind Adelsgesellschaften primär stratifikatorisch differenziert,
aber sie behalten eine segmentäre Differenzierung in Haushalte bzw.
Familien bei, um dem Adel Endogamie zu ermöglichen und Adelsfamilien
von anderen Familien unterscheiden zu können. Bei funktionaler Differenzierung
findet man auch heute noch Stratifikation in der Form von sozialen Klassen
und auch noch Zentrum/Peripherie-Unterschiede, aber das sind jetzt Nebenprodukte
der Eigendynamik der Funktionssysteme. (Wird diese
Frage des Primats von Differenzierungsfo);men vernachlässigt, kommt
es zur Überschätzung der historischen Kontinuität der Folgeprobleme
bestimmter Typen; so gegenwärtig in den sog. Weltsystem-Analysen
im Hinblick auf die Differenz von Zentrum und Peripherie.)
(Ebd., S. 612.)
Nur wenige Differenzierungsformen haben sich
in der bisherigen Gesellschaftsgeschichte ausgebildet. Offensichtlich
gibt es auch hier ein »Gesetz begrenzter Möglichkeiten«,
auch wenn es nicht gelungen ist, sie logisch geschlossen (etwa über
eine Kreuztabelle) zu konstruieren. Wenn man einmal davon absieht, daß
die frühesten Gesellschaften vermutlich nur an den naturalen Unterschieden
des Alters und des Geschlechts orientiert waren und im übrigen in
Horden lebten, lassen sich vier verschiedene Differenzierungsformen nachweisen,
nämlich:
(1) |
Segmentäre Differenzierung
unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit gesellschaftlicher
Teilsysteme, die entweder auf Grund von Abstammung oder auf Grund
von Wohngemeinschaften oder mit einer Kombination beider Kriterien
unterschieden werden. |
(2) |
Differenzierung nach Zentrum
und Peripherie. Hier wird ein Fall von Ungleichheit zugelassen,
der zugleich das Prinzip der Segmentierung transzendiert, also eine
Mehrheit von Segmenten (Haushalten) auf beiden Seiten der neuen
Form vorsieht. (Der Fall ist noch nicht realisiert, aber gewissermaßen
vorbereitet, wenn es innerhalb einer tribalen Struktur Zentren gibt,
die nur von einer prominenten Familie bewohnt werden, etwa die »Strongholds«
der schottischen Clans). |
(3) |
Stratifikatorische Differenlierung
unter dem Gesichtspunkt der rangmäßigen Ungleichheit
der Teilsysteme. Diese Form hat ihre Grundstruktur ebenfalls in
einer Zweierunterscheidung, nämlich von Adel und gemeinem Volk.
Sie wäre in dieser Form aber relativ instabil, weil leicht
umkehrbar! Stabile Hierarchien wie das indische Kastensystem oder
die spätmittelalterliche Ständeordnung bilden, wie artifiziell
auch immer, mindestens drei Ebenen, um den Eindruck der Stabilität
zu erzeugen. |
(4) |
Funktionale Differenzierung
unter dem Gesichtspunkt sowohl der Ungleichheit als auch der
Gleichheit der Teilsysteme. Funktionssysteme sind in ihrer Ungleichheit
gleich. Darin liegt ein Verzicht auf alle gesamtgesellschaftlichen
Vorgaben für die Beziehungen zwischen ihnen. Weder gibt es
jetzt nur eine einzige Ungleichheit, wie im Falle von Zentrum und
Peripherie, noch gibt es eine gesamtgesellschaftliche Form für
die transitive Relationierung aller Ungleichheiten unter Vermeidung
zirkulärer Rückbeziehungen. Gerade diese sind nun ganz
typisch und normal. |
Der Formenkatalog ist mit Hilfe der Unterscheidung von gleich und ungleich
gewonnen. Diese Unterscheidung paßt nur auf Vergleichbares, also
nur auf Systeme., nicht aber auf System/Umwelt-Beziehungen (denn es hat
keinen Sinn, die Umwelt Im Verhältnis zum System als »ungleich«
zu bezeichnen). Eben deshalb mußten wir die Theorie der Differenzierungsformen
auf System-zu-System-Beziehungen beschränken.
(Ebd., S. 612-614.)
Wie leicht ersichtlich, gibt es keine theoretische Begründung
für diesen Katalog. Noch kann man zwingend ausschließen, daß
sich im weiteren Verlauf der Evolution andere Formen bilden werden. Man
kann aber einsichtig machen, daß die evoluierenIden Gesellschaften
nur wenige stabile Formen der Systemdifferenzierung finden und dazu tendieren,
einer einmal bewährten Form den Primat zu geben. Dies läßt
sich damit begründen, daß rekursive Verfahren (hier: die Anwendung
von Systembildung auf das Resultat von Systembildung) zur Erzeugung von
»Eigenzuständen« tendieren. Weder daß dies gelingt,
noch wie viele Eigenzustände gefunden werden, läßt sich
theoretisch deduzieren oder empirisch prognostizieren. Man muß es
ausprobieren, und eben das hat die gesellschaftliche Evolution getan.
Wenn bestimmte Systembeziehungen bereits vorhanden sind, ist ihr weiterer
Ausbau wahrscheinlicher als der Übergang zu einer anderen Differenzierungsform.
Neben vorhandenen Siedlungen wird dann vermutlich eine weitere Siedlung
entstehen, und nicht so leicht ein Adelshof oder ein Postamt. Diese Überlegung
macht es zumindest wahrscheinlich, daß die Evolution an Hand solcher
Anschluß- und Kompatibilitätsprobleme zum Ausbau gefundender
Muster tendiert, die dann von sich aus die Chancen für andere Differenzierungsformen
regulieren. Man kann daher auch fragen: unter welchen Bedingungen akzeptiert
die Gesellschaft die Rekonstruktion ihrer eigenen Einheit durch eine interne
Differenz? Und man darf vermuten, daß eine durchgehende Verwendbarkeit
der entsprechenden Unterscheidung in allen Systemperspektiven, die Möglichkeiten
der Reduktion der damit verbundenen Komplexität, aber sicher auch,
wenn es um eine neue, eine emergente Differenz geht, das Ausreichen dafür
geeigneter, bereits vorentwickelter Strukturen ausschlaggebend sind.
(Ebd., S. 614.)
Unser Formenkatalog macht außerdem einsichtig, daß
die Evolution der Gesellschaft keine beliebigen Sequenzen wählen
kann. Regressive Entwicklungen kann man nicht ausschließen (etwa
bei der Retribalisierung der mittel- und südamerikanischen Hochkulturen
nach der spanischen Eroberung). Jedenfalls dürfte aber ein sprunghafter
Übergang von segmentären zu funktional differenzierten Gesellschaften
nicht möglich sein. (Man kann dies an den Schwierigkeiten
testen, in die tribale Gesellschaften (mit oder ohne ethnische Differenzierung)
geraten, wenn sie durch die Weltgesellschaft zur Staatenbildung genötigt
werden: Somalia, Afghanistan als Beispiele.) Auf Grund solche Anbahnungsbedingungen
entsteht der Eindruck einer Epochensequenz von archaisch-tribaien Gesellschaften,
Hochkulturen und moderner Gesellschaft. (Ähnliche
Reihungen findet man auch unter anderen Namen -zum Beispiel: primitive
Gesellschaften / traditionale Gesellschaften / Industriegesellschaften
im Hinblick auf die Organisation von Arbeit ....) Im europäischen
Rückblick mag das als eine plausible Rekonstruktion gelten, aber
wir werden sehen, wie stark man vereinfachen muß, um zu einer solchen
Beschreibung zu kommen.
(Ebd., S. 615.)
Daß die genannten Typen keine lineare Sequenz bilden, ergibt
sich schon daraus, daß seit dem Beginn der Hochkulturen weltweit
verschiedene Differenzierungsformen realisiert worden sind und voneinander
wissen. So kennen die Nomadenvölker im Norden Chinas das chinesische
Reich - und umgekehrt. Die tribalen Strukturen Schwarzafrikas standen
schon lange vor der Kolonisierung unter islamischem Einfluß. Von
wenigen, gerade erst entdeckten Ausnahmen abgesehen, findet man kaum Gesellschaften,
die völlig autochton entstanden sind. Trotzdem muß man auf
die unterschiedlichen Differenzierungsformen zurückgehen, um sie
in den Grenzen ihrer Möglichkeiten zu erkennen. Wir ersetzen somit
die allzu einfache (und rasch widerlegbare) These zunehmender Differenzierung
durch die These eines Wandels von Differenzierungsformen, der bei geeigneten
Gelegenheiten zu komplexeren (insbesondere Ungleichheiten einbauenden)
Formen führt, die mit stärkerer Differenzierung kompatibel sind,
aber dafür auch strukturelle Entdifferenzierungen einsetzen, also
keineswegs mehr Differenzierung in allen Hinsichten erreichen. (Man denke
nur an den Abbau von Verwandtschaftsrollen und Verwandtschaftsterminologien
im Laufe einer solchen Entwicklung). Eine solche Entwicklung steigert
die Komplexität des Gesellschaftssystems. Sie ermöglicht mehr
und verschiedenartigere Kommunikationen in dem Maße, in dem unwahrscheinlichere
Differenzierungsformen die Integration des Systems übernehmen. Entsprechend
müssen evolutionäre Errungenschaften vorgegeben sein oder nachentwickelt
werden, die höhere Komplexität reduzieren können: so Schrift,
Geldwesen, bürokratische Organisation, um nur einige Beispiele zu
nennen. Zugleich wachsen interne Distanzen mit entsprechenden Erfahrungsverlusten.
Denn während in segmentären Gesellschaften jeder zu Hause sich
ein Bild davon machen kann, wie es woanders zugeht, geht diese Möglichkeit
in dem Maße verloren, in dem man die Gesellschaft über interne
Ungleichheiten rekonstruiert. Entsprechend steigt der interne Informationsbedarf.
Es werden, mit anderen Worten, strukturelle Beschränkungen abgebaut,
um höhere Komplexität zu gewinnen mit der Folge, daß Intransparenzen,
Deutungsbedarf und Selbstbeschreibungen des Systems entstehen, ohne daß
man damit wiedergewinnen könnte, was vorher selbstverständlich
gewesen war.
(Ebd., S. 615-616.)
Formen erfordern ihren Tribut, erfordern Beachtung der strukturellen
Beschränkungen dessen, was unter ihrer Ägide kompatibel ist.
Als Bedingungen der Stabilität machen sie zugleich destabilisierende
Tendenzen sichtbar - etwa Reichtumsbildung außerhalb der vorgesehenen
Einteilungen. Normalerweise entwickelt sich ein normativer Apparat zur
Unterdrückung von Abweichungen. Sie können nur in der Form des
Auffälligen, Nichtnormalen, nicht Konsensfähigen, religiös
und moralisch Problematischen erscheinen. Aber das ist kein zuverlässiger
Mechanismus der Verhinderung. Das Destabilisierende kann unter exzeptionellen
Umständen so normal werden, daß sich eine neue Form von Stabilität
abzuzeichnen beginnt und eine andere Form der Differenzierung aus einer
früheren hervorgeht. In der Systemtheorie nennt man ein solches Auswechseln
der Form der Stabilität eines Systems auch Katastrophe.
(Ebd., S. 616.)
Ferner kann mit Hilfe dieses Formenkatalogs die These gestützt
werden, daß veränderte, anspruchsvollere Formen der Systenidifferenzierung
zur stärkeren Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems führen.
Eine erste Differenzierung wird sich auf natürlich vorgegebene Unterschiede
des Alters und des Geschlechts gestützt und dabei mit anderen Möglichkeiten
experimentiert haben - etwa mit Familienbildung auf Grund des naheliegenden
Bedürfnisses, Kinder mit Vätern zu versorgen. Für die Einheiten
segmentärer Differenzierung gibt es dann in der Umwelt bereits kein
genaues Äquivalent mehr, auch wenn man Wohnstätten, Dörfer,
Felder usw. zuordnen kann. In dem Maße, in dem die interne Differenzierung
von gleich auf ungleich umgestellt wird, nehmen die intern ausgelösten
Kontrollund Folgelasten zu, und die darauf bezogene Kommunikation zwingt
die Gesellschaft erst recht, sich von ihrer Umwelt zu unterscheiden. Mehr
und mehr Aktivitäten beziehen sich auf andere Aktivitäten desselben
Systems, während Umweltabhängigkeiten abgebaut oder von internen
Dispositionen abhängig gemacht werden. (Gelegentlich
ist dies auch als zunehmende »Insulation« des Gesellschaftssystems
beschrieben worden.) Stratifizierte Gesellschaften rühmen
ihre spezifisch menschliche Ordnung, grenzen sich gegen die Welt der Tiere
und der Primitivmenschen ab, legen der Unterscheidung aber noch ein religiös-kosmologisch
begründetes Sinnkontinuum zu Grunde. Darauf muß die funktional
differenzierte Gesellschaft der Moderne dann auch noch verzichten, und
die Konsequenz ist, daß sie sich weder mit Regionen noch mit den
konkreten, körperlich-mental existierenden Menschen mehr identifizieren
kann. Ein Maximum an interner Ungleichheit und Autonomie der Teilsysteme
bedingt zugleich ein Maximum an Verschiedenheit von Gesellschaft und Umwelt.
Überzeugen kann jetzt nur noch eine scharfe und operativ unüberschreitbare
Grenze zwischen System und Umwelt. Daß das nicht bedeuten kann,
daß die Gesellschaft von ihrer Umwelt unabhängig geworden ist
und sie mehr und mehr »beherrscht«, beginnt man allmählich
einzusehen.
(Ebd., S. 617.)
Formen der Differenzierung sind nach all dem Formen der Integration
der Gesellschaft. Die Gesellschaft wird nicht durch ein Einheitsgebot,
nicht durch Reformulierung ihrer Einheit als Postulat integriert, sondern
in der Form der Rekonstruktion ihrer Einheit als Differenz. Die jeweils
dominante Form der Differenzierung regelt dann zugleich, wie die Einheit
der Gesellschaft in der Gesellschaft gesehen werden kann und welche Einschränkungen
der Freiheitsgrade der einzelnen Teilsysteme sich daraus ergebeben. Während
vom Klassikerbegriff der Integration her die moderne Gesellschaft als
desintegriert beschrieben werden müßte, weil sie sich intern
nicht mehr auf irgendein inhaltliches Einheitskonzept verständigen
kann, führt die hier vorgeschlagene Begriffsbildung zur gegenteiligen
Diagnose. Die moderne Gesellschaft ist überintegriert und dadurch
gefährdet. Sie hat in der Autopoiesis ihrer Funktionssysteme zwar
eine Stabilität ohnegleichen; denn alles geht, was mit dieser Autopoiesis
verträglich ist. Zugleich ist sie aber auch in einem Maße durch
sich selbst irritierbar wie keine Gesellschaft zuvor. Eine Vielzahl struktureller
und operativer Kopplungen sorgen für wechselseitige Irritation der
Teilsysteme, und das Gesamtsystem hat, das liegt in der Form funktionaler
Differenzierung begründet, darauf verzichtet, regulierend in dieses
Geschehen einzugreifen.
(Ebd., S. 618.)
Im Zusammenhang mit einer verbreiteten Skepsis in bezug auf die
Reichweite von Systemtheorie hat David Lockwood vorgeschlagen, zwischen
Systemintegration und Sozialintegration zu unterscheiden. Im einen Fall
geht es um den inneren Zusammenhalt differenzierter Systeme, im anderen
Falle um das Verhältnis von psychischen Systemen (Individuen) und
sozialen Systemen. Die Unterscheidung ist sicher berechtigt, hat aber
in der vorliegenden Form nicht sehr weit geführt. Sie hat auf den
Unterschied aufmerksam gemacht - mehr nicht. Wir haben das Thema Systemintegration
überführt in eine Unterscheidung von Formen der Systemdifferenzierung,
die jeweils kontrollieren, wie Teilsysteme aufeinander verweisen und voneinander
abhängig sind. Das Thema Sozialintegration wollen wir durch die Unterscheidung
Inklusion/Exklusion ersetzen. Nach wie vor legen wir dabei die Systemreferenz
»Gesellschaft« zugrunde. Es geht also nicht um Zugang zu Interaktionen
oder Organisationen.
(Ebd., S. 618-619.)
Inklusionsbedingungen variieren mit gesellschaftlicher Differenzierung.
Sie müssen in der modernen Gesellschaft mehr Möglichkeiten vorsehen
als in traditionalen Gesellschaften und lassen sich nicht mehr hierarchisch,
das heißt linear ordnen. Danach sieht es so aus, daß die zunehmende
Komplexität der Gesellschaft (bei Parsons als Folge der politischen
Revolution, der industriellen Revolution und der pädagogischen Revolution)
auch die klassischen festen Inklusionsmuster auflöst und Inklusionen
stärker individualisiert.
(Ebd., S. 620.)
Dabei gewinnt man den Eindruck, daß die Gesellschaft für
alle Menschen Inklusionsmöglichkeiten bereitstellt und die Frage
nur ist, wie sie konditioniert sind und wie gut sie ausfallen. Das heißt:
wie Gleichheit (für alle) und Ungleichheit je nach Anerkennung und
Erfolg vermittelt werden. (Vgl. Talcott Parsons,
a.a.O., 1971, S. 88 f.) Damit wird die Selbsteinschätzung
der modernen Gesellschaft im Schema gleich/ungleich nachvollzogen. Die
Ausarbeitung des Begriffs der Inklusion läßt jedoch zu wünschen
übrig. Vor allem fehlt es bei Parsons, wie typisch in seiner Theorie,
an einer ausreichenden Berücksichtigung des Negativfalles der Kategorien.
Wir formulieren das Problem deshalb mit Hilfe der Unterscheidung von Inklusion
und Exklusion.
(Ebd., S. 620.)
Inklusion muß man demnach als eine Form begreifen, deren
Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von
Personen bezeichnet ist und deren Außenseite unbezeichnet bleibt.
Also gibt es Inklusion nur, wenn Exklusion möglich ist. Erst die
Existenz nichtintegrierbarer Personen oder Gruppen läßt soziale
Kohäsion sichtbar werden und macht es möglich, Bedingungen dafür
zu spezifizieren. In dem Maße, in dem die Inklusionsbedingungen
als Form sozialer Ordnung spezifiziert werden, läßt sich aber
auch der Gegenfall der Ausgeschlossenen benennen. Er trägt dann als
Gegenstruktur den Sinn und die Begründung der Form sozialer Ordnung.
Das deutlichste Beispiel hierfür bilden die »Unberührbaren«
der indischen Kastenhierarchie. Es handelt sich nicht um eine besondere
Kaste, auch nicht um Proleten, die nichts anderes produzieren als Nachwuchs,
und auch nicht um eine für Ausbeutung zur Verfügung stehende
Unterschicht. Vielmehr bilden die Unberührbaren ein symbolisches
Korrelat für den Aufbau der Inklusionsordnung über Reinheitsgebote
und -rituale. Zahlenmäßig braucht es sich deshalb auch nicht
um eine große Gruppe zu handeln; es genügen Mengen, die sicherstellen,
daß die Ausgeschlossenen überall präsent sind, und zeigen,
wie notwendig die Reinheitsgebote sind.
(Ebd., S. 620-621.)
So unterschiedlich die Form Inklusion/Exklusion in verschiedenen
historischen und kulturellen Kontexten institutionalisiert sein und dann
als normal empfunden werden mag: in jedem Falle sind auch hier die allgemeinen
Vorgaben unserer Theorie operativ geschlossener Systeme zu beachten. Inklusion
kann daher nicht heißen, daß Teile oder Prozesse oder einzelne
Operationen eines Systems in einem anderen ablaufen. Gemeint ist vielmehr,
daß das Gesellschaftssystem Personen vorsieht und ihnen Plätze
zuweist, in deren Rahmen sie erwartungskomplementär handeln können;
etwas romantisch könnte man auch sagen: sich als Individuen heimisch
fühlen können.
(Ebd., S. 621.)
Parsons sieht soziokulturelle Evolution als Zunahme von adaptive
upgrading, differentiation, inclusion und value generalization. Ohne'
Einsichten dieser Art bestreiten zu wollen, setzen wir an die Stelle eines
allzu linearen Konzeptes die Frage, wie die Variable Inklusion/Exklusion
mit Formen der Systemdifferenzierung der Gesellschaft zusammenhängt.
Differenzierungsformen sind, so gesehen, Regeln für die Wiederholung
von Inklusions- und Exklusionsdifferenzen innerhalb der Gesellschaft,
aber zugleich Formen, die voraussetzen, daß man an der Differenzierung
selbst und ihren Inklusionsregeln teilnimmt, und nicht auch davon noch
ausgeschlossen wird.
(Ebd., S. 621-622.)
In segmentären Gesellschaften ergibt sich die Inklusion aus
der Zugehörigkeit zu einem der Segmente. Es gab begrenzte Möglichkeiten
der Mobilität, kaum aber Überlebenschancen als Einzelner außerhalb
jeder sozialen Zuordnung. (Immerhin berichtet man
selbst im unwirtlichen Island von langen Überlebensmöglichkeiten
vertriebener Verbrecher als Räuber im schwer zugänglichen Bergland.
Es gab offenbar hinreichend Schafe.) Die Inklusion war folglich
segmentär differenziert und schloß Exklusion mehr oder weniger
effektiv aus. In stratifizierten Gesellschaften geht die Regelung der
Inklusion auf die soziale Schichtung über. Man findet seinen sozialen
Status in der Schicht, der man angehört. Dadurch wird Inklusion differenziert.
Die Regelung von Inklusion/Exklusion findet dagegen nach wie vor auf segmentärer
Ebene statt. Sie obliegt den Familien bzw. (für Abhängige) den
Familienhaushalten. Irgendwo war man danach durch Geburt oder Aufnahme
zu Hause. Exklusion war, zum Beispiel aus Gründen der wirtschaftlichen
Not oder mangelnder Heiratschancen, möglich. Es gab zahlreiche Bettler.
Auch konnten je nach Schichtlage die Klöster, die »unehrlichen«
Berufe oder die Handels- und Kriegsmarine im Exklusionsbereich ihr Personal
rekrutieren. Als Letztabnehmer blieben die Piratenschiffe der mittelamerikanischen
Inselwelt. Es wird sich, schon im Mittelalter und erst recht in der Frühmoderne,
um eine beträchtliche Personenzahl gehandelt haben. (Darauf
deuten im übrigen auch die gildenförmigen Zusammenschlüsse
der Bettler in China hin.) Der Exklusionsbereich ist vor allem
an der Unterbrechung von Reziprozitätserwartungen zu erkennen. Die
Solidarität mit den Ausgeschlossenen konnte nur artifiziell, nämlich
über religiöse Pflichten und Seelenheilschancen, erreicht werden,
und umgekehrt wurden die Ausgeschlossenen zu allen möglichen Tricks
und Täuschungen motiviert, deren Beobachtung in die Literatur über
Simulation und Dissimulation und in ein sich im Buchdruck ausbreitendes
Mißtrauen gegenüber dem bloßen Schein eingeht. Das konnte
zunächst nur den Eindruck verstärken, daß Leute ohne Stand
und ohne Disziplin, ohne Herr und ohne Haus eine Gefahr für die Gesellschaft
darstellen. Daraus entstand in der beginnenden Neuzeit ein kaum lösbares
politisches Problem der Städte und der Territorialstaaten. Wie bekannt,
hat man versucht, darauf mit Organisation von Arbeit zu reagieren. Das
Grundmuster blieb jedoch erhalten: die Systemdifferenzierung sorgte für
Unterschiede im Bereich der Inklusion. Was damit nicht erfaßt war,
blieb undifferenzierter Restbestand.
(Ebd., S. 622-623.)
Diese Ordnung hinterläßt bei all ihren Problemen doch
den Eindruck, daß die soziale Differenzierung von Familien nach
Schichten die Situation kontrolliert. Selbst die explizite oder sich einfach
ergebende Zuweisung von Personen zu Auffangpositionen ohne Familie bzw.
Familienhaushalt regelt sich noch nach der Schichtung, und eine religiöse
bzw. arbeitsorganisatorische Sinngebung sorgt dafür, daß die
soziale Ordnung von ihren Exklusionseffekten her nicht in Frage gestellt
wird. Während aber in einfachen tribaIen Gesellschaften im Exklusionsfalle
durch Vertreibung oder Freigabe zur Tötung jeder Kontakt unterbunden
werden konnte, ist das in Hochkulturen mit Stadtbildung und Adelsherrschaft
nicht mehr der Fall. Die Differenz Inklusion/Exklusion wird jetzt innergesellschaftlich
rekonstruiert. Für soziale Kohäsion bleibt man auf Seßhaftigkeit,
auf reguläre Interaktion zur Bildung verläßlicher Erwartungen
angewiesen; aber eben das erfordert Exklusionen, die man in der Gesellschaft
nicht ignorieren und nicht ganz aus einer marginalen Kommunikation ausschließen
kann. Teils rekrutiert man aus diesem Bereich; teils hat das Unterwegssein,
das Umherziehen, die Wanderschaft durchaus soziale Funktionen und kann
nicht mehr eo ipso als Indikator für Exklusion gelten. Die wandernden
Handwerksgesellen sind kein Fall von Exklusion, sondern vergrößern
den Arbeitsmarkt bei hoher Differenzierung der Berufe und Zünfte.
Daneben nimmt die Kategorisierung auch im Exklusionsbereich zu.
(Ebd., S. 623-624.)
Zusätzlich zu den Inklusions-/Exklusionsregulativen, die
im System der stratifizierten Haushalte verankert sind, gibt es seit der
Christianisierung des römischen Reiches auch einen reichsrechtlichen
Exklusionsmechanismus aus Gründen der Religion. In den Einleitungssätzen
des Codex Iustiniani (C I.I.I.) wird genau festgelegt, wer den Namen eines
katholischen Christen führen darf. Alle Häretiker werden für
wahnsinnig und für töricht gehalten und mit Ehrlosigkeit (infamia)
belegt. Das Gesetz läßt zwar Gott den Vortritt in ihrer Behandlung
(divina primum indicta), aber da dies anscheinend nicht zuverlässig
genug funktioniert, wird mit Mitteln des Reichsrechts nachreguliert (post
etiam motus nostri, quem ex caelesti arbitrio sumpserimus, ultione plectendos).
Nach dem Zerfall der Reichsgewalt übernimmt die juristisch durchorganisierte
Kirche selbst die Entscheidung über »Exkommunikation«
mit gravierenden weltlichen Konsequenzen. Die in der normalen Lebensführung
leicht zu vermeidende religiöse Exklusion setzt dann die Rahmenbedingung,
unter welcher die praktisch wirksame innergesellschaftliche Inklusion/Exklusion
»christlich« gehandhabt werden kann.
(Ebd., S. 624.)
Der Übergang zu funktionaler Differenzierung nutzt diese
innergesellschaftliche Relevanz der Unterscheidung Inklusion/Exklusion
mitsamt den elaborierten Unterscheidungen im Bereich der Nichtseßhaftigkeit;
aber er führt weit darüber hinaus und löst Veränderungen
aus, deren Ausmaße erst heute sichtbar werden. Wie bei jeder Form
der Differenzierung wird die Regelung der Inklusion den Teilsystemen überlassen.
Das heißt aber jetzt, daß die konkreten Individuen nicht mehr
konkret plaziert werden können. Sie müssen an allen Funktionssystemen
teilnehmen können, je nachdem, in welchen Funktionsbereich und unter
welchem Code ihre Kommunikation eingebracht wird. Allein schon die Sinngebung
bestimmter Kommunikationen, allein schon die Tatsache, daß es sich
um eine Zahlung handelt oder daß man eine Entscheidung in staatlichen
Ämtern beeinflussen möchte oder daß die Frage aufgeworfen
wird, was in einem bestimmten Falle Recht und was Unrecht ist, ordnet
die Kommunikation einem bestimmten Funktionssystem ein. Individuen müssen
sich an all diesen Kommunikationen beteiligen können und wechseln
entsprechend ihre Kopplungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment.
Die Gesellschaft bietet ihnen folglich keinen sozialen Status mehr, der
zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und Qualität
»ist«. Sie macht die Inklusion von hochdifferenzierten Kommunikationschancen
abhängig, die untereinander nicht mehr sicher und vor allem nicht
mehr zeitbeständig koordiniert werden können. Im Prinzip sollte
jeder rechtsfähig sein und über ausreichendes Geldeinkommen
verfügen, um an Wirtschaft teilnehmen zu können. Jeder sollte
als Teilnehmer an politischen Wahlen auf seine Erfahrungen mit Politik
reagieren können. Jeder durchläuft, soweit er es bringt, zumindest
die Elementarschulen. Jeder hat Anspruch auf ein Minimum an Sozialleistungen,
Krankenpflege und ordnungsgemäße Beerdigung. Jeder kann, ohne
von Genehmigungen abzuhängen, heiraten. Jeder kann einen religiösen
Glauben wählen oder es lassen. Und wenn jemand seine Chancen, an
Inklusion teilzunehmen, nicht nutzt, wird ihm das individuell zugerechnet.
Auf diese Weise erspart die moderne Gesellschaft, zunächst jedenfalls,
es sich, die andere Seite der Form, die Exklusion, als sozialstrukturelles
Phänomen wahrzunehmen.
(Ebd., S. 624-625.)
Wenn daraufhin zunächst Inklusion ohne Exklusion, Inklusion
»des« Menschen in »die« Gesellschaft konzipiert
wird, so erfordert das eine totalitäre Logik, die die alte Einteilungslogik
nach Arten und Gattungen (wie Griechen und Barbaren) ersetzt. Die totalitäre
Logik verlangt, daß ihr Gegenteil ausgemerzt wird. Sie fordert Herstellung
von Einheitlichkeit. Jetzt erst müssen alle Menschen zu Menschen
gemacht, mit Menschenrechten versehen und mit Chancen versorgt werden.
Solch eine totalitäre Logik scheint auf eine Zeitlogik hinauszulaufen.
Man kann Unterschiede in den Lebensbedingungen nicht ignorieren, aber
sie werden als Problem auf Zeit bezogen. Einerseits hofft man auf dialektische
Entwicklungen, eventuell mit revolutionären Nachhilfen; andererseits
bemüht man sich um Wachstum in der Annahme, daß ein quantitatives
Mehr bessere Verteilungenermöglichen würde; oder man verstärkt
Bemühungen um »Entwicklungshilfe« oder »Sozialhilfe«,
um den Zurückbleibenden ein Aufholen zu ermöglichen. Innerhalb
der totalitären Inklusionslogik machen sich Exklusionen als »Rest«probleme
bemerkbar, die so kategorisiert sind, daß sie die totalitäre
Logik nicht in Frage stellen. (Die semantische Karriere
von .Rest«begriffen (z. B. Restrisiko) in der jüngsten Zeit
wäre eine besondere Untersuchung wert. Sie verdankt sich einer mangelnden
Reflexion der Differenz, in bezug auf die der Rest ein Rest ist.)
(Ebd., S. 625-626.)
Die neue Ordnung der Inklusionen führt zu einer dramatischen Veränderung
im Selbstverständnis der Individuen. In der alten Welt war die Inklusion
durch die soziale Position konkretisiert, deren normative Vorgaben dann
nur noch die Möglichkeit boten, den Erwartungen mehr oder weniger
gerecht zu werden. Man geriet nicht in Situationen, in denen man noch
zu erklären hätte, wer man ist. In der Oberschicht genügte
die Nennung des Namens, in den unteren Schichten war man an den Orten
bekannt, an denen man lebte. Anständige Lebensführung mochte
ein Problem sein, und in dieser Hinsicht hatte wohl jeder zu beichten.
Aber das war bekannt - nicht zuletzt durch die öffentliche Institution
der Beichte. Man mußte jedenfalls nicht mit Situationen rechnen,
in denen die Existenz selbst auf Schein gegründet war. Die Thematisierung
des Scheins, der vorgetäuschten Qualität und der Heuchelei erfolgt
erst im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert, stimuliert (in der Literatur)
durch das Theater, durch den die gesamte Wirtschaft durchdringenden Markt
und die Promotoren-Mechanismen des höfischen Zentralismus. Seite
dem Don Quijote übernimmt es der Roman, die daraus entstehende lage
zu reflektieren. Das Individuum führt sein Leben nach Maßgabe
seiner Lektüre. Es erreicht Inklusion, indem es Gelesenes kopiert.
(Ebd., S. 626-627.)
Die Idealisierung des Postulats einer Vollinklusion aller Menschen
in die Gesellschaft täuscht über gravierende Probleme hinweg.
Mit der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftsystems ist die Regelung
des Verhältnisses von Inklusion und Exklusion auf die Funktionssysteme
übergegangen, und es gibt keine Zentralinstanz mehr (so gern die
Politik sich in dieser Funktion sieht), die die Teilsysteme in dieser
Hinsicht beaufsichtigt.
(Ebd., S. 630.)
Soziologen tendieren typisch dazu, dies problem der Exklusion
großer, ja der überwiegenden Bevölkerungsanteile von Teilnahme
an den Funktionssystemen als Problem der Klassenherrschaft oder der sozialen
Schichtung zu definieren. Sie bleiben damit in der üblichen Schußrichtung
ihrer eigenen Voreingenommenheit. Aber auch das verharmlost, ebenso wie
die Menschenrechtssemantik, das Problem und läuft letztlich auf eine
Klage ohne Ende und ohne Adressat hinaus. Schichtung hatte ihre eigenen
Inklusions- und Exklusionsmechanismen, und sie konnte bei sehr weitgehender
und akzeptierter, wenn auch differenter, Inklusion für Marginalisierung
des Exklusionsproblems sorgen, was immer an Heimatlosen, Bettlern, Vaganten,
amtslosen Klerikern oder entlaufenen Soldaten herumlief. Schon rein quantitativ
haben die Exklusionsprobleme heute ein anderes Gewicht. Sie haben auch
eine andere Struktur. Sie sind direkte Folgen der funktionalen Differenzierung
des Gesellschaftssystems insofern, als sie auf funktionsspezifische Formen
der Abweichungsverstärkung, auf positives Feedback und auch darauf
zurückgehen, daß Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen
den Exklusionseffekt verstärkt.
(Ebd., S. 631.)
Das reichlich verfügbare material legt den Schluß nahe,
daß die Variable Inklusion/exklusion in manchen Regionen des Erdballs
drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken
und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren.
(Ebd., S. 632.)
Die symbolischen Mechanismen der Kommunikationsmedien verlieren
ihre spezifische Zuordnung. Physische Gewalt, Sexualität und elementare,
triebhafte Bedürfnisbefriedigung werden freigesetzt und unmittelbar
relevant, ohne durch symbolische Rekursionen zivilisiert zu sein. Voraussetzungsvollere
soziale Erwartungen lassen sich dann nicht mehr anschließen. Man
orientiert sich an kurzfristigen Zeithorizonten, an der Unmittelbarkeit
der Situation, an der Beobachtung von Körpern. Das heißt auch,
daß die im Inklusionsbereich seit eh und je geltenden, Zeit ausdehnenden
Reziprozitätswerwartungen entfallen bis hin zum Zerfall familialer
Bindungen. Das mag von ferne an sehr altertümliche Ordnungen erinnern.
Aber faktisch ist es heute ein Nebeneffekt der funktional differenzierten
Gesellschaft und irritiert vor allem deshalb, weil die gesellschaftsuniversalen
Zuständigkeitsansprüche der Funktionssysteme dadurch auf auffällige
Weise in ihren Schranken sichtbar werden.
(Ebd., S. 633.)
Vielleicht können wir hier ein Funktionssystem im Entstehen
beobachten.
(Ebd., S. 634.)
Segmentäre Differenzierung setzt voraus,
daß die Position von Individuen in der sozialen Ordnung fest zugeschrieben
ist und nicht durch Leistung verändert werden kann. Das ist die Grundlage
für eine Multiplikation sozialer Einheiten, die immer ohne Zweifel
auf Individuen umgerechnet werden können. Es gibt in diesem Rahmen
aber trotzdem Unterschiede des individuellen Ansehens und selbst Wechsel
der Clan-und Familienzugehörigkeit durch Adoption. Was ausgeschlossen
ist, ist jedoch eine karriereförmige Integration der Individuen.
Der fest zugeschriebene Status ist vielmehr Voraussetzung für alle
weiteren Ausarbeitungen, für Symmetrien und Asymmetrien, für
dualistische Oppositionen, für rituelle Funktionen und für alle
möglichen luxurierenden Ergänzungen, die auf diese Weise immer
einen festen Bezug auf Individuen bewahren. Ascribed Status ist eine Regel
für eine Ordnung, in der man sich kennt.
(Ebd., S. 636.)
Segmentäre Differenzierung dürfte eine Voraussetzung
gewesen sein für den Übergang zu regulär betriebener Landwirtschaft,
für die sogenannte neolithische Revolution. Diese wohl wichtigste
Veränderung in der Menschheitsgeschichte hat »äquifinal«
an vielen Stellen des Erdballs stattgefunden. Die Gründe für
diesen Übergang von einem Leben in Überfluß in ein Leben
mit Arbeit und Risiko sind unbekannt, denn man wird kaum annehmen wollen,
daß die Möglichkeit, mehr Menschen zu ernähren, als »Attraktor«
gedient hat. Schon in Gesellschaften ohne deutliche Familienbildung findet
man eine Art Gartenwirtschaft, aber Landwirtschaft größeren
Stils wird vorausgesetzt haben, daß die Einteilung von Land und
Arbeit sich auf entsprechende soziale Strukturen stützen konnte.
Erst die politisch erzwungene Arbeit späterer Gesellschaften macht
davon zum Teil wieder unabhängig; aber dies setzt landwirtschaftliche
Überschußproduktion voraus.
(Ebd., S. 636-637.)
Der Prozeß segmentärer Differenzierung kann auf sein
eigenes Resultat angewandt, also rekursiv wiederholt werden. Dann bilden
sich über den Familien und Siedlungen noch Stämme und eventuell
Stammesverbände. Mit dieser Wachstumsrichtung, die schließlich
mehrere hunderttausend Personen einbeziehen kann, verringert sich aber
die Kommunikationsdichte der jeweils umfassenden Einheit. Sie operiert
schließlich nur noch okkasionell, vor allem aus Anlaß von
Konflikten zwischen ihren Untereinheiten, und ist im übrigen nur
symbolisch präsent. Für die Erfüllung aller Normalbedürfnisse
des täglichen Lebens und für die Aufrechterhaltung der Kooperation
mit Nachbarn sind nach wie vor die kleinsten Einheiten zuständig.
Das hat den Vorteil, daß auch größere Zusammenschlüsse
nach dem Muster der täglich erfahrbaren Differenz von Kleinsteinheiten
beschrieben werden können. Sie mögen einen Namen haben und einen
auf Land oder Ahnen hinweisenden Entstehungsmythos; aber eine darüber
hinausgehende strukturelle Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystem
ist angesichts der bloßen Wiederholung des Differenzierungsprinzips
überflüssig. Es kommt nicht zu einem Wechsel des Ordnungsprinzips
für größere Aggregate. Entsprechend nehmen die funktionen
der Zusammenschlüsse mit deren Umfang ab. Im Grenzfalle ist schon
der »Stamm« nichts weiter als der Gesamtbereich sprachlicher
Verständigungsmöglichkeiten. Die ethnischen Bezeichnungen bleiben
unscharf und schwankend. In Notfällen kann die Gesellschaft übergreifende
Zusammenfassungen aufgeben und auf ein kleineres Format schrumpfen, ohne
ihre Überlebensfähigkeit zu verlieren; und ebenso kann sie den
Ausfall vieler ihrer Segmente durch Hungerkatastrophen, kriegerische Vernichtung
oder Sezession verkraften. Die Restbestände haben immer noch die
Möglichkeit eines fast voraussetzunggslosen Neubeginns.
(Ebd., S. 637-638.)
Solange keine Schrift zur Verfügung steht, muß alle
Kommunikation unter Anwesenden stattfinden. Sie kann sich dabei auf Situationsmerkmale
stützen, die allen Anwesenden sichtbar und geläufig sind, also
nicht eigens erwähnt werden müssen; ja nicht einmal eigens erwähnt
werden können, weil dies keine Information brächte, also als
überflüssig erkennbar wäre. Man wird sich Ausdrucksweisen
bedienen, die, wie die Linguisten sagen mit »indexikalischen Ausdrücken«
durchsetzt sind. (Siehe auch Charles S. Peirce in
verschiedenen Beiträgen: »indexical expressions«.)
Das erspart und verhindert addurch Verallgemeinerungen. Die Situationen,
die man nacheinander durchlebt, sind jeweils als solche gemeinsam verständlich.
Die Schemata oder Skripts können von Situation zu Situation wechseln,
ohne daß damit die Erfahrung von Inkonsistenzen verbunden wäre.
(Ebd., S. 640.)
So wie die Teilsysteme dieser Gesellschaften über Verwandtschaftzusammenhänge
und/oder Territorialität definiert sind, so verstehen auch die Gesellschaften
selbst ihre eigenemn Grenzen mit Bezug auf zugehörige Menschen und
zugehörige Gebiete. In diesem Sinne besteht die Gesellschaft aus
Menschen, deren individuelle Eigenart bekannt ist und ... in hohem Maße
respektiert wird.
(Ebd., S. 642.)
Auch schriftlose tribale Gesellschaften müssen ... ein soziales
Gedächtnis ausbilden, das ein Wiedererkennen desseleben und Wiederholungen
ermöglicht, ohne dabei auf die viel zu labilen neurophysiologischen
und psychologischen Mechanismen angewiesen zu sein. (Vgl.
Kapitel 3, XIII [S. 505-516].)
(Ebd., S. 644.)
Die Annahme magischer Kompetenz ist ... verbunden mit der Leugnung
des Zufalls, wie er auf der Oberfläche der vertrauten Welt zunächst
erscheinen mag. Es gibt keinen Sinn für Akzidentelles, keine Unfälle;
denn wenn für Unerwartetes im Bereich des Vertrauten zu finden ist,
dann liegt der Grund im Unvertrauten. Gerade die strukturelle Gleichheit
der Segmente macht Unterschiede in dem, was ihnen widerfährt (zum
Beispiel Tod oder Kinderlosigkeit, materielle Fehlschläge oder Verluste)
unmittelbar sichtbar und deutungsbedürftig. Spätarchaische Gesellschaften
werden dann das, was magische Korrektur widersteht, mit Schicksalreligionen
deuten, von denen erst der Monotheismus erlösen wird.
(Ebd., S. 647-648.)
Demnach wäre es verfehlt, davon auszugehen, daß ein
magisches Weltbild allmählich durch ein rationales Weltbild mit wissenschaftlich
kontrollierten Kausalitäten abgelöst wird. Daß die griechische
»Wissenschaft« (Anführungszeichen
von mir; HB) neben kontinuierendem Glauben an Magie entsteht und
dem nur eine Technik des Beobachtens zweiter Ordnung hinzufügt, belegt
die Persistenz der ganz andersartigen Unterscheidung von vertraut/unvertraut.
Erst der Buchdruck wird dem ein langsames Ende bereiten; denn er gewöhnt
die Gesellschaft an die Einsicht, daß viel mehr gewußt und
dem einen oder anderen vertraut ist, als irgend jemand wissen kann.
(Ebd., S. 648.)
Eine ganz ähnliche Funktion hat die Erzählung der Mythen.
Man kann für schriftlose segmentäre Gesellschaften streng genommen
noch nicht von Selbstbeschreibungen sprechen, weil das gewohnte Leben
zu selbstverständlich ist für eine zusammenfassende Thematisierung.
(Im Kapitel über Selbstbeschreibungen [S. 866-1149]
ist deshalb kein Abschnitl übet) tribale Gesellschaften vorgesehen.)
Aber Mythen ersetzen und erübrigen die Kommunikationsform der Selbstbeschreibung,
indem sie etwas anderes erzählen, etwas Befremdliches, nie
Erlebtes, das gleichsam die andere Seite der vertrauten Formen darstellt
und sie in diesem Sinne komplettiert. Es handelt sich um Kommunikation,
aber nicht um eine Kommunikation, die Informationen vermittelt und etwas
Unbekanntes bekannt macht. Das Wesentliche ist gerade die Erinnerung an
das Vertrautsein mit dem Unvertrauten, also eine wiederholende Erneuerung
des Erstaunens. Deshalb gibt es zwar Variationen, die sich im Wiederholen
des Erzählens ergeben; aber es gibt keine, Abnutzung in dem Sinne,
daß man die Information bereits kennt und die Wiederholung deshalb
keinen Informationswert mehr hat. So wird zugleich verständlich,
daß Mythen die Form der Paradoxie - zum Beispiel: die Einheit erzeugt
sich selbst und anderes - bevorzugen, weil genau dies das Erstaunen reaktualisiert
und die Frage gar nicht erst aufkommen läßt, ob die Information
stimmt oder nicht stimmt.
(Ebd., S. 648-649.)
Mythen berichten zwar von einer Gründungszeit, in der die
jetzt gültige Ordnung geschaffen und verbindlich gemacht wurde. Aber
diese Urzeit ist eine andere Zeit als die Zeit der Gegenwart und sieht
kein Verhältnis historischer Kontinuität und in diesem Sinne
keine Geschichte vor. Ebensowenig stellt sie eine andere Zukunft in Aussicht.
Eher geht es um eine Absicherung des Nahen im Fernen und um Bestätigung
dafür, daß die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Der
narrative Duktus der mythischen Erzählungen stellt zwar eine Sequenz
dar, die aber keinen Kontakt mit der Gegenwart sucht. Ein Bedürfnis
für die Ausfüllung einer Zwischenzeit zwischen der mythischen
Zeit und der Gegenwart entsteht offenbar erst, wenn in der Gegenwart gravierende
Konflikte auftauchen (zum Beispiel aus Anlaß von Wanderungen oder
Eroberungen) und die Vergangenheit als Folie für Legitimationen in
Anspruch genommen wird. Und erst wenn Schrift zur Verfügung steht,
muß stärker auf Konsistenz der Berichte geachtet und für
eine Gesellschaft eine Geschichte oder für eine Familie eine Genealogie
erzeugt werden.
(Ebd., S. 649.)
Während Magie und im Anschluß weitere religiöse
Entwicklungen wie Mythen und Riten die Grenze zum Unvertrauten bewachen,
geht es bei der Grundnorm der Reziprozität um ein internes Regulativ
segmentärer Gesellschaften; und zwar um ein Regulativ, das sowohl
den Fall der Kooperation als auch den Fall des Konfliktes erfaßt,
also auch diesen lebenspraktisch so wichtigen Unterschied noch mit Normen
für Tausch und für Rachebeschränkung ausstattet.
(Ebd., S. 649.)
Offensichtlich korreliert die Vorstellung der Reziprozität
mit der durch die Differenzierungsform gegebenen Gleichheit der Teilsysteme
auf allen Ebenen der Inklusion. Wie groß auch immer die Einheiten
sind: Beziehungen zwischen ihnen müssen symmetrisch und umkehrbar
gebaut sein, denn anderenfalls würde die Asymmetrie im Laufe der
Zeit Ungleichheiten generieren und die Differenzierungsform ändern.
(Ebd., S. 649-650.)
In systemtheoretischer Terminologie nennt man
den relativ raschen Übergang eines Systems zu einem anderen Prinzip
der Stabilität eine Katastrophe. (Sozialwissenschaftliche
Anwendungen der Katastrophentheorie ... sind im allgemeinen in bloßer
Metaphorik steckengeblieben. Sinnvoll sind sie nur, wenn das Prinzip der
Stabilität genau angegeben wird, dessen Änderung, weil sie alles
ändert, als Katastrophe bezeichnet wird. In unseren Untersuchungen
ist dies die primäre Form gesellschaftlicher Differenzierung. Ein
anderes, begrenzteres Beispiel wäre der Zusammenbruch von Heirarchien,
die sich auf Kontrolle des Prestigegüterhandels gestützt hatten,
infolge der Ausweitung der Handelsbeziehungen. ....)
(Ebd., S. 655.)
Vormoderne Hochkulturen beruhen auf Differenzierungsformen,
die an strukturell entscheidender Stelle Ungleichheiten berücksichtigen
und ausnutzen können. Sie verwenden, wenn voll ausgebaut, sowohl
stratifikatorische Differenzierung als auch Zentrum/Peripherie-Differenzierung.
Sie können im Hinblick auf diese Errungenschaften als Adelsgesellschaften
oder auch als städtische Gesellschaften bezeichnet werden, wobei
aber diese Prominenzmerkmale jeweils nur auf einen kleinen Teil der Bevölkerung
zutreffen.
(Ebd., S. 663.)
Die Zentrum/Peripherie-Differenzierung findet man ansatzweise
bereits in segementären Gesellschaften, vor allem, wenn eine diser
Gesellschaften eine dominierende Rolle im Fernhandel übernimmt. Sie
stell thier aber noch nicht die segementäre Differenzierung in Frage.
Dies geschieht erst, wenn die dominierende Stellung des Zentrums benutzt
wird, um hier andere Formen der Differenzierung und vor allem stärkere
Rollendifferenzierung (»Arbeitsteilung«) einzurichten.
(Ebd., S. 663.)
Die Zentrum/Peripherie-Differenzierung ergibt sich aus der Ausdifferenzierung
von Zentren. Sie ist gleichsam im Zentrum zu Hause.
(Ebd., S. 663.)
Einer der wichtigsten Aspekte des Zentrum/Peripherie-Schemas ist:
daß es im Zentrum ... Stratifikationen in einer Weise ermöglicht,
die weit über das hinausgeht, was in Kleingesellschaften älteren
Typs möglich gewesen war. Das gilt besonders für die Möglichkeit,
daß ein Adel sich durch Endogamie absondert und zugleich, bezogen
auf die Einzelfamilie, das Exogamiegebot segementärer Gesellschaften
beibehält. Da nur verhältnismäßig wenige Familien
zum Adel gehören, weil anderenfalls die Ressourcen nicht ausreichen
und die Auszeichnung durch Vermehrung entwertet werden würde, erfordert
Stratifikation einen hinreichen großen Heiratsmarkt, als einen größeren
territorialen Einzugsbereich oder eine hauptstädtische Verdichtung
der Bevölkerung So gesehen bietet die Unterscheidung Zentrum/Peripherie
auf ihrer einen Seite, im Zentrum, zugleich eine Chance für andere
Formen der Differenzierung und zunächst vor allem für Stratifikation.
(Ebd., S. 674.)
Alle hochkulturellen, über Schrift verfügenden
Gesellschaften sind Adelsgesellschaften gewesen. Wie verschieden auch
immer die ökonomische Grundlage gewesen sein mag: daß es eine
Oberschicht gegeben hat und daß ihre Existenz und Auszeichnung in
der Kommunikation honoriertworden sind, kann schwerlich bestritten werden.
(Ebd., S. 678-679.)
Selbstverständloich hatte es auch in den unruhigen Verhältnissen
nach der Völkerwanderung eine nach Herrschaftsbefugnissen und Besutz
ausgezeichnete Oberschicht gegeben. Die daraus entwickelte Feudalordnung
brachte dann aber einen bemerkenswereten Bruch mit älteren Sozialstrukturen
mit sich, die sich vorwiegend auf Verwandtschaft gegründet hatten.
Für Verwandtschaft wird die Beziehung von Herr und Vasall, also eine
Rangbeziehung substituiert, sie sich, mit welchen Schwierigkeiten und
Einschränkungen auch immer, gegen Familieninteressen behauptet. Dieselbe
Veränderung spiegelt sich in den kirchlichen Interessen an Schenkungen
und Stiftungen und im Insistieren auf Ehelosigkeit der Priester. Seitdem
hat es in Europa keine primär auf Familien und Clans gegründete
und insofern segmentäre Differenzierung mehr gegeben. Auch was den
Personenbestand betrifft, ermöglichte die Feudalordnung erhebliche
Veränderungen, vor allem den Aufstieg der zunächst unfreien
Ministerialen und der Ritter ohne bedeutende Herkunft in den Adel. Erst
im Laufe des Mittelalters setzt sich Abstammung als maßgebliches
Adelskriterium durch, kompensiert durch gelegentliche, dann häufigere
politische Nobilitierungen; und erst damit wird nobilitas und dann Adel
zu einem umfassenden Abgrenzungsbegriff, an dem sich Heiratspraxis und
politische Rekrutierungen orientieren können. Wir gehen im folgenden
von dieser gefestigten Form einer Adelsgesellschaft aus, ohne den erheblichen
regionalen Unterschieden Beachtung schenken zu können. - Wenn unsere
These zutrifft, daß der Primat einer Differenzierungsform auch die
Bruchstellen verdeutlicht, an denen Parasiten sich ernähren, Bifurkationen
ansetzen, neue, geschichtsträchtige Wege beschritten werden können,
dann ist es kein Zufall, daß hier und nur hier die Katastrophe der
Neuzeit passiert ist. (Zur systemtheorteischen definition
von »Katastrophe« vgl. S. 655. HB.) Dabei ist auch
an die europäische Besonderheit einer korporativen Verfaßtheit
der Stände zu denken, die den Ständen Mitsprachemöglichkeiten
im beginnenden Territorialstaat sicherte, also eine paktierte Festlegung
von Privilegien ermöglichte, damit aber auch ein besonderes Maß
an kollektiver Sichtbarkeit und Angreifbarkeit mit sich brachte. Organisatorische
und rechtliche Fixierungen suggerieren immer die Möglichkeit einer
Änderung. Alles in allem ist es also kein Wunder, daß sich
nur in Europa die Umstellung des Gesellschaftssystems auf einen Primat
funktionaler Differenzierung ereignet hat. Gewiß reicht diese Erklärung
allein nicht aus. Wir müssen zusätzlich historisch-situative
Bedingungen in Rechnung stellen, etwa geographische Verschiedenheiten,
strukturelle Vorentwicklungen (zum Beispiel die besondere Bedeutung des
Rechts), die Landsäßigkeit des Adels und ein hohes Maß
an bereits eingeleiteter Nichtidentität von Religion, Geldwirtschaft
und politische Territorialherrschaften, die die Reichsform sprengt.
(Ebd., S. 682-684.)
Die Differenzierung nach Schichten bedeutet nicht, daß,
verglichen mit segemntären Gesellschaften, die Teilsysteme voneinander
unabhängiger sind. Das Gegenteil trifft zu. Anspruchsvollere Formen
der Differenzierung müssen immer, und das gilt erst recht für
die funktional differenzierte moderne Gesellschaft gesteigerte Unabhängigkeiten
mit gesteigerten Abhängigkeiten kombinieren können - eine scharfe
Beschränkung der dann noch möglichen Formen. Mit anderen Worten
kann man auch sagen, daß jede Form der Differenzierung auf sie abgestimmte
Formen der strukturellen Kopplung erfordert und ausbildet: das
heißt Formen, die Kontakte und damit wechselseitige Irritationen
zwischen den Teilsystemen intensivieren und zugleich andere Möglichkeiten
ausschließen oder marginalisieren.
(Ebd., S. 695.)
Die Form, die in stratifizierten Gesellschaften die Abhängigkeit
kanalisiert und mit Unabhängigkeiten kompatibel macht, ist die »ökonomische«
Einheit des Haushaltes. Der Haushalt ist, als Beschaffungs- und
Verteilungsgemeinschaft, nahe am Konsum gebaut und insofern in den Interessenlagen
durchsichtig. Die vorgesehenen Rollen sind, auch wenn schriftliche Aufzeichnungen
über Leistungsverhältnisse existieren, auf Interaktion unter
Anwesenden hin angelegt und moralisch beurteilbar.
(Ebd., S. 695-696.)
Die bedeutung der Haushalte für stratifizierte Gesellschaften
läßt sich kaum überschätzen. Die Haushalte, nicht
die Individuen, sind die Einheiten, auf die sich die Stratifikation bezieht.
Sie müssen deshalb als geordnet vorausgesetzt werden - sowohl in
der Verwandtschaftordnung der Familien im engeren Sinne als auch in ihren
Beziehungen zum Personal. Für das Hineinkopieren der gesellschaftlichen
Rangordnung in die Haushalte sind entsprechende hauhaltsinterne Rangverhältnisse
erforderlich, die nach dem Schema Mann/Weib (Herr/Frau), Vater/Kinder,
Herr/Knecht differenziert werden. .... Wer auf Gleichheit der Geschlechter
Wert legt, muß dehalb Ehelosigkeit praktizieren oder eine haushaltslose
Weibergemeinschaft empfehlen.
(Ebd., S. 697.)
Der Haushalt ist schließlich dasjenige System, für
das die Gesellschaft relativ große (wenngleich der Idee nach respektvolle)
Freiheiten der Interaktion vorsehen kann, wie sie die politische Gesellschaft
sich niemals erlauben könnte. Im Haushal arbeiten Angehörige
verschiedener Schichten, Selbständige und Unselbständige zusammen.
(Ebd., S. 698.)
Mit dem Übergang zur Geldwirtschaft und zur zunehmenden Markabhängigkeit
der Gutswirtschaften gerieten die Maßstäbe ins wanken mit der
Folge zunehmender Erwartungskonflikte zwischen anspruchsberechtigten Herrschaften
und der leistungspflichtigen, aber in ihrem eigenen Unterhalt auch anspruchsberechtigten
Landbevölkerung. Erst der moderne Eigentumsbegriff bringt eine (oft
gewaltsame) Lösung dieser Konflikte.
(Ebd., S. 699.)
Stratifikation benötigt zunächst eine einfache Differenz:
die von Adel und gemeinem Volk.
(Ebd., S. 701.)
Was es selbstverständlich nicht geben konnte, ist der geschlossene
Aufstieg einer ganzen Schicht. Wenn aber nicht durch Aufstieg einer neuen
Klasse: wie sonst wurde die alte Ordnung der Dinge zerstört?
(Ebd., S. 706.)
Unsere Antwort lautet: durch die Ausdifferenzierung
von Funktionssystemen. Im evolutionstheoretischen Kontext muß zunächst
akzeptiert werden, daß die gesellschaftliche Ausdifferenzierung
einzelner Funktionssysteme zu eigener, autopoietischer Autonomie und erst
recht die Umstellung des Gesamtsystems der Gesellschaft auf eine Primat
funktionaler Differenzierung ein extrem unwahrscheinlicher Vorgang
ist, der schließlich aber irreversible, von sich selbst abhängige
Strukturentwicklungen auslöst. .... - Die Anfänge sind schwer
zu datieren, weil sie sich gegenüber dem, was wir Vorentwicklung
nennen, kaum abgrenzen lassen. Die Durchsetzungssematik ist, wie sollte
es anders sein, zunächst noch an der Begrifflichkeit der Tradition
orientiert. Entscheidend ist, daß irgendwann die Rekursivität
der autopoietischen Reproduktion sich selbst zu fassen beginnt und eine
Schließung erreicht, von der ab für die Politik nur noch Politik,
für Kunst nur noch Kunst, für Erziehung nur noch Anlagen und
Lernbereitschaft, für die Wirtschaft nur noch Kapital und Ertrag
zählen und die entsprechenden gesellschaftsinterenen Umwelten - und
dazu gehört dann auch die Schichtung - nur noch als irritierendes
Rauschen, als Störungen oder Gelegenheiten wahrgenommen werden.
(Ebd., S. 707-708.)
Wir können davon ausgehen, daß die ausgeprägte
stratifikatorische Differenzierung, wie sie sich im Laufe des Mittelalters
mit der Entwicklung einer »ständischen« Gesellschaft
ausgebildet hatte, die Umstellung auf funktionale Differenzierung zunächst
begünstigt hat. Denn stratifikatorische Differenzierung ermöglicht
Ressourcenkonzentration in der Oberschicht des Systems, und dies nicht
nur in einem ökonomischen Sinne, sondern auch in den Medien Macht
und Wahrheit (vgl. symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
[S. 316-396]; HB). Sie erlaubt unter anderem eine politisch-rechtliche
Regulierung »abhängiger« Arbeit, teils auf dem Lande,
aber auch in der Form von Gilden und Zünften mit eigenen hierarchischen
Strukturen. Diese Ressourcen konnten, soweit sie nicht kirchlich gebunden
waren, innovativ eigesetzt und in Rechtsform fixiert werden. Daraus ergab
sich, speziell (nein: NUR! HB) für Europa,
die besondere Bedeutung von Eigentum, dessen Sinn seit dem 14. Jahrhundert
von Sachherrschaft auf Disponibilität umdefiniert wird. (Hierzu
Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: Ders., Gesellschaft
und Semantik, Band 3, 1981, S. 11-64 - mit Hinweisen auf die rechtsgeschichtliche
Forschung.) Selbst heute wirkt noch die Gewohnheit nach, die »Klassengesellschaft«
vom Eigentum her zu begreifen.
(Ebd., S. 708.)
Eine andere, gleich wichtige Voraussetzung dürfte gewesen
sein, daß Verwandtschaftsverhältnisse in Europa sich nicht
zu Clan-Strukturen entwickelt haben. Es blieb bei individuellen Familien.
.... In Europa konnten Tendenezen zur Funktionssystembildung in das Alltagsverhalten
eindringen, konnten Innovationen (zum Beispiel in der Agrartechnik) über
Markterfolg individuell belohnt werden, und das Recht konnte auf Grund
durchgesetzter Beschränkunegn amplifizierend wirken.
(Ebd., S. 709.)
Die Ungwöhnlichkeit funktionaler Differenzierung besteht
nicht zuletzt darin, daß spezifische Funktionen und deren
Kommunikationsmedien auf ein Teilsystem mit Universalzuständigkeit
konzentriert werden müssen; also in einer neuartigen Kombination
von Universalismus und Spezifikation.
(Ebd., S. 709.)
In Europa war eine (theokratische!)
Reichsbildung am kirchlichen Widerstand (und später
auch an dem Widerstand der neidischen Staaten; HB), an der Ablehnung
einer politischen Theokratie gescheitert; und damit war auch eine politische
Kontrolle weiträumiger Wirtschaftsbeziehungen (sprich: des Handels)
ausgeschlossen. Die Geldwirtschaft entzieht sich schon im Mittelalter
der territorialpolitischen Kontrolle und organisiert eine internationale
Arbeitsteilung, die ihrerseits das politische Schicksal der Territorien
mitbestimmt. Die Einheit von imperium und dominium, von Befehsgewalt und
Landbesitz, geht verloren. Zunehmend müssen Herrschaftsapparate zusätzlich
Geldquellen erschließen, und das mag einer der Gründe gewesen
sein, die das System der dualen Bürokratie von weltlicher und kirchlicher
Herrschaft, das sich auf jeweils eigenen Grundbesitz gestützt hatten,
destablisieren. (Diese typisch abendländische
Dualität zwischen weltlicher und krichlicher Herrschaft war eine
historische Singularität! HB.).
(Ebd., S. 710-711.)
Seit dem Spätmittelalter kann man auf regional beschränkter
(und deshalb evolutionär weniger riskanter) Basis Ausdifferenzierungen
beobachten, die sich an Funktionsschwerpunkten orientieren und sich nicht
mehr der hierarchischen Stratifikation fügen.
(Ebd., S. 712.)
Selbst Religion wird ein ausdifferenziertes System.
(Ebd., S. 722.)
Die neuerung liegt nicht in der zunehmenden Geldabhängigkeit
des Adels, sondern in der zunehmenden Adelsunabhängigkeit des Geldes.
(Ebd., S. 724.)
Die Wirtschaft lernt es, sich mit systemeigenen Mitteln, das heißt
über Preise (inklusive Geldpreise = Zinsen) zu regenerieren: Sie
wird zunehmend unabhängig von den durch die Stratifikation erfaßten
Vermögensquellen. Die gezahlten Preise gelten seitdem als
das objektive Gerüst aller wirtschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen
Kalkulation. Das Zinsproblem kann trotz religiöser Bedenken gelöst
werden, auch wenn sensible Gemüter bemerken, daß man selbst
an Sonntagen von Zinseinnahmen profitiert.
(Ebd., S. 725.)
Die Zinsdiskussion verlagert sich im 17. Jahrhundert von theologisch-juristischen
Erlaubnisproblemen auf innerökonomische Folgen von Zinsen. Auch Arbeit
ist nicht länger Sündenfallfolge, also Lebenslage, in der man
sich befindet, sondern Bedingung und Produkt innerökonomischer Prozesse;
und deshalb muß man vom Schema Mühe/Muße auf das Schema
Arbeit/Arbeitslosigkeit umdenken. Letztlich entscheiden jetzt die Märkte
(und nicht der Fleiß, die gute Arbeit, Die Qualität der Tuche)
über den Erfolg, und dem hat sich alles - von den Löhnen und
Investitionen bis zur Währungspolitik und zur Staatsverschuldung
- unterzuordnen.
(Ebd., S. 726-727.)
Unabhängig davon, ob der Adel sich mit eigenem Kapital am
Geschäft beteiligen darf und kann oder nicht, entwickelt sich die
Autopoiesis der Wirtschaft nun im Sinne eines eigenen strukturdeterminierten
Systems. Entscheidend sind Geldzahlungen.
(Ebd., S. 727.)
Der Anteil an Krediten nimmt zu und damit die Abhängigkeit
von den Fluktuationen auf den internationalen Finanzmärkten.
(Ebd., S. 700.)
Zur Exaltierung von Liebe als Passion, die ihr eigenes Recht souverän
verwaltet, kommt es erst im 17. Jahrhundert und zunächst für
außereheliche Beziehungen. (Hierzu Niklas
Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, 1982.)
Noch im 18. Jahrhundert war Eheschließung ohne Zustimmung der Eltern
kaum möglich (was nicht ausschloß, daß ein attraktiver
junger Mann eine reiche Erbin verführte und einen Priester fand,
der die Trauung vollzog). Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts findet Europa
zu der weltweit ungewöhnlichen Vorstellung, daß nur die Liebe
über die Ehe entscheiden sollte, und dies nach den Vorbildern der
Romane und unter Einschluß des Adels.
(Ebd., S. 731.)
Schon im 18. Jahrhundert kann man von einer Primäreinteilung
der Gesellschaft nach Schichten eigentlich nicht mehr sprechen. Die offzielle
Darstellung der Gesellschaft hält zwar - vor allem mit Hilfe rechtlicher
Qualifizierungen, polizeistaatlicher Regulierungen und Steuerstatistiken
- noch an den alten Einteilungen fest. Damit können jedoch die Entwicklungstendenzen
in struktureller wie in semantischer Hinsicht nicht mehr begriffen werden.
Was jetzt Fortschritt oder Aufklärung heißt, löst die
alten Ordnungen auf. Die französische Revolution hat dieses Faktum
nicht mehr zu bewirken, sie hat es nur noch zu registrieren und in der
Selbstbeschreibung der Gesellschaft zur Anerkennung zu bringen. Seit dem
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfolgt die Ablösung der Funktionssysteme
von Schichtprämissen und die Neutralisierung von Schichteinflüssen
zunehemnd gezielt - so in der juristischen Erfindung der allgemeinen Rechtsfähigkeit
oder in der Umstellung des Erziehungssystems auf öffentliche Schulen
für die Gesamtbevölkerung und im 19. Jahrhundert dann auch:
durch Einrichtung eines durchorganisierten Prüfungswesens mit Spezialisierung
auf die in den Schulen und Universitäten selbst erworbenen Kenntnisse
und Fähigkeiten. Der Prozeß kann heute als abgeschlossen gelten.
Herkunft spielt für die Funktionssysteme kaum noch eine Rolle, und
bei hoher strukturierter Eigenkomplexität - etwa des Rechtssystems
- kann man dies auch für die jeweils eigenen anderen Rollen der Teilnehmer
feststellen.
(Ebd., S. 733-734.)
Jedenfalls findet man im 19. Jahrhundert in Europa (das
Abendland kann hier nur gemeint sein; HB) keine auf Familienhaushalten
beruhende soziale Schichtung mehr - auch nicht in England.
(Ebd., S. 741.)
Da jedes Funktionssystem nun das Verhältnis von Zeitlichkeit
und Sozialität in sich selbst aushandeln muß, kann jedes Funktionssystem
nun behaupten, die Gesellschaft zu repräsentieren; aber nur für
den eigenen Bereich.
(Ebd., S. 742.)
Wir begreifen die moderne Gesellschaft als
funktional differenzierte Gesellschaft.
(Ebd., S. 743.)
Immer gibt es Zusammenhänge zwischen der Ausdifferenzierung
und der internen Differenzierung eines Systems, denn die interne Differenzierung
wählt Formen, für die es in der Umwelt keine Entsprechung gibt.
Funktionale Differenzierung ist die radikalste Form, in der diese Regel
sich auswirkt, da in der Umwelt natürlich keine Einteilungen vorkommen,
die auf die Funktionen des Systems abgestimmt sind.
(Ebd., S. 744.)
Die Konsequenz ist, daß die Menschen dann als Umwelt des
Gesellschaftssystems begriffen werden müssen (wie wir es von Anfang
an getan haben) und daß auch das letzte Band, das ein »Matching«
von System und Umwelt zu sein schien, gerissen ist (»schien«
deshalb, weil die Gesellschaft ja immer schon nur aus Kommunikation bestanden
hatte und sich nur in ihrer Selbstbeschreibung darüber täuschen
konnte, ja täuschen mußte, weil die älteren Differenzierungsformen
darauf angewiesen waren, den Menschen feste Plätze »in«
der Gesellschaft zuzuweisen [zu den älteren Differenzierungsformen:
vgl. S. 618-678/706]).
(Ebd., S. 744.)
Funktionale Differenzierung beruht auf einer operativen Schließung
der Funktionssysteme unter Einschluß von Selbstreferenz. Das hat
zur Folge, daß die Funktionssysteme sich selbst in den Zustand selbsterzeugter
Unbestimtheit versetzen. (Es sind, um mit Heinz
von Foerster zu formulieren, nichttriviale Maschinen ....) Das
kann in der Form systemspezifischer Medien wie Geld und Macht zum Ausdruck
kommen, die auf die eine oder andere Weise Formen annehmen können.
Es zeigt sich auch als Abhängigkeit der Gegenwart von einer noch
unbekannten Zukunft. Die Systemkomplexität hat infolgedessen immer
zwei Seiten, eine schon bestimmte und eine noch unbestimmte. Das gibt
den Operationen des Systems die Funktion der Bestimmung des noch Unbestimmten
und zugleich der Regenerierung von Unbestimmtheit.
(Ebd., S. 745.)
Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung verzichtet
die Gesellschaft darauf, den Teilsystemen ein gemeinsames Differenzschema
zu oktroyieren. Während im Falle der Stratifikation jedes Teilsystem
sich selbst durch eine Rangdifferenz zu anderen bestimmen mußte
und nur so zu einer eigenen Identität gelangen konnte, bestimmt im
Falle funktionaler Differenzierung jedes Funktionssystem die eigene Identität
selbst - und dies, wie wir noch sehen werden, durchweg über eine
elaborierte Semantik der Selbstsinngebung, der Reflexion, der Autonomie.
Die Gesellschaft im übrigen kommt dann nur noch als Umwelt des Funktionssystems
in Betracht und nicht als spezifische Unter- oder Überlegenheit.
Das heißt jedoch nicht, daß die Abhängigkeiten der Teilsysteme
voneinander abnehmen. Im Gegenteil: sie nehmen zu. Aber sie nehmen die
Form der Differenz von System und Umwelt an, lassen sich nicht mehr spezifisch
normieren, lassen sich nicht mehr gesamtgesellschaftlich legitimieren
als Bedingung von Ordnung überhaupt, sondern bestehen jetzt in einer
allgemeinen und hochdifferenzierten Abhängigkeit von ständig
wechselnden innergesellschaftlichen Umweltbedingungen.
(Ebd., S. 745.)
Funktionale Differnzierung besagt, daß der Gesichtspunkt
der Einheit, unter dem eine Differenz von System und Umwelt
ausdifferenziert ist, die Funktion ist, die das ausdifferenzierte
System (also nicht: dessen Umwelt) für das Gesamtsystem erfüllt.
Die Kompliziertheit dieser systemtheorteischen Definition macht zugleich
die Unwahrscheinlichkeit, die in der sache selbst liegt, sichtbar und
erspart uns, wenn beachtet, unnötige Kontroversen. Die Funktion liegt
im Bezug auf ein Problem der Gesellschaft, nicht im Selbstbezug oder in
der Selbsterhaltung des Funktionssystems. Sie wird, obwohl sie zur Ausdifferenzierung
einer besonderen System/Umwelt-Beziehung in der Gesellschaft führt,
nur im Funktionssystem und nicht in dessen Umwelt erfüllt. Das heißt
auch, daß das Funktionssystem seine Funktion für sich selbst
monopolisiert und mit seiner Umwelt rechnet, die in dieser Hinsichtig
unzuständig oder inkompetent ist. Durch funktionale Differenzierung
wird, mit anderen Worten, die Differenz der verschiedenen Bezugsprobleme
betont; aber diese Differenz sieht vom Standpunkt der einzelnen Funktionssysteme
aus verschieden aus, je nachdem, auf welche Differenz von Funktionssystemen
und gesellschaftsinterner Umwelt sie bezogen wird. Für die Wissenschaft
ist ihre Umwelt wissenschaftlich inkompetent, aber gerade nicht:
politisch inkompetent, wirtschaftlich inkompetent usw.. Insofern hat jedes
Funktionssystem es mit einer anders zusammengesetzten gesellschaftsinternen
Umwelt zu tun, und dies genau deshalb, weil jedes Funktionssystem für
eine je besondere Funktion ausdifferenziert ist.
(Ebd., S. 745-746.)
Als Form gesellschaftlicher Differenzierung betont funktionale
Differenzierung nithin die Ungleichheit der Funktionssysteme. Aber in
dieser Ungleichheit sind sie gleich. Das heißt: das Gesamtsystem
verzichtet auf jede Vorgabe einer Ordnung (zum Beispiel: Rangordnung)
der Beziehung zwischen den Funktionssystemen. Die Metapher des »Gleichgewichts«
ist ebenfalls unbrauchbar und würde nur darüber hinwegtäuschen,
daß die Gesellschaft die Beziehungen zwischen ihren Teilsystemen
nicht mehr regulieren kann, sondern sie der Evolution, also der Geschichte
überlassen muß. Daß das Konsequenzen hat für das
Verständnis von Zeit und Geschichte und vor allem für die Dramatisierung
des Verhältnisses von Vergangenheit und Zukunft liegt auf der Hand.
(Ebd., S. 746.)
Funktionen können nur im Hinblick auf ein strukturdeterminiertes
System bestimmt werden, und die Strukturen des Gesellschaftssystems sind
im Rahmen dessen, was die Autopoiesis des Systems erlaubt, historisch
variabel.
(Ebd., S. 747.)
Man kann nur induktiv vorgehen und mit einer Art Gedankenexperiment
testen, wie das Gesellschaftssystem seine Strukturen zur Aufrechterhaltung
seiner Autopoiesis ändern müßte, wenn bestimmte Funktionen
nicht mehr erfüllt würden - etwa Zukunftssicherung im Hinblick
auf knappe Güter oder rechtliche Absicherung von Erwartungen oder
kollektiv bindendes Entscheiden oder eine über selbstläufige
Sozialisation hinausgehende Erziehung.
(Ebd., S. 747.)
Die Ausdifferenzierung jeweils eines Teilsystems für jeweils
eine Funktion bedeutet, daß diese Funktion für dieses (und
nur für dieses) system Priorität genießt und allen anderen
Funktionen vorgeordnet wird. Nur in diesem Sinne kann man von einem funktionalen
Primat sprechen. So ist zum Beispiel für das politische System der
politische Erfolg (wie immer operationalisiert) wichtiger als alles andere,
und eine erfolgreiche Wirtschaft ist hier nur als Bedingung politischer
Erfolge wichtig. Das heißt zugleich: auf der Ebene des umfassenden
Systems der Gesellschaft kann keine allgemeingültige, für alle
Teilsysteme verbindliche Rangordnung der Funktionen eingerichtet werden.
Keine Rangordnung heißt auch: keine Stratifikation. Vielmehr ergeht
an alle Funktionssysteme der Auftrag, sich selbst im Verhältnis zu
den anderen zu überschätzen, dabei aber auf eine gesamtgesellschaftliche
Verbindlichkeit der Selbstbewertung zu verzichten.
(Ebd., S. 747-748.)
Auf der Grundlage ihres Funktionsprimats erreichen die Funktionssysteme
eine operative Schließung und bilden damit autopoietische Systeme
im autopoietischen System der Gesellschaft. .... Dies ... bedeutet ...
nicht, daß die Funktionssysteme nicht kommunizieren, nicht mit Sprache
und vielem anderen auf Gesellschaft angewisen sind.
(Ebd., S. 748.)
Funktionssysteme ... benötigen einen binären Code (*),
um ihre eigene Autopoiesis zu formieren. (* Wir
erinnern an die Ausführungen über die Codierung der symbolisch
generalisierten Kommunikationsmedien [vgl. S. 312-396]. Die Wiederaufnahme
dieses Themas im systemtheoretischen Zusammenhang soll auch zeigen, daß
und weshalb symbolisch generalisierte Medien in besonderer Weise zur Ausdifferenzierung
von Funktionssystemen beitragen können. Aber es gibt auch andere
Formen der Codierung von Systemen die nicht zugleich Medien codieren,
etwa den Selektionscode des Erziehungssystems.) Beide Begriffe,
Funktion und Codierung, bezeichnen ein Kontingenzschema, dies aber in
sehr verschiedene Weise. Während mit der Funktionsorientierung das
System die Überlegenheit seiner eigenen Optionen verteidigt (Zukunftsvorsorge
über Geld und nicht über Gottvertrauen; Ausbildung über
Schulen und nicht über Sozialisation), reflektiert es über den
negativen Wert seines Codes die Kriterienbedürftigkeit aller eigenen
Operationen. Es muß also zur Spezifikation der Funktion eine Codierung
hinzukommen, deren Funktion genau darin besteht, den Fortgang der Autopoiesis
zu sichern und zu verhindern, daß das System sich im Erreichen eines
Zieles (Endes, télos) festläuft und dann aufhört zu operieren.
Funktionssysteme sind niemals teleologische Systeme. Sie beziehen jede
Operation auf eine Unterscheidung zweier Werte - eben den binären
Code - und stellen damit sicher, daß immer eine Anschlußkommunikation
möglich ist, die zum Gegenwert übergehen kann. Was als Recht
festgestellt ist, kann in der weiteren Kommunikation dazu dienen, die
Frage Recht oder Unrecht erneut aufzuwerfen, zum Beispiel eine Rechtsänderung
zu verlangen. Was wahr zu sein schien, mag bei neuen Daten oder neuen
Theorien revisionsbedürftig werden. Was der politischen Opposition
zu nützen schien, mag, wenn dies allzu durchsichtig wird, schon deshalb
ein Argument für die Regierung werden. Nicht die Orientierung an
der eigenen Einheit, sondern erst die Orientierung an der eigenen Differenz
sichert, daß im Zeitlauf eigene Operationen an eigene Operationen
angeschlossen werden können. Und das liegt daran, daß Operationen
als Selektionen durchgeführt werden müssen.
(Ebd., S. 748-749.)
Binäre Codes sind im strikten Sinne formen, das heißt:
Zwei-Seiten-formen, die den Übergang von der einen zur anderen Seite,
vom Wert zum Gegenwert und zurück, erleichtern dadurch, daß
sie sich als Formen von anderen Formen unterscheiden. Sie sind nicht »punktuelle
Attraktoren«, sondern »zyklische Attraktoren«. Sie bringen
den positiven und den negativen Wert in ein symmetrisches, zirkuläres
Verhältnis, das die Einheit des Systems symbolisiert und zugleich
öffnet für eine Unterbrechung des Zirkels. (In
der Selbstbeschreibung des Funktionssystems wird diese Symbolisierung
aus kommunikationspraktischen Gründen vereinfacht. Hier gilt dann
nur der positive Wert des Codes, nur das Recht, nur die Wahrheit, nur
die Liebe usw. als der eigentliche Sinn des Systems, und der negative
Wert wird dann als Ausdruck eines Mißgeschicks mitgeführt.
Das erleichtert eine teleologische, zielgerichtete Darstellung der Operationen
des Systems und bringt die Paradoxie der Einheit von positiven und negativen
Werten in eine eigentümlich ambivalente Form: Die begehrte Seite
des Codes wird der abzulehnenden entgegengesetzt und zugleich zur Bezeichnung
der Differenz selbst verwendet.) Das ermöglicht es dem System,
am Unterbrechen der eigenen Zirkularität zu wachsen und in Reaktion
auf Vorkommnisse immer neue Konditionierungen einzuführen, mit deren
Hilfe man entscheiden kann, ob etwas als positiv oder als negativ zu bezeichnen
ist.
(Ebd., S. 750.)
Codes sind aber nicht Abbilder einer Wertwirklichkeit, sondern
einfache Duplikationsregeln. Sie stellen für alles, was in ihrem
Anwendungsbereich (den sie selbst definieren) als Information (die sie
selbst konstituieren) vorkommt, ein Negativkorrelat zur Verfügung.
Also etwa: wahr / unwahr; geliebt / nicht geliebt; Eigentum haben / nicht
haben; Prüfungen bestehen / nicht bestehen; Amtsmacht ausüben
/ ihr unterworfen sein usw.. Daraufhin erscheint alles, was mit der Form
des Codes erfaßt wird, als kontingent - als auch anders möglich.
In der Praxis entsteht damit ein Bedarf für Entscheidungsregeln,
die festlegen, unter welchen Bedingungen der Wert bzw. der Gegenwert richtig
bzw. falsch zugeordnet ist. Wir nennen solche Regeln Programme. Die Unterscheidung
von Codes und Programmen strukturiert, können wir jetzt sagen, die
Autopoiesis der Funktionssysteme in einer unverwechselbaren Weise, und
die daraus resultierende Semantik unterscheidet sich grundlegend von den
Teleologien, Perfektionsvorstellungen, Idealen oder Wertbeziehungen der
Tradition. Man sieht dies nicht zuletzt an der logischen Struktur. Denn
jeder Code realisiert zugleich einen Rejektionswert im Bezug auf alle
anderen. Das heißt gerade nicht, daß der Wert anderer Werte
bestritten wird und es zu Wertkonflikten im Sinne Max Webers kommen muß.
Nur die andere Form, nur die andere Unterscheidung wird rejiziert ....
Sachverhalte dieses Typs sind, und das erschwert den Durchblick, mit einer
nur zweiwertigen Logik nicht zu erfassen. Man benötigt Beobachtungsinstrumente
mit größerem logischen Strukturreichtum. Und erst das läßt
große Teile der alt- und neueuropäishen Semantik als obsolet
erscheinen.
(Ebd., S. 750-751.)
Dieser Begriff der Rejektion erlaubt es auch, das Verhältnis
der binären Codes zur Moral (und damit: das Verhältnis der Funktionssysteme
zur Moral) zu klären. Auch die Form der Moral muß rejiziert
werden können. Und wieder heißt dies nicht, daß es auf
Moral in der Gesellschaft nicht mehr ankommen soll, sondern nur: daß
die Codes der Funktionssysteme auf einer Ebene höherer Amoralität
fixiert werden müssen. (Mit dem Begriff der
»höheren Amoralität« wollen wir uns von einem nahen
Verwandten unterscheiden, von Hegels Begriff der »Sittlichkeit«.
Wir folgen also nicht dem doch eigentümlich modernen (weil differenztheoretisch
angesetzten) Duktus der Hegelschen Theorie. Diese geht von einer Unterscheidung
aus (in diesem Falle: Trieb und moralische Pflicht, begriffen nach dem
Muster heiß/kalt), um das bloße Entgegensetzen dieser beiden
Seiten als Anstrengung des Begriffs für unzureichend anzusehen und
die »Aufhebung« dieses Gegensatzes (und damit der Moral) in
einer höheren, beide Seiten berücksichtigenden Einheit zu fordern
und dies begrifflich einzulösen. Das Resultat wird mit der Unterscheidung
von Moral und Sittlichkeit formuliert. Der Begriff der »höheren
Amoralität« verzichtet auf die Apotheose einer solchen Einheit.
Er besagt, an funktional äquivalenter Theoriestelle, nur, daß
auch die Unterscheidung der Moral als Unterscheidung im Interesse anderer
Unterscheidungen zurückgewiesen werden kann, und daß dies im
Aufbau des Systems der modernen Gesellschaft an nicht-beliebigen Stellen
geschieht. An die Stelle des Begriffs der »Aufhebung« setzen
wir, um größeren logischen Strukturreichtum zu gewinnen, Gotthard
Günthers Begriff der Rejektion.) Es darf nicht moralisch besser
sein zu regieren, statt in der Opposition zu stehen. Es darf nicht moralisch
besser sein, eine wahre Theorie statt einer falschen zu vertreten. Und
auch das Recht muß Wert darauf legen, daß die Feststellung
von Unrecht nicht zu einer moralischen Disqualifizierung führt. Erst
wenn dies akzeptiert ist, sieht man die Einsatzpunkte von Moral auch in
binär codierten Systemen, vor allem dort, wo die binäre Codierung
selbst unterlaufen wird - etwa durch Doping beim Sport, durch Bedrohung
der Richter, durch Fälschung der Daten in der empirischen Forschung.
Im übrigen dringt Moral auch unkontrolliert ein. Die moralische Entgleisung
eines Regierungspolitikers ist ein politischer Glücksfall für
die Opposition, und ethische Bedenken können zwar nicht Wahrheit
in Unwahrheit transformieren, aber Forschungsfinanzierungen behindern.
(Ebd., S. 751-752.)
An Hand ihrer Codes vollziehen die Funktionssysteme ihre eigene
Autopoiesis, und damit erst kommt ihre Ausdifferenzierung zustande. (Ob
man im Falle von Funktionssystemen, die doch Teilsysteme des Gesellschaftssystems
sind, überhaupt von autopoietischer Autonomie sprechen kann, wird
kontrovers diskutiert. ....) Wie jeder Beobachter leicht feststellen
kann, ist die Autopoiesis in einem kausalen Sinne (und nur ein Beobachter
sieht Kausalität!) abhängig und unabhängig von der Systernumwelt:
abhängig, wenn man eine alte Formel der Kybernetik nochmals brauchen
darf, in Hinsicht auf Energie und unabhängig in Hinsicht auf Information.
Die Autopoiesis besteht in der Reproduktion ( =Produktion aus Produkten)
der elementaren Operationen des Systems, also zum Beispiel von Zahlungen,
von Rechtsbehauptungen, von Kommunikation über Lernleistungen, von
kollektiv bindenden Entscheidungen usw.. Die distinkte Qualität solcher
Elementaroperationen, ihre Unverwechselbarkeit im Verhältnis zu den
Elementen anderer Systeme, liegt darin begründet, daß sie im
Kontingenzbereich eines spezifischen Codes konstituiert sind (und nicht
etwa darin, daß sie dessen positiven Wert bezeichnen). Sie sind
stets formbezogen produziert. Auch Unrecht ist durch das Rechtssystem,
auch Unwahrheit ist durch das Wissenschaftssystem determiniert, und der
Code schließt nur dritte Möglichkeiten aus. Durch alle Operationendes
Systems wird der binäre Code (mitsamt dem Ausschluß dritter
Werte) laufend reproduziert, und mit den dadurch immer neu möglichen
eigenen Operationen erfüllt das System seine Funktion.
(Ebd., S. 752-753.)
Wenn und soweit funktionale Differenzierung realisiert ist, kann
mithin kein Funktionssystem die Funktion eines anderen übernehmen.
Funktionssysteme sind selbstsubstitutive Ordnungen. Dabei setzt jedes
voraus, daß die anderen Funktionen anderswo erfüllt werden.
Insofern gibt es auch keine Möglichkeiten einer wechselseitigen Steuerung,
weil dies bis zu einem gewissen Grade Funktionsübernahme implizieren
würde. Was Schiller für das Verhältnis von Politik und
Kunst bzw. Wissenschaft feststellt, gilt prototypisch für alle Intersystembeziehungen:
»Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin
herrschen kann er nicht.« (Über die
ästhetische Erziehung des Menschen, a.a.O.) Im Verhältnis
der Funktionssysteme zueinander kann es Destruktion geben, je nachdem,
wie sehr sie aufeinander angewiesen sind, nicht aber Instruktion.
(Ebd., S. 753.)
Die operative Geschlossenheit der Funktionssysteme schließt
im übrigen keineswegs aus, daß bestimmte Ereignisse in mehreren
Systemen zugleich als Operationen identifiziert werden und ein Beobachter
sie dann als Einheit sehen kann. So dienen Geldzahlungen normalerweise
der Erfüllung einer Rechtspflicht und ändern jedenfalls die
Rechtslage im Hinblick auf Eigentum. (Diese operative
Kopplung ist dadurch bedingt, daß die Institutionen Eigentum und
Vertrag der strukturellen Kopplung des Rechtssystems und des Wirtschaftssystems
dienen und deshalb für regelmäßige wechselseitige Irritation
sorgen. Zur Begrifflichkeit vgl. oben Kap. 1, VI [S. 92-120]; ferner in
diesem Kapitel S. 695.) Ereignisse, die in mehreren Systemen zugleich
vollzogen werden, bleiben aber an die rekursiven Netzwerke der verschiedenen
Systeme gebunden, werden durch sie identifiziert und haben deshalb eine
ganz verschiedene Vorgeschichte und eine ganz verschiedene Zukunft, je
nachdem, welches System die Operation als Einheit vollzieht. Woher das
Geld kommt, und was der Empfänger mit ihm weiterhin anfängt,
hat mit der rechtlichenSeite der Transaktion nicht das geringste zu tun.
Nur die Rekursivität des Operationszusammenhanges der Einzelsysteme
identifiziert die Operation als Systemelement.
(Ebd., S. 753-754.)
Wie bei allen autopoietischen Systemen, so ziehen auch hier die
Operationen die Grenzen des Systems. Indem sie geschehen, legen sie fest,
was zum System, und damit, was zur Umwelt gehört. Da sie dies aber
nur im rekursiven Netzwerk früherer und möglicher späterer
Operationen desselben Systems tun können, müssen sie zugleich
das System an Hand der Differenz von System und Umwelt beobachten. Sie
legen sich selbst fest und das geschieht rein faktisch, und geschieht
nur, wenn es geschieht, und geschieht nur so, wie es geschieht -, benötigen
dafür aber für die Beobachtung dieser Festlegung die Unterscheidung
von Selbstreferenz und Fremdreferenz.
(Ebd., S. 754.)
Daher sind auch Weltbeschreibungen immer Ausformulierungen der
Fremdreferenz spezifischer Systeme und folglich abhängig davon, wie
über Selbstreferenz disponiert wird. Die Weltbeschreibung des Wissenschaftssystems
zum Beispiel benutzt das Schema von (begrifflich bezeichenbaren) Elementen
und Beziehungen zwischen diesen Elementen, in der Soziologie zum Beispiel
Handlungen und statistisch aufbereiteten Relationen. Was in diesem Schema
erfaßt werden kann, gilt der Wissenschaft als Realität (so
sehr dem von anderer Seite widersprochen wird), weil die Welt selbst unsichtbar
bleibt und sich nicht wehren kann. Wir werden noch sehen, daß wir
uns deshalb mit einer Mehrheit von gleichermaßen validen Weltbeschreibungen
abfinden müssen.
(Ebd., S. 754.)
Die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz steht
»orthogonal« zum binären Code. Das heißt: beide
Referenzen können mit beiden Werten des Codes belegt werden. Oder
anders gesagt: Es gibt keinen besonderen Zusammenhang zwischen dem positiven
Codewert und der Fremdreferenz. Die Einheit der Unterscheidung von Selbstreferenz
und Fremdreferenz kann nur in einem »imaginären Raum«
gedacht werden; das heißt: im System, das diese Unterscheidung verwendet,
ist deren Einheit nicht operationsfähig. Aber sie kann trotzdem als
Seite einer weiteren Unterscheidung fungieren, nämlich als Komponente
der Unterscheidung von Referenz und Code.
(Ebd., S. 754-755.)
Diese Einsicht erfordert tiefgreifende Umstellungen in den traditionellen
Semantiken und hat weit verästelte Auswirkungen auf die Selbstbeschreibung
der Funktionssysteme und damit der modernen Gesellschaft. Wahrheit zum
Beispiel ist nicht als Kriterium für die Ordnung von Fremdreferenzen
des Erkennens zu verstehen (adaequatio, Korrespondenztheorie), sondern
bezieht sich auf die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz
(Konstruktivismus). Man muß damit auf jeden definitorischen Zusammenhang
von Wahrheit, Sinn und (Fremd)-Referenz verzichten. Das Recht kann nicht
länger als Mittel des Interessenschutzes (= Fremdreferenz) begriffen
werden, denn es gibt rechtmäßige und unrechtmäßige
Interessen, und andererseits rechtskonforme und rechtswidrige Begriffsanwendungen
(= Selbstreferenz). Und wie in der Wissenschaftstheorie damit die Unterscheidung
von analytischer und synthetischer Wahrheit ihre alte, auf Kant zurückführbare
Bedeutung verliert, so in der Rechtstheorie die Unterscheidung von Begriffsjurisprudenz
und Interessenjurisprudenz. An die Stelle tritt ein sehr viel abstrakter
angelegtes Unterscheiden von Unterscheidungen. Im Wirtschaftssystem treten
entsprechende Probleme am heute zentralen Begriff derTransaktion zutage.
Der Begriff formuliert die Einheit von Selbstreferenz (Zahlungen) und
Fremdreferenz (Sachleistungen, Dienstleistungen, Bedürfnisbefriedigungen)
des Wirtschaftssystems; und es liegt auf der Hand, daß dabei der
Eigentumscode Haben/Nichthaben auf beiden Seiten der Transaktion jeweils
zweimal, in Bezug auf Zahlungen und in Bezug auf Sachleistungen,
vorausgesetzt sein muß. (Trotz dieser komplexen
Struktur scheint eine weitere Auflösung des Begriffs der Transaktion
im Wirtschaftssystem [anders im Rechtssystem!] nicht möglich zu sein.
Dies spricht für die Auffassung, Transaktionen seien die Letztelemente
des Wirtschaftssystems, wie sie auch im Kontext einer Theorie selbstreferentieller,
autopoietischer Systeme vertreten wird ....)
(Ebd., S. 755-756.)
Diese Beispiele aus Wissenschaft, Recht und Wirtschaft zeigen,
wie sehr die aktuelle Diskussion bereits mit der angezeigten Problemlage
beschäftigt ist; sie zeigen zugleich, daß die Diskussionen
in unterschiedlichen akademischen Disziplinen getrennt ablaufen und daß
weder die Einheit der zugrundeliegenden Problemstellung erkannt noch der
notwendige Abstraktionsgrad erreicht wird. Und damit fehlt auch die Einsicht,
daß diese in Verschiedenheit und Ähnlichkeit auffälligen
Probleme als Strukturprobleme eines funktional differenzierten Gesellschaftssystems
anfallen. (Gelegentlich trifft man immerhin auf
die Einsicht, daß es sich bei Festlegungen in diesem kombinatorischen
Spielraum der Unterscheidungen um soziale Operationen handelt, also um
Kommunikationen. ....)
(Ebd., S. 756.)
Die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft erzeugen und reduzieren
mit Hilfe der Unterscheidung dieser Unterscheidungen, nämlich Selbstreferenz/Fremdreterenz
und Positivwert/ Negativwert des Codes, eine nur für sie, nur für
das betreffende System relevante Komplexität. Sie erkennen mit Hilfe
der Unterscheidung von Referenzen auf der Seite Selbstreferenz das Determiniertsein
durch die Strukturen und Operationen des eigenen Systems. Das System ist
und bleibt immer autopoietisch: Aber es expandiert und schrumpft je nach
dem Umfang der Operationen, die es auf diese Weise -nicht erkennt, sondern
faktisch vollzieht.
(Ebd., S. 756-757.)
In diesem Sinne ist Autopoiesis ein Entweder/Oder-Prinzip der
Systembildung. Es gibt entsprechende Systeme oder es gibt sie nicht -für
Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft usw.. Aber die soziologisch interessantere
Frage ist: wieviel Expansion nach innen die Gesellschaft damit erzeugt,
wieviel Monetarisierung, Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung, Politisierung
sie erzeugen und verkraften kann; und wieviel davon gleichzeitig (statt
z. B. nur Monetarisierung); und andererseits: was die Auswirkungen sein
würden, wenn die Funktionssysteme schrumpfen, wenn es zu Demonetarisierungen,
Deregulationen etc. kommt.
(Ebd., S. 757.)
Für die Fortsetzung der Autopoiesis genügt die einfache
Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. So wie ein Bewußtsein
sich selbst nicht mit den Gegenständen verWechseln darf, so kann
das Recht nicht als autopoietisches System operieren, wenn es Rechtspflichten
ständig mit bloßen Wünschen oder mit Bedingungen moralischer
Achtung oder Mißachtung verwechselt. Eine andere Frage ist: welche
Möglichkeiten der Beobachtung von Systemen sich ergeben, wenn es
zur Bildung von Teilsystemen kommt. Aus rein logischen Gründen sind
drei Möglichkeiten gegeben, nämlich (1) die Beobachtung des
Gesamtsystems, dem das Teilsystem angehört, (2) die Beobachtung anderer
Teilsysteme in der gesellschaftsinternen (oder auch: anderer Systeme in
der externen) Umwelt, und (3). die Beobachtung des Teilsystems durch sich
selber (Selbstbeobachtung). Um diese verschiedenen Systemreferenzen unterscheiden
zu können, wollen wir die Beobachtung des Gesamtsystems Funktion,
die Beobachtung anderer Systeme Leistung und die Beobachtung des
eigenen Systems Reflexion nennen. (Vorsorglich
sei nochmals daran erinnert, daß der Begriff Beobachtung jede Praxis
unterscheidenden Bezeichnens abdeckt, also auch Handlungen einschließt.)
- Diese Unterscheidungen haben eine erhebliche orientierungspraktische
Bedeutung. Wenn man sie nicht auseinanderhält, kommt es zu semantischen
Verwirrungen beträchtlichen Ausmaßes. So dient der Begriff
»Staat« der internen Selbstbeschreibung (Reflexion) des politischen
Systems und sollte nicht verwechselt werden mit der gesellschaftlichen
Funktion des Systems, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. Wenn
dies verwechselt wird, kommt es zu einer Hypertrophie des Staatsbewußtseins.
(Oder im akademischen Bereich: zu der ganz unnötigen
Unterscheidung von Staatslehre und politischer Soziologie, die dann noch
den Zusatzeffekt hat, der Politikwissenschaft mittendrin eine eigene Aufgabe
zu suggerieren.) Ähnliches passiert, wenn man mit Bezug auf
das Wirtschaftssystem nicht zwischen Leistungen und Funktion unterscheidet.
Dann wird Wirtschaft beschrieben als Extraktion von Materialien aus der
natürlichen Umwelt und als Befriedigung von Bedürfnissen, sei
es der Menschen, sei es anderer Funktionssysteme der Gesellschaft. Das
sind aber nur ihre Leistungen, während die Funktion darin liegt,
unter der Bedingung von Knappheit künftige Versorgung sicherzustellen.
Verwechselt man dies, wird der eigentümliche Zeitbezug der Wirtschaft
unverständlich und die geistvollste Hervorbringung der modernen Gesellschaft,
eben die Geldwirtschaft, wird als »materialistisch« beschrieben.
Im Bereich der Wissenschaft unterscheidet man unglücklich zwischen
anwendungsbezogener Forschung und Grundlagenforschung; aber es geht letztlich
um den Unterschied von Leistung und Funktion. Verkennt man dies, wird
das, was als »Grundlagenforschung« zugelassen wird, nur noch
als Theoriearbeit geduldet, und das System leidet dann unter der unverdaulichen
Erfahrung, daß .mit Grundlagenforschung mehr Reputation verdient
wird und schlechtere Finanzierungschancen verbunden sind als mit anwendungsbezogener
Forschung!
(Ebd., S. 757-758.)
Alles in allem bieten die Leistungsverhältnisse
(»Leistung« verstanden als Beobachtung anderer Teilsysteme
in der gesellschaftsinternen Umwelt [vgl. S. 757]; HB) zwischen
Systemen in der modernen Gesellschaft ein sehr unübersichtliches,
nicht auf prinzipien (etwa auf Tauschprinzipien) zurückführendes
Bild. Und obwohl dies der mechanismus ist. über den die Dynamik der
gesellschaftlichen Integration geleitet wird (Dynamik
hier im Unterschied zu der Statik, die sich in strukturellen Kopplungen
zwischen den Funktionssystemen ausfrückt), verzichtet die
moderne Gesellschaft ganz offensichtlich darauf, in diesen Beziehungen
ihre eigene Einheit (falls es sie wirklich
gibt; HB) etwa in der Form von Harmonie- oder Gerechtigkeitsideen
zur Geltung zu bringen. Integration ist unter diesen Umständen nichts
anderes als die Variation der Beschränkunegn dessen, was gleichzeitig
möglich ist.
(Ebd., S. 759-760.)
Wenn operative Schließung und autpoietische Reproduktion
der Funktionssysteme gesichert sind, kann es in dem so markierten Bereich
zu weiteren Systemdifferenzierungen kommen. Innerhalb der Gesellschaft
ist die Ausdifferenzierung weiterer Sozialsysteme zwar auf sehr verschiedene,
spontane oder organisiert Weise möglich. Es gibt Wildwuchs der verschiedensten
Art - wie in der Natur. Wenn aber eine Subsystembildung als Differenzierung
eines Funktionssystems erkennbar sein soll, setzt dies eine operative
Schließung voraus.
(Ebd., S. 760.)
Immer wiederholt die weitere Differenzierung das Systembildungsschema,
sie wiederholt das Einsetzen und Reproduzieren einer Differenz zwischen
System und Umwelt. Dabei stehen im Prinzip wieder alle Formen der Systemdifferenzierung
zur Verfügung, sowohl Segmentierung als auch Zentrum/Peripherie-Differenzierung,
Hierarchiebildung ebenso wie weitere funktionale Differenzierung. Im einzelnen
unterscheiden sich die Funktionssysteme erheblich, die Komplexitätssteigerung
nach innen folgt keinem gemeinsamen Muster. Im allgemeinen scheint jedoch
eine Art segementärer Differenzierung vorzuherrschen, die Momente
einer funktionalen Differenzierung in sich aufnimmt. Das weltpolitische
System ist segementär in Territorialstaaten differenziert, bringt
dabei aber zugleich eine Art Zentrum/Peripherie-Differenzierung zustande
(doch wohl auch eine auf Stratifikation [Schichten-
bzw. Hierarchiebildung] setzende Differenzierung; HB). Das Weltwirtschaftssystem
kann man am besten als eine Differenzierung von Märkten begreifen,
die als Umwelt für Organisationsbildungen (Unternehmen) dienen, die
sich ihrerseits als Konkurrenten wahrnehmen. Dabei entsteht keinesfalls
eine strikte Gleichheit der Segmente, man denke nur an die Sonderstellung
der Finanzmärkte und der Banken oder auch an die sehr unterschiedliche
Empfindlichkeit von Arbeits-, Rohstoff- und Produktionsmärkten für
Außeneinwirkungen. Auch das Wissenschaftssystem ist primär
segmentär in Diziplinen gegliedert, die sich ebenfalls nicht durch
Gleichheit, sondern gerade durch Ungleichheit der Forschungsgegenstände
auszeichnen, aber in bezug auf unterschiedliche Forschungsgegenstände
die gleiche Funktion erfüllen. Innerhalb der einzelnen Funktionssysteme
scheint sich mithin das zu wiederholen, was wir auch für die Gesellschaft
im ganzen ausmachen konnten: daß die eindeutige Festlegung auf den
Primat einer bestimmten Differenzierungsform eher die Ausnahme als die
Regel ist, und daß dies, wenn es gelingt, das System evolutionären
Änderungsschüben aussetzen kann, absehbar etwa für den
Fall einer zu krassen Zentrum/Peripherie-Differenzierung des Wirtschaftzssystems.
(Ebd., S. 760-761.)
Die für die Gesellschaft wichtigsten Funktionen können
auf dem erfolgreichen Leistungsniveau (»Leistung«
in dem soeben [S. 757; HB]) erörterten,
auf andere Systeme bezogenen Sinne) nur noch in den dafür
ausdifferenzierten Funktionssystemen erfüllt werden. Für Politik
ist das politische System zuständig, aber wenn dieses System Geld
braucht, muß es monetär agieren, das heißt: wirtschaftliche
Zahlungsvorgänge konditionieren. Es mag die politikspezifische Illusion
haben, selbst Geld »machen« zu können. Aber damit nimmt
die Wirtschaft dieses Geld nicht oder nur unter Abwertungsbedingungen
an, und das Problem kehrt als »Inflation« zurück. Umgekehrt
gibt es kein politisches Handeln außerhalb der Politik, wie manch
in Professor erfahren mußte, der sich auf dieses Terrain wagte.
Dasselbe gilt, mutatis mutandis, für alle Funktionssysteme. Zugleich
stellen sich diese Systeme aber wechselseitig auf ein fein regulierte
Leistungsnivaeu ein, die Politik etwa auf die Subtilitäten des vom
zuständigen Gericht fortentwickelten Verfassungsrechts und mehr oder
weniger alle Funktionssysteme auf die gewohnten Finanzierungen. das heißt:
geringfügige Schwankungen in der Leistungsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft
(etwa der politischen Bereitschaft zur Rechtsdurchsetzung) können
in anderen Systemen überproportionale Irritationen auslösen.
Wenn nur 10% des akademisch ausgebildeten Nachwuchses in der Wirtschaft
keine niveauentsprechenden Berufschancen gegeben sind, deprimiert das
eine ganze Generation, lenkt die Ausbildungsströme, verändert
die Personalzuteilungen und die Finanzmittel, und dies in jeweils anderen
Systemen, das heißt: ohne gesicherte Proportionalität im
Verhältnis zur Auslöserursache!
(Ebd., S. 762.)
Jedes Funktionssystem kann nur die eigene Funktion erfüllen.
(Ebd., S. 762.)
Der damit gesamtgesellschaftlich ansteigende Irritationskoeffizient
spiegel die gleichzeitige Zunahme von wechselseitigen Abhängigkeiten
und Unabhängigkeiten.
(Ebd., S. 763.)
Für das Gesellschaftssystem hat diese Ordnung des Verhältnisses
der Funktionssysteme zueinander weitreichende Folgen. Unter der Bedingung
der Stratifikation und/oder der Zentrum/Peripherie-Differenzierung konnte
man davon ausgehen, daß das stärkste System »herrscht«
und mit entsprechenden Ressourcen versorgt wird (wenngleich realistisch
gesehen eine regressive Entwicklung in Richtung auf tribale Verhältnisse
durchaus möglich war, weil auf dem Land noch weithin archaische Verhältnisse
herrschten). In funktional differenzierten Gesellschaften gilt eher die
umgekehrte Ordnung: das system mit der höchsten Versagensquote dominiert,
weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert
werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt. ....
Wenn Recht nicht mehr durchsetzbar wäre oder Geld nicht mehr angenommen
werden würde, wären auch andere Funktionssysteme vor kaum mehr
lösbare Probleme gestellt. Je unwahrscheinlicher die Leistung, je
voraussetzungvoller die Errungenschaften, desto größer ist
auch das gesamtgesellschaftliche Ausfallrisiko. Das Ausmaß an Beachtung
und Besorgnis läßt sich nicht mehr mit der Metaphorik der »Kraft«,
sondern nur noch mit der Metaphorik der »Krise« beschreiben.
(Ebd., S. 769-770.)
Mit dem Umbau von Stratifikation auf funktionale Differenzierung
wird zwar die Differenzierungsform der Gesellschaft geändert, keineswegs
aber Schichtung beseitigt.
(Ebd., S. 772.)
Die Gesellschaftstheorie hätte sich eher für die Frage
zu interessieren, wie es kommt, daß nach wie vor krasse Unterschiede
der Lebenschancen reproduziert werden, auch wenn die Differenzierungsform
der Gesellschaft darauf nicht mehr angewisen ist. Die Antwort lautet:
daß dies offenbar ein Nebenprodukt des rationalen Operierens der
einzelnen Funktionssysteme ist und vor allem: des Wirtschaftssystems und
des Erziehungssystems. (Daß diese Beiden Funktionssysteme
mehr als andere eine solche perverse Selektivität entfalten, ist
- unter optimistischen Vorzeichen und schon früh - auch daran zu
erkennen, daß das Bürgertum sich in seinem Verhältnis
zum Adel vor allem auf sie stützt: auf Geld und auf Bildung.)
(Ebd., S. 774.)
Die Chancen für Segmentierungen (etwa auf Organisationsbasis)
und für sich selbst verstärkende Ungleichheiten (etwa zwischen
Industrieländern und Entwicklungsländern) nehmen mit der Komplexität
des Gesellschaftssystem zu; und sie ergeben sich gerade daraus, daß
Funktionssysteme wie das Wirtschaftssystem und das Erziehungssystem Gleichheiten
bzw. Ungleichheiten als Moment der Rationalität ihrer eigenen Operationen
nutzen und damit steigern.
(Ebd., S. 776.)
Vordringlich ist es demgegenüber (gegenüber
z.B. Anleitung, Planung, Steuerung, Ethik u.ä.; HB), jene
Schieflage der Gesellschaftstheorie zu korrigieren, die entsteht, wenn
man allein die autopoietische Dynamik der Funktionssysteme in Betracht
zieht. In der klassischen soziologischen Diskussion ... ist dies Problem
mit dem Schema Differenz/Integration behandelt worden. (Die
bedeutende Ausnahme ist natürlich Max Weber, der nur einen tragischen
Konflikt heterogener Wertbeziehungen und Motive feststellen konnte, sich
aber, eben deshalb, genötigt sah, auf einen Gesellschaftsbegriff
zu verzichten.) Die Aufgabe der Soziologie lag dann in der
Suche nach Formen der Integration, die zu funktionaler Differenzierung
passen. Wir ersetzen dieses Schema durch die Unterscheidung von Autopoiesis
und struktureller Kopplung. (Ebd., S. 778.)
Faktisch sind alle Funktionssysteme durch strukturelle Kopplung
miteinander verbunden und in der Gesellschaft gehalten. Dieser in Kapitel
1, VI (S. 92-120; HB) erläuterte Begriff
ist nicht nur auf die gesellschaftsinternen Verhältnisse anwendbar.
Schon auf der Ebene des einfachen Lebens von Einzellensystemen kann autopoietische
Schließung nicht entstehen, ohne daß sich das Umweltverhältnis
in strukturelle Kopplung umformt, die bestimmte Abhängigkeiten steigern
und andere wirksam ausschließen bzw. auf die Möglichkeit der
Destruktion reduzieren. Dieser genetische und strukturelle Zusammenhang
von operativer Schließung und struktureller Kopplung setzt sich
auf allen vom Leben abhängigen Ebenen der Bildung autopoietischer
Systeme fort. (Ebd., S. 779.)
Auch hier besagt strukturelle Kopplung: Umformung analoger (gleichzeitger,
kontinuierlicher) Verhältnisse in digitale, die nach einem Entweder/Oder-Schema
behandelt werden können, und ferner Intensivierung bestimmter Bahnen
wechselseitiger Irritation bei hoher Indifferenz gegenüber der Umwelt
im übrigen. Ohne solche Formen struktureller Kopplung wäre die
Ausdifferenzierung von Funktionssystemen in ihren Anfängen, etwa
auf der Ebene besonderer Korporationen oder Organisationen, stecken geblieben.
Solange die Einrichtung struktureller Kopplungen gelingt, läuft der
gesamtgesellschaftliche Einfluß auf die strukturelle Entwicklung
von Funktionssystemen über diese Bahnen. Langfristige Tendenzen der
»strukturellen Drift« der Funktionssysteme können deshalb
nur erklärt werden, wenn man dies mit in Betracht zieht. Obwohl es
keine Möglichkeit des Durchgriffs auf Strukturentwicklungen von außen
mehr gibt, spielt eine wesentliche Rolle, mit welchen Irritationen ein
System sich immer und immer wieder beschäftigen muß - und welche
Indifferenzen es sich leisten kann. (Ebd., S. 779--780.)
(1) Die Kopplung von Politik und Wirtschaft wird in erster Linie
durch Steuern und Abgaben erreicht. .... (2) Die Kopplung zwischen Recht
und Politik wird durch die Verfassung geregelt. ... (3) Im Verhältnis
von Recht und Wirtschaft wird die strukturelle Kopplung durch Eigentum
und Vertrag erreicht. .... (4) Wissenschaftssystem und Erziehungssystem
werden durch die Organisationsform der Universitäten gekoppelt. ....
(5) Für die Verbindung der Politik mit der Wirtschaft ... bilden
sich neue Einrichtungen struktureller Kopplung heraus. Sie liegen mehr
und mehr in der Beratung durch Experten. .... (6) Für die Beziehungen
zwischen dem Erziehungssystem und dem Wirtschaftssystem (hier: als Beschäftigungssystem)
liegt der Mechanismus struktureller Kopplung in Zeugnissen und Zertifikaten.
.... Wir belassen es bei den Beispielen. Man könnte weitere nennen,
etwa das »Krankschreiben« im Verhältnis von Medizinsystem
und Wirtschaftssystem oder Kunsthandel (Galerien) im Verhältnis von
Kunstsystem und Wirtschaftssystem. Auch würde eine voll durchgeführte
Analyse ergeben, daß es Funktionssysteme, etwa das Religionssystem,
gibt, die kaum strukturelle Kopplungen ausgebildet haben und deshalb auch
in ihrer strukturellen Drift nicht deutlich geführt sind.
(Ebd., S. 781-787.)
Die Verwirklichung funktionaler Differenzierung
als Primärform gesellschaftlicher Differenzierung ändert auf
tiefgreifende Weise die Umweltverhältnisse der Systeme, und zwar
sowohl des Gesamtsystems Gesellschaft als auch seiner Teilsysteme. Zur
Darstellung dieser Veränderung benutzen wir, strukturelle Kopplungen
voraussetzend, den Begriff der Irritation. Die These ist, daß der
Übergang zu dieser Differenzierungsform die Irritierbarkeit der Gesellschaft
steigert, ihre Fähigkeit, auf Veränderungen der Umwelt rasch
zu reagieren, zunehmen läßt, zugleich aber dies mit einem weitgehenden
Verzicht auf Koordination der Irritationen bezahlen muß. Auf die
Unkoordiniertheit der Irritationen kann die Gesellschaft dann wiederum
nur irritiert reagieren - und nicht etwa durch eine zentral überwachte
Lösung des Problems der Überirritation. Denn wäre eine
solche zentrale Planung und Steuerung möglich, würde das sehr
rasch die Irritation der Gesellschaft auf das Format der Informationsverarbeitungskapazität
der entsprechenden Stelle (und man kann eigentlich nur an Organisation
denken) einschränken und den Vorteil wiederaufgeben, der mit den
der Steigerung von Irritabilität gewonnen war. In der Tendenz verlagert
sich die Informationsverarbeitung von antizipativen auf reaktive Muster
(obwohl bei zunehmender Komplexität beides zunehmen kann).
(Ebd., S. 789.)
Irritation ... hat seinen theoretischen Ort in der These eines
Zusammenhangs von operativer Schließung (Auopoiesis) und strukturelle
Kopplung von System und Umwelt. Umwelteinwirkugen auf das System, die
es selbstverständlich in jedem Augenblick in riesigen Ausmaßen
gibt, können das System nicht determinieren, weil jede Determination
des Systems nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen (hier also:
nur durch Kommunikation) erzeugt werden kann und in diesem Zusammenhang
an die systemeigenen Strukturen gebunden bleibt, die solche Rekursionen
und entsprechende operative Sequenzen ermöglichen (Strukturdetermination).
Irritation ist danach ein Systemzustand, der zur Fortsetzung der autopoietischen
Operationen des Systems anregt, dabei aber, als bloße Irritation,
zunächst offen läßt, ob dazu Strukturen geändert
werden müssen oder nicht; ob also über weitere Irritationen
Lernprozesse eingeleitet werden oder das System sich darauf verläßt,
daß die Irritation mit der Zeit von selbst verschwinden werde, weil
sie ein nur einmaliges Ereignis war. Im Offenhalten beider Möglichkeiten
liegt eine Garantie für die Autopoiesis des Systems und zugleich
eine Garantie seiner Evolutionsfähigkeit. Aber die Autopoiesis hängt
nicht, das wäre fatal, von der Lernfähigkeit des Systems ab.
Zugleich zeigt diese Überlegung auch (und das wird schon für
Organismen gelten), daß die Steigerung der Irritabilität
mit der Steigerung der Lernfähigkeit, also mit der Fähigkeit
zusammenhängt, eine Ausgangsirritation im System zu vermehren und
im Abgleichen mit vorhandenen Strukturen solange weitere Irritationen
zu erzeugen, bis die Irritation durch angepaßte Strukturen konsumiert
ist. (Ebd., S. 790.)
Zu beobachten ist, daß die Irritationsanlässe aus der
Umwelt des Gesellschaftssystems in den letzten Jahrzehnten dramatisch
zunehmen - und zwar auch und gerade auf dem Bildschirm der Gesellschaft
selbst. Das gilt in mindestens drei Hinsichten: (1) in bezug auf die durch
Technik und Übervölkerung ausgelösten ökologischen
Probleme der außermenschlichen Umwelt: (2) in bezug auf die Bevölkerungszunahmen
selbst, also die rapide Vermehrung menschlicher Körper und deren
unkontrollierbaren Wanderungen; und (3) in bezug auf die zunehmend individualisierten,
zunehmend »eigensinnig« gebildeten, auf Glück und Selbstverwirklichung
gerichteten Erwartungen der Einzelmenschen. All diese Insuffizienzen sind,
wie leicht zu sehen, ein direkter oder indirekter Effekt der modernen
Gesellschaftsevolution, also des Übergangs zu funktionaler Differenzierung.
(Ebd., S. 795.)
Was man gegenwärtig beobachten kann, läßt sich
nicht als zielstrebige Lösung dieses Problems begreifen, sondern
nur als evolutionäre Veränderung (einschließlich Neubildung)
von Strukturen, die auf die gegebene Lage reagieren. Zu diesen epigenetisch
evoluierenden Formen zählt vor allem das überraschende Neuentstehen
harter Unterscheidungen und Grenzen, die zur Identitätsbildung beitragen
und deshalb nicht überschritten werden können. (Hieran
knüpft Dirk Baecker in einem Seminarvortrag an der Bielefelder Universität
[24.11.1992] die Hoffnung, daß dadurch auch die Umweltprobleme besser
bedient werden können.) Das sieht man an der Wiederkehr ethnischer
Unterscheidungen in vermeintlich staatlich pazifizierten Regionen und
ebenso an dem Wiederaufleben religiöser Fundamentalismen in einer
»Weltgesellschaft« (Anführungsstriche
von mir; HB), die üblicherweise als »säkularisiert«
beschrieben wird. (Siehe hierzu den Vergleich von
islamischen und us-amerikanisch-protestantischen Fundamentalismen ....
Der Vergleich zeigt schlagend, daß der Fundamentalismus nicht auf
die jeweiligen Traditionen zurückgeführt werden kann, mit denen
die Anhänger sich identifizieren. Es handelt sich nicht um »survivals«,
sondern um Neubildungen, die Opposition suchen.) (Ebd., S.
796.)
Und weil es um Identität geht, geht es auch um Gewalt.
(Ebd., S. 797.)
Was bleibt, ist die eigene Larmoryanz (*),
die feststellt, daß die Gesellschaft den ethischen Amsprüchen
nicht genügt, und mit dieser Feststellung verständlicherweise
kommunikativ erfolgreich agiert. (* Hegel hätte
vielleicht von einem Standpunkt der Rührung gesprochen, mit dem das
Individuum sich in seiner guten Gesinnung selbst affirmiert. Siehe dazu
die Vorlesungen über die Philosophie der Religion, I, a.a.O.
Solange man »Ethik« auf individuelles Verhalten bezieht und
den Begriff des Individuums empirisch ernst nimmt, wird man darüber
kaum hinauskommen.) (Ebd., S. 798.)
An sich sind Werte nur Präferenzen.
(Ebd., S. 799.)
Die vielen problematischen Folgen der funktionalen Differenzierung
und der unkorrigierbaren operativen Autonomie der Funktionssysteme sind
oft beschrieben und der modernen Gesellschaft zur Last gelegt worden.
Am bekanntesten ist sicher das Versagen des Weltwirtschaftssystems vor
dem Problem der gerechten Verteilung des erreichten Wohlstandes. Ähnliche
Folgeprobleme lassen sich für andere Funktionssysteme aufweisen.
Das auf Schulen und Hochschulen konzentrierte Erziehungssystem hat zu
einer erheblichen (erheblichen! HB) Verlängerung
der Ausbildungszeiten für den Nachwuchs geführt. Er könnte
längst produktiv tätig sein und heiraten (und
bald auch Kinder haben! HB), statt sich weiter in Einrichtungen
der höheren Bildung zu tummeln, um seine Ausgangsposition für
einen Berufsstart zu verbessern (falls überhaupt
noch angestrebt in dem hohen Alter! HB). Das politische System
zieht über die politischen Parteien Personen in die Politik, die
dann auf Grund der puren Notwendigkeit, beschäftigt zu sein (Geld
und damit Macht abzuzocken! HB), das Volk mit nichtfinanzierbaren
Wohltaten beglücken. Die Erwartungen, die an Intimbeziehungen (Stichwort
Liebesheirat) gerichtet werden, sind so gesteigert, weil man schließlich
Motive braucht, sich darauf einzulassen, daß in den anschließenden
Ehen ein erheblicher (erheblicher! HB) Therapiebedarf
entsteht und es häufig zu Scheidungen (was
wiederum vor allem, aber nicht nur das Rechtssystem erfreut! HB)
und Neuversuchen kommt.
(Ebd., S. 801-802.)
Die genannten Beispiele zeigen, daß die Funktionssysteme
der Gesellschaft sich selbst - und damit die Gesellschaft! - mit Folgeproblemen
ihrer eigenen Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Hochleistungsorientierung
belasten. Dies ist jedoch nur ein Teilbereich dessen, was man an gesellschaftlichen
Folgen funktionaler Differenzierung beachten müßte. Ein anderer
Bereich betrifft die Umweltbeziehungen der Gesellschaftssystems und hier
besonders das Feheln einer Zentralinstanz, die für solche Probleme
zuständig wäre. Signale, die die Umwelt erzeugt und die die
Gesellschaft in Informationen verwandelt, werden nur in den einzelnen
Funktionssystemen aufgenommen und bearbeitet, weil es keine anderen Möglichkeiten
gibt. .... Die Gesellschaft selbst kann nicht handeln. Sie kommt in der
Gesellschaft nicht nochmals vor und kann sich, wenn funktionale Differenzierung
durchgesetzt ist, in der Gesellschaft auch nicht vertreten lassen. Es
gibt in der Gesellschaft keine »gute Gesellschaft«, keinen
Adel, keine ausgezeichnete Form städtischer (ziviler) Lebensführung,
an die man sich wenden könnte. Deshalb ist es eine allzu bequeme
Illusion, Umweltprobleme »ethisch« lösen zu können
....
(Ebd., S. 802.)
Zwar erzeugt jede Ausdifferenzierung eines systems immer zugleich
System und Umwelt, da Systeme nur als Formen gebildet werden können,
die eine andere Seite, einen »unmarked space« voraussetzen.
Auch operieren sinnorientierte Systeme immer mit der Kontextur Selbstreferenz/Fremdreferenz.
Sie können ihre Umwelt nicht vergessen.
(Ebd., S. 802-803.)
Wohin gehört ein westafrikanischer
Trommler, der eine hohe Zahl von verschiedenen Rhythmen beherrscht
und eigenwillig kombinieren kann, seine Prominenz aber den Massenmedien
und den Exotikinteressen des westlichen Publikums
verdankt? (Die»Weltgesellschaft«
ist eben nur eine westliche! HB.) In Zahlreichen trancebasierten
Kulten lassen sich medizinische, seelentherapeutische und religiöse
Bezüge kaum unterscheiden, und gerade das macht ihre Attraktivität
aus. Wie kann man die weltweit zu beobachtende Ghettobildung in Großstädten
(Rio de Janeiro, Chikago, jetzt auch Paris) erklären: durch wirtschaftlich
erzwungene Migrationsbewegungen, durch Schichtendifferenzierungen im Schulsystem,
durch unterschiedliche Rechtsordnungen, durch ein Versagen politischer
Kontrolle? Offenbar kombinieren, verstärken und behindern sich die
Auswirkungen verschiedener Funktionssysteme auf Grund von Bedingungen,
die nur regional gegeben sind und folglich sehr unterschiedliche Muster
erzeugen. Niemand wird diese Fakten bestreiten. Die Frage ist, welche
Theorie ihnen gerecht werden kann. - Eine Zeitlang hat man versucht, diese
Probleme mit dem Schema von Tradition und Moderne zu behandeln und damit
traditionsbedingte Modernisierungspfade anzuerkennen. Fast parallel dazu
kam es jedoch zu erheblichen Bedenken gegen eine solche Kontrastierung.
In der Tat: Man wird kaum übersehen können, daß die Traditionsfeindlichkeit
(und Innovationsfreundlichkeit) des europäischen Rationalismus ihrerseits
eine Tradition ist, während andererseits die nostalgischen bis fanatischen
Rückwendungen zur Tradition seit der Romantik, aber auch in den religiösen
Fundamentalismen der letzten Jahrzehnte als typische Intellektuellenattitüde
durchschaut werden muß. Seit langem ist dies Schema also durch einen
Wiedereintritt in sich selbst bestimmt und damit fast beliebig anwendbar.
Schon dem Hektor war es egal, ob der Vogel nach links fliegt oder nach
rechts fliegt oder im Westen oder im Osten (vgl. Ilias, XII, 249-250).
Außerdem kann der Rückgriff auf unterschiedliche regionale
Traditionen kaum erklären, daß die Spannungen zwischen globalen
und regionalen Orientierungen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts
offenbar zugenommen haben.
(Ebd., S. 807-808.)
Vor allem die Fortexistenz von Natinalstaaten führt dazu,
daß innerhalb der Weltgesellschaft und unter Ausnutzung ihrer Fluktuationen
regionale Interessen zur Geltung gebracht werden. Die Staaten konkurrieren
zum Bespiel auf den internationalen Finanzmärkten um Kapital für
regionale Investitionszwecke. Besonders am Staat wird diese Differenz
von global und regional sichtbar, auch wenn das politische System der
Weltgesellschaft ein Staatensystem ist, das es nicht mehr zuläßt,
die Einzelstaaten als Einheiten für sich zu betrachten.
(Ebd., S. 808.)
Die so verstandene Differenz von global/regional bewirkt uigleich,
daß das Gesamtsystem sich nicht zielabhängig, sondern geschichtsabhängig
entwickelt und man stets retrospektiv auf Situationen reagieren muß,
die schon eingetreten sind, was wiederum eine kognitive Integration ausschließt
und regional unterschiedliche Situationswahrnehmungen begünstigt.
Dies widerspricht nicht den Grundannahmen, ohne die es keine Weltgesellschaft
und keine Globalisierungen geben würde, daß alle Funktionssysteme
zur Globalisierung tendieren und daß der Übergang zu funktionaler
Differenzierung, wie oben (Kapitel 1, X [S. 145-171]) ausgeführt,
nur in der Etablierung eines Weltgesellschaftssystems seinen Abschluß
finden kann. Raumgrenzen haben für die auf Universalismus und Spezifikation
angelegten Funktionssysteme keinen Sinn (Abendländer
»kennen keine Grenzen« [Oswald Spengler] - dies ist ebenfalls
ein Indiz dafür, daß die »Weltgesellschaft« eine
rein abendländische ist; HB) - es sei denn als segemntäre
Differenzierung (zum Beispiel in politische Staaten) innerhalb von Funktionssystemen.
(Ebd., S. 808-809.)
Trotz dieser ziemlich deutlichen Indikatoren folgt daraus nicht,
daß regionale Unterschiede keine Bedeutung mehr hätten. Im
Gegenteil; gerade das dominante Muster funktionaler Diffderenzierung scheint
ihnen den Ansatzpunkt für ein Bewirken von Unterschiedn zu bieten.
(Ebd., S. 810.)
Die Regionen finden sich selbst deshalb fernab von einem gesamtgesellschaftlichen
Gleichgewicht und haben gerade darin die Chancen eines eigenen Schicksals,
das nicht als eine Art Mikroausgabe des Formprinzips funktionaler Differenzierung
gesehen werden kann. Nur: wenn es dem Primat dieses Prinzips auf weltgesellschaftlicher
Ebene nicht gäbe, wäre alles anders, und diesem Gesetz kann
sich keine region entziehen.
(Ebd., S. 811.)
Eine Ausdifferenzierung autopoietischer Sozialsysteme
kann auf der Grundlage einer schon etablierten Gesellschaft auch ohne
jeden Bezug auf das Gesellschaftssystem oder seine bereits eingerichteten
Teilsysteme stattfinden - einfach dadurch, daß doppelte Kontingenz
erfahren wird und autopoietische Systembildungen in Gang bringt. So entstehen
oft ganz ephemere, triviale, kurzfristige System/Umwelt-Unterscheidungen
ohne weiteren Formzwang und ohne daß die Differenz durch bezug auf
die Gesellschaft legitimiert werden kann oder muß. Die Großformen
der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig
neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme. (Diesen
Gesichtspunkt der »ephemeren« Verbindung zwischen den »Großgebilden«
der Gesellschaft hat Georg Simmel verschiedentlich betont; z.B. in: Grundfragen
der Soziologie, 1917, S. 13.) Keine gesellschaftliche Teilsystembildung,
keine Form gesellschaftlicher Systemdifferenzierung kann alle Bildung
sozialer Systeme so dominieren, daß sie ausschließlich innerhalb
des Primärsysteme des Gesellschaftssystems stattfindet. Und gerade
die sogenannten »Interfcae«-Beziehungen zwischen den Funktionssystemen
benutzen Interaktionen oder auch Organisationen, die sich keiner Seite
einseitig zuordnen lassen. (Ebd., S. 812-813.)
Es gibt, rein sprachlich gesehen, immer schon Möglichkeiten,
über Vergangenes oder über Künftiges zu kommunizieren (sprechen!
HB), aber eben nur in der Interaktion (nein;
denn man kann doch auch mit oder zu sich selber sprecchen! HB).
Dies ändert sich erst durch die Erfindung der Schrift und durch die
Ausbreitung des Schriftgebrauchs; denn Schrift ermöglicht eine Desynchronisation
der Kommunikation selbst. (Auch eine Gesellschaft,
die bereits über Schrift verfügt, mag in den Leitunterscheidungen
ihre Zeitsemantik nach älteren Vorgaben folgen. So kennt die altägyptische
Sprache ein Wort für Zeit als Resultat vergangener Geschehnisse (djet)
und ein anderes Wort für Virtualität, also für künftige
Möglichkeiten (nehe). Daß dies in zwei gegenwartsbezogene Zeitbegriffe
auseinandergezogen ist, deutet darauf hin, daß diese Begrifflichkeit
einer Vorgeschichte entstammt, in der die Differenz von Vergangenheit
und Zukunft noch nicht als Synchronisationsproblem gesehen werden konnte.
Dieser Interpretation von djet und nehe folgt Jan Assmann, Das Doppelgesicht
der Zeit im altägyptischen Denken, in: Anton Peisl / Armin Mohler
[Hrsg.], Die Zeit, 1983, S. 189-223.) Und eben dadurch stellt
die Kommunikation sich als Synchronisationsinstrument
zur Verfügung. In das Einzelereignis der elementaren Kommunikation
wird durch Schrift eine nahezu beliebige (nur durch Verlust der Mitteilungsträger
bedrohte) Zeitdistanz eingebaut. Es können viel mehr Empfänger
erreicht werden, als je gleichzeitig anwesend sein könnten. Man kann
daher, wenn man über standardisierte Zeitmessungen verfügt (die
man ohne Schrift gar nicht braucht (*), Zeitdispositionen
treffen, die nicht verabredet sein müssen. (*
Elman R. Service, a.a.O., 1966, erwähnt Fälle, in denen die
Zählmöglichkeit bis 4 reicht und dann »viele« folgt,
mit der Folge, daß Vergangenheit und Zukunft nur der unmittelbaren
Handlungskoordination dienen und nicht als Horizonte für Veränderungen
wahrgenommen werden. Bei den Baktaman reicht die Zahlmöglichkeit
bis 27, reicht also nur für Koordination innerhalb der Mondphasen
aus. Das verringert dann auch die Wahrscheinlichkeit, daß Neidkomplexe
vorkommen oder Ressentiments sich halten können ....
[Gemäß Daniel Everett {Die größte Erfindung der
Menschheit, 2010, S. 315} verfügt das im Urwald Brasiliens gesprochene
Piraha über gar keine Zahlwörter! HB.]) Der Mitteilende
kann in der Vergangenheit des Verstehenden aktiv gewesen sein und für
den Verstehenden trotzdem in seiner Zeit verständlich sein. Und dies
kann antizipiert werden. Die Zeit expandiert gewissermaßen mit der
Kommunikation (durch die Schriftssprache! HB),
und so können sich in einem vorher unmöglichen Umfange Abstimmungen
entwickeln, die davon ausgehen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt
etwas geschehen sein wird, was nur geschehen ist, damit zu diesem späteren
Zeitpunkt etwas anderes geschehen kann. Die heilige Zeit, in der man wissen
mußte, wie man wann zu handeln hatte, wird zunächst ergänzt,
dann ersetzt durch den Synchronisationsrahmen Zeit, in dem man verabreden
kann, wann synchronisiertes Handeln stattfinden soll. Im Prinzip ist das
natürlich auch durch mündliche Verabredung möglich und
in dieser Form auch zweckmäßig, wenn es auf Konsens ankommt.
Man verabredet sich zu einer Segelpartie, die man allein nicht unternehmen
könnte oder würde. Aber das sind jetzt Sonderfälle. Alle
Großkoordinationen arbeiten auf Grund von vorweg gesichertem Konsens
mit schriftlich ausgearbeiteten Plänen. (Ebd., S. 821-822.)
Die Analyse zeigt zugleich, daß Schrift erst nötig
ist, wenn die Differenzierungsform der Gesellschaft eine beträchtliche
Komplexität erzeugt hat - zuerst wohl für Registraturzwecke
in Großhaushalten.
(Ebd., S. 822.)
Angesichts solcher Diskrepanzen ist es ausgeschlossen, die Gesellschaft
selbst nach dem Muster von Interaktion zu begreifen oder auch nur aus
Interaktionserfahrungen zu extrapolieren, was sie ist. Was man von der
Gesellschaft weiß, weiß man aus den Massenmedien. (Wir
kommen daruf zurück. Siehe Kapitel 5, XX [S. 1096-1109].)
Der in Interaktionen zugängliche Erfahrungsausschnitt deckt nur noch
ein Minimum des (in Schriftform und heute über Fernsehen [und
Internet! HB] verfügbaren) Wissens ab. Gleichwohl werden Interaktionen
zu Modellen (und in der Literatur: zu Modellkonstruktionen) spezifisch
sozialer Rationalität stilisiert, weil nur hier soziale Reflexivität
mit ihren immens komplexen Spiegelungsverhältnissen wirklich praktiziert
werden kann. Und nochmals wird die Reziprozitätsregel hier (aber
eben nur hier) neu aufgelegt. Zugleich kann man aber wissen, daß
auf diese Weise die Gesellschaft selbst nicht zu begreifen ist. Je komplexer
ihr System, desto härter die Gleichzeitigkeit und damit die Unbeeinflußbarkeit
dessen, was in jedem Moment faktisch geschieht. Und desto illusorischer
schließlich der Glaube, dies könne in der Form der Interaktion,
durch Dialoge, durch Verständigungsversuche unter erreichbaren Partnern
in eine rationale Form gebracht werden.
(Ebd., S. 826.)
Anders als im Falle von Interaktion handelt
es sich bei Organisationen nicht um ein Universalphänomen jeder Gesellschaft,
sondern um eine evolutionäre Errungenschaft, die ein relativ hohes
Entwicklungsniveau voraussetzt. Man kann sich dies mit der Frage verdeutlichen,
wie die Gesellschaft den Zugriff auf Arbeitsleistungen regelt, die der
Arbeitende nicht aus eigenem Interesse und nicht auf Grund des Genießens
der Tätigkeit selbst erbringen würde. (Ebd., S. 827.)
Während die ältesten Gesellschaften Arbeit weitestgehend
im Überlebensinteresse des Einzelnen liegt, also gesellschaftsexternen
Bedingungen folgt, nimmt im Laufe der gesellschaftlichen Evolution die
soziale, also gesellschaftsinterne Determination der Arbeit und der Ertragsverteilung
zu. Die Formen gesellschaftlicher Differenzierung machen sich bemerkbar.
Eine häusliche Differenzierung von Arbeitsrollen wird durch wechselseitige
Hilfeleistungen, oft auch durch Gruppenarbeit junger Männer aus besonderem
Anlaß ergänzt. Mit der Entstehung von hierarchischen und/oder
nach dem Muster von Zentrum und Peripherie geordneten Gesellschaften kommt
es, wiederum zusätzlich, zu politisch-rechtlich erzwungener Arbeit,
sei es in der Form von Sklaverei, sei es als Schuldknechtschaft oder mittels
einer detaillierten und praktisch ausweglosen Regulierung durch Gilden
und Zünfte. In all diesen Fällen entstehen bereits bedarfsgerechte
Rollendifferenzierungen, aber die institutionellen Bedingungen beschränken
deren Zumutbarkeit und damit die erreichbare Komplexität und Flexibilität.
(Ebd., S. 827.)
Dies kann sich erst in dem Maße ändern, in dem der
soziale Zugriff aud Arbeit über Individuen läuft und
dies zum Normalfall wird. (Sonderfälle von Vertragsarbeit hatte es
natürlich schon lange zuvor gegeben.) Festzuhalten ist, daß
dies an der sozialen Determination von Arbeit nichts ändert, sie
aber auf eigens dafür eingerichtete Organisationen beschränkt
und eben dadurch zugleich ausweitet. (Daß
dies nicht in jeder Hinsicht gelingt und zunächst hauptsächlich
für Männer erreicht wird, zeigt sich am Beispiel der Hausarbeit,
die nun mehr und mehr als Benachteiligung der Frauen empfunden wird. Am
Beispiel der von Frauen erwarteten Arbeit [Hausarbeit, Kindererziehung,
Bereitschaft für Gastlichkeit] zeigen sich Restbestände der
direkten gesellschaftlichen Determination - und dies um so mehr, als das
Hauspersonal verschwindet - und den Hausfrauen zugemutet wird, auch dessen
Arbeitsleistung zu übernehmen. Statt des üblichen Ärgers
mit dem Personal haben Hausfrauen es jetzt mit Pannen der technischen
Geräte und mit Abwälzung eigener Arbeit auf dem Markt zu tun.)
Organisationen ersetzen externe soziale Abhängigkeiten durch selbsterzeugte
Abhängigkeiten. Sie machen sich unabhängig von zufällig
auftretenden Reziprozitäten in Bedarf und Hilfsbereitschaft und regulieren
dadurch die Arbeit als regelmäßig wiederholte Beschäftigung,
die nur noch von den Fluktuationen des Marktes oder sonstiger Finanzierungen
abhängig ist. (Ebd., S. 827-828.)
Dieser Übergang zu in der Form von Individuen rekrutierter
Arbeit setzt nicht nur Geldwirtschaft voraus, die die Annahme von Geld
attraktiv macht. Sie beruht außerdem auf rechtlich gesicherter Erzwingbarkeit
von Verträgen mit der anderen Seite, daß es ohne Vertrag kaum
noch Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten und damit zu Lebensunterhalt
gibt. (Nach Abschaffung der Sklaverei wird zum Beispiel
die Arbeit auf den Zuckerplantagen Brasiliens zur Saisonarbeit ohne Vorsorge
für die Zwischenzeit.) Außerdem trägt auch das
in der Form von Schulen und Universitäten organisierte Erziehungssystem
dazu bei, daß fachliche Kompetenz individuell und ohne weitere Sozialmerkmale
rekrutiert werden kann und daß entsprechende Ausbildungen nachentwickelt
werden, wenn man mit entsprechenden Arbeitsplätzen rechnen kann.
(Daß man, statistisch gesehen, noch mit deutlichen
Zusammenhängen von Schichtung und Ausbildung rechnen muß, wird
jetzt als Problem der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit
gesehen und nicht, oder kaum noch, als Chance der Rekrutierung von Merkmalen
begriffen, die durch Schichtung garantiert sind. Der diplomatische Dienst
rekrutiert adelige - Namen.)
(Ebd., S. 828.)
Die Funktionssysteme für Wirtschaft, Recht und Erziehung
stellen ... wichtige Vorsaussetzungen für die Entstehung und Ausbreitung
der Systemform Organisation bereit, ohne daß dies dazu führen
würde, daß es Organisationen nur in diesen Systemen gibt. Man
sieht schon an diesem Beispiel, daß Organisationen soziale Interdependenzen
ermöglichen, die mit der Autopoiesis und der operativen Schließung
von Funktionssystemen kompatibel sind, ja sie geradezu voraussetzen als
Bedingung der Individualisierung des Rekrutierungsprozesses und der Verteilung
von Personen auf Stellen.
(Ebd., S. 828-829.)
Die Klärung der Vorbedingungen für eine Evolution organisierter
Arbeit gibt schon wichtige Hinweise auf die besonderen Eigenschaften dieser
Systemform. Organisation ist, wie die Gesellschaft selbst und wie Interaktion
auch, eine bestimmte Form des Umgangs mit doppelter Kontingenz. Jeder
kann immer auch annders handeln und mag den Wünschen und Erwartungen
entsprechen oder auch nicht - aber nicht als Mitglied einer Organisation.
Hier hat er sich durch Eintritt gebunden und läuft Gefahr, die Mitgliedschaft
zu verlieren, wenn er sich hartnäckig querlegt. Mitgliedschaft in
Organisationen ist mithin kein gesellschaftlich notwendiger (obwohl heute
in vielen Hinsichten unvermeidlicher) Status. .... Die Lösung des
Problems der doppelten Kontingenz liegt darin, daß die Mitgliedschaft
konditioniert werden kann, und dies nicht nur mit Bezug auf den Eintrittsakt,
sondern als Bedingung der Aufrechterhaltung des Status. (Ausführlicher
hierzu: Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation,
1964.) (Ebd., S. 829.)
Organisationen ... produzieren Entscheidungen aus Entscheidungen
und sind in diesem Sinne operativ geschlossene Systeme.
(Ebd., S. 830.)
Eine Organisation ... »besteht« ... aus der Kommunikation
von Entscheidungen. Diese Operationsbasis ermöglicht die Schließung
eines besonderen autopoietischen Systems. Autopoiesis heißt: Reproduktion
aus eigenen Produkten.
(Ebd., S. 833.)
Während Interaktionssysteme ihre Umwelt
nur über eine Aktivierung von Anwesenden und nur über eine Internalisierung
der Differenz von anwesend/abwesend berücksichtigen können,
haben Organisationen zusätzlich die Möglichkeit, mit
Systemen in ihrer Umwelt zu kommunizieren. Sie sind der einzige Typ
sozialer Systeme, der diese Möglichkeit hat, und wenn man dies erreichen
will, muß man organisieren. Dies Nach-außen-Kommunizieren
setzt Autopoiesis auf der Basis von Entscheidungen voraus. Denn
die Kommunikation kann intern nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Entscheidungstätigkeit,
also nur als Entscheidung angefertigt werden; sie wäre anderenfalls
nicht als eigene Kommunikation erkennbar.
(Ebd., S. 834.)
Daß Organisationen nach außen kommunizieren können,
ist vor allem durch ihre hierarchische Struktur gewährleistet. Von
Hierachie kann man in einem doppelten Sinne sprechen. Einerseits können
sich im Falle von Organisatioen Subsysteme nur innerhalb von Subsystemen
bilden - und nicht einfach auf Grund der internen Umwelt im freien Wildwuchs.
(Wenn sich solche ungeplanten Systeme bilden, spricht
man von »informaler« Organisation. Typisch dafür ist
dann aber eine untypische Strukturierung: keine feste Mitgliedschaft,
unsichere Identifizierbarkeit, Motivation zu abweichendem Verhalten -
immerhin Motivation! - etc.. Neuerdings findet man außerdem auch
Organisationen, die verschiedene Organisationen auf unteren Ebenen verbinden
und nicht mehr eindeutig hierarchisch zugeordnet werden können. Ein
Bedarf für solche Firmenverbunde ergibt sich vor allem aus dem »Just-in-Time«-Prinzip
der Zulieferung, mit dem Lagerhaltung eingespart und Produktion beschleunigt
wird.) Anders als das Gesellschaftssystem bevorzugt und realisiert
die Organisation eine Kästchen-in-Kästchen-Hierarchie. Zugleich
damit werden Weisungsketten gebildet - Hierarchien in einem ganz anderen
Sinne. Die Ketten garantieren eine formale Entscheidbarkeit von Konflikten,
während die Kästchen-in-Kästchen-Differenzierung garantiert,
daß auf diese Weise das gesamte System erreichbar bleibt. Wie man
heute weiß, führt diese Struktur nicht unbedingt zur Konzentration
von Macht an der Spitze, und moderne Theorien der »Führung«
in Organisationen beschreiben, wie man sich verhalten muß, um trotzdem
etwas auszurichten. Aber ungeachtet dieses Problems der Machtverteilung
reicht die Hierarchie aus, um Kommunikationsfähigkeit nach außen
zu garantieren - nicht zuletzt deshalb, weil das interene Machtspiel für
Außenstehende schwer zugänglich ist und sie sich an das halten
müssen, was offiziell gesagt ist. (Ebd., S. 834-835.)
Offensichtlich geht es hier um hochmoderne Sachverhalte, die man
in traditionellen Gesellschaften vergeblich suchen wird.
(Ebd., S. 835.)
Die moderne Gesellschaft verzichtet darauf, selbst Organisation
(Korporation) zu sein.
(Ebd., S. 836.)
Organisation kostet Geld.
(Ebd., S. 837.)
Autopoietische Organisationssysteme können Autoritätsverluste
kompensieren ....
(Ebd., S. 837.)
Unsicherheitsabsorption heißt auch: Übernahme der Verantwortung
für den Anschluß von Möglichkeiten; aber sie bedeutet
nach den Organisationsgepflogenheiten nicht ohne weiteres: Verantwortlichkeit
für Fehler.
(Ebd., S. 837-838.)
Der Modus der Umsetzung von Entscheidungen in Entscheidungen ist
die Autopoiesis des Systems. Er transformiert weltbedingte Unsicherheiten
in systeminterne Sicherheiten - nicht nur, aber auch in der Form von Akten.
Gerade deshalb können Organisationen sich an Risiken, auf die sie
sich eingelassen haben, und an Konflikte mit immer denselben Gegnern,
an Konkurrenz usw. gewöhnen. (Dazu am Beispiel
politischer Parteien: Niklas Luhmann, Die Unbeliebtheit politischer
Parteien, in: Die politische Meinung, 37, Heft 272, 1992, S.
177-186.) Sie finden in der so weit erfolgreichen Unsicherheitsabsorption
eine Bestätigung, die schwer zu ersetzen ist. So läßt
sich die den Organisationen als »Bürokratien« oft zugeschriebene
Trägheit erklären. Gerade weil unter aller Sicherheit von Entscheidungsprämissen
Unsicherheit begraben liegt, darf man daran nicht rütteln. Gerade
weil es sich um eine selbstgefertigte Konstruktion handelt, bleibt man
dabei. Das schließt Irritierbarkeit keineswegs aus, aber sie muß
an Ereignissen festgemacht werden, die sich in der Systemkommunikation
als neu und unvorhergesehen darstellen lassen.
(Ebd., S. 838.)
So wie Interaktionen brauchen Organisationen nicht mit Bezug auf
die Einheit des Gesellschaftssystems eingerichtet zu sein. Sie können
ohne gesellschaftlichen »Systemzwang« frei entstehen, und
es gibt zahllose Organisationen (man nennt sie oft irreführend »freiwillige«
Vereinigungen oder Assoziationen), die sich keinem der gesellschaftlichen
Funktionssysteme zuordnen. Alle Organisationen profitieren jedoch von
der Komplexität des Gesellschaftssystems, wie sie im heutigen Umfange
erst durch funktionale Differenzierung möglich geworden ist. Insofern
kann man, mit nur wenig Übertreibung, sagen, daß es erst unter
dem Regime funktionaler Differenzierung zu jenem Typus autopoietischer
Systeme kommt, den wir als organisiertes Sozialsystem bezeichnen. Erst
jetzt gibt es dafür genügend zahlreiche Nischen. Erst jetzt
gibt es dafür genug zu entscheiden. Erst jetzt lohnt es sich, die
Umwelt als so komplex anzusetzen, daß dem intern nicht mehr durch
Fakten, Zeichen, Repräsentationen entsprochen werden kann, sondern
nur noch durch Entscheidungen.
(Ebd., S. 840.)
Unbestreitbar bilden sich jedoch, wenn nicht die meisten, so doch
die wichtigsten und größten Organisationen innerhalbe der Funktionssysteme
und übernehmen damit deren Funktionsprimate. In diesem Sinne kann
man von Wirtschaftsorganisationen, Staatsorganisationen, Wissenschaftsorganisationen,
Organisationen der Rechtsprechung unterscheiden.
(Ebd., S. 840-841.)
Der Ausgangspunkt für das weitere liegt in der Einsicht,
daß kein einziges Funktionssystem seine eigene Einheit als Organisation
gewinnen kann. Oder anders gesagt: keine Organisation im Bereich eines
Funktionssystems kann alle Operationen des Funktionssystems an sich ziehen
und als eigene durchführen. Erziehung gibt es immer auch außerhalb
von Schulen und Hochschulen. Medizinische Behandlung findet nicht nur
in Krankenhäusern statt. Die Riesenorganisation im politischen System,
die man »Staat« nennt, bewirkt gerade, daß es staatsbezogene
politische Aktivitäten gibt, die nicht als staatliche Entscheidungen
fungieren. Und selbstverständlich werden die Organisationen des REchtssystems,
vor allem die Gerichte, nur dann in Anspruch genommen, wenn außerhalb
der Organisation stattfindende Kommunikation über Recht und Unrecht
dies ratsam erscheinen läßt.
(Ebd., S. 841.)
Aber auch die Organisationen innerhalb von Funktionssystemen müssen
als operativ geschlossene, auf der Basis ihres Entscheidens eigenständige
Sozialsysteme angesehen werden. Sie übernehmen den Funktionsprimat
.... Sie übernehmen den binären Code des jeweiliegn Funktionssystems.
Nur unter diesen beiden Bedingungen können sie ihre eigenen Opeartionen
dem betreffenden Funktionssystem zuordnen und zum Beispiel als Gerichte,
als Banken, als Schulen erkennbar sein. Ihre Eigenwelt gewinnen und organisieren
sie dagegen durch eine weitere Unterscheidung, nämlich die von Programmen
und Entscheidungen.
(Ebd., S. 841-842.)
Um die Funktion von Organisationen im Aufbau
einer funktional differenzierten Gesellschaft erkennen zu können,
muß man sich daran erinnern, daß Organisationen die einzigen
Sozialsysteme sind, die mit Systemen ihrer Umwelt kommunizieren können.
Die Funktionssysteme können das nicht. Weder die Wissenschaft, noch
die Wirtschaft, aber auch nicht die Politik und auch nicht die Familie
kann als Einheit nach außen in Kommunikation treten. Um Funktionssysteme
mit externer Kommunikationsfähigkeit auszustatten (die als Kommunikation
natürlich immer Vollzug der Autopiesis von Gesellschaft ist), müssen
in den Funktionssystemen Organisationen gebildet werden - sei es mit angemaßten
Sprecherrollen, so wie die Arbeitgeber- und Arbeitnehmer angeblich für
»die Wirtschaft« sprechen, sei es mit Großzentren komplex
verschachtelter Organisationseinheiten, den Regierungen, den internationalen
Korporationen, der Militärführung.
(Ebd., S. 842-843.)
Die wachsende Bedeutung von Organisationen
in Funktionssystemen geht aber einher mit, ja wird ausgelöst durch
die Unmöglichkeit, die Funktionssysteme selbst zu organisieren. Man
sieht damit auch, wie sehr Organisationen auf einen laufend neu entscheidenden
Synchronisationsbedarf hin gebildet sind und genau damit auf die Künstlichkeit
einer Differenzierung des Gesellschaftssystems nach Funktionen reagieren.
(Ebd., S. 843-844.)
Funktionssysteme behandeln Inklusion, also
Zugang für alle, als den Normalfall. Für Organisationen gilt
das Gegenteil: sie schließen alle aus mit Ausnahme der hochselektiv
ausgewählten Mitglieder. Dieser Unterschied ist als solcher funktionswichtig.
Denn nur mit Hilfe der intern gebildeten Organisationen können Funktionssysteme
ihre eigene Offenheit für alle regulieren und Personen unterschiedlich
behandeln, obwohl alle gleichen Zugang haben. Die Differenz der Systembildungsweisen
ermöglicht es also, beides zugleich zu praktizieren: Inklusion und
Exklusion. Und sie ermöglicht es auch, diese Differenz selbst bei
hoher Systemkomplexität durchzuhalten und gerade mit Hilfe der Komplexität
den Widerspruch Inklusion/Exklusion aufzulösen.
(Ebd., S. 844.)
Dieser Unterschied in der Behandlung des Inklusions-/Exklusionsproblems
beginnt sich auszuwirken. Einerseits wird der Zugang zu organisierter
Arbeit (und nicht mehr die »Ausbeutung« in organisierter Arbeit)
zum Problem. Andererseits bilden sich in vielen Funktionssystemen, vor
allem aber im politischen System, Ressentiments gegen das, was dem Einzelnen
als Resultat organisierter Entscheidungsprozesse zugemutet wird. ....
Es geht um Beteilgung an Öffentlichkeit ohne Mitgliedschaft in Organisationen.
Das Problem liegt auch nicht länger in der besonderen Herrschaftsform
der »Bürokratie«, sondern eher in den unbefriedigenden
Ergebnissen organisierter »Unsicherheistabsorption«, die in
erheblichem Umfange das beschränken, was in Funktionssystemen möglich
ist.
(Ebd., S. 844-845.)
Die politischen Programm werden von politischen Parteien, also
von Organisationen, aufgestellt mit dem Systemimperativ, sich zu unterscheiden
(was angesichts der Sachlogik von Problemen nicht immer leichtfällt);
und die Entscheidung zur Aktualisierung von Politik obliegt einer anderen
Organisation: dem Staat, der unter anderem auch die politischen Wahlen
organisiert. Ohne diese Differenzierung aud organisatorischer Ebene und
ohne das dadurch ermöglichte kontinuierliche Beobachten von Beobachtungen
wäre keine Demokratie möglich. Ähnliches gilt für
das Wirtschaftssystem. Auch hier ermöglicht die Vorstellung eines
vollständigen Konkurrenzgleichgewichts zwar mathematische Formulierungen
in der Reflexionstheorie des Systems, entspricht aber, wie man ebenfalls
seit langem weiß, nicht der Realität. Vielmehr organisieren
sich auch in der Wirtschaft wirtschaftseigene Interdependenzunterbrechungen,
die verhindern, daß jeder Preis von allen anderen Preisen abhängt,
und es eben dadurch ermöglichen, wirtschaftliche Rationalität
zwar nicht im Zustand des Gesamtsystems, wohl aber auf der Ebene unternehemnsspezifischer
Bilanzen zu erreichen. Und auch hier ermöglicht und erzwingt diese
Form der Interdependenzunterbrechung die Ersetzung der unerreichbaren
Einheitsrationalität durch ein laufendes Beobachten von Beobachtern.
Organisationen lassen sich zwar nicht im Hinblick auf ihre Entscheidungsprozesse,
wohl aber an Hand ihrer Preise beobachten.
(Ebd., S. 845-846.)
An die Stelle einer hierarchischen Konzeption des Verhältnisses
von Funktionssystemen und Organisationen tritt mithin ein Netzwerk-Konzept.
Die Organisationen entfaleten eine Eigendynamik, die im Funktionssystem
mit Verfahren der Beobachtung zweiter Ordnung aufgefangen wird, und dies
unter der Bedingung laufender Reaktualisierung - etwa in der Form des
Marktes, über die öffentliche Meinung, in laufend neu erscheinenden
wissenschaftlichen Publikationen oder Rechtstexten. Statistische Überwachungen
bleiben möglich, sofern es besondere Organisationen gibt, die Daten
auswerten. Aber im Wirtschaftssystem zum Beispiel zeigt sich deutlich,
daß die das System bestimmenden Entscheidungen bei der Firmenpopulation
liegen und Überinstanzen wie Börsen und Zentralbanken mit ihren
eigenen Rekursivitäten wiederum nur als Organisationen das Geschehen
beeinflussen. Keine Organisation repräsentiert das System im System,
und jede ist nur für sich selbst verantwortlich. Die sich dabei einstellenden
Rückkopplungen lassen sich nicht in der Form von Gleichgewichtsmodellen
begreifen. Sie neigen zu plötzlichen Effektaggregationen, die wiederum
von außen auf die Organisationen einwirken und die dann eintretenden
Erschütterungen auch in andere Funktionssysteme übertragen können.
(Ebd., S. 846.)
Jedenfalls verdeutlicht eine so entschieden
auf operative Geschlossenheit und Autopoiesis abstellende Theorie, wie
sehr das Entstehen von Organisationen einerseits nur in Gesellschaften
möglich ist, dann aber auf eigenständige Weise zur gesellschaftlichen
Differenzierung beiträgt, und dies in einem doppelten Sinne: zur
Differenzierung des Gesellschaftssystems und seiner Funktionssysteme gegen
die Autopoiesis der Organisationen und, mit Hilfe dieser Autopoiesis,
zur Differenzierung der Funktionssysteme gegeneinander und gegen ihre
jeweilge Umwelt. Auf diese Weise kann eine augenfällige strukturelle
Diskrepanz verdeutlicht werden, daß die moderne Gesellschaft mehr
als ihre Vorgängerinnen auf Organisation angewiesen ist (ja erstmals
einen Begriff dafür geschaffen hat); daß sie aber andererseits
weniger als jede Gesellschaft zuvor in ihrer Einheit oder in ihren Teilsystemen
als Organisation begriffen werden kann.
(Ebd., S. 847.)
Der Versuch, eine Grenze zu ziehen, um von
der anderen Seite aus Gott und seine Schöpfung zu beobachten, galt
in der alten Welt als Fall des Engels Satan. Der Beobachter muß
sich ja, da er das Beobachtete und anderes sieht, für besser
halten und damit Gott verfehlen. (.... Für
ein Säkularisat dieser Theoriefigur siehe Hegels Ausführungen
über »Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels«
in der Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 266 ff..)
In der heutigen Welt ist dies Sache der Protestbewegungen. Aber sie fallen
nicht, sie steigen auf. Sie verfehlen nicht das Wesen Gottes (Theologen
schließen sich sogar an), so daß auch das Merkmal der Sünde,
die Gottesferne, nicht zutrifft. .... Aber die beobachtungstechnik des
Teufels, das Ziehen einer Grenze in einer Einheit gegen
diese Einheit, wird kopiert; und auch die Folgewirkung tritt ein: das
unreflektierte Sich-für-besser-halten. Entsprechend wir mit Schuldzuweisungen
gearbeitet. (Ebd., S. 847-848.)
Der Protest lebt von der Selektion seines Themas. Wollte
er die Selektivität seines Themas und damit sich selbst als Selektor
refelktieren, müßte er die Paradoxie des Protestes in der Einheit
gegen die Einheit erkennen und damit an den Bedingungen der eigenen Möglichkeit
zweifeln. (Auch der Teufel hatte, wenn man auf die
Spitzenleistungen theologischer Reflexion zurückblickt, dieses Problem.
Aber er konnte im Sündenkosmos der Tradition eine einzigartige Position
für sich selbst finden. Er hatte als einziger die Sünde begangen,
die man nicht bereuen kann: die Sünde der Beobachtung Gottes. ....
Auf elegante und in der Theoriestruktur überzeugende Weise löst
schließlich der absolute Geist der Metaphysik Hegels dieses Problem.
Er unterscheidet sich in sich [nicht gegen sich]. Nur hat sich
dafür keine soziale Realisation finden lassen, so daß der Geist
am Ende nichts anderes ist als die Form, die für dieses Problem empfindlich
macht. Er symbolisiert ein Innen ohne Außen, eine Gesellschaft ohne
Umwelt.) (Ebd., S. 860.)
Selbstbeschreibungen.
Im abschließenden Kapitel (nämlich:
»Selbstbeschreibungen«; HB) wird unser Thema zum Thema,
nämlich die Gesellschaft der Gesellschaft (Titel
des Buches; HB). Unser Ausgangspunkt ist, daß keine Gesellschaft
sich selbst mit ihren eigenen Operationen erreichen kann. Die Gesellschaft
hat keine Adresse. Sie ist auch keine Organisation, mit der man kommunizieren
könnte. Dies ist, empirisch gesehen, ein wohl unbestrittener Sachverhalt.
Auch die Erklärung bereitet uns keine Schwierigkeiten. Wir können
uns auf die Analyse des Mediums Sinn berufen, das mit jeder kommunikativen
Verwendung neue Möglichkeiten reproduziert, die das verändern,
was als Gesellschaft vorausgesetzt werden muß. Einen anderen Zugang
bietet die Mathematik selbstreferentieller Systeme. Wenn das Gesellschaftssystem
die Differenz von System und Umwelt nicht nur erzeugt, sondern sich außerdem
noch daran orientiert, liegt ein Fall eines »re-entry« (eines
»Wiedereintritts«; HB) einer Form in die Form (einer
Unterscheidung in die Unterscheidung) vor, der das System in den Zusatnd
einer »unresolvable indeterminacy« (einer
»unlösbaren Unbestimmtheit«; HB) versetzt. »Unresolvable«
heißt, daß die normalen mathematischen Operationen der Arithmetik
und der Algebra nicht mehr zu eindeutigen Ergebnissen führen. Das
System braucht imaginäre Zahlen oder imaginäre Räume, um
sich weiterzuhelfen. Dies ist sicher kein Argument, das für die Gesellschaftstheorie
irgendetwas beweist, aber die kommunikative Unerreichbarkeit der Gesellschaft,
also das Versagen der Operationen, die das System reproduzieren, steht
empirisch eindeutig fest, und auch hier gibt es statt dessen imaginäre
Konstruktionen der Einheit des Systems, die es ermöglichen, in der
Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über
die Gesellschaft zu kommunizieren. Wir werden solche Konstruktionen »Selbstbeschreibunegn«
des Gesellschaftssystems nennen.
(Ebd., S. 866-867.)
Die Prämisse der »Intersubjektivität«
bzw. des Konsenses kann man ... schlicht aufgeben. (Wir
sehen hier ganz ab von einer tiefergehenden Problematik, mit der Husserl
in der für ihn selbstverständlichen analytischen Strenge gerungen
hat, nämlich der Frage, ob nicht die Vorstellung dre Intersubjektivität
dem Subjektbegriff widerspricht.) Sie läßt sich nicht
auf ein Subjekt, nicht auf ein Sozialapriori, nicht auf die »Lebenswelt«
oder auf sonst etwas zurückführen im Sinne einer Reduktion auf
etwas, was als Voraussetzung aller Kommunikation immer schon gegeben sein
müßte.
(Ebd., S. 874-875.)
Das System selbst muß auch die Beobachtung seines Beobachtens,
die Beschreibung seiner Beschreibungen leisten. Es kann deshalb weder
als Subjekt noch als Objekt im klassischen Sinne dieser Unterscheidung
begriffen werden. (Ebd., S. 875.)
In der Realität gibt es keine Willkür,
die gleichsam am Subjekt haftet. .... Wirkommen aus mit der Beschreibung
von Systemverhältnissen auf der Ebene der Beobachtung erster bzw.
zweiter Ordnung, und »Willkür« wird damit zu einem Beschreibungsnotbehelf.
(Ebd., S. 876.)
Auch Selbstbeschreibungen sind und bleiben
im strengen Sinne Beobachtungen. Wir erinnern: eine Beobachtung bezeichnet
etwas, indem sie es unterscheidet. Sie produziert mit dem, was sie bezeichnet,
zugleich einen unmarkierten Bereich, der nicht intentional oder thematisch
erfaßt (bezeichnet), aber als Welt-im-übrigen vorausgesetzt
ist. Und sie sondert die Operation der Beobachtung (und damit: den Beobachter)
ab von dem, was beobachtet wird.
(Ebd., S. 882.)
Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft
sind immer kommunikative Operationen, existieren also nur im Ereigniszusammenhang
des Systems. Sie müssen voraussetzen, daß das System schon
vorliegt, sind also nie konstitutive, sondern immer nachträgliche
Operationen, die es mit dem bereits hochselektive formierten Gedächtnis
zu tun haben.
(Ebd., S. 883.)
Auch Gesellschaften, die nicht über Schrift verfügen,
fertigen Selbstbeschreibungen an. Sie produzieren Erzählunegn für
wiederholten Gebrauch und setzen bei der Erzählung voraus, daß
die Erzählung bekannt ist und nur das Beiwerk, die Ausschmückung,
das Geschick des Erzählers überraschen. So können auch
Mythen über das Menschengeschlecht, den Stamm, den ersten Ahnen usw.
fixiert werden, in denen die Gesellschaft in der Gesellschaft repräsentiert
wird. Im täglichen Gebrauch, in der mündlichen Rede genügen
jedoch indexikalische Ausdrücke (»indexical
expressions«; vgl. S. 640; HB), deren Referenz sich von selbst
versteht. Erst Schrift hebt diese Unmittelbarkeit des »Wir«sagen-Könnens
auf und führt damit in ein Referenzproblem. denn wenn der Leser liest,
was geschrieben ist, ist der Schreiber längst mit anderem beschäftigt
oder gar gestorben. Erst mit der Schrift entsteht ein Bedarf für
begrifflich elaborierte Selbstbeschreibungen, die zu fixieren versuchen,
worüber kommuniziert wird, wenn in der Gesellschaft über die
Gesellschaft kommuniziert wird.
(Ebd., S. 883-884.)
Ebenso wie Selbstbeobachtungen sind auch Selbstbeschreibungen
(Anfertigungen von Texten) Einzeloperationen des Systems. Überthaupt
handelt es sich bei Beschreibung und Beschriebenem nicht um zwei getrennte,
nur äußerlich verknüpfte Sachverhalte; sondern bei einer
Selbstbeschreibung ist die Beschreibung immer ein Teil dessen, was sie
beschreibt, und ändert es allein schon dadurch, daß sie auftritt
und sich der Beobachtung aussetzt. Diese Einsicht konnte vermieden werden,
solange die Beschreibung der Welt und der Gesellschaft als religiöse
Wahrheit begriffen wurde. Die religion symbolsiert die Gesellschaft und
konzentriert das Bewußtsein der Individuen auf sakrale Objekte und
muß eben deshalb verschweigen, daß dies nur eine Gesellschaftsbeschreibung
ist.
(Ebd., S. 884.)
Das System kann ja nicht anders als real operieren. Jede Selbstbeobachtung
und jede Selbstbeschreibung setzt sich daher unvermeidbar ihrerseits der
Beobachtungn und Beschreibung aus. Jede Kommunikation kann ihrerseits
Thema einer Kommunikation werden, das heißt aber, daß sie
positiv oder negativ kommentiert, daß sie angenommen oder abgelehnt
werden kann. Relativ stabile Selbstbeschreibungen bilden sich daher nicht
einfach in der Form des überzeugenden Zugriffs auf eingegebenes Objekt,
sondern als Resultat eines rekursiven Beobachtens und Beschreibens solcher
Beschreibungen aus. In der mathematischen Kybernetik nennt man ein solches
Resultat auch einen »Eigenwert« des Systems.
(Ebd., S. 888.)
Nichtidentität von Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen
ist ... ein im Normalgang zu erwartendes Resultat und dies mit zunehmender
Wahrscheinlichkeit, wenn die Primärbeobachtung nicht mehr auf der
Basis von Autorität und Tradition operieren kann. Zusätzlich
muß auf eine Besonderheit aller selbstreferentiellen Praktiken,
aber besonders der Selbstbeschreibungen von Gesellschaften hingewiesen
werden. Es gibt für sie keine externen Kriterien, nach denen sie
beurteilt werden könnten.
(Ebd., S. 889-890.)
Selbst bei radikalen strukturellen Veränderungen wird die
Gesellschaft das, was sie über sich selbst weiß und sagt, nicht
abrupt ändern können, um voraussetzungslos neu zu beginnen.
Sie wird Neues in alten Kontext wahrnehmen müssen, um es überhaupt
spezifizieren zu können. .... Selbst die moderne Gesellschaft beschreibt,
wie wir ausführlich sehen werden, sich selbst daher zunächst
einmal historisch, um sich von ihrer Geschichte zu lösen.
(Ebd., S. 891.)
Eine andere Frage ist, ob das Gesellschaftssystem selbst eine
Mehrheit von Selbstbeschreibungen anbietet und (wenn
ja; HB) auch bemerkt, daß dies geschieht. Dies ist, wie wir
noch ausführlich sehen werden, erst unter modernen (...) Bedingungen
der Fall, und es hängt offensichtlich mit dem Übergang zu funktionaler
Differenzierung zusammen.
(Ebd., S. 891.)
Auch die Wiederbeschreibung von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft
ist eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Die Wiederbeschreibung kann
dann nicht länger als Erzeugung besseren Wissens, geschweige denn
als Fortschritt angesehen werden. (Das wäre jetzt leicht durchschaubar
als Voreingenommenheit einer weiteren Ebene, einer Selbstbeschreibung
der Wiederbeschreibung, die ihren autologischen Charakter unbeachtet läßt.)
Vielmehr geht es um eine laufende Transformation von Prämissen, die
vordem als notwendig und natürlich angesehen wurden, in kontingente
und künstlich gewählte Limitierungen bestimmter Operationen.
So zum Beispiel die Wiederbeschreibung tonaler Musik durch die Einführung
atonaler Musik oder die Wiederbeschreibung der politischen Ökonomie
durch die Marxsche Analyse des »Kapitalismus«. Der Zugriff
solcher Wiederbeschreibungen auf Beschreibungen kann sich dann nur noch
zeitlich rechtfertigen als der heutigen Lage angemessen mit der Aussicht,
daß er morgen als von gestern behandelt werden wird.
(Ebd., S. 892-893.)
Die Wissenschaft bleibt als Beobachter der
aus sich selbst ausgeschlossene Dritte.
(Ebd., S. 970.)
Die erkenntnistheoretische Reflexion nimmt mit ihrer Frage nach
den »Bedingungen der Möglichkeit« nur sehr begrenzt auf,
was in den Wissenschaften selbst geschieht. Die Einstellung der Natuwissenschaften
auf »Materie«, der Biologie auf »Population« und
der Humanwissenschaften auf »Subjekt« lassen immerhin erkennen,
daß es um zukunftsoffene Forschungsprogramme geht, die eine Festlegung
auf Wesen, ja sogar auf invariante Gesetze, die das Vergangene mit dem
Zukünftigen verbinden, nach Möglichkeit vermeiden oder doch
immer weiter aufzulösen suchen. Das entspricht einer Gesellschaft,
die ihr eigenes »Wesen« nicht mehr bestimmen kann, ihre Geschichte
als vergangen behandelt und auf eine selbstbestimmte Zukunft setzt. Die
erkenntnistheoretische Konsequenz lautet zunächst: Pragmatismus,
dann Konstruktivismus.
(Ebd., S. 970.)
Ferner ist heute klar, daß Kausalität
Zurechnungsentscheidungen erfordert, da nie alle Ursachen auf alle Wirkungen
(oder umgekehrt) bezogen werden können. (Vgl.
Niklas Luhmann, Das Risiko der Kausalität, in: Zeitschrift
für Wissenschaftsforschung, 9/10; 1995, S. 107-119.) Die Selektion
von zu berücksichtigenden und nichtt zu berücksichtigenden Kausalfaktoren
obliegt also den Beobachtern, die das Kausalschema verwenden. Folglich
muß man diese Beobachter beobachten, will man feststellen, welche
Ursachen welche Wirkungen bewirken, und keine »Natur« wird
heute garantieren, daß darüber Einvernehmen herrscht. Kausalurteile
sind »politische« Urteile.
(Ebd., S. 1011.)
Die deutlich an Zeit und Geschichte orientierte
Geistmetaphysik Hegels benutzt einen Begriff der Bewegung bzw. des Prozesses
und läuft auf einen Begriff des Geistes zu, der jedenfalls insofern
noch eindeutig ist, als er am Ende der Geschichte (**|**|**|**)
alle Unterscheidungen in sich aufnimmt und nur Exklusionen ausschließt.
Im übrigen werden Grenzen dieser Semantik als Irrationalitäten
markiert. (Ebd., S. 1012-1013.)
Das System der Massenmedien operiert in all seinen Programmsektoren
(Nachrichten/Berichte Werbung, Unterhaltung) unter dem Code Information/Nichtinformation.
Jede Mitteilung, die als Information ausgewählt wird. wird damit
automatisch zur Nichtinformation, denn Information läßt sich
nicht wiederholen.
(Ebd., S. 1014-1015.)
Sowohl philosophische als auch physikalische Zeittheorien (Heidegger,
Derrida, Einstein) legen eine entsprechende Umstellung der modernen Zeitorientierung
nahe.
(Ebd., S. 1015.)
Die transzendentaltheoretische Wende erlaubt
es, den Begriff des Subjekts an philosophischen Brgründungsdesideraten
auszurichten und ganz davon abzusehen, was ein empirisches Bewußtsein
wirklich zu leisten vermag. Nut unter transzendentaltheoretischen Prämissen
kann man davon ausgehen, daß jedes Subjekt in sich selbst
Notwendigkeiten/Unmöglichkeiten (also Ersatz für die alte »Natur«)
finden kann, die es bei allen anderen in gleicher Form voraussetzen
kann.
(Ebd., S. 1028.)
Ein weiteres »Suvival« des Subjekts
findet man in der Doppelformel von Entzauberung und Verinnerlichung der
Welt. Diese Doppelung motiviert einerseits die Rede vom Ende der Geschichte
(**|**|**|**),
Ende der Kunst, Ende der Philosophie usw., womit nicht gemeint sein kann,
daß dies nocht mehr vorkommt, sondern nur: daß es nicht mehr
die alte Einheit symbolisieren und verwirklichen kann. Man hat es jetzt
nur noch mit Differenzphänomenen zu tun und mit der Enttäuschung
des Subjekts darüber, daß es die Welt weder sein noch sie sich
als Bildung aneignen kann. Auch dies ist aber kein Urteil über die
empirische Befindlichkeit wirklich lebender Menschen, sondern nur eine
Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft; und vielleicht nicht die
glücklichste Fassung dieses Problems. (Ebd., S. 1033.)
Das Individuum muß vorausgesetzt und zugleich neutralisiert
werden, wenn nicht über eine transzendentaltheoretische Reduktion,
dann eben statistisch.
(Ebd., S. 1036.)
Veränderungen, die man im 18. Jahrhundert
findet. Die Einheit von Moral und Manieren zerbricht. Moral wird jetzt
als »Selbsteinschränkung des Sozialen durch das Soziale«
(Dietrich Schwanitz) in Anspruch genommen und mit Pseudonymen wie Natur
oder Vernunft ausstaffiert. Neue »ethische« Anforderungen
an die Moral überschreiten die Grenzen familialer, tribaler, lokaler
Einheiten, die nur interne Moralbindungen kannten. (Daß
man auch heute solche Verhältnisse noch finden kann, soll damit nicht
bestritten werden; aber ihre Darstellung ist nicht immer frei von Übertreibungen.)
(Ebd., S. 1038.)
Die Gründe für Berufung auf Moral
sind eben nicht mehr ohne weiteres »gute« Gründe. Die
Ethik selbst muß auf Gödel hören.
(Ebd., S. 1040.)
Die Überzeugungskraft dieser Aufhebung der Paradoxie der
(Einheit) binärer Codierungen durch sich selbst muß so stark
gewesen sein, daß die Ethik sich nur noch mit Begründungsproblemen
zu befassen und die Anwendbarkeit ihrer Theorien zu demonstrieren hat.
Sie »gödelisiert« ihre Theorem transzendental durch Rekurs
auf Tatsachen (!) des Bewußtseins, die jeder durch Refexion in sich
selbst feststellen kann; oder sie baut Selbstreferenz ein mit Benthams
These, daß alle ethischen Theorien sich letztlich an ihrem eigenen
Nutzen ausweisen müßten. Die theoretischen (»philosophischen«)
Folgelasten dieser Positionen sind heute leicht zu erkennen, und man braucht
schon die reichen Obduktionserfahrungen der Philosophen, um damit zurechtzukommen.
Die soziologische Frage ist eher, warum es überhaupt zu derart extravaganten
Selbstbegründungsversuchen der ethisch beaufsichtigten Moral gekommen
ist. - Die uns leitende Hypothese lautet, daß dies mit der Ausweitung
von Kommunikation durch den Buchdruck, mit der Erleichterung des interregionalen
Verkehrs, vor allem aber mit dem Übergang von primär stratifikatorischer
zu primär funktionaler Differenzierung zusammenhängt, also mit
gesellschaftsstrukturellen Veränderungen, die sich außerhalb
jeder moraklischen Kontrolle, nämlich durch Evolution vollzogen haben.
(Ebd., S. 1040-1041.)
Die Universalisierung der Moral führt einerseits zu einem
Verzicht auf Moralisierungen oder auch zu Warnungen vor allzu aufdringlichen
Belästigungen mit Moral. Sie setzt andererseits das Medium Moral
inflationären bzw. deflationären Trends aus.
(Ebd., S. 1043-1044.)
Zu den auffallenden Begleitphänomenen
der semantischen Reaktion auf funktionale Differenzierung gehört
die Auffangsemantik der Nationen, die nicht auf funktional, sondern auf
segemntäre Differenzierung abstellt. Die geschichtlichen Bedingungen
einer solchen Selbstbeschreibung liegen sicher in der regionalen, sprachlichen
und kulturellen Differenzierung Europas; oder in anderen Worten: in der
Verhinderung eines religiös-politischen Reichsbildung.
(Ebd., S. 1045-1046.)
Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts wendet sich das Blatt.
(Ebd., S. 1047.)
Aber: warum läßt diese Wende zum Nationalbewußtsein
(Nationalismus! HB) mit teils fiktiver Normalität,
tels normativen Forderungen sich so exakt auf die Mitte des 18. Jahrhunderts
datieren?
(Ebd., S. 1049.)
Man könnte sagen, daß der intern friedliche Territorialstaat
jetzt voll etabliert ist und sich mit Bezug auf die Bevölkerung legitimieren
muß. Man könnte auch auf die Fortschritte in der Seuchenpolitik,
in der Agrikulturtechnik und in der Übernahme amerikanischer Landfrüchte
hinweisen, die frühere Anlässe zu umfangreichen demographischen
Verschiebungen innerhalb Europas obsolet werden lassen und den Glauben
an einen relativ stabilen (nur in sich wachsenden) nationalen Bevölkerungsstand
ermöglichen. Überschüssiger Nachwuchs konnte, obwohl die
Bevölkerung weltweit (und selbst auf den amerikanischen Sklavenplantagen)
wuchs, über See auswandern, ohne die nationale Inegrität zu
berühren. Dies alles angenommen, wird es kein Zufall sein, daß
die Idee der Nation (der Nationalismus! HB)
als Normalform und als normativer Anspruch sich historisch in genau dem
Zeitpunkt durchsetzt, in dem der Übergang zu funktionaler Differenzierung
irreversibel wird und sich in zahlreichen Bereichen bemerkbar macht.
(Ebd., S. 1049-1050.)
Ironischerweise leitet das Ende des Ersten Weltkrieges mit der
Erklärung des Rechts auf Selbstbestimmung der Nationen das Ende dieser
Idee ein. Ihr Scheitern wird in den Versuchen, sie zu realisieren, offenkundig.
Sie dekonstruiert sich, könnte man sagen, von nun an selber, indem
sie zu Entscheidungen gezwungen wird, deren Folgen sich durch die Idee
nicht rechtfertigen lassen.
(Ebd., S. 1054.)
Funktionale Differenzierung treibt die Ausdifferenzierung
einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme ins Extrem einer vollen, eigenen,
autopoietischen Autonomie. Das führt dazu, so können wir voraussagen,
daß auch die Generalisierung der Semantik, die die Einheit des Ganzen
noch symbolisieren kann, ins Extrem getrieben werden muß. Man wird
dann auf jede gattungsförmige Zusammenfassung, schließlich
sogar auf jede ontologische Beschreibung verzichten müssen. Es bleibt
nur die Möglichkeit, paradox oder tautologisch zu identifizieren.
Der Beobachter wird ... eingestehen müssen, daß ein Beobachter
(und auch ein Selbstbeobachter) nicht sehen kann, was er nicht sehen kann,
und zwar vor allem sich selbser nicht. Die Einheit der Gesellschaft wird
in der Selbstbeobachtung zur Paradoxie des Beobachters.
(Ebd., S. 1061.)
Hegels Kritik der romantischen »Subjektivität«
trifft nicht den Kernpunkt. Die Frage ist, warum ein derart gepflegtes
Paradox angeboten wird.
(Ebd., S. 1062.)
Explizites Paradoxieren findet man, wenn man von den üblichen
rhetorischen Spielereien absieht, vor allem im Kontext des Sichablösens
von Moral ....
(Ebd., S. 1062.)
Auch wußte man schon, oder man hätte es zumindest wissen
können, daß über Mehrheitsabstimmungen keine transitive
Ordnung zu erreichen ist mit der Folge, daß im Laufe der Zeit Widersprüche
auftreten, die sich nicht moralisch codieren lassen.
(Ebd., S. 1063.)
Das Resultat ist eine gut ausbalancierte Lösung, die unter
dem Namen »Liberalismus« angeboten wird. Eine Lösung
ohne Gesellschafttheorie. Die Paradoxieprobleme werden auf das politische
System und auf das Wirtschaftssystem verteilt. Für die Kontrolle
der guten Absichten der guten Absichten der Politiker ist die Verfassung
des Staates zuständig. Ihr Paradox ist die Fixierung von Unruhe.
(Mit einer Formulierung von Friedrich Schlegel,
a.a.O., S. 713.) Für die Transformation von Eigennutz in Wohlstand
sorgt die »unsichtbare Hand« der Marktwirtschaft. Und da es
nur diese beiden Paradoxien gibt, beschränkt sich die Reflexion auf
das Verhältnis von »Staat« und »Gesellschaft«
(= Wirtschaft).
(Ebd., S. 1063.)
Der »Fingerzeig Gottes« wird durch die »unsichtbare
Hand« ersetzt. Das Paradox wird nicht erkannt - aber bezeichnet.
Die pragmatische Lösung liegt im Angebot einer Vielzahl von Unterscheidungen,
die eine Ordnung der Phänomene erlauben, aber nicht zulassen, daß
die Frage nach der Einheit der Unterscheidung selbst gestellt wird. Und
wenn man sie stellt, wie Hegel es tut, wird das Resultat sofort wieder
in neue Unterscheidungen dekomponiert - Geist und Materie, Theorie und
Praxis usw..
(Ebd., S. 1063-1064.)
Wir können das hier anfallende Material
grob sichten und ordnen, indem wir es nach Sinndimensionen sortieren,
nämlich nach der Unterscheidung von Sachdimension, Zeitdimension
und Sozialdimension. Mit sachbezogenen Unterscheidungen erfaßt man
Gegebenheiten, die man besonders aufzeichnen möchte. Die nach Hegel
geläufige, in die Verfassungen als Prämisse eingebaute Unterscheidung
von »Staat« und »Gesellschaft« hatten wir schon
erwähnt. Die ältere Unterscheidung von »imperium«
und »dominium« hatte noch nicht nach Politik und Wirtschaft
getrennt. Erst nach dem Zusammenbruch der merkantilistischen Wirtschaftspolitik
regiert man mit Systemunterscheidungen .... Zugleich gewinnt die Eigentumsfrage
in den verfassungspolitischen Diskussionen an Bedeutung. Aber erst um
die Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft
als Realitätsbeschreibung geläufig, und dies unabhängig
von ihrer eigentümlichen Situierung in der Hegelschen Theorie. Denn
man will nun diskutieren, ob und wie der Staat gegenüber der Gesellschaft
und ihren Verteilungsproblemen eine besonderen Funktion zu erfüllen
habe, und für diesen Zweck muß die Unterscheidung aus dem Hegelschen
Kontext ausgegliedert werden. Bewaht wird dabei jedoch der eigentümliche
Staatsbezug der Unterscheidung selbst: Der Staat ist zwar nicht mehr das
alles »aufhebende« Resultat der Geschichtsdialektik, aber
er ist diejenige Seite der Unterscheidung, die die Unterscheidung selbst
zu treffen, zu respektieren, zu vollziehen hat; formal gesehen ein »re-entry«
der Form in die Form im Sinne von Spencer Brown.
(Ebd., S. 1064-1065.)
Schließlich sei noch die von Ferdinand Tönnies vorgeschlagene
Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft genannt. Mit »Gemeinschaft«
wird an ein Personen einbeziehendes soziales System erinnert, an Nestwärme
und an Ländlichkeit, und »Gesellschaft« besagt, daß
solche Verhältnisse in der Moderne wie auf verlorenem Posten überleben,
aber daß sie in einer formalen Soziologie gleichwohl zu berücksichtigen
seien.
(Ebd., S. 1068.)
Offenbar fehlt es in allen Fällen an einen brauchbaren (hinreichend
konkretisierbaren) Begriff für das, was dem Unterschiedenen gemeinsam
ist oder was die Unterscheidung selbst vor anderen Unterscheidungen auszeichnet.
(Und man hätte das merken können, hätte man Hegel konsultiert).
Statt dessen wird das, worauf es ankommt, nämlich die moderne
Gesellschaft, auf jeweils eine Seite der Unterscheidung gebracht und durch
den Gegensatz zur jewelis anderen unterschiedlich eingefärbt. So
entsteht eine Mehrzahl von Gesellschaftsbegriffen, je nachdem, wovon Gesellschaft
unterschieden wird. Man kann auf diese Weise die Komplexität der
neuen Lage registrieren, ohne über einen einheitlichen Begriff zu
verfügen, der sie direkt bezeichnet. Die Gesellschaftstheorie kommt
ohne einen Begriff des umfassenden Systems der Gesellschaft aus.
(Ebd., S. 1068-1069.)
Das 18. Jahrhundert leitet einen in vielen Hinsichten grundlegenden
Wandel ein.
(Ebd., S. 1070.)
Mehr und mehr wird die Zeit heute nur noch durch die Differenz
von Vergangenheit und Zukunft beschrieben. Das führt dazu, daß
die Gesellschaft sich zwischen einer nicht mehr gültigen, nicht mehr
verbindlichen Vergangenheit und einer noch nicht bestimmten Zukunft findet
- wie ein Jugendlicher, dem das Elternhaus keine Sicherheit und keine
Maßstäbe mehr bietet und der Beruf noch nicht. Nur solange
die moderne Gesellschaft noch nicht voll erkennbar war, konnte man einen
Blankoscheck auf die Zukunft akzeptieren. Gegenwärtig scheint dies
sich zu ändern. Die Zukunftsperspektiven verdunkeln sich, und damit
zugleich wächst der Entscheidungsdruck in der Gegenwart, denn nur
in der Gegenwart, nur im Kontext einer gleichzeitig gegebenen Welt, ist
man entscheidungs- und handlungsfähig. Entsprechend scheint die Zeit
schneller zu laufen. Wie weit die Entscheidungsorganisationen, vor allem
die des politischen Systems, diesen Druck und das damit wachsende Mißtrauen
auffangen können, ist eines der wichtigsten Gegenwartsprobleme.
(Ebd., S. 1073-1074.)
Im Vergleich zur alteuropäischen Zeitsemantik hat sich damit
die Grundunterscheidung geändert, die die Zeitdimension bestimmt
und damit festlegt, wie die Paradoxie der Zeit erscheinen und aufgelöst
werden kann. Wenn es um die Unterscheidung Zeit/Ewigkeit geht, liegt die
Paradoxie (sieht man einmal von den Zenonischen Bewegungsparadoxien ab)
auf der einen Seite der Unterscheidung: in der Ewigkeit, die Zeit und
doch keine Zeit ist. Hier kann sie mit dem Gottesbegriff absorbiert werden.
Die Unterscheidung Vergangenheit/Zukunft wird paradox, wenn man bedenkt,
daß Vergangenheit und Zukunft immer gleichzeitig gegeben sind, nämlich
als Horizonte der Gegenwart. Die Gegenwart ist die Einheit der Differenz
von Vergangenheit und Zukunft. Sie katapultiert sich als Zeit des Beobachters
der Zeit selbst aus der Zeit hinaus. Sie ist die Zeit, in der man keine
Zeit hat, weil alles, was man als Zeit erfassen kann, schon vergangen
oder noch zukünftig ist. Diese zeitlose »Gesamtzeitlichkeit«
der Gegenwart tritt im modernen Denken an die Stelle der Ewigkeit. Und
sie wird entparadoxiert, indem man zwischen der gegenwärtigen Vergangenheit
bzw. Zukunft und den vergangenen bzw. künftigen Gegenwarten unterscheidet,
die Zeitbegrifflichkeit also doppelt modalisiert. Genau das leistet, auf
konkreteren Forschungsebenen, die Historisierung des Geschichtsbewußtseins.
(Ebd., S. 1074.)
In der Sozialdimension schließlich geht es um die Frage,
wie die Gesellschaft im Hinblick auf die Formdifferenz von Ego und Alter
als Einheit dargestellt werden kann. Der Beobachter erster Ordnung sieht
die Unterschiede der Menschen und ihrer Schicksale und fragt nach Gerechtigkeit.
Auf der Ebene zweiter Ordnung kann man beobachten und beschreiben, daß
und wie die Gesellschaft selbst reguliert, welche Positionen sie Personen
zuweist und wie sie dies rechtfertigt. Wir wollen im Hinblick darauf von
Inklusionsprinzipien sprechen.
(Ebd., S. 1075.)
Die alte Gesellschaft hatte Inklusion durch Zuweisung fester Plätze
an Familien oder Korporationen (und damit indirekt: an Personen) reguliert.
Diese einfache Lösung muß im Übergang zu funktionaler
Differenzierung aufgegeben werden, denn man kann Personen nicht auf die
Funktionssysteme aufteilen. Statt dessen sucht und findet man neue Inklusionsprinzipien,
die die Namen Freiheit und Gleichleit erhalten und die Form von Bürger-
oder sogar Menschenrechten annehmen. Freiheit heißt: daß die
Zuordnung von Personen (nicht mehr: Familien) zur Gesellschaft nicht mehr
gesellschaftsstrukturell determiniert ist, sondern auf einer Kombination
von Selbstselektion und Fremdselektion beruht. Gleichheit heißt:
daß keine anderen Inklusionsprinzipien anerkannt werden, als die,
die das Funktionssystem selber festlegt. Anders gesagt: Nur Funktionssysteme
haben das Recht, aus systeminternen (und insofern für sie rationalen)
Gründen Ungleichheiten zu produzieren. Alle Vorgaben müssen
unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit, also strukturlos, an das System
herangetragen werden, also zum Beispiel: Gleichheit aller vor dem Recht
mit Ausnahme der im Rechtssystem selbst begründeten Unterschiede.
Die latente Funktion dieser Menschenrechte liegt also gerade nicht in
einer Honorierung und Ratifikation von Vorgaben, die mit der »Natur
des Menschen« gegeben sind. Sie liegt vielmehr darin, daß
in der modernen Gesellschaft prinzipiell nicht vorausgesagt werden kann,
in welchen Sozialkontexten wer was zu sagen oder sonstwie beizutragen
hat. Sie liegt im Offenhalten der Zukunft gegen alle Vorwegfestlegungen,
die sich aus einer Einteilung oder Klassifikatiori von Menschen (zum Beispiel:
in höhere oder niedrigere) und vor allem aus politischen Sortierungen
ergeben könnten.
(Ebd., S. 1075-1076.)
Es fällt auf, daß die Inklusionsprinzipien Freiheit
und Gleichheit ihre eigene Form nicht verraten. Zwar kann man rasch zwischen
Freiheit und Untreiheit unterscheiden und ebenso rasch zwischen Gleichheit
und Ungleichheit. Aber auf dieser Ebene der Abstraktion realisiert die
Gesellschaft immer beide Seiten der Unterscheidung zugleich. Konkret muß
dann immer noch geklärt werden, gegen welche Art Unfreiheit Freiheit
eingeklagt werden kann und gegen welche Art Ungleichheit Gleichheit. Die
Inklusionsprinzipien sind, vor allem durch die französische Revolution,
als eine Art Blankoscheck auf die Zukunft proklamiert worden. Sie haben
sich so natürlich nicht realisieren lassen. Ein in dieser Form unlösbares
Problem wurde nur aus der Gegenwart in die Zukunft verschoben. Die Konkretisierung
mußte dann durch Ideen erfolgen, die für diese Funktion den
Namen Ideologien erhalten haben. Da aber die Prinzipien den Konkretisierungsschritt
nicht bestimmen können, gibt es mehr als nur eine Möglichkeit
ihrer Ideologisierung.
(Ebd., S. 1076.)
Neben der Verzeitlichung erwähnt das Programm des Wörterbuchs
Geschichtliche Grundbegriffe die »Ideologisierbarkeit« vieler
Ausdrücke als eines der Merkmale jener semantischen Wende, in der
die neuzeitliche Gesellschaft sich selbst entdeckt. Auch damit ist die
Sozialdimension angesprochen, denn ideologisch denken jeweils die anderen.
Die Voraussetzungen dafür liegen im oben bereits behandelten Verzicht
auf naturale Vorgaben und in deren Ablösung durch eine selbstreferenzfähige
Semantik. Der Sachverhalt war längst vor der Erfindung des Ideologiebegriffs
geläufig. »As no party, in the present age«, schreibt
Hume 1748, »can well support itself without a philosophicalor speculative
system of principles, annexed to its politicalor practical one; we accordingly
find, that each of the factions, into which thisnation is divided, has
rearedup afabric of the former kind, in order to protect and cover that
scheme of actions, which it pursues.« DiePrinzipien und Ideen differieren
nach Maßgabe sozialpraktischer Differenzen; und der Ideologiebegriff
im Marxschen Verständnis fügt dem nur die Einsicht hinzu, daß
auch diese Differenzen aus der Sozialordnung heraus erklärt werden
können.
(Ebd., S. 1076-1077.)
In einem sehr anspruchslosen Verständnis kann man die Unterscheidung
verschiedener Ideologien benutzen, um darzustellen; daß die französische
Revolution eine Option eröffnet hatte: dafür oder dagegen. Es
gibt folglich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konstitutionelle
und restaurative Bewegungen. Dann kommt, bezogen auf die Folgen der Industrialisierung,
die Kontroverse über Liberalismus und Sozialismus hinzu. Der Ideologiebegriff
bietet eine Form für solche Unterscheidungen. Die Teilnehmer, also
die Beobachter der Verhältnisse, reagieren auf diese Weise kontrovers
auf Strukturprobleme der modernen Gesellschaft. Als Beobachter dieser
Beobachter sieht man, daß damit unterschiedliche Strategien für
die Auflösung der nur noch als Paradoxie erfaßbaren Einheit
realisiert werden. Man kann die Gesellschaft paradox definieren: sie ist
(noch) nicht, was, sie ist. Sie ist aber schon, was sie noch nicht ist.
Sie befindet sich auf der Bahn des Fortschritts, den man durch Liberalisierung
unterstützen muß; oder sie sammelt bereits die Kräfte
für eine Revolution, indem sie immer tiefer in die dafür notwendige
Krise gerät. Die Gegenwart der Zukt:lnft dient als noch unbestimmter
Ort für die Einlösung des Rationalitätsversprechens. Dann
sucht man Ideen zu verwirklichen und verhält sich progressiv. Sowohl
Planung als auch Utopie bilden hier Gegenbestimmtheiten, die eine Flucht
in eine noch unbestimmte Zukunft ermöglichen, und »Demokratisierung«
verspricht, daß man sich, wenn die Zeit soweit ist, wird einigen
können. Oder man löst die Paradoxie in die Gegenrichtung auf.
Man definiert sie zunächst als Tautologie (das heißt: mit einer
Unterscheidung, die behauptet, keine zu sein) und kommt dann zu der Feststellung:
die Gesellschaft ist, was sie ist. Man kann nichts machen, aber man kann
Unglücke verhindern und Abwegen vorbeugen. So wird man konservativ.
(Ebd., S. 1077-1078.)
An den Programmproblemen der Konservativen läßt sich
gut ablesen, daß die Historisierung der gesellschaftlichen Zeit
ihre Position zwar ermöglicht, sie zugleich aber benachteiligt. Die
Zukunft hat als Moment einer Unterscheidung ja nur Sinn, wenn sie anders
ist als die Vergangenheit. Das können die Konservativen aber nicht
wollen. Ihnen wäre das liebste, wenn alles so bliebe, wie es geworden
ist, und man dies gar nicht erst zu fordern brauchte. Die Progressiven
können sich eher als von der Zeit begünstigt verstehen. Andererseits
haben nur die Konservativen die Chance einer höheren Reflexionskultur,
weil sich nur für sie das Problem stellt, inwiefern die Gesellschaft
in allen Veränderungen dieselbe bleibt. Sie oszillieren daher zwischen
konkreter Polemik und Reflexion. (Heute haben diese
Bedingungen sich in sehr kennzeichnender Weise umgekehrt. Die Progressiven
sind ihrerseits ideenkonservativ geworden, und sie selbst oszillieren
jetzt, da sie über keine GesellschaftStheorie mehr verfügen,
zwischen Reflexion und Polemik. Der sogenannte »Neokonservativismus«
ist ihre Erfindung, nicht die Selbstbezeichnung einer anderen Gruppe.)
Den Progressiven genügt eine Idee; und sie sondern Theorie nur ab,
um sich zu erklären, weshalb die Idee bisher nicht zum Zuge gekommen
ist.
(Ebd., S. 1078.)
Diese Positionen haben unterschiedliche Affinitäten zu anderen
Ideenkomplexen. Nur der Konservative zum Beispiel kann »organisch«
denken oder sich Skepsis in Bezug auf den Menschen leisten. Vor allem
aber eignet sich dieser Oppositionsstil dazu, Zeit je verschieden zu sehen.
Entweder ergibt sich die Zukunft aus der Gegenwart und der Kontrast von
Vergangenheit und Zukunft sollte eher abgeschwächt werden (ohne daß
die Vergangenheit deshalb einen Selbstwert annehmen oder schlicht kontinuiert
werden müßte). Oder man muß den- Kontrast verschärfen
und dafür sorgen, daß die Zukunft beseitigen wird, was als
Defekt einer obsoleten Geschichte, vor allem an Ungleichheit, in die Gegenwart
hineinreicht.
(Ebd., S. 1078-1079.)
Der heimliche Paradoxiebezug und der offengelegte Geschichtsbezug
führen diese Form der Ideologiebildung zu einem Erfolg, der es ermöglicht,
sich die Frage nach der Einheit der kontrovers beurteilten Angelegenheit
zu ersparen. Eben das wird nun, je nach Standpunkt und politischem Engagement,
unterschiedlich gesehen. Die Ausmalung der vorgegebenen Formen verstärkt
i dann nur noch den Eindruck, daß es sich um »WeItanschauungen«
handelte, über die man nicht weiter verhandeln kann. Gleichzeitig
beginnt der Wertbegriff, der dies nur bestätigt, seine Karriere.
Er gibt keine Instruktion, aber er trägt dem Bedürfnis Rechnung,
oberhalb aller Meinungskontingenzen noch eine Ebene unverletztlicher Geltung
zu wissen. Und wieder ist eine Untersch~i9ung zur Hand, deren Einheit
nicht thematisiert werden kann: die Unterscheidung von »Sein«
und »Geltung«.
(Ebd., S. 1079.)
Will man genauer wissen, wie damit über die Sozialdimension
der Beschreibung von Gesellschaft entschieden ist, kann man sehr leicht
sehen, daß, analog zur zeitdimensionalen Verschärfung des Unterschiedes
von Vergangenheit und Zukunft, auch die Unterscheidung verschärft
wird, die die Sozialdimension definiert, nämlich die Unterscheidung
von Ego und Alter. Etwas deutlichere Anhaltspunkte gibt der Ideologiebegriff
selbst. Nachdem der Begriff Ideologie zunächst nur die Wissenschaft
von der Steuerung des empirischen Verhaltens durch Ideen bezeichnet hatte
(also etwa das, was wir »Semantik« nennen), gewinnt er mit
Marx einen neuen Sinn. Es greift zu kurz, wenn man nur die polemische
und pejorative Komponente bemerkt. Es geht nicht nur und nicht primär
um eine Beschimpfung, auch wenn Marx selbst sich oft im Ton vergreift.
Entscheidend ist die Verlagerung des Problems der gesellschaftlichen Orientierung
auf eine Ebene zweiter Ordnung und der Verzicht auf eine konsentierte
Realität. Ein Beobachter beobachtet einen anderen Beobachter im Hinblick
auf das, was dieser nicht sehen kann. Ideologien sind, in anderen Worten,
Texte, die etwas enthalten, was sie nicht enthalten, nämlich eine
Auskunft über ihre Verfasser und Benutzer, und in der üblichen
Interpretation besagt dies: eine Auskunft über deren Interessen.
(Seit dieser Entwicklung diskutiert man, und wie
es scheint: ausweglos, wie dieser Interessenbezug »wissenschaftlich«
nachgewiesen werden könne, wenn doch keine Aussicht besteht, darüber
allgemeine Einigung auch mit den beobachteten Interessenten erreichen
zu können. .... Es scheint mithin, daß der Ideologiebegriff
schon aus erkenntnistheoretischen Gründen zur Parteilichkeit zwingt.)
Es geht, mit anderen Worten, um den blinden Fleck, um das Problem
der Latenz. Die Kapitalisten arbeiten nach Marx an ihren eigenen Untergang,
weil sie genau dies nicht wissen und nicht korrigieren können. (Man
mag sich fragen, wie Marx angesichts dieser Theorie sich selbst als Publizist
eingeschätzt hat. Können die Marx lesenden Kapitalisten zumindest
lernen, daß sie nicht sehen können, was sie nicht sehen können?
Und was würde aus einer rekursiven Vernetzung des Sehens des Nichtsehens
folgen? Marx selbst scheint jedoch, wie schon Hegel, nicht in der Lage
gewesen zu sein, die eigene Theorie in der eigenen Theorie zu berücksichtigen
- es sei denn als wissenschaftlichen Beweis für die Aussicht auf,
und Klärung der Bedingungen für, die vorausgesagte Revolution.)
(Ebd., S. 1079-1080.)
Mit Vorläufern im Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, ferner
in einer Literatur, die man später als »Gegenaufklärung«
bezeichnen wird, und nach Marx mit vielen Neuauflagen, etwa in der Psychoanalyse
Freuds oder in der Soziologie latenter Strukturen und Funktionen, breitet
sich seit dem 19. Jahrhundert eine radikale Neufassung des Problems der
Sozialdimension aus, eben die Fixierung des sozialen Interesses auf ein
Beobachten des Nichtbeobachtenkönnens. Solange man unter »Beobachtern«
nur psychische Systeme versteht, mag das ein belangloses oder allenfalls
ein therapeutisch einsetzbares Privathobby bleiben. Aber was geschieht,
wenn so kommuniziert wird?
(Ebd., S. 1080-1081.)
All diese komplexen Formen einer Übergangssemantik
lassen sich auf eine Frage bringen - auf die Frage: wer ist der Beobachter?
Diese Frage kann nicht beantwortet, also auch nicht gestellt werden. Die
übliche Charakterisierung des Beobachters als »Subjekt«
gestattet es bestenfalls, das Problem der Sozialdimension als Problem
der »Intersubjektivität« zu bezeichnen. Immerhin hat
man damit einen strikt paradoxen Begriff an der Hand, aber auch nicht
mehr; denn das »Inter« kann dem Subjekt, wenn das Subjekt
ein Subjekt ist, weder zu Grunde liegen noch nicht zu Grunde liegen. Der
Roman, der Liebesroman, aber auch Hegels Roman der Liebe zwischen Weltgeschichte
und Philosophie, lokalisiert den Beobachter, der auch das sehen kann,
was er selber bisher nicht sehen konnte, am Ende der Geschichte (**|**|**|**).
Das macht es erforderlich, den Erzähler, der alles immer schon weiß,
und also auch Hegel selber, aus der Geschichte herauszuhalten. (Vgl.
dazu Dietrich Schwanitz, Systemtheorie und Literatur, 1990, S.
181 ff..) Auch das reicht aber nicht, um die Frage nach dem Beobachter
zu beantworten. Erst recht versagen die zur Zeit modischen Auskünfte:
der Sprachspielpluralismus eines Wittgenstein, die These eines kulturellen
Relativismus oder die Diskurspluralität der sogenannten »Postmoderne«
(**).
Auch hat es wenig Sinn, sich mit Kontroversen zwischen diesen verschiedenen
Positionen zu beschäftigen, denn das führt nur zur wechselseitigen
Rekonstruktion der jeweiligen Unzulänglichkeiten. (Ebd., S.
1081.)
Unsere Analysen legen die Annahme nahe, daß die moderne
Gesellschaft mit dieser Technik des Beobachtens des Nichtbeobachtenkönnens
das Paradox des Beobachters als des eingeschlossenen ausgeschlossenen
Dritten nachvollzieht. Das zwingt dann aber das Beobachten des Beobachtens
zum autologischen Schluß auf sich selbst und zum Paradox als Abschlußgedanken:
Der Beobachter ist das Unbeobachtbare. Das führt jedoch nicht zur
Verzweiflung. Im autopoietischen System gibt es keinen Abschluß,
weder Anfang noch Ende. Jedes Ende ist Anfang. Das Paradox löst sich
damit in Zeit auf. Das System versetzt damit das, was als Gegenstand nicht
beobachtbar ist, in Operation. Und wenn dies geschieht und wenn solche
Beobachtungsoperationen immer wieder auf ihre eigenen Resultate angewandt
werden, könnte es sein, daß das im Ergebnis zu stabilen »Eigenwerten«
führt, das heißt zu einer Semantik, die dies aushält und
deshalb bevorzugt wird.
(Ebd., S. 1081-1082.)
Information ist ein Zerfallsprodukt. Sie verschwindet,
wenn sie aktualisiert wird. Die Informationsgesellschaft wäre danach
eine Gesellschaft, die es aus zunächst unerfindlichen Gründen
für notwendig hält, sich selbst ständig zu überraschen.
(Hierzu: Niklas Luhmann, Entscheidungen in der
»Informationsgesellschaft«, 1996).
(Ebd., S. 1090.)
Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen ... und damit ...
Übergang von Beschreibungen, die in der öffentlichen Meinung
zeitweise Furore machen und dann wieder abflauen, zu theoriegeführten
Analysen, die sich nur innerhalb der Wissenschaft bewähren müssen.
Damit verschiebt sich der Standpunkt des Beobachters auf eine Ebene zweiter,
wenn nicht dritter Ordnung.
(Ebd., S. 1090.)
Will man ein Urteil über die Möglichkeiten
der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft gewinnen, muß man
vor allem bedenken, daß sie nicht mehr als Weisheitslehre mündlich
tradiert wird und nicht mehr als Philosophie hohe Abschlußgedanken
artikuliert, sondern den Eigengesetzlichkeiten der Massenmedien folgt.
Jeden Morgen und jeden Abend senkt sich unausweichlich das Netz der Nachrichten
auf die Erde nieder und legt fest, was gewesen ist und was man zu gewärtigen
hat. Einige Ereignisse ereignen sich von selbst, und die Gesellschaft
ist turbulent genug,daß immer etwas geschieht. Andere werden für
die Massenmedien produziert. Dabei kann vor allem die Äußerung
einer Meinung als ein Ereignis behandelt werden, so daß die Medien
ihr Material reflexiv in sich selbst eintreten lassen können. Bei
all dem wirken die Erzeugnisse der Druckpresse mit dem Fernsehen zusammen.
Schon durch die Ausdifferenzierung der Massenmedien wird ein Überschuß
an Kommunikationsmöglichkeiten erzeugt. Das wieder führt zu
einer sehr scharfen Selektion dessen, was mitgeteilt werden kann, und
dann noch zu einer Selektion dessen, was (journalistisch bzw. fernsehtechnisch)
»gut« mitgeteilt ist. Unausweichlich muß jede Beschreibung
unserer Gesellschaft diese Mittel (und insofern: ihre eigenen Mittel)
und deren Verhältnis zu sich selbst mitenthalten. In soziologischen
Beschreibungen, die »Massenmedien« zu einem eigenen Forschungsgebiet
ausdiffe renziert haben, geschieht das vorerst nur selten Die »kulturelle
Hegemonie« der Massenmedien, der sich selbst Protestbewegungen zu
fügen haben, wenn sie nicht vorab auf Erfolge verzichten wollen,
wird durchaus wahrgenommen, aber nur als Phänomen beschrieben, da
für eine genauere Erfassung und Einschränkung ein gesellschaftstheoretischer
Kontext fehlt.
(Ebd., S. 1097-1098.)
In der Bezeichnung »Massenmedien« werden Perspektiven
zusammengefaßt, die wir sorgfältig unterscheiden müssen.
Von »Medium« sollte nur die Rede sein, wenn eine Menge nur
lose gekoppelter Elemente bezeichnet wird, die für Formenbildung
zur Verfügung stehen. Ein Medium in diesem Sinne ist die »öffentliche
Meinung« - gleichviel ob die Gesamtheit der Elemente psychisch als
diffus verstreutes Aufmerksamkeitspotential verstanden wird, das durch
Formenbildung temporär gebunden wird; oder sozial als Beiträge
zu Themen der Kommunikation, wobei die Formenbildung im Bekanntsein (oder
inder Untersteilbarkeit des Bekanntseins) liegt. Davon zu unterscheiden
ist die Frage, welches soziale System dieses Medium produziert und reproduziert-
die Gesellschaft selbst oder ein eigens dafür ausdifferenziertes
Funktionssystem. Nur dieses Funktionssystem soll mit dem Begriff der Massenmedien
bezeichnet werden.
(Ebd., S. 1098.)
Von »öffentlicher Meinung« in einem gegenüber
der Tradition aufgewerteten Sinne spricht man seit dem 18. Jahrhundert.
(Vorläufer gab es in vielen verschiedenen Diskussionszusammenhängen.
Zum Beispiel in Form der Unterscheidung von Meinung und Wissen. Oder im
Begriff des »common sense«. Oder in der These, daß es
der Staatsräson entspreche, wenn der Fürst die Meinungen seiner
Untertanen beachte, wenn auch nicht unbedingt: ihnen folge.) Allen
Erwartungen des 18. und 19. Jahrhunderts zuwider beruht jedoch die eigentümliche
Modernität der so zustandekommenden öffentlichen Meinung darauf,
daß sie, darin dem Markt vergleichbar, keine Einheit bildet. Sie
wählt nicht das aus, was der Vernunft entspricht. Sie trägt
zur Autopoiesis der Gesellschaft bei, denn es geht ja um Kommunikation,
aber sie formuliert keinen Konsens darüber, was die Gesellschaft
ist oder sein soll. Ihre Funktion liegt nicht in der gesellschaftlichen
Integration, sondern darin, ein Beobachten von Beobachtern zu ermöglichen.
Jeder momentane Zustand wird als Ausgangspunkt für Differenzen, wenn
nicht überhaupt als Differenz vorgestellt. Das zeigt sich, wenn man
von einer Beschreibung zu einer Analyse derjenigen Faktoren übergeht,
die regulieren, wie das erzeugt wird, was dann als öffentliche Meinung
erscheint. Das geschieht über sehr spezifische Selektionsweisen,
deren Resultate eben deshalb Kontingenz und vor allem die Möglichkeit,
zu anderen Beurteilungen zu kommen, nicht ausschließen können.
(Ebd., S. 1098-1099.)
Die Selektivität dessen, was auf Grund
der Wirksamkeit dieser MassenmedienaIs »öffentliche Meinung«
reflektiert wird, kann man pointiert in den drei Sinndimensionen beschreiben.
In der Sachdimension gewinnen quantitative Angaben eine hervorragende
Bedeutung, ohne daß deren Berechnungsweise mitreflektiert werden
könnte. Katastrophen werden bevorzugt berichtet, wenn ungewöhnliche
Quantitäten (Massenkarambolage, Tausende von toten Robben, Millionenschäden
etc.) im Spiel sind. Das Steigen des Bruttosozialprodukts wird begrüßt,
das Fallen beklagt, Politik und Börse reagieren auf das Bekanntwerden
der Zahl, ohne daß man bedenkt, daß das Bruttosozialprodukt
auch dadurch zum Steigen gebracht werden kann, daß vorher unbezahlte
Arbeit bezahlt wird oder daß Unfälle und Katastrophen zunehmen
und der Schaden mit Zahlungen ausgeglichen wird. (Torvald
Sande, a.a.O., 1987, S. 183-189, schätzt den Beitrag von Unfällen
und Katastrophen zum Bruttosozialprodukt auf 2% [ohne nähere Angaben
und vielleicht nur auf präventive Maßnahmen und nicht auf Ausgl:ichszahlungen
bezogen].)
(Ebd., S. 1099.)
Im Ergebnis verfälft die Gesellschaft in eine Art statistische
Normaldepression. Jedes Mehr ist, in der Gegenrichtung gesehen, zugleich
ein Weniger dessen, was vorher war. Wenn Wachstum berichtet wird, ist
man mit den Zuständen und Erträgen nicht mehr zufrieden, die
vor einigen Jahren noch ganz normal waren. Und selbst wenn das Wachstum
sich verlangsamt, ist das eine Unglücksnachricht. Eine Rückkehr
zu den Werten, die vor einigen Jahren noch voll zufriedenstellten, wird
infolge dieser Paradoxie des mehr=weniger als Rückschritt erfahren.
Wie zum Ausgleich des Abstraktionsgrades der Quantitäten wird ein
lokaler (oder funktional äquivalent: ein personaler) Bezug der Informationen
erwartet und hergestellt. Man kann damit die Paradoxien des Typs mehr=weniger
oder höher=niedriger, die Paradoxien des Werdens also, auflösen
in eine Identitätsthese, die dadurch nicht in Frage gestellt wird.
Das führt zu ethnozentrischen Perspektiven und zur Überschätzung
der Bedeutung einzelner Personen für die Dramaturgie der Ereignisse
- alles in allem also zu soziologisch kaum korrigierbaren Eigenarten der
Realitätskonstruktion.
(Ebd., S. 1099-1100.)
In zeitlicher Hinsicht muß das Berichtenswerte neu sein,
also Ereignis mit einem gewissen Überraschungswert (Informationswert)
sein, und die zeitliche Tiefe des Berichts ({Vorgeschichte und mutmaßliche
Folgen) organisiert sich von daher. Die Sozialdimension wird als Konflikt
präsentiert mit der Dauerhintergrundserwartung, daß man eigentlich
zu einer Verständigung kommen müßte. Konfliktdarstellungen
gehen zumeist Hand in Hand mit moralischen Beurteilungen, die die Illusion
von Fall zu Fall erneuern, daß es Regeln für die Entscheidung
von Konflikten gebe; und dies in der Form von Gesichtspunkten, die jeden
zur Mitbeurteilung auffordern. Zusammen wirken diese Filter im Sinne einer
Verstärkung von Aufregung. Das heißt natürlich nicht,
daß im Inneren psychischer Systeme wirklich Aufregung entsteht und
anhält. Aber auf der Ebene dessen, was kommuniziert wird und dessen,
was kommunikativ anschlußfähig ist, erscheint die Gesellschaft
als eine sich über sich aufregende, sich selbst alarmierende Gesellschaft.
Sie reproduziert daher in sich selbst die Schizophrenie des doppelten
Wunsches: an Änderungen teilnehmen zu können und gegen ihre
Folgen abgesichert zu werden. Und sie schafft für diese Schizophrenie
die Position des unbeteiligt-beteiligten Zuschauers.
(Ebd., S. 1100.)
Man kann dies besonders gut an einem paradigmatischen Sonderfall
erkennen, nämlich an der Art und Weise, wie ökologische Themen
aufgetaucht sind und heute eineri prominenten Platz einnehmen. Sicher
ist das Tempo der Einführung und Ausbreitung dieses Themenkomplexes
teils den mediennah operierenden Protestbewegungen (vgl
Kapitel 4, XV) vor allem aber den Massenmedien selbst zu verdanken.
Viele Selektionskriterien treffen hier zusammen: große Quantitäten,
ständiger Nachschub an Katastrophen, technisch ausgelöste, also
kontingente Ereignisse, ideologische und politische Konflikte über
die angemessene Einstellung zur Sache. Dazu kommt der lokale und zugleich
überlokale Bezug, die individuelle Betreffbarkeit und die weithin
unsichtbare Form der Bedrohung (Radioaktivität, verschlossene Fabriken,
unsichtbare chemische Substanzen). Andererseits ist mit genau diesen begünstigenden
Bedingungen auch das bestimmt, was nicht berichtet wird, was unsichtbar
bleibt. Das gilt für die für Selbstbeschreibungen der Gesellschaft
entscheidende Frage: für die gesellschaftlliche Einbettung der Trends,
die schon gegeben sind und schon wirken, bevor es zur Katastrophe kommt,
für die »katastrophalen Entwicklungen« (Hans
Peter Dreitzel / Horst Stenger, a.a.O. ). Die typische Themenbehandlung
alarmiert, stumpft ab, festigt den Vorausblick auf weitere Katastrophen
und erzeugt beim individuellen Nachrichtenempfänger ein Gefühl
der Hilflosigkeit (und damit nicht zuletzt: ein Rekrutierungspotential
für Protestbewegungen, die aber ihrerseits nur fordern können,
daß die anderen es anders machen).
(Ebd., S. 110-1101.)
Allein schon die Täglichkeit des Erscheinens und das Produktionstempo
der Massenmedien schließen es aus, daß die im Publikum vorhandenen
Meinungen vorweg konsultiert werden. Die Organisationen der Massenmedien
sind hier auf Vermutungen und, im Ergebnis, auf self-fulfilling prophecies
angewiesen. Sie arbeiten weitgehend selbstinspirativ: durch Lektüre
ihrer eigenen Erzeugnisse, durch Beobachtung ihrer eigenen Sendungen.
Sie müssen dabei eine hinreichende moralische Uniformität unterstellen,
um täglich über Normverstöße, Skandale und sonstige
Abartigkeiten berichten zu können. Verschiebungen können einkalkuliert
werden: Stichwort »Wertewandel«; aber der eigene Anteil daran
kann nicht herausdividiert werden. Insofern kann man von Eigenwertproduktion
sprechen: von relativ stabilen Einstellungen, die sich ergeben, wenn eine
Operation auf ihre eigenen Resultate angewandt wird.
(Ebd., S. 1101-1102.)
Das, was als Resultat der Dauerwirksamkeit von Massenmedien entsteht,
die »öffentliche Meinung«, genügt sich selbst. Es
hat deshalb wenig Sinn, zu fragen, ob und wie die Massenmedien eine vorhandene
Realität verzerrt wiedergeben; sie erzeugen eine Beschreibung der
Realität, eine Weltkonstruktion, und das ist die Realität, an
der die Gesellschaft sich orientier. Die Informationen werden in großen
Mengen ausgestreut und Tag für Tag erneuert. Dadurch entsteht eine
immense Redundanz, die es erübrigt, nachzuforschen, was Einzelne
wirklich wissen und denken. Man kann, und man kann gar nicht anders als:
Informiertsein unterstellen. So wirkt die öffentliche Meinung wie
ein Spiegel, auf dessen Rückseite ebenfalls ein Spiegel angebracht
ist. Der Informationsgeber sieht im Medium der kurrenten Informatlon sich
selbst und andere Sender. Der lnformationsnehmer sieht sich selbst und
andere Informationsnehmer und lernt nach und nach, was man hochselektiv
zur Kenntnis zu nehmen hat, um im jeweiligen Sozialkontext (sei es Politik,
sei es Schule, seien es Freundschaftsgruppen, seien es soziale Bewegungen)
mitwirken zu können. Der Spiegel selbst ist intransparent.
(Ebd., S. 1102.)
Viel spricht dafür, daß hierein besonderes Funktionssystem
entstanden ist, noch ohne klaren Begriff (aber schließlich hatte
die Tradition auch für das, was wir heute Familie nennen, nicht einmal
ein Wort) und ohne anerkannte Funktionszuweisung. Gegen die Annahme eines
eigenständigen Funktionssystems könnte sprechen, daß die
Massenmedien dicht mit der Kommunikation ihrer gesellschaftlichen Umwelt
verbunden sind; und mehr noch: daß gerade darin ihre gesellschaftliche
Funktion liegt. Sie rechnen damit, daß im Anschluß an die
Veröffentlichung auch außerhalb der Medien über die entsprechenden
Themen kommuniziert wird; ja daß diese Möglichkeit zur Teilnahme
an der Medienkommunikation geradezu zwingt und damit die Gesellschaft
der Selbstbeobachtung durch Medien aussetzt. Und auch auf der Inputseite
ist die Vernetzung dicht und unentbehrlich; denn wie sollten die Medien
für ihre Berichte Glaubwürdigkeit und Authentizität gewinnen
können, wenn sie die Informationen nicht aus der gesellschaftlichen
Kommunikation selbst bezögen - mögen dies recherchierte Sachverhalte,
Indiskretionen, offizielle Pressemitteilungen oder was sonst noch sein.
(Ebd., S. 1102-1103.)
Dennoch ist die operative Schließung dieses Systems nicht
zu verkennen. Das System seligiert die eigenen Operationen nach Maßgabe
der binären Codierung Information/Nichtinformation. Es reagiert damit
ständig auf den eigenen Output: auf das, was es selbst erzeugt hat,
nämlich auf die Bekanntheit von Sachverhalten, die ausschließt,
daß dasselbe nochmals berichtet wird. Das System muß, da es
selbst Bekanntheit produziert, also Information vernichtet, ständig
selbst neue Information erzeugen, neue Überraschungswerte produzieren.
Und es grenzt sich allein schon durch die benutzte Verbreitungstechnik
gegen den diffusen Kommunikationsfluß der Gesellschaft ab. Die Technik
asymmetrisiert das System im Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt:
sie schließt für den Normalfall aus, daß die verbreiteten
Kommunikationen sofort beantwortet werden.
(Ebd., S. 1103.)
Abgesehen von dieser Besonderheit einer Steigerung von Geschlossenheit
und Offenheit, von Selbstisolierung und VernetzuIig, finden wir viele
Merkmale ausdifferenzierter Funktionssysteme auch bei den Massenmedien.
Ihre Funktion läge, historisch gesehen, im Ersatz dessen, was in
der alten Gesellschaft über (konkurrenzlose) Repräsentation
geregelt war, also in der Absorption von Unsicherheit bei der Herstellung
und Reformulierung von Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen.
(Ebd., S. 1103.)
Dabei wird die Verbindlichkeit, die strukturell nur auf Grund
von konkurrenzfreier Repräsentation möglich war, ersetzt durch
Instabilität. Statt der Monumente hat man jetzt nur noch die Momente,
in denen ein bestimmter Wissensstand unterstellt werden kann; statt des
Meinungswissens ein Informationswissen, das nicht angibt, wie man richtig
und konsensfähig handeln könne, aber vollauf ausreicht, um sich
selbst zu reproduzieren. Der Code des Systems besteht folglich in der
jeweils augenblicksbezogenen Differenz von Information und Nichtinformation,
die in ihrem zeitlichen Prozessiertwerden alles schon Bekannte zur Nichtinformation
werden läßt, die aber erinnert bleiben muß, soweit sie
zum Verstehen der neuen Information erforderlich ist. Die Programme des
Systems, die die Informationsauswahl steuern, findet man in den thematischen
Präferenzen und, auf höherer Aggregationsstufe, in den Thementypen,
die als Zeitungsseiten oder als Sendeperioden den Zugriff auf Information
erleichtern. Die Autopoiesis des Systems scheint darin zu liegen, daß
die hierfür in Betracht kommende Information rekursiv vernetzt ist
und nur so reproduziert werden kann. Ein hohes Maß an Reflexivität
- Berichte in den Medien berichten über Berichte in den Medien -
gehört zum Alltag. Information ist nur auf Grund des Informationsstandes
verständlich und ist als Vorinformation unerläßliche Bedingung
weiterer Teilnahme. Die jeweils aktuelle öffentliche Meinung, die
jeweilige thematische Bestimmung der Formen des Mediums, ist als Resultat
bisheriger Kommunikation Bedingung kühftiger Kommunikation. Ganz
typisch deshalb auch die Ereignishaftigkeit der Elemente des Systems,
deren Sinn in ihrem Verschwinden, in ihrer Ausgabe, in ihrem Beitrag zur
Reproduktion weiterer Elemente des Systems liegt - und nur darin. Und
schließlich kann, wie keines der Funktionssysteme, auch dieses nicht
auf die Einheit eines Organisationssystems reduziert werden, obwohl auch
hier, wie überall, Organisation eine unentbehrliche Rolle spielt.
(Ebd., S. 1104.)
Soweit eine in der Systemtheorie oft vertretene These zutrifft:
daß hochmobile Systeme mit rasch variierenden Strukturen besonders
geeignet sind, trägere Systeme zu steuern, liegen hier besondere
Chancen der Massenmedien. Unbestreitbar hat das Raffinement bei der Festlegung
von Realitäten durch die Massenmedien und wohl auch die Effektsicherheit
in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen, vor allem im Sektor Werbung.
Die Werbung mag zwar durch Hoffnung auf Verkaufserfolge motiviert sein.
Ihre latente Funktion liegt aber in der Erzeugung und Festigung von Kriterien
des guten Geschmacks für Leute, die von sich aus darüber nicht
mehr verfügen; also in der Belieferung mit Urteilssicherheit in bezug
auf die symbolischen Qualitäten von Objekten und Verhahensweisen.
Die Nachfrage findet man heute auch und vor allem in der oberschicht,
die durch schnelle Aufstiege und unregulierte Heiratspraktiken nicht mehr
weiß, wie sie als Vorbild wirken kann. Diese latente Funktion der
Werbung kann dann strategisch genutzt werden, um auf diese Weise den Absatz
zu fördern (*); aber sie wirkt natürlich
auch bei denen, die gar nicht kaufen. (* Daß
dies tiefreichenden Einfluß auf den Stil der Werbung hat, bedarf
kaum noch des Nachweises. Die eigentlich zu verkaufenden Objekte können
in den Hintergrund eines Prestige-setting gerückt werden. Und man
wird für Zigaretten auch dann noch werben können, wenn dies
verboten wird; denn man braucht nicht mehr explizit zu sagen, daß
und wofür man wirbt.)
(Ebd., S. 1104-1105.)
Trotzdem kann man daraus noch nicht auf »Manipulation der
öffentlichen Meinung« schließen - allein schon wegen
des Themenfilzes und der Mehrzahl von Selektionskriterien für Neuigkeiten.
Als System, also in ihrer Eigendynamik betrachtet, lassen die Massenmedien
sich kaum auf Verantwortung festlegen, was immer eine umfangreiche Diskussion
über journalistische Ethik ergeben mag. Ebensowenig läßt
sich aber präzisieren, was der Begriff des »Steuerns«
in diesem Zusammenhang besagt. Man kann nur feststellen, daß die
Beschreibungen der Welt und der Gesellschaft mit all ihren Funktionssystemen
durch das Funktionssystem der Massenmedien mobilisiert werden, so daß
Zeitdifferenzen eine vorherrschende Bedeutung gewinnen und jede Bestimmtheit
zeitlich situiert sein muß. Das Übermaß an Gedächtnis,
das Schrift, Buchdruck und modernere elektronische Speichertechniken mit
sich bringen, wird dadurch in gewisser Weise neutralisiert. Zugriffe bleiben
möglich, aber Orientierungen werden nur für den Moment festgelegt.
(Ebd., S. 1105-1106.)
An den Tag auf Tag und Tat auf Tat folgenden Mitteilungen der
Massenmedien kristallisiert das, was in der gesellschaftlichen Kommunikation
als »Wissen« behandelt werden kann. Anders gesagt: die tägliche
Unsicherheitsabsorption durch die Massenmedien erzeugt Tatsachen, die
dann in der weiteren Kommunikation als solche behandelt werden können.
Das läßt genug Raum für Kontroversen; aber selbst Kontroversen
sind dadurch bedingt, daß beide Seiten Wissen, wenn auch unterschiedliches
Wissen vertreten können. Tatsächlich nimmt jedoch, vor allem
auf Grund der wissenschaftlichen Forschung und allgemein mit zunehmender
Komplexität des Wissens, das Nichtwissen überproportional zu.
Darauf hinzuweisen, wäre Aufgabe eines Beobachters zweiter Ordnung,
der aber ebenfalls über Massenmedien kommunizieren muß und
sich deshalb genötigt sehen mag, sein Nichtwissen als »kritisches«
Wissen zu vertreten. Wir kommen darauf und auf die Rolle der Soziologie
in diesem Kontext zurück.
(Ebd., S. 1106.)
Fast unbemerkt, jedenfalls unvermeidlich kondensieren in diesem
Prozeß der laufenden Informationskommunikation Strukturen, die der
strukturellen Kopplung psychischer und sozialer Systeme dienen. Wir hatten
von Schemata oder, wenn Handlungen involviert sind, von Skripts gesprochen
(vgl.S. 110 f.). Das schließt die Bezeichnung
von »etwas als etwas« ebenso ein wie stark verkürzende
Kausalattributionen und wie eine pointierende Zuschreibung auf Intentionen,
die dazu verhelfen, Verhalten als Handlung zu beschreiben und gegebenenfalls
politisch oder moralisch zu bewerten. Solche Schemata lassen mehr oder
weniger offen, wie man sich zu den Informationen einstellt, was man erinnert
bzw. vergißt und ob man Reaktionen für angebracht hält
oder nicht; und »man« heißt in diesem Falle: Individuen
und soziale Systeme jeder Art. Es geht bei der öffentlichen Meinung
also nicht nur um eine ständig erneuerte und vergessene Riesenmenge
von Informationen, aber auch nicht um eine Prägung typischer Einstellungen.
Vielmehr besteht die strukturelle Komponente aus Schemata, deren Bekanntheit
und Verwendbarkeit man voraussetzen kann, wenn es darum geht, Kommunikation
in Gang zu bringen und weiterzuführen. Es geht, könnte man im
Anschluß an eine von Max Weber bis Alfred Schütz reichende
soziologische Tradition sagen, um die Reproduktion von Typen (stereotypisierten
Erwartungsmustern), die für das Verstehen von Handlungen bzw. Kommunikationen
unabdingbar sind und nicht allein schon durch die richtige Anwendung von
Wörtern oder grammatischen Regeln, also nicht schon durch die Sprache
selbst, gewährleistet sind.
(Ebd., S. 1106-1107.)
Massenmedien garantieren mithin, daß solche Schemata zugriffsbereit
verfügbar sind, und dies in einem Umfang und in einer Vielfalt, die
den Erfordernissen der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation entsprechen
und die bei Bedarf leicht variiert und neu kombiniert werden können.
Es geht um eine operative Bedingung der Fortsetzung von Kommunikation
unter hochkomplexen, rasch sich ändernden Bedingungen. Es geht nicht
um die Herstellung eines Mindestkonsenses in der Beschreibung von Realität.
Und gerade diese Kombination von Notwendigkeit und Unverbindlichkeit hat
zur Folge, daß diese Art der Produktion von Eigenwerten kaum auf
andere Weise durchgeführt werden kann. Jedenfalls nicht durch Wissenschaft,
deren Methodologie ja gerade darauf abzielt, Unterschiede der Beobachter
zu neutralisieren und eine (wie immer dann kritisierund überprüfbare)
Beschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt herzustellen.
(Ebd., S. 1107.)
Die öffentliche Meinung ist nach all dem weder die bloße
Mode der Meinungen, wie man im 17. Jahrhundert meinte; noch ist sie ,
das Medium rationaler Aufklärung oder die »puissance invisilble«,
von denen man im 18. Jahrhundert ein Sichherauslösen aus den Traditionen
erwartet hatte. (Siehe für das eine Argument,
das des Philosophen, Kants bekannte Antwort auf die Frage: Was ist
Aufklärung? [1784]. ....) Sie ist das Medium der Selbst-
und Weltbeschreibung der modernen Gesellschaft. Sie ist der »Heilige
Geist« des Systems, die kommunikative Verfügbarkeit der Resultate
von Kommunikation. Anders als in den Erwartungen des 18. Jahrhunderts
geht es also nicht mehr darum, die Einheit in der Einheit repräsentativ
(oder doch vernünftig, oder doch mächtig) zum Ausdruck zu bringen.
Es geht um das laufende Prozessieren struktureller Differenzen und semantischer
Unterscheidungen. Und erreicht wird damit hohe Irritabilität des
operativ geschlossenen Systems der Gesellschaft sowie hohe Eigenkomplexität
der jeweils relevanten Strukturen bei gleichzeitiger Absorption von Ungewißheit.
(Ebd., S. 1107-1108.)
Mit dieser Position der Massenmedien und der öffentlichen
Meinung wird es zu einem Problem für die Soziologie, ob und wie sie
sich an gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen beteiligen kann. Sie wird
neue Selbstbeschreibungen der Gesellschaft allenfaIIs anbrüten, nicht
aber durchsetzen können. Daß sie für ihren Hausgebrauch
Theorien produzieren, zerstören und neu produzieren kann, versteht
sich von selbst. Aber das wäre nur ein Beitrag zu ihrer eigenen Autopoiesis,
nur die Operation des Subsystems Soziologie des Subsystems Wissenschaft
des Gesellschaftssystems. Ein Überschreiten dieser Beschränkungen
wird oft von den »Intellektuellen« erwartet. (....
Eine bemerkenswert kritische Reflexion dieses Syndroms findet man im Spätwerk
von Helmut Schelsky, und dies mit jener Mischung von Reflexionskultur
und auf Darstellung der Reflexion verzichtender Polemik, die nach herrschenden
Denkgewohnheiten als »konservativ« gilt. VgI. besonders Helmut
Schelsky, Die Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und Priesterherrschaft
der Intellektuellen, 1975.) In der Praxis wird ein solches Programm
dann freilich eher von soziologischen Schriftstellern eingelöst.
(Ebd., S. 1108-1109.)
Die Experimente, die in dieser Richtung unternommen worden sind,
zeigen zugleich, daß es so nicht geht. Wenn die Soziologie eine
Gesellschaftstheorie anbietet, kann sie dies nur in Reflexion ihrer eigenen
Lage tun, also nur als fachgebundene Eigenleistung, die den Kriterien
des eigenen, operativ geschlossenen Systems zu genügen hat. Wie gerade
die Selbstreflexion der Soziologie zeigt, ist und bleibt auch dies ein
gesellschaftliches Beobachten und Beschreiben; denn es bedient sich der
Kommunikation. Es ist ohne weiteres Selbstbeschreibung der Gesellschaft,
aber eben eine Selbstbeschreibung, die durch besondere Systemgrenzen geschützt
ist, sich deshalb besonderer Formen, also besonderer Unterscheidungen
bedient und, anders als die öffentliche Meinung, auch dies noch reflektiert.
(Ebd., S. 1109.)
Die damit verfügbaren Möglichkeiten werden mißverstanden,
sie werden jedenfalls zu eng interpretiert, wenn die Soziologie sich daraufhin
als Oppositionswissenschaft begreift und sich damit im Streit der progressiven
und konservativen Ideologien auf die eine Seite schlägt. Das kann
nur dazu führen, daß die Einheit der Differenz erneut unreflektiert
bleibt. Wenn die Soziologie sich als »kritische« Wissenschaft
begreift, kann damit dieselbe Schwäche gemeint sein. Aber »kritisch«
kann auch, dem, ursprünglichen Wortsinne näherkommend, bedeuten,
daß die Soziologie in der Lage sein muß, zu unterscheiden
und den Gebrauch von Unterscheidungen zu reflektieren. Und damit sind
wir erneut beim Begriff des Beobachters angelangt.
(Ebd., S. 1109.)
Es gibt in allen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen
... zwei Blindheiten, die miteienander korrespondieren: die alle Unterscheidungen
transzendierende Welteinheit und der jeweils fungierende Beobachter.
(Ebd., S. 1110.)
Das Problem liegt jeweils im Rücken, und es läßt
sich verschieben, wenn sich Beobachter finden, die andere Beobachter beobachten.
Die Verschiebung kann in der Zeitdimension und in der Sozialdimension
erfolgen. Man sieht später, was bei früheren Beobachtungen ausgeblendet
war, oder andere sehen es. Auch für die Beobachtung zweiter Ordnung
gilt natürlich, was für jede Beobachtung gilt. Aber eben deshalb
kann es auch hier wieder zu Verschiebungen .... kommen. Das Problem liget
also eher in der gesellschaftlichen Institutionalisierung dr Praxis des
Beobachtens zweiter Ordnung. Daß dies in der modernen Gesellschaft
üblich geworden ist, läßt sich vielfältig und vor
allem für die verschiedenen Funktionssysteme belegen. Es bleibt nur
zu erkennen, daß hier eine Alternative zu metaphysischen Letztbegründungen
- schon etabliert ist.
(Ebd., S. 1113.)
In den an Fichte anschließenden Überlegungen der Romantiker
warenbereits nicht mehr nur subjektive Kandidaturen angemeldet worden.
Eine der Möglichkeiten war, neben Sprache, Poesie. Von da aus machten
Alternativen eine schlechte Figur. Bei August Wilhelm Schlegel liest man
zum Beispiel: »Wenn man sich aber die gesamte Natur als ein selbstbewußtes
Wesen denkt, wie würde man die Zumutung finden: sich selbst vermittels
der Experimentalphysik zu studieren?« (Die
Antwort lautet: »blindes Tappen. Siehe August Wilhelm Schlegel,
Die Kunstlehre [Teil I der Vorlesungen über die Schöne
Literatur und Kunst, 1801 ff.], a.a.O., S. 49. ....) Im 20.
Jahrhundert ist dagegen die Physik geradezu das Paradebeispiel für
unser Problem. Für die Physik dieses Jahrhunderts ist klar, daß
die Selbstbeobachtung der Welt auf physikalische Instrumente, darunter
lebende Physiker, angewiesen ist, die die Operation der Selbstbeobachtung
erst ermöglichen - und zugleich irritieren. Diese Erfahrung - man
kann es so nennen - bestätigt und überbietet alles, was die
Subjektphilosophie und die Sprachphilosophie ins Auge gefaßt hatten.
Als Form der Selbstbeschreibung erfordert sie Mathematik, die sich dieser
Aufgabe anpassen muß. Als Form der Reflexion erfordert si~ ein Beobachten
des Beobachtens, ein Beobachten zweiter Ordnung.
(Ebd., S. 1115.)
Das hat, will man sich nicht blind stellen, Konsequenzen auch
für eine Soziologie, die als Gesellschaftstheorie auftreten will,
also als eine Theorie des Welt beschreibenden Gesellschaftssystems. Auch
sie muß durchdenken, was sie tut, wenn sie beobachtet und beschreibt,
wie in der Gesellschaft die Gesellschaft selbst und mit ihr die Welt der
Gesellschaft beobachtet und beschrieben wird. Und das sprengt den Traditionsrahmen
all dessen, was als soziologische »Kritik« der Gesellschaft
vertreten worden ist.
(Ebd., S. 1115.)
Die kritische Soziologie hatte Attitüden des Besserwissens
angenommen. Sie gerierte sich als konkurrierender Beschreiber mit tadelfreien
moralischen Impulsen und besserem Durchblick. Wie immer vorsichtig formuliert
und wie immer den Anforderungen an Wissenschaftlichkeit zu genügen
bestrebt: ihre Perspektive war die eines Beobachters erster Ordnung. Sie
bot eine konkurrierende Gesellschaftsbeschreibung an und stand damit vor
der Aufgabe, sich zu erklären, weshalb andere diese Auffassung nicht
teilten, sondern im Verblendungszusammenhang ihrer Interessen die Gesellschaft
anders beschrieben, etwa als commercial society. Ihre Erklärungsbegriffe
waren daher nicht frei von diffamierenden Intentionen. (So
- von Marx bis Adorno - »Fetischismus ....) Damit war jedoch
schon eine ambivalente, auf Dauer nicht haltbare Position erreicht. Das
Beschreiben dessen, der gesellschaftskonform, konservativ, affirmativ
usw. denkt, und die Erklärung, weshalb er dies tut, ja tun muß,
kompensierte in gewisser Weise das Stagnieren eigener Theorieentwicklung.
Ideologiekritik wurde Schwerpunkt, und in gewissem Umfange verlagerte
sich die eigene Gesellschaftsbeschreibung auf die Bemühung, zu erklären,
auf Grund welcher gesellschaftlicher Bedingungen andere nicht in der Lage
sind, die Gesellschaft (inklusive sich selber) so zu beschreiben, wie
es von den Kritikern für richtig gehalten wurde. Und in dem Maße,
in dem konservative Einstellungen (das heißt: Einstellungen gegen
die Ideen der französischen Revolution) an Überzeugungskraft
verloren, und in dem Maße, in dem die Vorstellungswelt des Liberalismus
durch Übertragung auf wirtschaftliche Sachverhalte an dynamischer
Stabilität gewann, nahm diese Faszination der Kritiker durch ihre
Gegner zu. Sie mußten schließlich das Etikett »neokonservativ«
erfinden, um ihre Gegner zu formieren und sich selbst das Geschäft
der Kritik zu ermöglichen. Die Dauerproduktion von Dissens im Blick
auf vernünftige Verständigung, und wer wird hier nicht an das
intellektuelle Schicksal von Jürgen Habermas denken, ist die konsequente
Endposition dieser großen bürgerlichen Tradition von Krise
und Kritik. (Ebd., S. 1115-1116.)
Die Kritik (im geläufigen Verständnis) setzt eine Diagnose
der Gesellschaft voraus, die diese beschreibt als in einer Krise befindlich.
Krisen sind vorübergehende Zustände. Man muß die Hoffnung
nicht aufgeben. Die krisenhaften Erscheinungen der Gegenwart werden auf
Fehlentwicklungen, vor allem Industriekapitalismus, zurückgeführt,
die man korrigieren kann. Es muß gleichsam eine gute Gesellschaft
hinter der Gesellschaft geben, auf die man Strukturen und Effekte zurückdirigieren
kann, um in eine bessere Zukunft zu gelangen. Noch in den 1970er Jahren
konnte man lesen, daß die ökologischen Probleme der modernen
Gesellschaft ein Phänomen kapitalistischer Gesellschaften seien und
unter sozialistischen Bedingungen nicht auftreten würden. In dem
Maße jedoch, in dem die moderne Gesellschaft den Erfahrungen. mit
sich selber realistisch Rechnung zu tragen lernt, verschwindet diese Doppelung
der Zurechnungsebenen und mit ihr verschwindet die Krise. Bei allen Schwierigkeiten
und bei allen, bei weitem nicht ausgeschöpften Möglichkeiten
der Korrektur müssen wir mit der Gesellschaft zurechtkommen, die
als Resultat von Evolution entstanden ist. Und selbst der Utopiebedarf
ist noch dieser Gesellschaft zuzurechnen. (Ebd., S. 1116-1117.)
Die Beobachtung solcher Sachlagen erfordert eine Position dritter
Ordnung, die sich jedoch nicht prinzipiell (sondern nur in ihrer Reflektiertheit)
von einer Position des Beobachtens zweiter Ordnung unterscheidet. Es handelt
sich nicht nur um ein Kettenphänomen, nicht nur darum, daß
A beobachtet, wie B C beobachtet, oder Habermas beschreibt, wie Hegel
Kant beschreibt; sondern um eine Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit
der Beobachtung zweiter Ordnung und ihrer Folgen für das; was dann
noch gemeinsame Welt oder Beschreibungen ermöglichende Gesellschaft
sein kann. Es liegt nahe, in dieser Situation, gleichsam als Weiterentwicklung
der kritischen Soziologie, die mit »Kritik« bezeichnete Unterscheidung
durch die Unterscheidung von Beobachtern zu ersetzen. Das wiederum setzt
die Einsicht voraus, daß es sich bei allem Beobachten und Beschreiben
(auch bei dem zweiter und dritter Ordnung) um kontextabhängige Realoperationen
handelt. Auch ein Beobachter zweiter Ordnung ist immer ein Beobachter
erster Ordnung insofern, als er einen anderen Beobachter als sein Objekt
herausgreifen muß, um durch ihn (wie immer kritisch) die Welt zu
sehen. Das zwingt ihn zum autologischen Schluß, das heißt:
zur Anwendung des Begriffs der Beobachtung auf sich selber. Der Beobachter
ist eben kein Subjekt mehr mit transzendental begründeten Sonderrechten
im Safe; er ist der Welt, die er erkennt, ausgeliefert. Ihm ist keine
Selbstexemption gestattet. Er muß sich auf der Innenseite oder auf
der Außenseite der Form, die er benutzt, verorten. Er ist selbst,
sagt Spencer Brown, ein »mark«.
(Ebd., S. 1117-1118.)
Denn jede Weltbeobachtung findet in der Welt statt, jede Gesellschafsbeobachtung,
wenn sie als Kommunikation vollzogen wird, in der Gesellschaft. Die Gesellschaftskritik
ist Teil des kritisierten Systems, sie läßt sich inspirieren
und subventionieren, sie läßt sich beobachten und beschreiben.
Und es kann unter heutigen Bedingungen schlicht peinlich wirken, wenn
sie bessere Moral und bessere Einsicht für sich reklamiert.
(Ebd., S. 1118.)
Eine weitere Konsequenz liegt in der Instrumentenabhängigkeit
jeder Beobachtung -bis hin zur Quantenphysik. Das heißt auch, daß
Selektion unumgänglich und Vollständigkeit ausgeschlossen ist.
Weder in der Fremdbeobachtung noch in der Selbstbeobachtung kann die gesamte
Realität eines aUtopoietischen Systems erfaßt werden. Andererseits
kann ein Beobachter (und wieder: in beiden Arten) Regelmäßigkeiten
feststellen, die nicht zu den Vollzugsbedingungen der Autopoiesis des
Systems gehören. Man braucht keine Grammatik zu kennen, um sprechen
zu können; aber ein Beobachter kann entsprechende Regeln erkennen.
Dasselbe gilt für Regelmäßigkeiten in den Außenbeziehungen
des Systems, für sein äußeres Erscheinungsbild, für
Inputs und Outputs. In all diesen Hinsichten ist auch die Soziologie als
Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft ihrem Gegenstand, was dessen
Autopoiesis betrifft, überlegen, aber autopoietisch redundant. Wenngleich
ihr Wissen gesellschaftliches Wissen ist und bleibt, weiß die Soziologie
mehr, als eine Gesellschaft ohne Soziologie wissen würde. Um dies
zu benennen, hat Paul Lazarsfeld den Begriff latent structure analysis
eingeführt und zur Methodologie empirischer Sozialforschung in Verbindung
gesetzt.
(Ebd., S. 1118.)
Latenz, in diesem Verständnis ist der Beobachtungsbereich
eines Beobachters erster Ordnung, der mehr als bisher über seinen
Gegenstand wissen möchte. Das ist im sogenannten »Positivismusstreit«
als unzulänglich kritisiert worden. (Siehe
Theodor W. Adorno et al., Der Postivismusstreit in der deutschen Soziologie,
1969. Im Text distanzieren wir uns von dieser Kontroverse, ohne ihre Thematik
für unerheblich zu halten. Sie ist nur als Kontroverse nicht sinnvoll.
Das Problem der »Dialektik« ausklammernd, reduzieren wir den
Unterschied auf die Differenz von Beobachtung erster und zweiter Ordnung
und ein entsprechend unterschiedliches Verständnis von Latenz, Kritik,
Aufklärung.) Wie immer man darüber urteilen mag: es gibt
jedenfalls auch die Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung,
der Beobachtung der Gesellschaft als eines beobachtenden Systems. Auch
für den Beobachter zweiter Ordnung gilt, daß er weniger und
anderes sehen kann als der beobachtete Beobachter. Für ihn gewinnt
daher auch der Begriff der Latenz einen anderen Sinn, bezogen nämlich
auf den blinden Fleck des beobachteten Beobachters, auf das, was er nicht
sehen kann. Und das, was in der Gesellschaft als natürlich und notwendig
gilt, wird in dieser Perspektive etwas Artifizielles und Kontingentes.
Aber daraus folgt nicht, daß man auch sagen könnte, wie es
anders zu machen wäre. (Ebd., S. 1118-1119.)
Versteht die Soziologie sich als »kritisch« in diesem
Sinne, folgt sie damit nicht notwendigerweise den Direktiven der »Frankfurter
Schule«. Sie kann die bloße Konfrontation, die Ablehnung von
»Kapitalismus«, »System«, »Klassenherrschaft«
vermeiden, die in einer Negation ohne Alternativkonzept stecken bleibt.
Auch wenn man Latenzen, Ideologien, Vordergründigkeiten und Sichtunmöglichkeiten
der gesellschaftlichen Selbstbeobachtungen miteinschließt, und auch
wenn man sieht, daß die Strukturen des Gesellschaftssystems zu kaum
erträglichen Folgen führen (siehe für
ein Beispiel: Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986),
liefert eine solche Beschreibung kein Rezept für die Herstellung
eines anderen Gegenstandes Gesellschaft, sondern nur eine Verlagerung
von Aufmerksamkeiten und Empfindlichkeiten in der Gesellschaft. Nimmt
man »kritisch« in diesem Sinne; heißt das zunächst,
daß die Soziologie die Position eines Beobachters zweiter Ordnung
einnimmt. Sie hat es mit einer Beobachtung von Beobachtern zu tun. Das
schließt, wie bereits bemerkt, eine »autologische« Theoriekomponente
ein. Denn der Gegenstand dieses Beobachtens ist das Beobachten, und es
ist eine zweite Frage: ob fremdes Beobachten oder eigenes. Ferner führt
dieses Programm unausweichlich zu einem »konstruktivistischen«
Wissenschaftsverständnis. ( Die heutige Wissenschaftssoziologie
ist ohnehin auf diesem Weg. ....) Eine Wissenschaft, die sich selbst
als Beobachtung zweiter Ordnung begreift, vermeidet Aussagen über
eine unabhängig von Beobachtungen gegebene Außenwelt, und sie
findet die Letztgarantie des Realitätsbezugs ihrer Kognition allein
in der Faktizität ihres eigenen Operierens und in der Einsicht, daß
dies ohne hochkomplexe Voraussetzungen (wir hatten von strukturellen Kopplungen
gesprochen) gar nicht möglich ist. Es wäre mithin verfehlt,
hier die Gefahr eines »Solipsismus« zu wittern. Das Korrektiv
liegt in der Beobachtung zweiter Ordnung selbst, nämlich in der »autologischen«
Komponente der Erkenntnis und in der Einsicht, daß alles Erkennen
Unterscheidungsgebrauch ist und insofern - nur insofern! - stets eine
Eigenleistung des Systems. Nicht einmal das hier diskutierte Problem könnte
formuliert werden, wenn es nicht die Unterscheidung von Selbstreferenz
und Fremdreferenz gäbe; und diese Unterscheidung kann, wie sich schon
aus der Formulierung ergibt, nur im System selbst und nur ohne jedes Korrelat
in der Umwelt getroffen werden.
(Ebd., S. 1119-1120.)
Der Beobachter erster Ordnung, hier also die normale gesellschaftliche
Kommunikation, beobachtet die Welt, um eine Formulierung Maturanas aufzugreifen,
in einer »Nische« (*), und für
ihn ist daher die Welt ontisch gegeben. (* Mit Bezug
auf Organismen formuliert Maturana [a.a.O.]: »Mit Bezug auf den
Beobachter erscheint die Nische daher als ein Teil der Umwelt, für
den beobachteten Organismus stellt die Nische hingegen den gesamten ihm
zugehörigen Interaktionsbereich dar, sie kann daher als solche nicht
Teil einer Umwelt sein, die ausschließlich im kognitiven Bereich
des Beobachters liegt. Nische und Umwelt überschneiden sich daher
nur in dem Maße, in dem der Beobachter (einschließlich seiner
Instrumente) und der Organismus vergleichbare Organisationen besitzen.«
Bei der Übernahme dieser Unterscherdung in die Soziologie ist hinzuzufügen,
daß die Kognitionen des Beobachters erster und zweiter Ordnung sich
immer im Medium Sinn formieren und daß die Überschneidung ihrer
Kognitionsbereiche dadurch gewährleistet ist, daß beide Beobachter
Kommunikationen als Beobachtungsoperationen benutzen.) Seine Philosophie
wäre eine Ontologie. Der Beobachter zweiter Ordnung kann dagegen
eine System/Umwelt-Beziehung erkennen, die in der für ihn gegebenen
Welt (in seiner Nische) auch anders organisiert sein könnte. Was
der Beobachter erster Ordnung sieht und was er nicht sieht, hängt
für den Beobachter zweiter Ordnung davon ab, welche Unterscheidungen
der Beobachtung zu Grunde gelegt werden; und das können immer auch
andere Unterscheidungen sein.
(Ebd., S. 1120-1121.)
Dies gilt für jede Beobachtung, also auch für die Beobachtung
zweiter Ordnung. Jede Beobachtung benutzt eine Unterscheidung, um etwas
(aber nicht: die Unterscheidung selbst) zu bezeichnen. Jede Beobachtung
benutzt, mit anderen Worten, die operativ verwendete Unterscheidung als
blinden Fleck, denn anders wäre sie nicht in der Lage, etwas herauszugreifen,
um es zu bezeichnen. Und auch das gilt für die Beobachtung zweiter
Ordnung, die einen Beobachter (und nichts anderes) herausgreift, um ihn
zu beobachten. In dem Maße, in dem Theorien in diesem Sinne radikal
konstruktivistisch überarbeitet werden, muß die Voraussetzung
einer strukturellen Latenz durch die Voraussetzung einer operativen
Latenz ersetzt werden. Das heißt für die Ebene der Beobachtung
zweiter Ordnung, daß notwendige Latenz kontingent wird (*),
nämlich wählbar wird und immer auch anders möglich ist
- je nachdem, welche Unterscheidung der Beobachtung zugrundegelegt wird.
(* Daß man sich hier, in der Beschreibung
dritter Ordnung, auf eine Paradoxie einlassen muß, ist leicht zu
erkennen, wenn man bedenkt, daß Kontingenz durch Negation von Notwendigkeit
definiert wird. Und ebenso deutlich wird, daß wir uns in einer supramodalen
Sphäre befinden, die einst ausschließlich für Gott reserviert
war.)
(Ebd., S. 1121-1122.)
Was Selbstbeschreibungen des Gesellschaftssystems angeht, also
des Systems, das in sich selbst Beobachtung erster und Beobachtung zweiter
Ordnung ermöglicht, führt der Übergang von der ersten zur
zweiten Ebene dazu, die Realität als kontingent, als auch anders
möglich zu beschreiben. ( Kein Zufall also,
daß die These der Kontingenz der Welt zuerst in der Theologie formuliert
worden ist, nämlich als Resultat der Bemühungen, Gott als Schöpfergott,
also als Beobachter zu beobachten. Dabei bot jedoch der Gedanke an Gott
als den Erstbeobachter, der sich selbst nicht unterscheiden muß,
um beobachten zu können, besondere Garantien, die aufgegeben werden
müssen, wenn man die Position des Erstbeobachters mit normalen empirischen
Systemen besetzt denkt.) Die Selbstbeschreibung endet für
den Beobachter erster Ordnung mit Angaben über invariante Grundlagen,
über die Natur und über Notwendiges. Heute nimmt der Wertbegriff,
der Superunbezweifelbares symbolisiert, diesen Platz ein. Für den
Beobachter zweiter Ordnung erscheint die Welt dagegen als Konstruktion
über je verschiedenen Unterscheidungen. Ihre Beschreibung ist infolgedessen
nicht notwendig, sondern kontingent, und nicht mit Bezug auf Natur richtig,
sondern artifiziell. Sie ist selbst ein autopoietisches Produkt. Dabei
wird (und darin liegt die autologische Komponente) die Differenz von notwendig/kontingent
und von natürlich/artifiziell nochmals reflektiert und auf die Unterscheidung
von Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung zurückgeführt,
Die Ambition einer gemeinsamen Grundlage, eines Grundsymbols, eines Abschlußgedankens
muß aufgegeben -bzw. den Philosophen überlassen werden. Die
Soziologie findet, jedenfalls auf diesem Wege, nicht zu dem, was Hegel
»Geist« genannt hatte. Sie ist keine Geisteswissenschaft.
(Ebd., S. 1122.)
Im heutigen Kontext werden die damit angedeuteten Unterschiede
hauptsächlich am Wertbegriff diskutiert. Es versteht sich von selbst,
daß keine Wissenschaft und auch nicht die Soziologie eine wertlose
Kommunikation produzierenwill; und zumindest in diesem Sinne gibt es keine
»wertfreie« Wissenschaft. Aber was sonst ist mit dieser Formulierung
gemeint? Auch diese Frage klärt sich, wenn »man Beobachten
erster und Beobachten zweiter Ordnung unterscheidet. Der Beobachter erster
Ordnung beobachtet mit Hilfe von Werten. Seine jeweiligen Werte machen
für ihn den Unterschied, der sein Erkennen und Handeln steuert. Der
Beobachter zweiter Ordnung bezieht die Semantik der Werte auf ihre Verwendung
in der Kommunikation. Erkann zum Beispiel erkennen, daß über
die Bezugnahme auf Werte weder Entscheidungen abgeleitet noch Konflikte
vermieden werden können. Vor allem aber sieht er, wie die Unbezweifelbarkeit
der Werte in der Kommunikation produziert wird, nämlich dadurch,
daß nichtdirekt, sondern indirekt, nicht über sie, sondern
mit ihnen kommuniziert wird. Man teilt ja nicht mit, daß man für
Gerechtigkeit, Frieden, Gesundheit, Erhaltung der Umwelt usw. sei, um
damit die Möglichkeit zu eröffnen, auf diese Mitteilung mit
Annahme oder mit Ablehnung zu reagieren; sondern man sagt nur, was man
für gerecht und was man für ungerecht hält. Die Geltung
des Wertes wird vorausgesetzt und hat allein in diesem Modus der Kommunikation
ihre täglich erneuerte Unbezweifelbarkeit. (
Hierzu ausführlicher: S. 340 ff.)
(Ebd., S. 1122-1123.)
In der Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung wird also nicht
etwa »wertfrei« argumentiert. Man ersetzt nur die wertende
Unterscheidung, die in Bezug auf sich selbst blind operiert, durch die
Unterscheidung Wertgeltung/Kommunikation. Auch diese Unterscheidung funktioniert,
wie der autologische Rückschluß lehrt, blind; und es kann sein,
daß sie sich in der Forschungspraxis nicht bewährt und durch
eine andere Unterscheidung ersetzt werden muß. Im Kontext der Kommunikation
gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen wird damit eine Distanz zu den
unmittelbaren Wertengagements in der Gesellschaft erzeugt, die es der
Soziologie ermöglicht, sich innerhalb ihres operativ geschlossenen
Systems am Netzwerk der eigenen Kommunikation auszurichten.
(Ebd., S. 1123.)
Was die Soziologie zusätzlich tun kann, ist: die strukturellen
Bedingungen für ihre Position als Beobachter zweiter Ordnung zu reflektieren.
Sie liegen, wie leicht zu sehen, in der funktionalen Differenzierung des
Gesellschaftssystems. Durch funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems
wird jedem Funktionssystem die Einrichtung einer eigenen Autopoiesis ermöglicht.
Zugleich wird die Position eliminiert, die als die »herrschende«
für alle sprechen konnte. Dadurch entsteht jener logische Strukturreichtum,
der, wenn man ihn an traditionalen Erwartungen mißt, als Relativismus
oder als Pluralismus beschrieben wird. Vor allem gewinnen und reproduzieren
die Funktionssysteme damit eigene Grenzen, die es ihnen ermöglichen,
die Gesellschaft durch die Unterscheidung von Selbstreferenz u.nd Fremdreferenz
zu rekonstruieren, bezogen auf das jeweils eigene Funktionssystem. Unter
diesen Rahmenbedingungen operiert auch die Wissenschaft und speziell die
Soziologie. Soziologie kann in ihrer Gesellschaftsbeschreibung miterfassen,
daß sie ihrerseits in der Gesellschaft durch die Gesellschaft ermöglicht
wird.
(Ebd., S. 1123-1124.)
Das führt schließlich auf die Frage zurück, wie
es in einem Kommunikationszusammenhang auf der Ebene der Beobachtung zweiter
Ordnung zu Stabilitäten kommen kann. Während der Beobachter
erster Ordnung voraussetzt, daß es eine geordnete Welt gibt, die
eindeutige Merkmale hat, die man richtig oder falsch beschreiben kann,
muß der Beobachter zweiter Ordnung auf diese logisch-ontologische
Annahme verzichten. Er muß voraussetzen, daß die Welt diverses
Beobachten toleriert, und zwar so, daß das, was sie bei unterschiedlichen
Unterscheidungen zeigt, nicht immer als Irrtum der einen oder der anderen
Beobachtung eliminiert werden kann. Legt man die allgemeine Theorie rekursiver
Operationen zu Grunde, kann man dies Problem als Frage nach den »Eigenwerten«
des Systems formulieren. Die relativ invariante Objektwelt und die Regelmäßigkeiten
(Erwartbarkeiten) ihrer Variation werden nun beobachtbar als »Eigenwerte«
des Systems, das sie konstruiert. Das Problem verschärft sich, wenn
man Latenzbeobachtungen einbezieht. Dann kann man wissen, daß man
sich über Phänomene nicht mehr verständigen kann, und muß
folglich Sprachformen entwickeln, die trotzdem eine Fortsetzung der Kommunikation
ermöglichen. Hierfür könnte der Übergang von Substanzbegriffen
zu Funktionsbegriffen einen Anhaltspunkt bieten.
(Ebd., S. 1124-1125.)
Man könnte formulieren: die Funktion der Funktion ist die
Funktion - um deutlich zu machen, daß es sich um eine Form handelt,
die universell und also auch selbstreferentiell praktiziert werden kann.
Im weiteren können sich dann nur noch Fragen der Ergiebigkeit, der
Opportunität usw. stellen, nicht aber Fragen der Bedingungen der
Möglichkeit. Es handelt sich um ein durch Problembezug eingeschränktes
Vergleichsverfahren, das für praktische wie für theoretische
Zwecke geeignet ist. Es eignet sich in der Form der Frage nach latenten
Funktionen besonders gut füreine Beobachtung dessen, was andere nicht
beobachten können. Es kann auch offen bleiben, ob die funktionale
Betrachtungsweise »kritisch« gemeint ist, das heißt
hier: zur Ablehnung aufrufen soll, oder nicht. Dem Beobachter bleibt diese
Einschätzung überlassen, sofern er selbst mit der Unterscheidung
kritisch/affirmativ beobachten will.
(Ebd., S. 1125.)
Dieser Hinweis auf die Funktion der Funktion, Eigenwert zu sein
in einem autopoietischen Kommunikationszusammenhang auf der Ebene der
Beobachtung zweiter Ordnung, ist exemplarisch zu verstehen. Exemplarisch
und auch historisch. Es ist so gekommen. Man kann aus dem bloßen
Vorkommen rekursiver Operationen auf dieser Ebene der Selbstbeschreibung
nicht schließen, daß und welche Eigenwerte sich finden lassen.
Es ist auch schwer, sie zu entdecken, wenn gleichzeitig immer auch ein
Beobachten erster Ordnung mitläuft, das die Welt als Welt der Dinge
aufnimmt. Und es mag andere Eigenwerte geben, zumal selbstreferentielle
Unabdingbarkeiten sich auch sonst nachweisen lassen, etwa beim Begriff
des Nutzens in der Frage nach dem Nutzen der Ablehnung der Reflexion des
Nutzl:ns und vor allem bei der Umarbeitung des Begriffs der Vernunft aus
einem naturalen, den Menschen vom Tier unterscheidenden Phänomen
in ein transzendentales, sich selbst einsichtig machendes. All dies sind
geordnete Rücksichtslosigkeiten, die es ermöglichen, die Kommunikation
über die Gesellschaft in der Gesellschaft fortzusetzen, auch wenn
man auf eine einhellige Erfassung des Objekts verzichten muß und
folglich gerade diesen Verzicht zu reflektieren hat. Wenn es aber zutrifft,
daß die Eigenwerte der modernen Gesellschaft letztlich in Funktionsangaben
liegen und daß Selbstbeschreibungen sich folglich an der Funktion
der Selbstbeschreibung orientieren, ist der Seitenblick auf andere Möglichkeiten
stets eingebaut. Und das heißt nicht zuletzt: daß sich neue
Anforderungen an die Präzision von Beschreibungskonzepten ergeben,
die es trotzdem ermöglichen, sich über Probleme und funktionale
Äquivalenzen zu verständigen und Meinungsverschiedenheiten zu
erhalten, ohne dem Belieben die Tür zu öffnen.
(Ebd., S. 1125-1126.)
Hierzu könnte man schließlich Überlegungen heranziehen,
die in der Semiotik und der Texttheorie entstanden sind. Linguistische,
konstruktivistische und dekonstruktivistische Techniken der Textanalyse
sind inzwischen so weit fortgeschritten, daß sie einer Soziologie
gefährlich werden könnten, die ihren Realitätsbegriff über
metaphysische Prämissen festlegt. Der Ausgangspunkt dieser Kritik
war die Problematisierung der Möglichkeit einer Beziehung von Zeichen
zur Außenwelt gewesen. Das hat zur Reformulierung des Realitätsbegriffes
geführt. Wenn Realität nach wie vor als Widerstand gegen beliebige
Thematisierungen begriffen werden soll - und welchen anderen Realitätsbegriff
hätten wir? - dann muß es sich um Widerstand von Zeichen gegen
Zeichen, von Sprache gegen Spt:ache, von Kommunikatioh gegen Kommunikation
handeln. Das heißt: um rekursiv gebildete Komplexität. Das
System testet, so gesehen, an selbsterzeugter Ungewißheit und an
selbsterzeugtem Widerstand im laufenden Operieren das, was es von Moment
zu Moment als Eigenwert behandeln kann. Will man dem innerhalb soziologischer
Theoriekonstruktionen Rechnung tragen, muß auch die Gesellschaftstheorie
auf Selbstreferenzkonzepte umgestellt werden.
(Ebd., S. 1126-1127.)
Die moderne Gesellschaft ist, wie der Gott des Aristoteles, mit
sich selber beschäftigt. Sie tut, wie der Gott der Christen, alles,
was sie tut, um ihrer selbst willen. Im Unterschied aber zur alteuropäischen
Semantik, die solche Figuren der geschlossenen Selbstreferenz in die Transzendenz
verlagert und ihnen die Qualität des unbedingt Guten zugesprochen
hatte, um die gelegentliche Korruption oder sogar die prinzipielle Verderbtheit
der Natur (und in ihr: der Gesellschaft) dagegen ins Profil zu setzen,
hält die selbstreferentiell geschlossehe Gesellschaft der Moderne
sich selbst für mangelhaft, für kritikbedürftig, für
verbesserungsfähig und dann wieder: für an Aufklärung leidend.
Und während die alte Welt meinte, sich mit den Augen des primärbeobachters
Gott beobachten oder, wenn dessen Kriterien (unterscheidet er überhaupt?)
nicht deutlich wurden, in Spiegeln auf Besseres hin beobachten zu können,
ist die moderne Gesellschaft vor allem mit ihrer eigenen Misere beschäftigt.
Sie kann sich nur selber zu Hilfe kommen. Aber sie kommt im Beobachten
ihres Beobachtens immer nur auf den Punkt, an dem etwas auszusetzen ist
-und sei es schließlich auf den Zentralpunkt, an dem das Gute und
das Schlechte fusionieren: daß man beobachten kann, daß der
Beobachter nicht beobachten kann, wie er beobachtet. Die eigentümliche
Ausnahmslosigkeit dieser Struktur präsentiert sich nicht mehr in
der Ferne, nicht mehr in der Form eines unbedingt existierenden Wesens.
Sie liegt für uns in der Operation des Beobachtens selber, in der
Angewiesenheit auf Sinn als Medium, das nur selektiv, nur für Formbildung,
nur mit Hinweis auf etwas anderes benutzt werden kann. Und man hat keinen
Grund mehr, dies zu beklagen. Denn es würde ja auch für das
Beklagen selber gelten.
(Ebd., S. 1127-1128.)
Man kann heute vielleicht davon ausgehen, daß
der dürre veri-/falsifikationistische Stil des logischen Positivismus,
der alle anderen Ausdrucksformen als Poesie oder Metaphysik deklassiert,
sich nicht eignet. Abgesehen davon, daß er philosophisch und erkenntnistheoretisch
nicht länger gedeckt ist, bringt er gerade zum Ausdruck, daß
er sein Objekt vor sich, also außer sich sieht. Man kann dann aber
immer noch wählen, ob man Darstellungsformen bevorzugt, die Betroffensein
und Mitleiden zum Ausdruck bringen, was ohne Parteinahme in der Sache
selbst kaum möglich ist, oder ob man die Reflexionsform der (romantischen)
Ironie bevorzugt, die das Verwickeltsein in die Angelgenheiten trotz allem
als Distanz zum Ausdruck bringt.
(Ebd., S. 1129.)
Die Moral hat ja auch eine schlechte Seite,
fordert dann aber als Moral, daß man sich gegen das Schlechte wendet
....
(Ebd., S. 1130.)
Wir gehen davon aus (vgl.
Kapitel 1, III), daß alle Kommunikation im Medium Sinn operieren
muß. Das heißt, extrem verkürzt gesagt, daß jede
Operation, wenn beobachtet, als Selektion aus einer Vielzahl von Möglichkeiten
erscheint und daß die Zirkularität der auf sich selbst zurückgreifenden
Sinnzusammenhänge unterbrochen werden muß, um die Asymmetrie
einer Sequenz von Kommunikationen zu ermöglichen. Dies geschieht
in drei Sinndimensionen (Sach-, Zeit und Sozialdimension;
HB), die durch jeweils eine dimensionsspezifische Unterscheidung
konstituiert werden. In der Sachdimension (traditionell repräsentiert
in der Kategorienlehre) gibt es das »Innen« im Unterschied
zum »Außen« der Form. Die systemtheoretische Fassung
spricht von System und Umwelt. In der Zeitdimension (traditionell
repräsentiert durch den Begriff der Bewegung) geht es um die Unterscheidung
von Vergangenheit und Zukunft. In der Sozialdimension (traditionell
repräsentiert durch die Lehre vom »animal sociale«) geht
es um die Unterscheidung von Ego und Alter, wobei wir als Ego den bezeichnen,
der eine Kommunikation versteht, und als Alter den, dem die Mitteilung
zugerechnet wird.
(Ebd., S. 1136-1137.)
Mit diesen Fassungen sind die Sinndimensionen vorweg schon asymmetrisiert
vorgestellt. Das, was unterschieden wird, kann nicht umgetauscht werden.
Innen ist niemals außen, vorher niemals nachher, Ego niemals Alter,
obwohl die jeweils nächste Beobachtung (aber eben nur: durch Aufwendung
von Zeit) die Unterscheidung verschieben kann, so daß, was vorher
innen war, jetzt außen ist, usw..
(Ebd., S. 1137.)
Ein Gesellschaftssystem, das durch Vollzug
seiner Autopoiesis Formen im Medium Sinn produziert, muß in diesen
drei Dimensionen operieren. Das heißt selbstverständlich nicht,
daß diese Dimensionen Thema der Kommunikation werden müssen,
weil anders die Kommunikation nicht zustandekäme und nicht fortgesetzt
werden könnte. Der für Orientierung und Fortsetzung notwendige
Strukturvorrat liegt nur in den Formen; die auf diese Weise produziert
werden. Nicht die Sinndimensionen selbst machen die Gesellschaft schon
zu einem strukturdeterminierten System; sondern das geschieht erst geschichtlich
durch die Fortsetzung der Autopoiesis der Kommunikation im Rückgriff
und Vorgriff auf ihre eigenen Resultate. Wenn man aber die Gesellschaft
als Einheit beschreiben will, hat man in den Sinndimensionen einen Anhaltspunkt
für die Themen, die in der Beschreibung zu berücksichtigen sind.
Anders gesagt: In der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems wird
das Medium Sinn selbst zur Form, wird Sinn selbst reflexiv. Und eben deshalb
mußten wir Sinndimensionen als Unterscheidungen unterscheiden.
(Ebd., S. 1137.)
Auch wenn man dies akzeptiert, sind immer noch
verschiedene Möglichkeiten denkbar, die Sinndimensionen der Autopoiesis
zu interpretieren. Jede Selbstbeschreibung erfordert historische Plausibilität
in der Situation, in der sie als Beschreibung beobachtet wird. Ohnehin
wissen wir, daß die Position des Beobachters zweiter Ordnung nur
kontingente Phänomene erzeugen kann. Mit diesem Vorbehalt läßt
sich beschreiben, wie wir die Sinndimensionen besetzt haben, nämlich:
die Sozialdimension durch das Konzept der Kommunikation und ihrer Medien;
die Zeitdimension durch das Konzept der Evolution; und die Sachdimension
durch das Konzept der Systemdifferenzierungen, das heißt der Ausdifferenzierung
und der Wiederholung von Ausdifferenzierungen in bereits ausdifferenzierten
Systemen. Wir fassen das Resultat in einer Skizze zusammen:
A u t o p o i e s i s
d e r G e s e l l s c h a f t |
/ |
| |
\ |
Kommunikation |
Evolution |
Differenzierung |
| |
| |
| |
SOZIAL |
ZEITLICH |
SACHLICH |
\ |
| |
/ |
S e l b s t b e s c h r e i b u n g
d e r G e s e l l s c h a f t |
So wie die Sinndimensionen einander wechselseitig voraussetzen und jede
von ihnen zum Ausgangspunkt für die Beobachtung der anderen genommen
werden kann, so sind auch Kommunikationstheorie, Evolutionstheorie und
Differenzierungstheorie jeweils verschiedene Einstiegstore für die
Darstellung der Gesamttheorie. Soziale Systeme entstehen dadurch, daß
Kommunikation in Gang kommt und sich autopoietisch aus sich selbst aufbaut.
Zur Evolution kommt es dadurch, daß die Differenz zwischen System
und Umwelt durch strukturelle Kopplungen überbrückt wird. Keine
dieser Theorien kann auf die Mitwirkung der anderen verzichten. Die in
der Präsentation dieses Buches gewählte Reihenfolge ist beliebig.
Ebensowenig kann die Gesellschaftstheorie als logische Konsequenz aus
systemtheoretischen Prämissen verstanden werden ~ etwa im Sinne der
schon etwas angestaubten Idee eines hypothetisch-deduktiven Erkenntnissystems.
Sie ist schließlich auch nicht die strenge Konsequenz eines bestimmten
konstruktiven Prinzips, etwa eines dialektischen Vorgehens oder einer
Technik der Kreuztabeliierung (Parsons). Sie ist Resultat des Versuchs,
eine Vielzahl verschiedener Theorieentscheidungen aufeinander abzustimmen.
Und nur diese relativ lockere Form des Theoriedesigns, die möglichst
erkennen läßt, welche Entscheidungen getroffen sind und welche
Konsequenzen es hätte, wenn man an diesen Stellen anders entscheiden
würde, scheint uns angemessen zu sein als Angebot einer Selbstbeschreibung
der modernen Gesellschaft.
(Ebd., S. 1137-1139.)
Die soziologische Analyse bestätigt, daß eine hinreichend
komplexe Selbstbeschreibung der Gesellschaft sich in der sachlichen, in
der zeitlichen und in der sozialen Sinndimension artikulieren muß.
Zugleich beobachtet sie aber auch, welchen einschränkenden Erfordernissen
Rechnung getragen wird, wenn die Dimensionen zu Selbstbeschreibungsformen
kondensiert werden; und insofern verhält sich die soziologische Theorie
dann »kritisch«, wenn sie ihre eigene Analytik auf diese Kondensate
ansetzt. Sie wird feststellen, daß und wie die einzellien Sinndimensionen
bereits besetzt sind und wird daher zu einer »Wiederbeschreibung«
der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems ansetzen müssen.
(Ebd., S. 1139.)
So entdeckt sie in der Sachdimension, in der Differenzierungstheorie,
das Problem der Selektion von Systemreferenzen. Sie nimmt nicht nur hin,
daß es viele verschiedene Systeme gleichzeitig gibt, sondern sieht
sich selbst als Beobachter zweiter Ordnung genötigt, zu entscheiden,
von welchem System aus sie anderes als Umwelt sieht. In der Zeitdimension
beobachtet sie, daß die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft Zeit
als historischen Prozeß auffassen, und dies auch dann, wenn von
Evolution gesprochen wird. Mit dem Prozeßbegriff wird aber Kontinuität
betont und nicht Diskontihuität, weil anders die Identität und
Unterscheidbarkeit eines spezifischen Prozesses nicht feststellbar wäre.
Ereignisse erscheinen dann an sekundärer Stelle als Zäsuren,
als Unterbrechungen, als Innovationen oder auch als notwendige, richtunggebende
Anstöße. Geht man dagegen umgekehrt mit der Theorie der Autopoiesis
von Ereignissen oder Operationen aus, wird Diskontinuität die grundlegende
Annahme, wird ständiger Zerfall der Normalfall, gegen den sich dann
Prozesse konstituieren können, wenn das jeweilige Ereignis genügend
Möglichkeitsüberschüsse (= Sinn) bereithält, damit
Passendes zur Prozeßbildung ausgewählt werden kann. (Man
sieht wohl, dies sei noch angemerkt, daß damit gegen jeden Typenzwang,
gegen jede Vorgabe von »Wesensformen« argumentien wird.)
In der Sozialdimension schließlich wird jede Selbstbeschreibung
die Bindemittel betonen (sei es Moral, sei es Vernunft, seien es Werte,
sei es Verständigung oder wünschenswerter Konsens), während
die soziologische Analytik davon ausgeht, daß jede Kommunikation
die Ja/Nein-Bifurkation eröffnet, weil ohne sie die Autopoiesis nicht
fortgesetzt werden könnte, und erst von da aus Präferenzen erklärt
werden können, die auf eine Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit
abzielen.
(Ebd., S. 1139-1140.)
Eine solche Wiederbeschreibung der Beschreibung führt weder
zu einer positiven noch zu einer negativen Charakterisierung der Gesellschaft.
Sie formuliert die Identität des Systems nicht als Wert und schon
gar nicht als Norm, nach der man die Gesellschaft oder das Verhalten in
ihr beurteilen könnte. Sie läßt es nicht zu, zwischen
progressiven und konservativen Einstellungen zu wählen. All das würde
einen externen Beobachter voraussetzen, nach dem man sich richten kann,
oder eine interne Position für einzig-richtiges Beobachten, das den
anderen nur noch mitzuteilen hätte, was von ihr aus zu sehen ist.
Solche Annahmen ersetzen wir durch die These, daß die Gesellschaft
Sinn schlechthin konstituiert dadurch, daß sie sich im Medium Sinn
als Form produziert und reproduziert. Und alle Kriterien für gut
oder schlecht, wahr oder unwahr, rational oder irrational, funktional
oder dysfunktional müssen in der Gesellschaft per Kommunikation erzeugt
werden, und das heißt: in einer Weise, die beobachtet werden kann
und die Möglichkeiten des Annehmens oder Ablehnens eröffnet.
(Ebd., S. 1140.)
Das bedeutet auch, daß die Form der Selbstbeschreibung sich
ändern muß. Diese Veränderung hat eine ähnliche Radikalität
wie der Übergang zu funktionaler Differenzierung, die auf die Gleichheit
der ungleichen Systeme hinausläuft und gesellschaftliche Ordnungsvorgaben
in weitestem Umfange zurücknimmt; eine ähnliche Radikalität
auch wie der evolutionäre Kollaps der Differenzierung von Stabilisierung
und Variation mit der Folge, daß ein nicht-stationäres Gesellschaftssystem
entsteht. Im Kontext der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems scheint
eine gleichermaßen radikale Veränderung anzulaufen. Sie liegt
im Übergang von einer Beobachtung erster Ordnung zu einer Beobachtung
zweiter Ordnung.
(Ebd., S. 1140-1141.)
Nach wie vor muß, wenn überhaupt von Selbstbeschreibung
die Rede sein soll, das »Selbst« der Selbstbeschreibung identifizierbar
sein; und das heißt immer auch: unterscheidbar bleiben. Auch wenn
es eine Mehrzahl von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft in der Gesellschaft
gibt, gibt es deshalb noch nicht mehrere Gesellschaftenp, (so als ob jeder
Beobachter ein anderes Objekt beobachte - der eine die Engel, der andere
die Teufel). Aus diesem Grunde kann bei polykontexturalen Beschreibungen
die Einheit nur in der Form der Beobachtung zweiter Ordnung zum Ausdruck
kommen - eben dadurch, daß jeder Beschreiber in seine Beschreibung
einbezieht, daß andere Beschreiber anders beschreiben. Das mag dann,
bei avancierten Versuchen, dazu führen, daß in die Beschreibungen
sie selbst transzendierende M omente aufgenommen werden, oder anders gesagt:
daß ihre Sinnhaftigkeit als Selektivität mitkommuniziert wird.
Und es führt, da all dies registriert wird als in der Gesellschaft
stattfindend, auch dazu, daß die Gesellschaft als selbstmodifikationsfähige
Einheit begriffen werden muß.
(Ebd., S. 1141.)
Man mag darüber streiten, ob das »Projekt der Moderne«
beendet ist oder nicht; oder darüber, ob es gut ausgehen wird oder
nicht. Dieser Streit führt, das sieht man bereits, zur Konfusion
der Positionen. Ihm liegt eine überalterte Begrifflichkeit zu Grunde,
die ihrerseits nur Themen der Selbstbeschreibung (wie Freiheit, Emanzipation,
Gleichheit, Vernunftorientierung etc.) diskutiert. Was sich, all dies
unterlaufend und tragend, zu ändern scheint, ist dagegen die Form
der Selbstbeschreibung. Die stationären Gesellschaften der alten
Welt hatten sich als Objekte beschrieben, etwa mit Begriffen wie Sein,
Wesen, Natur, Gattung. In diesem strukturellen und semantischen Rahmen
waren Möglichkeiten der Evolution nicht ausgeschlossen; aber deren
Beobachtung und Beschreibung konnte an der Oberfläche bleiben und
mit dem anschaulichen Begriff der Bewegung arbeiten, der als Gegenbegriff
etwas Festes voraussetzt wie der Fluß die Ufer. Die moderne Gesellschaft
beobachtet sich als Beobachter, beschreibt sich als Beschreiber; und erst
das ist in einem logisch strengen Sinne Selbstbeobachtung bzw.
Selbstbeschreibung. . Nun erst ist das »Selbst« der
Beobachtung der Beobachter, das »Selbst« der Beschreibung
der Beschreiber selbst.
(Ebd., S. 1141-1142.)
Wenn man weiterhin von einem »Projekt
der Moderne« sprechen will, so ist dieses Projekt unvollendet, ja
noch nicht einmal adäquat entworfen. Es kann nicht auf der Basis
des Subjektbegriffs ausgeführt werden, wenn dieser Begriff weiterhin
nur das individuelle Bewußtsein bezeichnet. Man wird weiter an Hegel
denken - der bisher einzige voll durchdachte Versuch. Aber dann dürfte
man einen Terminus wie Geist nicht ans Ende der Geschichte (**|**|**|**)
setzen, darin keinen Abschlußgedanken, keine Überlegenheitsfigur
sehen, und man müßte (gegen Hegel und mit Darwin) jede Verwendung
von Ausdrücken wie »niedriger« oder »höher«
vermeiden. Der Beobachter des Beobachters ist kein »besserer«
Beobachter, nur ein anderer. Er mag Wertfreiheit bewerten oder dem Vorurteil
der Vorurteilslosigkeit folgen; er sollte dabei aber, wie diese Formulierungen
anzeigen, zumindest bemerken, daß er autologisch operiert.
(Ebd., S. 1142.)
Strukturelle Umbrüche des Ausmaßes, das wir hinter
uns haben, sind nie im Vollzuge beobachtet und beschrieben worden; es
sei denn unter völlig inadäquaten Begriffen und im Rückblick
auf eine zerfallende Tradition. Semantische Veränderungen folgen
den strukturellen in beträchtlichem Abstand. Das Kondensieren von
Sinn durch Wiederholen und Vergessen unter neuartigen Bedingungen braucht
Zeit. In dieser Hinsicht, das ist unser Eindruck, steht die moderne Gesellschaft
erst am Anfang. Die deutlich erkennbare Unzufriedenheit mit allem, was
derzeit im Angebot ist, könnte ein fruchtbarer Anfang werden.
(Ebd., S. 1142.)
Unsere Analysen haben keinerlei Anhaltspunkte
dafür gegeben, daß irgendwann in diesem Jahrhundert, vermutlich
in dessen zweiter Hälfte, eine Epochenzäsur zu beobachten wäre,
die das Gesellschaftssystem selbst betrifft und es rechtfertigen könnte,
einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen Gesellschaft
zu behaupten. Bemerkenswerte strukturelle Veränderungen innerhalb
der einzelnen Funktionssysteme gibt es zuhauf, vor allem als Folge von
Globalisierungstendenzen und wechselseitiger Belastungen der einzelnen
Funktionssysteme. Aber nach wie vor werden all die Errungenschaften der
Moderne (Altersklassen in den Schulsystemen, Parteiendemokratie als Staatsform,
unregulierte Heiratspraxis, positives Recht, an Kapital und Kredit orientiertes
Wirtschaften, um nur einiges zu nennen) beibehalten; nur ihre Konsequenzen
findet man schärfer ausgeprägt. Selbst im Kunstsystem (Architektur
vielleicht ausgenommen [**])
gibt es keine scharfen Epochengrenzen zwischen moderner und postmoderner
Kunst. Von »Postmoderne« kann man also allenfalls mit Bezug
auf die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems sprechen. Damit stehen
wir vor der Frage, ob und woran man eine spezifisch »postmoderne«
(im Unterschied zu einer modernen) Beschreibung erkennen kann. (Ebd.,
S. 1143.)
Daß die Rede von »Postmoderne« aufgekommen ist,
liegt vielleicht daran, daß die Dynamik der modernen Gesellschaft
unterschätzt worden war und ihre Beschreibungen allzu statisch ausgefallen
sind: Das gilt für die Prominenz des cartesischen Subjekts, für
die Idee der Menschenrechte und auch noch für die Annahme von Habermas,
die Moderne sei ein unvollendetes Projekt. Wenn die Signaturen der Moderne
in dieser Weise festgeschrieben sind, liegt es nahe, mit einer Theorie
der Postmoderne zu reagieren. Faktisch sind jedoch die damit postulierten
Zäsuren nicht zu erkennen, und es wäre deshalb der richtigere
Weg, das Verständnis der modernen Gesellschaft mitsamt ihrer Selbstbeschreibung
zu dynamisieren. (Ebd., S. 1143-1144.)
Am Begriff der Postmoderne ist vieles kontrovers. Ein ziemlich
unbestrittener (wenngleich interpretationsbedürftiger) Ausgangspunkt
dürfte jedoch in der These vom Ende der Großen Erzählungen
liegen. Man wird sofort konzedieren müssen, daß dies selbst
eine Erzählung ist .... Wenn die These autologisch verwandt wird,
also sich selbst einschließt, widerspricht sie sich selbst: wenn
wahr, dann falsch. Man muß deshalb umformulieren und sagen, daß
die Einheit der Gesellschaft oder, von ihr aus gesehen, der Welt nicht
mehr als Prinzip, sondern nur noch als Paradox behauptet werden kann.
Die Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale
postmodemen Denkens. Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit. Das
heißt vor allem, daß Unterscheidungen und Bezeichnungen nur
noch als Auflösung eines Paradoxes »begründet« werden
können. Beim Problem der Selbstbeschreibung, sei es der Welt in der
Welt, sei es der Gesellschaft in der Gesellschaft, fällt dies relativ
leicht. Man muß nur eine Pluralität von Selbstbeschreibungen
zulassen, im »Diskurs« der Selbstbeschreibung also eine Mehrheit
von Möglichkeiten, die einander weder tolerieren noch nicht tolerieren,
sondern einander nur nicht mehr zur Kenntnis nehmen können. Das haben
wir mit der These vorweggenommen, daß universalistische (sich selbst
einschließende) Selbstbeschreibungen nicht einzig-richtige, nicht
exklusive Selbstbeschreibungen sein müssen. Wenn man auf die Funktion
von Selbstbeschreibungen achtet, wird man hinzufügen müssen:
nicht exklusiv sein können, denn die Funktion der Funktion ist es,
funktionale Äquivalente zuzulassen. (Ebd., S. 1144.)
Etwas mehr Schwierigkeiten bereitet ein zweiter Vorschlag, postmodernes
Denken als Entdifferenzierung zu begreifen. Entdifferenzierung kann aber
nicht heißen, daß man die Differenzierungen vergessen könnte,
denn dann hätte auch das »Ent-« keinen Sinn. Wenn Entdifferenzierung
Gedächtnis voraussetzt, läuft dieser Vorschlag auf Bewahrung
der Differenzen (zum Beispiel: auf Bewahrung von Stildifferenzen in postmodernen
Kunstwerken) hinaus. Auch hier wird eine Interpretation des Vorschlags
gut tun. Es kann nicht darum gehen, innerhalb von Unterscheidungen von
der einen Seite zur anderen überzuwechseln, zum Beispiel von Produktionsorientierung
zu Konsumorientierung oder von Vergangenheitsorientierung zu Zukunftsorientierung,
also von Gebundensein zu Ungebundensein. Die Frage kann nur sein, ob die
Einstellung zu Unterscheidungen oder, wenn gegenstandsbezogen gedacht
wird, zu Differenzen sich geändert hat. (Ebd., S. 1144-1145.)
Wir erinnern daran, daß schon die Umpolung des modernen
Denkens von vorgefundenen Wesensunterschieden auf Differenzierung eine
semantische Innovation gewesen ist, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts
an Resonanz gewinnt. (Vgl. Kapitel 4, I.)
Es könnte gut sein, daß auf dieser Ebene der Formen des Beobachtens
und Beschreibens abermals ein Wechsel zu verzeichnen ist, und, um es gleich
postmodern zu formulieren, ein Wechsel in Richtung auf einen Dekonstruktionsvorbehalt
bei allen Unterscheidungen. Man kann, anders gesagt, immer fragen, wer
die Unterscheidung trifft (wer der Beobachter ist) und warum er die eine
und nicht die andere Seite markiert. Die Antwort auf diese Frage hängt
aber wiederum davon ab, wer sie stellt, also davon, wer hierfür der
Beobachter ist.
(Ebd., S. 1145-1146.)
Wenn man postmodernes Beschreiben als Operieren in Bereichen selbsterzeugter
Unbestimmtheit begreift, sieht man sofort Parallelen zu anderen Wissenschaftstrends,
die sich in Mathematik, Kybernetik, Systemtheorie mit den Eigenarten selbstreferentieller,
rekursiv operierender Maschinen befassen. Bekannte Namen sind auch Chaostheorie
oder fraktale Geometrie. Komplexität entsteht hier nicht durch Versuche,
die Welt einigermaßen sachgemäß abzubilden, sondern durch
wiederholende Operationen, die an einen selbsterzeugten Ausgangszustand
anknüpfen und diesen mit jeder Operation als Ausgangspunkt für
weitere Operationen fortschreiben. Hierbei wird dann die Zeit, die solche
Verschiebungen im seiben System ermöglicht, zur entscheidenden Variable,
und Unvorhersehbarkeit ist die gleichsam zeitgemäße Folge einer
Sequenz solcher Rekursionen.
(Ebd., S. 1146.)
Am ergiebigsten dürfte es deshalb sein, die Zeitunterscheidung
von Vergangenheit und Zukunft zu analysieren, nicht zuletzt deshalb, weil
der Begriff der Postmoderne ja selbst auf dieser Unterscheidung beruht.
Derridas Kritik der ontologischen Metaphysik kann so gelesen werden, daß
sie die Überschätzung der Gegenwart als Ort der Anwesenheit
des Seins moniert und statt dessen eine stärker zeitbezogene Analyse
vorschlägt. Was operativ läuft, ist die Einkerbung einer Differenz
in eine Welt, die dies toleriert und ein »recutting« ermöglicht.
Das geschieht durch »Schrift«. Da es aber eine Differenz ist,
kann sie nicht von Dauer sein, sondern muß von Moment zu Moment
verschoben werden. Différence ist différance. Das wiederum
impliziert, daß das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft
sich laufend verschiebt, ohne daß diese Verschiebung als räumlich-zeitliche
Bewegung in einer immer schon vorhandenen Seinswelt begriffen werden könnte.
Als Kommunikation begriffen, demontiert die Operation ihre eigenen Voraussetzungen,
dekonstruiert die Unterscheidungen, die sie verwendet im Sinne eines auch
aus anderen Forschungen bekannten performativen Widerspruchs zwischen
report (Information) und command (Mitteilung mit Annahmezumutung).
(Ebd., S. 1146-1147.)
Auf ganz anderen Wegen führt auch die rasch zunehmende Computerisierung
des Alltagslebens vor dieselbe Frage, sie ist also auch unabhängig
von literarischen Bemühungen um eine Kritik der Seinsmetaphysik aktuell.
Denn in den Computern verbergen sich unsichtbare Maschinen, die nur auf
Befehlseingabe hin ihre Schaltzustände sichtbar machen. Es hat wenig
Sinn, diese unsichtbaren Maschinen als »anwesend« zu bezeichnen.
Jedenfalls werden sie erst durch zeitlich und lokal situierte Anfragen
dazu gebracht, Informationen sichtbar zu machen, die dann im Anfragekontext
ihre eigene Differenz von Vergangenheit und Zukunft erzeugen. Die Bruchlinie
zwischen den unsichtbaren und unvorstellbaren Rechenvorgängen der
Maschine und dem gelegentlichen, interessenbedingten Erscheinenlassen
ihrer Zustände könnte auf dem Wege sein, die alten Unterscheidungen
von aeternitas und tempus und von Anwesenheit und Abwesenheit vom ersten
Rang der Weltkonstruktion zu verdrängen. Man spricht mit Bezug darauf
bereits von »virtueller Realität« (*),
und das legt es nahe, von da aus einen Zusammenhang mit der Diskussion
über die postmoderne Moderne herzustellen. (*
Dies allerdings mehr jargonhaft und ohne Klärung der Frage, welche
Virtus denn das bloß Mögliche in etwas Virtuelles transformiert.
Vorwiegend wird dabei an die Möglichkeit gedacht, den Computer (ähnlich
wie das Nervensystem) unbemerkt mitwirken zu lassen, so daß
mit Hilfe von Handschuhen, Anzügen usw. eine illusionäre Realität
entsteht und im Wahrnehmen selbst eine Unterscheidung von lllusion und
Realität nicht mehr möglich ist. Das ist jedoch nur eine zusätzliche
Möglichkeit, nachzuweisen, daß das Gehirn als operativ geschlossenes
System arbeitet.) (Ebd., S. 1147-1148.)
Eine gleichermaßen radikale, postontologische Thematisierung
von Zeit scheint dem Formenkalkül von George Spencer Brown zugrundezuliegen.
Form wird hier als Markierung einer Unterscheidung begriffen, also als
eine Einheit mit zwei Seiten, von denen nur die eine bezeichnet wird und
die andere unmarkiert bleiben muß. Der Übergang zur anderen
Seite (das »Kreuzen«) erfordert eine weitere Operation, setzt
also Zeit voraus. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn das Kalkül
seine eigenen Voraussetzungen einzuholen versucht und zwischen marked
und unmarked space zu oszillieren beginnt. Während die klassische
Formtheorie Form als statische Gestalt begriffen hatte, die nach gelungen/mißlungen
zu beurteilen sei, wird Form jetzt als Dispositiv eines Beobachters begriffen
und als Regulativ für die Entscheidung, zu bleiben, wo man ist, (sich
zu wiederholen) oder zur anderen Seite überzugehen. Ein Primat der
Form gegenüber Instanzen, die in der Tradition Vernunft und Wille
(Freiheit) genannt wurden, scheint eine Temporalisierung der Formen zu
erfordern. Selbst Habermas ist ja heute bereit, auf Vernunft - zu warten.
(Ebd., S. 1148.)
Zur geläufigen Diskussion über Postmoderne führt
die Frage zurück, was mit den geschichtlich bewährten, aber
heute überholten Formen geschehen soll. Sie werden als Material verwendet.
Man könnte auch sagen: als Medium für die Bildung neuer Formen,
die durch Rekombination gewonnen werden. Das wird für die Formenwelt
der Kunst diskutiert, könnte aber auch für die Begriffswelt
der Wissenschaften oder anderer intellektueller Diskurse gelten. Mit postmodernen
Formen wird ein Wiedererkennen ermöglicht - und zugleich verboten.
Man soll sich mit dem Vergnügen des Wiedererkennens - wenn zum Beispiel
von »Subjekt« oder von »Demokratie« die Rede ist
- nicht begnügen. Das wiederverwendete Formenarsenal ist anders gemeint.
Die überlieferten Formen sind, bei aller scheinbaren Seinsfestigkeit,
nur noch ein Medium der Selbstverständigung unter anderen gesellschaftlichen
Bedingungen. Man kann dies im Modus der Ironie zum Ausdruck bringen, aber
damit wäre nur ein expressiver Ausweg gewonnen und keine Konstruktionsanweisung.
Das scheint zu bedeuten, daß konstruktivistische Theorieversuche
die Postmoderne nicht fortsetzen, sondern beenden, obwohl sie die Distanz
zur Geschichte und ihre Neubeschreibung als Medium übernehmen.
(Ebd., S. 1148-1149.)
Ob der Ausdruck »postmodern« gut gewählt war,
mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls sind Beschreibungen nicht schon
deshalb postmodern, weil man die Folgen des Sündenfalls nicht mehr
über Arbeit, sondern über Genuß erträglich zu machen
versucht. Die soeben skizzierten Hinweise, Einheit und Differenz betreffend,
deuten einen Bedarf für Formstrenge theoretischer Reflexion an. Dazu
gibt es mehr Anregungen, als sich im Moment unter dem Etikett der Postmoderne
versammeln. Es fällt aber auf, daß unter den Vorarbeiten eine
Theorie der modernen Gesellschaft fehlt. Das mag daran liegen, daß
die Unterscheidung modern/postmodern von Versuchen dieser Art abschreckt.
Wenn aber die Eigenart postmoderner Beschreibungen in der Problematisierung
von Unterscheidungen und in der Temporalisierung der sie markierenden
Formen liegt, könnte man vermuten, daß die Aufgabe einer »postmodernen«
Gesellschaftstheorie in einer Neubeschreibung der modernen Gesellschaft
auf Grund der Erfahrungen besteht, über die wir heute verfügen.
Jedenfalls verlangt eine heute adäquate Gesellschaftstheorie (ebenso
wie die Theorie der postmodernen Kunst), auf den bloßen Genuß
des Wiedererkennens zu verzichten und die Theoriekonstruktion aus sich
selbst heraus zu beurteilen. (Ebd., S. 1149.)
In diesem Sinne möchten die im Vorstehenden skizzierten Überlegungen
zu einer Theorie der Gesellschaft verstanden sein.
(Ebd., S. 1149.)
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