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Niklas Luhmann (1927-1998)
- Literatur -

Luhmann-Zitate. Da ich Niklas Luhmann für einen der Giganten unter den Theoretikern und den „Hegel des 20. Jahrhunderts“ halte,
       möchte ich ihm einige separate Seiten widmen und aus folgenden seiner Werke zitieren:

 

- Soziale Systeme (1984) -
- Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) -
- Aufsätze und Reden (postum) -

 

 

 

Die Gesellschaft der Gesellschaft.

Erster Teilband.
Vorwort.
Kapitel 1: Gesellschaft als soziales System.
Kapitel 2: Kommuikationsmedien.
Kapitel 3: Evolution.
Zweiter Teilband.
Kapitel 4: Differenzierung.
Kapitel 5: Selbstbeschreibungen.
Register.

 

Die Gesellschaft der Gesellschaft Vorwort.

„Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu nennen, an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine. Die Schwierigkeiten des Projekts waren, was die Laufzeit angeht, realistisch eingeschätzt worden. Die Literaturlage in der Soziologie bot damals wenig Anhaltspunkte dafür, ein solches Projekt überhaupt für möglich zu halten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Ambition einer Theorie der Gesellschaft durch neomarxistische Vorgaben blockiert war. Der kurz darauf veröffentlichte Band einer Diskussion mit Jürgen Habermas trug den Titel: »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie: Was leistet die Systemforschung?« Die Ironie dieses Titels lag darin, daß keiner der Autoren sich für Sozialtechnologie stark machen wollte, aber Meinungsverschiedenheiten darüber bestanden, wie eine Theorie der Gesellschaft auszusehen habe; und es hat symptomatische Bedeutung, daß der Platz einer Theorie der Gesellschaft in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst nicht durch eine Theorie, sondern durch eine Kontroverse eingenommen wurde.“ (Ebd., S. 11.)

 

Die Gesellschaft der Gesellschaft Gesellschaft als soziales System.

I. Die Gesellschaftstheorie der Soziologie. - Die folgende Untersuchungen betreffen das Sozialsystem der modernen Gesellschaft. Ein solches Vorhaben, und darüber muß man sich als erstes Rechenschaft geben, aktualisiert eine zirkuläre Beziehung zu seinem Gegenstand. Weder steht vorab fest, um welchen Gegenstand es sich handelt. Mit dem Wort Gesellschaft verbindet sich keine eindeutige Vorstellung. Selbst das, was man üblicherweise als »sozial« bezeichnet, hat keine eindeutig objektive Referenz. Noch kann der Versuch, die Gesellschaft zu beschreiben, außerhalb der Gesellschaft stattfinden. Er benutzt Kommunikation. Er aktiviert soziale Beziehungen. Er setzt sich in der Gesellschaft der Beobachtung aus. Wie immer man den Gegenstand definieren will: die Definition selbst ist schon eine der Operationen des Gegenstandes. Die Beschreibung vollzieht das Beschriebene. Sie muß also im Vollzug der Beschreibung sich selber mitbeschreiben. Sie muß ihren Gegenstand als einen sich selbst beschreibenden Gegenstand erfassen. Mit einer Formulierung, die aus der logischen Analyse der Linguistik stammt, könnte man auch sagen, daß jede Gesellschaftstheorie eine »autologische« Komponente aufweisen muß. (Lars Löfgren spricht in einem ähnlichen Sinne von »autolinguistisch« als einer Form, die durch die Unterscheidung von Ebenen logisch »entfaltetet« werden muß.) Wer das aus wissenschaftstheoretischen Gründen meint verbieten zu müssen, muß auf Gesellschaftstheorie, auf Linguistik und auf viele Themenbereiche verzichten.“ (Ebd., S. 16.)

„Der Forscher versteht sich selbst als Subjekt außerhalb seines Themas. Im Bereich der Gesellschaftstheorie ist diese Auffassung jedoch nicht durchzuhalten, denn die Arbeit an einer solchen Theorie verwickelt zwangsläufig in selbstreferentielle Operationen. Sie kann nur innerhalb des Gesellschaftssystems kommuniziert werden.“ (Ebd., S. 17.)

„In einer langen Geschichte hatte die Beschreibung des sozialen Lebens der Menschen (man kann für ältere Zeiten nicht ohne Vorbehalte von »Gesellschaft« sprechen) sich an Ideen orientiert, denen die vorgefundene Wirklichkeit nicht genügte. Das galt für die alteuropäische Tradition mit ihrem Ethos der natürlichen Perfektion des Menschen und mit ihrer Bemühung um Erziehung und um Vergebung der Sünden. Es gilt aber auch noch für die Moderne, gilt für die Aufklärung und für ihre Doppelgottheit Vernunft und Kritik. Noch in diesem Jahrhundert wird dies Bewußtsein des Ungenügens wachgehalten (man denke an Husserl und Habermas) und mit der Idee der Moderne verknüpft.“ (Ebd., S. 21-22.)

„Die Tradition hatte, wenn man so sagen darf, auf natürliche Fragen geantwortet und zum guten Teil deshalb in ihren Antworten überzeugt. In der wissenschaftlichen Evolution treten dagegen an deren Stelle theorieabhängige wissenschaftliche Probleme, deren Lösungen nur noch im wissenschaftlichen Kontext beurteilt werden können.“ (Ebd., S. 23.)

„Man könnte daran erinnern, daß die Theologie für die Funktion der Beobachtung Gottes und seiner Schöpfung die Figur des Teufels erfunden hatte .... Das Problem dürfte ... in den Schwierigkeiten logischer und theorietechnischer Art liegen, denen man sich stellen muß, wenn man, wie die Linguistik sagt, mit »autologischen« Konzepten arbeitet und sich nötigt, sich selbst im eigenen Gegenstand, also Soziologie als Selbstbeschreibung der Gesellschaft zu entdecken. In letzter Konsequenz führte das dazu, daß man zwar die Vorstellung beibehalten kann, Realität sei am Widerstand zu erkennen, den sie ausübe, aber zugeben muß, daß solcher Widerstand gegen Kommunikation nur durch Kommunikation geleistet werden könne. Könnte man sich darauf einlassen, würde damit die Subjekt/Objekt-Unterscheidung »dekonstruiert« werden, und damit wäre auch den vorherrschenden Erkenntnisblockierungen ihre heimliche Stütze genommen. Und dann könnte man die humanistische ebenso wie die regionalistische Begriffstradition an ihrer eigenen Unbrauchbarkeit zerbrechen lassen.“ (Ebd., S. 33.)

Wie soll die Soziologie ... eine Gesellschaftstheorie formulieren, wenn sie nicht angeben kann, was sie mit diesem Begriff sucht?“ (Ebd., S. 34.)

„Soziologie ... als autopoeitisches System.“ (Ebd., S. 34.)

„Die folgenden Untersuchungen wagen diesen Übergang zu einem radikal antihumanistischen, einem radikal antiregionalistischen und einem radikal konstruktivistischen Gesellschaftsbegriff.“ (Ebd., S. 34-35.)

„Ohne von Sinn Gebrauch zu machen, kann keine gesellschaftliche Operation anlaufen.“ (Ebd., S. 44.)

„Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden Operationen, also auch nur in dem Moment, in dem er durch Operationen bestimmt wird, und weder vorher noch nachher. Sinn ist demnach eine Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt.“ (Ebd., S. 44.)

„Psychische und soziale Systeme bilden ihre Operationen als beobachtende Operationen aus, die es ermöglichen, das System selbst von seiner Umwelt zu unterscheiden - und dies obwohl (und wir müssen hinzufügen: weil) die Operation nur im System stattfinden kann. Sie unterscheiden, anders gesagt, Selbstreferenz und Fremdreferenz. Für sie sind Grenzen daher keine materiellen Artefakte, sondern Formen mit zwei Seiten.“ (Ebd., S. 45.)

„Abstrakt gesehen handelt es sich dabei um ein »re-entry« einer Unterscheidung in das durch sie selbst Unterschiedene. Die Differenz System/Umwelt kommt zweimal vor: als durch das System produzierter Unterschied und als im System beobachteter Unterschied. Mit dem Begriff des »re-entry« zitieren wir zugleich angebbare Konsequenzen, die George Spencer Brown als Schranken eines auf Arithemetik und Algebra beschränkten mathematischen Kalküls dargestellt hat. (Siehe: Laws of Forms, ... S. 56 ff..) Das System wird für sich selbst unkalkulierbar. Es erreicht einen Zustand von Unbestimmtheit, der nicht auf die Unvorhersehbarkeit von Außeneinwirkungen (unabhängige Variable) zurückzuführen ist, sondern auf das System selbst. Es braucht deshalb ein Gedächtnis, eine »memory function«, die ihm die Resultate vergangener Selektionen als gegenwärtigen Zustand verfügbar machen (wobei Leistungen des Vergessens und des Erinnerns eine Rolle spielen. (Kybernetiker würden hier von Wiedereinführung des Outputs als Input in dasselbe System sprechen.) Und es versetzt sich selbst in den Zustand des Oszillierens zwischen positiv und negativ gewerteten Operationen und zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. (Mit dieser Unterscheidung gehen wir aus Gründen, die in der Systemtheeorie liegen, über Spencer Brown hinaus.) Es konfrontiert sich selbst mit einer für es selbst unbestimmbaren Zukunft, für die gleichsam Anpassungsreserven für unvorhersehbare Lagen gespeichert sind.“ (Ebd., S. 45-46.)

„Das für das System selbst sichtbare Resultat dieser Konsequenzen des re-entry soll im folgenden mit dem Begriff »Sinn« bezeichnet werden.“ (Ebd., S. 46.)

„Akzeptiert man diese Theoriedisposition, kann man nicht von einer vorhandenen Welt ausgehen, die aus Dingen, Substanzen, Ideen besteht, und auch nicht mit dem Weltbegriff deren Gesamtheit (universitas rerum) bezeichnen. Für Sinnsysteme ist die Welt kein Riesenmechanismus, der Zustände aus Zuständen produziert und dadurch die Systeme selbst determiniert. Sondern die Welt ist ein unermeßliches Potential für Überraschungen, ist virtuelle Information, die aber Systeme benötigt, um Information zu erzeugen, oder genauer: um ausgewählten Irritationen den Sinn von Information zu geben. Folglich muß jegliche Identität als Resultat von Informationsverarbeitung oder, wenn zukunftsbezogen, als Problem begriffen werden. Identitäten »bestehen« nicht, sie haben nur die Funktion, Rekursionen zu ordnen, so daß man bei allem Prozessieren von Sinn auf etwas wiederholt Verwendbares zurück- und vorgreifen kann. Das erfordert selektives Kondensieren und zugleich konfirmierendes Generalisieren von etwas, was im Unterschied zu anderem als dasselbe bezeichnet werden kann.“ (Ebd., S. 46-47.)

„Daß sinnhafte Identitäten (empirische Objekte, Symbole, Zeichen, Sätze usw.) nur rekursiv erzeugt werden können, hat weitreichende epistemologische Konsequenzen. Einerseits wird dadurch klar, daß der Sinn solcher Entitäten weit über das hinausreicht, was im Moment einer Beobachtungsoperation erfaßt werden kann. Andererseits heißt dies gerade nicht, daß es solche Gegenstände immer schon und auch dann »gibt«, wenn sie nicht beobachtet werden.“ (Ebd., S. 47.)

„Man kann die Form von Sinn bezeichnen als Differenz von Aktualität und Möglichkeit und kann damit zugleich behaupten, daß diese und keine andere Unterscheidung Sinn konstruiert. Man hat demnach, wenn man über Sinn spricht, etwas Greifbares (Bezeichenbares, Unterscheidbares) im Sinn; und das heißt auch, daß mit der Sinnthese eingeschränkt wird, was dann noch über Gesellschaft ausgemacht werden kann. Gesellschaft ist ein sinnkonstituierendes System.“ (Ebd., S. 50.)

„Die Modalisierung der Aktualität durch die Unterscheidung aktuell/möglich bezieht sich auf den Sinn, der jeweils in den Systemoperationen aktualisiert wird. Sie ist doppelt asymmetrisch gebaut, denn auch der aktualisierte Sinn ist und bleibt möglich und der mögliche Sinn aktualisierbar. In der Unterscheidung ist demnach ein »re-entry« der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene mitvorgesehen. Sinn ist also eine Form, die auf beiden Seiten eine Kopie ihrer selbst in sich selbst enthält. Das führt zur Symmetrisierung des zunächst asymmetrisch gegebenen Unterschieds von aktuell und möglich, und folglich erscheint Sinn als weltweit überall dasselbe. Re-asymmetrisierungen sind möglich, ja fürs Beobachten erforderlich, aber sie müssen durch weitere Unterscheidungen eingeführt werden, zum Beispiel durch die Unterscheidung System/Umwelt oder durch die Unterscheidung Bezeichnendes/Bezeichnetes.“ (Ebd., S. 50.)

„Die am tiefsten eingreifende ... Umstellung liegt darin, daß nicht mehr von Objekten die Rede ist, sondern von Unterscheidungen, und ferner daß Unterscheidungen nicht als vorhandene Sachverhalte (Unterschiede) begriffen werden, sondern daß sie auf eine Aufforderung zurückgehen, sie zu vollziehen, weil man anderenfalls nichts bezeichnen könnte, also nichts zu beobachten bekäme, also nichts fortsetzen könnte. Man kann dies mit Hilfe des Formbegriffs verdeutlichen .... Formen sind ... zu sehen ... als Grenzlinien, als Markierungen einer Differenz, die dazu zwingt, klarzustellen, welche Seite man bezeichnet, das heißt, auf welcher Seite der Form man sich befindet und wo man dementsprechend für weitere Operationen anzusetzen hat. Die andere Seite der Grenzlinie (der »Form«) ist gleichzeitig mitgegeben. Jede Seite der Form ist die andere Seite der anderen Seite.“ (Ebd., S. 60.)

„Keine Seite ist etwas für sich selbst. Man aktualisiert sie nur dadurch, daß man sie, und nicht die andere, bezeichnet. In diesem Sinne ist Form entfaltete Selbstreferenz, und zwar zeitlich entfaltete Selbstreferenz. Denn man hat immer von der bezeichneten Seite auszugehen und braucht die Zeit für eine weitere Operation, um auf der bezeichneten Seite zu bleiben oder die formkonstituierende Grenze zu kreuzen.“ (Ebd., S. 61.)

„Jede Bestimmung, jede Bezeichnung, alles Erkennen, alles Handeln vollzieht als Operation das Etablieren einer solchen Form, vollzieht wie der Sündenfall einen Einschnitt in die Welt mit der Folge, daß eine Differenz entsteht, das Gleichzeitigkeit und Zeitbedarf entstehen und daß die vorausliegende Unbestimmtheit unzugänglich wird.“ (Ebd., S. 62.)

„Für die Systemtheorie selbst wird mit Hilfe dieses Formbegriffs klargestellt, daß sie nicht besondere Objekte (oder sogar nur: technische Artefakte oder analytische Konstrukte) behandelt, sondern daß ihr Thema eine besondere Art von Form ist, eine besondere Form von Formen, könnte man sagen, die die allgemeinen Eigenschaften jeder Zwei-Seiten-Form am Fall von »System und Umwelt« expliziert. Alle Eigenschaften von Form gelten auch hier: so die Gleichzeitigkeit von System und Umwelt und der Zeitbedarf aller Operationen. Vor allem aber ist mit dieser Darstellungsweise deutlich zu machen, daß System und Umwelt als die zwei Seiten einer Form zwar getrennt, aber nicht ohne die jeweils andere Seite existieren können.“ (Ebd., S. 63.)

„Akzeptiert man diesen differenztheoretischen Ausgangspunkt, dann erscheinen alle Entwicklungen der neueren Systemtheorie als Variationen zum Thema »System und Umwelt«. Zunächst ging es darum, mit Vorstellungen über Stoffwechsel oder Input und Output zu erklären, daß es Systeme gibt, die nicht dem Entropiegesetz unterworfen, sondern in der Lage sind, Negentropie aufzubauen und damit gerade durch die Offenheit und die Umweltabhängigkeit des Systems dessen Unterschied zur Umwelt zu verstärken.“ (Ebd., S. 64.)

„Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen. Die Elemente (und zeitlich gesehen sind das die Operationen), aus denen autopoietische Systeme bestehen, haben keine unabhängige Existenz.“ (Ebd., S. 65.)

„Elemente sind Informationen, sind Unterschiede, die im System einen Unterschied machen. Und insofern sind es Einheiten der Verwendung, für die es in der Umwelt des Systems keinerlei Enstprechung gibt.“ (Ebd., S. 66.)

„Autopoiesis ist also, recht verstanden, zunächst Erzeugung einer systeminternen Unbestimmtheit, die nur durch systemeigene Strukturbildungen reduziert werden kann. Das erklärt nicht zuletzt, daß Gesellschaftssysteme das Medium Sinn erfunden haben, um diese Offenheit für weitere Bestimmungen in den systeminternen Operationen Rechnung zu tragen. Sie kennen als eigene Operationen deshalb nur Sinnformen seligierende Kommunikationen.“ (Ebd., S. 67.)

„Etwas ausführlicher gesagt, heißt das, daß nur operativ geschlossene Systeme eine hohe Eigenkomplexität aufbauen können, die dann dazu dienen kann, die Hinsichten zu spezifizieren, in denen das System auf Bedingungen seiner Umwelt reagiert, während es sich in allen übrigen Hinsichten dank seiner Autopoiesis Indifferenz leisten kann. (Das Paradebeispiel hierfür ist heute das Gehirn.)“ (Ebd., S. 68.)

„Die Einsichten in die zirkuläre, selbstreferentielle und insofern logisch symmetrische Bauweise dieser Systeme haben zu der Frage geführt, wie denn diese Zirkel unterbrochen und Asymmetrien hergestellt werden. Wer sagt denn, was Ursache und was Wirkung ist? Oder noch radikaler: was vorher und was nachher, was innen und was außen geschieht? Die Instanz, die darüber befindet, wird heute oft »Beobachter« genannt. Dabei ist keineswegs nur an Bewußtseinsprozesse ... zu denken. Der Begriff wird hochabstrakt und unabhängig von dem materiellen Substrat, der Infrastruktur oder der spezifischen Operationsweise benutzt, die das Durchführen von Beobachtungen ermöglicht. Beobachten heißt einfach ...: Unterscheiden und Bezeichnen.“ (Ebd., S. 69.)

„Das Gesellschaftssystem wird demnach nicht durch ein bestimmtes »Wesen«, geschweige denn durch eine bestimmte Moral (Verbreitung von Glück, Solidarität, Angleichung von Lebensverhältnissen, vernünftig-konsensuelle Integration u.s.w.) charakterisiert, sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert und reproduziert. Das ist Kommunikation.“ (Ebd., S. 70.)

„Seit den bahnbrechenden Analysen von Mead weiß man, daß Kommunikation nicht schon dadurch zustandekommt, daß ein Organismus wahrnimmt, wie ein anderer sich verhält, und sich darauf einstellt; und auch nicht dadurch, daß er die Gesten des anderen, etwa Drohgesten oder Spielgesten, imitiert. Auf diese Weise käme es nur zu wechselseitiger Irritierung und Stimulation der (Autopoiesis der) Organismen, zu mehr oder weniger okkasionellen und eventuell relativ häufigen Koordinationen. Entscheidend ist vielmehr nach Mead, daß Symbole entstehen, die es dem einzelnen Organismus ermöglichen, sich in sich selbst mit dem Verhalten anderer abzustimmen und zugleich selbst die entsprechenden »vocal gestures« zu benutzen; oder mit Maturana gesprochen: daß es zur Koordination der Koordinationen der Organismen kommt. Diese Erklärung kann in Richtung auf eine Semiotik des Sozialen ausgebaut werden.“ (Ebd., S. 84.)

„Denn die Gesellschaft kennt als das umfassende soziale System keine sozialen Systeme außerhalb ihrer Grenzen. Sie kann also gar nicht von außen beobachtet werden. .... Die Gesellschaft ist ... der Extremfall eines Systems, das zur Selbstbeobachtung gezwungen ist, ohne dabei wie ein Objekt zu wirken, über das nur eine einzige richtige Meinung bestehen kann, so daß alle Abweichung als Irrtum zu behandeln ist. Selbst wenn die Gesellschaft routinemäßig sich selbst von ihrer Umwelt unterscheidet, ist keineswegs vorab klar, was damit von seiner Umwelt unterschieden wird. Und selbst wenn Texte, also Beschreibungen, angefertigt werden, die Beobachtungen steuern und koordinieren, bedeutet das nicht, daß es nur jeweils eine richtige Beschreibung gibt.“ (Ebd., S. 88.)

„Es gibt im Falle von Gesellschaft eben keine externe Beschreibung, an der man sich korrigieren könnte - so sehr Literaten und Soziologen sich um eine solche Position bemühen.“ (Ebd., S. 89.)

„Operative Geschlossenheit hat zur Konsequenz, daß das System auf Selbstorganisation angewiesen ist. Die eigenen Strukturen können nur durch eigene Operationen aufgebaut und geändert werden - also zum Beispiel Sprache nur durch Kommunikation und nicht unmittelbar durch Feuer, Erdbeben, Weltraumstrahlungen oder Wahrnehmungsleistungen.“ (Ebd., S. 93.)

„Wie leicht erkennbar, wird die regelmäßige strukturelle Kopplung von Bewußtseinssystemen und Kommunikationssystemen durch Sprache ermöglicht.“ (Ebd., S. 108.)

„Daß Kommunikationssysteme über Sprache an Bewußtseinssysteme gekoppelt sind so wie Bewußtseinssysteme an Kommunikationssysteme, hat sehr weittragende Konsequenzen für den strukturellen Aufbau der entsprechenden Systeme, also für deren Morphogenese, für deren Evolution.“ (Ebd., S. 113.)

„Die einzige Alternative zur strukturellen Kopplung Bewußtsein/Kommunikation, die sich gegenwärtig bereits andeutet, aber unabschätzbare Folgen haben würde, ist der Computer. Bereits heute sind Computer in Gebrauch, deren Operationen weder für das Bewußtsein noch für Kommunikationen zugänglich sind, und zwar weder zeitglich noch rekonstruktiv. Obwohl produzierte und programmierte Maschinen, arbeiten solche Computer in einer Weise, die für Bewußtsein und Kommunikation intransparent bleibt - und trotzdem über strukturelle Kopplungen auf Bewußtsein und Kommunikation einwirkt. Sie sind streng genommen unsichtbare Maschinen. Das Problem wird falsch gestellt und wohl auch verharmlost, wenn man fragt, ob Computer bewußtseinsanalog arbeitende Maschinen sind und Bewußtseinssysteme ersetzen oder gar überbieten können. Auch kommt es nicht darauf an, ob die internen Operationen des Computers wie Kommunikationen aufgefaßt werden können. Man wird vermutlich alle Analogien dieser beiseitelassen müssen und statt dessen fragen müssen, welche Konsequenzen es haben wird, wenn Computer eine ganz eigenständige strukturelle Kopplung zwischen einer für sie konstruierbaren Realität und Bewußtseins- bzw. Kommunkationssystemen herstellen können.“ (Ebd., S. 117-118.)

„Wir gehen ... davon aus, daß Kommunikationssysteme über Sprache an Bewußtseinssysteme gekoppelt sind und nur deshalb sich Indifferenz gegenüber allem anderen leisten können. Aber zugleich kann man es für wahrscheinlich halten, daß der Computer andere Formen struktureller Kopplung ermöglichen wird.“ (Ebd., S. 118.)

„In dem Maße, in dem man Kommunikationssysteme als autopoietische Systeme eigener Art zu untersuchen beginnt, müssen auch die überlieferten Vorstellungen von »Kognition« überprüft werden. Auch dabei geht es um eine Neubeschreibung des humanistischen Erbes der europäischen Tradition.“ (Ebd., S. 120.)

„Maschinen können nicht mehr als Supplemente körperlicher Aktivität aufgefaßt werden und erzwingen deshalb eine Neubeschreibung des Verhältnisses von Mensch und Maschine. Forschungen über »künstliche Intelligenz« zeigen diese Veränderung an - bis hin zu der Frage, ob die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine überhaupt noch eine kognitionstheoretisch adäquate Problemstellung ist.“ (Ebd., S. 122.)

„Es belibt ... dabei, daß die Wissenschaft es mit selbsterzeugten (und nur deshalb absoluten!) Gewißheiten zu tun hat. Wenn man aber das zugesteht, muß man eine sehr viel weitergehende Prämisse akzeptieren, nämlich die, daß die Wissenschaft es durchweg mit selbsterzeugten Ungewißheiten zu tun hat. Denn Gewißheit ist eine Form, die man nur verwenden kann, wenn man ihre andere Seite, die Ungwißheit, mitakzeptiert.“ (Ebd., S. 127-128.)

„Die Systemtheorie muß eine ihrer Lieblingsideen aufgeben, aus den kausalen Beziehungen zwischen System und Umwelt auf Anpassung des Systems an die Umwelt zu schließen. Auch die Evolutionstheorie wird auf diesen Gedanken verzichten müssen. Systeme erzeugen durch operative Schließung eigene Freiheitsgrade, die sie ausschöpfen können, solange es geht, das heißt: solange die Umwelt es toleriert. Es eignen sich dafür nur wenige, hinreichend strukturaufnahmefähige Formen der Autopoiesis, vor allem natürlich die äußerst robuste Biochemie des Lebens. Der Gesamteffekt aber ist, nach allem, was man sieht, nicht Anpassung, sondern Abweichungsverstärkung.“ (Ebd., S. 133.)

„Die verbreitete Neigung, ... »Verantwortung« anzumahnen, kann nur als Verzweiflungsgeste beobachtet werden.“ (Ebd., S. 133.)

„Ohne Beobachter gibt es keine Komplexität.“ (Ebd., S. 144.)

„Die Bestimmung der Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem hat zur Konsequenz, daß es für alle anschlußfähige Kommunikation nur ein einziges Gesellschaftssystem geben kann. Rein faktisch mögen mehrere Gesellschaftssysteme existieren, so wie man früher von einer Mehrzahl von Welten gesprochen hat; aber wenn, dann ohne kommunikative Verbindung dieser Gesellschaften, oder so, daß, von den Einzelgesellschaften aus gesehen, eine Kommunikation mit den anderen unmöglich ist oder ohne Konsequenzen bleibt.“ (Ebd., S. 145.)

„Solange die Welt dinghaft begriffen wurde - als Gesamtheit der Dinge oder als Schöpfung -, mußte alles, was rätselhaft blieb, in der Welt vorgesehen sein - als Gegenstand von admiratio: als Wunder, als Geheimnis, als Mysterium, als Anlaß zu Schrecken und Entsetzen oder zu hilfloser Frömmigkeit. Dies ändert sich, wenn die Welt nur noch ein Horizont, nur noch die andere Seite jeder Bestimmung ist. Dieser Weltbegriff war spätestens mit der Philosophie des transzendentalen Bewußtseins erreicht. (Man kann mit Friedrich Schlegel auch so formulieren: Der Verzicht auf die Annahme von »Dingen außer uns« zwingt nicht zum Verzicht auf den Begriff der Welt. Siehe die Jenaer Vorlesung Transzendentalphilosophie [1800-1801], zit. nach Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Band XII, ... S. 37. Bereits Schlegel begründete dies im übrigen mit der These, daß nur das ins Bewußtsein eingehen könne, was durch Unterscheidungen bestimmt werden könne.)“ (Ebd., S. 147.)

„Der neuzeitliche Individualismus und vor allem die Freiheitsthematik des 19. Jahrhunderts gaben daher einen wichtigen Anlaß, eine Vorstellung von Weltgesellschaft auszubilden. (Hegel spricht deshalb in einem sehr bestimmten Sinne von »Weltgeschichte« Siehe dazu vor allem Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution, zit. nach der Ausgabe in: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik: Studien zu Aristoteles und Hegel, 1969, S. 183-255. Dort heißt es [aus Anlaß von Überlegungen zum Problem der Kolonisation]: »Die industrielle bürgerliche Gesellschaft ist daher für Hegel schließlich durch ihr eigenes Gesetz dazu bestimmt, zur Weltgesellschaft zu werden; die für das Verhältnis der politischen Revolution zur Weltgeschichte entscheidende Beziehung der Freiheit auf die Menschheit und den Menschen als Gattung ist in dieser potenziellen Universalität der bürgerlichen Gesellschaft begründet.« [222].)“ (Ebd., S. 157.)

„In dem Maße, in dem die Kongruenz von Sozialstruktur und Semantik der traditionalen Gesellschaft sich auflöst und die damit gegebenen Plausibilitäten nicht mehr verpflichten, wird eine freiere Begriffsbildung möglich. Das Problem der Rationalität kann abstrakter formuliert werden. Es läßt sich heute nicht mehr als Ausrichtung an den Lebensformen eines Zentrums oder einer Spitze begreifen, also auch nicht mehr als Annäherung an eine Idee oder mit Bezug auf ein normatives Gebot als Erfüllung oder Abweichung. Die Erosion einer solchen Idealbegrifflichkeit tangiert schließlich auch die Gegenbegrifflichkeit einer wie immer imperfekten, korrupten, devianten, widerständigen Realität. Die traditionelle Form der Rationalität, das heißt die Unterscheidung, deren eine Seite sie markiert, löst sich auf. Statt dessen wird das Problem des Verhältnisses von Realität und Rationalität letztlich dadurch akut, daß jede kognitive und jede handlungsmäßige Operation als Beobachtung eine Unterscheidung erfordert, um die eine (und nicht die andere) Seite der Unterscheidung bezeichnen zu können. Sie muß ihre beobachtungsleitende Unterscheidung als Differenz (und nicht als Einheit, nicht in der Ununterschiedenheit des Unterschiedenen, nicht in dem, was beiden Seiten gemeinsam ist) verwenden. Sie darf gerade nicht, im Sinne Hegels, dialektisch verfahren, sondern sie muß sich selbst als Beobachtung aus dem, was sie beobachtet, ausschließen. Dabei wird der Beobachter, gleichgültig welche Unterscheidung er verwendet, zum ausgeschlossenen Dritten. Aber gerade er, er allein, garantiert doch mit seiner Autopoiesis die Realität seiner eigenen Operationen und damit die Realität all dessen, was dabei im Modus der Gleichzeitigkeit als Welt vorausgesetzt sein muß! Die Praxis des bezeichnenden Unterscheidens kommt in der Unterscheidung nicht vor. Sie kann nicht bezeichnet werden, es sei denn durch eine andere Unterscheidung. Sie ist der blinde Fleck des Beobachtens - und eben deshalb der Ort seiner: Rationalität.“ (Ebd., S. 178.)

„Ein so gestelltes Problem kennt keine befriedigende Lösung. Es hilft auch nicht, erneut die Unterscheidung von Denken und Sein oder von Subjekt und Objekt zu bemühen. Die Theorie kann sich nicht selbst purgieren, indem sie nur ihr Objekt, hier also nur die Gesellschaft, für paradox hält und so die Paradoxie gleichsam ausscheidet, um sich selbst davon zu befreien. Denn alle Begriffe, mit denen sie ihr Objekt analysiert (System, Beobachtung, blinder Fleck, Sinn, Kommunikation usw.) treffen auch auf sie selber zu: Das Analyseniveau, auf das wir uns mit den vorstehenden Überlegungen eingelassen haben, zwingt zu autologischen Schlüssen. Aber gerade weil das Problem der Rationalität als Paradox formuliert und weil Kommunikation von Rationalität nur als paradoxe Kommunikation möglich ist, kann man Auswege, kann man Abhilfen erkennen, die in dieser Perspektive als funktional rational gelten können. Das Problem der Rationalität wird durch Bezug auf eine fundierende Paradoxie gespalten. Eben daraus, daß die Paradoxie zu nichts führt außer zu sich selbst, folgt, daß mit Bezug auf dieses im Beobachten nicht zu überbietende Problem etwas geschehen muß, und zwar operativ geschehen muß. Und immer schon geschehen ist! Denn jede Paradoxie ist nur paradox für einen Beobachter, der seine Beobachtungen bereits systematisiert hat. Die Paradoxie kann sich, anders gesagt, nicht selber »entfalten«; sie findet sich im Beobachten, aber immer nur auf Grund einer Unterscheidung, die (unter Verzicht auf die Frage nach ihrer eigenen Einheit) sie immer schon entfaltet hat. Zum Beispiel mit Hilfe der Unterscheidung von System und Umwelt. Der Lauf der Welt kann nur operativ in Gang gesetzt werden. Oder mit dem Theorem Heinz von Foersters: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.« (So Heinz von Foerster, Wahrnehmung, in: Ars Electronica [Hrsg.], Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 27-40 [30].)“ (Ebd., S. 178-179.)

„Ein als Auflösung einer Paradoxie angelegter Ausweg läßt sich mit dem Begriff des Wiedereintritts der Form in die Form oder der Unterscheidung in das Unterschiedene bezeichnen. (»Re-entry« im Sinne von Spencer-Brown, a.a.O., S. 56 ff., 69 ff.) Da die Form in der Form die Form ist und zugleich nicht ist, handelt es sich um ein Paradox, aber zugleich um ein entfaltetes Paradox; denn man kann nun Unterscheidungen wählen (nicht alle eignen sich), deren Wiedereintritt interpretiert werden kann. Ein Beobachter dieses Wiedereintritts hat dann die doppelte Möglichkeit, ein System sowohl von innen (seine Selbstbeschreibung »verstehend«) als auch von außen zu beschreiben, also sowohl einen internen als auch einen externen Standpunkt einzunehmen. Es versteht sich: er kann nicht beides zugleich, da er hierbei die Unterscheidung innen/außen verwenden muß. Aber diese Unmöglichkeit läßt sich kompensieren durch die Möglichkeit, das eigene Beobachten aus der jeweils anderen Position heraus zu beobachten. “ (Ebd., S. 179-180.)

„Rückblickend kann man jetzt erkennen, daß diese Figur des re-entry der Form in die Form schon immer als heimliche Struktur dem Rationalitätsbegriff zu Grunde lag, ohne Argument werden zu können. So wurde zwischen Sein und Denken unterschieden und vom Denken als Bedingung der Rationalität Übereinstimmung mit dem Sein verlangt. Die Rationalität war, in dieser offiziellen Version, die Übereinstimmung selbst; und mit Bezug darauf hatten wir oben vom alteuropäischen Rationalitätskontinuum gesprochen. Aber das Denken mußte ja - vor der Erfindung eines extramundanen Subjekts, das die alteuropäische Tradition sprengte - selber sein. Also lag der Unterscheidung von Sein und Denken ein re-entry der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene, in das Denken zu Grunde. Und war dann nicht vielleicht immer schon diese Figur der heimliche Grund der Rationalitätsprätention? Gleiches gilt für die Unterscheidung von Natur und Handlung, die ihre Konvergenz ja auch nur unter der Voraussetzung erreichen konnte, daß das Handeln als rational galt, wenn es seiner eigenen rationalen Natur entsprach. In der Darstellung von Rationalität als Konvergenz konnte diese Struktur aber nicht reflektiert werden. Deshalb erzeugt die alteuropäische Tradition nur eine Parallelontologie des Seins und des Denkens, der Natur und des Handelns. Sie kann deren Zusammenhang nur voraussetzen und Gott dafür danken. Was gegenüber der Tradition distanziert, ist also nur die Entdeckung dieses re-entry. Sie setzt abstraktere Begriffsmittel voraus, die dann ihrerseits Anlaß geben, sich von der anthropologischen, über Denken und Handeln artikulierten Version von Rationalität zu distanzieren und zu einer formaleren systemtheoretischen Darstellung überzugehen.“ (Ebd., S. 180-181.)

„Wenn zunächst die Zweckrationalität als Form in sich selbst hineinkopiert wird, so heißt dies, daß die Rationalität selbst als Mittel gedacht wird. Aber dann: zu welchem Zweck? Offenbar muß der Zweck selbst jetzt externalisiert werden, damit die Rationalität ihm dienen kann. Das war schon vorbereitet durch die Unterscheidung Zweck/Motiv. Weitergehend könnte man auch sagen, die Rationalität diene der Selbstdarstellung als rational. Oder der Legitimation. Oder der Begründung des Handeins. In all diesen Varianten wird die Rationalität gleichsam gödelisiert. Sie stützt sich auf einen extern vorgegebenen Sinn, um sich intern als geschlossen, als vollständige Unterscheidung darstellen zu können. Die Einbeziehung dieser externen Vorgabe in den Kalkül kann dies Problem nur wiederholen. (Es führt daher nicht weiter, das Problem mit Russell und Tarski durch die Unterscheidung (!) von Ebenen lösen zu wollen.) Rationalität mit Vollzug ihres re-entry ist daher von vornherein »Ideologie«. Sie bleibt angewiesen auf Operationen, die sie selbst nicht leisten, nicht begründen kann. Denn jedes re-entry bringt das System in einen Zustand des »unresolvable indeterminacy«.“ (Ebd., S. 181-182.)

„Diese Auslegung des Schicksals moderner Rationalität läßt sich durch eine systemtheoretische Analyse ergänzen und präzisieren. Angewandt auf die Unterscheidung von System und Umwelt, fordert diese Regel des Wiedereintritts, daß die Unterscheidung von System und Umwelt im System wiedervorkommt. Im System! Es bedarf also keines Ausgriffs auf ein umfassendes System, keiner letzten Weltgarantie von Rationalität, also auch keiner »Herrschaft« als Form ihrer Realisierung. Das System selbst erzeugt und beobachtet die Differenz von System und Umwelt. Es erzeugt sie, indem es operiert. Es beobachtet sie, indem dies Operieren im Kontext der eigenen Autopoiesis eine Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz erfordert, die dann zur Unterscheidung von System und Umwelt »objektiviert« werden kann. Das System kann die eigenen Operationen nach wie vor immer nur an die eigenen Operationen anschließen, aber es kann die dafür richtungweisenden Informationen entweder sich selbst oder seiner Umwelt entnehmen. Kein Zweifel, daß dies real moglich ist, auch und gerade für operativ geschlossene Systeme. Es geht dabei um ein operatives Ausprobieren von Unterscheidungen - und Ausprobieren in dem Sinne, daß ihre Verwendung Differenzen erzeugt, die in der Form von Systemen entweder kontinuieren oder nicht kontinuieren.“ (Ebd., S. 182.)

„Ganz ähnliche Überlegungen lassen sich in der Begrifflichkeit der neueren Semiotik formulieren. Hier ist die primäre Differenz zunächst mit Zeichen gesetzt. Als rational gilt das Bemühen, die Welt lesbar zu machen mit Hilfe relativ weniger Zeichen, die aber für praktisch unendlich viele Kombinationen zur Verfügung stehen. Die Tradition hatte Zeichen als Referenz, als Hinweis auf etwas Vorhandenes, etwas »Anwesendes« gedacht. Die Kritik dieser Tradition, etwa bei Jacques Derrida, hält nur noch das operative Faktum des take off, des Ablösens, der Erzeugung von différence durch différance fest. Das Zeichen verdankt sich seiner anderen Seite, die für Bezeichnungen nicht zur Verfügung steht - dem »unmarked space« Spencer Browns, der »Weiße« des Papiers, der Stille, in die Laute sich einzeichnen. Das Stillhalten der Stille ist und bleibt Voraussetzung für das Kombinationsspiel der Zeichen, das sich eigener Unterscheidungen bedient. Man sieht: es geht um das Erzeugen von Differenz durch Indifferenz. Die einzig funktionsfähigen Unterscheidungen sind nicht die letzte Unterscheidung, und dies auch dann nicht, wenn sie sich zu der Unterscheidung von System und Umwelt aufsummieren.“ (Ebd., S. 182-183.)

„Systemrationalität setzt, wenn man dem oben gegebenen Begriffsvorschlag folgt, einen solchen Wiedereintritt der Form in die Form voraus. Damit allein ist sie jedoch noch nicht erreicht. Wir müssen zusätzlich beachten, daß Rationalität im Kontext einer Unterscheidung von Realität definiert und angestrebt werden muß. Sie verdankt sich also ihrerseits einer Unterscheidung, die nicht die letzte Unterscheidung ist. Unter der Bedingung von Realität muß die Autopoiesis fortgesetzt werden. Wenn nicht, entfällt die entsprechende Realität. Indem das System autopoietisch operiert, tut es, was es tut, und nichts anderes. Es zieht also eine Grenze, bildet eine Form und läßt alles andere beiseite. Daraufhin kann es das Ausgeschlossene als Umwelt und sich selbst als System beobachten. Es kann die Welt anhand der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz beobachten und dadurch, daß es das tut, die eigene Autopoiesis fortsetzen. Die Selbstbeobachtung kann nie rückgängig machen, was geschehen ist, da sie selbst es im Kontext von Autopoiesis benutzt und fortsetzt.. Sie kann auch nie einholen, was sie autopoietisch als Differenz produziert hat. Im realen Operieren zerteilt sie die Welt, den unmarkierten Raum, in System und Umwelt, und das Ergebnis entzieht sich der beobachtenden Erfassung - so wie in traditioneller Terminologie kein Auge in der Lage ist, die plenitudo entis zu sehen. Nach diesen Umformulierungen des Problems erscheint Rationalität nicht mehr als paradox, sie erscheint als unmöglich.“ (Ebd., S. 183-184.)

„Das hat jedoch den Vorteil, daß man sich Annäherungsmöglichkeiten überlegen kann. Ein System kann Eigenkomplexität und damit Irritabilität aufbauen. Es kann die Unterscheidung System/Umwelt auf beiden Seiten durch weitere Unterscheidungen ergänzen und damit seine Beobachtungsmöglichkeiten erweitern. Es kann Bezeichnungen wiederverwenden und damit Referenzen kondensieren oder sie nicht wiederverwenden und damit löschen. Es kann erinnern und vergessen und damit auf lrritationshäufigkeiten reagieren. Mit all dem kann der Wiedereintritt der Unterscheidung in das Unterschiedene angereichert und mit komplexeren Anschlußfähigkeiten ausgestattet werden. Im Unterschied zu Traditionskonzepten geht es dabei nicht um Annäherung an ein Ideal, nicht um mehr Gerechtigkeit, nicht um mehr Bildung, nicht um Selbstverwirklichung eines subjektiven oder objektiven Geistes. Es geht nicht um Erreichen von Einheit (denn das wäre, wie gesagt, Rückkehr in die Paradoxie oder in ihr Substitut: die Unmöglichkeit). Systemrationalität heißt: eine Unterscheidung, nämlich die von System und Umwelt, der Realität auszusetzen und an ihr zu testen.“ (Ebd., S. 184.)

„Man kann sich dies am Beispiel der ökologischen Probleme der modernen Gesellschaft verdeutlichen, Zunächst ist davon aus zugehen, daß zum Beispiel die Marktwirtschaft als operativ geschlossenes System funktioniert und deshalb nicht zugleich das »ökologische System« (wenn es denn ein System ist) optimieren kann. Es wäre gewiß nicht rational, diese Bedingungen zu ignorieren. Das hieße sich blindstellen. Die Probleme können auch nicht dadurch gelöst werden, daß man Umwelteingriffe unterläßt oder gar die Differenz von System und Umwelt löscht, also den Betrieb von Gesellschaft einstellt. Das würde heißen: Rationalität als Endkatastrophe anzustreben. (Es ist nicht schwierig, sich kleinere Formate desselben Prinzips vorzustellen, etwa den Vorschlag, Energieerzeugung, chemische Produktion etc. einzustellen). Ein rationaler Umgang mit den Problemen kann nur in der Gesellschaft und nur unter der Bedingung der Fortsetzung ihrer Autopoiesis angestrebt werden, und das impliziert immer: Erhaltung der Differenz. Dasselbe Problem wiederholt sich innerhalb der Gesellschaft auf der Ebene ihrer einzelnen Funktionssysteme. Auch hier liegen die Rationalitätschancen in der Erhaltung und in der Ausnutzung von Differenzen, nicht in ihrer Eliminierung. Die Irritabilität der Systeme muß verstärkt werden, was nur im Kontext ihres selbstreferentiell geschlossenen Operierens geschehen kann. Genau darauf zielt aber die Systemtheorie, wenn sie die Unterscheidung von System und Umwelt als die Form des Systems behandelt. Mehr als durch irgendeine andere Theorie der Gesellschaft rücken dadurch ökologische Probleme und im genau gleichen Sinne Humanprobleme in den Mittelpunkt der theoretischen Konzeption. Diese Zentrierung auf Differenz schärft den Blick auf die genannten Probleme in einer Weise, die jede Hoffnung nimmt, daß sie gelöst werden könnten und damit verschwinden würden. Nur wenn man dies akzeptiert, kann man Probleme wie Arbeitsprogramme behandeln und versuchen, die Position des Gesellschaftssystems in Bezug auf seine humane und seine nichthumane Umwelt nach Kriterien zu verbessern, die in der Gesellschaft selbst konstruiert und variiert werden müssen.“ (Ebd., S. 184-185.)

„Diese Überlegungen machen zugleich einsichtig, wie sehr das Rationalitätsproblem der Moderne mit der Differenzierungsform des Gesellschaftssystems zusammenhängt. Wenn die moderne Gesellschaft im Übergang zu einer vorherrschend funktionalen Differenzierung auf ein Leitsystem, auf eine Spitze oder ein Zentrum verzichten muß, kann sie auch keine einheitliche Rationalitätsprätention für sich selbst mehr erzeugen. Das schließt es nicht aus, daß die Funktionssysteme je für sich die Einheit der Differenz von System und Umwelt zu reflektieren suchen. Dabei kann auch die Naturumwelt und die Humanumwelt des Gesellschaftssystems mit in Betracht gezogen werden, und ökologische ebenso wie humanistische Empfindlichkeiten zeigen diese Möglichkeiten und ihre Grenzen an. Auch in dieser Frage muß man jedoch Systemreferenzen auseinanderhalten: Kein Funktionssystem kann in sich die Gesellschaft reflektieren, weil dies die Mitberücksichtigung der Operationsbeschränkungen aller anderen Funktionssysteme in jedem einzelnen erfordern würde. Die gesellschaftliche Rationalität wird unter modernen Bedingungen im wortgenauen Sinne eine Utopie. Für sie gibt es keinen Standort in der Gesellschaft mehr. Aber das wenigstens kann man noch wissen, und selbstverständlich spricht nichts dagegen - ja gerade dieses Argument spricht dafür, in den gesellschaftlichen Funktionssystemen eine stärkere Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Umwelt zu initiieren. Denn niemand sonst kann es tun. “ (Ebd., S. 185-186.)

„Systemrationalität in diesem auf die Paradoxie des Beobachtens gegründeten Sinne erhebt keinen Anspruch auf den Titel »Vernunft«. Für einen Kompetenzbegriff dieser Art fehlt das Subjekt. »Vernunft« war ein Titel gewesen, mit dem die Ahnungslosigkeit in bezug auf Widersprüche zwischen Zwecken und Mitteln ausgezeichnet wurde. In diesem Sinne galt die Vernunft als unschuldig. Sie rühmt sich, »kritisch« zu sein. Mit dem Pathoswort »Kritik« wird jedoch eine Schwäche verdeckt, die man heute nicht länger ignorieren kann. Die Vernunft ist darauf angewiesen, daß ihr Weltzustände, praktisch also Texte, zur Beurteilung vorgelegt werden. Das Problem ist jedoch, daß man von einer Kritik der Zustände nicht zu einem rationalen Konzept für Änderungen kommt. Das sieht man heute überall - bei der Produktionsplanung in Betrieben und in der ökologischen Politik, beim Entwurf von Kunstwerken und beim Entwurf von Theorien, die vom bisher Üblichen abweichen. Immer sind Routinen vorausgesetzt, die einen Änderungsbedarf erkennen lassen und damit steuern, wo Eingriffe angesetzt werden können. Daraus ergibt sich jedoch kein Hinweis auf die Rationalität von Änderungen, geschweige denn ein Konzept für die rationale Anpassung an Änderungen. Eine Kritik der Routinen würde vielmehr die kognitiven Grundlagen für die Wahrnehmung eines Ände ungsbedarfs auflösen. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb Evolutionstheorien immer dort faszinieren, wo Rationalitätsansprüche nicht durchgehalten werden können.“ (Ebd., S. 186-187.)

„Auch kann man Vernunft nicht begreifen als einen Satz von Kriterien (oder eine Instanz für deren Festlegung), nach denen vor und nach der Kommunikation erkennbar festgestellt werden kann, ob sie zu akzeptieren ist oder nicht. Annehmen oder Ablehnen ist stets eine neue, eine selbständige Kommunikation. Vernunft kann deshalb allenfalls retrospektiv zitiert werden zur Symbolisierung einer gelungenen Verständigung; und sie wird vor allem dann gebraucht, wenn man von Interessenlagen absehen will.“ (Ebd., S. 187.)

„Zieht man die Grundparadoxie des Beobachtens und des Wiedereintritts von Unterscheidungen in sich selbst in Betracht, bleibt zwar das Problem des blinden Flecks, bleibt also die Notwendigkeit, die Paradoxie zu invisibilisieren. Jede Beobachtung muß ihre eigene Paradoxie entfalten, das heißt, durch eine hinreichend funktionierende Unterscheidung ersetzen. Jede Theorie, die den Anspruch erhebt, die Welt zu beschreiben, und in diesem Sinne universelle Geltung anstrebt, muß diese Notwendigkeit der Invisibilisierung mit in Rechnung stellen. Sie muß sie zumindest bei anderen (als deren »Ideologie«, als deren »Unbewußtes«, als deren »Latenzbedarf«) berücksichtigen. Sie muß also auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung formuliert werden. Dann läßt sich aber der »autologische« Rückschluß auf das eigene Beobachten nicht vermeiden.“ (Ebd., S. 187.)

„Rückblickend kann man jetzt auch besser verstehen, weshalb das Rationalitätskontinuum der alteuropäischen Tradition aufgegeben werden mußte. Jede Beobachtung (Erkennen und Handeln eingeschlossen) ist und bleibt an die Selektion einer Unterscheidung gebunden, und Selektion heißt zwangsläufig: etwas unberücksichtigt lassen. Die Titel des 20. Jahrhunderts dafür lauten: Pragmatismus, Histolismus (=> 19. Jahrhundert; Anm. HB), Relativismus, Pluralismus. Sie waren jedoch als Einschränkungen universalistischer Rationalitätsansprüche formuliert worden. Wenn aber jedes Beobachten genötigt ist, die eigene Paradoxie aufzulösen und dafür keine vernünftigen (unschuldigen) Gründe angeben kann, verlieren Unvollständigkeitstheoreme jeder Art den Beiklang des Zurückbleibens hinter dem, was an sich erstrebenswert wäre. Man wird jetzt von der Universalität des Selektionszwangs, von der Universalität des Unterscheidens und des Grenzen-Ziehens ausgehen müssen, und eine Vernunft, die dies nicht wahrhaben will, gerät damit in die Nähe einer totalitären, wenn nicht terroristischen Logik. Und auch sie hat ihr (gut verstecktes) Invisibilitätstheorem. Denn sie kann nicht angeben, was mit denen zu geschehen hat, die partout nicht einsehen können, was die Vernunft ihnen vorschlägt.“ (Ebd., S. 187-188.)

„Rationalität scheint der Fluchtpunkt gewesen zu sein, auf den hin man auch bei zunehmender Komplexität der Gesellschaft immer noch an eine letzte Harmonie glauben konnte (und die Wirtschaft profitiert noch heute davon, wenn sie ihre Selbstbeschreibung an Annahmen über die Rationalität ihrer Entscheidungspraxis legitimiert). Davon ausgehend sieht man aber auch, daß die Perspektive der Rationalität zugleich die Auflösung dieser letzten Harmonievorstellung registriert - zunächst durch Annahme einer gute Ergebnisse garantierenden »invisible hand«, dann über Evolutionstheorie bis hin zu einer Relativierung auf subjektive Präferenzen, die zwar als sozial interdependent, aber, wenn so, nicht als stabil vorausgesetzt werden können. Schließlich muß man sogar zweifeln, ob der Bezug des Problems der Rationalität auf das Individuum haltbar ist - sei es im Sinne des rational choice, sei es im Sinne der kommunikativen Verständigung. Denn vielleicht ist auch dies nur ein Traditionselement; würden wir doch Rationalität von Mitgliedern einer Organisation oder einer Profession erwarten, aber wohl kaum von Personen in ihrem Privatleben. Auf dieser absteigenden Linie kann die Soziologie keinen Halt bieten, schon gar nicht über Begriffe wie Ethik, Kultur oder Institution. Die Systemtheorie kann immerhin sich die Relativierung auf Systemreferenzen zunutzemachen und die Frage stellen, mit Bezug auf welches System denn die Frage der Rationalität ihr größtes Gewicht erhält. Und dann dürfte die Antwort eindeutig sein: mit Bezug auf das umfassende Sozialsystem der Gesellschaft und deren Formen der Respezifikation von zu allgemein geratenen Kriterien, nämlich Organisationen und Professionen.“ (Ebd., S. 188-189.)

„Damit ist freilich nicht behauptet, daß die Gesellschaft über Normen, Regeln oder Direktiven Rahmenrichtlinien für das geben könne, was für Teilsysteme der Gesellschaft das Prädikat rational verdient. Die Gesellschaft steuert sich, wie wir noch mehrfach sehen werden, allenfalls über Fluktuationen, die funktionale oder regionale Systeme zur Verarbeitung von dissipativen Strukturen und damit zur Selbstorganisation zwingen. Hier mögen ganz andere Paradoxien und ganz andere Unterscheidungen, jedenfalls andere Unterscheidungen von Selbstreferenz und Fremdreferenz eine Rolle spielen. Das muß konkreteren Untersuchungen überlassen bleiben, ändert aber nichts daran, daß man den Begriff der Rationalität in erster Linie auf das System der Weltgesellschaft beziehen muß, wenn man begreifen will, wie der Kontext für andere Systemrationalitäten reproduziert wird.“ (Ebd., S. 189.)

„Wie immer man aber über den Begriff der Rationalität und seine Bedingungen entscheiden wird: die Berufung auf Rationalität dient in der laufenden Kommunikation dazu, die Unverhandelbarkeit einer Position zu markieren. Dafür besteht ein Bedarf. Und zugleich spekuliert man bei solchem Vorgehen mit der Trägheit des Kommunikationsprozesses. Er wird nicht von seinem Thema ablassen und sich den Bedingungen von Rationalität zuwenden, nur weil jemand behauptet, etwas sei rational oder nicht rational. Selbst wenn die begriffliche Klärung zu keinem Ende führt, muß das die Einschaltung der Berufung auf Rationalität in die laufende Kommunikation nicht entmutigen. Sie ist gleichsam der Boden, der dem Bedürfnis der Klärung der Bedingungen von Rationalität immer neue Nahrung gibt.“ (Ebd., S. 189.)

 

Die Gesellschaft der Gesellschaft Kommuniaktionsmedien.

I. Medium und Form. - Sieht man einmal davon ab, daß ein Gesellschaftssystem faktisch bereits existiert und Kommunikation durch Kommunikation reproduziert, ist ein solcher Sachverhalt extrem unwahrscheinlich. Die Kommunikation macht sich nur selber wahrscheinlich. Als Einzelereignis kann sie nicht vorkommen. Jede Kommunikation setzt andere Operationen gleichen Typs voraus, auf die sie reagieren und die sie stimulieren kann. Ohne rekursive Bezugnahmen dieser Art fände sie überhaupt keinen Anlaß, sich zu ereignen. “ (Ebd., S. 190.)

„Das heißt vor allem: daß der Anschluß von Kommunikation an Kommunikationen nicht willkürlich, nicht zufällig geschehen kann, denn sonst wäre Kommunikation für Kommunikation nicht als Kommunikation erkennbar. Es muß erwartungsleitende Wahrscheinlichkeiten geben, anders ist die Autopoiesis der Kommunikation nicht möglich. Aber das verschiebt nur unser Problem in die Frage, wie denn die Kommunikation selbst ihre eigene Unwahrscheinlichkeit des Sichereignens überwinden kann.“ (Ebd., S. 190.)

„Die Unwahrscheinlichkeit einer kommunikativen Operation kann man an den Anforderungen verdeutlichen, die erfüllt sein müssen, damit sie zustandekommt. Kommunikation ist, wie oben ausgeführt (vgl. Kapitel 1, V), eine Synthese aus drei Selektionen. Sie besteht aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede dieser Komponenten ist in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis. Information ist eine Differenz, die den Zustand eines Systems ändert, also eine andere Differenz erzeugt. Warum soll aber gerade eine bestimmte Information und keine andere ein System beein drucken? Weil sie mitgeteilt wird? Aber unwahrscheinlich ist auch die Auswahl einer bestimmten Information für Mitteilung.“ (Ebd., S. 190.)

„Warum soll jemand sich überhaupt und warum gerade mit dieser bestimmten Mitteilung an bestimmte andere wenden angesichts vieler Möglichkeiten sinnvoller Beschäftigung? Schließlich: warum soll jemand seine Aufmerksamkeit auf die Mitteilung eines anderen konzentrieren, sie zu verstehen versuchen und sein Verhalten auf die mitgeteilte Information einstellen, wo er doch frei ist, all dies auch zu unterlassen? Schließlich werden all diese Unwahrscheinlichkeiten in der Zeitdimension nochmals multipliziert. Wie kann es sein, daß Kommunikation schnell genug zum Ziele führt, und vor allem: wie kann es sein, daß auf eine Kommunikation mit erwartbarer Regelmäßigkeit eine andere (nicht: dieselbe!) folgt?“ (Ebd., S. 191.)

„Wenn schon die einzelnen Komponenten der Kommunikation für sich genommen unwahrscheinlich sind, ist es ihre Synthese erst recht. Wie soll jemand auf die Idee kommen, einen anderen, dessen Verhalten ja gefährlich sein kann oder auch komisch, nicht nur schlicht wahrzunehmen, sondern es im Hinblick auf die Unterscheidung von Mitteilung und Information zu beobachten? Wie soll der andere erwarten und sich darauf einstellen können, daß er so beobachtet wird? Und wie soll jemand sich ermutigt fühlen, eine Mitteilung (und welche?) zu wagen, wenn gerade das Verstehen des Sinnes der Mitteilung den Verstehenden befähigt, sie abzulehnen? Geht man von dem aus, was für die beteiligten psychischen Systeme wahrscheinlich ist, ist also kaum verständlich zu machen, daß es überhaupt zu Kommunikation kommt.“ (Ebd., S. 191.)

„Fragen dieser Art sind im Prinzip an die Evolutionstheorie und an die Systemtheorie zu richten. Wir kommen im nächsten und im übernächsten Kapitel darauf zurück. Aber auch die Kommunikation selbst hat an ihrer immanenten Unwahrscheinlichkeit zu tragen. Wie Kommunikation möglich ist, und was sich zur Kommunikation eignet, ist durch die Lösung, oder genauer: durch die Transformation, dieses Problems bedingt.“ (Ebd., S. 191.)

„Das Problem wird kaum je mit dieser Schärfe gestellt. Üblicher weise begnügt man sich damit, das Vorkommen von Kommuni kation durch ihre Funktion zu erklären und die Funktion in der Entlastung und Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten von Lebewesen zu sehen. Lebewesen leben aus zwingenden biologischen Gründen als Einzelwesen. Sie leben aber nicht unabhängig voneinander. Sie sind in den höher entwickelten Arten mit Eigenbeweglichkeit und mit Möglichkeiten der Fernwahrnehmung ausgestattet. Wenn dies gegeben ist, kann es evolutionär erfolgreich sein, nicht nur die Reichweite der Eigenwahrnehmung zu vergrößern, sondern zusätzlich Informationen auszutauschen, statt sich jede Information selber zu beschaffen. Die Literatur kennt mehrere Bezeichnungen für diesen Sachverhalt, etwa »vicarious learning« oder »economy of cognition«. Der Gesichtspunkt ist jeweils: daß man sich mit Hilfe anderer sehr viel mehr und vor allem schneller Informationen beschaffen kann, als es mit Hilfe der eigenen Sinnesorgane möglich wäre. Entsprechend wird in neueren Theorien über »Hominisation« betont, daß die Absonderung eines besonderen Evolutionszweigs »Mensch« nicht direkt auf überlegene Fähigkeiten im Umgang mit der äußeren Natur zurückzuführen ist, sondern auf die besonderen kognitiven Anforderungen des sozialen Feldes, in dem diese in Richtung Mensch evoluierenden Primaten existieren. (Siehe dazu Eve-Marie Engels, Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur evolution ären Erkenntnistheorie, Frankfurt 1989, S. 183 ff..) Der Ausweg aus der damit angezeigten Herausforderung liegt in der gleichzeitigen Entwicklung von extremer Sozialabhängigkeit und hochgradiger Individualisierung, und das wird erreicht durch Aufbau einer komplexen Ordnung sinnhafter Kommunikation, die dann die weitere Evolution des Menschen bestimmt.“ (Ebd., S. 191-193.)

„Das Argument ist hilfreich, reicht aber als Erklärung nicht aus. Man kann ihm Angaben über die Umwelt des Kommunlkationssystems Gesellschaft (oder entsprechender Systeme tierischer Kommunikation) entnehmen. Wenn Lebewesen nicht einzeln leben müßten, wenn es keine Vorteile von Information auf Distanz gäbe und wenn es nicht hilfreich wäre, die Grenzen des eigenen Sinnesapparates, mag er auch für Distanzwahrnehmung geeignet sein, durch Distanzwahrnehmung der Distanzwahr nehmung anderer Lebewesen zu erweitern, könnten sich keine Kommunikationssysteme bilden. Die dies ermöglichende Umwelt erklärt viel. Sie erklärt aber gerade nicht, daß es zur Autopoiesis von Kommunikation, zur operativen Schließung kommunikativer Systeme kommt; so wenig wie eine chemische Erklärung der Autopoiesis des Lebens gelingen kann. Schon generell gilt, daß durch Angabe der Funktion nicht erklärt werden kann, daß etwas existiert und durch welche Strukturen es sich selbst ermöglicht. Und erst recht reicht eine funktionale Erklärung, die auf Bedürfnisse oder Vorteile in der Umwelt verweist, nicht aus, um zu erklären, wie das System funktioniert. Sobald man sieht, wie extrem unwahrscheinlich ein solches Zustandekommen und Funktionieren ist, muß man, bei aller Voraussetzung einer konduzierenden Umwelt, die Erklärung im System selbst suchen.“ (Ebd., S. 193.)

„Stellt man etwas höhere Ansprüche an begriffliche Genauigkeit, dann sieht man rasch, daß die Vorteile der sozialen Erweiterung kognitiver Fähigkeiten von Lebewesen gerade nicht dadurch gewonnen werden können, daß man sie voneinander abhängig macht. Die traditionsreiche Rede von den »Beziehungen« zwischen Lebewesen (unter anderen: Menschen) verschleiert diesen Sachverhalt. Lebewesen leben einzeln, leben als strukturdeterminierte Systeme. So gesehen ist es ein konstellationsbedingter Zufall, wenn das eine, obwohl es tut, was es tut, dem anderen nützen kann. Abhängigmachen hieße also: Unwahrsheinlichkeiten miteinander zu multiplizieren. Vorteile können deshalb nur dadurch gewonnen werden, daß Lebewesen von einem System höherer Ordnung abhängig werden, unter dessen Bedingungen sie Kontakte miteinander wählen können, also gerade nicht voneinander abhängig werden. Für Menschen ist dies System höherer Ordnung, das selber nicht lebt, das Kommunikationssystem Gesellschaft. (Es ist also nicht nur ein System konzentrierter Abhängigkeit von politischer Herrschaft im Sinne von Hobbes. Es ist auch nicht nur ein System aufgelöster und wählbarer Abhängigkeiten, wie es sich mit dem Übergang von Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft ergeben hat. Dies sind Beispiele für erfolgreiche evolutionäre Errungenschaften im Bereich unserer Problemstellung. Aber sie führen uns nicht zu einer Gesellschaftstheorie oder wenn, dann zu einer Theorie, die die Gesellschaft durch einen Primat der Politik oder durch einen Primat der Wirtschaft definiert.) Es muß, mit anderen Worten, auf der Ebene des emergenten Systems eine eigene Operationsweise (hier: Kommunikation), eine eigene Autopoiesis, eine selbst-ge währleistete Fortsetzbarkeit der Operationen geben; sonst hätte die Evolution von Möglichkeiten des vicarious learning nie er folgreich ablaufen können.“ (Ebd., S. 193-194.)

„Damit ist auch gesagt, daß eine »Übertragung« von Information von einem Lebewesen auf ein anderes (bzw. von einem Bewußtseinssystem auf ein anderes) unmöglich ist. Kommunikation kann deshalb nicht als Übertragungsprozeß begriffen werden. Informationen sind stets systemintern konstituierte Zeitunterschiede, nämlich Unterschiede in Systemzuständen, die aus einem Zusammenspiel von selbstreferentiellen und fremdreferentiellen, aber stets systemintern prozessierten Bezeichnungen resultieren. Das gilt schon für die neurophysiologischen Systembildungen und erst recht dann für Kommunikationssysteme.“ (Ebd., S. 194-195.)

„Kommunikationssysteme konstituieren sich selbst mit Hilfe einer Unterscheidung von Medium und Form. Die Unterscheidung von Medium und Form soll uns dazu dienen, den systemtheoretisch unplausiblen Begriff der Übertragung zu ersetzen. (Sie ersetzt auch oder ergänzt jedenfalls, Saussures Unterscheidung von »langue« und »parole«. Man kann diese Unterscheidung verallgemeinern zur Unterscheidung von Struktur und Ereignis. Aber dann sieht man auch, daß ihr all das fehlt, was die Systemtheorie leistet, nämlich eine Erklärurig dafür zu bieten, wie Ereignisse Strukturen produzieren und Strukturen Ereignisse dirigieren. Die Unterscheidung Medium/ Form ist in diesem Zwischenreich angesiedelt. Sie setzt kopplungsfähige Elementarereignisse [paroles] ebenso voraus wie die Notwendigkeit einer strukturierten Sprache, um diese Kopplung durchzuführen und sie von Moment zu Moment zu variieren.) Sie erspart uns außerdem die Suche nach »letzten Elementen«, die es nach den Erkenntnissen der: Nuklearmetaphysik à la Heisenberg ohnehin nicht gibt. An die, Stelle der ontologischen Fixpunkte, über die in den Debatten zwischen Reduktionismus und Holismus gestritten worden war, tritt eine beobachterabhängige Unterscheidung. Wenn wir von »Kommunikationsmedien« sprechen, meinen wir immer die operative Verwendung der Differenz von medialem Substrat und Form. (Wir folgenmit dieser Verwendung des Ausdrucks »Kommunikationsmedien« dem eingeführten Sprachgebrauch. Wo es auf größere Genauigkeit ankommt und nur die eine Seite der Unterscheidung im Unterschied zu (und nicht in Einheit mit) der anderen bezeichnet werden soll, werden wir, wie oben im Text, von »medialem Substrat« sprechen.) Kommunikation ist nur, und das ist unsere Antwort auf das Unwahrscheinlichkeitsproblem, als Prozessieren dieser Differenz möglich.“ (Ebd., S. 195.)

„Ähnlich wie der Informationsbegriff ist auch die (eng mit ihm zusammenhängende) Unterscheidung von Medium und Form stets ein systeminterner Sachverhalt. Ebenso wie für Information gibt es auch für die Medium/Form-Differenz keine Umweltkorrespondenz (obwohl natürlich in der Umwelt gegebene Bedingungen der Möglichkeit und entsprechende strukturelle Kopplungen). Kommunikation setzt also keinerlei letzte Identitäten (Atome, Partikel) voraus, die sie nicht selbst durch eigene Unterscheidungen bildete. Vor allem »repräsentieren« weder »Information« noch »Medium/Form« physikalische Sachverhalte der Umwelt im System. Das gilt bereits für die Wahrnehmungsmedien (»Licht« ist kein physikalischer Begriff) und erst recht für alle Kommunikationsmedien, die wir im folgenden behandeln werden. Das bedeutet auch, daß die Komplexitätsadäquität sich stets nach der Art und Weise richten muß, in der das informationserarbeitende System seine eigene Autopoiesis strukturiert.“ (Ebd., S. 195-196.)

„Die Unterscheidung von medialem Substrat und Form dekomponiert das allgemeine Problem der strukturierten Komplexität mit Hilfe der weiteren Unterscheidung von lose und strikt gekoppelten Elementen. (Wir finden uns hier ganz in der Nähe der naturwissenschaftlichen Unterscheidung von Gleichgewicht und Ungleichgewichtszuständen, wie sie insbesondere von Ilya Prigogine benutzt und mit der Unterscheidung von Entropie und Negentropie oder von Unordnung und Ordnung gleichgesetzt wird. Diese Formulierungen hinterlassen den Eindruck; als ob es sich um verschiedene, miteinander inkompatible Zustände handele. Die naturwissenschaftliche Entwicklung selbst führt jedoch bereits darüber hinaus, wenn man etwa an die Chaos-Forschung denkt. Das Problem verschiebt sich damit in die Theorie der Zeit und insbesondere in die Frage, wie »Gleichzeitigkeit« im Verhältnis zu »Zeit« zu verstehen ist. Jedenfalls geht die Unterscheidung Medium/ Form davon aus, daß die Zustände der losen bzw. festen Kopplung gleichzeitig gegeben sind und sachlich unterschieden werden müssen. Es handelt sich nicht um eine Theorie der Entstehung von Ordnung als Entwicklung von Medium zu Form.) Diese Unterscheidung geht davon aus, daß nicht jedes Element mit jedem anderen verknüpft werden kann; aber sie reformuliert das damit gestellte Selektionsproblem, bevor sie es behandelt, noch einmal durch eine weitere, vorgeschaltete Unterscheidung, um dann Formen (in diesem engeren Sinne strikter Kopplung) als Selektion im Bereich eines Mediums darstellen zu können.“ (Ebd., S. 196.)

„Schon den Wahrnehmungsprozessen der Organismen liegt eine solche Unterscheidung zu Grunde. (Siehe Fritz Heider, Ding und Medium, Symposion I, 1926, S. 109-157.) Sie setzen spezifische Wahrnehmungsmedien wie Licht oder Luft oder elektromagnetische Felder voraus, die durch den wahrnehmenden Organismus zu bestimmten Formen gebunden werden können, die dann auf Grund komplexer neurophysiologischer Prozesse als bestimmte Dinge, bestimmte Geräusche, spezifische Signale usw. erscheinen und verwertet werden können. Und schon hier kann das Medium Form werden: Licht wird in den Kathedralen zugelassen, wird Form, um mlt den Säulen und Bögen spielen zu können. Die physikalische Struktur der Welt muß das ermöglichen, aber die Differenz von Medium und Form ist eine Eigenleistung des wahrnehmenden Organismus.“ (Ebd., S. 196-197.)

„Auf ganz anderen Grundlagen findet man dieselbe Unterscheidung als Operationsgrundlage kommunikativer Systeme. Auch hier gibt es, wir hatten in der Klärung des Sinnbegriffs und in der Analyse von Sprache darauf schon vorgegriffen (vgl. Kapitel 1, III und VI), ein systemspezifisches Medium und, darauf bezogen, in das Medium sich einprägende Formen. Die lose gekoppelten Wörter werden zu Sätzen verbunden und gewinnen dadurch eine in der Kommunikation temporäre, das Wortmaterial nicht verbrauchende, sondern reproduzierende Form. Die Unterscheidung Medium/Form übersetzt die Unwahrscheinlichkeit der operativen Kontinuität des Systems in eine systemintern handhabbare Differenz und transformiert sie damit in eine Rahmenbedingung für die Autopoiesis des Systems. Das System operiert in der Weise, daß es das eigene Medium zu eigenen Formen bindet, ohne das Medium dabei zu verbrauchen (so wenig wie das Licht durch das Sehen von Dingen verbraucht wird). Die jeweils aktualisierten Formen, die gesehenen Dinge, die gesprochenen Sätze koppeln die Elemente des Systems für momentane Verwendung, aber sie vernichten sie nicht. Die Differenz von Medium und Form bleibt in der operativen Verwendung erhalten und wird durch sie reproduziert. Es kommt dabei auf die Differenz selbst an, und nicht nur auf die jeweils in der Operation verdichtete Form. Denn die Möglichkeit, Farbeindrücke wahrzunehmen oder Wörter auszusprechen, setzt gerade voraus, daß diese Einheiten in der Operation nicht konsumiert, sondern in ihrer Verwendbarkeit im Kontext anderer Formen reproduziert werden. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß wir unter »Form« die Markierung einer Unterscheidung verstehen. Also ist auch die Unterscheidung von Medium und Form eine Form. Die Unterscheidung impliziert sich selbst, sie macht jede Theorie, die mit ihr arbeitet, autologisch. Um zu explizieren, was wir unter Medium und Form verstehen, müssen wir Sprache verwenden, benutzen wir also die Unterscheidung von Medium und Form. Unter den Perspektiven der herkömmlichen Erkenntnistheorie wäre das ein Fehler, der alles, was daraus folgt, unbrauchbar macht. Wir werden aber auf dasselbe Problem stoßen, wenn wir in den nächsten Kapiteln mit den Unterscheidungen Variation/Selektion (Evolutionstheorie) und System/Umwelt (Theorie der Systemdifferenzierung) arbeiten. Für universalistisch ansetzende Theorien sind Autologien dieser Art unvermeidlich, und wenn man sie antrifft, ist das kein Einwand, sondern im Gegenteil: ein Beleg für den theoretischen Rang der Begrifflichkeit.“ (Ebd., S. 197-198.)

„Um so wichtiger ist es, die Form der Unterscheidung von Medium und Form möglichst genau zu beschreiben, damit man jeweils feststellen kann, welche Unterscheidung eine Operation verwendet und wo damit jeweils ihr blinder Fleck liegt, den sie selbst nicht beobachten kann. Wir tun dies mit Hilfe der Unterscheidung von loser und strikter Kopplung der Elemente. Ein Medium besteht in lose gekoppelten Elementen, eine Form fügt dieselben Elemente dagegen zu strikter Kopplung zusammen. Nehmen wir als Beispiel das Medium Handlung, und stellen wir uns die Gesellschaft als Gesamtheit ihrer Handlungen vor. Dann beruht Freiheit auf der strikten Kopplung von Handlungen in der Zurechnung auf einzelne Personen, die an der Form ihrer Handlungen erkennbar sind; und lose Kopplung gäbe dann die Möglichkeit, Handlungen für jeweils auftauchende Zwecke zu rekrutieren, weil sie nicht an Personen gebunden sind. Gesellschaften, die ein hohes Maß an Freiheit gewährleisten, enden in der Unverfügbarkeit des Handeins für kollektive Zwecke und, das ist nur scheinbar paradox, in einem Riesenstaat, der viel Geld braucht, um seine Programme trotz Freiheit zu realisieren. Kopplung ist ein Begriff, der Zeit impliziert. Man müßte von Koppeln und Entkoppeln sprechen - von einer nur momentanen Integration, die Form gibt, sich aber wieder auflösen läßt. Das Medium wird gebunden - und wieder freigegeben. Ohne Medium keine Form und ohne Form kein Medium, und in der Zeit ist es möglich, diese Differenz ständig zu reproduzieren. Die Differenz von loser und strikter Kopplung ermöglicht, in welcher sachlichen Ausprägung, auf welcher Wahrnehmungsbasis auch immer, ein zeitliches Prozessieren von Operationen in dynamisch stabilisierten Systemen und ermöglicht damit autopoietische Systeme dieses Typs. Im Hinblick auf dies laufende Binden und Lösen des Mediums kann man auch sagen, daß das Medium im System »zirkuliere«. Es hat seine Einheit in der Bewegung.“ (Ebd., S. 198-199.)

„Dieser zeitliche Vorgang des laufenden Koppelns und Entkoppelns dient sowohl der Fortsetzung der Autopoiesis als auch der Bildung und Änderung der dafür nötigen Strukturen - wie bei einer von-Neumann-Maschine. Er unterläuft also die klassische Unterscheidung von Struktur und Prozeß. Das heißt nicht zuletzt, daß die Einheit des Systems nicht mehr durch (relative) strukturelle Stabilität definiert sein kann, obwohl es nach wie vor um Systemerhaltung geht, sondern durch die Spezifik, in der ein Medium Formbildungen ermöglicht.“ (Ebd., S. 199.)

„Derselbe Zeitbezug zeigt sich auch am allgemeinen Medium Sinn, das sowohl psychischer als auch sozialer Formenbildung dient. Da Sinn immer nur ereignishaft aktualisiert werden kann und dies in Horizonten geschieht, die eine Vielzahl weiterer Aktualisierungsmöglichkeiten appräsentieren, ist jeder im Moment erlebte bzw. kommunizierte Sinn eine Form, das heißt: die Markierung eines Unterschieds und insofern determinierte Festlegung. Aber zugleich bilden hier anknüpfende Verweisungen auf ein »Und-so-weiter« weiterer Möglichkeiten ein Verhältnis loser Kopplung ab, das nur durch weitere Aktualisierungen gebunden werden kann. Die feste Kopplung ist das, was gegenwärtig (und sei es: als konkrete Erinnerung oder als Antizipation) realisiert ist. Die lose Kopplung liegt in den dadurch nicht festgelegten Möglichkeiten des Übergangs vom einen zum ande ren.“ (Ebd., S. 199-200.)

„Die Zirkulation kommt dadurch zustande, daß die Form stärker ist als das mediale Substrat. Sie setzt sich im Bereich der lose gekoppelten Elemente durch - und dies ohne jede Rücksicht auf Selektionskriterien, Rationalitätsgesichtspunkte, normative Direktiven oder andere Wertpräferenzen - vielmehr einfach als strikte Kopplung. Anders als die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas es postuliert, vermeiden wir den Einbau von Rationalitätsprätentionen in den Begriff der Kommunikation * und behaupten nur einen Zusammenhang von Durchsetzungsstärke und zeitlicher Flüchtigkeit der Form. (* Bei Habermas führt dies dazu, daß Formen der Kommunikation, die sich dem nicht fügen, trotzdem zugelassen, aber - anders weiß die Theorie sich dann nicht mehr zu helfen - abgewertet werden müssen, zum Beispiel als nur »strategisches« Handeln. Siehe für die volle Exposition: Jürgen Habermas, Theorie des komfuunikativen Handeins, Frankfurt 1981, und viel Sekundärliteratur.) Kommunikationsmedien präjudizieren nicht -ebensowenig wie der Begriff des Systems oder der Begriff der Evolution -in Richtung Rationalität. Auf dieser elementaren Ebene gilt nur: es geschieht, was geschieht. Andererseits sind Formen weniger be ständig als das mediale Substrat. Sie erhalten sich nur über be sondere Vorkehrungen wie Gedächtnis, Schrift, Buchdruck. Aber selbst dann, wenn eine Form als wichtig bewahrt wird, und hierfür setzen wir den Begriff der Semantik ein, bleibt die freie Kapazität des medialen Substrats zu immer neuen Kopp lungen erhalten. Die ungebundenen (oder kaum gebundenen) Elemente sind massenhaft vorhanden, Wörter zum Beispiel be liebig oft verwendbar, ohne daß damit eine knappe Menge von Verwendungsmöglichkeiten abnähme. Allerdings »kondensie ren« häufige Verwendungen oft auch den Wortsinn, so daß die Kombinationsfähigkeit, die Art und Reichweite der Verwen dungsmöglichkeiten, im Laufe des Prozessierens der Differenz von medialem Substrat und Form, hier also im Laufe der Sprachgeschichte, Variationen unterliegt.“ (Ebd., S. 200-201.)

„Schließlich ist zu beachten, daß nicht das mediale Substrat, sondern nur die Formen im System operativ anschlußfähig sind. Mit den formlosen, lose gekoppelten Elementen kann das System nichts anfangen. Das gilt bereits für die Wahrnehmungsmedien. Man sieht nicht das Licht, sondern die Dinge, und wenn man Licht sieht, dann an der Form der Dinge. (Genau umgekehrt hatte die ältere Optik votiert, die Lichtpartikel als Input, als von außen eindringende Sensationen begriffen hatte. Heute schließt man dagegen aus, daß Stimuli wahrgenommen werden können.) Man hört nicht die Luft, sondern Geräusche; und die Luft selbst muß schon ein Geräusch machen, wenn sie hörbar werden will. Dasselbe gilt für die Kommunikationsmedien. Auch hier bilden, wenn man auf Sprache abstellt, nicht schon Wörter sondern erst Sätze einen Sinn, der in der Kommunikation prozessiert werden kann. (Wir bestreiten natürlich nicht, daß es Ein-Wort-Sätze, Ausrufe etc. geben kann. So kann es genügen, »Vorsicht!« zu rufen und »wieso?« zu antworten.) Neben der zeitlichen gibt es also auch eine sachliche Asymmetrie in der Unterscheidung loser und strikter Kopplung; und auch diese Asymmetrie isteine der Bedingungen der Autopoiesis des Kommunikationssystems Gesellschaft.“ (Ebd., S. 201.)

„Auf Grund dieser in sich asymmetrischen Form der Unterscheidung von medialem Substrat und Form prozessieren Kommunikationssysteme Kommunikationen. Sie lenken damit die Fokussierung von Sinn auf das, was jeweils geschieht und Anschluß sucht. So kommt es zur Emergenz von Gesellschaft, und so reproduziert sich die Gesellschaft im Medium ihrer Kommunikation, Mit diesem komplexer gebauten Begriff ersetzen wir die übliche Vorstellung eines Übertragungsmediums, dessen Funktion darin besteht, zwischen unabhängig lebenden Organismen zu »vermitteln«. Auch der alte Sinn von »communicatio«, der Sinn des Herstellens von »Gemeinsamkeit« des Erlebens, wird damit aufgegeben oder doch auf einen Nebeneffekt reduziert. Das folgt aus der oben dargelegten Auffassung, daß es nicht ausreicht, die Funktion der Kommunikation in der Erweiterung und Entlastung der kognitiven Fähigkeiten von Lebewesen zu sehen. Überhaupt ist ja schwer zu sehen, wie Lebewesen, einschließlich Menschen, in der finsteren Innerlichkeit ihres Bewußtseins (fast ein Hegel-Zitat; Hegel spricht von der »finsteren Innerlichkeit des Gedankens«, in: Vorlesungen über die Ästhetik, Band. I, S. 18 - ohne freilich daraus die Konsequenzen zu ziehen, die uns vorschweben) irgend etwas gemeinsam haben können. Statt dessen soll uns der Begriff der Kommunikationsmedien erklären, daß und wie auf der Grundlage von Kommunikation das Unwahrscheinliche doch möglich ist: die Autopoiesisdes Kommunikationssystems Gesellschaft.“ (Ebd., S. 201-202.)

„II. Verbreitungsmedien und Erfolgsmedien. - Die folgenden Analysen bauen auf einer Unterscheidung auf, die einführend kurz erläutert werden muß. Die gesellschaftliche Kommunikation bildet verschiedene Medien/Formen aus, je nachdem, welches Problem zu lösen ist. Von Verbreitungsmedien wollen wir sprechen, wenn es um die Reichweite sozialer Redundanz geht. Verbreitungsmedien bestimmen und erweitern den Empfängerkreis einer Kommunikation. In dem Maße, in dem dieselbe Information verbreitet wird, wird Information in Redundanz verwandelt. Redundanz erübrigt Information. Sie kann zur Bestätigung sozialer Zusammengehörigkeit verwendet werden: Man erzählt schon Bekanntes, um Solidarität zu dokumentieren. Aber damit ist kein Zugewinn an Information verbunden. Man kann jeden fragen, der die Information erhalten hat. Wenn man wiederholt nachfragt, entsteht keine neue Information.“ (Ebd., S. 202.)

„Die Verbreitung kann mündlich erfolgen in Interaktionen unter Anwesenden. Schrift erweitert bereits den Empfängerkreis in zunächst noch kontrollierbarer Form. Mit Zunahme der Schriftbeherrschung kann man aber bald nicht mehr wissen, wer weche Texte gelesen hat und ihren Inhalt erinnert. Erst recht wird durch die Erfindung der Druckpresse und dann nochmals im System der modernen Massenmedien die soziale Redundanz anonymisiert. Man muß im Zweifel mit Bekanntsein einer verbreiteten Information rechnen und kann sie nicht nochmals kommunizieren. Jetzt entsteht ein Bedarf für laufend neue Information, den das System der Massenmedien befriedigt, das seine eigene Autopoiesis diesem selbsterzeugten Verlust von Informationen verdankt.“ (Ebd., S. 202-203.)

„In dem Maße, in dem die Verbreitungsmedien soziale Redundanz erzeugen, läuft nicht nur die Zeit schneller; es wird auch ungewiß und schließlich unklärbar, ob mitgeteilte Informationen als Prämissen für weiteres Verhalten angenommen oder abgelehnt werden. Es sind zu viele, unübersehbar viele beteiligt, und man kann nicht mehr feststellen, ob und wozu eine Kommunikation motiviert hatte. Kontroversdiskussionen darüber finden teilweise in den Massenmedien statt, und deren System liebt Konflikte: Aber damit kann nicht geklärt, sondern allenfalls simuliert werden, welche Kommunikationen gesellschaftsweit angenommen und welche abgelehnt oder schließlich schlichtweg vergessen werden. “ (Ebd., S. 203.)

„Angesichts dieser Lage kann die Evolution stagnieren oder sie kann Lösungen für die neuen Probleme entdecken. Zunächst scheint es nahegelegen zu haben, als Folge der Erfindung von Schrift Religion zu straffen und verstärkt als homogenisiertes Motivationsmittel einzusetzen. Damit wird jedoch die Einheitlichkeit, die Kosmologie dieses Motivationsmittels überspannt. Eine ganz andersartige, mit Religionen nur noch oberflächlich integrierbare Lösung findet die Gesellschaft schließlich in der Entwicklung eines neuen Typs von Medien, die wir Erfolgsmedien nennen wollen, nämlich symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien.“ (Ebd., S. 203.)

„Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien leisten eine neuartige Verknüpfung von Konditionierung und Motivation. Sie stellen die Kommunikation in jeweils ihrem Medienbereich, zum Beispiel in der Geldwirtschaft oder dem Machtgebrauch in politischen Ämtern, auf bestimmte Bedingungen ein, die die Chancen der Annahme auch im Falle von »unbequemen« Kommunikationen erhöhen. So gibt man eigene Güter her oder leistet Dienste, wenn (und nur wenn) dafür bezahlt wird. So folgt man den Weisungen staatlicher Ämter, weil mit physischer Gewalt gedroht wird und man davon ausgehen muß, daß diese Drohung in der Gesellschaft als legitim (zum Beispiel als rechtmäßig) angesehen wird. Mit Hilfe der Institutionalisierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien kann also die Schwelle der Nichtakzeptanz von Kommunikation, die sehr naheliegt, wenn die Kommunikation über den Bereich der Interaktion unter Anwesenden hinausgreift, hinausgeschoben werden. Auch in der kulturellen Selbstbeschreibung der Gesellschaft werden diese Erfolgsmedien derart prominent, daß gar keine Information darüber gesammelt wird, wieviel Kommunikation dann doch nicht befolgt oder wieviel Information schlicht vergessen wird. Die Gesellschaft beschreibt sich selbst dann so, als ob mit durchgängigem, durch Prinzipien, Codes und Programme gesichertem Konsens zu rechnen sei. So als ob es eine »öffentliche Meinung« gäbe. Der Rest bleibt in der Form von »pluralistic ignorance« unbeleuchtet.“ (Ebd., S. 203-204.)

„Sprache allein legt noch nicht fest, ob auf eine Kommunikation mit Annahme oder mit Ablehnung reagiert wird. Solange aber Sprache nur mündlich, also nur in Interaktionen unter Anwesenden ausgeübt wird, gibt es genug soziale Pressionen, eher Angenehmes als Unangenehmes zu sagen und die Kommunikation von Ablehnungen zu unterdrücken. Wenn es nur mündliche Kommunikation gibt, wirkt Sprache zugleich als »intrinsic persuader« (Parsons). Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien entstehen erst, wenn die gesellschaftliche Evolution diese Schwelle überwunden hat und Komplexität in größeren räumlichen und zeitlichen Dimensionen und doch in derselben Gesellschaft entstehen läßt. Dann muß Kommunikation zunehmend auf noch unbekannte Situationen eingestellt werden. Die Gesellschaft hilft sich, wenn Evolution ihr hilft, einerseits mit Systemdifferenzierungen, andererseits mit der Ausbildung von Spezialmedien der Einschränkung von Kontingenz durch Verknüpfung von Konditionierung und Motivierung, eben den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, wobei die Differenzierung dieser Medien zugleich die Systemdifferenzierung vorantreibt, nämlich den Anlaß bildet für die Ausdifferenzierung wichtiger gesellschaftlicher Funktionssysteme.“ (Ebd., S. 204-205.)

„Wir halten bei diesem knappen Überblick über die Hypothesen, die die folgenden Untersuchungen leiten werden, nur fest, daß ihre theoretische Grundlage in der Annahme liegt, daß die Gesellschaft ein auf der Basis von Kommunikation operativ geschlossenes Sozialsystem ist und daß deshalb ihre Evolution den Problemen der Autopoiesis von Kommunikation folgt, die ihrerseits in ihren Bedingungen durch die Evolution selbst laufend verändert werden. Damit ist ein komplexes Forschungsprogramm anvisiert, das in den folgenden Abschnitten und in den anschließenden Kapiteln auf den erforderlichen Umwegen über Sachfragen der verschiedensten Art eingelöst werden soll. “ (Ebd., S. 205.)

„III. Sprache. - Das grundlegende Kommunikationsmedium, das die reguläre, mit Fortsetzung rechnende Autopoiesis der Gesellschaft garantiert, ist die Sprache. Zwar gibt es durchaus sprachlose Kommunikation - sei es mit Hilfe von Gesten, sei es als ablesbar an schlichtem Verhalten, zum Beispiel am Umgang mit Dingen, mag dies nun als Kommunikation gemeint gewesen sein oder nicht. Man kann sich aber schon fragen, ob es solche Kommunikation geben, das heißt: ob man einen Unterschied von Mitteilungsverhalten und Information überhaupt beobachten könnte, wenn es keine Sprache, also keine Erfahrung mit Sprache gäbe. Außerdem ist interpretierbares Verhalten immer so situationsspezifisch bestimmt, daß kaum Spielraum besteht für eine Differenzierung von Medium und Form; genau das leistet aber die Sprache. Jedenfalls ist die Autopoiesis eines Kommunikationssystems, die ja reguläre Aussicht auf weitere Kommunikation voraussetzt, ohne Sprache unmöglich, obgleich sie, wenn er möglicht, sprachlose Kommunikation zuläßt. “ (Ebd., S. 205-206.)

„Wenn man nach einem vorsprachlichen Kommunikationsmedium fragt, das noch nicht sinnkonstituierend gewirkt hat, so kann dies nur in der Gesamtheit der Verhaltensmöglichkeiten anwesender Individuen gelegen haben. Dabei wird die Bewegung-im-Raurn eine erhebliche Rolle gespielt haben. Im Anschluß an George Herbert Mead könnte man auch von einer rekursiven Sequenz von Gebärden (gestures) sprechen, wobei nicht der Einzelakt, sondern die Rekursivität (der Anschluß an Vorheriges) ernergente Effekte auslöst. In solchen, in der Form von Episoden realisierten Zusammenhängen findet man auch artspezifische, aber nur sehr begrenzt einsetzbare Signale. Signale sind noch nicht Zeichen, noch nicht Hinweis auf etwas anderes, sondern nur Auslöser für »anticipatory reactions« (solche Vorweganpassungen an eine noch nicht sichtbare Zukunft [die Bäume werfen ihre Blätter ab, bevor es schneit] funktionieren natürlich nur auf Grund von Regelmäßigkeiten in den Abläufen der Umwelt - sie eignen sich nicht zur vorübergehenden Anpassung an vorübergehende Lagen) auf Grund typischer, sich wiederholender Zusammenhänge gegenwärtiger und künftiger Ereignisse, die aber nicht als Zusammenhänge erkannt werden. Unter solchen Bedingungen kann es bereits zur Morphogenesis relativ komplexer sozialer Ordnungen kommen, allein unter der Voraussetzung, daß reaktive Verhaltensmuster auf ihre eigenen Resultate wiederangewandt werden. Es muß nicht vorausgesetzt werden, daß die Beteiligten die da durch entstehenden Strukturen erkennen und auf sie reagieren können. Entsprechend beschränkt muß das Formbildungspotential gewesen sein, das aber offensichtlich ausreicht, um Rangordnungen und individuelle Partnerpräferenzen einzurichten. Im vorsprachlichen Bereich, ja selbst im Verhältnis von Men chen und Tieren, findet man die wohl wichtigste Vorbereitung für die Evolution von Sprache: das Wahrnehmen des Wahrnehmens und insbesondere: das Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens. Das sind selbst in entwickelten Gesellschaften, selbst heute nach wie vor unentbehrliche Formen der Sozialität, vor allem im Geschlechterverhältnis. Sozialität auf dieser Ebene nutzt die Komplexität und die Fokussierfähigkeit des Wahrnehmens und erzeugt eine Gegenwart - fast ohne Zukunft. Selbst wenn man dies als gleichsam präprähistorische Gegebenheit und damit Adaptierung des sozialen Zusammenlebens an diese Möglichkeit unterstellen kann, wird es bei diesem Sozialzustand keine Metakommunikation, keine auf Kommunikation bezogene Kommunikation gegeben haben, zum Beispiel keine Bestätigung des Empfangs einer Mitteilung, keine Wiederholung derselben Mitteilung, kein Aufbau sequentieller, »punktierter« Komplexität, bei der die Kommunikation voraussetzt, daß sie mit anderen Inhalten bereits erfolgreich operiert hatte. Wie weit man unter diesen Bedingungen schon von einer autopoietischen Schließung eines gegenüber dem Lebensvollzug eigen ständigen Sozialsystems sprechen kann, das zum Beispiel den Tod ganzer Generationen überdauert, müssen wir offen lassen, und ebenso die Frage, ob und wie weit man schon eine »Sprache« im Sinne Maturanas annehmen kann, also eine Koordination der Koordination des Verhaltens einzeln lebender Lebewesen. (Im übrigen setzt Maturana bei der Beschreibung rekursiver Interaktionen zwischen Organismen als ».Sprache« einen Beobachter voraus, der feststellen kann, daß das Verhalten so gewählt wird, daß es sich einer Koordination fügt. Siehe etwa Humberto R. Maturana, The Biological Foundations of Self-Consciousness and the Physical Domain of Existence, in: Niklas Luhmann et al., Beobachter: Konvergenz der Erkenntnistheorien?, München 1990, S. 47-117 [92 ff.]. Der Begriff der Sprache In dieser Fassung liegt in der Nähe des sozialpsychologisch-soziologischen Begriffs der doppelten Kontingenz.) In jedem Falle ist Sprache in dem uns geläufigen Sinne mit ihrer eindeutigen Bevorzugung akustischer und, darauf auf bauend, optischer Medien eine historische Sonderkonstruktion der Evolution, die auf einer scharfen Auswahl ihrer Mittel beruht. (Disziplingeschichtlich würde daraus folgen, daß die Linguistik ihr Forschungsprogramm nicht nur an den Sprachstrukturen ausrichten kann, sondern sich um Erweiterung ihrer Theoriegrundlagen, etwa in Richtung auf Bezugspunkte einer funktionalen Analyse oder in Richtung auf eine allgemeine, Sprache als Sonderfall einschließende Semiologie bemühen müßte.)“ (Ebd., S. 206-208.)

„Wir können hier jedoch keine Untersuchung über die Evolution von Sprache anstellen, sondern unterstellen nur, daß wie bei jeder Evolution autopoietischer Systeme eine Art Hilfskonstruktion den take off ermöglicht hat. Vermutlich hat dabei die Verwendung von Gesten und Lauten als Zeichen eine Rolle gespielt. Zeichen sind ebenfalls Formen, das heißt markierte Unterscheidungen. Sie unterscheiden, folgt man Saussure, das Be zeichnende (signifiant) vom Bezeichneten (signifié). In der Form des Zeichens, das heißt im Verhältnis von Bezeichnendem zum Bezeichneten, gibt es Referenzen: Das Bezeichnende bezeichnet das Bezeichnete. Die Form selbst (und nur sie sollte man Zeichen nennen) hat dagegen keine Referenz; sie fungiert nur als Unterscheidung und nur dann, wenn sie faktisch als solche benutzt wird.“ (Ebd., S. 208.)

„Zeichen sind mithin Strukturen für (wiederholbare) Operationen, die keinen Kontakt zur AußenweIt erfordern. Sie dienen auch nicht, wie oft angenommen, der »Repräsentation« von Sachverhalten der Außenwelt im Inneren des Systems. Vielmehr ist die Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem eine interne Unterscheidung, die nicht voraussetzt, daß es das in der Außenwelt gibt, was bezeichnet wird. Ihre Besonderheit liegt vielmehr in der Isolierung dieser Unterscheidung, mit der erreicht wird, daß das Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem unabhängig vom Verwendungskontext stabil bleibt. (In Anschluß an Saussure (l'arbitraire du signe) spricht man üblicherweise von Willkür der Zeichenfestlegung. Das ist jedoch mißverständlich. Siehe dazu die Kritik von Roman Jakobson, Zeichen und System der Sprache, 1962, zit. nach dem Abdruck in ders., Semiotik: Ausgewählte Texte 1919-1982, Frankfurt 1988, S. 427-436. Willkür gibt es nur im Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Sie ist Bedingung der lsoation des Zeichengebrauchs. Die Zeichen selbst [als Form dieser Unterscheidung] sind jedoch abhängig von Tradition und von hoher Redundanz in ihrer Anschlußfähigkeit. Wenn sie von Moment zu Moment neugeschaffen werden müßten, wären sie weder lernbar noch benutzbar. Willkür und Tradition schließen einander nicht aus, im Gegenteil - sie bedingen sich wechselseitig - wie Medium und Form.) Vom Mitspielen anderer Sinnverweisungen, von der Rücksicht auf andere Zusammenhänge (vermittelt zum Beispiel durch die Materialität des Zeichenträgers) wird abgesehen. Ähnlich wie bei der Technik ist also auch bei der kulturellen Erfindung von Zeichen das Weltverhältnis der Ausdifferenzierung, der Isolation und der dadurch bedingten Wiederholbarkeit entscheidend. Das erklärt auch die Möglichkeit von Fehlern. Kleinste Abweichungen oder Verwechslungen können Zeichen außer Funktion setzen. (Man sagt statt Zeichen Weichen oder Zeiten oder Ziehen - und schon ist nicht mehr zu verstehen, was gemeint ist). Die Erzeugung von Redundanzen, von Beschränkungen des Überraschungseffektes in der Zeichenverwendung hängt also an der Genauigkeit des Opierens bekannter Muster. Das aber ist, ebenso wie die Isolation selbst, nur durch willkürliche Festlegung der Zeichen erreichbar.“ (Ebd., S. 208-209.)

„Die Evolution einer stereotypisierten Zeichenverwendung ist jedoch nur eine Vorbedingung der Evolution von Sprache. Sie läßt wichtige Eigenarten der Sprache unerklärt, und zwar vor allem das Entscheidende: die operative Schließung des Sprache verwendenden Kommunikationssystems. Die nur episodenhaft realisierbare Rekursivität von Gebärdenabfolgen wird zur rekursiven Zeichenverwendung fortentwickelt, womit eine Welt entsteht, auf die man sich immer wieder und auch nach längeren Unterbrechungen erneut beziehen kann. Die Vorbedingungen und Anlässe, die in der Evolution der Form »Zeichen« liegen, müssen deshalb von dem Zustandekommen der operativen Schließung eines über Sprache verfügenden Kommunikationssystems sorgfältig unterschieden werden. Durch Sprache wird die Selbstreferenz von Sinn generalisiert, und dies mit Hilfe von Zeichen, die selbst diese Generalisierung sind, also nicht im Hinweis auf etwas anderes bestehen.“ (Ebd., S. 209-210.)

„Zeichen geben in einzelnen Situationen, die dies verständlich sein ließen, mag also der Anlaß gewesen sein und die Möglichkeit häufiger Wiederholung geboten haben, aber im Ergebnis ist etwas ganz anderes entstanden. Die Unwahrscheinlichkeitsschwelle sehen wir in der Frage, wie jemand überhaupt dazu kommt, einen anderen unter dem Gesichtspunkt einer Differenz von Information und Mitteilungsverhalten zu beobachten. (In der Semiotik von Charles S. Peirce steht an dieser Stelle der formalere, schwer zu interpretierende Begriff »interpretant«.) Wir gehen also nicht von der Sprechhandlung aus, die ja nur vorkommt, wenn man erwarten kann, daß sie erwartet und verstanden wird, sondern von der Situation des Mitteilungsempfängers, also dessen, der den Mitteilenden beobachtet und ihm die Mitteilung, aber nicht die Information, zurechnet. Der Mitteilungsempfänger muß die Mitteilung als Bezeichnung einer Information, also beides zusammen als Zeichen (als Form der Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem) beobachten (obwohl ihm auch andere, zum Beispiel rein wahrnehmungsmäßige, Möglichkeiten der Beobachtung zur Verfügung stehen). Dies setzt nicht unbedingt Sprache voraus. So sieht man, daß die Hausfrau tapfer vom Angebrannten ißt, um mitzuteilen (oder so vermutet man), daß man es sehr wohl noch essen könne. Dabei bleibt der Tatbestand der Kommunikation jedoch unscharf und mehrdeutig, und der Mitteilende kann, zur Rede gestellt, leugnen, eine Mitteflung beabsichtigt zu haben; und eben deshalb wählt er nonverbale Kommunikation. Das heißt aber auch, daß es schwierig ist, an seine Mitteilung eine andere anzuschließen, also ein Kommunikationssystem zu bilden. Dies wird durch Sprache anders. Während vor der Entwicklung von Sprache Lebewesen strukturell gekoppelt lebten und dadurch einer Ko-Evolution ausgesetzt waren, ermöglicht Sprache zusätzlich operative Kopplungen, die von den Teilnehmern reflexiv kontrolliert werden können. Das vermehrt die Möglichkeiten, sich bestimmten Umwelten auszusetzen oder sich ihnen zu entziehen, und bietet der Selbstorganisation der Teilnehmer die Chance, sich selbst von dem, was kommuniziert wird, zu distanzieren. Man bleibt wahrnehmbar, aber faßbar nur in dem, was man überlegt zur sprachlichen Kommunikation beiträgt. Das hat zur Folge, daß sich mit der Normalisierung und rekursiven Festigung dieser Kopplungsoperationen ein eigenes autopoietisches System sprachlicher Kommunikation bildet, das selbstdeterminierend operiert und zugleich mit reflektierter Teilnahme von Individuen voll kompatibel ist. Es kommt jetzt zu einer Ko-Evolution von Individuen und Gesellschaft, die etwaige ko-evolutive Verhältnisse zwischen Individuen (zum Beispiel Mutter/Kind-Beziehungen) überdeterminiert.“ (Ebd., S. 210-211.)

„Auch auf der Ebene der Wahrnehmungsmedien kommt es zu schwerwiegenden Änderungen. Sprechen ist ein auf Kommunikation spezialisiertes, für diese Funktion ausdifferenziertes und dadurch für die Wahrnehmung sehr auffälliges Verhalten. Im akustischen (und bei Schrift: im optischen) Wahrnehmungsmedium ist die Sprache so formprägnant ausdifferenziert, daß, wenn sie benutzt wird, darüber kein Zweifel bestehen kann und die entsprechenden Wahrnehmungen anderer unterstellt werden können. Jeder Teilnehmer weiß von sich selbst und vom anderen, daß sprachliche Sinnfixierungen kontingent gewählt werden (womit sich laufend bestätigt, daß es sich »nur« um Zeichen handelt). Dem, was akustisch oder optisch wahrgenommen und so unterschieden werden kann, wird eine zweite Selektionsweise aufgepfropft. Schon das »Material« der Sprache ist geformt und nur so wahrnehmbar; aber es wird zusätzlich mit Verweisungen besetzt, die umgebungsunabhängig fungieren und deshalb wiederholten Gebrauch ermöglichen. Sprachzeichen sind und bleiben daher stets auch anders möglich. Sie gewinnen aber zugleich eine Form, die Rückfragen und, wenn Schrift benutzt wird, Textinterpretationen ermöglicht. Der Abschluß kommunikativer Episoden kann damit aufgeschoben, die Sequenz von elementaren Aussagefolgen auf sich selbst zurückgeleitet werden. (Damit ist zugleich gesagt, daß Sinnklärungen und Interpretationen keine andere »Qualität« oder »Sinnebene« des Systems in Anspruch nehmen, sondern ebenso prozessiert werden wie alles, was überhaupt kommuniziert wird, nämlich als Sequenz kommunikativer Operationen. Daß psychische Systeme sich dabei zeitweilig unkommunikativ und nachdenkend verhalten können, ist damit natürlich nicht bestritten.) Der Sprachprozeß wird dadurch in seiner Selbstdetermination unabhängig von den Wahrnehmungen der Beteiligten, die er voraussetzt. Das System schirmt sich gegen das Rauschen der Wahrnehmungen durch eigene Rekursionen ab und läßt nur Irritationen zu, mit denen es eigensprachlich umgehen kann. In sprachlicher Fassung reproduziert die Kommunikation das, was sie für ihre Autokatalyse braucht, selber, nämlich doppelte Kontingenz; und sie erneuert damit, was immer das Anfangen ermöglicht hatte, ständig ihre eigenen Voraussetzungen. Weder der Sprecher noch der Hörer kann den Tatbestand der Kommunikation als solchen leugnen. Man kann allenfalls mißverstehen oder schwer verstehen oder interpretieren oder sonstwie nachträglich über die Kommunikation kommunizieren. Die Probleme der Kommunikation werden in die Kommunikation zurückgeleitet. Das System schließt sich. Eine normalerweise entropische Entwicklung von Kommunikationsansätzen in Richtung Nichtkommunikation wird durch Sprache umgedreht und in die Richtung des Aufbaus komplizierter, interpretationsfähiger, sich auf bereits Gesagtes stützender Kommunikationsweisen gelenkt. Die an sich unwahrscheinliche Autopoiesis eines Kommunikationssystems wird auf diese Weise wahrscheinlich. Aber sie bewahrt zugleich ihre Unwahrscheinlichkeit in der Weise, daß jede bestimmte Aussage angesichts der Unzahl anderer Möglichkeiten extrem unwahrscheinlich wird. Die deutliche Außenabgrenzung des Systems führt zum Aufbau strukturierter Komplexität, die nun jedes bestimmte Einzelereignis im System unwahrscheinlich macht. Aber genau darin kann das System sich selber helfen, indem es rekursiv prozessiert und für eine Einschränkung der konkret gegebenen Wahlmöglichkeiten sorgt.“ (Ebd., S. 211-212.)

„Sprache ist an den Hörsinn gebunden, und das erzwingt, anders als das Sehen, zeitliche Sequenzierung der Kommunikation, also Herstellung einer Ordnung im Nacheinander. Die jeweils anklingenden Unterscheidungen müssen einander im Nacheinander Sinn geben; ihre Rekursionen benötigen Zeit und können sich nicht aus der gleichzeitig gesehenen Welt ergeben - und dies auch dann nicht, wenn man jemanden sprechen sieht. Entsprechend erfordert Sprache eine zeitlich flexible Organisation, die mögliche Sequenzen nicht schon strukturell festlegt; das heißt: eine Grammatik. Auch eine Taubstummensprache wird in diesen zeitlichen Duktus eingepaßt, und selbstverständlich auch der Umgang mit Schrift. Das Medium der Akustik erfordert deshalb von vornherein höhere Abstraktionen und deswegen auch entschiedenere Bedeutungsfestlegungen der einzelnen Komponenten. Nur auf diese Weise wird Wiederholbarkeit möglich, und nur so kann trotz Ungleichzeitigkeit und trotz einer Ungleichzeitigkeit, die eine andere ist als die der Bewegungen in der Welt draußen, ein Sinnzusammenhang produziert, eine zweite Welt der Kommunikation der ersten Welt des Gesehenen überlagert werden. “ (Ebd., S. 213.)

„Die Sprache hat mithin eine ganz eigentümliche Form. Als Form mit zwei Seiten besteht sie in der Unterscheidung von Laut und Sinn. Wer diese Unterscheidung nicht handhaben kann, kann nicht sprechen. Dabei besteht, wie immer bei Formen in unserem Verständnis, ein kondensierter Verweisungszusammenhang der beiden Seiten, so daß der Laut nicht der Sinn ist, aber gleich wohl mit diesem Nichtsein bestimmt, über welchen Sinn jeweils gesprochen wird; so wie umgekehrt der Sinn nicht der Laut ist, aber bestimmt, welcher Laut jeweils zu wählen ist, wenn über genau diesen Sinn gesprochen werden soll. Sprache ist, hegelisch gesprochen, durch eine Unterscheidung-in-sich bestimmt und, wie wir sagen können, durch die Spezifik genau dieser Unterscheidung ausdifferenziert.“ (Ebd., S. 213.)

„Sprachliche Kommunikation ist also zunächst: Prozessieren von Sinn im Medium der Lautlichkeit. Von Medium ist hier nicht deshalb die Rede, weil Laute Formen im Wahrnehmungsmedium des Bewußtseins sind, sondern deshalb, weil sie zu wiederholt verwendbaren Wörtern (zunächst Morphemen; HB) kondensiert sind und als solche dann lose gekoppelt zur Verfügung stehen. Das wiederum setzt Grammatik und vielleicht die Chomskyschen Tiefenstrukturen voraus (*), die sicherstellen, daß genügend Spielraum für die Bildung von Sätzen besteht und es gleichwohl nicht beliebig zugehen kann, sondern genügend Redundanzen für Rekursionen, für rasches Verstehen und vor allem für rasches Sprachlernen vorhanden sind. (* Hiermit wollen wir uns freilich nicht auf die weitere These Chomskys einlassen, daß es sich um angeborene Strukturen handeln müsse, weil anders das Tempo des Spracherwerbs nicht zu erklären sei. Siehe Noam Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, dt. Übers. Frankfurt 1969, insb. S. 68 ff.. Was Chomsky durch Angeborensein zu erklären versucht, soll hier vielmehr durch strukturelle Kopplung erklärt werden und durch die dadurch bewirkte Intensivierung von (herkunftsbestimmten) Irritationen und Irritationsverarbeitungen. )“ (Ebd., S. 213-214.)

„Um selber eine spracheigene Differenz von Medium und Form einrichten zu können, muß das mediale Substrat der Sprache, die Differenz von Laut und Sinn, unterspezifiziert sein. Ohne Unterspezifikation wäre nichts mehr zu sagen, weil allesimmer schon gesagt ist. Dies Problem wird durch die Differenzierung von Wörtern (zunächst Morphemen; HB) und Sätzen gelöst. Auch Wörter (zunächst Morpheme; HB) sind zwar Lautkonstellationen mit Sinn; aber sie legen noch nicht fest, zu welchen Sätzen sie kombiniert werden. Erst über diese Differenz vermittelt die Sprache der Kommunikation die Fähigkeit zu vorübergehender Anpassung an vorübergehende Lagen; und dann auch die Fähigkeit zu vorübergehenden Sinnkonstruktionen, die man später bestätigen oder widerrufen kann. Und erst so kann man damit rechnen, daß Kommunikation an Kommunikation anschließen kann und immer etwas zu sagen bleibt.“ (Ebd., S. 214.)

„Bloße Wahrnehmungsmedien sind an die Gleichzeitigkeit des Wahrnehmens und des Wahrgenommenen gebunden. Das gilt auch, wenn man das Wahrnehmen anderer wahrnimmt; und es gilt wohl auch für die einfachen Formen der Wahrnehmung von Zeigezeichen. Die operativ bedingte Gleichzeitigkeit der Beobachtung mit der Welt, die beobachtet wird, kann nicht durchbrochen werden, und das gilt auch, wenn der Sinn (wie beim Hören) sich erst aus einer Sequenzierung ergibt. Der Zukunftsbezug des Wahrnehmens hängt davon ab, daß die Umwelt durch ihre Konstanten hinreichend garantiert, daß eine Jetzt-Reaktion adäquat auf Zukunft vorbereitet. Erst Sprache ermöglicht eine Durchbrechung dieser Gleichzeitigkeitsprämisse und eine vor bereitende Synchronisation von zeitdistanten Ereignissen - und dies zunächst unabhängig davon, ob die Sprache über Formen verfügt, mit denen man den Unterschied von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (zum Beispiel durch Flexion von Verben) zum Ausdruck bringen kann. Sprache ermöglicht es ja, vorauszusehen oder doch einzuschränken, was später gesagt werden kann. Zunächst geht es einfach um eine zeitliche Abkopplung des rekursiv operierenden Sprachverlaufs von den Zeitsequenzen der Umwelt, also um die Ausdifferenzierung einer Eigenzeit des Kommunikationssystems, die es ermöglicht, den im System ablaufenden Kommunikationsprozeß von Ereignissequenzen der Umwelt zu unterscheiden. Erst wenn dies garantiert ist, können Sprachformen entstehen, die Zeitverhältnisse zum Ausdruck bringen, zum Beispiel in der einfachen Form einer wenn/dann-Konditionalisierung. Die Sprache kann, in mehr oder weniger elaborierter Form, auch etwas bezeichnen, was nicht mehr oder noch nicht wahrgenommen werden kann. Und erst das erlaubt eine Problematisierung von Synchronisation, die dann ein Lernen über Versuch und Irrtum ermöglicht.“ (Ebd., S. 214-215.)

„Erst diese Ausdifferenzierung einer Eigenzeit sprachlicher Kommunikation führt zu der Errungenschaft, die man für den wichtigsten evolutionären Zugewinn sprachlicher Kommunikation halten muß. Mit Hilfe von Sprache kann etwas gesagt werden, was noch nie gesagt worden ist. »Elvira ist ein Engel«. Anders als bei Gesten und anders als bei einfachem Verhalten oder beim Gebrauch von Dingen versteht man den Satz, auch wenn man ihn noch nie gehört hat. (Man kann sich das an den Schwierigkeiten verdeutlichen, die die Künste überwinden mußten, um die Möglichkeit zu gewinnen, »neue« Kunstwerke zu schaffen und in ihrer Originalität verständlich zu machen. Daß nur originale Kunstwerke als Kunstwerke zählen und daß man, um sie schätzen zu können, erkennen muß, worin sie von der Vorgängerkunst, aber auch von der wahrnehmbaren Natur abweichen, stellt extrem hohe Anforderungen an ein daraufhin geschultes Beobachten. Dazu gehört dann auch ein Unterbinden des Vergessens, weil erst das Kennen der Vorgängerkunst ein Erkennen des Neuheitswertes ermög licht. Bei sprachlicher Kommunikation ist diese Möglichkeit von vorn herein eingebaut.) Genau genommen kommt es nicht einmal darauf an, ob der Satz ein weltgeschichtliches Original und noch nie gesagt worden ist. Entscheidend ist, daß es nicht nötig ist, sich an Sinn und Kontext früheren Gebrauchs zu erinnern. Die Sprache erleichtert, anders gesagt, das Vergessen. Sie entlastet das soziale Gedächtnis und dient insofern dem ständigen Freimachen von Kapazität für neue Kommunikationen.“ (Ebd., S. 215-216.)

„Selbstverständlich ist diese Kapazität für neuen, noch nie benutzten Sinn nicht schrankenlos zu haben. Sie erzeugt ihrerseits Kontexte, von denen sie sich abhängig macht. Aber: wie wenig auch immer die Möglichkeit, nie Gehörtes zu sagen, in den Frühphasen der Evolution genutzt worden sein mag: sie stellt ein evolutionäres Potential zur Verfügung, das mehr und mehr ausgenutzt werden kann, wenn die Komplexität und die Differenzierung der Gesellschaft zunehmen und damit Sonderbedingungen für Erkennen und Verstehen von Neuheit schaffen. (Ebd., S. 216.)

„Das alles findet man bereits unter der Bedingung einer nur laut lichen (oralen) Verwendung von Sprache voll entwickelt. Unter den Bedingungen heutiger Schriftkulturen kann man sich nur schwer in Situationen einfühlen, in denen Sprache nur das war. Laute sind ja extrem instabile Elemente. Sie reichen außerdem räumlich nicht sehr weit, setzen also Anwesenheit der Sprecher und Hörer voraus. Raum und Zeit müssen in kompakten, situativen Formen präsent sein, um gesprochene Sprache zu ermöglichen. Geformte Sätze lösen sich, sobald sie ausgesprochen sind, ins Nicht-mehr-Hörbare auf. Systembildung auf der Basis von Kommunikation setzt deshalb Vorsorge für Wiederverwendbarkeit, setzt mit anderen Worten Gedächtnis voraus.“ (Ebd., S. 216.)

„Es liegt nahe, und in gewisser Weise trifft es auch zu, daß Gesellschaften, die auf lautliche Kommunikation angewiesen sind, damit auch von rein psychischen Gedächtnisleistungen abhängig bleiben. Aber das erklärt nicht genug und gilt im übrigen ja in noch viel stärkerem Maße für Schriftkulturen, die nur funktionieren, wenn alle Teilnehmer sich laufend daran erinnern können, wie geschrieben und gelesen wird. Ein soziales Gedächtnis muß sich außerhalb von (was nicht heißt: unabhängig von) psychischen Gedächthisleistungen bilden. Es besteht denn auch allein in der Verzögerung von Wiederverwendungen der Wörter (zunächst Morpheme; HB) und des mit ihrer Hilfe gebildeten Aussagesinns. Psychische Systeme werden gleichsam nur als Zwischenspeicher benutzt. Entscheidend für das soziale Gedächtnis ist das Abrufen von Gedächtnisleistungen in späteren sozialen Situationen, wobei das psychische Substrat über langere Zeiträume hinweg durchaus wechseln kann. (In welchem Sinne es ein darüber hinausgehendes »kollektives Gedächtnis« geben kann, wird seit einiger Zelt gefragt - und bezweifelt. .... Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, ob Gedächtnis für wahlfreien Zugriff zur Verfügung steht [wie im Falle von Schrift] oder nur in der Form von festgelegten Sequenzen individuelle Reproduktionen ermöglicht [wie im Falle der Erzähler und Sänger].) Wer die Vorteile verstehen will, die in der Erfindung von Schrift liegen, muß sich zunächst den vorausliegenden Mechanismus klar machen, der alle Gedächtnisleistungen über die Zeitform der Verzögerung erbringen muß.“ (Ebd., S. 216-217.)

„Daß für distinkte lautliche Wahrnehmungsmöglichkeiten und deren Reaktivierbarkeit im Prozeß späterer Kommunikation gesorgt ist, erklärt aber noch nicht, wie dieSprache ihre rekursive Anwendung organisieren, wie sie Kommunikation ermöglichen kann. Die alteuropäische Zeichen-Theorie hatte hier mit Außenbeziehungen argumentiert. Sie hatte mit einer die Sprachgemeinschaft der Menschen haltenden Welt gerechnet und der Sprache repräsentationale Funktion zugesprochen. Namen erkennen und Namen geben setzte danach eine Kenntnis der Natur voraus. (Siehe die Diskussion in Platons Kratylos, 292-297.) Wenn dies aufgegeben wird - und die neuere Linguistik hat es aufgegeben: was garantiert, wenn nicht die Welt, die Haltbarkeit der Sprache?“ (Ebd., S. 217.)

„Für eine Auflösung dieses Rätsels könnte sich der aus der mathematischen Logik stammende Begriff des »Eigenverhaltens« eignen. (Siehe [im Anschluß an David Hilbert] Heinz von Foerster, Objects: Token for (Eigen-) Behaviors, in ders., Observing Systems, Seaside Cal., 1981, S. 274-285. Hier geht es allerdings nicht um Sprache, sondern um Errechnen der ldentilät von Objekten unter Wiederverwendung der Resultate bereits erfolgter Rechnungen. Eine Anwendung auf Sprache, die sich geradezu aufdrängt, ist mir nicht bekannt.) Er bezeichnet eine im rekursiven Verfahren der Anwendung des Verfahrens auf die Resultate des Verfahrens sich einstellende Stabilität. (Bei der Übernahme des Begriffs in die Theorie empirischer Systeme ist allerdings zu beachten, daß Rekursivität dann nicht mehr streng exklusiv verstanden werden kann. Man muß statt dessen mit der operativen Geschlossenheit des Systems argumentieren.)“ (Ebd., S. 217-218.)

„Sprache entsteht durch Wiederverwendung von Lauten bzw. Lautgruppen. Oder genauer gesagt: sie erzeugt irn Duktus der Wiederverwendung einerseits die Identität von Wörtern (zunächst von Morphemen; HB) , sie kondensiert spracheigene Identitäten: und andererseits konfirmiert sie im gleichen Zuge diese Kondensate in immer neuen Situationen, sie generalisiert. Dieser Prozeß der Sprachbildung führt mithin zur Ausdifferenzierung eines Eigenverhaltens des Kommunikationssystems und sekundär dann auch zu einer sprachabhängigen Ordnung der Wahrnehmungsleistungen des Einzelbewußtseins.“ (Ebd., S. 218.)

„Dabei gelingt diese Wiederverwendung nur, wenn die Wörter nicht mit den Dingen verwechselt werden - so sehr man zunächst immer mit der Hilfsannahme einer geheimen Verwandtschaft von Wörtern und Dingen und eines entsprechen den Einflußes der Sprache auf die Dinge gearbeitet hat. Es fällt ja auf, daß Sprache nur funktioniert, wenn durchschaut wird und durchschaut wird, daß durchschaut wird, daß die Wörter nicht die Gegenstände der Sachwelt sind, sondern sie nur bezeichnen. Dadurch entsteht eine neue, eine emergente Differenz, nämlich die von realer Realität und semiotischer Realität. (Statt von semiotischer Realität könnten wir auch von imaginärer, imaginierender, konstruierender, konstituierender usw. Realität sprechen.) Erst dann kann es überhaupt eine reale Welt geben, weil es erst dann eine Position geben kann, von der aus die Realität als Realität bezeichnet, das heißt unterschieden werden kann. Das bedeutet keineswegs, daß die Realität eine bloße Fiktion ist und daß sie, wie man gemeint hatte, »in Wirklichkeit gar nicht existiert«. Aber es bedeutet, daß man diese Unterscheidung von realer Realität und semiotischer Realität in die Welt einführen muß, damit überhaupt etwas - und sei es die semiotische Realität - als real bezeichnet werden kann.“ (Ebd., S. 218-219.)

„Aber diese Unterscheidung, die der Welt erst ihre Härte, ihre Schicksalhaftigkeit, auch ihre Unzulänglichkeit verleiht, muß ihrerseits erzeugt werden. Sie ist nicht allein dadurch gegeben, daß sie als transzendentale Bedingung der Möglichkeit in Anspruch genommen wird. Insofern folgen wir dem »linguistic turn«, der das transzendentale Subjekt durch Sprache, aber das heißt jetzt: durch Gesellschaft ersetzt. (Vorgezeichnet findet man ein solches Programm bereits bei Max Adler, aber ohne zureichend ausgearbeitete Gesellschaftstheorie. Siehe Max Adler, Das Soziologische in Kants Erkenntnistheorie: Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Naturalismus und Kritizismus, 1924; ders., Kant und der Marxismus: Gesammelte Aufsätze zur Erkenntniskritik und Theorie des Sozialen, 1925; ders., Das Rätsel der Gesellschaft: Zur erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialwissenschaften, 1925. Und, wenn es schon um Genealogie geht, wird man auch Wittgensteins Tractatus nennen müssen.) Im Eigenverhalten des Kommunikationssystems Gesellschaft wird jener imaginäre Raum von Bedeutungen stabilisiert, der im rekursiven Anwenden von Kommunikation auf Kommunikation nicht zerstört, sondern etabliert wird; und dies gerade dank seines Eigenwertes, also durch die Erfahrung, daß gerade das Durchschauen des Durchschauens die Ergebnisse liefert, die eine Fortsetzung des rekursiven Kommunizierens, also die Autopoiesis der Gesellschaft ermöglichen. Das muß nicht gelingen. Aber Systeme dieser Art entstehen und evoluieren nur, wenn es gelingt. Man könnte daher auch sagen, daß Sprache in einer Art self-fulfilling prophecy entsteht, - der Begriff hier allerdings nicht im klassischen Sinne von Merton gemeint, also nicht als bloßes Methodenproblem der empirischen Sozialforschung, sondern als konstitutiv für Gesellschaft schlechthin.“ (Ebd., S. 219.)

„Mit Hilfe dessen, was schon Form ist, nämlich mit Hilfe der Wörter kann ein neues mediales Substrat gebildet werden - eine sehr große, nur lose gekoppelte Menge solcher Wörter, die dann ihrerseits zu strikt gekoppelten Formen, nämlich Sätzen, verknüpft werden, wobei in der jeweiligen Kopplung das mediale Substrat nicht verbraucht, sondern durch Gebrauch jeweils erneuert wird. Jeder Satz besteht mithin aus beliebig wiederverwendbaren Komponenten, wobei die laufende Satzbildung den Wortbestand einer Sprache regeneriert, Wortsinn kondensiert und konfirmiert, also anreichert, aber auch nie wiedergebrauchte Wörter dem Vergessen überläßt. Nur Sätze sind im rekursiven Netzwerk sprachlicher Kommunikation bezugsfähig, sie können mit vage vorgestellter Wortgestalt antizipiert und als fixierter Sinn erinnert werden. Sie können zitiert, sinngemäß kolportiert, bestätigt oder auch widerrufen werden; und sie transportieren in diesem Sinne die Autopoiesis des Systems durch Kopplung/Entkopplung des Wortbestandes. Sie bilden eine emergente Ebene der kommunikativen Konstitution von Sinn, und diese Emergenz ist nichts anderes als die Autopoiesis der sprachlichen Kommunikation, die sich ihr eigenes mediales Substrat schafft.“ (Ebd., S. 219-220.)

„Erst für diese Funktion werden die eigentümlichen Sprach strukturen geschaffen. mit denen sich die Fachleute für Sprache im Detail beschäftigen, die aber als latente Strukturen fungieren und selbst nicht Gegenstand der Kommunikation sind. Fragt man nach diesen Strukturen der Sprache, wird normalerweise auf Beschränkungen der Verwendung von (zunächst Phonemen, dann Morphemen; HB) Wörtern, auf Syntax, Grammatik und dergleichen verwiesen. (Daß diese Strukturen sich ihrerseits evolutionär verändern [zum Beispiel die Einschmelzung des griechischen Aorist in eine der Formen lateinischer Perfektbildung mit Erhaltung des akustisch auffälligen »s«], kann hier nicht näher behandelt werden.) Auch die entsprechenden Tiefenstrukturen ergeben sich aus dem Zeitdruck der Verwendung von Sprache, einschließlich dem Zeitdruck des sozialen Lernens des Sprechens der nachwachsenden Generationen. (Chomsky hatte bekanntlich die Theorie solcher Tiefenstrukturen im Hinblick auf angeborene Anlagen zum Sprachlernen entwickelt und damit das Tempo des Sprachlernens zu erklären versucht. Die Kurzcharakterisierung im Text geht von der umgekehrten Annahme aus: daß das Erfordernis, im Generationsaustausch rasch lernbar zu sein, ein »constraint« in der Evolution von Sprache gewesen sein muß und daß sich deshalb nur solche Strukturen halten, die dies ermöglichen - was immer an neurophysiologischen Gegebenheiten vorliegt. Anders gesagt: es kann nur Sprachen geben, deren Selbstorganisation genügend Redundanz aufweist, um rasche Kommunikation und rasches Sprachlernen zu ermöglichen.)“ (Ebd., S. 220.)

„Es ist leicht zu sehen, daß diese kondensierte Komplexität dazu dient, unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeiten zu erzeugen. Sie macht ja jeden bestimmten Satz extrem unwahrscheinlich, zugleich aber auch ganz normal, daß das bei jeder Kommunikation so ist. Aber erst im Kommunizieren läßt sich diese Paradoxie entfalten, und zwar durch die Autopoiesis des Kommunikationssystems, also dadurch, daß durch rekursive Rückgriffe auf vorherige Kommunikation und Aussicht auf spätere jeweils eingeschränkt wird, was sinnvoll gesagt werden kann. Geht man davon aus, daß die Sprache die Autopoiesis der Kommunikation strukturiert, kommt eine radikale und viel einfachere Struktur in den Blick. Wir wollen sie den (binären) Code der Sprache nennen. (Soziologen tendieren eher dazu, den linguistischen Begriff des Code zu übernehmen .... Um den allgemeinen Verwendungszusammenhang von Zeichen bzw. Symbolen zu bezeichnen, sprechen wir im folgenden von Semantik und reservieren den Begriff des Code für strikt binäre Strukturen. Damit soll zugleich klargestellt sein, daß wir nicht den linguistischen, sondern den kybernetischen Begriff des Code verwenden.) Er besteht darin, daß die Sprache für alles, was gesagt wird, eine positive und eine negative Fassung zur Verfügung stellt.“ (Ebd., S. 221.)

„Diese Duplikation dient als eine Struktur, die sich ausschließlich auf sprachliche Kommunikation bezieht und psychisch nur durch Teilnahme an Kommunikation gelernt werden kann. (Damit soll nicht bestritten sein, daß es bei psychischen Systemen, ja selbst bei Tieren vorsprachliche Irritationen gibt, wenn Erwartungen enttäuscht werden, also Konsistenzprüfungen versagen.) Außerdem setzt die Codierung voraus, daß die Sprache bereits ldentitäten konstituiert hat, also über Möglichkeiten des Unterscheidens und Bezeichnens verfügt, so daß man feststellen kann, worauf sich Bejahungen und Verneinungen beziehen. Die Codierung ändert und erweitert den Bedarf für ldentitäten, sie muß negationsfeste ldentitäten voraussetzen können. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, für die Wahrnehmung und ihr Gedächtnis Wiedererkennbarkeit (einschließlich: Wiedererkennbarkeit von Wörtern) zu ermöglichen. Von ldentitäten muß jetzt außerdem verlangt werden, daß sie dieselben bleiben, wenn die Kommunikation von Bejahung zu Verneinung oder von Verneinung zu Bejahung übergeht. So kann sich schließlich das Repertoire möglicher Kommunikation vom Wahrnehmbaren, auf das man zeigen kann, ablösen, und nur so kann Kommunikation Streit (und damit soziokulturelle Evolution) erzeugen. Anders als die klassische Logik und die ihr entsprechende Ontologie es vorgesehen hatten, gibt es also keinen primordialen Unterschied von Sein und Nichtsein oder positiv bzw. negativ bezeichnenden Operationen. Vielmehr ist die Welt selbst in bezug auf positiv und negativ unqualifizierbar. Eben deshalb kann und muß man unterscheiden, wenn man etwas bezeichnen will; oder anders ge sagt: eine Unterscheidung negiert nicht etwa das, was sie nicht bezeichnet, sondern setzt es als »unmarked space« (im Sinne des Formenkalküls von George Spencer Brown ...) gerade voraus.“ (Ebd., S. 221-222.)

„Ferner ist für das Verständnis dieser Errungenschaft die Einsicht wichtig, daß der Gebrauch von Negationen noch nicht zu einem logischen Widerspruch führt. (Als Ausnahme - und der Status einer Ausnahme ist hier entscheidend! - hat man den Gottesbegriff diskutiert. Hier soll, wie in der Lehre von den Gottesbeweisen behauptet worden ist, die Existenz Gottes ein notwendiges Prädikat der Idee sein.) Er öffnet vielmehr nur einen Kontingenzraum, für den in der Kommunikation zu unterstellen ist, daß alles, was bejaht wird, auch verneint werden kann und umgekehrt. Nur wenn man dies voraussetzt, kann man positive und negative Aussagen einer Wahrheitsprüfung unterziehen, und nur dafür kann dann neben anderen Instrumenten eine »Logik« entwickelt werden. Dies setzt, als hinzugesetzte Erfindung, das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) voraus.“ (Ebd., S. 222-223.)

„Man weiß nicht, ob das eine evolutionäre Bedingung für das Entstehen von Negation gewesen ist oder nur ein erfolgreich benutzter Nebeneffekt: jedenfalls ermöglicht die Negation eine erfolgreiche Domestikation des Schemas bestimmt/unbestimmt, einer der fundierenden Unterscheidungen, die einen Umgang mit Sinn ermöglichen. (Siehe dazu Philip G. Herbst..., der ein grundlegendes Implikationsverhältnis der nicht weiter zurückführbaren Unterscheidungen Sein/Nichtsein, innen/außen und bestimmt/unbestimmt vermutet.) Durch Negation kann etwas so bezeichnet werden, daß unbestimmt bleibt, was tatsächlich vorliegt. »Kein Mensch in der Wüste« - das läßt offen, was sonst in der Wüste vorkommt, und sogar, wo die Menschen sich tatsächlich aufhalten, und schließlich auch: welcher Mensch überhaupt gemeint ist. Und trotzdem ist die Kommunikation sofort verständlich und weiterbehandelbar - zum Beispiel als Warnung. Schon einfachste Gesellschaften haben es offenbar ganz wesentlich mit der Normalisierung des Ungewöhnlichen zu tun und mit der Stabilisierung eigener Pathologien durch Wiederholung. Dafür bilden Negativbezeichnungen die Brücke zur Normalität. All dies bleibt jedoch ein internes Problem des Kommunikationssystems Gesellschaft. Da in der Außenwelt nichts Negatives, also auch nichts Unbestimmtes existiert, läuft die Codierung der Sprache auf eine Verdoppelung der Aussagemöglichkeiten hinaus. Die erste Frage wäre daher: was soll das? Wozu leistet die Sprache sich diesen Luxus?“ (Ebd., S. 223.)

„Wir sehen in dieser Struktur eine Kompensation für Probleme, die sich aus der Ausdifferenzierung des Kommunikationssystems der Gesellschaft ergeben, eine Bedingung und Folgeeinrichtung also der autopoietischen Autonomie.“ (Ebd., S. 223.)

„Ein autopoietisches, selbstreferentielles System benötigt einen solchen Code, um die eigene Selbstreferenz zu symbolisieren und zugleich für die Unterbrechung der konstitutiven Zirkularität zu sorgen. Die beiden Werte sind ineinander übersetzbar, denn das Negieren erfordert eine positive Operation des Systems, und die Position ist logisch gleichwertig mit der Negation ihrer Negation. Zugleich impliziert diese tautologische Struktur aber eine latente Unterbrechungsbereitschaft. Sie macht das System empfindlich, zunächst für Zufälle, dann für Selbstorganisation, die Anhaltspunkte dafür bieten, ob Jas oder Neins angebracht sind. Gesellschaft entsteht also überhaupt erst durch diesen in der Sprache angelegten Symmetriebruch, an den dann Konditionierungen anschließen können. Die bloße Relation der Werte allein wäre noch kein System, aber sie wird nur erzeugt im Hinblick auf ihre Kapazität, Systembildungen auszulösen.“ (Ebd., S. 223-224.)

„Dieser in sich schon komplexe, aber offensichtlich evolutionsfähige Sachverhalt reguliert auch die Entstehung von Zeit. Schon für das Kreuzen der Grenze zwischen den beiden Werten (also für das Negieren von etwas, was dabei identisch bleibt) benötigt das System Zeit. Und das gilt erst recht für die Entfaltung der Tautologie, für das asymmetrisierende Konditionieren, denn dabei muß die gegebene Ausgangslage im Auge behalten werden und zugleich die Bistabilität des Systems in die Zukunft projiziert werden. Um seine Autopoiesis fortsetzen zu können, benötigt ein solches System (in der Ausdrucksweise von Spencer Brown) »memory« and »oscillation«, und zur Unterscheidung (Beobachtung) dieser beiden Bedingungen bildet es die Differenz der Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft, die von der jeweils operativ aktuellen Gegenwart aus als ihre Vergangenheit bzw. ihre Zukunft gleichzeitig beobachtet werden können. Einerseits muß es jeweils wissen, ob von einer Ja-Fassung oder einer Nein-Fassung der Kommunikation auszugehen ist und was dies im laufenden Zusammenhang besagt. Und andererseits steht damit nicht fest, ob der kommunizierte Sinn anschließend angenommen oder abgelehnt werden wird. Auch wenn man im großen und ganzen von einem Fortbestand der Welt, wie sie ist, auszugehen hat, kann die Zukunft der Kommunikation selbst nur über eine Oszillatorfunktion präsentiert werden, die unterschiedlich besetzt ist, je nachdem, um was es sich gerade handelt. Das sind mit der Codierung der Sprache gegebene geschichtliche Universalien, die aber je nach den Gesellschaftsstrukturen, die realisiert sind, sehr unterschiedliche semantische Formen annehmen können.“ (Ebd., S. 224-225.)

„Wir übertreiben nicht, wenn wir festhalten: Die Sprachcodierung ist die Muse der Gesellschaft. Ohne ihre Doppelung aller Zeichen, die Identitäten fixieren, hätte die Evolution keine Gesellschaft bilden können, und wir finden deshalb auch keine einzige, der dieses Erfordernis fehlt.“ (Ebd., S. 225.)

„Mit der Ausdifferenzierung einer Gesellschaft, die Sprache benutzt und Zeichen verwendet, entsteht das Problem des Irrtums und der Täuschung, des unabsichtlichen und des absichtlichen Mißbrauchs der Zeichen. Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit, daß die Kommunikation gelegentlich mißglückt, in die Irre geht oder auf einen Irrweg geführt wird. Vielmehr ist dieses Problem, da dies jederzeit passieren kann, jederzeit präsent - eine Art Universalproblem des von Hobbes am Falle der Gewalt entdeckten Typs. Mit Bezug auf dieses Problem kann man verstehen, daß die Gesellschaft Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und dergleichen moralisch prämiiert und im Kommunikationsprozeß auf Vertrauen angewiesen ist. Aber damit ist nur bestätigt, daß nicht vorkommen sollte, was doch möglich bleibt. Fragt man nochmals nach, wie der Kommunikationsprozeß selbst auf dieses Problem reagiert, dann sieht man den Vorteil der Codierung, denn sie ermöglicht es, etwas Mitgeteiltes zu bezweifeln, es nicht anzunehmen, es explizit abzulehnen und diese Reaktion verständlich auszudrücken, sie also in den Kommuikationsprozeß selbst wiedereinzubringen. Die Bezugnahme auf psychische und moralische Qualitäten wie Aufrichtigkeit und Vertrauen behält ihren Sinn, aber da kein Kommunikationsprozeß psychische Prämissen dieser Art prüfen kann (die Prüfung selbst würde das, was sie sucht, zerstören), müssen die Bedingungen psychologisch dekonditioniert werden und als Themen der Kommunikation selbst behandelt werden. Das setzt die Ja/Nein-Codierung der Sprache voraus.“ (Ebd., S. 225-226.)

„Da das Problem allgemein ist und den gesamten Sprachgebrauch durchzieht, muß auch die Problemlösung durch Codierung allgemein sein. Die gesamte Sprache wird codiert, das heißt: jeder Satz kann negiert werden. Die allgemeine Unsicherheit im Hinblick auf den Fehlgebrauch von sprachlichen Zeichen wird durch die Codierung in eine Bifurkation von Anschlußmöglichkeiten transformiert. Die weitere Kommunikation kann dann entweder auf Annahme oder auf Ablehnung gegründet werden. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten; aber eben deshalb kann man auch Unentschiedenheit zum Ausdruck bringen oder die Entscheidung aufschieben und der weiteren Kommunikation überlassen. Ohne binäre Codierung wäre nicht einmal ein solcher Aufschub möglich, denn man könnte gar nicht erkennen, was aufgeschoben wird.“ (Ebd., S. 226.)

„Die Codierung der sprachlichen Kommunikation hat so weit reichende Folgen, daß es sich lohnt, auf einige ihrer Merkmale kurz einzugehen. Vor allem ist zu beachten, daß sie das gesamte System der sprachlichen Kommunikation vollständig erfaßt. Was immer dazu beigetragen wird, läuft auf die Alternative der Annahme oder der Ablehnung zu. »Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn«. (Aus Ottiliens Tagebuch, in: Die Wahlverwandtschaften, zit. nach: Goethes Werke (Hrsg. Ludwig Geiger), Band 5, S. 500.) Will man dieses Risiko vermeiden, muß man auf Kommunikation verzichten.“ (Ebd., S. 226.)

„Diese Allgemeinheit und Zwangsläufigkeit der Codierung besagt auch, daß sie nicht dazu dient, gute und schlechte Nachrichten zu sortieren. Man kann schlimme Nachrichten (»Der Wasserhahn tropft«) sehr wohl positiv formulieren und damit als Kommunikation in die Alternative von Annahme oder Ablehnung laufen lassen. Voraussetzung ist, daß das, was eventuell anzunehmen oder abzulehnen ist, identisch gehalten wird.“ (Ebd., S. 226.)

„(Daran wird erneut erkennbar, daß der Code eine Duplikationsregel ist). Man kann beim Annehmen oder Ablehnen selbstverständlich Modifikationen vornehmen, vor allem wenn man die Härte einer Ablehnung abschwächen will. (»Der Wasserhahn tropft nicht, er war nur nicht fest zugedreht«.) Aber immer läuft die Kommunikation an thematischen Identitäten entlang, und auch das ist ein Effekt der Codierung. Sie wirkt thematisch disziplinierend, weil sie dazu auffordert, darauf zu achten, daß über Dasselbe geredet wird. (Daß diese Disziplin oft nicht eingehalten wird, lehrt die Alltagserfahrung. Aber zugleich zeigt die dann eintretende Irritation, daß Erfordernisse geordneter Kommunikation verletzt sind und daß es wenig Sinn hat, so weiterzureden.)“ (Ebd., S. 227.)

„Die Codieryng enthält als solche keine Präferenz für Ja-Fassungen bzw. für Nein-Fassungen, so wie die Sprache als solche ja auch nicht dazu da ist, ein Annehmen der Kommunikation gegenüber einem Ablehnen zu begünstigen. Im Prinzip müssen deshalb auch Jas und Neins gleich gut verständlich sein. Es mag sein, daß das Anfertigen und Verstehen von negationshaltigen Sätzen etwas mehr Zeit für Informationsverarbeitung und etwas mehr psychischen Aufwand erfordert, aber das dürfte praktisch kaum ins Gewicht fallen, wenn Gründe für eine negative Stellungnahme vorliegen. Wichtiger sind die sozialen Konditionierungen des Negationsgebrauchs; und etwaige Schwierigkeiten psychischer Systeme sind nur ein Indikator mehr dafür, daß es sich bei ihnen um Operationen von Systemen in der Umwelt der Gesellschaft handelt.“ (Ebd., S. 227.)

„Daß die Codierung sich auf die Kommunikation bezieht und nicht auf die Ansichten und Einstellungen der Teilnehmer, kann man auch als Vorbehalt der Selbstberichtigung des Kommunikationsprozesses formulieren. Die Berichtigung (die Negierung vorheriger Kommunikation) obliegt nicht notwendigerweise dem Mitteilungsempfänger. Auch der Mitteilende kann in der weiteren Kommunikation korrigieren, was erselbst gesagt hatte. Ferner braucht die Korrektur sich nicht auf explizit und im Detail erinnerte frühere Kommunikationen zu beziehen. Sie mag sich auch auf Erwartungen beziehen, die als Resultat früherer Kommunikation vorliegen, so daß die Negation schon in der Initiative zu einer Kommunikation zum Ausdruck kommt und als Negation eines externen Sachverhalts erscheint (»Der Wasserhahn war nicht fest zugedreht«). Wir vermuten, daß alle direkt auf Weltsachverhalte bezogene Negationen ihren Anlaß in früherer Kommunikation haben und in der Vermutung, daß der Kommunikationsprozeß unter dem Einfluß erinnerter Kommunikation abläuft und deshalb mit Negation korrigiert werden muß.“ (Ebd., S. 227-228.)

„Zwei weitere Eigentümlichkeiten sprachlicher Kommunikation folgen aus ihrer Codierung. Die eine besteht darin, daß aller Negationsgebrauch mindestens implizit Unterscheidungen voraussetzt, so daß festgestellt werden kann, welche Optionen offen sind, wenn etwas negiert wird. Wenn etwas als nicht rot bezeichnet wird, kommen andere Farben in Betracht; und auch umgekehrt halten positive Formulierungen wie: das Auto fuhr langsam, für den Fall ihrer Negation bestimmte Alternativen bereit. (Man kann nicht negieren, um zu sagen: es fuhr auf vier Rädern. )“ (Ebd., S. 228.)

„Ferner kann man die Aussicht auf Ja/Nein-Bifurkation durch Markierung dirigieren. Man markiert diejenigen Komponenten einer Kommunikation, bei denen man Informationswert und Widerspruchsmöglichkeit voraussetzt, und läßt andere unmarkiert. Vor allem Werteinstellungen, von denen man selbst verständlich voraussetzt, daß sie geteilt werden, werden im Regelfall unmarkiert kommuniziert. Fehlmarkierungen zeichnen typisch Sprecher aus, die mit dem kulturellen oder situativen Kontext der Kommunikation nicht hinreichend vertraut sind und deshalb die Wahrscheinlichkeiten nicht richtig einschätzen können. Aber das Problem dieser Zuspitzung entsteht nur, weil die Kommunikation codiert ist und deshalb zu steuern versucht, in welchen Hinsichten sie Annahme bzw. Ablehnung, Überraschung und Widerstand zu gewärtigen hat.“ (Ebd., S. 228-229.)

„Der wohl wichtigste Effekt der Codierung aber ist, daß die elementare Operation einer Kommunikation mit dem Verstehen abgeschlossen ist und daß zur Mitteilung von Annahme, Ablehnung oder Unschlüssigkeit eine weitere Kommunikation erforderlich ist. Denn gerade das Verstehen einer Kommunikation ist ja Voraussetzung dafür, daß sie angenommen oder abgelehnt werden kann; und welchen Pfad die Kommunikation an dieser Stelle wählt, kann nur durch eine weitere Kommunikation verdeutlicht werden. Im Verstehen konvergieren die Interessen, denn man hat normalerweise kein besonderes Interesse daran, unverständlich zu sprechen oder nicht verstehen zu können. (Zugestanden sei, daß es expressive Interessen an unverständlicher Ausdrucksweise geben kann, zum Beispiel in der religiös inspirierten Kommunikation; oder daß es, zum Beispiel unter kritischen Rationalisten, die Manie gibt, zu sagen, daß man nicht verstehen könne, was der andere sagt, was für diese Sekte dann gleichbedeutend ist mit dem Vorwurfsbegriff »Metaphysik«. Aber dann will man wenigstens darin verstanden werden, daß man nicht verstanden werden will oder nicht verstehen kann und dafür Gründe zu haben meint.) Erst die Ja/Nein-Bifurkation bietet also Gelegenheit für das Einbringen von Interessen in den Kommunikationsprozeß, und das gemeinsame Interesse an Verständlichkeit ist nur deshalb akzeptabel, weil es gleich darauf diese Bifurkation gibt.“ (Ebd., S. 229.)

„Die sprachliche Kommunikation hat, sagen wir zusammenfassend, ihre Einheit in der Ja/Nein-Codierung. Das schließt es, ernst genommen, aus, aus der Sprache selbst eine Idealnorm des Bemühens um Verständigung abzuleiten. (So bekanntlich, um nochmals darauf hinzuweisen, Jürgen Habermas - bei aller Betonung der Ja/Nein-Stellung des Adressaten. Siehe z. B.: Nachmetaphysisches Denken: Philosophische Aufsätze, Frankfurt, 1988, S. 146: »Ohne die Möglichkeit zur Ja/Nein-Stellungnahme bleibt der Kommunikationsvorgang unvollständig«.) Notwendig ist nur die Autopoiesis der Kommunikation, und diese Autopoiesis wird nicht durch ein Telos der Verständigung, sondern durch den binären Code garantiert. Denn für eine codierte Kommunikation gibt es kein Ende, sondern nur die in allem Verstehen reproduzierte Option, über Annahme oder über Ablehnung weiterzumachen. Anders gesagt: die Codierung schließt jede Metaregel aus, da man zur Kommunikation einer solchen Regel ja wieder bejahend oder verneinend Stellung nehmen könnte. (Gegenüber Habermas und Apel finden wir uns daher in der gegenwärtig laufenden Kontroverse auf der Seite von Lyotard, wenngleich mit anderer Begründung.) Die Codierung der Sprache überwindet die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit eines sich operativ abschließenden Kommunikationssystems. Sie garantiert, soweit das im System selbst möglich ist, die Autopoiesis der gesellschaftlichen Kommunikation, indem sie sie transformiert in die Freiheit, zu allen erreichten Bestimmtheiten folgenreich ja oder nein zu sagen. Deshalb evoluieren in komplexen Gesellschaften nicht Konsenspflichten sondern, wie wir ausführlich zeigen wollen, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien.“ (Ebd., S. 229-230.)

„IV. Geheimnisse der Religion und die Moral. - Die Codierung schließt das System. Alles andere läßt sie offen. Die Entscheidung zwischen dem Annehmen und dem Ablehnen kommunizierter Sinnofferten kann aber nicht offen bleiben. Die durch den Code erzwungene Bifurkation führt vielmehr dazu, daß das System Bedingungen entwickelt, die Anhaltspunkte dafür liefern, wann Annehmen und wann Ablehnen angebracht ist. Wie die Systemtheorie weiß, gehören Konditionierungen zu den allgemeinsten Erfordernissen jeder Systembildung. Sie legen nicht-beliebige Zusammenhänge fest in dem Sinne, daß die Festlegung bestimmter Merkmale beschränkten Spielraum läßt für die Festlegung anderer. In anderer Terminologie, die von der Frage ausgeht, wie man sich über ein Systeminformieren kann, spricht man auch von Redundanzen, die die Varietät des Systems einschränken: Ein Merkmal macht das Vorliegen anderer mehr oder weniger wahrscheinlich. Diesen Theorierahmen zugrundelegend, können wir auch sagen, daß der Sprachcode die Form ist, durch die ein System sich der Selbstkonditionierung aussetzt. Die Codierung der Sprache bedeutet mithin, daß die Srelbstkonditionierung der Gesellschaft Strukturen entwickelt, die es ermöglichen, Erwartungen im Hinblick auf Annehmbarkeit bzw. Ablehnbarkeit von Kommunikationen zu bilden. Erst über solche Strukturen wird die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation in Wahrscheinlichkeit transformiert. Erst durch solche Strukturen wird das geschlossene System für Umwelteinflüsse geöffnet.“ (Ebd., S. 230-231.)

„Die uns geläufige Kongruenz von Religion und Moral hat vermutlich nur den Sinn, ein Kommunikationsproblem zu lösen, das sich daraus ergibt, daß die Sprache für alles, was gesagt werden kann, eine Ja-Fassung und eine Nein-Fassung zur Verfügung stellt. Deshalb kann es keine der Verneinbarkeit entzogenen Begründungen geben und deshalb muß die Moral ihre Grundlagen in die inkommunikablen Geheimnisse der Religion verlegen (und wer diese Notwendigkeit mißachtet wie Kant oder Bentham oder die Wertethiker unserer Tage, wird mit Unergiebigkeit seiner Maximen bestraft).“ (Ebd., S. 242.)

„Der geschichtlich wohl wichtigste Ausweg ist die Verschiebung des Geheimnisses der Religion in das (nicht eingestehbare) Paradox der Moral. (Gut erkennbar ist dieser Vorgang am Mythos vom Paradies und vom Sündenfall. Es bleibt ein Geheimnis Gottes, weshalb er die Fähigkeit zum moralischen Unterscheiden verbieten wollte. Aber das Verbot war offenbar, doch dies bleibt die nicht eingestehbare Paradoxie der Moral, nur dazu da, übertreten zu werden.) Die Moral selbst kann, ja muß weitgehend auf Geheimnisse (und damit auf Religion) verzichten. Sie muß, soll sie ihre eigene Funktion erfüllen, nicht geheim sein, sondern bekannt. Nur für ihre eigene Paradoxie, für das Verdrängen der Frage, warum denn die Moral selbst gut sei, obwohl sie doch gutes und schlechtes Verhalten vorsehe, bedarf sie zunächst noch einer religiösen Fundierung im Willen Gottes, der dann seinerseits unter die Beschränkung gerät, ausschließlich gut handeln zu müssen. (Statsitisch gesehen sind Götter, die sich um die moralischen Affären der Menschen kümmern und sich dabei selbst für das Gute und gegen das Schelchte engagieren, eindeutig in der Minderheit. Nur 25% der von George P. Murdock ... erfaßten Gesellschaftssysteme kennen einen Hochgott, der die Menschen moralisch beurteilt. ....) Die Religion selbst wird moralisiert, damit sie die Moral begründen kann; und warum es überhaupt Schlechtigkeit gibt, obwohl Gott doch mit einem Wort die ganze Welt gut machen könnte, bleibt das letzte Geheimnis der Religion. Zugleich hat dieses Bündnis von Moral und Religion den Vorteil, mit Schrift und mit der dadurch bedingten Versachlichung der Welt kompatibel zu sein. (Wenn man den ursprünglichen Sinn von »res« im Auge behält, könnte man hier auch von »Reifikation« sprechen. Es geht um die Konstitution externer Referenzen, die von der Art, wie man über sie spricht, unabhängig sind. Daß auch das »Ding« in sich geheimnisvoll ist, hat Martin Heidegger wieder bewußt gemacht. Siehe direkt zum Thema: Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze ..., S. 163-181. Der Vorteil der Dinghaftigkeit ist jedoch, daß man dieses Geheimnis weder kommunikativ noch sonstwie respektieren muß.) So gelingt es, in erheblichem Umfange Mystifikationen durch strukturierte Komplexität zu ersetzen, zumindest auf den konkreteren Sinnebenen der Kommunikation.“ (Ebd., S. 243-244.)

„Vor allem geht es um einen im Verhälnis zur Sprache neuartigen Code, nämlich um die Unterscheidung von gutem und schlechtem Verhalten. Wie der Sprachcoode selbst enthält auch dieser Code nur zwei Werte, und ebenfalls einen positiven und einen negativen Wert. Der Moralcode steht aber quer zum Sprachcode mit der Folge, daß sowohl das Annehmen als auch das Ablehnen einer Kommunikation sowohl gut als auch schlecht sein kann. Darin liegt, verglichen mit der zuvor behandelten Restriktion der Kommunikation, die Unwahrscheinlichkeit der Moral und speziell die Unwahrscheinlichkeit, daß die durch die Sprache freigesetzten Risiken auf diese Weise kontrolliert werden können.“ (Ebd., S. 244.)

„Hochkulturen sind Gesellschaften mit moralisierter (und moralisierender) Religion.“ (Ebd., S. 284.)

„Nach Erfindung der Schrift kann man nicht mehr davoan ausgehen, daß Gesellschaft und Semantik sich in laufend synchronisierter Übereinstimmung befinden.“ (Ebd., S. 288.)

„Mit all dem fördert der Buchdruck heimlich den Trend zur Individualisierung der Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunkation, und dies in doppelter Weise. Wenn etwas bekannt ist, aber jemand es nicht kennt, hat er sich dies selbst zuzuschreiben. Er hat nicht genug gelesen. Ihm fehlt es an Bildung. Und andererseits reizt das Bekanntsein dazu, mit abweichenden Meinungen oder neuen Interpretationen hervorzutreten, zum sich als Individuum bemerkbar zu machen.“ (Ebd., S. 298-299.)

„Es braucht gut zweihundert Jahre seit Gutenbergs Erfindung der Druckpresse, bis die Funktion des Buchdruckes als einer technischen Infrastruktur für die Erhaltung und Fortschreibung eines Gedächtnisses der Gesellschaft sichtbar wird - abgelöst von dem, wss Individuen mehr oder weniger zufällig erinnern und was dann mit ihnen stirbt Zum Bereithalten dieses gedächtnisses werden allgemein zugängliche, »öffentliche« Bibliotheken eingerichtet.“ (Ebd., S. 299.)

„Die eigentlich folgereiche Veränderung scheint jedoch in der Erfindung und Entwicklung elektronischer Maschinen der der Informationsverarbeitung zu liegen. Wie verzaubert durch eine lange humanistische Tradition hatte man das Problem zunächst in der Frage gesehen, ob die Computer und ihre »künstliche Intelligenz« dem Bewußtsein Gleichwertiges oder Überlegenes leisten und wie sich Überlegenheiten und Unterlegenheiten auf die einzelnen Leistungsgebiete verteilen. Das Fluchtziel der Geisteswissenschaft war und bleib das das menschliche Subjekt. Es fragt sich aber, ob dies die richtige Problemstellung ist und ob nicht in dieser Konkurrenzlage über kurz oder lang der Computer der Sieger bleibt, wenn ihm die Gesellschaft »Chancengleichheit« zubilligt. Eine ganz andere Frage ist, ob und wie weit Computer die gesellschaftkonstituierende Leistung der Kommunikation ersetzen oder überbieten können. Dazu müßten sie ja Wissen als Formen behandeln, also wissen können, was andere Computer nicht wissen. Bereits in den Kybernetik-Konferenzen der 1950er Jahre war formuliert worden, daß man menschliches Bewußtsein als Maschine konstruieren könne, sofern nur präzise genug angegeben werden könne, was die Maschine leisten solle. Das heißt aber, daß es in dem dann »künstliche Intelligenz« genannten Forschuungsbereich nur um Programmierung geht. Damit ist aber das Problem in die sprachliche Kommunikation verschoben, deren Vorteil eben darin liegt, daß sie auch mit schwammigen Ausdrücken funktioniert, wenn nur bei Bedarf selbstkorrigierende Operationen zur Verfügung stehen. Kommunkation ist ein laufendes Prozessieren der Differenz von Wissen und Nichtwissen, ohne daß es dazu nötig wäre, die Wissens-/Nichtwissensbestände in den beteiligten Individuen oder Maschinen zu ermitteln. Sie sind ebenso Ergebnis wie Voraussetzung von Kommunikation. Hier gibt es, zur Zeit jedenfalls, gute Argumente für Unentbehrlichkeit und Überlegenheit mündlicher und schriftlicher Kommunikation, die dann ferilich sich des Computers bedienen kann, um die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern und sich auf das Wesentliche, nicht auf Technik delegierbare zu konzentrieren.“ (Ebd., S. 303-304.)

„Wahrscheinlich ist aber diese Frage des Vergleichs von Computerleistungen mit Bewußtsein oder mit Kommunkation ein Nebenproblem.“ (Ebd., S. 304.)

„Vor allem aber ändert der Computer ... das Verhältnis von (zugänglicher) Oberfläche und Tiefe.“ (Ebd., S. 304.)

„Während durch Schrift eine räumliche /und damit auch zeitliche) Entkopplung der Kommunikationskomponenten Mittelung und Verstehen erreicht worden war, aber unter der strengen Voraussetzung, daß es sachlich um dieselbe Information ging (wie immer diese dann »hermeneutisch« modifiziert werden mochte), kann der Computer auch die Sachdimension des Sinns der Kommunikation in die Entkopplung einbeziehen. Was daraus werden kann, entzieht sich derzeit auch den kühnsten Spekulationen.“ (Ebd., S. 310.)

„Wenn es in der Evolution der Verbreitungsmedien durchgehende Trends gibt, die mit der Erfindung der Schrift beginnen und in den modernen elektronischen Medien ihren Abschluß finden, dann sind es, so können wir zusammenfassen, der Trend von hierarchischer zu heterarchischer Ordnung und der Verzicht auf räumliche Integration gesellschaftlicher Operationen.“ (Ebd., S. 312.)

„Wenn man nur noch Beobachter zu beobachten hat, liegt darin zunächst eine drastische Reduktion; aber zugleich eine Reduktion, die in jedem Falle die Option öffnet, ob man das Beobachtete dem Beobachter und seiner Unterscheidung zurechnen will oder dem, was er beobachtet.“ (Ebd., S. 313.)

„Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien dienen nicht (wie vor allem das Recht) primär der Absicherung von Erwartungen gegen Enttäuschungen. Sie sind eigenständige Medien mit einem direkten Bezug zum Problem der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. Sie setzen jedoch die Ja/Nein-Codierung der Sprache voraus und übernehmen die Funktion, die Annahme einer Kommunikation erwartbar zu machen in Fällen, in denen die Ablehnung wahrscheinlich ist. Sie entstehen erst, wenn es Schrift gibt und die Ablehnung von kommunizierten Sinnzumutungen damit nochmals wahrscheinlicher wird. Sie reagieren auf das Problem, daß mnehr Information normalerweise weniger Akzeptanz bedeutet.“ (Ebd., S. 316.)

„Grenzen sind nicht Teile, man könnte fast sagem Teilgebiete des Systems, während es außerdem noch »innere« Teile gibt, die davon profitieren, daß sie keinen Kontakt mit der Umwelt haben. Vielmehr ist ein soziales System nicht anderes als die eine Seite, die innere Seite, die operierende Seite der From System, und mit jeder Operation des Systems wird die Distinktheit des Systems im Unterscheid zur Umwelt reproduziert. Die Autopoiesis eines Sinnsystems ist nichts anderes als die Reproduktiobn dieser Differenz.“ (Ebd., S. 316.)

„Erst mit Hilfe der Schrift lassen sich Themen so objektivieren, daß über sie kontrovers diskutiert werden kann. Vermutlich auf Grund solcher Dialoge gewöhnt man sich an eine Beobachtung zweiter Ordnung, die sich vorbehält, noch zu prüfen, ob ein für wahr gehaltenes Wissen richtiger- oder fälschlicherweise als Wissen angenommen wird. (Daß damit eine für die Folgezeit maßgebende Indirektheit des »Seinsbzugs« erreicht ist, wird man Heidegger zugeben können.)“ (Ebd., S. 326.)

„Sozialform der »doppelten Kontingenz« ..., die wir mit den Positionsbegriffen Ego und Alter bezeichnen. Warum? Die normale Antwort lautet, daß Ego und Alter sowieso schon existieren, daß sie verschiedene Menschen sind, die hin und wieder miteinander kommunizieren ..., daß jeder Mensch immer beides ist, wenn (und nur wenn) er sich an Kommunikation beteiligt, Warum aber, präziser gefragt, die Verdopplung? Unsere Antwort lautet, daß die Selbstreferenz sozialer Systeme eine immanente Dualität zur Voraussetzung hat, damit ein Zirkel entstehen kann, dessen Unterbrechung dann Strukturen entstehen läßt.“ (Ebd., S. 332-333.)

„Zurechnungen betreffen niemals das innere Geschehen (die Autopoiesis) der beteiligten Systeme, sondern immer nur ihr Verhalten, wie es durch einen Beobachter gesehen und auf die Umwelt bezogen wird. Sie sind immer ein artifizielles Geschehen, das in den Realqualitäten zwar suggestive Bedingungen findet, durch sie aber nicht voll determiniert ist. Der Zurechnungsprozeß selbst ist also sozial konditioniert, wobei die Frage nach der Zurechnung des Zurechnens eine jener Endlosfragen ist, die nicht zugelassen, sondern durch »Gründe« verdeckt und invisibilisiert werden. (Für Kausalzurechnungen liegt das auf der Hand: Die Zurechnung von Wirkungen auf Ursachen ist nicht selbst eine Ursache, eine Urursache der Wirkungen.)“ (Ebd., S. 333-334.)

„Da Kommunikation sich nur beobachten kann, wenn zwischen Information und Mitteilung unterschieden wird, kann der Akzent der Zurechnung entweder auf Information (Erleben) oder auf Mitteilung (Handeln) gelegt werden; und dies gilt für beide Seiten: für die, die eine Kommunikation initiiert, und für die, die darufhin über (Kommunikation von) Annahme und Ablehnung zu entscheiden hat. Wenn eine Selektion (von wem immer) dem System selbst zugerechnet wird, wollen wir von Handlung (im Unterschied zu den »Handlungstheorien« verwenden wir also keinen »objektiven« Handlungsbegriff, setzen aber selbstverständlich voraus, daß auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung Handlungen als Objekte erlebt bzw. behandelt werden, was nicht im Widerspruch steht zu dem sogenannten »subjektiven« Handlungsbegriff, der nur besagt, daß Handlungen frei gewählt (wir sage; intern zugerechnet) werden müssen, was in unserer Sprache heißen würde, daß man den Handelnden [als Beobachter einer Situation] beobachten muß, wenn man verstehen will, wie er handelt - wir merken dies nur an, um gegen verbreitete Bedenken von Handlungstheoretikern zu zeigen, daß im Übergang von der Ebene erster Ordnung zur Ebene zweiter Ordnung nichts verlorengeht, sondern alles, wenn auch in einer komplexeren strukturreicheren Sprache, rekonstruiert werden kann) sprechen, wird sie der Umwelt zugerechnet, von Erleben. Entsprechend unterscheiden sich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien danach, ob sie die beiden sozialen Positionen Ego und Alter als erlebend oder als handelnd voraussetzen. Beide Unterscheidungen präsentieren kein Alltagswissen. Es geht nicht um eine vollständige Klassifikation der Phänomene. Die Festlegung der Zurechnung auf Erleben bzw. Handeln und die Markierung der Beteiligung als Ego bzw. Alter (mit Bezug auf Personen, die immer beides sind) findet nur statt, wenn sie gebraucht wird. Sie erfolgt in Verwendungszusammenhängen, also nur dann, wenn es für die Autopoiesis des Kommunikationssystems darauf ankommt. So aktiviert also die Zuspitzung von Kommunikationsproblemen in Konstellationen, die für Medienbildung in Frage kommen, Unterschiede der Zurechnung als Erleben bzw. Handeln und der Markierung als Ego bzw. Alter, die anderenfalls nicht vorkommen würden und auch nicht aus der »Natur der Sache begründet werden können.“ (Ebd., S. 334-335.)

„Die sich daraus ergebenden Konstellationen lassen sich in der Form einer Tabelle zusammenstellen:
Alter \ Ego
Erleben Handeln
Erleben Ae => Ee
Wahrheit
Werte
Ae => Eh
Liebe
Handeln Ah => Ee
Eigentum/Geld
Kunst
Ah => Eh
Macht/Recht
Mit Hilfe von Zurechnungen kann der Kommunikationsprozeß gefaßt und das Problem der doppelten Kontingenz asymmetrisiert und dadurch enttautologisiert werden. Die Kommunikation läuft von Alter zu Ego. (Wir kehren die übliche Reihenfolge Ego-Alter um, um daran zu erinnern, daß wir den Kommunikationsprozeß vom Beobachter, also vom Verstehen her konstruieren, und nicht handlungstheoretisch.) Erst muß Alter etwas mitteilen, nur dann kan Ego verstehen und annehmen oder ablehnen. Dies basale Einheit wird heraussubstrahiert, obwohl doppelte Kontingenz immer als Zirkel gebaut ist (»wenn Du tust, was ich will, tue ich, was Du willst«) und Kommunikation als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen in rekursiver Vernetzung mit anderen Kommunikationen erzeugt wird.“ (Ebd., S. 336.)

„Nur dort, wo Zurechnungen Kausalität platzieren, können Konditionierungen angebracht werden. Insofern dirigiert (nicht determiniert!) das Zurechnungsschema die Konditionierungen der Selektion und über diese die erwartbare Motivation. Es macht mithin einen Unterschied aus, ob Alter und Ego als handelnd oder erlebend (sie sind beide natürlich immer beides) konditioniert werden. Im Prinzip muß man deshalb, wie unsere Tabelle zeigt, mit vier verschieden Konstellationen rechnen, nämlich (1) Alter löst durch Kommunikation seines Erlebens ein entsprechendes Erleben von Ego aus; (2) Alters Erleben führt zu einem entsprechenden Handeln Egos; (3) Alters Handeln wird von Ego nur erlebt; und (4) Alters Handeln veranlaßt ein entsprechendes Handeln von Ego.“ (Ebd., S. 336-337.)

„Die Wahrheit ist (wie jedes symbolisch generalisiertes Medium) ein Medium der Weltkonstruktion und nicht ein nur für bestimmte Zwecke geeignetes Mittel.“ (Ebd., S. 339.)

„Die Reduktion auf externe Selektion dokumentiert, daß das Medium Wahrheit keine unterschiedlichen Meinungen toleriert. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage kann deshalb nicht auf den Willen oder das Interesse eines der Beteiligten zurückgeführt werden, denn das hieße, daß er für die anderen nicht verbindlich wäre.“ (Ebd., S. 339-340.)

„Im Falle von Werten mag man zweifeln, ob überhaupt ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium vorliegt, oder ob wir hier, wenn überhaupt, ein Medium im Prozeß des Entstehens beobachten können; denn eine entsprechende Semantik gibt es erst seit etwa zweihundert Jahren. (Es gibt keine auch nur annähernd zureichende wort- und begriffsspezifische Forschung. Was man findet, versteht sich durchweg als Vorgeschichte des wirtschaftswissenschaftlichen Wertbegriffs. .... Jedenfalls ist bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ganz allgemeine Verwendung des Wertbegriffs geläufig. Man spricht zum Beispiel vom Wert von Zwecken.)“ (Ebd., S. 340.)

„Es muß, so meint man, oberhalb aller Kontingenzen, unbezweifelbare Bezugspunkte geben ..., die sich jeweils verschieben, wenn auch hier Kontingenzen entdeckt werden. Das impliziert, das Werte nicht als handlungsfähig, sondern umgekehrt Handlungen als wertabhängig gedacht werden müsse. Unter den Zurechnungskonstellationen kommt deshalb nur der Bezug Erleben in Betracht. der, wie man sagen könnte, pragmmatische Kontext der Wertlehre führt hier in die Irre. Auch belibt die Behauptung harmlos, Werte hätten einen normativen Sinn; sie seine nicht bloß Präferenzen, sondern gesollte Präferenzen. Es kann keine Rede davon sein, daß Werte in der Lage wären, Handlungen zu seligieren. dazu sind sie viel zu abstrakt und im übrigen aus der Sicht der Handlungssituationen stets imn der Form des Wertkonflikts gegeben. (Die verbreitete Darstellung des Wertproblems mit Hilfe der Unterscheidung subjektiv/objektiv verschleiert genau dieses Problem: daß es sich immer zugleich um fraglose Unterstellungen und daurch nicht geregelte Konflikte handelt.) Ihre Funktion liegt allein darin, in kommunikativen Situationen eine Orientierung des Handelns zu gewährleisten, die von niemandem in Frage gestellt wird. Werte sind also nichts anderes als eine hochmobile Gesichtspunktmenge. Sie gleichen nicht, wie einst die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt, um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten.“ (Ebd., S. 341-342.)

„Werte sind das Medium für eine Gemeinsamkeitsunterstellung, die einschränkt, was gesagt und verlangt werden kann, ohne zu determinieren, was getan werden soll.“ (Ebd., S. 343.)

„Wie immer bei symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien kommt es auf die soziale, nicht auf die psychische Ordnungsleistung an. Werte sind sozial stabil, weil psychisch labil.“ (Ebd., S. 343.)

„Entstanden ist Geld vermutlich nicht im Hinblick auf seine Tausch vermittelnde Funktion, sondern als Zeichen für unausgeglichene Leistungsverhältnisse, zuerst wohl in Haushaltswirtschaften. Noch im 18. Jahrhundert war Staatsverschuldung das primäre Instrument der Geldschöpfung, und auch »Bank«noten waren zunächst als (übertragbare) Schuldscheine konzipiert. Aber dann mußte man immer wissen, wer der Schuldner war und ob man seiner Zahlungsfähigkeit trauen konnte oder nicht. Erst in jüngster Zeit ist diese Einschränkung aufgegeben worden. Schuldner ist dann, wenn man diese Bezeichnung überhaupt noch brauchen darf, die Wirtschaft selbst, die sich das Geld schuldet, das sie zirkulieren läßt. Zahlungsfähigkeit kann nicht mehr anders als in der Form einer Garantie der Verwendbarkeit des Geldes, also in Form der Autopoiesis des Wirtschaftssystems gewährleistet werden. Die Funktion des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Geld ist derart unwahrscheinlich, daß sie nie als die Evolution ermöglichender Faktor hätte dienen können, sondern erst in einer schon funktionierenden Geldwirtschaft sichtbar wird.“ (Ebd., S. 348-349.)

„Sowohl Wahrheit als auch Geld neutralisieren die gefährliche, konfliktnahe Machtkommunikation, indem sie Ego nur Erleben zumuten, und Sozialutopien benutzen daher gern die Vorstellung, die Gesellschaft lasse sich allein durch Wahrheiten oder allein durch den Markt steuern. Das hieße jedoch auf wichtige Ordnungsmöglichkeiten verzichten, nämlich auf all das, was über konditionierte Willkür an langen Handlungsketten organisiert werden kann. Denn weder Wahrheit noch Geld können festlegen, was der Empfänger mit dem Empfangenen tut - und genau dies ist die Funktion von Macht.“ (Ebd., S. 356-357.)

„Zu einer vollen Entfaltung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien kommt es erst unter der Voraussetzung einer funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems; denn nur dann können die Medien als Katalysatoren dienen für die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen der Gesellschaft.“ (Ebd., S. 358.)

„Es gibt für die moderne Gesellschaft, für eine Gesellschaft mit voll entwickelten symbolisch generalisierten Medien keine Supermedium, das alle Kommunikationen auf eine ihnen zugrunde liegende Einheit beziehen könnte. Man mag hier erneut an Moral (manche sagen: Ethik) denken. Aber der Versuch, alle moralischen Schwachstellen der Gesellschaft mit Ethik (also mit einer Reflexion der Moral) zu kurieren, grenzt ans Lächerliche.“ (Ebd., S. 359.)

„(1) Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien benötigen einen einheitlichen Code (Zentralcode) für den gesamten Medienbereich. (Wir hatten im vorigen Abschnitt [S. 332-358] bereits notiert, daß diese Voraussetzung beim Medium Wertbeziehungen nicht erfüllt ist und daher auch eine Ausdifferenzierung dieses Mediums nicht gelingen kann. [Vgl. S. 340-344.] Mit Werten hat man es überall zu tun.) Ein Code besteht aus zwei entgegengesetzten Werten und schließt auf dieser Ebene (nicht natürlich »im Leben«) dritte und weitere Werte aus. Damit wird die unbestimmte, tendenziell zunehmende Möglichkeit der Ablehnung des kommunizierten Sinnvorschlags in ein hartes Entweder/Oder überführt, also eine »analoge« Situation in eine »digitale« transformiert; und gewonnen wird damit eine klare Entscheidungfrage, die für Alter und Ego dieselbe ist. Nicht deren Meinungen werden codiert, sondern die Kommunikation selbst, und dies in einer Weise, die auf Lernfähigkeit angewiesen ist, nämlich auf Spezifikation der Kriterien für eine richtige Zuordnung des positiven bzw. negativen Wertes (während aus der uncodierten Ausgangssituation nur zunehmende Enttäuschung, Verhärtung, Konflikt resukltieren könnten).“ (Ebd., S. 359-360.)

„Geld muß knapp gehalten werden, um Güter im Überfluß erzeugen zu können, während in Wirklichkeit das Umgekehrte der Fall ist.“ (Ebd., S. 374.)

„Sobald es eine Beobachtung zweiter Ordnung gibt, wird alles Beobachten in dem jeweiligen Medienbereich auf die Ebene zweiter Ordnung bezogen. Auch der Beobachter erster Ordnung weiß sich durch einen Beobachter zweiter Ordnung (der er selber sein kann) beobachtet. Für das Wahrheitsmedium faßt man dies Erfordernis unter den Ausdruck »Empirie« zusammen. Deshalb müssen auch alle Konditionierungen des Mediums auf der Ebene zweiter Ordnung angesetzt werden. Damit wird, mit immensen Folgen, die Beobachtung erster Ordnung freigegeben und auf Überraschungen eingestellt.“ (Ebd., S. 375.)

„Unter all diesen Bedingungen selbstreferentieller Zirkularität bleibt das Medium eine durch Codierung bestimmte, unverwechselbare Einheit. Elementare Operation, Strukturbildung, Strukturänderung, Kreuzen im Code und Ebenenwechsel werden im selben Medium vollzogen. (Es ist bemerkenswert, daß genau diese Idee auch der Von-Neumann-Maschine, dem Computer, zugrunde liegt.) In diesem Sinne nehmen die Medien eine Universalzuständigkeit für alle Kommunikationen in Anspruch, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Sie tun das im Sinne von »Sofern«-Abstraktionen: Sofern es um Probleme und um Zurechnungskonstellationen des Wahrheitsmediums geht, ist dieses Medium allein zuständig. In der Sprache der Parsonsschen pattern variables formuliert, kombinieren die Medien mithin »universalism« und »specificity«, und Parsons hält das mit Recht für eine typisch moderne Konstellation, die ältere Gesellschaften nicht erreichen konnten. (Wie verbreitete Einwände gegen den Universalitätsanspruch der Systemtheorie zeigen, sind selbst heute Lebende diesem kombinatorischen Problem oft nicht gewachsen, obwohl bereits Kant vorbildlich mit »Sofern«-Abstraktionen gearbeitet hatte.) Der Universalismus betrifft den weltweiten, durch externe Umstände nicht eingeschränkten Anwendungsbereich, die Spezifizität betrifft die Unterscheidung (hier: den Code), die dem Beobachten zugrunde liegt.“ (Ebd., S. 375-376.)

„Die Notwendigkeit, in der Kommunikation auf Körperlichkeit Rücksicht zu nehmen, kann man als Symbiose bezeichnen und die entsprechenden Ausdrucksmittel als symbiotische Symbole. Symbiotische Symbole ordnen die Art und Weise, in der Kommunikation sich durch Körperlichkeit irritieren läßt: die Art und Weise also, in der die Effekte struktureller Kopplung im Kommunikationssystem verarbeitet werden, ohne daß dies die Geschlossenheit des Systems sprengen und eine nichtkommunikative Operationsweise erfordern würde. .... Was Wahrheit angeht, bezieht sich das symbiotische Symbol auf die körperlich mögliche Wahrnehmung, oder genauer: auf die Möglichkeit des Wahrnehmens der Wahrnehmungen anderer. .... Im Bereich des Mediums Liebe findet man eine genaue Entsprechung im symbolischen Gebrauch sexueller Referenzen. Ähnlich wie im Falle der Wahrheit findet man auch im Falle der Liebe das symbiotische Symbol nicht als Absicherung der Kommunikation durch eine tiefliegende motivationale Grundlage, sondern als Irritationsquelle, die in die Semantik eingebaut werden muß. .... Eigentum und Geld beziehen sich, was Symbiosis angeht, auf Bedürfnisse. .... Im Falle von Macht heißt das symbiotische Symbol physische Gewalt.“ (Ebd., S. 378-380.)

„Die Funktion der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ist es, Selektionen so zu konditionieren, daß Kommunikationen angenommen werden, obwohl dies von der Zumutung her unwahrscheinlich ist. In bezug auf auf den tatsächlichen Motivationserfolg kann ein symbolisches Medium aber zu viel oder zu wenig gebraucht werden. Den erstgenannten Fall bezeichnen wir als Inflation, den anderen als Deflation.“ (Ebd., S. 382.)

„Die Anregung zur Generalisierung dieserer zunächst nur für Geld üblichen Unterscheidung hat Parsons gegeben, wennglich begrifflich wenig entwickelt. Im Rahmen der allgemeinen Theorie des Handlungssystems genügt eine Verankerung in den »Realien«, die Handeln ermöglichen (siehe auch Stefan Jensen, Systemtheorie, Stuttgart 1983, S, 57, als Beispiel für Inflation: »es zirkulieren zuviel Wörter [Symbole] gegenüber zu wenig ›Realien‹ - es wird zuviel über Liebe geredet und zu wenig Liebe praktiziert«), und im übrigen eine Analogie zu den Inflationen und Deflationen des Geldes. Wir finden uns demgegenüber in einer theoretisch schwierigen Situation. Was heißt »zu viel« und »zu wenig« erfolgreiche Motivation?“ (Ebd., S. 383.)

„Wir sehen das Problem nicht im Ausmaß der »Deckung« des Mediums durch »Realien« (schon für die Geldtheorie würde das nicht ausreichen), sondern im Vertrauen (hierzu näher: Niklas Luhmann, Vertrauen - ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 1968) in bezug auf die weitere Verwendung des durch die Kommunikation reduzierten Sinnes (Zirkulation). Das mag, muß aber nicht von »Deckung« durch Realien abhängen; und vor allem bestehen zwischen den einzelnen Medien erhebliche Unterschiede in der Frage, was als Realdeckung fungieren kann.“ (Ebd., S. 383.)

„Zu Inflationen kommt es, wenn die Kommunikation ihr Vertrauenspotential überzieht, das heißt: mehr Vertrauen voraussetzt, als sie erzeugen kann. Zur Deflation kommt es im umgekehrten Fall, also wenn Möglichkeiten, Vertrauen zu gewinnen, nicht genutzt werden. Im Falle von Inflation reagiert das Medium mit Entwertung der Symbole (in der Wirtschaft gemessen an Preissteigerung). Im Falle von Deflation reagiert das Medium mit zu stark beschränkenden Konditionierungen, das heißt: mit Verringerung der Zirkulation. Die Kalkulation mit Weiterverwendbarkeit (= Liquidität) der Mediensymbole setzt eine Kalkulation der Kalkulation anderer voraus. Insofern ist mit Inflationen und Deflationen erst zu rechnen, wenn das Medium auf ein Beobachten zweiter Ordnung eingestellt ist. Grenzfälle von Inflation sind erreicht, wenn man damit rechnen muß, daß die inflationären Korrekturen (Entwertung) nicht mehr ausreichen, sondern die Abnahme der Symbole verweigert wird. Grenzfälle der Deflation sind erreicht, wenn die Konditionierungen so scharf zugreifen, daß sie keine Kommunikation mehr zulassen. Und auch dann wird die Annahme verweigert, weil man unter solchen Bedingungen sicher ist, mit den Resultaten nichts anfangen zu können. In diesen Fällen der Hyperinflation/-deflation kommt die ursprüngliche Unwahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationen mit besonderem Zumutungsgehalt wieder zum Vorschein - aber jetzt in entwickelten Gesellschaften, die das nicht mehr ertragen können. Nur diese Grenzfälle des Korrekturversagens kann man als Mißtrauen bezeichnen, während es in den anderen Fällen um ein zunehmend aufwendiges Erhalten des Vertrauens geht.“ (Ebd., S. 383-384.)

Wahrheit wird inflationiert, wenn sie mehr Verwendungsmöglichkeiten in Aussicht stellt, als sich realisieren lassen. (Eine Fallstudie hierzu, die Inflationierung des Kantischen Philosophie im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts betreffend, ist: Niklas Luhmann, Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: Von der Philantropie zum Neuhumanismus, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Sematik, Band 2, Frankfurt 1981, S. 105-194. Ein anderes Beispiel, das auf ein gesellschaftlich suggeriertes Interesse an Individuen zurückzuführen ist, behandelt Wolfgang Walter, Vererbung und Gesellschaft: Zur Wissenssoziologie des hereditären Diskurses, Dissertaion, Bielefeld 1989.) Für Wertbeziehungen findet man ein eindrucksvolles Beispiel bereits vor ihrer Ausdifferenzierung, nämlich in den Devotionsbewegungen des 17. Jahrhunderts und in der gleichzeigen Erfindung der »Mode«. Für heutige Bedingungen können Werte als inflationsstabil gelten, denn es tut ihnen keinen Abbruch und man muß sie nicht entwerten, wenn man sieht, daß man mit ihnen nichts anfangen kann. Man folgt dem Rat der Mode und geht zu anderen Werten über. Liebe wird inflationiert, wenn sie mehr Beachtung der Welt des anderen in Aussicht stellt, als sich lebenspraktisch umsetzen läßt. Hier sorgen der Roman, und heute: der Trivialroman und entsprechende Filme, für Dauerinflationierung - nicht ohne deflationistische Gegentendenzen in der Literatur auszulösen. Inflationen des Geldmediums liegen vor, wenn das Geld nicht zu dem Wert wiederverwendet werden kann, zu dem man es angenommen hatte. (Aus diesem Grunde können nur generell Preissteigerungen als Inflationsindex gelten, weil bei der Annahme des Geldes noch nicht feststeht, wofür man es ausgeben wird.) Inflationen in der Kunst entstehen vor allem dann, wenn auf die Schwierigkeit der Herstellung von Kunstwerken und die darin leigende Knappheit verzichtet, wenn also Kunst von Können abstrahiert wird. Dann mögen Inflationen gelichzeitig mit Deflationen auftreten, indem Moden, Namenspflege und Galeriebetrieb dazu führen, daß die Werke einiger Künstler überschätzt und die anderen unterschätzt werden. Im Falle von Macht schließlich liegt die Inflation darin, daß eine Politik in Aussicht gestellt wird, die sich nicht durchführen läßt. Die moderne Technik politischer Kommunikation, gute Absichten nur noch auszustrahlen, reflektiert bereits eine Dauerinflation, und die Entwertung der Symbole findet dadurch statt, daß die Wörter der Politiker von vornherein diskontiert werden. Von Zeit zu Zeit ist es dann gut, die Politiker daran zu erinnern, daß nur Götter die Verhältnisse durch Wörter ändern können.“ (Ebd., S. 384-385.)

„Der Überblick zeigt, daß die Funktion der Medien, unwahrscheinliche Motivation in Aussicht zu stellen, zur Inflationierung tendiert. Eingeführte Medien erzwingen Vertrauen und Vertrauen in das Vertrauen anderer, und eben deshalb haben sie eine hohe Inflationstoleranz. Deshalb ist es auch wenig sinnvoll, nach Gleichgewichtszuständen zu suchen, in denen weder Inflationen noch Deflationen gegeben sind, und diese Zustände für normal zu halten. Auch kann es Inflationen und Deflationen gleichzeitig geben, und nur hochzentralisierte Medien wie zum Beispiel das Geld machen das unwahrscheinlich. (Man hat aber »Stagflation« [ein Kofferwort aus den Wörtern »Stagnation« und Inflation«; HB] unter diesem Gesichtspunkt dikutiert.) Deflationierungen kommen eher in der Form von Korrekturbewegungen vor - so das Insistieren auf Empirie gegen »große« Theorie in der us-amerikanischen Soziologie, die Regionalisierungsbewegungen in der Politik, der Fundamentalismus in der Religion. Jedenfalls handelt es sich auch bei Inflation/Deflation um eine Form mit zwei Seiten und einer Trennlinie, die nur als zu überschreitende Grenze, aber nicht als perfekter Zustand zu verstehen ist.“ (Ebd., S. 385-386.)

„Auch unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten ist es wichtig, zwischen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und den durch sie gebildeten Systemen zu unterscheiden. Medien können entstehen und differenziert werden, bevor es entsprechende Funktionssysteme gibt. Die für die Systembildung nötige Codierung, deren Programmtypik und deren Sondersemantik kann auf provisorischer Basis vorbereitet werden. Wir konnten die Anfänge dafür bis in die Antike zurückverfolgen. Besonders deutlich sind solche Vorentwicklungen am Umfang einer Geldwirtschaft in der Antike und dann wieder seit dem Hochmittelalter abzulesen (eine ähnliche »Vorentwicklung« sieht Sloterdijk bezüglich derjenigen, die er »die schrecklichen Kinder der Neuzeit« nennt: »sie waren es, die ihre Herkunftskulturen mit unwillkommener Variation in Unruhe versetzten: in der Antike selten, im Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance bereits in höherer Frequenz, in der Moderne chronisch und mit unbeirrbarer Angriffslust, um nicht von Angriffspflicht zu reden« [Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 227-228]; HB), aber auch am juristisch elaborierten Fallrecht mit Ansätzen zu einer begrifflichen Systematisierung, vor allem römischer, aber auch englischer Provenienz. (Hier muß angemerkt werden, daß das germanische Recht das römische Recht überall beseitigte und später auf dem Festland, aber eben nicht in England [und später auch nicht in seinen Kolonien {also auch nicht in den späteren Vereinigten Staaten von Amerika}] wieder übernahm und sich selbst beseitigte! HB.) Ohne solche Vorarbeiten wäre der Übergang von einer stratifizierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft kaum möglich gewesen (für Oswald Spengler war dies eine für Abendländer - aufgrund ihres faustischen Ursymbols und ihres Seelenbildes - typische und darum geradezu notwendige Entwicklung, wie man beispielsweise auch an der Entwicklung der abendländischen Mathematik erkennen kann, die aus Zahlen Funktionen gemacht hat! HB), und wie immer bei solchen »preadaptive advances« ist ausschlaggebend, daß ein vorläufiger Kontext zur Verfügung steht, der die Errungenschaften stabilisiert, ohne daß die Systeme schon gebildet sind, die dann endgültig zu einer operativen Schließung und autopoietischen Autonomie der entsprechenden Funktionsweise führen werden. Denn wenn es zur Systembildung kommt, kann man davon ausgehen, daß es Operationen des dafür nötigen Typs immer schon gegeben hat, und kann sich daran machen, die Beschränkugen, die eine ältere Ordung oktroyiert hatte - etwa die Zersplitterung grundherrlicher und klerikaler Gerichtsbarkeiten oder die dualen Währungssysteme des Mittelalters oder die Leibeigenschaft und die Adelsbindung von Grundbesitz -, nach und nach abzubauen.“ (Ebd., S. 392-393.)

„Will man nachzeichnen, welche Konsequenzen die Veränderungen im Kommunikationssystem Gesellschaft für die Moral haben, genügt es nicht, sich auf ideengeschichtliche Analysen zu stützen. So wichtig solche Indikatoren sein mögen: wir benötigen eine formalere Begrifflichkeit, da es darum geht, das Verhältnis der Verbreitungstechnologien und der symbolisch generalisierten, aber problemspezifischen Kommunikationsmedien zur Moral zu beurteilen. Deshalb greifen wir auf die Unterscheidung von Medium und Form zurück. Das spezifische, aber zugleich universale Medium der Moral wird durch die codierte Unterscheidung von Achtung und Mißachtung bereitgestellt. Dessen Elemente bestehen aus Kommunikationen, die zum Ausdruck bringen, ob betsimmte Personen zu achten oder zu mißachten sind. Die Form der Elemente des mediums (also die Form des medialen Substrats im Unterschied zu zu den im Medium gebildeten Formen) unterscheiden sich nur durch die spezifische Codierung Achtung/Mißachtung, gut/schlecht und durch die Unterscheidung von bloßer Anerkennung von Fertigkeiten bzw. Leistungen. Sowohl der Bezug auf einzelne Personen (man kann nicht die Menschheit achten bzw. verachten) als auch die Formalität der Code-Differenz garantieren die lose Kopplung der Elemente des Mediums. Die hohe Individualisierung der Personenreferenzen in der modernen Gesellschaft verstärkt dieses »loose coupling«. Man kann nicht gut eine ganze Familie verachten, weil einer ihrer Angehörigen im Gefängnis sitzt oder die Tochter (seit geraumer Zeit eher: der Sohn! HB) ein uneheliches Kind bekommen hat. Das Medium selbst hat infolge dieser losen Kopplung hohe Stabilität. Es wäre deshalb durchaus irrig, wollte man behaupte, daß in der modernen Gesellschaft die Bedeutung der Moral abnimmt. Das Medium der Moral ist und bleibt verfügbar, und zwar sowohl auf der Ebene der Interaktion unter Anwesenden als auch im Bereich der Kommunikation über Massenmedien. Vor allem das Fernsehen hat zu einer unübersehbaren Alltagsaktualität moralischer Kommunikation geführt.“ (Ebd., S. 400-401.)

„Dies alles zugestanden, dürfte die wichtigste Veränderung der Funktion moralischer Kommunikation darin liegen, daß die Moral nicht mehr dazu dienen kann, die Gesellschaft im Blick auf ihren bestmöglichen Zustand zu integrieren. Dies ist schon dadurch ausgeschlossen, daß die besonderen symbolisch generalisierten Kommunkationsmedien eigenen binären Codes folgen, deren Positiv-/Negativwerte nicht mit denen der Moral gleichgesetzt werden können. Machthaber, Eigentümer, Liebhaber, erfolgreiche Forscher sind nicht in bezug auf je ihren Code zugleich als moralisch besser ausgewiesen, und erst recht würde die Gesellschaft es nicht akzeptieren, diejenigen, die mactlos sind, kein Eigentum haben, nicht lieben können usw. deshalb der moralischen Verachtung preiszugeben. Wenn die Inkongruenz aller Codes untereinander und in ihrem Verhältnis zum Moralcode offen zutage tritt, muß die Gesellschaft darauf verzichten, sich selbst als moralische Anstalt zu begreifen.“ (Ebd., S. 403-404.)

„Aber das schließt moralisierende Kommunikation keineswegs aus. Manches deutet vielmehr daruf hin, daß die Moral jetzt eine Art Alaramierfunktion übernimmt.“ (Ebd., S. 404.)

„Unter dem Namen Ethik schafft die Gesellschaft sich die Möglichkeit, die Negation des Systems in das System einzuführen und auf honorige Weise darüber zu reden. Daß es diese Gegensoll-Ethik gibt, belegt die Autonomie und die operative Schließung des Systems, das in der Lage ist, auch mit der Negation des Systems im System umzugehen. Denn von außen kann die Gesellschaft nicht negiert, sondern nur destruiert werden.“ (Ebd., S. 405.)

„Will man wissen, wie weit und mit welchen Konsequenzen symbolisch generalisierte Medien die moderne Gesellschaft bestimmen und ihre weitere Evolution konditionieren, muß man nicht nur auf die Unausgewogenheit ihres eigenen Wachstums denken. Auch in anderen Hinsichten ist ihre Wirkungsweise begrenzt, denn gerade in der Begrenzung liegen ihre Chancen. Die Gesellschaft ist kein Nullsummenspiel. Sie entwickelt Komplexität mit Hilfe von dafür geeigneten Kompelxitätsreduktionen.“ (Ebd., S. 405-406.)

„Wenn Medien die Autopoiesis eines Systems organisieren, gibt es in diesem System immer viel mehr Kommunikation als nur das autopoietische Minimum (so wie eine Zelle viel mehr chemische Moleküle enthält als nur die, welche die Autopoiesis im strengen Sinne durchführen).“ (Ebd., S. 406.)

„In dem Maße, in dem die Systemdifferenzierung der Gesellschaft sich auf symbolisch generalisierte Kommunkationsmedien stützt, wird diese Distanz zur Moral funktionsnotwendig, aber zugleich wird die Moral selbst damit zur frei flottierenden, störenden und stützenden Orientierung; jedenfalls aber nicht zu einem Leitprinzip vernünftiger Begründung.“ (Ebd., S. 406.)

„Die Religion selbst wäre jedoch gut beraten, wenn sie auf Distanz zur Moral achten würde.“ (Ebd., S. 407.)

„Schließlich ist zu beachten, daß symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien nur für Funktionsbereiche geeignet sind, in denen das Problem und der angestrebte Erfolg in der Kommunikation selbst liegen. Ihre Funktion ist erfüllt, wenn die Selektion einer Kommunikation weiteren Kommunikationen als Prämisse zugrunde gelegt wird. Sie eignen sich deshalb nicht für Kommunikationsbereiche, deren Funktion in einer Änderung der Umwelt liegt - sei dies eine Änderung der physisch-chemisch-biologischen Umstände, sei es eine Änderung der menschlichen Körper, sei es eine Änderung der Bewußtseinstrukturen. Es gibt deshalb keine symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien für Technologie, für Krankenbehandlung und für Erziehung. In diesen Fällen tritt das Problem, das die Autokatalyse von symbolisch generalisierte Medien in Gang setzt, nämlich das Problem sehr hoher Ablehnungswahrscheinlichkeit, gar nicht auf. Zumindest für Krankenbehandlung und für Erziehung sind eigene gesellschaftliche Funktionssysteme ausdifferenziert, die ohne eigenes Kommunikationsmedium zurechtkommen müssen, vor allem mit hoher Abhängigkeit von organisierter Interaktion. Keiner der drei Problembereiche ist durch ein eizelnes Kommunikationsmedium beherrscht, nicht durch Wahrheit und auch nicht durch Geld, obwohl der gegenwärtige Entwicklungsstand ohne ausdifferenzierte Wissenschaft und ohne Geldwirtschaft undenkbar wäre. (Wir behaupten diese Eigenständigkeit extern gerichteter [immer natürlich: kommunkativer] Bemühungen explizit auch für Technologie, sehen also auch und gerade in der heutigen Technologie mehr als nur angewandte Wissenschaft. Siehe Kapitel 3, IX. Zahllose technologische Probleme - vom Eisenbahnbau bis zur ... Sicherheitstechnologie - können nicht durch »Lesen« gelöst werden, sondern sind auf Bau und Ausprobieren genau der Anlagen angewiesen, die man kontruieren will. Daß dies wissenschaftlich ausgebildetes Personal voraussetzt, versteht sich von selbst. Aber auch dessen Ausbildung ist keine Forschung, sondern Erziehung.) Man muß deshalb davon ausgehen, daß die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems bei aller Bedeutung der symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien nicht einfach dem Medienschema folgen kann, sondern sich nach den Problemen richtet, die die Gesellschaft auf ihrem jeweiligem Entwicklungsniveau zu lösen hat.“ (Ebd., S. 407-408.)

„Die spezifische Modernität der Werte liegt letztlich darin, daß sie als Form wie auch bei allen Anwendungen nicht auf Einheit hinführen, sondern auf Differenz.“ (Ebd., S. 409.)

„Im Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien - der Sprache, der Verbreitungsmedien und der symbolisch generalisierten Medien - kondensiert das, was man mit einem Gesamtausdruck Kultur nennen könnte. Kondensierung soll dabei heißen, daß der jeweils benutzte Sinn durch Wiederbenutzung in verschiedenen Situationen einerseits derselbe bleibt (denn sonst läge keine Wiederbenutzung vor), sich aber andererseits konfirmiert und dabei mit Bedeutungen anreichert, die nicht mehr auf eine Formel gebracht werden können. Das legt die Vermutung nahe, daß der Verweisungsüberschuß von Sinn selbst ein Resultat der Kondensierung und Konfirmierung von Sinn ist, die sich damit ihr eigenes Medium schafft.“ (Ebd., S. 409.)

 

Die Gesellschaft der Gesellschaft Evolution.

„Gesellschaft ist das Resultat von Evolution. Man spricht auch von »Emergenz«. Das ist aber nur eine Metapher, die nichts erklärt, sondern logisch auf eine Paradoxie zurückführt.“ (Ebd., S. 413.)

Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen .... (.... Das heute bereits klassische »Paradigma« dafür ist die chemische Unwahrscheinlichkeit von DNS-Molekülen.) Für Statistiker ist das eine Trivialität (oder auch eine falsche Anwendung statistischer Begriffe). Denn schließlich ist jede Merkmalsgesamtheit, etwa die Eigenart eines bestimmten Menschen, wenn man nach den Bedinungen des Zusammenkommens eben dieser Merkmale fragt, extrem unwahrscheinlich, nämlich das Resultat eines zufälligen Zusammentreffens; aber zugleich ist diese Unwahrscheinlichkeit in jedem Falle gegeben, also ganz normal. Die Statistik kann und muß dieses Problem ignorieren. Für die Evolutionstheorie liegt in der Auflösung dieser Paradoxie jedoch der Ausgangspunkt. Die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens isolierter Individuen oder auch isolierter Familien wird transformiert in die (geringere) Unwahrscheinlichkeit ihrer strukturellen Koordination, und damit beginnt die soziokulturelle Evolution. Die Evolutionstheorie verlagert das Problem in die Zeit und versucht zu klären, wie es möglich ist, daß immer voraussetzungsreichere, immer unwahrscheinlichere Strukturen entstehen und als normal funktionieren. (In strukturalistischer Manier könnte eine entsprechende Theorie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen mit Hilfe des Begriffs der Gewalt konstruiert werden. Die universell verteilte virtuelle wird gedoppelt und in legitime und nichtlegitime Gewalt unterschieden. Das geschieht nicht durch Sozialkontrakt [Hobbes], sondern durch Evolution. In ihrer legitimen Form dient die Gewalt [heute {noch! HB} als Staatsgewalt] dem Austreiben der illegitimen Gewalt. Mit dieser Differenzierung wird Gewalt also durch Einschließen des Ausschließens gekennzeichnet, und Legitimität ist, so gesehen, kein Wertbegriff, sondern eben dieses Einschließen des Ausschließens - eine Paradoxie, deren Auflösung sich als Staatsgewalt [oder als deren funktionales Äquivalent] konstituiert. Siehe hierzu auch Dirk Baecker, Gewalt im System, 1996, S. 92-109.) Ihre Grundaussage ist: daß Evolution geringe Entstehenswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungsswahrscheinlichkeit transformiert. Dies ist nur eine andere Formulierung der geläufigeren Frage, wie aus Entropie (trotz des Entropiesatzes) Negentropie entstehen kann. Es geht, mit nochmals anderen Worten, um die Morphogenese von Komplexität.“ (Ebd., S. 413-415.)

„Die neueren Evolutionstheorien erklären die Morphogeneses von Komplexität nicht mit einem entsprechenden Gesetz (das dann empirisch verifiziert werden kann) und auch nicht mit Rationalitätsvorteilen von Komplexität, was eine zielstrebige, wenn nicht intentionale Deutung von Evolution nahelegen würde. Vielmehr nimmt man an, daß die Evolution sich rekursiv verhält, das heißt: dasselbe Verfahren iterativ auf die eigenen Resultate anwendet. Dann muß man aber genauer definieren, um was für ein »Verfahren« es sich handelt. Wir werden dies im folgenden in Anlehnung an das neodarwinistische Schema von Variation, Selektion und Restabilisierung versuchen.“ (Ebd., S. 415-416.)

„Eine weitere Annahme, für die wir empirische Evidenz in Anspruch nehmen, lautet, daß im Laufe der Evolution die auf dem Erdball zu findende Biomasse und ebenso, seitdem es Sprache gibt, die Menege der kommunikativen Ereignisse zugenommen haben. Dies ist zunächst eine rein quantitative und insofern leicht verifizierbare Feststellung. Will man den Befund erklären, führt das zu der Annahme, daß Mengensteigerungen dieser Art nur durch Differenzierungen möglich sind. Und im Bereich der sprachlichen Kommunikation wird man hinzufügen müssen, daß die mögliche Menge enorm zunehmen wird, wenn Kommunikation auch neinläufigm also in der Form des Bestreitens oder Ablehnens von Kommunikation möglich ist. (Vgl. S. 221 ff..) Hinter der Annahme eienes quantitativen Wachstums steht also die Voraussetzung struktureller Differenzierungen nichtbeliebiger Art. Man kann dies auch auf die übliche Formel der Komplexitätssteigerung bringen, etwa mit Darwin auf die Formel der Differenzierung und Spezialisierung der Teile, sofern man nur die Zusatzannahme fallen läßt, daß höhere Komplexität einer besseren Anpassung des Systeme an die Umwelt dient. Mit all dem sind Richtungsangaben vorgeschlagen, aber dies erklärt noch nicht, weshalb es zur Transformation von Unwahrscheinlichkeiten in Wahrscheinlichkeiten und zu jenen differenzierungsgestützten Mengenzunahmen gekommen ist. Der Evolutionstheorie ist ein Problem vorgelegt, aber damit ist nur ein Rahmen abgesteckt, in dem nach Lösungen genau dieses Problems zu suchen ist.“ (Ebd., S. 416.)

„Die Evolutionstheorie arbeitet durchaus mit Kausalannahmen, verzichtet aber darauf, Evolution kausalgesetzlich zu erklären.“ (Ebd., S. 416.)

„Evolution ist ... eine Theorie des Wartens auf nutzbare Zufälle, und dies setzt zunächst einmal voraus, daß es bestands- und/oder reproduktionsfähige Systeme gibt, die sich selbst erhalten - und warten können. Zeit gehört mithin zu den wesentlichen Voraussetzungen von Evolution, und dies besagt unter anderem, daß zeitlich enge Bindungen zwischen Umweltzuständen und Systemzuständen unterbrochen sein müssen. Man nennt das heute auch »lose Kopplung«. Evolution heißt demnach zunächst, daß die Zahl der Voraussetzungen, auf die eine Ordnung sich stützen kann, zunimmt. Durch einen Prozeß der sich selbst verstärkenden Abweichung von Grundannahmen der Gleichverteilung entsteht eine Ordnung, in der Positionen, Abhängigkeiten, Erwartungen in Abhängigkeit von eben dieser Ordnung mehr oder weniger sicher erwartet werden können. Wenn überhaupt sinnhafte Kommunikation möglich wird, wird die gleiche Wahrscheinlichkeit jeder bestimmten Mitteilung zu jedem bestimmten Zeitpunkte ihrerseits unwahrscheinlich. Spezifische Wahrscheinlichkeiten werden zu Erwartbakeiten verdichtet, aber in einer fundamentalen Ungesichertheit aller Erwartungen macht sich noch bemerkbar, daß sie an sich unwahrscheinlich sind.“ (Ebd., S. 417.)

„Die These der göttlichen Weltschöpfung ... erzeugt keine Informationen mehr und dient nur noch, gleichsam zur Schonung der überlieferten Religion, als Abschlußformel der Bezeichnung der anderenfalls unbeobachteten Einheit der Welt. (Genau umgekehrt hatte Hegel argumentiert. Siehe Vorlesungen über die Philosophie der Religion, zit. nach Werke, Band 16, S. 20 ff.. Hegel sieht im Verzicht auf die detaillierten Zwecknaturen einen Gewinn für die Frömmigkeit: »Was zum Nutzen des einen, reicht dem anderen zum Nachteil, ist daher unzweckmäßig: die Erhaltung des Lebens und der mit dem Dasein zusammenhängenden Interessen, die das eine Mal befördert werden, sind das andere Mal ebensosehr gefährdet und vernichtet. So liegt eine Entzweiung in sich selbst darin, daß, der ewigen Wirkungsweise Gottes zuwider, endliche Dinge zu wesentlichen Zwecken erhoben werden« [S. 21 f.]. In der Weltgeschichte des Geistes kann dies nur eine vorübergehende Unzulänglichkeit sein.)“ (Ebd., S. 418.)

„Geschichte als Prozeß. Ihre verbindliche Form hat sie in der Geschichtsphilosophie Hegels gewonnen. Ihr liegt noch die ins Zeitliche ausgearbeitete Vorstellung einer Hierarchie von niederen und höheren Tätigkeiten zu Grunde. Mit den damit gegebenen Unterscheidungen kann die Theorie im Verschiedenen dasselbe als tätig erweisen. Sie baut, und gibt sich insofern als logische Metaphysik, das Moment der Negation ein, mit dem das zu sich selbst kommende Höhere für sich das Niedere als unzureichend, als Mangel, als Schmerz, als zu Überwindendes auffaßt. Es entdeckt und realisiert in dieser Negation als eigener seine »Freiheit«. Es findet damit in sich einen Widerspruch und hat so die Wahl, an dem Widerspruch zu Grunde zu gehen oder, wie die Philosophie rät, ihn »aufzuheben«. Um sich in dieser Weise in sich reflektieren zu können, muß das Prinzip des Werdens »Geist« sein. Der Geist bewegt sich mit Hilfe seiner Fähigkeit des Unterscheidens bis hin zu seiner »absoluten« Endform des Sich-in-sich-Unterscheidens. Der Geist reichert sich also nur an, er löscht nichts aus. Er vergißt nichts. Er verzichtet auch nicht auf die Realisation von Möglichkeiten. Deshalb liegt seine Perfektion darin, daß am Ende nur noch das Ausschließen ausgeschlossen ist, und dann ist alles Mögliche wirklich geworden.“ (Ebd., S. 422-423.)

„Zu dieser geschlossenen Form hat es seitdem nie wieder eine Theorie gebracht, und alle Späteren müssen sich folglich davon unterscheiden. Alle posthegelianischen Theorien müssen deshalb nicht den Ausschluß des Ausschließens vorsehen, sondern den Einschluß des Ausschließens.“ (Ebd., S. 423.)

„Die Evolutionstheorie (wie weit immer sie sich heute von Darwin entfernt haben mag) benutzt eine ganz andersartige Unterscheidung, um die Unterscheidung bewegt/unbewegt (vgl. die Paradoxie des unbewegten Bewegers, in der diese Unterscheidung zusammengefaßt war; HB) zu ersetzen. Sie unterscheidet nicht Epochen, sondern Variation, Selektion (nach Mersch: Reproduktionsinteresse; HB) und Restabilisierung (Vererbung; nach Mersch: Reproduktion; HB). Sie erklärt damit, in der alten Sprache ausgedrückt, die Entstehung der Wesensformen und Substanzen aus dem Akzidentellen. Sie löst die Ordnung der Dinge von jeder Bindung an einen Ursprung, an einen formgebenden Anfang ab. Sie kehrt das begriffliche Gerüst der Weltbeschreibung einfach um.“ (Ebd., S. 425-426.)

„Solange man mit Darwin von einer »natürlichen Selektion« ausging, lag darin zugleich eine Garantie für Stabilität. Nicht alle, aber die gut angepaßten Systeme galten deshalb als stabil, solange sich die Umwelt nicht änderte. Einbe besondere Funktion der Restabilisierung kam nicht in Frage. Das wird anders, wenn man das Prinzip der natürlichen Selektion aufgibt (was man - zumindest teilweise - sollte und muß! HB) und die Evolutionstheorie auf Co-Evolution strukturell gekoppelter, autopoietischer Systeme umstellt. Dann müssen diese Systeme selbst für ihre Stabilität sorgen, um weiterhin an Evolution teilnehmen zu können. Man braucht jetzt drei evolutionäre Funktionen oder Mechanismen, von denen Variation und Selektion Ereignisse bezeichnen, die Funktion der Restabilisierung dagegen die Selbstorganisation evoluierender systeme als Voraussetzung dafür, daß Variation und Selektion überhaupt möglich sind.“ (Ebd., S. 426-427.)

„Restabilisierung ... als der dritte Faktor der Evolution (die anderen beiden sind Variation und Selektion; HB) ist mithin Anfang und Ende zugleich, ist ein Begriff für ihre Einheit, die, weil es auf Strukturveränderung hinausläuft, als dynamische Stabilität beschrieben werden kann. Im zeitabstrakten Modell beschreibt die Evolutionstheorie ein zirkuläres Verhältnis. Sie deutet damit zugleich an, daß, und wie, Zeit als asymmetrischer Faktor einspringt. Eben deshalb scheint es bei oberflächlicher Beschreibung, die freilich das Ausgangsparadox völlig verdrängt, um einen Prozeß zu gehen.“ (Ebd., S. 428.)

„Nach diesen Klarstellungen braucht kaum noch betont zu werden, daß die Evolutionstheorie keine Theorie deds Fortschritts ist. Sie nimmt Emergenz und Destruktion von systemen mit Gleichmut hin. Darwin hat sich denn auch (allerdings nicht ganz konsequent) geweigert, Ausdrücke wie »höher« oder »niedriger« zur Charakterisierung der Arten zu verwenden. Schon die Vorstellung, Evolution verbessere die Anpassung der Systeme an ihre Umwelt, läßt sich nicht als Fortschritt begreifen, weil man dabei unterstellen muß, daß die Umwelt sich laufend ändert und immer neue Anpassungen auslöst. Ebenso fraglich wird, ob man weiterhin Spezialisierung als eine Art evolutionären Attraktor ansehen kann, der - aber wie eigentlich? - dazu führt, daß mehr und mehr spezifische Kompetenzen, Rollen, Organisationen, Systeme ausdifferenziert werden. Offenbar hat sich hier die ökonomische Theorie der Arbeitsteilung und der Beschränkung von Konkurrenz durch Diversifikation von Märkten der Evolutionstheorie aufgedrängt und ist, vor allem durch Spencer, zu einem allgemeinen historischen Gesetz generalisiert worden - nur um die Evolutionstheorie zu provozieren, dann ihrerseits den Evolutionsvorteil des Unspezifizierten zu entdecken. Solche Vorstellungen brauchen nicht der pauschalen Ablehnung zu verfallen; aber man muß mit Hilfe der Evolutionstheorie im enegeren Sinne prüfen, ob und wie weit sie haltbar sind.“ (Ebd., S. 428-429.)

„Aber immer realisieren sich Strukturen nur in der Dirigierung (Einschränkung des Möglichkeitsbereichs) des Fortgangs von Operation zu Operation. Und es ist dieser Operationsbezug (in unserem Falle also: Kommunikationsbezug), der die Strukturen der Gesellschaft der Evolution aussetzt.“ (Ebd., S. 431.)

„Evolution ist immer und überall.“ (Ebd., S. 431.)

„Das 19. Jahrhundert hatte eine Semantik der Demographie, der Populationen, der Erblichkeit bevorzugt. Je unsicherer die Semantik der Subjektivität und der Freiheit, desto sicherer dann doch das Leben und die Leiblichkeit. Ohne diesen Hintergrund ist das Interesse Darwins und vor allem das Interesse der Ideologen an Darwin nicht zu denken. Bei all den zahlreichen Varianten, die man vorfindet, dient das Inviduum als letzte Referenz; und das gilt auch für Versuche, Handlungstheorie mit Evolutionstheorie zu kombinieren. Man gelangt damit nicht über die Theorien des 19. Jahrhunderts hinaus, die das Individuum für die Selbststeuerung des evolutionären Prozesses in Anspruch nehmen, also für Entwicklungstheorien, die sich als Geschichtstheorien vorstellen und oft den Ausdruck Evolution explizit zurückweisen. Hier scheint denn auch mehr als in der Absage an religiöse Erklärungen das einigende Band der meisten Evolutions- oder Geschichtstheorien des 19. Jahrhunderts (Hegelderivate ausgenommen) zu liegen und damit der unbestrittene Ausgangspunkt aller Kontroversen. (Das wird nicht prinzipiell anders, wenn man ... unterscheidet zwischen Personen als sinngebender, handelnder Einheit und Individuum als eine Einheit, in der eine Fülle von objektiven Ereignissen passieren ....) Die Systemtheorie erzwingt, verglichen damit, schärfere Abstraktionen, aber auch größere Genauigkeit in den Begriffen.“ (Ebd., S. 432.)

„Die Systemtheorie hat es nicht mit einer besonderen Art von Objekten zu tun, sondern benutzt eine bestimmte Unterscheidung, nämlich die Unterscheidung von System und Umwelt.“ (Ebd., S. 433.)

„Nur die Differenz von System und Umwelt ermöglicht Evolution. Anders gesagt: Kein System kann aus sich heraus evoluieren. Wenn nicht die Umwelt stets anders variierte als das System, würde die Evolution in einem raschen »optimal fit« ein rasches Ende finden. Daraus folgt auch, daß Evolution zwar nicht Anpassung des Systems an die Umwelt bewirken muß, wohl aber Angepaßtheit des Systemns an die Umwelt als eine Art Mindestbedingung voraussetzt.“ (Ebd., S. 433.)

„Vor allem aber ist zu beachten, daß die Differenz von System und Umwelt jeder Änderung einen Multiplikationseffekt gibt. Sie ändert ein System und damit zugleich die (relevante oder irrelevante) Umwelt anderer Systeme. Jede Änderung setzt also mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Mehrzahl von Wirkungen in Gang, die gleichzeitig und dadurch unabhängig voneinander Wirkungen erzeugen, für die dann wieder das gleiche gilt. Die Welt wird aus sich heraus dynamisch, und zwar gerade wegen der Gleichzeitigkeit des Geschehenden und wegen der damit verbundenen Unmöglichkeit einer Koordination. Wenn, mit anderen Worten, sowohl das System, das man beobachtet, als auch die Systeme in seiner Umwelt evoluieren (also: ko-evoluieren) kommt es zu einem »co-evolution of unsustainability« (einer «Ko-Evolution der Unnachhalitigkeit«! HB), und darauf können Beobachter nur mit der Beobachtung von »Zufällen« reagieren. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, welche Rolle der »Zufall« in der Evolutionstherie spielt.“ (Ebd., S. 433-434.)

„Nimmt man diesen differenztheoretischen Ausgangspunkt ernst, wird ein alter Streit über das relative Gewicht externer und interner Ursachen (exogene vs. endogene Evolution) obsolet. Mit Hilfe des Begriffs der »Population« hatte die ältere Evolutionstheorie die Ursachen für Variation systemintern lokalisiert. Das hat einerseits dazu geführt, in demographischen Variablen, hauptsächlich im unwiderstehlichen Trieb der Menschen, sich zu vermehren, den Auslösefaktor aller evolutionären Höherentwicklung zu sehen, so z.B. für den Übergang zur Landwirtschaft, für Arbeitsteilung, für die Bildung von Hierarchien. Solche Ein-Faktor-Erklärungen gelten heute als überholt. Auch von dem hier vertretenen Gesellschaftsbegriff aus müßte man aber von Variablen wie Kommunikationsdichte oder Häufigkeit und Diversität des Informationsanfalls ausgehen und vor allem: zirkuläre Verhältnisse der Abweichungsverstärkung in Betracht ziehen.“ (Ebd., S. 434-435.)

„Eine Population besteht, und insofern löst der Begriff den älteren typologischen Essentialismus der Arten und Gattungen ab, aus Individuen, und das heißt: aus verschiedenen Individuen. Sie ist also eine polymorphe Einheit. Dabei wird nicht etwa, wie im späteren Sozialdarwinismus, das Vorkommen besonders kreativer, innovationsstarker, durchsetzungsfähiger Individuen als Quelle der Variation angesehen, sondern die Verschiedenheit der Individuen im Kollektiv der Population. Für die Biologie heißt das, daß die genetische Heterogenität der Populationen mehr als vielleicht die »natürliche Selektion« Evolution erklärt.“ (Ebd., S. 435.)

„Andererseits wurde der Selektionsmechanismus in die Umwelt ausgelagert. In diesem Sinne wurde von »natürlicher Selektion« gesprochen. Wenn man die Systemtheorie jedoch radikal als Theorie der Produktion und Reproduktion einer Differenz von System und Umwelt formuliert, ist es wenig sinnvoll, diese Verteilung auf interne (Variation) und externe (Selektion) Faktoren beizubehalten. Es genügt dann auch nicht, lediglich den Begriff der »natürlichen Selektion« zu kritisieren .... Ebensowenig überzeugt das entgegengesetzte Manöver, nämlich der soziologischen Theorie, die bisher endogene Ursachen deutlich favorisiert hatte, den Begriff der »natürlichen Selektion« und in diesem Sinne Orientierung an externen Ursachen zu empfehlen. Kausalaussagen setzen immer eine Selektion, also eine Zurechnung von Ursachen und Wirkungen voraus, also einen Beobachter. Aber die Evolution rechnet nicht zu, und sie beobachtet sich auch nicht selber.“ (Ebd., S. 435-436.)

„Von einer Evolution des Sozialsystems Gesellschaft kann man dagegen nur sprechen, wenn man nicht an ein lebendes, sondern an ein kommunizierendes System denkt, das in jeder seiner Operationen Sinn reproduziert, Wissen voraussetzt, aus eigenem Gedächtnis schöpft, kulturelle Formen benutzt.“ (Ebd., S. 436.)

„Typen autopoietischer Operationen und entsprechender Systembildungen - wir denekn an Leben, an Bewußtsein und an Kommunikation - sind gleichsam Einmalerfindungen der Evolution, die sich auf Grund ihres Strukturentwicklungspotentials bewähren. Die Bewährung aber liegt in der Spezifikation von sehr verschiedenen Formen, die sich im Medium der autopoietischen Notwendigkeit bilden und weiter spezifizieren können. Dies Zusammenspiel von Selbstfortsetzung und Strukturbildung ermöglicht und erzwingt Evolution, ohne daß man dabei »natürliche Selektion« oder andere Arten externer Strukturdeterminanten unterstellen müßte. Also kommt es auch gar nicht auf eine nahezu optimale, jedenfalls konkurrenzüberlegene Anpassung an die Umwelt an. Unter gleichen ökologischen Bedingungen können sehr verschieden ausgestattete Lebewesen überleben.“ (Ebd., S. 438.)

„Hiermit wird auf grundsätzliche Weise dem Forschungsprogramm der Soziobiolgie widersprochen. Die genetische Determination des Lebens ist ein unbestrittener Ausgangspunkt. Aber darus folgt gerade nicht, daß auch Sozialordnungen von da aus determiniert seien (wobei natürlich zu konzedieren ist, daß keine Sozialordnung Bestand haben kann, die verlangen würde, daß die Menschen ständig auf den Händen statt auf den Füßen kaufen). Vielmehr wird die genetische Determination des Lebens kompensiert durch eine mit hohen (kann man sagen: höheren? [ja! HB]) Freiheitsgraden ausgestattete gesellschaftliche Ordnung sozialer Systeme. (Dies erinnert mich sehr an die Kategorien- bzw. Schichtenlehre von Nicolai Hartmann, in der die »höheren« Schichten »freier« sind als die »niedrigeren«, von denen sie jedoch »getragen« [und insofern: »determiniert«] werden. HB.) Und diese entwickelt Strukturdetermination eigenen Typs.“ (Ebd., S. 438-439.)

„Zunächst sei daran erinnert, daß alle autopoietischen Systeme ihre Operationen immer nur in der je aktuellen Gegenwart durchführen. Auch die rekursive Vernetzung der Operationen erfolgt in der Gegenwart auf Grund gegenwärtig verfügbarer Bedingungen und Anschlußmöglichkeiten. Für die Operation (und das gilt auch für Kommunikation, wenn dies eine autopoietische Operation sein soll) gibt es daher nie einen Anfang, weil das System immer schon angefangen haben muß, um seine Operationen aus eigenen Produkten reproduzieren zu können, und ebenso kein Ende, weil jede weitere Operation im Hinblick auf weitere Operationen produziert wird. (Bei der behandlung von Interaktionen, die als Episoden angelegt sind, werden wir auf diese Frage nochmals zurückkommen und zeigen, daß Episodisierung nur mit Hilfe der Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaftz, also nur in einer ihrerseits endlosen Gesellschaft möglich ist. Vgl. S. 816.) Nur ein Beobachter (und das kann das operierende System selber sein) kann einen Anfang und ein Ende feststellen, wenn er eine entsprechende Konstruktion des Vorher/nachher zu Grunde legt. Nur wenn das System operiert und wenn es hinreichende Komplexität aufgebaut hat, um sich selbst in der Zeitdimension beschreiben zu können, kann es seinen Anfang »postizipieren«. Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer »Quelle« und eines (oder keines) »Davor« ist ein im System selbst angefertigter Mythos - oder die Erzählung eines anderen Beobachters.“ (Ebd., S. 440-441.)

„Ohnehin ist ja die Zeitdimension kein System/Umwelt-Schema in dem Sinne, daß Systeme in der zeit existierten und Vergangenheit bzw. Zukunft ihre Umwelt bildeten. Die System/Umwelt-Differenz kann ausschließlich in der Sachdimension (da, wo differenziert wird; HB) beobachtet werden. Der Beobachter kann sie dann zwar als Differenz in die Vergangenheit bzw. Zukunft verlängert denken und sich dabei einen Anfang und ein Ende vorstellen - aber auch dies nur als gegenwärtige mit der jeweiligen Umwelt gleichzeitige Operation.“ (Ebd., S. 441-442.)

„So kommt zum Beispiel Kommunikation (also Gesellschaft) immer dann in Gang, wenn man beim Beobachten (das dadurch »Verstehen« wird) Mitteilung und Information unterscheiden kann. Das ist auch vorsprachlich schon möglich, aber die Sprache drängt diese Unterscheidung derart zwingend auf, daß der Verstehende, wenn er dann slebst spricht, sich auf eben den Mechanismus stützen kann, der ihm das Verstehen ermöglicht. So entsteht eine rekursive Schließung, die keinerlei Elemente aus der Umwelt benutzt, sondern mit einer emergenten Unterscheidung arbeitet. daß auch das Bewußtsein sich mit Hilfe solcher Rückgriffe reproduziert, ist ebenfalls leicht naczuweisen. (Nach dem Unfall weiß man, was man erlebt hat und warum man sich so verhalten hat, wie man sich verhalten hat, so als ob alles unter bewußter Kontrolle abgelaufen sei; oder man weß [aber man weiß!], daß man sich nicht deutlich genug erinnern kann.)“ (Ebd., S. 442.)

„Diese Exklusivität von Sprache hat gerade im Verhältnis zur Umwelt wichtige Vorteile. Sie ermöglicht ein laufendes Sicheinlassen des Systems auf eine ständig wechselnde Umwelt; also nicht nur eine Einmalanpassung der Systemstrukturen an dauernde oder wiederkehrende Umweltzustände, sondern (wie schon beim Sehvermögen von Organismen) ein vorübergehendes Sicheinlassen auf vorübergehende Zustände auf Grund von Strukturbedingungen, die nur im System und nicht in der Umwelt gegeben sind. Alle in der Gesellschaft eingerichteten Teilsysteme können sich dann auf besondere Opportunitäten spezialisieren. Wann die Evolution dieser Bedingung »angefangen« hat, läßt sich dann nicht mehr objektiv-eindeutig bestimmen, vielmehr wird eine solche Zäsur im System selbst konstruiert, so als ob es sich um ein Ereignis gehandelt habe, dem das geschlossene System seine Existenz und seine Kriterien verdankt. Nur ein besonders ausgerüsteter Beobachter wird dann die Frage nach den Vorentwicklungen, den die Schließung ermöglichenden und begünstigenden Vorbedingungen stellen und nach Maßgabe seiner Erkenntnismöglichkeiten beantworten können. Dieser Grundvorgang läßt sich vielfach variieren, wo immer es gelingt, autopoietische Systeme zu bilden. Eine Adelsschicht schließt sich über Endogamie oder über andere Mechanismen ab - aber natürlich nur, wenn man die Familien erkennen kann, die dafür in Betracht kommen. Und dann erst werden Genealogien konstruiert, die bei Heroen oder Göttern oder Familienstiftern enden. (Daß hierzu auch Schrift erforderlich ist, ohne die man schwerlich zu stabilen Ahnen kommt, läßt sich an griechischen Beispielen studieren. ....) Die Ausdifferenzierung eines Rechtssystems setzt vorhandene Mengen von Streit- und Streitlösungsereignissen voraus, an denen man Regeln der weiteren Praxis erkennen kann, auch wenn das, was man erinnert, überhaupt nicht im Sinne einer Anwendung von Regeln abgelaufen war. Die Wissenschaft kann als eigenes autopoietisches System nur entsteven, wenn es hinreichend große Mengen von Wissen schon gibt, das man dann kritisch daraufhin durchsehen kann, ob es sich um wahres oder um unwahres Wissen handelt. Die ersten Geldprägungen waren nicht für Tauschzwecke bestimmt gewesen, sondern dienten als Verrechnungseinheiten in hauswirtschaftlichen Zusammenhängen. Geld kam zunächst als Zeichen für unausgeglichene Leistungsverhältnisse, gewissermaßen als Ersatz für D.ankbarkeit in Gebrauch. (Vgl. auch S. 348 f..) Nachdem es dann aber eine hinreichend große Menge solcher Geldstücke gab und eine Tauschwirtschaft entwickelt genug war, um am Problem des Findens passender Gegenstücke zu stagnieren, konnte sich eine Gel,dwirtschaft ausdifferenzieren -wie gering am Anfang auch Umfang und Komplexität der Geschäfte gewesen sein mögen. Mit der Ausdifferenzierung einer auf Münzgeld beruhenden Wirtschaft kommt es dann zu einer rapiden wirtschaftlichen Entwicklung, die sich weder auf den vorigen Stand noch auf die »Erfindung« des Münzgeldes zurückführen läßt, sondern nur auf ihr eigenes rekursives Netzwerk, das Annahmebereitschaft von wie immer wertgarantiertem Geld unterstellen kann. Oder, um mit einem Beispiel aus der Frühmoderne zu schließen: Der unter dem Titel Souveränität ausdifferenzierte Staat setzt Herrschaftsstrukturen älterer Art voraus, versteht sie aber im Rückblick dann völlig neu - so als ob es immer schon souveräne Rechtskonzentration gegeben hätte und nur die Mißbräuche des Adels das alte System ruiniert hätten. Mit der Verkündung des souveränen Staates nehmen, besonders im Frankreich der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Geschichtsschreiber ihre Arbeit auf. Die Gegenwart braucht eine zu ihr passende Vergangenheit.“ (Ebd., S. 442-445.)

„Unsere Analysen zeigen, daß das Problem des allmählichen Anfangens nur gelöst werden kann, wenn man den zu Grunde liegenden Zeitbegriff revidiert. Ebenso einschneidende Änderungen sind erforderlich, um den Begriff der Anpassung anzupassen.“ (Ebd., S. 445.)

„Schon in der über Spencer und Darwin hinausgehenden Evolutionstheorie haben sich schwerwiegende Bedenken gegen die Annahme ergeben, über »natural selection« würden die bestangepaßten (oder doch: die am wenigsten schlecht angepaßten) Systeme zum. Überleben ausgewählt. (.... Eine verbreitete Kritik läuft auf einen Vorwurf der Tautologie hinaus [Anpassung=Überleben=Anpassung]; aber das ließe sich ausräumen.) Irritiert hat ferner, daß offensichtlich manche Arten von Lebewesen über Jahrmillionen unverändert existieren können, während andere durch Anpassungsdruck evoluieren. (Hier hatte zunächst das Konzept der evolutionären »Nische« geholfen, aber das verschiebt nur die Problemstellung, denn damit bekommt nun die Unterscheidung Nischel/Nichtnische eine für die Theorie zentrale Bedeutung.) Außerdem gibt es in sehr vielen Fällen - und diese Einsicht ist für die Evolutionstheorie erklärungswesentlich - Angepaßtsein schon vor dem Bedarf. So gab es schon vor der Erfindung des DDT daran angepaßte Insekten, die dann überleben konnten. Im allgemeinen beschränkt die biologische Kritik des älteren Adaptionismus sich auf die Feststellung, daß nicht alle Veränderungen der Phänotypik von Lebeweien als bessere Anpassung erklärt werden können. Erst die Theorie autopoietischer Systeme erzwingt eine begriffliche Revision. Für sie ist Angepaßtsein Voraussetzung, nicht Resultat von Evolution; und Resultat dann allenfalls in dem Sinne, daß die Evolution ihr Material zerstört, wenn sie Angepaßtsein nicht länger garantieren kann. Die Erklärungslast trägt jetzt der Begriff der »strukturellen Kopplung«. Über strukturelle Kopplung ist eine für die Fortsetzung der Autopoiesis ausreichende Anpassung immer schon garantiert. Die Bewegungsfähigkeit der Lebewesen harmoniert mit der auf der Erde gegebenen Schwerkraft. Aber damit ist noch nicht gesagt, in welchen Formen; ob als Saurier oder als Insekten, diese Gelegenheit genutzt wird. Und so hängt auch die gesellschaftliche Kommunikation in vielen Hinsichten (zum Beispiel, was mögliches Tempo betrifft) von der strukturellen Kopplung an Bewußtseinssysteme ab, ohne daß damit determiniert wäre, was kommuniziert wird und wie das autopoietische System der Gesellschaft seine Grenzen zur Umwelt zieht. Von der Evolution ist also keine immer bessere Anpassung der Übrigbleibenden zu erwarten; und ein Blick auf die ökologischen Probleme der modernen Gesellschaft dürfte wohl genügen, um einer solchen Annahme jede Plausibilität zu entziehen. Gerade weil autopoietische Systeme operativ geschlossene Systeme sind, haben sie einen großen Spielraum für die Entwicklung von Strukturen, die sich als mit Autopoiesis kompatibel erweisen. Auf der Basis des Angepaßtseins können so immer gewagtere Unangepaßtheiten entstehen - solange die Fortsetzung der Autopoiesis selbst nicht unterbrochen wird.“ (Ebd., S. 445-446.)

„Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen muß und kann die Bedeutung des Begriffs der Komplexität für ein Verständnis von Evolution neu bestimmt werden. Die alte Vorstellung, Evolution sei ein Prozeß, der von einfachen zu komplexen Verhältnissen führe, ist schon deshalb unhaltbar, weil es keine einfachen Verhältnisse gibt; und außerdem deshalb, weil offenbar weniger komplexe und komplexere System auch heute noch zusammen existieren, also nicht etwa die einen durch die anderen (etwa wegen »besserer« Anpassungfähigkeit) ersetzt worden sind. Wenn man Richtungsangaben dieser Art findet, handelt es sich um simplifizierende Selbstbeschreibungen der modernen Geseilschaft, und speziell für sie sind solche Beschreibungen auch plausibel, weil sie ohnehin nur noch ein einziges globales System ist und keine »einfachen« Gesellschaften in sich oder neben sich duldet. Die Evolution selbst benötigt keine Richtungsangaben. Sie ist ohnehin kein zielorientierter Prozeß.“ (Ebd., S. 446-447.)

„Jedenfalls ist die Evolutionstheorie durchaus kompatibel mit der Beobachtung, daß hochkomplexe Systeme wieder zerstört oder aufgegeben werden, daß sie oft eine zu geringe Evolutionsfähigkeit besitzen und daß die Evolution nicht selten hochkomplexe Arrangements durch überlegene Vereinfachung ersetzt. (Wer an der These festhält, daß Evolution ein komplexitätssteigernder Prozeß sei, muß diese Phänomene folglich als »Devolution« bezeichnen. ....) Vor allem im Blick auf Sprache ist die These einer im Laufe der Evolution immer zunehmenden Komplexität unhaltbar. Bei all diesen Einwendungen kann jedoch nicht bestritten werden, daß es im Laufe der Evolution zu Komplexitätstests und zum Aufbau komplexerer Systeme neben anderen kommt. Komplexität ist ein epigenetisches Produkt der Operationsweise autopoietischer Systeme. (Auf anderen Theoriegrundlagen wird auch von Biologen betont, daß Komplexität epigenetisch mitproduziert wird, daß aber der eigentliche Effekt der Evolution im Aufbau von Systemstrukturen bestehe. ....) Sie erlaubt unter weiter zu klärenden Bedingungen mehr (oder »weichere«) strukturelle Kopplungen zwischen System und Umwelt und folglich differenziertere lrritierbarkeiten des Systems. Aber niemals kann Komplexität selbst ein Selektionskriterium sein (sie ist dafür zu komplex). (Dies gilt bereits für die physisch-chemische und erst recht für die organische Evolution. ....) lm einzelnen muß man daher immer fragen, »what kinds of situations would give positive selective value to increased or decreased complexity«, und nur weil beides möglich ist, kommt es im Laufe der Evolution auch zum Aufbau hochkomplexer Systeme. Diese Neukonzipierung des Verhältnisses von Evolutionstheorie und Systemtheorie kann der Tatsache Rechnung tragen, daß Neuentwicklungen oft abrupt und sehr rasch und unter Sonderbedingungen erfolgen, also sich gerade nicht aus den bereits realisierten Strukturen von Großsystemen oder Populationen ergeben. Man denke an die Besonderheiten der hebräischen oder der griechischen Randkultur der alten Welt, also an das, was Parsons »seed-bed societies« genannt hat. Schließlich bedarf auch der vielleicht wichtigste, jedenfalls skandalträchtigste Begriff der Evolutionstheorie einer systemtheoretischen Reintegration: der Begriff des Zufalls.“ (Ebd., S. 447-448.)

„Die Bedeutung von Zufall in der Evolutionstheorie könnte so verstanden werden, als ob die Theorie auf ein Postulat der Unkenntnis gegründet sei - Unkenntnis bezogen auf die mikrophysikalischen, chemischen, biochemischen, neurophysiologischen, psychologischen Prozesse, die dann letztlich doch determinieren, was geschieht. Damit würde das Problem jedoch auf eine erkenntnistheoretische Fassung und auf ein Paradox (Wissen gründet auf Nichtwissen) reduziert werden. Aber dies ist nur ein Sonderfall eines viel allgemeineren Gesetzes, daß nämlich Systeme immer begrenzte (reduzierte und gesteigerte) Resonanzfähigkeit aufweisen und füreinander, wenn man so formulieren darf, nur über »Fenster« zugänglich sind. In anderen Begriffen könnte man auch sagen, daß alle Systeme Messungen durchführen müssen, um Informationen zu erzeugen, nach denen sie sich richten können. Deshalb ersetzt ein System Vollkenntnis der Umwelt durch Einstellung auf etwas, was für es Zufall ist. Nur dadurch ist Evolution möglich.“ (Ebd., S. 448-449.)

„Im Unterschied zu älteren Annahmen dient der Begriff also nicht der Negation von Kausalität, er besagt nicht: Ursachelosigkeit des Vorkommens. »Zufall« ist also auch nicht eine kausale Verlegenheitskonstruktion, etwa die Ursache, die man (gleichsam zur Vervollständigung des Kausalschemas der Welterklärung) noch benennen kann, wenn man keine Ursache benennen kann. Wir geben dem Zufallsbegriff keinerlei kausaltheoretische Bedeutung. In äußerster Abstraktion kann von Zufall als einem differenztheoretischen Grenzbegriff gesprochen werden. Zufall heißt dann, daß die Bestimmung der einen Seite einer Unterscheidung nichts besagt für die Bestimmung der anderen Seite. So versteht Hegel den Begriff Zufall und entsprechend den Gegenbegriff Notwendigkeit. Uns genügt eine nengere Fassung, bezogen auf die Unterscheidung von System und Umwelt. Wir verstehen unter »Zufall« eine Form des Zusammenhangs von System und Umwelt, die sich der Synchronisation (also auch der Kontrolle, der »Systematisierung«) durch das System entzieht. Kein System kann alle Kausalitäten beachten. Deren Komplexität muß reduziert werden. Bestimmte Kausalzusammenhänge werden beobachtet, erwartet, vorbeugend eingeleitet oder abgewendet, normalisiert - und andere werden dem Zufall überlassen. Die »Irregularität« von Zufall ist, mit anderen Worten, kein Weltphänomen und folglich ist es auch nicht sinnvoll, sie in die Diskussion über Determinismus/Indeterminismus einzubringen. Sie setzt eine Systemreferenz voraus, denn nur so kann ein Beobachter sagen, für wen etwas Zufall ist.“ (Ebd., S. 449-450.)

„Diese eher negative Charakterisierung ergänzen wir durch eine positive. Zufall ist die Fähigkeit eines Systems, Ereignisse zu benutzen, die nicht durch das System selbst (also nicht im Netzwerk der eigenen Autopoiesis) produziert und koordiniert werden können. So gesehen sind Zufälle Gefahren, Chancen, Gelegenheiten. »Zufall benutzen« soll heißen: ihm mit Mitteln systemeigener Operationen strukturierende Effekte abzugewinnen. Die Effekte können, gemessen an vorhandenen Strukturen, sowohl konstruktivais auch destruktiv sein (sofern dies sich langfristig gesehen überhaupt unterscheiden läßt). In jedem Fall erweitert die Beobachtung von Zufällen die Informationsverarbeitungskapazität des Systems und korrigiert damit, im Ausmaß des Möglichen, die Engigkeit der eigenen Strukturbildungen, ohne die Orientierungsvorteile dieser Engführung preiszugeben.“ (Ebd., S. 450.)

„Die Eigenständigkeit der Evolutionstheorie liegt in der Eigenständigkeit ihrer Unterscheidungen. Seit Darwin spricht man von Variation und Selektion. Da Selektion jedoch zweischneidig wirkt, indem sie das Vorhandene entweder gegen Variation schützt oder aber ändert, brauchen wir einen weiteren Begriff. Wir werden von Restabilisierung sprechen. Wie unsere Rahmentheorie lehrt (siehe I., S. 413-431), geht es dabei um ein Paradoxieauflösungsprogramm, um die Entfaltung der Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen. Deshalb werden mit diesen Begriffen Formen bezeichnet, also identifizierbare Unterschiede, und das dürfte gerade hier unmittelbar einsichtig sein. Variation heißt nicht einfach Veränderung (denn das wäre dann ja schon die Evolution), sondern Herstellung einer Variante für mögliche Selektion. Und ebenso meint Selektion im evolutionstheoretischen Kontext nicht einfach die pure Tatsache, daß etwas so-und-nicht-anders geschieht, sondern der Begriff bezeichnet Selektion aus Anlaß einer Variation, die im System vorkommt. Es geht also um korrespondierende Begriffe, die außerhalb der Evolutionstheorie keine Verwendung haben, und eben dieses immanente Bezogensein ihrer Leitunterscheidung gibt dem Begriff der Evolution seine Form.“ (Ebd., S. 451.)

„Während Phasenmodelle die Differenz in die bloße Sukzession verlegen und den historischen Prozeß dann nur noch als Einheit dieser Differenzen beschreiben können, setzt die Evolutionstheorie die Erzeugung von Differenz im Zeitlauf selbst voraus und kann dadurch das Differenzprinzip reflexiv werden lassen. Die Variation erzeugt, wie immer sie empirisch operiert, eine Differenz, nämlich im Unterschied zum bisher Üblichen eine Abweichung. Diese Differenz erzwingt eine Selektion - gegen oder für die Innovation. Die Selektion wiederum erzwingt, wenn sie das Neue wählt, Kaskaden von Anpassungs- oder Abgrenzungsbewegungen im System, und, wenn sie es beim Alten beläßt, Bestätigungen für diese Option, da das vordem Selbstverständliche kontingent geworden ist. Die Unterscheidungen der Evolutionstheorie bezeichnen mithin Differenzen, die Differenzen prozessieren. Und es ist diese Struktur, die es unnötig werden läßt, von einerm Endziel oder einem Gesetz der geschichtlichen Bewgung zu sprechen.“ (Ebd., S. 451-452.)

„Wir schlagen vor, die unterschiedlichen Komponenten der Evolution auf unterschiedliche Komponenten der Autopoiesis des Gesellschaftssystems zu beziehen, und zwar in folgender Weise:
(1)  Durch Variation werden die Elemente des Systems variiert, hier also die Kommunikationen. Variation besteht in einer abweichenden Reproduktion der Elemente durch die Elemente des Systems, mit anderen Worten: in unerwarteter, überraschender Kommunikation.
(2) Die Selektion betrifft die Strukturen des Systems, hier also Kommunikation steuernde Erwartungen. Sie wählt an Hand abweichender Kommunikation solche Sinnbezüge aus, die Strukturaufbauwert versprechen, die sich für wiederholte Verwendung eignen, die erwartungsbildend und -kondensierend wirken können; und sie verwirft, indem sie die Abweichung der Situation zurechnet, sie dem Vergessen überläßt oder sie sogar explizit ablehnt, diejenigen Neuerungen, die sich nicht als Struktur, also nicht als Richtlinie für die weitere Kommunikation zu eignen scheinen.
(3) Die Restabilisierung betrifft den Zustand des evoluierenden Systems nach einer erfolgten, sei es positiven, sei es negativen Selektion. Dabei wird es zunächst um das Gesellschaftssystem selbst im Verhältnis zu seiner Umwelt gehen. Man denke etwa an die Erstentwicklung von Landwirtschaft mit Konsequenzen, die im Sozialsystem der Gesellschaft »systemfähig« sein müssen. Oder an die Vermeidung einer Agrarisierung (aus ökologischen oder anderen Gründen), die dann zur Entstehung von »Nomadenvölkern« am Rande von bereits politisch entwickelten Bauerngesellschaften führt. Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Evolution verlagert die Restabilisierungsfunktion sich dann mehr und mehr auf Teilsysteme der Gesellschaft, die sich in der inflergesellschaftlichen Umwelt zu bewähren haben. Dann geht es letztlich um das Problem der Haltbarkeit gesellschaftlicher Systemdifferenzierung.“
(Ebd., S. 454-455.)

„Elemente, Strukturen und Einheit des Reproduktionszusammenhanges sind notwendige Komponenten eines autopoietischen Systems. Es gibt keine Elemente ohne System, kein System ohne Elemente usw.. Diese Bedingung gegeben, fragt sich, wie dann Evolution überhaupt möglich ist, wenn sie einen nach Variation, Selektion und Restabilisierung differenzierten Zugriff auf diese einzelnen Komponenten voraussetzt. Mit dieser Frage rekonstruieren wir zugleich die These der Unwahrscheinlichkeit aller Evolution und der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit der durch sie erzeugten Systemformen.“ (Ebd., S. 455.)

„Schon dem Begriff des autopoietischen Systems ist zu entnehmen, daß diese Komponenten des Systemaufbaus und der Evolution in einem zirkulären Verhältnis zueinander stehen. Die Unterscheidung von Variation, Selektion und Restabilisierung suggeriert zwar eine zeitliche Abfolge, und sie ist auch so gemeint. Ebenso richtig ist jedoch, daß Variation bereits Stabilität oder, wenn man so will, Normalreproduktion voraussetzt. Evolution ist daher immer nur Modifikation bestehender Zustände; und wenn man sie mit Begriffen wie Innovation oder Emergenz zu fassen versucht, sind das schon abgezogene Beschreibungen, bei denen man fragen kann, weshalb auf Diskontinuität und nicht auf Kontinuität geachtet wird.“ (Ebd., S. 455.)

„Ebenso künstlich ist jede Episodenbildung, die bei Variation ansetzt und mit Restabilisierung ihr Resultat bezeichnet. Lediglich der Selektionsbegriff kann nicht, und darin erweist sich seine Schlüsselstellung im Konzept der Evolution, den Anfang oder das Ende einer Evolutionsepisode bezeichnen. Mit Selektion kann ein autopoietisches System eine Strukturänderung weder anfangen noch enden. In grober Vereinfachung kann man Evolution daher auch als Strukturselektion bezeichnen und, wenn ,man bedenkt, daß Strukturen die Selektion der Operationen steuern, als Selektion von Selektionen. (An dieser Stelle werden Bezüge auf einen sehr viel allgemeineren Evolutionsbegriff erkennbar, auf die wenigstens anmerkungsweise hingewiesen werden soll. Er würde sich auf die Erklärung synergetischer Effekte, dissipativer Strukturen etc. kurz auf sehr allgemeine Prozesse der Differenzbildung [Abweichungsverstärkung] beziehen, die auch an physikalischen, also an nichtautopoietischen Systemen nachgewiesen werden können. Es soll nicht bestritten werden, daß eine solche Theorie auch auf soziale Systeme angewandt werden könnte; nur ist sie hierfür nicht spezifisch genug.)“ (Ebd., S. 455-456.)

„Bis heute fehlt in der soziologischen Literatur eine befriedigende Erklärung evolutionärer Variation - so wie ja auch in der Biologie Mutation zunächst nur als abrupt und unerklärlich auftretende Änderung des Erbgutes begriffen wurde. In der älteren Soziologie begnügte man sich mit dem Hinweis auf die praktisch, unendlichen Variationsmöglichkeiten individuellen Verhaltens. Noch heute argumentieren Handlungstheoretiker - sei es gegen, sei es in Absicht auf eine Ergänzung von Systemtheorie -, daß man für die Erklärung gesellschaftlichen Wandels auf motivstarkes individuelles Handeln zurückgreifen, dieses also (mitsamt den handelnden Individuen?) in den sozialen Systemen verorten müsse. Das läßt sich ... nicht halten.“ (Ebd., S. 456-457.)

„Der primäre Variationsmechanismus findet sich bereits in der Sprachförmigkeit der Kommunikation (und hier liegt denn auch die Parallele zum Erfordernis chemischer Stabilität genetischer Mutationen). Die Sprache macht Variation bereits als Variation von komplexen Feinregulierungen abhängig. Die Kommunikation muß sprachlich annähernd richtig, muß jedenfalls verständlich sein. Die Variation liegt also nicht im gelegentlichen Sichversprechen oder in Schreib- oder Druckfehlern. Dies wären viel zu seltene und belanglose Vorfälle, als daß sie einer Gesellschaft ausreichende Selektionschancen eröffnen könnten. Die sprachliche Kommunikation muß mit Hilfe von akzeptablen Wörtern und Satzkonstruktionen vorweg schon eine Sinnverdichtung leisten, in der kleinere technische Defekte verschwinden; und die evolutionäre Variation kommt nur dadurch zustande, daß sprachlich gelungene Sinnzumutungen im Kommunikationsprozeß infrage gestellt oder rundheraus abgelehnt werden. Die Variation kann in einer ungewöhnlichen Mitteilung liegen, aber auch, und vermutlich häufiger, im unerwarteten Nichtakzeptieren einer Mitteilung angesichts einer Situation, die dies als möglich oder als aussichtsreich motiviert. Sie muß aber auf jeden Fall sprachlich verständlich sein - und dies nicht nur im Hinblick auf den Sinn, der direkt negiert wird, sondern auch im Hinblickauf ein Wieso, Wozu, Was dann?“ (Ebd., S. 459.)

„Genauer gefaßt und auf seine kommunikative Verwendung hin betrachtet, liegt der Variationsmechanismus in der Erfindung der Negation und in der dadurch ermöglichten Ja/Nein-Codierung sprachlicher Kommunikation. (Die näheren Ausführungen dazu finden sich oben in Kapitel 2, III [S. 205-230].) Man achte auf die Unwahrscheinlichkeit dieser evolutionären Errungenschaft. Zunächst ist ja jede sprachliche Kommunikation ein positives, tatsächlich erfahrbares Ereignis in der wirklichen Welt; und zwar ein unterscheidendes Ereignis, das etwas Bestimmtes bezeichnet. Das, was man beobachten kann, ist zunächst nur die Operation des Unterscheidens selbst - ganz unabhängig von der Frage, ob sie etwas, und was sie, positiv oder negativ referiert. Das, was nicht bezeichnet wird, bleibt im »unmarked state« der Welt und wird gerade nicht negiert (denn das würde ja eine Bezeichnung erfordern). Die Möglichkeit, eine Kommunikation als Negation aufzufassen und erst recht die Möglichkeit, eine solche Möglichkeit vorgreifend in Rechnung zu stellen, ist ein sehr voraussetzungsvolles Resultat (wir argumentieren zirkulär!) ihrer eigenen Evolution.“ (Ebd., S. 459-460.)

„Variation kommt mithin durch eine Kommunkationsinhalte ablehnende Kommunikation zustande. Sie produziert ein abweichendes Element - nicht mehr und nicht weniger. Dabei blickt dr Prozeß auf die in der Kommunikation schon geäußerte oder angedeutete oder erwartete Ausnahmeerwartung. Er blickt also in die Vergangenheit ....“ (Ebd., S. 461.)

„Die Ablehnung widerspricht der Annahmeerwartung .... Alle Variation tritt mithin als Widerspruch auf - nicht im logischen, aber im ursprünglicheren dialogischen Sinne. Sie kann gar nicht anders vorkommen denn als Selbstwiderspruch des Systems. (Hierzu allgemein: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 488 ff.. Die oben im Text eingenommene Position ist zu unterscheiden von der verbreiteten Auffassung, daß strukturelle Widersprüche Anlaß geben zur Variation des Systems - sei es in der durch die Dialaktik vorgeschriebenen Weise, sei es als »variety pool« mit noch unbestimmten Entwicklungsmöglichkeiten. .... Es ist durchaus vorstellbar, daß es strukturelle Bedingungen gibt, die mehr als alles andere dazu anregen, Kommunikationen abzulehnen. Aber die Struktur selbst kann nicht als »widerspruchsvoll« bezeichnet werden, und zwar weder in einem logischen noch in einem dialogischen Sinne. Sie wird operativ zur Vermittlung von Anschlüssen verwendet oder nicht verwendet; und nur ein Beobachter kann hier Widerspruch konstruieren.) Sie fügt sich damit - sie kommuniziert! - den Erfolgserfordernissen der Autopoiesis des Systems, sie sorgt für Fortgang der Kommunikation, wenngleich mit freieren Anschlußmöglichkeiten und mit einer immanenten Tendenz zum Konflikt.“ (Ebd., S. 461-462.)

„Würde die Variation nur oder überwiegend im Hinblick auf Selektionschancen erfolgen, wäre sie mit einem zu hohen Entwicklungsrisiko verbunden; denn die soziale Wirklichkeit ist extrem konservativ eingestellt und negiert nicht so leicht Vorhandenes und Bewährtes im Hinblick auf etwas Unbekanntes, dessen Konsenschancen noch nicht erprobt sind und in der gegebenen Situation auch nicht getestet werden können.“ (Ebd., S. 463.)

„Nur durch Nichtkoordination von Variation und Selektion, das heißt: durch Vermeidung von Kommunikation über diese Beziehung, kann Evolution hinreichend wahrscheinlich sein und hinreichend rasch zum Aufbau einer in sich unwahrscheinlichen Ordnung führen. In diesem genauen Sinne kann man auch die Beziehung von Variation und Selektion als Zufall bezeichnen. Die Bestimmtheit der Variation sagt nichts aus über die Chancen der Selektion.“ (Ebd., S. 464.)

„Zugleich muß aber im Funktionsbereich der Variation die Dialektik von Überschußproduktion, Inhibierung und Desinhibierung mit den Mitteln höherer Komplexität den Bedingungen höherer Komplexität angepaßt werden. Man braucht, mit anderen Worten, Zusatzeinrichtungen der Häufung und Beschleunigung von Variation (so wie in der Evolution des Lebens die biochemische Mutation durch bisexuelle Reproduktion ergänzt worden ist). In der gesellschaftlichen Evolution ist das auf zweierlei Weise geschehen: durch das Verbreitungsmedium Schrift und durch Stärkung der Konfliktfähigkeit und Konflikttoleranz in der Gesellschaft (oder anders gesagt: durch Verzicht auf die Externalisierung aller Konflikte, wie sie für segmentäre Gesellschaften charakteristisch ist).“ (Ebd., S. 464.)

„Wenn Schrift als Verbreitungsmedium (also nicht nur zu Aufhebungszwecken) angenommen wird, hat dies einen Doppeleffekt: Die Kommunikation kann größere räumliche und zeitliche Reichweite gegeben weund sie wird von den Zwängen der Interaktion entlastet, das heißt: sowohl im Herstellen (Schreiben) als auch im Rezipieren (Lesen) fereier gestellt. Die größere Verbreitung schafft die Möglichkeit, durch eine Änderung vieles ändern zu können, und zwar unübersehbar vieles. Damit verliert sich oder reduziert sich auf bestimmte magisch-religiöse Praktiken die Vorstellung, man könne durch das Wort unmittelbar etwas ändern.“ (Ebd., S. 464.)

„Konflikte testen Ablehnungspotentiale. Sie führen zu einer laufenden Beobachtung des Beobachtens und damit zu einem intensiven Informationsaustausch.“ (Ebd., S. 466.)

Differenzierung von Konfliktgründen und Konflikthemen. Es kann tiefliegende strukturelle Gründe für ein immer neues Ausbrechen von Konflikten geben, aber die Konflikte selbst suchen sich andere Anlässe und Themen, weil der strukturelle Auslöser ohnehin kein »lösbares Problem« ist. Die penetrante Suche mancher Soziologen nach den »eigentlichen« Gründen des Konflikts, ihr marxistisches Erbe mit anderen Worten, hat verdeckt, daß gerade in dieser Differenz von Gründen und Themen eine Errungenschaft liegt, sofern das System groß genug ist, um die Konfliket aushalten zu können. (Systeme, die unter diesem Gesichtspunkt »zu klein« sind - seien es Familien, seien es [kleine! HB] Organisationen -, werden heute zum Gegenstand einer »Systemtherapie«, die sich um ein Re-arrangieren ihrer Konflikte bemüht.)“ (Ebd., S. 468.)

„Zu den Unberechenbarkeiten, die mit diesen Erweiterungen der Variationsmöglichkeiten ausgelöst werden, gehören die entsprechenden Transformationen der Semantik und deren Folgen. Je mehr Ablehnungsmöglichkeiten zugelassen werden, desto gewichtiger wird der Bedarf an Nichtnegierbarkeiten.“ (Ebd., S. 469.)

„Mit der Ausdifferenzierung besonderer Funktionssystem entstehen, auf sie bezogen, Kontingenzformeln, die eine systemspezifische Unbestreitbarkeit behaupten können, etwa Knappheit für das Wirtschaftssystem, Legitimität für das politische System, Gerechtigkeit für das Rechtssystem, Limitationalität (*) für das Wissenschaftssystem. (* Dieser weniger gebräuchliche Ausdruck soll besagen, daß von begrenzten Möglichkeiten ausgegangen werden muß, wenn man behaupten will, daß die Feststellung von Wahrheiten bzw. von Unwahrheiten den Bereich der noch zu prüfenden Fragen verkleinert und nicht [worauf ja manches hindeutet] vergrößert. Nur unter dieser Prämisse hat es zum Beispiel Sinn, die »Falsifizierbarkeit« von Hypotehsen zu fordern.) Aber in der Festlegung solcher Formeln auf jeweils besondere Funktionssysteme bleibt offen, was sie gesamtgesellschaftlich besagen. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts übliche Erlösungsformel lautet: Werte. Aber sie ist der gleichen Korrisionsprozeß ausgesetzt. Einmal in die Welt gesetzt, läßt sie es zu, von »Umwertung der Werte« oder von »Wertwandel« zu sprechen.“ (Ebd., S. 469-470.)

„Man beginnt ... das Neue als solches zu schätzen (der Umbruch erfolgt im 17. Jahrhundert, in dem man für Religion, aber auch für Politik an der alten Warnung vor Neuerungen noch festhält, zugleich aber für alles, was »gefallen« soll, eine Positivierung durchsetzt. ....), dem Begriff der »Kritik« den Sinn des Ablehnens des Kritisierten zu unterschieben und »Alternativen« nicht mehr als bloße OPtionen zu verstehen, sondern als Varianten, die ohne nähere Prüfungen besser sind als das Vorhandene. Es kommt, zusammenfassend gesagt, zu einer semantischen Hypertrophie der Variation - und folglich zu einer eingebauten Enttäuschung der Gesellschaft über sich selbst.“ (Ebd., S. 472.)

„Die Unterscheidung von Variation und Selektion ist die Form des Begriffs der Evolution. »Form« bedeutet die Notwendigkeit einer »anderen Seite« und hier, daß, wenn Variation vorkommt, Selektion notwendig ist.“ (Ebd., S. 473.)

„Da Variation und Selektion nur »zufällig« gekoppelt sind, kann man eine Theorie evolutionärer Selektion separat ausarbeiten. (Daß dies eine theoretische Abstraktion ist, versteht sich von selbst.) Festzuhalen ist ..., daß die Selektionsfunktion nur vom Faktum der Variation abhängt, nicht aber davon, welche konkreten Auslöser es in die Welt gesetzt hatten.“ (Ebd., S. 473.)

Jede Variation hat zwangsläufig Selektion zur Folge. Auch wenn keine positive Selektion stattfindet, findet Selektion statt, weil dann die operationsgebundene Variation vergeht, ohne Strukturen zu ändern und alles so bleibt, wie es war und ist. Selegiert wird dann der bisherige Zustand - und nicht die Innovation. Die Selektion selbst ist also eine Zwei-Seiten-Form: wenn nicht positiv dann negativ. Daß sie Form ist, unterschedet sie zugleich von der Variation, die ihrerseits Form ist, weil sie vorkommen oder nicht vorkommen kann. Die Form der Evolution (Variation/Selektion) ist mithin eine Form zweiter Stufe, eine aus Formen gebildete Form.“ (Ebd., S. 474.)

„Grundlegende bedingung aller Evolution ist daher, daß Einrichtungen der Variation und Einrichtungen der Selektion nicht zusammenfallen, sondern getrennt bleiben. In kybernetischer Terminologie formuliert, verbindet die Operation sich mit dem System in der Form des Feedbacks. Dabei kann es sich um negatives oder positives Feedback handeln, um Einhalten einer gegebenen Schwankungsbreite der Systemzustände oder um Abweichungsverstärkung, um Aufbau von Komplexität, die sich dann mit ihren eigenen Problemen zur Geltung bringt.“ (Ebd., S. 474-475.)

„Erst über Seketion einer dies Ereignis benutzenden, bestätigenden, kondensierenden Struktur kommt etwas Unwahrscheinliches zustande, nämlich eine markante Abweichung vom Ausgangszustand. Es ist klar, daß klassische Theorien linearer Kausalgesetzlichkeit solche Phänomenen nicht erklären können. Es ist nicht so, daß geeignete Ursachen bei Vorliegen der notwendigen Nebenbedingungen zwangsläufige Wirkugen produzieren, sondern Ereignisse, die immer wieder vorkommen, werden gelegentlich (aber aufs ganze gesehen häufig genug) durch Prozesse zirkulärer Abweichungsverstärkung benutzt, um Strukturen zu bilden, die es vorher nicht gab.“ (Ebd., S. 476-477.)

„Wenn man die Theorie operativ geschlossener, strukturdeterminierter Systeme akzeptiert, muß man davon ausgehen, das Systeme ihre Strukturen nur mit den eigenen Operationen ändern können, wie immer diese in der Form von Störung, Irritation, Enttäuschung, Mangel etc. auf Umweltgeschehnisse reagieren. Wir müssen also die Gesellschaft selbst auf ihre Selektionsmechanismen untersuchen.“ (Ebd., S. 477-478.)

„Über Religion setzt die Gesellschaft (gemeint ist die im altertümlichen Mesopotmaien; HB) sich selbst unter Anpassungsdruck und entwickelt geheilgte Selektionskriterien, mit denen sie wilde Variationen abfangen und sortieren kann.“ (Ebd., S. 480.)

„Auch der Kunst ist nachgerühmt worden, daß sie im »weichen, einfachen Element« der Vorstellung etwas gestalten kann, was sich so in den Natur, die hr als Vorlage dient, nicht findet. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, a.a.O., S 215. [Hegel schrieb über die Kunst aber auch z.B: »Der Geist geht in eine tiefere Epoche der Wahrheit ein, in der er der Kunst nicht mehr bedarf«; und z.B.: »Die Kunst ist nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.«])“ (Ebd., S. 482.)

„Solange das Selektionsgeschehen an feststehenden, nur zeitweilig gestörten Zuständen orientiert ist, hat es nicht viel Sinn, von einer dritten evolutionären Funktion zu sprechen. Die Selektion selbst sorgt für Stabilität, und wenn ihr das mißlingt (wie in einer durch Korruption oder Sünde bestimmten Welt zu erwarten), muß eben immer wieder neu und möglichst gut seligiert werden. Noch der frühmoderne Staat war im Hinblick auf diese Aufgabe beschreiben worde, und »Frieden« war der dies empfehlende Begriff. Denn wo Frieden gesichert ist, kann man es jedem überlassen, für sein Seelenheil und sein irdisches Auskommen selber zu sorgen.“ (Ebd., S. 485.)

„Orientiert denn nicht gerade die heutige Gesellschaft ihre Selektionen nur noch an dem, was im Moment oder vorübergehend als brauchbar erscheint?“ (Ebd., S. 486.)

„Für Lebewesen wird die Funktion der Restabilisierung durch die Bildung von Populationen erfüllt - Populationben hier begriffen als reproduktive Isoaltion eines Gen-Pools, der in begrenztem Umfange Variationen aufnehmen und in der reproduktion einbeziehen kann. Jede Population kann nur in sich selbst Nachwuchs produzieren, Schlangen und Katzen können nich Schlatzen zeugen.“ (Ebd., S. 486.)

„Im Jahre 1789 wurden Pariser Unruhen als »Revolution« beobachtet und mit einem eigens dafür modifizierten Begriff beschrieben. Die Folgen waren weder aufzuhalten noch zu kontrollieren, und man kann sie wohl als ein hundertjähriges Mißlingenb weiterer Revolutionen beschreiben, die dann aber in ihren Konsequenzen das politische System Frankreichs auf eine repräsentative Demokratie umstellten. Codifizierungen des Rechts, Freigabe der Wirtschaft an in ihr selbst durchsetzungsfähige Kräfte, Säkularisierungen im Bereich der Religion, Privatisierung auch der Großen Familien waren Ausgleichsentwicklungen, die als Restablisierungen der revolutionären Innovationen begriffen werden können. - Aber auch wo revolution negat9iv selegiert, also abgelehnt wurde ..., waren Restabilisierungen nötig .... Allgemeiner formuliert; Variationen können im Unbemerkten verschwinden, Selektionen werden aber normalerweise im Systemgedächtnis festgehalten, und man muß dann im weiteren mit dem Wissen zurechtkommen, daß etwas Mögliches nicht realisiert wurde.“ (Ebd., S. 487-488.)

„In jedem Falle bezeichnet der Begriff der Restabilisierung Sequenzen des Einbaus von Dtrukturänderungen in ein strukturdeterminierte operierendes System; und er trägt dabei der einsicht Rechnung, daß dies auch über Variationen und Selektionen, immer aber durch eigene Operationen des Systems geschieht. In jedem Falle führt Selektion, ob positiv oder negativ, zum Ansteigen der Komplexität des Systems, und darauf muß das System mit Restabilisierung reagieren.“ (Ebd., S. 488.)

„Externalisierungen können natürlich nie endgültige Problemlösungen sein. Die Probleme kehren in veränderter Form in die Beziehungen zwischen System und Umwelt zurück. Man kann dies an den ökologischen Problemen studieren, in die die moderne Gesellschaft geraten ist, aber auch an innergesellschaftlichen Problemen, zum Beispiel an der Diskussion über die fragwürdig gewordene »Externalisierung von Kosten« durch die Geldwirtschaft. .... Strukturelle Probleme werden an bestimmten Stellen sichtbar, etwa ... im Zeitalter des Wohlfahrtsstaates daran, daß die Politik von einer erfolgreich operierenden Wirtschaft abhängig wird und zugleich eigene Erfolge nur dadurch erreichen kann, daß sie mehr und mehr Ressourcen der wirtschaftlichen Kalkulation entzieht. »Inflation« ist dann die Folge der Externalisierung politischer Konflikte, aber zugleich auch ein Problem, für dessen Dauerüberwachung und ständige Behandlung sich spezifische Geschicklichkeiten und Instrumente entwickeln lassen. Neuerungen werden dann gleichsam am Bildschirm der Inflation kontrolliert, und man sieht so relativ rasch, ob es noch geht oder nicht. Auch für hochgeneralisierte Problemverteilungsmechanismen - und die Geldwirtschaft ist dafür berühmt - lassen sich wieder spezifische Techniken des Umgangs ausfindig machen, so wie für Zivilisationskrankheiten der verscheidneen Art.“ (Ebd., S. 490.)

„Flüssiges Wasser enthält in sich selbst die Möglichkeit, zu Eis zu erstarren oder zu verdampfen; und nur deshalb können Veränderungen der Temperatur diese Wirkungen erzeugen.“ (Ebd., S. 495.)

„Die Evolution hat zwar nie die in ihrem basalen Substrat liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft. Das gilt für Proteine, für Photosynthese, für Sinn n und für Sprache. Das Resultat ist immer Diversifikation strukturdeterminierter Systeme gewesen. Die Fülle des Seins findet sich in der Vielzahl realisierter Möglichkeiten. Die gesellschaftliche Evolution hat unzählige tribale Gesellschaften hervorgebracht. Hochkulturen findet man, je nach Zählung, noch in zwanzig bis dreißig Exemplaren (nein, denn man findet - genau genommen - nur noch vier! HB) Eine funktional differenzierte Gesellschaft gibt es dagegen nur noch in einem einzigen Fall. (Und dieser »Fall« ist ein rein abendländischer, also einer, der auf nur eine der vier noch existierenden Hochkulturen [Historienkulturen] aufgebaut ist, und zwar auf faustische Weise und eben darum auch »funktional differenziert«! HB) Also Evolution in nur einem Fall? Das scheint auf einen Verzicht auf alle Redundanzen und alle Abweichsicherheiten hinauszulaufen. Wenn es diese Gesellschaft nicht mehr gibt, gibt es keine andere - es sei denn, daß neue Formen aus ihr selbst heraus entstehen. Wir werden die Möglichkeiten innergesellschaftlicher Evolutionen zu untersuchen haben (vgl. unter XI [S. 557-569]), aber offensichtlich ist das allein keine angemessene Antwort auf die hier gestellt Frage. Die Antwort kann nur in dieser Gesellschaft selbst gefunden werden, zum Beispiel in ihrer Fähigkeit (oder: Unfähigkeit! HB), Tempo auszuhalten, für Ausfälle Ersatz zu finden, Reserven für Unvorhergesehenes zu kapitalisieren und vor allem: mit diesen Erfordernissen sozialisierend zu wirken und die Bewußtseinssysteme der Menschen mit diesen Gegebenheiten vertraut zu machen. Denn es ist nur allzu verständlich, wenn Menschen, die in langer Kultur anderes gewohnt waren, unter solchen Bedingungen nervös werden.“ (Ebd., S. 497.)

„Gesellschaftliche Evolution erfordert und realisiert, das haben wir zu zeigen versucht, eine Differenzierung der evolutionären Funktionen, das heißt: ihre Realisation durch unterschiedliche Sachverhalte. Dabei verschiebt sich im Laufe der Evolution und mit zunehmender Differenzierung der evolutionären Funktionen das Trennproblem. In schriftlosen, segmentären Gesellschaften muß es schwierig gewesen sein, Variation und Selektion zu trennen, denn ihnen stand nur die Interaktion unter Anwesenden als Systemform für Kommunikation zur Verfügung, und die segmentäre Form der Systemdifferenzierung sorgte dafür,. daiß in der innergesellschaftlichen Umwelt überall ähnliche Verhältnisse vorausgesetzt werden konnten. In hochkultivierten Gesellschaften erleichtert sowohl die Schrift als auch die Differenzierung auf der Basis von Ungleichheit diesen primären Trennvorgang. Eben damit wird es aber schwierig, Selektion und Restabilisierung zu unterscheiden. Die Selektionen werden als Antwort auf Störungen und als Wiederherstellung einer Ruhelage, eines stabilen Gesellschaftszustandes begriffen. Wenn auch zwischen Selektion und Restabilisierung eine Trennlinie gezogen wird, und das ermöglicht der Übergang zu einer primär funktionalen Differenzierung, verschiebt sich erneut das Problem. Denn jetzt wird es, wie wir gesehen haben, schwierig, zwischen Restabilisierung und Variation zu unterscheiden. Die Formen gesellschaftlicher Differenzierung korrespondieren offenbar mit Schwerpunktproblemen beim Separieren der evolutionären Funktionen.“ (Ebd., S. 498.)

„Die Entstehung distinkter Formen innergesellschaftliche Systemdifferenzierung ist also einerseits ein Resultat von Evolution. Die Differenzierungsformen selbst sind evolutionäre Errungenschaften. Andererseits wirken sie auf die Evolution selbst zurück, indem sie jeweils spezifische Schwierigkeiten haben, eine Trennung der evolutionären Mechanismen einzurichten. Die Differenzierungsformen unterscheiden sich, wie wir noch ausführlich sehen werden, im Ausmaß struktureller Komplexität, das sie ermöglichen, und in den Semantiken, mit denen sie auf die damit verbundenen Probleme reagieren. Das wirkt sich auf ihre Möglichkeiten aus, die evolutionären Mechanismen institutionell zu trennen. Hochkultivierte Gesellschaften, die sich auf Zentrum/Peripherie-Differenzierungen stützen, haben zum Beispiel schon die Möglichkeit, Kriterien zu formulieren und anzuwenden; aber sie müssen die in sie eingebauten Ungleichheiten verteidigen, müssen Unruhen abwehren und benötigen daher eine stabilitätsbezogene Semantik, an der sie Selektionen orientieren. Erst unter dem Regime funktionaler Differenzierung kommt es zu Selektionskriterien, die destabilisierend wirken. Dann aber kollabiert die Differenz von Stabilisierung und Variation, denn jetzt muß Stabilität primär auf Flexibilität, Änderbarkeit, Entscheidbarkeit gegründet werden. Mit diesen Verschiebungen im Übergang von Differenzierungsform zu Differenzierungsform ändert sich zugleich die Häufigkeit struktureller Änderungen und damit das Tempo der Evolution. Die Zeit selbst scheint schneller zu laufen.“ (Ebd., S. 498-499.)

„Schon diese Überlegungen zeigen, daß die Trennung und (zufallsabhängige) Wiederverknüpfung der evolutionären Funktionen sich nicht auf Naturgesetze oder auf Notwendigkeiten eines dialektischen Prozesses stützen kann. (Das Verhältnis der Evolutionstheorie zur Dialektik und damit zur Geschichtstheorie Hegels bedürfte einer gründliche:en Untersuchung. Hier sei nur angemerkt, daß der Begriff der Form eIne Unterscheidung markiert und damit den Zusammenhang der beiden Seiten der Unterscheidung als notwendig ausweist. Auf Variation folgt deshalb notwendig Selektion, auf Selektion notwendig Restabilisierung. Das heißt aber nicht, daß ein entsprechender Prozeß notwendig ist. Und es heißt auch nicht, daß innerhalb dieses Prozesses nur Unterscheidungen, die als »Gegensatz« konstituiert werden, Bewegung in Gang setzen. Diese Prämissen sind nur haltbar, wenn man etwas wie »Geist« postuliert, das aus der höheren (späteren) Position heraus etwas bloß Vorhandenes in die Form des »Mangels« versetzen kann, um den Mangel schließlich an sich selbst zu kurieren.) Es gibt keine ewige Weltordnung, in der vorgesehen ist, daß dies so geschieht. Die Evolution verdankt sich der Evolution. (Heute wohl weitgehend anerkannt. .... Davon zu unterscheiden ist die Selbstreferenz auf der Theorieebene, die besagt, daß die Einsichten über Evolution die Evolutionstheorie dazu bringen, sich selbst als Resultat von Evolution zu begreifen. .... Die Vernunft allerdings urteilt über solche Zirkel mit unnachsichtiger Härte, weil sie hier ihr eigenes historisches Privileg der Selbstbegründung zu verteidigen hat. ....) Sie ermöglicht sich selbst, indem sie die Bedingungen für die Differenzierung ihrer Mechanismen aufbaut. Wie alles angefangen hat, müssen wir dem »Big Bang« oder ähnlichen Mythen überlassen. Für alle späteren Einsatzpunkte der Evolution kann man immer schon System/Umwelt-Differenzen voraussetzen und damit jenen Multiplikationsmechanismus, der nur noch Systeme mit Operationen entstehen läßt, die sich auf eine Gemengelage von Phänomenen einstellen können, die sie als Unordnung bzw. Ordnung, als Zufall bzw. Notwendigkeit, als Erwartbares bzw. Irritierendes, und damit eben auch als Variation konstruieren können, die einen Selektionsdruck auslöst. Die Theorie selbstreferentieller Evolution verlegt den »Grund« des Geschehens also nicht mehr in den Anfang (arché, principium). Sie ersetzt diese traditionelle Weise der Erklärung durch eine differenztheoretische, nämlich durch eine Spezifikation der Differenz der evolutionären Funktionen und eine möglichst genaue Lokalisierung der besonderen Bedingungen ihres Auseinandertretens in der empirischen Realität evoluierender Systeme. Auf diese Weise erzeugt die Evolutionstheorie ein praktisch endloses Forschungsprogramm für historische Untersuchungen.“ (Ebd., S. 499-500.)

„Wenn Evolution kein Prozeß ist und wenn sie ein zirkuläres Verhältnis ihrer Funktion voraussetzt, abstrahiert die Theorie zunächst von Zeit. Ebensowenig kann jedoch bezweifelt werden, daß Evolution in der Zeit stattfindet. Damit ist nicht nur gemeint, daß ein Strukturwandel datiert werden kann - durch Hinweis auf mehr oder weniger lange Zeiträume. Er findet nicht nur in der Zeit statt, sondern nutzt auch historische Situationen, die sich aus der Evolution selbst ergeben haben und möglicherweise einmalig sind oder eine gewisse Typik aufweisen, die eine Mehrfachentstehung evolutionärer Errungenschaften - des Auges, des Testaments etc. - wahrscheinlich machen. Solche Situationen bieten einerseits Gelegenheiten und andererseits Beschränkungen, sie bieten Selektionsmöglichkeiten, deren Reproduktion aber nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Wir kommen unter Begriffen wie preadaptive advances, evolutionäre Errungenschaften, Geschichte darauf zurück. Im Moment ist nur festzuhalten, daß der Evolutionstheorie kein lineares Zeitkonzept zugrunde liegt, auch wenn sie für Datierungen sich an Zeitmessungen hält, sondern daß die Zeit, in der strukturelle Neuerungen geschehen, die Form einer historisch einmaligen Gegenwart annimmt, in der eine Kombination von Gelegenheiten und Beschränkungen verfügbar ist; und zwar als Kombination, denn es gibt keine Gelegenheiten ohne Beschränkungen, so wie es keine Variation und Selektion ohne Stabilität gibt. Evolution ist, anders gesagt, nur in empirischer Konkretion möglich, obwohl die Evolutionstheorie das, was dann als geändert und damit als neu erscheint, nicht kausal erklären kann.“ (Ebd., S. 500-501.)

„Dieselbe Einsicht läßt sich auch systemtheoretisch gewinnen. Angesichts der Systemgrundlagen aller Evolution, angesichts des unauflösbaren Zusammenhangs von elementaren Operationen, Strukturbildungen und operativer Schließung des nach außen sich abgrenzenden Systems kann Differenzierung der evolutioniren Funktionen nicht heißen, daß es zu einer kausalen Separierung käme. Gemeint ist allerdings, daß die Funktionen der Variation, der Selektion und der Restabilisierung durch das evoluierende System nicht koordiniert, nicht aufeinander abgestimmt werden können; denn das würde ja heißen, daß von vornherein nur so viel variiert wird, wie als Beitrag zur »Systemerhaltung« seligiert werden kann. Verzicht auf diese Art zweckmäßiger Koordination besagt, daß es vom System aus gesehen Zufall ist, wenn Variationen zu positiven bzw. negativen Selektionen führen, und daß es weiterhin Zufall ist, ob und wie diese Selektionen, die sich eigener Kriterien bedienen, im System stabilisiert werden können. Mit »Zufall« ist dann auch gesagt, daß das evoluierende System an diesen inneren Grenzen unkontrolliert umweltempfindlich ist. Hier können zufällig vorhandene, eventuell vorübergehende Umweltbedingungen einwirken, und auf diese Weise kann das System, ohne dies zu planen, Gelegenheiten nutzen, um Strukturänderungen kommunikativ plausibel durchführen zu können, die in anderen historischen Situationen unmöglich wären. So gibt die Einführung von Schrift der schon bestehenden Differenz von kompetenten und inkompetenten Rollen im Umgang mit heiligen Dingen neue Möglichkeiten und neue Probleme auf - etwa die der Festigung einer für heilig gehaltenen Tradition. So mag es für die Entwicklung des talmudischen Judentums und dessen Umgang mit Problemen der Interpretation der heiligen Texte einen Unterschied gemacht haben, daß die politische Einheit des jüdischen Volkes zerstört worden war, also auch keine diskriminierende politische Unterstützung und Stabilisierung theologischer Kontroversen erwartet werden konnte wie im Falle des Islam und des Christentums. So produziert die regionale und politische Segmentierung Europas (also das Scheitern der Reichsidee am Widerstand der Kirche im 11./12. Jahrhundert) eine Fülle von differentiellen Fortschritten in einzelnen Regionen, die dann wie Experimente mit Fortschritt wirken, mit denen oder gegen die andere Regionen ihren Weg in Richtung funktionale Differenzierung bestimmen können. So gibt es in Frankreich schon sehr früh einen Nationalstaat (nach spanischem Vorbild; HB), aber eine kunsttheoretische Literatur entsteht erst nach der Einrichtung der Academie Royale de Peinture et Sculpture (1648) - und beides, die Literatur und die Akademie, nach italienischem Vorbild, Diese Überlegungen sprengen auch die klassische Theorienunterscheidung von endogen bzw. exogen induzierter Evolution, die sich systemtheoretisch ohnehin nicht halten läßt, Sie muß ersetzt werden durch eine komplexere Theorie, nämlich durch die Hypothese, daß ein evoluierendes System bei Differenzierung der evolutionären Funktionen mehr Außeneinflüsse aufnehmen, mehr auf historische Lagen reagieren und deshalb schneller (aber immer: rein intern) evoluieren wird.“ (Ebd., S. 501-502.)

„Wenn es zutrifft, daß Evolution durch ein Auseinanderziehen ihrer Funktionen (durch Realisation ihrer Form) zustande kommt, kann man daraus schließen, daß der betriebsnotwendige Zufall, wenn man so sagen darf, im Laufe der Evolution einen höheren Organisationsgrad erhält. Es wird immer wahrscheinlicher, daß das Unwahrscheinliche, der Zufall, eintritt, weil die hochkomplexen Strukturen evoluierter Systeme mehr Möglichkeiten des Abweichens und auch mehr Möglichkeiten des Verkraftens von Abwelchungen bleten. Daraus folgt dann, daß die Evolution im Laufe der Evolution schneller zu laufen beginnt. Dies kann natürlich nicht heißen, daß im Laufe der Evolution sich alle Systeme oder alle Systemarten immer rascher zu ändern beginnen. Schon die Eidechsen würden protestieren. Es kann also nur darum gehen, daß es bei fortgeschrittener Evolution auch morphogenetische Transformationen gibt, die rascher ablaufen und zugleich Formen erzeugen, die ein hoheres Änderungstempo in der Umwelt und im System selbst durchhalten können.“ (Ebd., S. 503.)

„Mindestens an dieser Stelle ist die Evolutionstheorie auf einen engen Forschungsverbund mit Systemtheorie angewiesen. Die Systemtheorie würde sagen: je größer die (durch Evolution erreichte) Systemkomplexität, desto wahrscheinlicher sind Innovationen. Die Notwendigkeit der Form Variation/Selektion/Restabilisierung korrespondiert mit der Notwendigkeit der Form System/Umwelt. Beide Notwendigkeiten plazieren den Zufall in der Weise, daß die Bestimmtheit der Variation nichts für die Bestimmtheit der Selektion und die Bestimmtheit der Umwelt nichts für die Bestimmtheit des Systems besagt. Evoluierende Systeme sind, mit anderen Worten, strukturdeterminierte Systeme und in höheren Organisationsformen dann Systeme, die eine interne Repräsentation für extern induzierte Zufälle einrichten können. Wir hatten von »Irritation« gesprochen. Dem höheren Tempo der Evolution entsprechen also nicht etwa mehr und mehr Überlappungen, Verquickungen, Entdifferenzierungen an den Systemgrenzen, sondern im Gegenteil: operative Geschlossenheit und Selbstorganisation bei steigender Irritierbarkeit.“ (Ebd., S. 503-504.)

„Will man das Ergebnis von Evolution im allgemeinen beschreiben, genügen Formulierungen wie: Ermöglichung höherer Komplexität. Damit ist jedoch nur eine nahezu unbrauchbare Pauschalformel gefunden. Man muß daher genauer erkunden, was denn und wie es höhere Komplexität ermöglicht. Damit verschiebt sich die Problemstellung von einer Ebene, auf der das System als Einheit beschrieben wird (es »ist« komplex), auf die Ebene der Systemstrukturen. Auch auf dieser Ebene braucht man einen Begriff, der ein Resultat von Evolution bezeichnen kann, einen Begriff für ein strukturelles Arrangement mit deutlicher Überlegenheit über funktionale Äquivalente. Man denke an das Auge oder an Geld, an bewegliche Daumen oder an Telekommunikation. Konsolidierte Gewinne dieser Art, die besser als andere mit komplexen Verhältnissen kompatibel sind, wollen wir evolutionäre Errungenschaften nennen.“ (Ebd., S. 505-506.)

„So reduziert ein Straßennetz die Bewegungsmöglichkeiten, um leichtere und schnellere Bewegung zu ermöglichen und damit die Bewegungschancen zu vergrößern, aus denen man konkret auswählen kann. Steigerung durch Reduktion von Komplexität: evolutionäre Errungenschaften wählen Reduktionen so, daß sie mit höherer Komplexität kompatibel sind, ja sie oft erst (und oft erst sehr allmählich) ermöglichen.“ (Ebd., S. 507.)

„Für keine der evolutionären Errungenschaften, nicht einmal für das Entstehen von Landwirtschaft, gibt es eindeutige Ursachen. Es können ganz verschiedene Ausgangslagen sein, die »äquifinal« wirken und das Finden der Form begünstigen. Das setzt voraus, daß es in der Evolution nur begrenzte Möglichkeiten gibt, Komplexitätsgewinne zu realisieren. Das liegt offenbar an der eigentümlichen Kombination von Verzicht und Gewinn, von Reduktion von Komplexität zum Aufbau von Komplexität. Das gibt der Evolution eine Richtung im Sinne zunehmender Komplexität, während gleichzeitig Gesellschaften sehr wohl überleben können (also nicht an ungelösten Problemen scheitern), die bestimmte evolutionäre Errungenschaften nicht kennen.“ (Ebd., S. 507-508.)

„Evolutionäre Errungenschaften entstehen also nicht, weil sie sich zur Lösung bestimmter Probleme eignen. Vielmehr entstehen die Probleme mit den Errungenschaften.“ (Ebd., S. 508.)

„Evolutionäre Errungenschaften tendieren dazu, Resultate der Evolution zu zementieren. Man wird sie nicht wieder los.“ (Ebd., S. 510.)

„Die für die Anpassung der Haushaltsökonomie an städtische oder auch territoriale Politik so wichtigen Gilden und Zünfte sind als religiöse Bruderschaften entstanden und haben erst später jene Vermittlungsfunktion übernommen.“ (Ebd., S. 512.)

„Wenn also evolutionäre Errungenschaften in diese fundamentalen Strukturen, sei es der Verbreitungsmedien der Kommunikation, sei es der Systemdifferenzierung, eingreifen und den Übergang von der einen zu einer anderen ermöglichen, entsteht für den Beobachter der Eindruck bestimmter Gesellschaftsformationen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Mit sehr groben Vereinfachungen kann er dann schriftlose und literarische Kulturen unterscheiden oder deutlich stratifizierte Gesellschaften von segemntären Gesellschaften oder von der modernen Gesellschaft, die auf einer operativen Schließung von Funktionssystemen beruht. Da es aber zwei Bereiche solcher Unterscheidungen gibt, Kommunikationsmedien und Differenzierungsformen, kommt auch dann keine eindeutige Epochenabgrenzung zustande. Man kann sagen, die moderne Gesellschaft (des Abendlandes! HB) beginne im 15. Jahrhundert mit dem Übergang von den spätmittelalterlichen durchorganisierten Großwerkstätten der Manuskriptproduktion zu einer Anfertigung von Texten mit Hilfe der Gutenbergschen Druckpresse. Oder man kann sagen, die moderne Gesellschaft (des Abendlandes! HB) beginne im 18. Jahrhundert mit der Beobachtung des Zusammenbruchs der Stratifikation und der Neuformierung operativ geschlossener Funktionssysteme. (Diese Beschreibungen treffen zu auf die abendländische »Gesellschaft« [Kultur], aber nicht auf den Rest der »Weltgesellschaft« bzw. nur insofern, als er von der abendländischen Kultur zwar kolonialisiert, aber nicht bzw. nur teilweise »verabendländisiert« und also [in dem hier gebrauchten Sinne des Wortes] modernisiert worden ist. Darum ist es zweifelhaft, ob es die »eine Gesellschaft« als die »Weltgesellschaft« wirklich gibt. HB.) Der Sachverhalt gibt keine eindeutigeren Zäsuren her. Wenn man wissen will, wie die moderne Gesellschaft sich selber historisch abgrenzt, muß man sie deshalb von einer Ebene zweiter Ordnung aus beobachten. Man muß beschreiben, wie sich selbst beschreibt.“ (Ebd., S. 516.)

„Technik. .... Technik als Organersatz (Gehlen im Anschluß an Kapp). .... Technik als etwas »Artifizielles« verstanden. (Das gilt auch und erst recht [aber keineswegs nur] für die neuzeitliche Tradition - und erspart dann weitgehend die Suche nach einer theoretisch ausgearbeiteten Begrifflichkeit. »Im Zentrum [der zeitgenössischen Literatur über Technik; NL] steht ... der Begriff des Artefakts, der [das? NL] als Werkzeug, Maschine oder Automat Mittel zur Erreichung nichttechnischer Ziele ist«, liest man bei Wolfgang Krohn, a.a.O..)“ (Ebd., S. 519.)

„Damit korrespondiert eine seit dem Spätmittelalter zunehmende Umstellung von Was-Fragen auf Wie-Fragen, die durch Gutenbergs Buchdruck, selbst eine als Technik gefeierte Errungenschaft, universell verbreitet wird. .... Durchweg begünstigt die techiknahe Semantik des Vorstellens und Herstellens (Heidegger) die Annahme eines außerhalb stehenden Subjekts, das die technischen Möglichkeiten von außen nutzt, ohne selbst nach Art einer Technostruktur zu fungieren.“ (Ebd., S. 520.)

„Die maßgebende Unterscheidung, die die Form »Technik« bestimmt, ist nun die zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Sachverhalten. Extrem abstrakt formuliert, geht es also um gelingende Reduktion von Komplexität.“ (Ebd., S. 525.)

„Wir beobachten also eine Neuformulierung des alten Problems der Beziehung von Natur und Technik, und der Vorteil (wie wohl auch das Motiv) dieser Neufassung ist: die Probleme der technischen Intervention in natürliche Systeme bzw. Systemzusammenhänge zu beleuchten. Überspitzt formuliert, legt dies die Vermutung nahe, daß die Vermehrung des Wissens über die Natur nur noch zur Vermehrung des Nichtwissens über die Auswirkungen technischer Intervention führen kann; und das gilt explizit auch für die Auswirkungen der modernen Medizin.“ (Ebd., S. 525-526.)

„Diese Abhängigkeit von Technik hat zur Folge, daß die strukturelle Kopplung von physikalischer Welt und Gesellschaft nicht mehr mit dem Begriff der Natur erfaßt werden kann, so als ob es eine in der Natur fundierte analogia entis gäbe. An die Stelle des Naturbegriffs treten in diesem Zusammenhang die Doppelbegriffe Energie/Arbeit und Energie/Ökonomie. Die Technik konsumiert Energie und leistet Arbeit und verbindet auf diese Weise die phyikalischen Gegebenheiten mit der Gesellschaft. Wie immer, so dient auch diese struktuerelle Kopplung der Kanalisierung von Irritationen. Die Technik selbst definiert und verändert die Grenzen der Umwandlung von Energie in Arbeit. Die Risiken, auf die man sich dabei einlassen muß, nehmen zu, und die Zukunft hängt von Techniken ab, die derzeit noch nicht zur Verfügung stehen.“ (Ebd., S. 532-533.)

„Politisch gesehen gibt es völlig neue Droh- und Sanktionspotentiale, die darin bestehen, daß Regionen von den Vorteilen technischer Versorgung abgeschnitten oder umgekehrt: die Mitwirkung an ökologisch kontrollierten oder weniger riskanten Technikentwicklungen verweigern.“ (Ebd., S. 534-535.)

„Es ist ... nicht zu verkennen, daß die Wurzeln des Problems in der Zeitdimension und speziell in unterschiedlichen Formen der Vergegenwärtigung von Zukunftsgewißheit liegen.“ (Ebd., S. 535.)

„Die Abspaltung einer besonderen Ideenevolution geht, ungeachtet der konkreten historischen Bedingungen ihrer Ermöglichung, letztlich auf den Unterschied zwischen Operation und Beobachtung zurück.“ (Ebd., S. 537.)

„Die Schrift selbst stellt so neuartige Anforderungen an die Explikation des (allein aus dem Text heraus zu verstehenden) Gedankenguts, daß sie neue Wörter, neue Begriffe, Ideen über Ideen (also »Philosophie«) absondert. “ (Ebd., S. 541.)

„Um 1600 beginnt das Wort »System« seine Karriere - zunächst als Buchtitel und zur Ankündigung der Absicht, ein Buch mit einer ordentlichen Stoffgliederung zu verfassen. (Siehe vor allem die Traktate zu verschiedenen Sachgebieten von Bartholomäus Keckermann, a.a.O.).“ (Ebd., S. 541.)

„Man kann im Gedruckten latente Potentialitäten für andere Meinungen entdecken und aktualisieren.“ (Ebd., S. 544.)

„Diese Andeutungen haben hier vor allem den Zweck, erneut (vgl. etwas ausführlicher: Kapitel 2, V [S. 249-290] und VI [S. 291-302]), auf die Bedeutung der Zäsuren hinzuweisen, die in der Einführung der Schrift und der Druckpresse liegen. Für eine Theorie der Ideenevolution (im Unterschied zu detaillierten Untersuchungen zu ideengeschichtlichen Fragen) haben sie deshalb Bedeutung, weil sie die Trennbarkeit der evolutionären Funktionen und damit die Bedingungen der Möglichkeit einer eigenständigen Ideenevolution betreffen. Dann bleibt aber noch zu klären, ob eine solche Trennung von Variation, Selektion und Restabilisierung speziell für Ideenevolution überhaupt realisiert werden kann und welche Formen die einzelnen evolutionären Mechansimen in diesem Fall annehmen. - Die Variation findet ihren Ansatzpunkt in der schriftlichen Fixierung des Materials und in den Freiheiten, die man darin findet, daß man weder beim Schreiben noch beim Lesen der dichten Überwachung durch ein Interaktionssystem ausgesetzt ist. .... - Zu beachten ist ferner, daß sich bei schriftlicher Kommunikation die bedingungen für die strukturelle Kopplung von Bewußtseinsvorgängen und Kommunikationsvorgängen verändern. Da die Umwelt nur über Bewußtsein Kommunikation irritieren kann, kommt einer solchen Veränderung erhebliche Bedeutung zu. Sie wirkt selektiv, denn die meisten Bewußtseinssysteme schalten sich beim Schreiben und Lesen von selber ab. Sie wissen nicht weiter, sie ermüden, sie hören auf. Übrig bleiben auch hier Spezialisten, die das Umsetzen von Texten in Texte gekonnt betreiben, gleichsam als Annex des Kommunikationsprozesses, aber Mühe haben und inhaltliche wie stilistische Anstrengungen unternehmen müssen, um noch als Individuen erkennbar zu sein. (Gute Testmöglichkeiten bieten die Teilnahme an dem anonymisierten Gutachtersystem moderner Zeitschriftenredaktionen. Gelegentlich, aber selten, kann ein Gutachter erraten, von wem der zugesandte Beitrag stammt. Und fast immer sind es Zufallskenntnisse, die dazu verhelfen.) .... - Der Prozeß gegen Galilei, das Erdbeben von Lisabon, das für Voltaire ein willkommener Anlaß war, die Frage der Tgheodizee aufzugreifen, oder die Anlässe des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges - ein Sichabstützen auf im Moment einsichtige Sachverhalte genügt der Selektion. Sie kann auf dieser Grundlage dann allerdings nicht zugleich die Funktion der Restabilisierung mitübernehmen.“ (Ebd., S. 544-549.)

„Immerhin steigert der der Buchdruck die Komplexität des Möglichen so rasch und so weitreichend, daß Innovationen ihre Plausibilitäten ihrerseits seligieren können.“ (Ebd., S. 541.)

„Am Ende des 18. Jahrhunderts scheint auch die bisherige Form der Ideeneveolution mit schriftbezogener Varianz, plausibler oder evidenter Selektion und normativer bzw. dogmatisch-unbezweiflter Stabilität ihre Ende erreicht zu haben.“ (Ebd., S. 553.)

„Deutlich ist außerdem zu erkennen, daß die jetzt (seit Ende des 18. Jahrhunderts; HB) plausiblen Ideen und Begriffe mit mehr Unordnung in der Umwelt des Gesellschaftssystems und in den gesellschaftsinternen Umwelten der Funktionssysteme des Gesellschaftssystems zurechtkommen müssen. Auf der Suche nach Festem und Notwendigem werden immer neue Kontingenzen aufgedeckt bis hin zur Kontingenz der Naturgesetze selbst. .... Refernzprobleme und Codeprobleme, also die Unterscheidungen Selbstreferenz/Fremdreferenz, ... wahr/unwahr, gut/schlecht, Recht/Unrecht, lassen sich nicht mehr in Übereinstimmung bringen - offensichtlich geworden am Scheitern des logischen Positivismus und dann auch der analytischen Philosophie mit Veruschen, die Begriffsgruppen Referenz, Sinn und Wahrheit zu integrieren.“ (Ebd., S. 554.)

„Die eigene Codierung und Programmierung von Funktionssystemen ist Resultat und zugleich Bedingung ihrer Evolution.“ (Ebd., S. 565.)

„In dem Maße, in dem Teilsystemevolutionen auf der Basis besonderer Funktionen und Codierungen in Gang gekommen sind und dann innerhalb dieser Systeme für evolutionäre Strukturveränderungen sorgen, die im Verhältnis der Systeme zueinander nicht mekr koordiniert sind, verändern sich die Bedingungen, auf die die Evolution des Gesellsxchaftssystems reagiert. Daß die gesellschaftliche Evolution mehr und mehr zum Resultat von Teilsystemevolutionen wird, muß erhebliche Auswirkungen haben. Es bedeutet sicher nicht, daß man nicht mehr von gesellschaftlicher Evolution sprechen könnte, denn die Teilsysteme vollziehen ja selbst die (abweichende) Reproduktion der Gesellschaft. Auch geht es, in der Systemreferenz Gesellschaft gesehen, nach wie vor um Sprache, um symbolisch generalisierte Medien und um das Verhältnis von System und Umwelt. Was man beobachten kann, sind jedoch Veränderungen in der semantischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft (vgl. 5. Kapitel [866-1149].).“ (Ebd., S. 567.)

„Die Evolutionstheorie beschreibt Systeme, die sich in vielen einzelnen Operationen von Moment zu Moment reproduzieren und dabei Strukturen benutzen oder nicht benutzen, ändern oder nicht ändern. Das alles geschieht in einer Gegenwart und in einer gleichzeitig (und insofern unbeeinflußbar) vorhandenen Welt. Ein solches System braucht für seine operative Reproduktion zunächst keine Geschichte. (Aber auch Eveolution bezieht sich auf Zeit, auf Veränderungen, auf Vergangenheit - wie Geschichte! HB) Ich, der ich beim Schreiben dieses Buches an dieser Stelle angelangt bin, brauche nur den nächsten Satz zu finden. Hier ist er.“ (Ebd., S. 569.)

„Entsprechend kann die Theorie gesellschaftlicher Evolution keine Theorie sein, die es sich vornimmt, den Verlauf der Geschichte oder auch nur bestimmte Ereignisse kausal zu erklären. (Kausalität ist aber nicht der einzige Aspekt in der Geschichtswissenschaft; u.a. gehört auch der Aspekt der reinen Beschreibung zu ihren zentralen Aufgaben. HB.) Die Zielvorstellung ist nur, ein theoretisches Schema für historische Untersuchungen bereitzustellen, das unter günstigen Umständen zur Einschränkungen der möglicherweise kausal relevante Ursachen führen kann. Doch Hypothesen für solche Übergänge müßten im Hinblick auf bestimmte historische Sachlagen erts noch entwickelt werden. Sie können weder aus der Evolutionstheorie abgeleitet werden noch, entsprechend generalisiert, die Evolutionstheorie »verifizieren«. Das Unterscheidungsschema der Evolutionstheorie Variation-Selektion-Restabilisierung ist ja zirkulär konstruiert. (In der Geschichte ist auch vieles zirkulär! HB.) Alle historischen Analysen müssen jedoch von bstimmten Situationen ausgehen und für Zwecke einer evolutionstheoretischen Erklärung Herausarbeiten, wie in diesen Situationen Gelegenheiten und Beschränkungen ineinandergreifen. (Wie gesagt: In der Geschichte ist auch vieles zirkulär! HB.)“ (Ebd., S. 570.)

„In der historischen und der sozialwissenschaftlichen Literatur, die sich mit dem Sonderweg Europas seit dem Mittelalter, also mit der Entstehung der modernen Gesellschaft befaßt, liegen Faktortheorien im Streit, die sich auf die Auszeichnung entweder der Religion oder der Wirtschaft oder der politischen Staatsbildung oder des Rechts konzentrieren. Offenbar setzt sich im Rückblick auf das Mittelalter das Schema der Differenzierung von Funktionssystemen durch. Wenn ein Primärfaktor behauptet wird, wird die Referenz anderer anerkannt und ihm zugeordnet. Wallerstein etwa berücksichtigt die Segementierung der europäischen Staatenwelt als Folge der internationalen Arbeitsteilung der Wirtschaft. (Vgl. Immanuel Wallerstein, a.a.O..) Weber leitet den Primat religiöser Orientierung aus einem Legitimationsbeadrf freigesetzter ökonomischer Motive ab. (Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, a.a.O., S. 1-14.) Neuere Autoren geben der Politik den Primat zurück und sehen den entscheidenden Faktor in der Verhinderung einer Reichsbildung und in der segmentären, territorialstaatlichen Ordnung politischer Gewaltkontrolle. Mit ebenso guten (»guten«? HB) Gründen wird auch die frühe Ausdifferenzierung einer systematisierten Rechtskultur als spezifisch europäische Eigenart mit Abweichung erzeugender Wirkung genannt. (Die Kultur sollte - wie insbesondere früher - als Primärfaktor gelten! Unter den hier genanten vier »Faktoren« gilt dann der politische Faktor als der bedeutendste innerhalb des Primärfaktors Kultur. HB.) Solange solche Primat-Theorien aufgestellt werden, wird es diese Kontroversen geben. Methodisch ist dazu zu bemerken, daß sich viele gute (»gute«? HB) Argumente, aber eben nicht die Hypothese eines besonders wichtigen Faktors, aus den Quellen entnehmen lassen. (Doch; nämlich die Kultur. HB.) Und theoretisch wäre die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, den Übergang zu funktionaler Differenzierung (wenn es denn darum geht) auf den wie immer historisch relativen Vorrang eines der Funktionssysteme zurückzuführen.“ (Ebd., S. 571-572.)

„Eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution verzichtet auf kausale Erklärungen (oder beschränkt sie auf Kleinstausschnitte der gesamtgesellschaftlichen Evolution). Sie ersetzt das Kausalschema durch die Annahmen zirkulärer evolutionärer Bedingungen. (Das tun bestimmte Geschichtstheorien aber auch. Wie gesagt: In der Geschichte ist auch vieles zirkulär! HB.) In jeder historischen Situation ist die Gesellschaft sich selbst als nicht-triviale, als historische Maschine gegeben. die Variation, Selektion und Restabilisierung nach dem im Moment gegebenen Sachstand einsetzt. Es kommt nur darauf an, daß diese evolutionären Mechanismen getrennt werden können, und das erfordert eine Mindestkomplexität des Systems. Im Ergebnis entsteht dadurch ein Trend zur Abweichungsverstärkung, in dem, um bei unseren Beispielen zu bleiben, die frühen territorialstaatlichen Organisationen (etwa die normannischen Staaten von England und Sizilien oder die Republiken Italiens) von Rechtsinstrumenten Gebrauch machen können, die zugleich von der Kirche im Kampf gegen die theokratischen Ambitionen der deutschen Reichskaiser benutzt werden und die ihre wesentliche Anregung dem Zufallsfund der römischen Texte und ihrer Glossierung für Lehrzwecke verdanken. Die Entwicklung der Geldwirtschaft (etwa des Kreditwesens) benutzt dieselben Instrumente, die aber zugleich im Zuge der ersten Geldinflation in England (um 1200) den Eigentumsbegriff von feudalrechtlichen Grundlagen ablösen. Viel hängt dabei von einer nicht nur in den Städten funktionierenden, territorialstaatlichen Gerichtsbarkeit ab (was zum Beispiel durch Landbesitz gesicherte Kredite angeht) und damit von der Konsolidierung politischer Kontrolle über ein Territorium, die ihrerseits aber nicht weiträumig wirkt, um auch den Handel regulieren zu können. Typisch für diese Frühform funktionaler Differenzierung scheint daher zu sein, daß sich evolutionäre Errungenschaften sehr spezifischer Art im Attraktionsbereich einzelner Funktionen entwickeln und auf andere Evolutionsmöglichkeiten wie Zufälle wirken, die in der geschichtlichen Situation genutzt werden können.“ (Ebd., S. 572-573.)

„In jedem Falle benötigt ein System, das historische Ursachen für seinen gegenwärtigen Zustand feststellen oder sich im Unterschied zu früheren Zuständen als verschieden, zum Beispiel als »modern«, charakterisieren will, ein Gedächtnis, um die Unterscheidungen prozessieren zu können. Aber: was ist ein Gedächtnis? - Von Gedächtnis soll hier nicht im Sinne einer möglichen Rückkehr in die Vergangenheit, aber auch nicht im Sinne eines Speichers von Daten oder Informationen die Rede sein, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann. Vielmehr geht es um eine gegenwärtig benutzte Funktion, die alle anlaufenden Operationen testet im Hinblick auf Konsistenz mit dem, was das System als Realität konstruiert. In unserem Themenbereich handelt es sich bei diesen Operationen um Kommunikationen; also nicht um neurobiologische Veränderungen von Gehirnzuständen und auch nicht um das, was ein einzelnes Bewußtsein sich bewußt macht. Die Funktion des Gedächtnisses besteht deshalb darin, die Grenzen möglicher Konsistenzprüfungen zu gewährleisten und zugleich die Informationsverarbeitungskapazitäten wieder frei zu machen, um das System für neue Irritationen zu öffnen. Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt also im Vergessen, im Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen.“ (Ebd., S. 578-579.)

„Nur ausnahmsweise wird also das Vergessen inhibiert. Und wiederum ausnahmsweise werden Erinnerungen mit Zeitindex versehen, wodurch verhindert wird, daß zu viel heterogenes Material als beständige Eigenschaft von Objekten zu viel Inkonsistenzen erzeugt. Nur ausnahmsweise werden die Eigenwerte des Systems über Zeitmarkierungen wie vergangen/zukünftig oder sogar über datierungen so aufgelöst, daß temporäre Objekte, zeitbegrenzte Objekte, zeitbegrenzte Einheiten, Episoden usw. entstehen, deren gegenwärtige Relevanz dann nochmals gefiltert werden kann. “ (Ebd., S. 580.)

„Gegenwart ist aber nichts anderes als die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Sie ist keine iegenständige Zeitetappe, sondern nimmt nur soviel Operationszeit in Anspruch, wie benötigt wird, um Unterschiede in den Zeithorizonten der Vergangenheit und der Zukunft (in welcher sachlichen Hinsicht auch immer) zu beobachten. Wenn das Gedächtnis seine Funktion nur im aktuellen Operieren, also nur in der Gegenwart ausüben kann, so heißt dies: daß es mit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft zu tun hat; daß es diesen Unterschied verwaltet - und nicht etwa einseitig vergangenheitsbezogen operiert. Man kann daher auch sagen: das Gedächtnis kontrolliert den Widerstand der Operationen des Systems gegen die Operationen des Systems. Es hält mit seinen Konsistenzprüfungen das fest, was dem System nach Bearbeitung dieses inneren, selbstorganisierten Widerstandes als »Realität« (im Sinne von »res«) erscheint. Und das wiederum heißt: es kontrolliert, von welcher Realität aus das System in die Zukunft blickt.“ (Ebd., S. 581.)

„Kann man sich das etwas genauer vorstellen? - Wir gehen einen Schritt weiter mit der These, daß die Transferfunktion des Gedächtnisses sich auf Unterscheidungen bezieht: oder genauer: auf Bezeichnungen von etwas im Unterschied zu anderem. Das Gedächtnis oiperiert dann mit dem, was erfolgreich bezeichnet worden ist, und tendiert dazu, die andere Seite der Unterscheidung zu vergessen. Es kann zwar auch Unterscheidungen als Form markieren, etwa die Unterscheidung von gut und böse; aber dann tendiert es dazu, zu vergessen, wovon diese Unterscheidung unterschieden worden war. Diese Eigenart des Diskriminierens im Schema Vergessen/Erinnern ist nicht zuletzt sprachlich bedingt und insofern eine Besonderheit sozialer systeme. Durch die Subjekt/Prädikat-Struktur unserer Sprache ist zwar nicht ausgeschlossen, aber mit erheblichen Umständlichkeiten belastet, wenn man bei allen Komponenten eines satzes immer miterwähnen wollte, wovon sie unterschieden werden.“ (Ebd., S. 581-582.)

„Das soziale Gedächtnis ist keinesfalls das, was Kommunikationen als Spuren im individuellen Bewußtseinssystemen hinterlassen. Sondern es geht um eine Eigenleistung kommunikativer Operationen, um ihre eigene, unentbehrliche Rekursivität.“ (Ebd., S. 583-584.)

„Das soziale Gedächtnis würde zwar nicht funktionieren, gäbe es keine Bewußtseinssysteme mit Gedächtnis (soe wie Bewußtseinssysteme ihrerseits aufneurophysiologisch reproduzierte Gedächtnisleistungen angewiesen sind); aber es baut nicht auf die Gedächtnisleistungen der Bewußtseinssysteme auf, denn diese sind viel zu verschieden und in der Kommunikation nicht auf einen Nenner zu bringen. Man darf zwar annehmen, daß der variationsspielarum der Evolution beschränkt ist, wenn Individuen über ein stark ausgeprägtes Kollektivgedächtnis verfügen und die Kommunikation hinreichend ähnliche Erinnerungen bei allen Teilnehmern voraussetzen kann. Aber das erklärt gerade nicht, wie evolutionäre Variation überhaupt möglich ist und wie soziale Kommunikation Erinnerung (Vergangenheit) und Oszillatiob (Zukunft) trennt.“ (Ebd., S. 584.)

„Das soziale Gedächtnis als Kultur .... - Kultur ... ist ... das Gedächtnis der Gesellschaft, also der Filter von Vergessen/Erinnern und die Inanspruchnahmde von Vergangenheit zur Bestimmung des Variationsrahmens der Zukunft.“ (Ebd., S. 587-588.)

„Gesellschaft ... als Differenz.“ (Ebd., S. 591.)

„Die auf Vergleiche bezogene, aus Vergleichen entwickelte Unterscheidungstechnik der Kultur hat erhebliche Konsequenzen für die Art und Weise, in der die Gesellschaft auf ihre eigene Evolution reagiert.“ (Ebd., S. 591.)

„Kulturvergleiche inhibieren in einem zuvor unbekannten Umfange das Vergessen. Es werden nicht mehr nur Wahrheiten dem Sog des Vergessens entrissen, sondern - man kann fast sagen: alles Mögliche. Mehr als zuvor wird als gleich erkennbar, aber das gibt jeztzt kaum noch Orientierungsgewißheit. Damit verliert das Gedächtnis die Funktion, Anhaltspunkte zu bieten. Es verliert die Funktion der Konsistenzprüfung in den laufenden Operationen (Kommunikationen) der Gesellschaft. Diese Aufgabe muß den Spezialgedächtnissen der Funktionssysteme überlassen bleiben, die untereinander nicht mehr integriert werden können. Damit bleibt auch die gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion unbestimmt (vgl. Kapitel 5, IX ff. [S. 958 ff.]). Sie wird, wie wir noch sehen werden, ihrerseits einem Funktionssystem, dem System der Massenmedien übertragen. Was jetzt als Gesamtformel für Realitätskonstruktionen angeboten werden kann, ist: daß es eine solche Gesamtformel nicht mehr gibt. Hegel hatte, wie man weiß, keine Erben.“ (Ebd., S. 591-592.)

„Das besagt nun aber keineswegs, daß jeder Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft abreißt: denn das müßte ja auch heißen, das beide Zeithorizonte nicht mehr unterschieden werden können, da sie wechselseitig füreinander »unmarked states« wären. So etwas scheint die Legende vom »Ende der Geschichte« (**|**|**|**) vorzuschweben; aber es steht im krassen Widerspruch zu dem, was die Gesellschaft alltäglich in ihren Kommunikationen voraussetzt und reproduziert. An diesem Punkte könnte die vorstehend skizzierte Theorie des gesellschaftlichen Gedächtnisses weiterhelfen.“ (Ebd., S. 592.)

„Anscheinend operiert unsere Kultur so, daß sie in die Vergangenheit Unterscheidungen hineinliest, die dann Rahmen liefern, in denen Zukunft osziliieren kann. Die Unterscheidungen geben Formen an, die bestimmen, was von etwas Bestimmtem aus die »andere Möglichkeit« wäre. Die Konkretion der jeweils verwendeten Unterscheidungen bleibt variabel; aber um sie variieren zu können, muß man Unterscheidungen unterscheiden, sie als Formen markieren und sich damit denselben Bedingungen des Oszillierens innerhalb von implizit oder explizit vorausgesetzten Unterscheidungen überlassen. Es scheint keine verbindliche »primary destinction« mehr zu geben - weder die von Sein und Nichtsein, noch die der logischen Wahrheitswerte, weder die der Wissenschaft, noch die der Moral. (Vgl. Kapitel 5, IV-VIII [S. 893-958]). Aber das heißt nicht, daß es ohne Unterscheidungen ginge. Die Konsequenz ist nur, daß man genötigt ist, zu beobachten, wer welche Unterscheidungen verwendet, um seine Vergangenheit seiner Zukunft vorzugeben.“ (Ebd., S. 592-593.)

„Während wir annehmen, daß Evolution geschieht, wie sie geschieht, und dies in einer Weise, die die Kopplung von Vergangenheit und Zukunft in den Formen Variation/Selektion/Restabilisierung dem Zufall überläßt, ist das operative Gedächtnis des Systems gerade mit der Kopplung von Vergangenheit und Zukunft beschäftigt; aber dies so, daß es diese Zeithorizonte zunächst einmal unterscheiden muß, um sie koppeln zu können. Die Evolution kennt keine Anfänge.“ (Ebd., S. 592-593.)

 

Die Gesellschaft der Gesellschaft Differenzierung.

„Vom Teilsystem aus gesehen, ist der Rest des umfassenden Systems jetzt Umwelt. Das Gesamtsystem erscheint für das Teilsystem dann als Einheit der Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt. Die Systemdifferenzierung generiert, mit anderen Worten, systeminterne Umwelten. Es handelt sich also um ein »re-entry« (Wiedereintritt; HB) der Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie Unterschiedene, in das System. (Im Vorgriff auf spätere Analysen sei noch angemerkt, daß hier von Operationen die Rede ist, die System und Umwelt trennen. Soweit es um Beobachtungen geht, führt ein entsprechendes re-entry zur systeminternen Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz.)“ (Ebd., S. 597.)

„Systemdifferenzierung heißt gerade nicht, daß das ganze in Teile zerlegt wird und, auf dieser Ebene gesehen, dann nur noch aus den Teilen und den »Beziehungen« zwischen den Teilen besteht. Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das umfassende System, dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt. Durch Systemdifferenzierung multipliziert sich gewissermaßen das System in sich selbst durch immer neue Unterscheidungen von Systemen und Umwelten im System.“ (Ebd., S. 598.)

„Im Kontext von Systemdifferenzierung ist mithin jede Veränderung eine doppelte, ja eine vielfache Veränderung. Jede Änderung eines Teilsystems ist zugleich eine Änderung der Umwelt anderer Teilsysteme. Was immer passiert, passiert mehrfach - je nach Systemreferenz. So mag eine rasche Vermiderung des Bedarfs an Arbeitskräften in der Wirschaft aus konjunkturellen oder aus Konkurrenzgründen einen Rationalitäs- und Rentabilitätszuwachs bedeuten, zugleich aber im politischen System, in den betroffenen Familien, im Erziehungssystem der Schulen und Hochschulen oder auch als ein neues Forschungsthema der Wissenschaft (»Zukunft der Arbeit«) auf Grund einer Veränderung in der Umwelt dieser Systeme ganz andere Kausalreihen auslösen. Und dies, obwohl es für alle Systeme dasselbe Ereignis ist! Daraus resultiert eine enorme Dynamisierung, ein geradezu explosiver Reaktionsdruck, gegen den die einzelnen Teilsysteme sich nur durch ein Hochmauern von Schwellen der Indifferenz schützen können. Differenzierung bewirkt deshalb zwangsläufig: Zunahme von Abhängigkeiten und von Unabhängigkeiten zugleich unter Spezifikation und systemeigener Kontrolle der Hinsichten, in denen man abhängig bzw. unabhängig ist. Und als Resultat formieren die Teilsysteme sich schließlich als operativ geschlossene autopoietisches Systeme.“ (Ebd., S. 599-600.)

„Nur mit der Unterscheidung von System und Umwelt erfaßt das System die Welteinheit bzw. die Einheit des umfassenden Systems, und zwar mit einer jeweils selbstbezüglichen Unterscheidung. Mit System-zu-System-Beziehungen (zum Beispiel solchen von Familie und Schule) erfaßt es nur Welt- bzw. Gesellschaftsausschnitte. Gerade diese Ausschnitthaftigkeit ermöglicht es dann aber, das jeweils andere System als System-in-einer-eigenen-Umwelt zu beobachten udn damit die Welt bzw. die Gesellschaft aus der Perspektive des Beobachtens von Beobachtungen (Beobachtungen zweiter Ordnung) zu rekonstruieren. In der Umwelt der anderen systeme kommt dann auch dasjenige System, das sie beobachtet, wieder vor. Das Gesamtsystem, das diese Perspektive eröffnet, erpreßt sich damit gleichsam selbst zur Selbstrefexion.“ (Ebd., S. 600-601.)

„Im Unterschied zum Gesellschaftssystem gibt es für dessen Teilsysteme ja zwei Umwelten: die gesellschaftsexterne und die gesellschaftsinterne.“ (Ebd., S. 604.)

„Das Problem des Konflikts ist die zu strake Integration der Teilsysteme, die immer mehr Ressourcen für den Streit mobilisieren und sonstiger Verfügung entziehen müssen, und das Problem einer komplexen Gesellschaft ist es dann, für hinreichen Desintegration zu sorgen.“ (Ebd., S. 604.)

„Wie bereits mehrfach betont, kann das Gesellschaftssystem Kommunikationen nur als systeminterne Operationen verwenden, also nicht mit der gesellschaftsexternen Umwelt kommunizieren. Dies gilt aber nicht für die durch Differenzierung geprägten gesellschaftsinternen Verhältnisse. Es gibt also durchaus Kommunikationen, die systeminterne Systemgrenzen überschreiten. Daraus ergibt sich ein im Laufe der gesellschaftlichen Evolution zunehmender Bedarf für Organisation. Denn nur als Organisation, das heißt nur in der Form der Repräsentation seiner eigenen Einheit, kann ein System mit seiner Umwelt kommunizieren. Dieser Prozeß des Nahelegens von Organisationsbildung setzt sich unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme fort, etwa für Firmen, die ihre Produkte am Markt anbieten bzw. sich die dafür notwendigen Ressourcen am Markt beschaffen müssen; oder für alle möglichen gesellschaftlichen Gruppierungen, die, wenn der Staat einmal organisiert ist, ihm gegenüber spezifische Interessen zu vertreten suchen. Ähnlich wie im Verhältnis Gesellschaft/Interaktion gibt es also auch im Verhältnis Gesellschaft/Organisation einen langfristigen und schwer reversiblen Effekt der Evolution gesellschaftlicher Differenzierungsformen. (Vgl. Kapitel 4, XIV [S. 826-847].) Wir finden uns hier an der Stelle, an der die soziologische Klassik (Weber, Michels) »Bürokratie« als Bedingung moderner Gesellschaftsordnung analysiert hatte.“ (Ebd., S. 607-608.)

„Der geschichtliche Reichtum und die empirische Verschiedenartigkeit vormoderner Gesellschaften läßt jede Klassifikation und damit erst recht jeden Versuch einer Epochenbildung scheitern. Und doch gibt es unbestreitbar so etwas wie Typenunterschiede und ganz ohne Zweifel Entwicklungssequenzen, die auf vorherigen Errungenschaften aufbauen und in der modernen Gesellschaft - wie immer man das verstehen will - noch einmal überboten werden. Der Begriff der Systemdifferenzierung, den wir im vorigen Abschnitt (vgl. S. 595-608) vorgestellt haben, soll uns den Zugang zu diesem schwierigen Terrain erschließen. Deshalb haben wir den Struktur- und Perspektivenreichtum des Konzepts und seine Aufgeschlossenheit für evolutionäre Veränderungen besonders betont. Ergänzend benötigen wir für konkretere Analysen jetzt noch den Begriff der Formen der Differenzierung.“ (Ebd., S. 609.)

„Von »Form« sprechen wir auch hier in dem in Kapitel 1 (vgl. S. 16-189) eingeführten Sinne. Eine Form ist eine Unterscheidung, die zwei Bereiche trennt. Der Systembegriff selbst bezeichnet die Unterscheidung von System und Umwelt. Von Differenzierungsform wollen wir sprechen, wenn es darum geht, wie in einem Gesamtsystem das Verhältnis der Teilsysteme zueinander geordnet ist. Wir müssen also zunächst noch einmal System/Umwelt-Beziehungen und System-zu-System-Beziehungen unterscheiden. In System/Umwelt-Beziehungen stehen Systeme, also jeweils die Innenseite der Form »System«, einem »unmarked space« (Spencer Brown) gegenüber, der vom System aus nicht erreicht und nicht - es sei denn inhaltsleer - bezeichnet werden kann. Die Referenz auf »die Umwelt« trägt nichts zu den Systemoperationen bei. »Die Umwelt« gibt keine Information. Sie ist nur ein Leerkorrelat für Selbstreferenz. Geht es dagegen um System-zu-System-Beziehungen, tauchen in der Umwelt bezeichnungsfähige Einheiten auf. Auch hier kann das System seine eigenen Grenzen nicht operativ überschreiten (denn sonst müßte es in der Umwelt operieren), aber es kann beobachten, das heißt bezeichnen, welche spezifischen Sachverhalte in der Umwelt (hier: andere Systeme) für es in spezifischer Weise relevant sind. In der System/Umwelt-Beziehung operiert das System universalistisch, das heißt in der Form eines Schnitts durch die Welt. In System-zu-System-Beziehungen operiert es spezifisch, das heißt in bestimmten kontingenten Beobachtungsweisen.“ (Ebd., S. 609-610.)

„Der Begriff der Differenzierungsform bezieht sich auf den zuletzt genannten Fall. Er betrifft also nicht die Art und Weise, wie aus der Sicht eines Systems die Welt oder aus der Sicht eines Teilsystems das Gesamtsystem rekonstruiert wird. Er bezeichnet nicht diese, wenn man so sagen darf: Retotalisierung des Systems in sich selbst. Aber er betrifft einen sehr ähnlichen Sachverhalt (und eben deshalb ist Genauigkeit in den Unterscheidungen wichtig).“ (Ebd., S. 610.)

„Von Form der Systemdifferenzierung sprechen wir mithin, wenn von einem Teilsystem aus erkennbar ist, was ein anderes Teilsystem ist, und das Teilsystem sich durch diesen Unterschied bestimmt. Die Form der Differenzierung ist also nicht nur eine Einteilung des umfassenden Systems, sie ist vielmehr die Form, mit der Teilsysteme sich selbst als Teilsysteme beobachten können - als dieser oder jener Clan, als Adel, als Wirtschaftssystem der Gesellschaft. Und dabei vertritt die so geformte (unterschiedene) Differenz zugleich die Einheit des umfassenden Systems der Gesellschaft, das man dann nicht gesondert beobachten muß. Aber wie wird die andere Seite der Unterscheidung der Beliebigkeit, dem »alles, was es sonst noch gibt« entzogen? Wie kommt es zur Bestimmbarkeit anderer Teilsysteme durch eine Unterscheidung, die sich dann ihrerseits in die Welt des sonst noch Vorhandenen einkerbt? Adel und Volk oder Politik und Wirtschaft.“ (Ebd., S. 610.)

„Um zu erkennen, wie dies geschieht, bedarf es eines Rückgriffs auf das differenzierte Gesellschaftssystem, das die Einheit der Unterscheidung, die Teilsysteme trennt, garantiert und sich in dieser Strukturvorgabe selbst verwirklicht. Die Beziehungen zwischen den Teilsystemen haben eine Form, wenn das Gesamtsystem festlegt, wie sie geordnet sind. Aus der Theorie der Systemdifferenzierung läßt sich nicht ableiten, daß es eine solche Formfestlegung geben muß; und erst recht nicht, daß für diese Funktion jeweils nur eine einzige Form vorgesehen ist. Aber es kann sein und kommt, wie wir zeigen werden, ganz regelmäßig vor, daß solche Formen gefunden werden, um die Differenzierungsverhältnisse in einer für alle Teilsysteme gleichen Weise zu ordnen. Die Gesamtheit der internen System/Umwelt-Beziehungen, mit der die Gesellschaft sich selber multipliziert, wäre dafür viel zu komplex. Die Formbestimmung des Verhältnisses der Systeme zueinander ist dafür eine vereinfachte Fassung, die dann als Struktur des Gesamtsystems dient und auf diese Weise die Kommunikation orientiert.“ (Ebd., S. 610-611.)

„Ohne behaupten und begründen zu können, daß es in jedem Gesellschaftssystem eine dominante Differenzierungsform geben müsse, sehen wir darin doch die wichtigste Gesellschaftsstruktur, die, wenn sie sich durchsetzt, die Evolutionsmöglichkeiten des Systems bestimmt und auf die Bildung von Normen, weiteren Differenzierungen, Selbstbeschreibungen des Systems usw. Einfluß nimmt. Die Bedeutung von Differenzierungsformen für die Evolution von Gesellschaft geht auf zwei miteinander zusammenhängende Bedingungen zurück. Die erste besagt, daß es innerhalb vorherrschender Differenzierungsformen begrenzte Entwicklungsmöglichkeiten gibt. So können in segmentären Gesellschaften größere, wiederum segmentäre Einheiten gebildet werden, etwa Stämme oberhalb von Haushalten und Familien; oder in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften innerhalb der Grunddifferenz vonAdel und gemeinem Volk weitere Ranghierarchien. Solche Wachstumsmöglichkeiten finden jedoch, fast ist man versucht zu sagen: organische Schranken. Weitere Evolution ist dann unmöglich, oder sie erfordert den Übergang zu einer anderen Differenzierungsform. Es kommt nicht vor, daß ein Teilsystem innerhalb einer Differenzierungsform durch ein Teilsystem aus einer anderen Differenzierungsform ersetzt wird; denn das würde die Form, das heißt: die Markierung der Differenz, zerstören. Ein Familienhaushalt kann innerhalb segmentärer Ordnungen besondere Prominenz, auch erbliche Prominenz gewinnen (etwa als Priesterfamilie oder als Häuptlingsfamilie), kann aber nicht durch Adel ersetzt werden, weil dies Übergang von Exogamie zu Endogamie, also ganz andere Größenordnungen erfordern würde. Und ebensowenig kann der Adel durch den Staat oder die Wissenschaft als Teilsysteme einer funktional differenzierten Gesellschaft ersetzt werden. Evolution erfordert an solchen Bruchstellen eine Art latente Vorbereitung und eine Entstehung neuer Ordnungen innerhalb der alten, bis sie ausgereift genug sind, um als dominierende Gesellschaftsformation sichtbar zu werden und der alten Ordnung die Überzeugungsgrundlagen zu entziehen. Das heißt nicht zuletzt, daß Gemengelagen mehrerer Differenzierungsformen typisch, ja geradezu evolutionsnotwendig sind, wenngleich es zu spektakulären Typenveränderungen nur kommt, wenn dominierende Formen abgelöst werden.“ (Ebd., S. 611-612.)

„Von Primat einer Differenzierungsform (und auch das ist keine Systemnotwendigkeit) soll die Rede sein, wenn man feststellen kann, daß eine Form die Einsatzmöglichkeiten anderer reguliert. In diesem Sinne sind Adelsgesellschaften primär stratifikatorisch differenziert, aber sie behalten eine segmentäre Differenzierung in Haushalte bzw. Familien bei, um dem Adel Endogamie zu ermöglichen und Adelsfamilien von anderen Familien unterscheiden zu können. Bei funktionaler Differenzierung findet man auch heute noch Stratifikation in der Form von sozialen Klassen und auch noch Zentrum/Peripherie-Unterschiede, aber das sind jetzt Nebenprodukte der Eigendynamik der Funktionssysteme. (Wird diese Frage des Primats von Differenzierungsfo);men vernachlässigt, kommt es zur Überschätzung der historischen Kontinuität der Folgeprobleme bestimmter Typen; so gegenwärtig in den sog. Weltsystem-Analysen im Hinblick auf die Differenz von Zentrum und Peripherie.)“ (Ebd., S. 612.)

„Nur wenige Differenzierungsformen haben sich in der bisherigen Gesellschaftsgeschichte ausgebildet. Offensichtlich gibt es auch hier ein »Gesetz begrenzter Möglichkeiten«, auch wenn es nicht gelungen ist, sie logisch geschlossen (etwa über eine Kreuztabelle) zu konstruieren. Wenn man einmal davon absieht, daß die frühesten Gesellschaften vermutlich nur an den naturalen Unterschieden des Alters und des Geschlechts orientiert waren und im übrigen in Horden lebten, lassen sich vier verschiedene Differenzierungsformen nachweisen, nämlich:
(1)  Segmentäre Differenzierung unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit gesellschaftlicher Teilsysteme, die entweder auf Grund von Abstammung oder auf Grund von Wohngemeinschaften oder mit einer Kombination beider Kriterien unterschieden werden.
(2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie. Hier wird ein Fall von Ungleichheit zugelassen, der zugleich das Prinzip der Segmentierung transzendiert, also eine Mehrheit von Segmenten (Haushalten) auf beiden Seiten der neuen Form vorsieht. (Der Fall ist noch nicht realisiert, aber gewissermaßen vorbereitet, wenn es innerhalb einer tribalen Struktur Zentren gibt, die nur von einer prominenten Familie bewohnt werden, etwa die »Strongholds« der schottischen Clans).
(3) Stratifikatorische Differenlierung unter dem Gesichtspunkt der rangmäßigen Ungleichheit der Teilsysteme. Diese Form hat ihre Grundstruktur ebenfalls in einer Zweierunterscheidung, nämlich von Adel und gemeinem Volk. Sie wäre in dieser Form aber relativ instabil, weil leicht umkehrbar! Stabile Hierarchien wie das indische Kastensystem oder die spätmittelalterliche Ständeordnung bilden, wie artifiziell auch immer, mindestens drei Ebenen, um den Eindruck der Stabilität zu erzeugen.
(4) Funktionale Differenzierung unter dem Gesichtspunkt sowohl der Ungleichheit als auch der Gleichheit der Teilsysteme. Funktionssysteme sind in ihrer Ungleichheit gleich. Darin liegt ein Verzicht auf alle gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für die Beziehungen zwischen ihnen. Weder gibt es jetzt nur eine einzige Ungleichheit, wie im Falle von Zentrum und Peripherie, noch gibt es eine gesamtgesellschaftliche Form für die transitive Relationierung aller Ungleichheiten unter Vermeidung zirkulärer Rückbeziehungen. Gerade diese sind nun ganz typisch und normal.
Der Formenkatalog ist mit Hilfe der Unterscheidung von gleich und ungleich gewonnen. Diese Unterscheidung paßt nur auf Vergleichbares, also nur auf Systeme., nicht aber auf System/Umwelt-Beziehungen (denn es hat keinen Sinn, die Umwelt Im Verhältnis zum System als »ungleich« zu bezeichnen). Eben deshalb mußten wir die Theorie der Differenzierungsformen auf System-zu-System-Beziehungen beschränken.“ (Ebd., S. 612-614.)

„Wie leicht ersichtlich, gibt es keine theoretische Begründung für diesen Katalog. Noch kann man zwingend ausschließen, daß sich im weiteren Verlauf der Evolution andere Formen bilden werden. Man kann aber einsichtig machen, daß die evoluierenIden Gesellschaften nur wenige stabile Formen der Systemdifferenzierung finden und dazu tendieren, einer einmal bewährten Form den Primat zu geben. Dies läßt sich damit begründen, daß rekursive Verfahren (hier: die Anwendung von Systembildung auf das Resultat von Systembildung) zur Erzeugung von »Eigenzuständen« tendieren. Weder daß dies gelingt, noch wie viele Eigenzustände gefunden werden, läßt sich theoretisch deduzieren oder empirisch prognostizieren. Man muß es ausprobieren, und eben das hat die gesellschaftliche Evolution getan. Wenn bestimmte Systembeziehungen bereits vorhanden sind, ist ihr weiterer Ausbau wahrscheinlicher als der Übergang zu einer anderen Differenzierungsform. Neben vorhandenen Siedlungen wird dann vermutlich eine weitere Siedlung entstehen, und nicht so leicht ein Adelshof oder ein Postamt. Diese Überlegung macht es zumindest wahrscheinlich, daß die Evolution an Hand solcher Anschluß- und Kompatibilitätsprobleme zum Ausbau gefundender Muster tendiert, die dann von sich aus die Chancen für andere Differenzierungsformen regulieren. Man kann daher auch fragen: unter welchen Bedingungen akzeptiert die Gesellschaft die Rekonstruktion ihrer eigenen Einheit durch eine interne Differenz? Und man darf vermuten, daß eine durchgehende Verwendbarkeit der entsprechenden Unterscheidung in allen Systemperspektiven, die Möglichkeiten der Reduktion der damit verbundenen Komplexität, aber sicher auch, wenn es um eine neue, eine emergente Differenz geht, das Ausreichen dafür geeigneter, bereits vorentwickelter Strukturen ausschlaggebend sind.“ (Ebd., S. 614.)

„Unser Formenkatalog macht außerdem einsichtig, daß die Evolution der Gesellschaft keine beliebigen Sequenzen wählen kann. Regressive Entwicklungen kann man nicht ausschließen (etwa bei der Retribalisierung der mittel- und südamerikanischen Hochkulturen nach der spanischen Eroberung). Jedenfalls dürfte aber ein sprunghafter Übergang von segmentären zu funktional differenzierten Gesellschaften nicht möglich sein. (Man kann dies an den Schwierigkeiten testen, in die tribale Gesellschaften (mit oder ohne ethnische Differenzierung) geraten, wenn sie durch die Weltgesellschaft zur Staatenbildung genötigt werden: Somalia, Afghanistan als Beispiele.) Auf Grund solche Anbahnungsbedingungen entsteht der Eindruck einer Epochensequenz von archaisch-tribaien Gesellschaften, Hochkulturen und moderner Gesellschaft. (Ähnliche Reihungen findet man auch unter anderen Namen -zum Beispiel: primitive Gesellschaften / traditionale Gesellschaften / Industriegesellschaften im Hinblick auf die Organisation von Arbeit ....) Im europäischen Rückblick mag das als eine plausible Rekonstruktion gelten, aber wir werden sehen, wie stark man vereinfachen muß, um zu einer solchen Beschreibung zu kommen.“ (Ebd., S. 615.)

„Daß die genannten Typen keine lineare Sequenz bilden, ergibt sich schon daraus, daß seit dem Beginn der Hochkulturen weltweit verschiedene Differenzierungsformen realisiert worden sind und voneinander wissen. So kennen die Nomadenvölker im Norden Chinas das chinesische Reich - und umgekehrt. Die tribalen Strukturen Schwarzafrikas standen schon lange vor der Kolonisierung unter islamischem Einfluß. Von wenigen, gerade erst entdeckten Ausnahmen abgesehen, findet man kaum Gesellschaften, die völlig autochton entstanden sind. Trotzdem muß man auf die unterschiedlichen Differenzierungsformen zurückgehen, um sie in den Grenzen ihrer Möglichkeiten zu erkennen. Wir ersetzen somit die allzu einfache (und rasch widerlegbare) These zunehmender Differenzierung durch die These eines Wandels von Differenzierungsformen, der bei geeigneten Gelegenheiten zu komplexeren (insbesondere Ungleichheiten einbauenden) Formen führt, die mit stärkerer Differenzierung kompatibel sind, aber dafür auch strukturelle Entdifferenzierungen einsetzen, also keineswegs mehr Differenzierung in allen Hinsichten erreichen. (Man denke nur an den Abbau von Verwandtschaftsrollen und Verwandtschaftsterminologien im Laufe einer solchen Entwicklung). Eine solche Entwicklung steigert die Komplexität des Gesellschaftssystems. Sie ermöglicht mehr und verschiedenartigere Kommunikationen in dem Maße, in dem unwahrscheinlichere Differenzierungsformen die Integration des Systems übernehmen. Entsprechend müssen evolutionäre Errungenschaften vorgegeben sein oder nachentwickelt werden, die höhere Komplexität reduzieren können: so Schrift, Geldwesen, bürokratische Organisation, um nur einige Beispiele zu nennen. Zugleich wachsen interne Distanzen mit entsprechenden Erfahrungsverlusten. Denn während in segmentären Gesellschaften jeder zu Hause sich ein Bild davon machen kann, wie es woanders zugeht, geht diese Möglichkeit in dem Maße verloren, in dem man die Gesellschaft über interne Ungleichheiten rekonstruiert. Entsprechend steigt der interne Informationsbedarf. Es werden, mit anderen Worten, strukturelle Beschränkungen abgebaut, um höhere Komplexität zu gewinnen mit der Folge, daß Intransparenzen, Deutungsbedarf und Selbstbeschreibungen des Systems entstehen, ohne daß man damit wiedergewinnen könnte, was vorher selbstverständlich gewesen war.“ (Ebd., S. 615-616.)

„Formen erfordern ihren Tribut, erfordern Beachtung der strukturellen Beschränkungen dessen, was unter ihrer Ägide kompatibel ist. Als Bedingungen der Stabilität machen sie zugleich destabilisierende Tendenzen sichtbar - etwa Reichtumsbildung außerhalb der vorgesehenen Einteilungen. Normalerweise entwickelt sich ein normativer Apparat zur Unterdrückung von Abweichungen. Sie können nur in der Form des Auffälligen, Nichtnormalen, nicht Konsensfähigen, religiös und moralisch Problematischen erscheinen. Aber das ist kein zuverlässiger Mechanismus der Verhinderung. Das Destabilisierende kann unter exzeptionellen Umständen so normal werden, daß sich eine neue Form von Stabilität abzuzeichnen beginnt und eine andere Form der Differenzierung aus einer früheren hervorgeht. In der Systemtheorie nennt man ein solches Auswechseln der Form der Stabilität eines Systems auch Katastrophe.“ (Ebd., S. 616.)

„Ferner kann mit Hilfe dieses Formenkatalogs die These gestützt werden, daß veränderte, anspruchsvollere Formen der Systenidifferenzierung zur stärkeren Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems führen. Eine erste Differenzierung wird sich auf natürlich vorgegebene Unterschiede des Alters und des Geschlechts gestützt und dabei mit anderen Möglichkeiten experimentiert haben - etwa mit Familienbildung auf Grund des naheliegenden Bedürfnisses, Kinder mit Vätern zu versorgen. Für die Einheiten segmentärer Differenzierung gibt es dann in der Umwelt bereits kein genaues Äquivalent mehr, auch wenn man Wohnstätten, Dörfer, Felder usw. zuordnen kann. In dem Maße, in dem die interne Differenzierung von gleich auf ungleich umgestellt wird, nehmen die intern ausgelösten Kontrollund Folgelasten zu, und die darauf bezogene Kommunikation zwingt die Gesellschaft erst recht, sich von ihrer Umwelt zu unterscheiden. Mehr und mehr Aktivitäten beziehen sich auf andere Aktivitäten desselben Systems, während Umweltabhängigkeiten abgebaut oder von internen Dispositionen abhängig gemacht werden. (Gelegentlich ist dies auch als zunehmende »Insulation« des Gesellschaftssystems beschrieben worden.) Stratifizierte Gesellschaften rühmen ihre spezifisch menschliche Ordnung, grenzen sich gegen die Welt der Tiere und der Primitivmenschen ab, legen der Unterscheidung aber noch ein religiös-kosmologisch begründetes Sinnkontinuum zu Grunde. Darauf muß die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne dann auch noch verzichten, und die Konsequenz ist, daß sie sich weder mit Regionen noch mit den konkreten, körperlich-mental existierenden Menschen mehr identifizieren kann. Ein Maximum an interner Ungleichheit und Autonomie der Teilsysteme bedingt zugleich ein Maximum an Verschiedenheit von Gesellschaft und Umwelt. Überzeugen kann jetzt nur noch eine scharfe und operativ unüberschreitbare Grenze zwischen System und Umwelt. Daß das nicht bedeuten kann, daß die Gesellschaft von ihrer Umwelt unabhängig geworden ist und sie mehr und mehr »beherrscht«, beginnt man allmählich einzusehen.“ (Ebd., S. 617.)

„Formen der Differenzierung sind nach all dem Formen der Integration der Gesellschaft. Die Gesellschaft wird nicht durch ein Einheitsgebot, nicht durch Reformulierung ihrer Einheit als Postulat integriert, sondern in der Form der Rekonstruktion ihrer Einheit als Differenz. Die jeweils dominante Form der Differenzierung regelt dann zugleich, wie die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft gesehen werden kann und welche Einschränkungen der Freiheitsgrade der einzelnen Teilsysteme sich daraus ergebeben. Während vom Klassikerbegriff der Integration her die moderne Gesellschaft als desintegriert beschrieben werden müßte, weil sie sich intern nicht mehr auf irgendein inhaltliches Einheitskonzept verständigen kann, führt die hier vorgeschlagene Begriffsbildung zur gegenteiligen Diagnose. Die moderne Gesellschaft ist überintegriert und dadurch gefährdet. Sie hat in der Autopoiesis ihrer Funktionssysteme zwar eine Stabilität ohnegleichen; denn alles geht, was mit dieser Autopoiesis verträglich ist. Zugleich ist sie aber auch in einem Maße durch sich selbst irritierbar wie keine Gesellschaft zuvor. Eine Vielzahl struktureller und operativer Kopplungen sorgen für wechselseitige Irritation der Teilsysteme, und das Gesamtsystem hat, das liegt in der Form funktionaler Differenzierung begründet, darauf verzichtet, regulierend in dieses Geschehen einzugreifen.“ (Ebd., S. 618.)

„Im Zusammenhang mit einer verbreiteten Skepsis in bezug auf die Reichweite von Systemtheorie hat David Lockwood vorgeschlagen, zwischen Systemintegration und Sozialintegration zu unterscheiden. Im einen Fall geht es um den inneren Zusammenhalt differenzierter Systeme, im anderen Falle um das Verhältnis von psychischen Systemen (Individuen) und sozialen Systemen. Die Unterscheidung ist sicher berechtigt, hat aber in der vorliegenden Form nicht sehr weit geführt. Sie hat auf den Unterschied aufmerksam gemacht - mehr nicht. Wir haben das Thema Systemintegration überführt in eine Unterscheidung von Formen der Systemdifferenzierung, die jeweils kontrollieren, wie Teilsysteme aufeinander verweisen und voneinander abhängig sind. Das Thema Sozialintegration wollen wir durch die Unterscheidung Inklusion/Exklusion ersetzen. Nach wie vor legen wir dabei die Systemreferenz »Gesellschaft« zugrunde. Es geht also nicht um Zugang zu Interaktionen oder Organisationen.“ (Ebd., S. 618-619.)

„Inklusionsbedingungen variieren mit gesellschaftlicher Differenzierung. Sie müssen in der modernen Gesellschaft mehr Möglichkeiten vorsehen als in traditionalen Gesellschaften und lassen sich nicht mehr hierarchisch, das heißt linear ordnen. Danach sieht es so aus, daß die zunehmende Komplexität der Gesellschaft (bei Parsons als Folge der politischen Revolution, der industriellen Revolution und der pädagogischen Revolution) auch die klassischen festen Inklusionsmuster auflöst und Inklusionen stärker individualisiert.“ (Ebd., S. 620.)

„Dabei gewinnt man den Eindruck, daß die Gesellschaft für alle Menschen Inklusionsmöglichkeiten bereitstellt und die Frage nur ist, wie sie konditioniert sind und wie gut sie ausfallen. Das heißt: wie Gleichheit (für alle) und Ungleichheit je nach Anerkennung und Erfolg vermittelt werden. (Vgl. Talcott Parsons, a.a.O., 1971, S. 88 f.) Damit wird die Selbsteinschätzung der modernen Gesellschaft im Schema gleich/ungleich nachvollzogen. Die Ausarbeitung des Begriffs der Inklusion läßt jedoch zu wünschen übrig. Vor allem fehlt es bei Parsons, wie typisch in seiner Theorie, an einer ausreichenden Berücksichtigung des Negativfalles der Kategorien. Wir formulieren das Problem deshalb mit Hilfe der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion.“ (Ebd., S. 620.)

„Inklusion muß man demnach als eine Form begreifen, deren Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen bezeichnet ist und deren Außenseite unbezeichnet bleibt. Also gibt es Inklusion nur, wenn Exklusion möglich ist. Erst die Existenz nichtintegrierbarer Personen oder Gruppen läßt soziale Kohäsion sichtbar werden und macht es möglich, Bedingungen dafür zu spezifizieren. In dem Maße, in dem die Inklusionsbedingungen als Form sozialer Ordnung spezifiziert werden, läßt sich aber auch der Gegenfall der Ausgeschlossenen benennen. Er trägt dann als Gegenstruktur den Sinn und die Begründung der Form sozialer Ordnung. Das deutlichste Beispiel hierfür bilden die »Unberührbaren« der indischen Kastenhierarchie. Es handelt sich nicht um eine besondere Kaste, auch nicht um Proleten, die nichts anderes produzieren als Nachwuchs, und auch nicht um eine für Ausbeutung zur Verfügung stehende Unterschicht. Vielmehr bilden die Unberührbaren ein symbolisches Korrelat für den Aufbau der Inklusionsordnung über Reinheitsgebote und -rituale. Zahlenmäßig braucht es sich deshalb auch nicht um eine große Gruppe zu handeln; es genügen Mengen, die sicherstellen, daß die Ausgeschlossenen überall präsent sind, und zeigen, wie notwendig die Reinheitsgebote sind.“ (Ebd., S. 620-621.)

„So unterschiedlich die Form Inklusion/Exklusion in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten institutionalisiert sein und dann als normal empfunden werden mag: in jedem Falle sind auch hier die allgemeinen Vorgaben unserer Theorie operativ geschlossener Systeme zu beachten. Inklusion kann daher nicht heißen, daß Teile oder Prozesse oder einzelne Operationen eines Systems in einem anderen ablaufen. Gemeint ist vielmehr, daß das Gesellschaftssystem Personen vorsieht und ihnen Plätze zuweist, in deren Rahmen sie erwartungskomplementär handeln können; etwas romantisch könnte man auch sagen: sich als Individuen heimisch fühlen können.“ (Ebd., S. 621.)

„Parsons sieht soziokulturelle Evolution als Zunahme von adaptive upgrading, differentiation, inclusion und value generalization. Ohne' Einsichten dieser Art bestreiten zu wollen, setzen wir an die Stelle eines allzu linearen Konzeptes die Frage, wie die Variable Inklusion/Exklusion mit Formen der Systemdifferenzierung der Gesellschaft zusammenhängt. Differenzierungsformen sind, so gesehen, Regeln für die Wiederholung von Inklusions- und Exklusionsdifferenzen innerhalb der Gesellschaft, aber zugleich Formen, die voraussetzen, daß man an der Differenzierung selbst und ihren Inklusionsregeln teilnimmt, und nicht auch davon noch ausgeschlossen wird.“ (Ebd., S. 621-622.)

„In segmentären Gesellschaften ergibt sich die Inklusion aus der Zugehörigkeit zu einem der Segmente. Es gab begrenzte Möglichkeiten der Mobilität, kaum aber Überlebenschancen als Einzelner außerhalb jeder sozialen Zuordnung. (Immerhin berichtet man selbst im unwirtlichen Island von langen Überlebensmöglichkeiten vertriebener Verbrecher als Räuber im schwer zugänglichen Bergland. Es gab offenbar hinreichend Schafe.) Die Inklusion war folglich segmentär differenziert und schloß Exklusion mehr oder weniger effektiv aus. In stratifizierten Gesellschaften geht die Regelung der Inklusion auf die soziale Schichtung über. Man findet seinen sozialen Status in der Schicht, der man angehört. Dadurch wird Inklusion differenziert. Die Regelung von Inklusion/Exklusion findet dagegen nach wie vor auf segmentärer Ebene statt. Sie obliegt den Familien bzw. (für Abhängige) den Familienhaushalten. Irgendwo war man danach durch Geburt oder Aufnahme zu Hause. Exklusion war, zum Beispiel aus Gründen der wirtschaftlichen Not oder mangelnder Heiratschancen, möglich. Es gab zahlreiche Bettler. Auch konnten je nach Schichtlage die Klöster, die »unehrlichen« Berufe oder die Handels- und Kriegsmarine im Exklusionsbereich ihr Personal rekrutieren. Als Letztabnehmer blieben die Piratenschiffe der mittelamerikanischen Inselwelt. Es wird sich, schon im Mittelalter und erst recht in der Frühmoderne, um eine beträchtliche Personenzahl gehandelt haben. (Darauf deuten im übrigen auch die gildenförmigen Zusammenschlüsse der Bettler in China hin.) Der Exklusionsbereich ist vor allem an der Unterbrechung von Reziprozitätserwartungen zu erkennen. Die Solidarität mit den Ausgeschlossenen konnte nur artifiziell, nämlich über religiöse Pflichten und Seelenheilschancen, erreicht werden, und umgekehrt wurden die Ausgeschlossenen zu allen möglichen Tricks und Täuschungen motiviert, deren Beobachtung in die Literatur über Simulation und Dissimulation und in ein sich im Buchdruck ausbreitendes Mißtrauen gegenüber dem bloßen Schein eingeht. Das konnte zunächst nur den Eindruck verstärken, daß Leute ohne Stand und ohne Disziplin, ohne Herr und ohne Haus eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Daraus entstand in der beginnenden Neuzeit ein kaum lösbares politisches Problem der Städte und der Territorialstaaten. Wie bekannt, hat man versucht, darauf mit Organisation von Arbeit zu reagieren. Das Grundmuster blieb jedoch erhalten: die Systemdifferenzierung sorgte für Unterschiede im Bereich der Inklusion. Was damit nicht erfaßt war, blieb undifferenzierter Restbestand.“ (Ebd., S. 622-623.)

„Diese Ordnung hinterläßt bei all ihren Problemen doch den Eindruck, daß die soziale Differenzierung von Familien nach Schichten die Situation kontrolliert. Selbst die explizite oder sich einfach ergebende Zuweisung von Personen zu Auffangpositionen ohne Familie bzw. Familienhaushalt regelt sich noch nach der Schichtung, und eine religiöse bzw. arbeitsorganisatorische Sinngebung sorgt dafür, daß die soziale Ordnung von ihren Exklusionseffekten her nicht in Frage gestellt wird. Während aber in einfachen tribaIen Gesellschaften im Exklusionsfalle durch Vertreibung oder Freigabe zur Tötung jeder Kontakt unterbunden werden konnte, ist das in Hochkulturen mit Stadtbildung und Adelsherrschaft nicht mehr der Fall. Die Differenz Inklusion/Exklusion wird jetzt innergesellschaftlich rekonstruiert. Für soziale Kohäsion bleibt man auf Seßhaftigkeit, auf reguläre Interaktion zur Bildung verläßlicher Erwartungen angewiesen; aber eben das erfordert Exklusionen, die man in der Gesellschaft nicht ignorieren und nicht ganz aus einer marginalen Kommunikation ausschließen kann. Teils rekrutiert man aus diesem Bereich; teils hat das Unterwegssein, das Umherziehen, die Wanderschaft durchaus soziale Funktionen und kann nicht mehr eo ipso als Indikator für Exklusion gelten. Die wandernden Handwerksgesellen sind kein Fall von Exklusion, sondern vergrößern den Arbeitsmarkt bei hoher Differenzierung der Berufe und Zünfte. Daneben nimmt die Kategorisierung auch im Exklusionsbereich zu.“ (Ebd., S. 623-624.)

„Zusätzlich zu den Inklusions-/Exklusionsregulativen, die im System der stratifizierten Haushalte verankert sind, gibt es seit der Christianisierung des römischen Reiches auch einen reichsrechtlichen Exklusionsmechanismus aus Gründen der Religion. In den Einleitungssätzen des Codex Iustiniani (C I.I.I.) wird genau festgelegt, wer den Namen eines katholischen Christen führen darf. Alle Häretiker werden für wahnsinnig und für töricht gehalten und mit Ehrlosigkeit (infamia) belegt. Das Gesetz läßt zwar Gott den Vortritt in ihrer Behandlung (divina primum indicta), aber da dies anscheinend nicht zuverlässig genug funktioniert, wird mit Mitteln des Reichsrechts nachreguliert (post etiam motus nostri, quem ex caelesti arbitrio sumpserimus, ultione plectendos). Nach dem Zerfall der Reichsgewalt übernimmt die juristisch durchorganisierte Kirche selbst die Entscheidung über »Exkommunikation« mit gravierenden weltlichen Konsequenzen. Die in der normalen Lebensführung leicht zu vermeidende religiöse Exklusion setzt dann die Rahmenbedingung, unter welcher die praktisch wirksame innergesellschaftliche Inklusion/Exklusion »christlich« gehandhabt werden kann.“ (Ebd., S. 624.)

„Der Übergang zu funktionaler Differenzierung nutzt diese innergesellschaftliche Relevanz der Unterscheidung Inklusion/Exklusion mitsamt den elaborierten Unterscheidungen im Bereich der Nichtseßhaftigkeit; aber er führt weit darüber hinaus und löst Veränderungen aus, deren Ausmaße erst heute sichtbar werden. Wie bei jeder Form der Differenzierung wird die Regelung der Inklusion den Teilsystemen überlassen. Das heißt aber jetzt, daß die konkreten Individuen nicht mehr konkret plaziert werden können. Sie müssen an allen Funktionssystemen teilnehmen können, je nachdem, in welchen Funktionsbereich und unter welchem Code ihre Kommunikation eingebracht wird. Allein schon die Sinngebung bestimmter Kommunikationen, allein schon die Tatsache, daß es sich um eine Zahlung handelt oder daß man eine Entscheidung in staatlichen Ämtern beeinflussen möchte oder daß die Frage aufgeworfen wird, was in einem bestimmten Falle Recht und was Unrecht ist, ordnet die Kommunikation einem bestimmten Funktionssystem ein. Individuen müssen sich an all diesen Kommunikationen beteiligen können und wechseln entsprechend ihre Kopplungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment. Die Gesellschaft bietet ihnen folglich keinen sozialen Status mehr, der zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und Qualität »ist«. Sie macht die Inklusion von hochdifferenzierten Kommunikationschancen abhängig, die untereinander nicht mehr sicher und vor allem nicht mehr zeitbeständig koordiniert werden können. Im Prinzip sollte jeder rechtsfähig sein und über ausreichendes Geldeinkommen verfügen, um an Wirtschaft teilnehmen zu können. Jeder sollte als Teilnehmer an politischen Wahlen auf seine Erfahrungen mit Politik reagieren können. Jeder durchläuft, soweit er es bringt, zumindest die Elementarschulen. Jeder hat Anspruch auf ein Minimum an Sozialleistungen, Krankenpflege und ordnungsgemäße Beerdigung. Jeder kann, ohne von Genehmigungen abzuhängen, heiraten. Jeder kann einen religiösen Glauben wählen oder es lassen. Und wenn jemand seine Chancen, an Inklusion teilzunehmen, nicht nutzt, wird ihm das individuell zugerechnet. Auf diese Weise erspart die moderne Gesellschaft, zunächst jedenfalls, es sich, die andere Seite der Form, die Exklusion, als sozialstrukturelles Phänomen wahrzunehmen.“ (Ebd., S. 624-625.)

„Wenn daraufhin zunächst Inklusion ohne Exklusion, Inklusion »des« Menschen in »die« Gesellschaft konzipiert wird, so erfordert das eine totalitäre Logik, die die alte Einteilungslogik nach Arten und Gattungen (wie Griechen und Barbaren) ersetzt. Die totalitäre Logik verlangt, daß ihr Gegenteil ausgemerzt wird. Sie fordert Herstellung von Einheitlichkeit. Jetzt erst müssen alle Menschen zu Menschen gemacht, mit Menschenrechten versehen und mit Chancen versorgt werden. Solch eine totalitäre Logik scheint auf eine Zeitlogik hinauszulaufen. Man kann Unterschiede in den Lebensbedingungen nicht ignorieren, aber sie werden als Problem auf Zeit bezogen. Einerseits hofft man auf dialektische Entwicklungen, eventuell mit revolutionären Nachhilfen; andererseits bemüht man sich um Wachstum in der Annahme, daß ein quantitatives Mehr bessere Verteilungenermöglichen würde; oder man verstärkt Bemühungen um »Entwicklungshilfe« oder »Sozialhilfe«, um den Zurückbleibenden ein Aufholen zu ermöglichen. Innerhalb der totalitären Inklusionslogik machen sich Exklusionen als »Rest«probleme bemerkbar, die so kategorisiert sind, daß sie die totalitäre Logik nicht in Frage stellen. (Die semantische Karriere von .Rest«begriffen (z. B. Restrisiko) in der jüngsten Zeit wäre eine besondere Untersuchung wert. Sie verdankt sich einer mangelnden Reflexion der Differenz, in bezug auf die der Rest ein Rest ist.)“ (Ebd., S. 625-626.)

Die neue Ordnung der Inklusionen führt zu einer dramatischen Veränderung im Selbstverständnis der Individuen. In der alten Welt war die Inklusion durch die soziale Position konkretisiert, deren normative Vorgaben dann nur noch die Möglichkeit boten, den Erwartungen mehr oder weniger gerecht zu werden. Man geriet nicht in Situationen, in denen man noch zu erklären hätte, wer man ist. In der Oberschicht genügte die Nennung des Namens, in den unteren Schichten war man an den Orten bekannt, an denen man lebte. Anständige Lebensführung mochte ein Problem sein, und in dieser Hinsicht hatte wohl jeder zu beichten. Aber das war bekannt - nicht zuletzt durch die öffentliche Institution der Beichte. Man mußte jedenfalls nicht mit Situationen rechnen, in denen die Existenz selbst auf Schein gegründet war. Die Thematisierung des Scheins, der vorgetäuschten Qualität und der Heuchelei erfolgt erst im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert, stimuliert (in der Literatur) durch das Theater, durch den die gesamte Wirtschaft durchdringenden Markt und die Promotoren-Mechanismen des höfischen Zentralismus. Seite dem Don Quijote übernimmt es der Roman, die daraus entstehende lage zu reflektieren. Das Individuum führt sein Leben nach Maßgabe seiner Lektüre. Es erreicht Inklusion, indem es Gelesenes kopiert.“ (Ebd., S. 626-627.)

„Die Idealisierung des Postulats einer Vollinklusion aller Menschen in die Gesellschaft täuscht über gravierende Probleme hinweg. Mit der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftsystems ist die Regelung des Verhältnisses von Inklusion und Exklusion auf die Funktionssysteme übergegangen, und es gibt keine Zentralinstanz mehr (so gern die Politik sich in dieser Funktion sieht), die die Teilsysteme in dieser Hinsicht beaufsichtigt.“ (Ebd., S. 630.)

„Soziologen tendieren typisch dazu, dies problem der Exklusion großer, ja der überwiegenden Bevölkerungsanteile von Teilnahme an den Funktionssystemen als Problem der Klassenherrschaft oder der sozialen Schichtung zu definieren. Sie bleiben damit in der üblichen Schußrichtung ihrer eigenen Voreingenommenheit. Aber auch das verharmlost, ebenso wie die Menschenrechtssemantik, das Problem und läuft letztlich auf eine Klage ohne Ende und ohne Adressat hinaus. Schichtung hatte ihre eigenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen, und sie konnte bei sehr weitgehender und akzeptierter, wenn auch differenter, Inklusion für Marginalisierung des Exklusionsproblems sorgen, was immer an Heimatlosen, Bettlern, Vaganten, amtslosen Klerikern oder entlaufenen Soldaten herumlief. Schon rein quantitativ haben die Exklusionsprobleme heute ein anderes Gewicht. Sie haben auch eine andere Struktur. Sie sind direkte Folgen der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems insofern, als sie auf funktionsspezifische Formen der Abweichungsverstärkung, auf positives Feedback und auch darauf zurückgehen, daß Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen den Exklusionseffekt verstärkt.“ (Ebd., S. 631.)

„Das reichlich verfügbare material legt den Schluß nahe, daß die Variable Inklusion/exklusion in manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren.“ (Ebd., S. 632.)

„Die symbolischen Mechanismen der Kommunikationsmedien verlieren ihre spezifische Zuordnung. Physische Gewalt, Sexualität und elementare, triebhafte Bedürfnisbefriedigung werden freigesetzt und unmittelbar relevant, ohne durch symbolische Rekursionen zivilisiert zu sein. Voraussetzungsvollere soziale Erwartungen lassen sich dann nicht mehr anschließen. Man orientiert sich an kurzfristigen Zeithorizonten, an der Unmittelbarkeit der Situation, an der Beobachtung von Körpern. Das heißt auch, daß die im Inklusionsbereich seit eh und je geltenden, Zeit ausdehnenden Reziprozitätswerwartungen entfallen bis hin zum Zerfall familialer Bindungen. Das mag von ferne an sehr altertümliche Ordnungen erinnern. Aber faktisch ist es heute ein Nebeneffekt der funktional differenzierten Gesellschaft und irritiert vor allem deshalb, weil die gesellschaftsuniversalen Zuständigkeitsansprüche der Funktionssysteme dadurch auf auffällige Weise in ihren Schranken sichtbar werden.“ (Ebd., S. 633.)

„Vielleicht können wir hier ein Funktionssystem im Entstehen beobachten. “ (Ebd., S. 634.)

„Segmentäre Differenzierung setzt voraus, daß die Position von Individuen in der sozialen Ordnung fest zugeschrieben ist und nicht durch Leistung verändert werden kann. Das ist die Grundlage für eine Multiplikation sozialer Einheiten, die immer ohne Zweifel auf Individuen umgerechnet werden können. Es gibt in diesem Rahmen aber trotzdem Unterschiede des individuellen Ansehens und selbst Wechsel der Clan-und Familienzugehörigkeit durch Adoption. Was ausgeschlossen ist, ist jedoch eine karriereförmige Integration der Individuen. Der fest zugeschriebene Status ist vielmehr Voraussetzung für alle weiteren Ausarbeitungen, für Symmetrien und Asymmetrien, für dualistische Oppositionen, für rituelle Funktionen und für alle möglichen luxurierenden Ergänzungen, die auf diese Weise immer einen festen Bezug auf Individuen bewahren. Ascribed Status ist eine Regel für eine Ordnung, in der man sich kennt.“ (Ebd., S. 636.)

„Segmentäre Differenzierung dürfte eine Voraussetzung gewesen sein für den Übergang zu regulär betriebener Landwirtschaft, für die sogenannte neolithische Revolution. Diese wohl wichtigste Veränderung in der Menschheitsgeschichte hat »äquifinal« an vielen Stellen des Erdballs stattgefunden. Die Gründe für diesen Übergang von einem Leben in Überfluß in ein Leben mit Arbeit und Risiko sind unbekannt, denn man wird kaum annehmen wollen, daß die Möglichkeit, mehr Menschen zu ernähren, als »Attraktor« gedient hat. Schon in Gesellschaften ohne deutliche Familienbildung findet man eine Art Gartenwirtschaft, aber Landwirtschaft größeren Stils wird vorausgesetzt haben, daß die Einteilung von Land und Arbeit sich auf entsprechende soziale Strukturen stützen konnte. Erst die politisch erzwungene Arbeit späterer Gesellschaften macht davon zum Teil wieder unabhängig; aber dies setzt landwirtschaftliche Überschußproduktion voraus.“ (Ebd., S. 636-637.)

„Der Prozeß segmentärer Differenzierung kann auf sein eigenes Resultat angewandt, also rekursiv wiederholt werden. Dann bilden sich über den Familien und Siedlungen noch Stämme und eventuell Stammesverbände. Mit dieser Wachstumsrichtung, die schließlich mehrere hunderttausend Personen einbeziehen kann, verringert sich aber die Kommunikationsdichte der jeweils umfassenden Einheit. Sie operiert schließlich nur noch okkasionell, vor allem aus Anlaß von Konflikten zwischen ihren Untereinheiten, und ist im übrigen nur symbolisch präsent. Für die Erfüllung aller Normalbedürfnisse des täglichen Lebens und für die Aufrechterhaltung der Kooperation mit Nachbarn sind nach wie vor die kleinsten Einheiten zuständig. Das hat den Vorteil, daß auch größere Zusammenschlüsse nach dem Muster der täglich erfahrbaren Differenz von Kleinsteinheiten beschrieben werden können. Sie mögen einen Namen haben und einen auf Land oder Ahnen hinweisenden Entstehungsmythos; aber eine darüber hinausgehende strukturelle Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystem ist angesichts der bloßen Wiederholung des Differenzierungsprinzips überflüssig. Es kommt nicht zu einem Wechsel des Ordnungsprinzips für größere Aggregate. Entsprechend nehmen die funktionen der Zusammenschlüsse mit deren Umfang ab. Im Grenzfalle ist schon der »Stamm« nichts weiter als der Gesamtbereich sprachlicher Verständigungsmöglichkeiten. Die ethnischen Bezeichnungen bleiben unscharf und schwankend. In Notfällen kann die Gesellschaft übergreifende Zusammenfassungen aufgeben und auf ein kleineres Format schrumpfen, ohne ihre Überlebensfähigkeit zu verlieren; und ebenso kann sie den Ausfall vieler ihrer Segmente durch Hungerkatastrophen, kriegerische Vernichtung oder Sezession verkraften. Die Restbestände haben immer noch die Möglichkeit eines fast voraussetzunggslosen Neubeginns.“ (Ebd., S. 637-638.)

„Solange keine Schrift zur Verfügung steht, muß alle Kommunikation unter Anwesenden stattfinden. Sie kann sich dabei auf Situationsmerkmale stützen, die allen Anwesenden sichtbar und geläufig sind, also nicht eigens erwähnt werden müssen; ja nicht einmal eigens erwähnt werden können, weil dies keine Information brächte, also als überflüssig erkennbar wäre. Man wird sich Ausdrucksweisen bedienen, die, wie die Linguisten sagen mit »indexikalischen Ausdrücken« durchsetzt sind. (Siehe auch Charles S. Peirce in verschiedenen Beiträgen: »indexical expressions«.) Das erspart und verhindert addurch Verallgemeinerungen. Die Situationen, die man nacheinander durchlebt, sind jeweils als solche gemeinsam verständlich. Die Schemata oder Skripts können von Situation zu Situation wechseln, ohne daß damit die Erfahrung von Inkonsistenzen verbunden wäre.“ (Ebd., S. 640.)

„So wie die Teilsysteme dieser Gesellschaften über Verwandtschaftzusammenhänge und/oder Territorialität definiert sind, so verstehen auch die Gesellschaften selbst ihre eigenemn Grenzen mit Bezug auf zugehörige Menschen und zugehörige Gebiete. In diesem Sinne besteht die Gesellschaft aus Menschen, deren individuelle Eigenart bekannt ist und ... in hohem Maße respektiert wird.“ (Ebd., S. 642.)

„Auch schriftlose tribale Gesellschaften müssen ... ein soziales Gedächtnis ausbilden, das ein Wiedererkennen desseleben und Wiederholungen ermöglicht, ohne dabei auf die viel zu labilen neurophysiologischen und psychologischen Mechanismen angewiesen zu sein. (Vgl. Kapitel 3, XIII [S. 505-516].)“ (Ebd., S. 644.)

„Die Annahme magischer Kompetenz ist ... verbunden mit der Leugnung des Zufalls, wie er auf der Oberfläche der vertrauten Welt zunächst erscheinen mag. Es gibt keinen Sinn für Akzidentelles, keine Unfälle; denn wenn für Unerwartetes im Bereich des Vertrauten zu finden ist, dann liegt der Grund im Unvertrauten. Gerade die strukturelle Gleichheit der Segmente macht Unterschiede in dem, was ihnen widerfährt (zum Beispiel Tod oder Kinderlosigkeit, materielle Fehlschläge oder Verluste) unmittelbar sichtbar und deutungsbedürftig. Spätarchaische Gesellschaften werden dann das, was magische Korrektur widersteht, mit Schicksalreligionen deuten, von denen erst der Monotheismus erlösen wird.“ (Ebd., S. 647-648.)

„Demnach wäre es verfehlt, davon auszugehen, daß ein magisches Weltbild allmählich durch ein rationales Weltbild mit wissenschaftlich kontrollierten Kausalitäten abgelöst wird. Daß die griechische »Wissenschaft« (Anführungszeichen von mir; HB) neben kontinuierendem Glauben an Magie entsteht und dem nur eine Technik des Beobachtens zweiter Ordnung hinzufügt, belegt die Persistenz der ganz andersartigen Unterscheidung von vertraut/unvertraut. Erst der Buchdruck wird dem ein langsames Ende bereiten; denn er gewöhnt die Gesellschaft an die Einsicht, daß viel mehr gewußt und dem einen oder anderen vertraut ist, als irgend jemand wissen kann.“ (Ebd., S. 648.)

„Eine ganz ähnliche Funktion hat die Erzählung der Mythen. Man kann für schriftlose segmentäre Gesellschaften streng genommen noch nicht von Selbstbeschreibungen sprechen, weil das gewohnte Leben zu selbstverständlich ist für eine zusammenfassende Thematisierung. (Im Kapitel über Selbstbeschreibungen [S. 866-1149] ist deshalb kein Abschnitl übet) tribale Gesellschaften vorgesehen.) Aber Mythen ersetzen und erübrigen die Kommunikationsform der Selbstbeschreibung, indem sie etwas anderes erzählen, etwas Befremdliches, nie Erlebtes, das gleichsam die andere Seite der vertrauten Formen darstellt und sie in diesem Sinne komplettiert. Es handelt sich um Kommunikation, aber nicht um eine Kommunikation, die Informationen vermittelt und etwas Unbekanntes bekannt macht. Das Wesentliche ist gerade die Erinnerung an das Vertrautsein mit dem Unvertrauten, also eine wiederholende Erneuerung des Erstaunens. Deshalb gibt es zwar Variationen, die sich im Wiederholen des Erzählens ergeben; aber es gibt keine, Abnutzung in dem Sinne, daß man die Information bereits kennt und die Wiederholung deshalb keinen Informationswert mehr hat. So wird zugleich verständlich, daß Mythen die Form der Paradoxie - zum Beispiel: die Einheit erzeugt sich selbst und anderes - bevorzugen, weil genau dies das Erstaunen reaktualisiert und die Frage gar nicht erst aufkommen läßt, ob die Information stimmt oder nicht stimmt.“ (Ebd., S. 648-649.)

„Mythen berichten zwar von einer Gründungszeit, in der die jetzt gültige Ordnung geschaffen und verbindlich gemacht wurde. Aber diese Urzeit ist eine andere Zeit als die Zeit der Gegenwart und sieht kein Verhältnis historischer Kontinuität und in diesem Sinne keine Geschichte vor. Ebensowenig stellt sie eine andere Zukunft in Aussicht. Eher geht es um eine Absicherung des Nahen im Fernen und um Bestätigung dafür, daß die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Der narrative Duktus der mythischen Erzählungen stellt zwar eine Sequenz dar, die aber keinen Kontakt mit der Gegenwart sucht. Ein Bedürfnis für die Ausfüllung einer Zwischenzeit zwischen der mythischen Zeit und der Gegenwart entsteht offenbar erst, wenn in der Gegenwart gravierende Konflikte auftauchen (zum Beispiel aus Anlaß von Wanderungen oder Eroberungen) und die Vergangenheit als Folie für Legitimationen in Anspruch genommen wird. Und erst wenn Schrift zur Verfügung steht, muß stärker auf Konsistenz der Berichte geachtet und für eine Gesellschaft eine Geschichte oder für eine Familie eine Genealogie erzeugt werden.“ (Ebd., S. 649.)

„Während Magie und im Anschluß weitere religiöse Entwicklungen wie Mythen und Riten die Grenze zum Unvertrauten bewachen, geht es bei der Grundnorm der Reziprozität um ein internes Regulativ segmentärer Gesellschaften; und zwar um ein Regulativ, das sowohl den Fall der Kooperation als auch den Fall des Konfliktes erfaßt, also auch diesen lebenspraktisch so wichtigen Unterschied noch mit Normen für Tausch und für Rachebeschränkung ausstattet.“ (Ebd., S. 649.)

„Offensichtlich korreliert die Vorstellung der Reziprozität mit der durch die Differenzierungsform gegebenen Gleichheit der Teilsysteme auf allen Ebenen der Inklusion. Wie groß auch immer die Einheiten sind: Beziehungen zwischen ihnen müssen symmetrisch und umkehrbar gebaut sein, denn anderenfalls würde die Asymmetrie im Laufe der Zeit Ungleichheiten generieren und die Differenzierungsform ändern.“ (Ebd., S. 649-650.)

„In systemtheoretischer Terminologie nennt man den relativ raschen Übergang eines Systems zu einem anderen Prinzip der Stabilität eine Katastrophe. (Sozialwissenschaftliche Anwendungen der Katastrophentheorie ... sind im allgemeinen in bloßer Metaphorik steckengeblieben. Sinnvoll sind sie nur, wenn das Prinzip der Stabilität genau angegeben wird, dessen Änderung, weil sie alles ändert, als Katastrophe bezeichnet wird. In unseren Untersuchungen ist dies die primäre Form gesellschaftlicher Differenzierung. Ein anderes, begrenzteres Beispiel wäre der Zusammenbruch von Heirarchien, die sich auf Kontrolle des Prestigegüterhandels gestützt hatten, infolge der Ausweitung der Handelsbeziehungen. ....)“ (Ebd., S. 655.)

„Vormoderne Hochkulturen beruhen auf Differenzierungsformen, die an strukturell entscheidender Stelle Ungleichheiten berücksichtigen und ausnutzen können. Sie verwenden, wenn voll ausgebaut, sowohl stratifikatorische Differenzierung als auch Zentrum/Peripherie-Differenzierung. Sie können im Hinblick auf diese Errungenschaften als Adelsgesellschaften oder auch als städtische Gesellschaften bezeichnet werden, wobei aber diese Prominenzmerkmale jeweils nur auf einen kleinen Teil der Bevölkerung zutreffen. “ (Ebd., S. 663.)

„Die Zentrum/Peripherie-Differenzierung findet man ansatzweise bereits in segementären Gesellschaften, vor allem, wenn eine diser Gesellschaften eine dominierende Rolle im Fernhandel übernimmt. Sie stell thier aber noch nicht die segementäre Differenzierung in Frage. Dies geschieht erst, wenn die dominierende Stellung des Zentrums benutzt wird, um hier andere Formen der Differenzierung und vor allem stärkere Rollendifferenzierung (»Arbeitsteilung«) einzurichten.“ (Ebd., S. 663.)

„Die Zentrum/Peripherie-Differenzierung ergibt sich aus der Ausdifferenzierung von Zentren. Sie ist gleichsam im Zentrum zu Hause.“ (Ebd., S. 663.)

„Einer der wichtigsten Aspekte des Zentrum/Peripherie-Schemas ist: daß es im Zentrum ... Stratifikationen in einer Weise ermöglicht, die weit über das hinausgeht, was in Kleingesellschaften älteren Typs möglich gewesen war. Das gilt besonders für die Möglichkeit, daß ein Adel sich durch Endogamie absondert und zugleich, bezogen auf die Einzelfamilie, das Exogamiegebot segementärer Gesellschaften beibehält. Da nur verhältnismäßig wenige Familien zum Adel gehören, weil anderenfalls die Ressourcen nicht ausreichen und die Auszeichnung durch Vermehrung entwertet werden würde, erfordert Stratifikation einen hinreichen großen Heiratsmarkt, als einen größeren territorialen Einzugsbereich oder eine hauptstädtische Verdichtung der Bevölkerung So gesehen bietet die Unterscheidung Zentrum/Peripherie auf ihrer einen Seite, im Zentrum, zugleich eine Chance für andere Formen der Differenzierung und zunächst vor allem für Stratifikation.“ (Ebd., S. 674.)

„Alle hochkulturellen, über Schrift verfügenden Gesellschaften sind Adelsgesellschaften gewesen. Wie verschieden auch immer die ökonomische Grundlage gewesen sein mag: daß es eine Oberschicht gegeben hat und daß ihre Existenz und Auszeichnung in der Kommunikation honoriertworden sind, kann schwerlich bestritten werden.“ (Ebd., S. 678-679.)

„Selbstverständloich hatte es auch in den unruhigen Verhältnissen nach der Völkerwanderung eine nach Herrschaftsbefugnissen und Besutz ausgezeichnete Oberschicht gegeben. Die daraus entwickelte Feudalordnung brachte dann aber einen bemerkenswereten Bruch mit älteren Sozialstrukturen mit sich, die sich vorwiegend auf Verwandtschaft gegründet hatten. Für Verwandtschaft wird die Beziehung von Herr und Vasall, also eine Rangbeziehung substituiert, sie sich, mit welchen Schwierigkeiten und Einschränkungen auch immer, gegen Familieninteressen behauptet. Dieselbe Veränderung spiegelt sich in den kirchlichen Interessen an Schenkungen und Stiftungen und im Insistieren auf Ehelosigkeit der Priester. Seitdem hat es in Europa keine primär auf Familien und Clans gegründete und insofern segmentäre Differenzierung mehr gegeben. Auch was den Personenbestand betrifft, ermöglichte die Feudalordnung erhebliche Veränderungen, vor allem den Aufstieg der zunächst unfreien Ministerialen und der Ritter ohne bedeutende Herkunft in den Adel. Erst im Laufe des Mittelalters setzt sich Abstammung als maßgebliches Adelskriterium durch, kompensiert durch gelegentliche, dann häufigere politische Nobilitierungen; und erst damit wird nobilitas und dann Adel zu einem umfassenden Abgrenzungsbegriff, an dem sich Heiratspraxis und politische Rekrutierungen orientieren können. Wir gehen im folgenden von dieser gefestigten Form einer Adelsgesellschaft aus, ohne den erheblichen regionalen Unterschieden Beachtung schenken zu können. - Wenn unsere These zutrifft, daß der Primat einer Differenzierungsform auch die Bruchstellen verdeutlicht, an denen Parasiten sich ernähren, Bifurkationen ansetzen, neue, geschichtsträchtige Wege beschritten werden können, dann ist es kein Zufall, daß hier und nur hier die Katastrophe der Neuzeit passiert ist. (Zur systemtheorteischen definition von »Katastrophe« vgl. S. 655. HB.) Dabei ist auch an die europäische Besonderheit einer korporativen Verfaßtheit der Stände zu denken, die den Ständen Mitsprachemöglichkeiten im beginnenden Territorialstaat sicherte, also eine paktierte Festlegung von Privilegien ermöglichte, damit aber auch ein besonderes Maß an kollektiver Sichtbarkeit und Angreifbarkeit mit sich brachte. Organisatorische und rechtliche Fixierungen suggerieren immer die Möglichkeit einer Änderung. Alles in allem ist es also kein Wunder, daß sich nur in Europa die Umstellung des Gesellschaftssystems auf einen Primat funktionaler Differenzierung ereignet hat. Gewiß reicht diese Erklärung allein nicht aus. Wir müssen zusätzlich historisch-situative Bedingungen in Rechnung stellen, etwa geographische Verschiedenheiten, strukturelle Vorentwicklungen (zum Beispiel die besondere Bedeutung des Rechts), die Landsäßigkeit des Adels und ein hohes Maß an bereits eingeleiteter Nichtidentität von Religion, Geldwirtschaft und politische Territorialherrschaften, die die Reichsform sprengt.“ (Ebd., S. 682-684.)

„Die Differenzierung nach Schichten bedeutet nicht, daß, verglichen mit segemntären Gesellschaften, die Teilsysteme voneinander unabhängiger sind. Das Gegenteil trifft zu. Anspruchsvollere Formen der Differenzierung müssen immer, und das gilt erst recht für die funktional differenzierte moderne Gesellschaft gesteigerte Unabhängigkeiten mit gesteigerten Abhängigkeiten kombinieren können - eine scharfe Beschränkung der dann noch möglichen Formen. Mit anderen Worten kann man auch sagen, daß jede Form der Differenzierung auf sie abgestimmte Formen der strukturellen Kopplung erfordert und ausbildet: das heißt Formen, die Kontakte und damit wechselseitige Irritationen zwischen den Teilsystemen intensivieren und zugleich andere Möglichkeiten ausschließen oder marginalisieren.“ (Ebd., S. 695.)

„Die Form, die in stratifizierten Gesellschaften die Abhängigkeit kanalisiert und mit Unabhängigkeiten kompatibel macht, ist die »ökonomische« Einheit des Haushaltes. Der Haushalt ist, als Beschaffungs- und Verteilungsgemeinschaft, nahe am Konsum gebaut und insofern in den Interessenlagen durchsichtig. Die vorgesehenen Rollen sind, auch wenn schriftliche Aufzeichnungen über Leistungsverhältnisse existieren, auf Interaktion unter Anwesenden hin angelegt und moralisch beurteilbar.“ (Ebd., S. 695-696.)

„Die bedeutung der Haushalte für stratifizierte Gesellschaften läßt sich kaum überschätzen. Die Haushalte, nicht die Individuen, sind die Einheiten, auf die sich die Stratifikation bezieht. Sie müssen deshalb als geordnet vorausgesetzt werden - sowohl in der Verwandtschaftordnung der Familien im engeren Sinne als auch in ihren Beziehungen zum Personal. Für das Hineinkopieren der gesellschaftlichen Rangordnung in die Haushalte sind entsprechende hauhaltsinterne Rangverhältnisse erforderlich, die nach dem Schema Mann/Weib (Herr/Frau), Vater/Kinder, Herr/Knecht differenziert werden. .... Wer auf Gleichheit der Geschlechter Wert legt, muß dehalb Ehelosigkeit praktizieren oder eine haushaltslose Weibergemeinschaft empfehlen.“ (Ebd., S. 697.)

„Der Haushalt ist schließlich dasjenige System, für das die Gesellschaft relativ große (wenngleich der Idee nach respektvolle) Freiheiten der Interaktion vorsehen kann, wie sie die politische Gesellschaft sich niemals erlauben könnte. Im Haushal arbeiten Angehörige verschiedener Schichten, Selbständige und Unselbständige zusammen.“ (Ebd., S. 698.)

„Mit dem Übergang zur Geldwirtschaft und zur zunehmenden Markabhängigkeit der Gutswirtschaften gerieten die Maßstäbe ins wanken mit der Folge zunehmender Erwartungskonflikte zwischen anspruchsberechtigten Herrschaften und der leistungspflichtigen, aber in ihrem eigenen Unterhalt auch anspruchsberechtigten Landbevölkerung. Erst der moderne Eigentumsbegriff bringt eine (oft gewaltsame) Lösung dieser Konflikte.“ (Ebd., S. 699.)

„Stratifikation benötigt zunächst eine einfache Differenz: die von Adel und gemeinem Volk.“ (Ebd., S. 701.)

„Was es selbstverständlich nicht geben konnte, ist der geschlossene Aufstieg einer ganzen Schicht. Wenn aber nicht durch Aufstieg einer neuen Klasse: wie sonst wurde die alte Ordnung der Dinge zerstört?“ (Ebd., S. 706.)

„Unsere Antwort lautet: durch die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen. Im evolutionstheoretischen Kontext muß zunächst akzeptiert werden, daß die gesellschaftliche Ausdifferenzierung einzelner Funktionssysteme zu eigener, autopoietischer Autonomie und erst recht die Umstellung des Gesamtsystems der Gesellschaft auf eine Primat funktionaler Differenzierung ein extrem unwahrscheinlicher Vorgang ist, der schließlich aber irreversible, von sich selbst abhängige Strukturentwicklungen auslöst. .... - Die Anfänge sind schwer zu datieren, weil sie sich gegenüber dem, was wir Vorentwicklung nennen, kaum abgrenzen lassen. Die Durchsetzungssematik ist, wie sollte es anders sein, zunächst noch an der Begrifflichkeit der Tradition orientiert. Entscheidend ist, daß irgendwann die Rekursivität der autopoietischen Reproduktion sich selbst zu fassen beginnt und eine Schließung erreicht, von der ab für die Politik nur noch Politik, für Kunst nur noch Kunst, für Erziehung nur noch Anlagen und Lernbereitschaft, für die Wirtschaft nur noch Kapital und Ertrag zählen und die entsprechenden gesellschaftsinterenen Umwelten - und dazu gehört dann auch die Schichtung - nur noch als irritierendes Rauschen, als Störungen oder Gelegenheiten wahrgenommen werden.“ (Ebd., S. 707-708.)

„Wir können davon ausgehen, daß die ausgeprägte stratifikatorische Differenzierung, wie sie sich im Laufe des Mittelalters mit der Entwicklung einer »ständischen« Gesellschaft ausgebildet hatte, die Umstellung auf funktionale Differenzierung zunächst begünstigt hat. Denn stratifikatorische Differenzierung ermöglicht Ressourcenkonzentration in der Oberschicht des Systems, und dies nicht nur in einem ökonomischen Sinne, sondern auch in den Medien Macht und Wahrheit (vgl. symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien [S. 316-396]; HB). Sie erlaubt unter anderem eine politisch-rechtliche Regulierung »abhängiger« Arbeit, teils auf dem Lande, aber auch in der Form von Gilden und Zünften mit eigenen hierarchischen Strukturen. Diese Ressourcen konnten, soweit sie nicht kirchlich gebunden waren, innovativ eigesetzt und in Rechtsform fixiert werden. Daraus ergab sich, speziell (nein: NUR! HB) für Europa, die besondere Bedeutung von Eigentum, dessen Sinn seit dem 14. Jahrhundert von Sachherrschaft auf Disponibilität umdefiniert wird. (Hierzu Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: Ders., Gesellschaft und Semantik, Band 3, 1981, S. 11-64 - mit Hinweisen auf die rechtsgeschichtliche Forschung.) Selbst heute wirkt noch die Gewohnheit nach, die »Klassengesellschaft« vom Eigentum her zu begreifen.“ (Ebd., S. 708.)

„Eine andere, gleich wichtige Voraussetzung dürfte gewesen sein, daß Verwandtschaftsverhältnisse in Europa sich nicht zu Clan-Strukturen entwickelt haben. Es blieb bei individuellen Familien. .... In Europa konnten Tendenezen zur Funktionssystembildung in das Alltagsverhalten eindringen, konnten Innovationen (zum Beispiel in der Agrartechnik) über Markterfolg individuell belohnt werden, und das Recht konnte auf Grund durchgesetzter Beschränkunegn amplifizierend wirken.“ (Ebd., S. 709.)

„Die Ungwöhnlichkeit funktionaler Differenzierung besteht nicht zuletzt darin, daß spezifische Funktionen und deren Kommunikationsmedien auf ein Teilsystem mit Universalzuständigkeit konzentriert werden müssen; also in einer neuartigen Kombination von Universalismus und Spezifikation.“ (Ebd., S. 709.)

„In Europa war eine (theokratische!) Reichsbildung am kirchlichen Widerstand (und später auch an dem Widerstand der neidischen Staaten; HB), an der Ablehnung einer politischen Theokratie gescheitert; und damit war auch eine politische Kontrolle weiträumiger Wirtschaftsbeziehungen (sprich: des Handels) ausgeschlossen. Die Geldwirtschaft entzieht sich schon im Mittelalter der territorialpolitischen Kontrolle und organisiert eine internationale Arbeitsteilung, die ihrerseits das politische Schicksal der Territorien mitbestimmt. Die Einheit von imperium und dominium, von Befehsgewalt und Landbesitz, geht verloren. Zunehmend müssen Herrschaftsapparate zusätzlich Geldquellen erschließen, und das mag einer der Gründe gewesen sein, die das System der dualen Bürokratie von weltlicher und kirchlicher Herrschaft, das sich auf jeweils eigenen Grundbesitz gestützt hatten, destablisieren. (Diese typisch abendländische Dualität zwischen weltlicher und krichlicher Herrschaft war eine historische Singularität! HB.).“ (Ebd., S. 710-711.)

„Seit dem Spätmittelalter kann man auf regional beschränkter (und deshalb evolutionär weniger riskanter) Basis Ausdifferenzierungen beobachten, die sich an Funktionsschwerpunkten orientieren und sich nicht mehr der hierarchischen Stratifikation fügen.“ (Ebd., S. 712.)

„Selbst Religion wird ein ausdifferenziertes System.“ (Ebd., S. 722.)

„Die neuerung liegt nicht in der zunehmenden Geldabhängigkeit des Adels, sondern in der zunehmenden Adelsunabhängigkeit des Geldes.“ (Ebd., S. 724.)

„Die Wirtschaft lernt es, sich mit systemeigenen Mitteln, das heißt über Preise (inklusive Geldpreise = Zinsen) zu regenerieren: Sie wird zunehmend unabhängig von den durch die Stratifikation erfaßten Vermögensquellen. Die gezahlten Preise gelten seitdem als das objektive Gerüst aller wirtschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Kalkulation. Das Zinsproblem kann trotz religiöser Bedenken gelöst werden, auch wenn sensible Gemüter bemerken, daß man selbst an Sonntagen von Zinseinnahmen profitiert.“ (Ebd., S. 725.)

„Die Zinsdiskussion verlagert sich im 17. Jahrhundert von theologisch-juristischen Erlaubnisproblemen auf innerökonomische Folgen von Zinsen. Auch Arbeit ist nicht länger Sündenfallfolge, also Lebenslage, in der man sich befindet, sondern Bedingung und Produkt innerökonomischer Prozesse; und deshalb muß man vom Schema Mühe/Muße auf das Schema Arbeit/Arbeitslosigkeit umdenken. Letztlich entscheiden jetzt die Märkte (und nicht der Fleiß, die gute Arbeit, Die Qualität der Tuche) über den Erfolg, und dem hat sich alles - von den Löhnen und Investitionen bis zur Währungspolitik und zur Staatsverschuldung - unterzuordnen.“ (Ebd., S. 726-727.)

„Unabhängig davon, ob der Adel sich mit eigenem Kapital am Geschäft beteiligen darf und kann oder nicht, entwickelt sich die Autopoiesis der Wirtschaft nun im Sinne eines eigenen strukturdeterminierten Systems. Entscheidend sind Geldzahlungen.“ (Ebd., S. 727.)

„Der Anteil an Krediten nimmt zu und damit die Abhängigkeit von den Fluktuationen auf den internationalen Finanzmärkten.“ (Ebd., S. 700.)

„Zur Exaltierung von Liebe als Passion, die ihr eigenes Recht souverän verwaltet, kommt es erst im 17. Jahrhundert und zunächst für außereheliche Beziehungen. (Hierzu Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, 1982.) Noch im 18. Jahrhundert war Eheschließung ohne Zustimmung der Eltern kaum möglich (was nicht ausschloß, daß ein attraktiver junger Mann eine reiche Erbin verführte und einen Priester fand, der die Trauung vollzog). Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts findet Europa zu der weltweit ungewöhnlichen Vorstellung, daß nur die Liebe über die Ehe entscheiden sollte, und dies nach den Vorbildern der Romane und unter Einschluß des Adels.“ (Ebd., S. 731.)

„Schon im 18. Jahrhundert kann man von einer Primäreinteilung der Gesellschaft nach Schichten eigentlich nicht mehr sprechen. Die offzielle Darstellung der Gesellschaft hält zwar - vor allem mit Hilfe rechtlicher Qualifizierungen, polizeistaatlicher Regulierungen und Steuerstatistiken - noch an den alten Einteilungen fest. Damit können jedoch die Entwicklungstendenzen in struktureller wie in semantischer Hinsicht nicht mehr begriffen werden. Was jetzt Fortschritt oder Aufklärung heißt, löst die alten Ordnungen auf. Die französische Revolution hat dieses Faktum nicht mehr zu bewirken, sie hat es nur noch zu registrieren und in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft zur Anerkennung zu bringen. Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfolgt die Ablösung der Funktionssysteme von Schichtprämissen und die Neutralisierung von Schichteinflüssen zunehemnd gezielt - so in der juristischen Erfindung der allgemeinen Rechtsfähigkeit oder in der Umstellung des Erziehungssystems auf öffentliche Schulen für die Gesamtbevölkerung und im 19. Jahrhundert dann auch: durch Einrichtung eines durchorganisierten Prüfungswesens mit Spezialisierung auf die in den Schulen und Universitäten selbst erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Der Prozeß kann heute als abgeschlossen gelten. Herkunft spielt für die Funktionssysteme kaum noch eine Rolle, und bei hoher strukturierter Eigenkomplexität - etwa des Rechtssystems - kann man dies auch für die jeweils eigenen anderen Rollen der Teilnehmer feststellen.“ (Ebd., S. 733-734.)

„Jedenfalls findet man im 19. Jahrhundert in Europa (das Abendland kann hier nur gemeint sein; HB) keine auf Familienhaushalten beruhende soziale Schichtung mehr - auch nicht in England.“ (Ebd., S. 741.)

„Da jedes Funktionssystem nun das Verhältnis von Zeitlichkeit und Sozialität in sich selbst aushandeln muß, kann jedes Funktionssystem nun behaupten, die Gesellschaft zu repräsentieren; aber nur für den eigenen Bereich. “ (Ebd., S. 742.)

„Wir begreifen die moderne Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft.“ (Ebd., S. 743.)

„Immer gibt es Zusammenhänge zwischen der Ausdifferenzierung und der internen Differenzierung eines Systems, denn die interne Differenzierung wählt Formen, für die es in der Umwelt keine Entsprechung gibt. Funktionale Differenzierung ist die radikalste Form, in der diese Regel sich auswirkt, da in der Umwelt natürlich keine Einteilungen vorkommen, die auf die Funktionen des Systems abgestimmt sind.“ (Ebd., S. 744.)

„Die Konsequenz ist, daß die Menschen dann als Umwelt des Gesellschaftssystems begriffen werden müssen (wie wir es von Anfang an getan haben) und daß auch das letzte Band, das ein »Matching« von System und Umwelt zu sein schien, gerissen ist (»schien« deshalb, weil die Gesellschaft ja immer schon nur aus Kommunikation bestanden hatte und sich nur in ihrer Selbstbeschreibung darüber täuschen konnte, ja täuschen mußte, weil die älteren Differenzierungsformen darauf angewiesen waren, den Menschen feste Plätze »in« der Gesellschaft zuzuweisen [zu den älteren Differenzierungsformen: vgl. S. 618-678/706]).“ (Ebd., S. 744.)

„Funktionale Differenzierung beruht auf einer operativen Schließung der Funktionssysteme unter Einschluß von Selbstreferenz. Das hat zur Folge, daß die Funktionssysteme sich selbst in den Zustand selbsterzeugter Unbestimtheit versetzen. (Es sind, um mit Heinz von Foerster zu formulieren, nichttriviale Maschinen ....) Das kann in der Form systemspezifischer Medien wie Geld und Macht zum Ausdruck kommen, die auf die eine oder andere Weise Formen annehmen können. Es zeigt sich auch als Abhängigkeit der Gegenwart von einer noch unbekannten Zukunft. Die Systemkomplexität hat infolgedessen immer zwei Seiten, eine schon bestimmte und eine noch unbestimmte. Das gibt den Operationen des Systems die Funktion der Bestimmung des noch Unbestimmten und zugleich der Regenerierung von Unbestimmtheit.“ (Ebd., S. 745.)

„Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung verzichtet die Gesellschaft darauf, den Teilsystemen ein gemeinsames Differenzschema zu oktroyieren. Während im Falle der Stratifikation jedes Teilsystem sich selbst durch eine Rangdifferenz zu anderen bestimmen mußte und nur so zu einer eigenen Identität gelangen konnte, bestimmt im Falle funktionaler Differenzierung jedes Funktionssystem die eigene Identität selbst - und dies, wie wir noch sehen werden, durchweg über eine elaborierte Semantik der Selbstsinngebung, der Reflexion, der Autonomie. Die Gesellschaft im übrigen kommt dann nur noch als Umwelt des Funktionssystems in Betracht und nicht als spezifische Unter- oder Überlegenheit. Das heißt jedoch nicht, daß die Abhängigkeiten der Teilsysteme voneinander abnehmen. Im Gegenteil: sie nehmen zu. Aber sie nehmen die Form der Differenz von System und Umwelt an, lassen sich nicht mehr spezifisch normieren, lassen sich nicht mehr gesamtgesellschaftlich legitimieren als Bedingung von Ordnung überhaupt, sondern bestehen jetzt in einer allgemeinen und hochdifferenzierten Abhängigkeit von ständig wechselnden innergesellschaftlichen Umweltbedingungen.“ (Ebd., S. 745.)

„Funktionale Differnzierung besagt, daß der Gesichtspunkt der Einheit, unter dem eine Differenz von System und Umwelt ausdifferenziert ist, die Funktion ist, die das ausdifferenzierte System (also nicht: dessen Umwelt) für das Gesamtsystem erfüllt. Die Kompliziertheit dieser systemtheorteischen Definition macht zugleich die Unwahrscheinlichkeit, die in der sache selbst liegt, sichtbar und erspart uns, wenn beachtet, unnötige Kontroversen. Die Funktion liegt im Bezug auf ein Problem der Gesellschaft, nicht im Selbstbezug oder in der Selbsterhaltung des Funktionssystems. Sie wird, obwohl sie zur Ausdifferenzierung einer besonderen System/Umwelt-Beziehung in der Gesellschaft führt, nur im Funktionssystem und nicht in dessen Umwelt erfüllt. Das heißt auch, daß das Funktionssystem seine Funktion für sich selbst monopolisiert und mit seiner Umwelt rechnet, die in dieser Hinsichtig unzuständig oder inkompetent ist. Durch funktionale Differenzierung wird, mit anderen Worten, die Differenz der verschiedenen Bezugsprobleme betont; aber diese Differenz sieht vom Standpunkt der einzelnen Funktionssysteme aus verschieden aus, je nachdem, auf welche Differenz von Funktionssystemen und gesellschaftsinterner Umwelt sie bezogen wird. Für die Wissenschaft ist ihre Umwelt wissenschaftlich inkompetent, aber gerade nicht: politisch inkompetent, wirtschaftlich inkompetent usw.. Insofern hat jedes Funktionssystem es mit einer anders zusammengesetzten gesellschaftsinternen Umwelt zu tun, und dies genau deshalb, weil jedes Funktionssystem für eine je besondere Funktion ausdifferenziert ist.“ (Ebd., S. 745-746.)

„Als Form gesellschaftlicher Differenzierung betont funktionale Differenzierung nithin die Ungleichheit der Funktionssysteme. Aber in dieser Ungleichheit sind sie gleich. Das heißt: das Gesamtsystem verzichtet auf jede Vorgabe einer Ordnung (zum Beispiel: Rangordnung) der Beziehung zwischen den Funktionssystemen. Die Metapher des »Gleichgewichts« ist ebenfalls unbrauchbar und würde nur darüber hinwegtäuschen, daß die Gesellschaft die Beziehungen zwischen ihren Teilsystemen nicht mehr regulieren kann, sondern sie der Evolution, also der Geschichte überlassen muß. Daß das Konsequenzen hat für das Verständnis von Zeit und Geschichte und vor allem für die Dramatisierung des Verhältnisses von Vergangenheit und Zukunft liegt auf der Hand.“ (Ebd., S. 746.)

„Funktionen können nur im Hinblick auf ein strukturdeterminiertes System bestimmt werden, und die Strukturen des Gesellschaftssystems sind im Rahmen dessen, was die Autopoiesis des Systems erlaubt, historisch variabel.“ (Ebd., S. 747.)

„Man kann nur induktiv vorgehen und mit einer Art Gedankenexperiment testen, wie das Gesellschaftssystem seine Strukturen zur Aufrechterhaltung seiner Autopoiesis ändern müßte, wenn bestimmte Funktionen nicht mehr erfüllt würden - etwa Zukunftssicherung im Hinblick auf knappe Güter oder rechtliche Absicherung von Erwartungen oder kollektiv bindendes Entscheiden oder eine über selbstläufige Sozialisation hinausgehende Erziehung.“ (Ebd., S. 747.)

„Die Ausdifferenzierung jeweils eines Teilsystems für jeweils eine Funktion bedeutet, daß diese Funktion für dieses (und nur für dieses) system Priorität genießt und allen anderen Funktionen vorgeordnet wird. Nur in diesem Sinne kann man von einem funktionalen Primat sprechen. So ist zum Beispiel für das politische System der politische Erfolg (wie immer operationalisiert) wichtiger als alles andere, und eine erfolgreiche Wirtschaft ist hier nur als Bedingung politischer Erfolge wichtig. Das heißt zugleich: auf der Ebene des umfassenden Systems der Gesellschaft kann keine allgemeingültige, für alle Teilsysteme verbindliche Rangordnung der Funktionen eingerichtet werden. Keine Rangordnung heißt auch: keine Stratifikation. Vielmehr ergeht an alle Funktionssysteme der Auftrag, sich selbst im Verhältnis zu den anderen zu überschätzen, dabei aber auf eine gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit der Selbstbewertung zu verzichten.“ (Ebd., S. 747-748.)

„Auf der Grundlage ihres Funktionsprimats erreichen die Funktionssysteme eine operative Schließung und bilden damit autopoietische Systeme im autopoietischen System der Gesellschaft. .... Dies ... bedeutet ... nicht, daß die Funktionssysteme nicht kommunizieren, nicht mit Sprache und vielem anderen auf Gesellschaft angewisen sind.“ (Ebd., S. 748.)

„Funktionssysteme ... benötigen einen binären Code (*), um ihre eigene Autopoiesis zu formieren. (* Wir erinnern an die Ausführungen über die Codierung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien [vgl. S. 312-396]. Die Wiederaufnahme dieses Themas im systemtheoretischen Zusammenhang soll auch zeigen, daß und weshalb symbolisch generalisierte Medien in besonderer Weise zur Ausdifferenzierung von Funktionssystemen beitragen können. Aber es gibt auch andere Formen der Codierung von Systemen die nicht zugleich Medien codieren, etwa den Selektionscode des Erziehungssystems.) Beide Begriffe, Funktion und Codierung, bezeichnen ein Kontingenzschema, dies aber in sehr verschiedene Weise. Während mit der Funktionsorientierung das System die Überlegenheit seiner eigenen Optionen verteidigt (Zukunftsvorsorge über Geld und nicht über Gottvertrauen; Ausbildung über Schulen und nicht über Sozialisation), reflektiert es über den negativen Wert seines Codes die Kriterienbedürftigkeit aller eigenen Operationen. Es muß also zur Spezifikation der Funktion eine Codierung hinzukommen, deren Funktion genau darin besteht, den Fortgang der Autopoiesis zu sichern und zu verhindern, daß das System sich im Erreichen eines Zieles (Endes, télos) festläuft und dann aufhört zu operieren. Funktionssysteme sind niemals teleologische Systeme. Sie beziehen jede Operation auf eine Unterscheidung zweier Werte - eben den binären Code - und stellen damit sicher, daß immer eine Anschlußkommunikation möglich ist, die zum Gegenwert übergehen kann. Was als Recht festgestellt ist, kann in der weiteren Kommunikation dazu dienen, die Frage Recht oder Unrecht erneut aufzuwerfen, zum Beispiel eine Rechtsänderung zu verlangen. Was wahr zu sein schien, mag bei neuen Daten oder neuen Theorien revisionsbedürftig werden. Was der politischen Opposition zu nützen schien, mag, wenn dies allzu durchsichtig wird, schon deshalb ein Argument für die Regierung werden. Nicht die Orientierung an der eigenen Einheit, sondern erst die Orientierung an der eigenen Differenz sichert, daß im Zeitlauf eigene Operationen an eigene Operationen angeschlossen werden können. Und das liegt daran, daß Operationen als Selektionen durchgeführt werden müssen.“ (Ebd., S. 748-749.)

„Binäre Codes sind im strikten Sinne formen, das heißt: Zwei-Seiten-formen, die den Übergang von der einen zur anderen Seite, vom Wert zum Gegenwert und zurück, erleichtern dadurch, daß sie sich als Formen von anderen Formen unterscheiden. Sie sind nicht »punktuelle Attraktoren«, sondern »zyklische Attraktoren«. Sie bringen den positiven und den negativen Wert in ein symmetrisches, zirkuläres Verhältnis, das die Einheit des Systems symbolisiert und zugleich öffnet für eine Unterbrechung des Zirkels. (In der Selbstbeschreibung des Funktionssystems wird diese Symbolisierung aus kommunikationspraktischen Gründen vereinfacht. Hier gilt dann nur der positive Wert des Codes, nur das Recht, nur die Wahrheit, nur die Liebe usw. als der eigentliche Sinn des Systems, und der negative Wert wird dann als Ausdruck eines Mißgeschicks mitgeführt. Das erleichtert eine teleologische, zielgerichtete Darstellung der Operationen des Systems und bringt die Paradoxie der Einheit von positiven und negativen Werten in eine eigentümlich ambivalente Form: Die begehrte Seite des Codes wird der abzulehnenden entgegengesetzt und zugleich zur Bezeichnung der Differenz selbst verwendet.) Das ermöglicht es dem System, am Unterbrechen der eigenen Zirkularität zu wachsen und in Reaktion auf Vorkommnisse immer neue Konditionierungen einzuführen, mit deren Hilfe man entscheiden kann, ob etwas als positiv oder als negativ zu bezeichnen ist.“ (Ebd., S. 750.)

„Codes sind aber nicht Abbilder einer Wertwirklichkeit, sondern einfache Duplikationsregeln. Sie stellen für alles, was in ihrem Anwendungsbereich (den sie selbst definieren) als Information (die sie selbst konstituieren) vorkommt, ein Negativkorrelat zur Verfügung. Also etwa: wahr / unwahr; geliebt / nicht geliebt; Eigentum haben / nicht haben; Prüfungen bestehen / nicht bestehen; Amtsmacht ausüben / ihr unterworfen sein usw.. Daraufhin erscheint alles, was mit der Form des Codes erfaßt wird, als kontingent - als auch anders möglich. In der Praxis entsteht damit ein Bedarf für Entscheidungsregeln, die festlegen, unter welchen Bedingungen der Wert bzw. der Gegenwert richtig bzw. falsch zugeordnet ist. Wir nennen solche Regeln Programme. Die Unterscheidung von Codes und Programmen strukturiert, können wir jetzt sagen, die Autopoiesis der Funktionssysteme in einer unverwechselbaren Weise, und die daraus resultierende Semantik unterscheidet sich grundlegend von den Teleologien, Perfektionsvorstellungen, Idealen oder Wertbeziehungen der Tradition. Man sieht dies nicht zuletzt an der logischen Struktur. Denn jeder Code realisiert zugleich einen Rejektionswert im Bezug auf alle anderen. Das heißt gerade nicht, daß der Wert anderer Werte bestritten wird und es zu Wertkonflikten im Sinne Max Webers kommen muß. Nur die andere Form, nur die andere Unterscheidung wird rejiziert .... Sachverhalte dieses Typs sind, und das erschwert den Durchblick, mit einer nur zweiwertigen Logik nicht zu erfassen. Man benötigt Beobachtungsinstrumente mit größerem logischen Strukturreichtum. Und erst das läßt große Teile der alt- und neueuropäishen Semantik als obsolet erscheinen.“ (Ebd., S. 750-751.)

„Dieser Begriff der Rejektion erlaubt es auch, das Verhältnis der binären Codes zur Moral (und damit: das Verhältnis der Funktionssysteme zur Moral) zu klären. Auch die Form der Moral muß rejiziert werden können. Und wieder heißt dies nicht, daß es auf Moral in der Gesellschaft nicht mehr ankommen soll, sondern nur: daß die Codes der Funktionssysteme auf einer Ebene höherer Amoralität fixiert werden müssen. (Mit dem Begriff der »höheren Amoralität« wollen wir uns von einem nahen Verwandten unterscheiden, von Hegels Begriff der »Sittlichkeit«. Wir folgen also nicht dem doch eigentümlich modernen (weil differenztheoretisch angesetzten) Duktus der Hegelschen Theorie. Diese geht von einer Unterscheidung aus (in diesem Falle: Trieb und moralische Pflicht, begriffen nach dem Muster heiß/kalt), um das bloße Entgegensetzen dieser beiden Seiten als Anstrengung des Begriffs für unzureichend anzusehen und die »Aufhebung« dieses Gegensatzes (und damit der Moral) in einer höheren, beide Seiten berücksichtigenden Einheit zu fordern und dies begrifflich einzulösen. Das Resultat wird mit der Unterscheidung von Moral und Sittlichkeit formuliert. Der Begriff der »höheren Amoralität« verzichtet auf die Apotheose einer solchen Einheit. Er besagt, an funktional äquivalenter Theoriestelle, nur, daß auch die Unterscheidung der Moral als Unterscheidung im Interesse anderer Unterscheidungen zurückgewiesen werden kann, und daß dies im Aufbau des Systems der modernen Gesellschaft an nicht-beliebigen Stellen geschieht. An die Stelle des Begriffs der »Aufhebung« setzen wir, um größeren logischen Strukturreichtum zu gewinnen, Gotthard Günthers Begriff der Rejektion.) Es darf nicht moralisch besser sein zu regieren, statt in der Opposition zu stehen. Es darf nicht moralisch besser sein, eine wahre Theorie statt einer falschen zu vertreten. Und auch das Recht muß Wert darauf legen, daß die Feststellung von Unrecht nicht zu einer moralischen Disqualifizierung führt. Erst wenn dies akzeptiert ist, sieht man die Einsatzpunkte von Moral auch in binär codierten Systemen, vor allem dort, wo die binäre Codierung selbst unterlaufen wird - etwa durch Doping beim Sport, durch Bedrohung der Richter, durch Fälschung der Daten in der empirischen Forschung. Im übrigen dringt Moral auch unkontrolliert ein. Die moralische Entgleisung eines Regierungspolitikers ist ein politischer Glücksfall für die Opposition, und ethische Bedenken können zwar nicht Wahrheit in Unwahrheit transformieren, aber Forschungsfinanzierungen behindern.“ (Ebd., S. 751-752.)

„An Hand ihrer Codes vollziehen die Funktionssysteme ihre eigene Autopoiesis, und damit erst kommt ihre Ausdifferenzierung zustande. (Ob man im Falle von Funktionssystemen, die doch Teilsysteme des Gesellschaftssystems sind, überhaupt von autopoietischer Autonomie sprechen kann, wird kontrovers diskutiert. ....) Wie jeder Beobachter leicht feststellen kann, ist die Autopoiesis in einem kausalen Sinne (und nur ein Beobachter sieht Kausalität!) abhängig und unabhängig von der Systernumwelt: abhängig, wenn man eine alte Formel der Kybernetik nochmals brauchen darf, in Hinsicht auf Energie und unabhängig in Hinsicht auf Information. Die Autopoiesis besteht in der Reproduktion ( =Produktion aus Produkten) der elementaren Operationen des Systems, also zum Beispiel von Zahlungen, von Rechtsbehauptungen, von Kommunikation über Lernleistungen, von kollektiv bindenden Entscheidungen usw.. Die distinkte Qualität solcher Elementaroperationen, ihre Unverwechselbarkeit im Verhältnis zu den Elementen anderer Systeme, liegt darin begründet, daß sie im Kontingenzbereich eines spezifischen Codes konstituiert sind (und nicht etwa darin, daß sie dessen positiven Wert bezeichnen). Sie sind stets formbezogen produziert. Auch Unrecht ist durch das Rechtssystem, auch Unwahrheit ist durch das Wissenschaftssystem determiniert, und der Code schließt nur dritte Möglichkeiten aus. Durch alle Operationendes Systems wird der binäre Code (mitsamt dem Ausschluß dritter Werte) laufend reproduziert, und mit den dadurch immer neu möglichen eigenen Operationen erfüllt das System seine Funktion.“ (Ebd., S. 752-753.)

„Wenn und soweit funktionale Differenzierung realisiert ist, kann mithin kein Funktionssystem die Funktion eines anderen übernehmen. Funktionssysteme sind selbstsubstitutive Ordnungen. Dabei setzt jedes voraus, daß die anderen Funktionen anderswo erfüllt werden. Insofern gibt es auch keine Möglichkeiten einer wechselseitigen Steuerung, weil dies bis zu einem gewissen Grade Funktionsübernahme implizieren würde. Was Schiller für das Verhältnis von Politik und Kunst bzw. Wissenschaft feststellt, gilt prototypisch für alle Intersystembeziehungen: »Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht.« (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, a.a.O.) Im Verhältnis der Funktionssysteme zueinander kann es Destruktion geben, je nachdem, wie sehr sie aufeinander angewiesen sind, nicht aber Instruktion.“ (Ebd., S. 753.)

„Die operative Geschlossenheit der Funktionssysteme schließt im übrigen keineswegs aus, daß bestimmte Ereignisse in mehreren Systemen zugleich als Operationen identifiziert werden und ein Beobachter sie dann als Einheit sehen kann. So dienen Geldzahlungen normalerweise der Erfüllung einer Rechtspflicht und ändern jedenfalls die Rechtslage im Hinblick auf Eigentum. (Diese operative Kopplung ist dadurch bedingt, daß die Institutionen Eigentum und Vertrag der strukturellen Kopplung des Rechtssystems und des Wirtschaftssystems dienen und deshalb für regelmäßige wechselseitige Irritation sorgen. Zur Begrifflichkeit vgl. oben Kap. 1, VI [S. 92-120]; ferner in diesem Kapitel S. 695.) Ereignisse, die in mehreren Systemen zugleich vollzogen werden, bleiben aber an die rekursiven Netzwerke der verschiedenen Systeme gebunden, werden durch sie identifiziert und haben deshalb eine ganz verschiedene Vorgeschichte und eine ganz verschiedene Zukunft, je nachdem, welches System die Operation als Einheit vollzieht. Woher das Geld kommt, und was der Empfänger mit ihm weiterhin anfängt, hat mit der rechtlichenSeite der Transaktion nicht das geringste zu tun. Nur die Rekursivität des Operationszusammenhanges der Einzelsysteme identifiziert die Operation als Systemelement.“ (Ebd., S. 753-754.)

„Wie bei allen autopoietischen Systemen, so ziehen auch hier die Operationen die Grenzen des Systems. Indem sie geschehen, legen sie fest, was zum System, und damit, was zur Umwelt gehört. Da sie dies aber nur im rekursiven Netzwerk früherer und möglicher späterer Operationen desselben Systems tun können, müssen sie zugleich das System an Hand der Differenz von System und Umwelt beobachten. Sie legen sich selbst fest und das geschieht rein faktisch, und geschieht nur, wenn es geschieht, und geschieht nur so, wie es geschieht -, benötigen dafür aber für die Beobachtung dieser Festlegung die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz.“ (Ebd., S. 754.)

„Daher sind auch Weltbeschreibungen immer Ausformulierungen der Fremdreferenz spezifischer Systeme und folglich abhängig davon, wie über Selbstreferenz disponiert wird. Die Weltbeschreibung des Wissenschaftssystems zum Beispiel benutzt das Schema von (begrifflich bezeichenbaren) Elementen und Beziehungen zwischen diesen Elementen, in der Soziologie zum Beispiel Handlungen und statistisch aufbereiteten Relationen. Was in diesem Schema erfaßt werden kann, gilt der Wissenschaft als Realität (so sehr dem von anderer Seite widersprochen wird), weil die Welt selbst unsichtbar bleibt und sich nicht wehren kann. Wir werden noch sehen, daß wir uns deshalb mit einer Mehrheit von gleichermaßen validen Weltbeschreibungen abfinden müssen.“ (Ebd., S. 754.)

„Die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz steht »orthogonal« zum binären Code. Das heißt: beide Referenzen können mit beiden Werten des Codes belegt werden. Oder anders gesagt: Es gibt keinen besonderen Zusammenhang zwischen dem positiven Codewert und der Fremdreferenz. Die Einheit der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz kann nur in einem »imaginären Raum« gedacht werden; das heißt: im System, das diese Unterscheidung verwendet, ist deren Einheit nicht operationsfähig. Aber sie kann trotzdem als Seite einer weiteren Unterscheidung fungieren, nämlich als Komponente der Unterscheidung von Referenz und Code.“ (Ebd., S. 754-755.)

„Diese Einsicht erfordert tiefgreifende Umstellungen in den traditionellen Semantiken und hat weit verästelte Auswirkungen auf die Selbstbeschreibung der Funktionssysteme und damit der modernen Gesellschaft. Wahrheit zum Beispiel ist nicht als Kriterium für die Ordnung von Fremdreferenzen des Erkennens zu verstehen (adaequatio, Korrespondenztheorie), sondern bezieht sich auf die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz (Konstruktivismus). Man muß damit auf jeden definitorischen Zusammenhang von Wahrheit, Sinn und (Fremd)-Referenz verzichten. Das Recht kann nicht länger als Mittel des Interessenschutzes (= Fremdreferenz) begriffen werden, denn es gibt rechtmäßige und unrechtmäßige Interessen, und andererseits rechtskonforme und rechtswidrige Begriffsanwendungen (= Selbstreferenz). Und wie in der Wissenschaftstheorie damit die Unterscheidung von analytischer und synthetischer Wahrheit ihre alte, auf Kant zurückführbare Bedeutung verliert, so in der Rechtstheorie die Unterscheidung von Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz. An die Stelle tritt ein sehr viel abstrakter angelegtes Unterscheiden von Unterscheidungen. Im Wirtschaftssystem treten entsprechende Probleme am heute zentralen Begriff derTransaktion zutage. Der Begriff formuliert die Einheit von Selbstreferenz (Zahlungen) und Fremdreferenz (Sachleistungen, Dienstleistungen, Bedürfnisbefriedigungen) des Wirtschaftssystems; und es liegt auf der Hand, daß dabei der Eigentumscode Haben/Nichthaben auf beiden Seiten der Transaktion jeweils zweimal, in Bezug auf Zahlungen und in Bezug auf Sachleistungen, vorausgesetzt sein muß. (Trotz dieser komplexen Struktur scheint eine weitere Auflösung des Begriffs der Transaktion im Wirtschaftssystem [anders im Rechtssystem!] nicht möglich zu sein. Dies spricht für die Auffassung, Transaktionen seien die Letztelemente des Wirtschaftssystems, wie sie auch im Kontext einer Theorie selbstreferentieller, autopoietischer Systeme vertreten wird ....)“ (Ebd., S. 755-756.)

„Diese Beispiele aus Wissenschaft, Recht und Wirtschaft zeigen, wie sehr die aktuelle Diskussion bereits mit der angezeigten Problemlage beschäftigt ist; sie zeigen zugleich, daß die Diskussionen in unterschiedlichen akademischen Disziplinen getrennt ablaufen und daß weder die Einheit der zugrundeliegenden Problemstellung erkannt noch der notwendige Abstraktionsgrad erreicht wird. Und damit fehlt auch die Einsicht, daß diese in Verschiedenheit und Ähnlichkeit auffälligen Probleme als Strukturprobleme eines funktional differenzierten Gesellschaftssystems anfallen. (Gelegentlich trifft man immerhin auf die Einsicht, daß es sich bei Festlegungen in diesem kombinatorischen Spielraum der Unterscheidungen um soziale Operationen handelt, also um Kommunikationen. ....)“ (Ebd., S. 756.)

„Die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft erzeugen und reduzieren mit Hilfe der Unterscheidung dieser Unterscheidungen, nämlich Selbstreferenz/Fremdreterenz und Positivwert/ Negativwert des Codes, eine nur für sie, nur für das betreffende System relevante Komplexität. Sie erkennen mit Hilfe der Unterscheidung von Referenzen auf der Seite Selbstreferenz das Determiniertsein durch die Strukturen und Operationen des eigenen Systems. Das System ist und bleibt immer autopoietisch: Aber es expandiert und schrumpft je nach dem Umfang der Operationen, die es auf diese Weise -nicht erkennt, sondern faktisch vollzieht.“ (Ebd., S. 756-757.)

„In diesem Sinne ist Autopoiesis ein Entweder/Oder-Prinzip der Systembildung. Es gibt entsprechende Systeme oder es gibt sie nicht -für Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft usw.. Aber die soziologisch interessantere Frage ist: wieviel Expansion nach innen die Gesellschaft damit erzeugt, wieviel Monetarisierung, Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung, Politisierung sie erzeugen und verkraften kann; und wieviel davon gleichzeitig (statt z. B. nur Monetarisierung); und andererseits: was die Auswirkungen sein würden, wenn die Funktionssysteme schrumpfen, wenn es zu Demonetarisierungen, Deregulationen etc. kommt. “ (Ebd., S. 757.)

„Für die Fortsetzung der Autopoiesis genügt die einfache Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. So wie ein Bewußtsein sich selbst nicht mit den Gegenständen verWechseln darf, so kann das Recht nicht als autopoietisches System operieren, wenn es Rechtspflichten ständig mit bloßen Wünschen oder mit Bedingungen moralischer Achtung oder Mißachtung verwechselt. Eine andere Frage ist: welche Möglichkeiten der Beobachtung von Systemen sich ergeben, wenn es zur Bildung von Teilsystemen kommt. Aus rein logischen Gründen sind drei Möglichkeiten gegeben, nämlich (1) die Beobachtung des Gesamtsystems, dem das Teilsystem angehört, (2) die Beobachtung anderer Teilsysteme in der gesellschaftsinternen (oder auch: anderer Systeme in der externen) Umwelt, und (3). die Beobachtung des Teilsystems durch sich selber (Selbstbeobachtung). Um diese verschiedenen Systemreferenzen unterscheiden zu können, wollen wir die Beobachtung des Gesamtsystems Funktion, die Beobachtung anderer Systeme Leistung und die Beobachtung des eigenen Systems Reflexion nennen. (Vorsorglich sei nochmals daran erinnert, daß der Begriff Beobachtung jede Praxis unterscheidenden Bezeichnens abdeckt, also auch Handlungen einschließt.) - Diese Unterscheidungen haben eine erhebliche orientierungspraktische Bedeutung. Wenn man sie nicht auseinanderhält, kommt es zu semantischen Verwirrungen beträchtlichen Ausmaßes. So dient der Begriff »Staat« der internen Selbstbeschreibung (Reflexion) des politischen Systems und sollte nicht verwechselt werden mit der gesellschaftlichen Funktion des Systems, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. Wenn dies verwechselt wird, kommt es zu einer Hypertrophie des Staatsbewußtseins. (Oder im akademischen Bereich: zu der ganz unnötigen Unterscheidung von Staatslehre und politischer Soziologie, die dann noch den Zusatzeffekt hat, der Politikwissenschaft mittendrin eine eigene Aufgabe zu suggerieren.) Ähnliches passiert, wenn man mit Bezug auf das Wirtschaftssystem nicht zwischen Leistungen und Funktion unterscheidet. Dann wird Wirtschaft beschrieben als Extraktion von Materialien aus der natürlichen Umwelt und als Befriedigung von Bedürfnissen, sei es der Menschen, sei es anderer Funktionssysteme der Gesellschaft. Das sind aber nur ihre Leistungen, während die Funktion darin liegt, unter der Bedingung von Knappheit künftige Versorgung sicherzustellen. Verwechselt man dies, wird der eigentümliche Zeitbezug der Wirtschaft unverständlich und die geistvollste Hervorbringung der modernen Gesellschaft, eben die Geldwirtschaft, wird als »materialistisch« beschrieben. Im Bereich der Wissenschaft unterscheidet man unglücklich zwischen anwendungsbezogener Forschung und Grundlagenforschung; aber es geht letztlich um den Unterschied von Leistung und Funktion. Verkennt man dies, wird das, was als »Grundlagenforschung« zugelassen wird, nur noch als Theoriearbeit geduldet, und das System leidet dann unter der unverdaulichen Erfahrung, daß .mit Grundlagenforschung mehr Reputation verdient wird und schlechtere Finanzierungschancen verbunden sind als mit anwendungsbezogener Forschung!“ (Ebd., S. 757-758.)

„Alles in allem bieten die Leistungsverhältnisse (»Leistung« verstanden als Beobachtung anderer Teilsysteme in der gesellschaftsinternen Umwelt [vgl. S. 757]; HB) zwischen Systemen in der modernen Gesellschaft ein sehr unübersichtliches, nicht auf prinzipien (etwa auf Tauschprinzipien) zurückführendes Bild. Und obwohl dies der mechanismus ist. über den die Dynamik der gesellschaftlichen Integration geleitet wird (Dynamik hier im Unterschied zu der Statik, die sich in strukturellen Kopplungen zwischen den Funktionssystemen ausfrückt), verzichtet die moderne Gesellschaft ganz offensichtlich darauf, in diesen Beziehungen ihre eigene Einheit (falls es sie wirklich gibt; HB) etwa in der Form von Harmonie- oder Gerechtigkeitsideen zur Geltung zu bringen. Integration ist unter diesen Umständen nichts anderes als die Variation der Beschränkunegn dessen, was gleichzeitig möglich ist.“ (Ebd., S. 759-760.)

„Wenn operative Schließung und autpoietische Reproduktion der Funktionssysteme gesichert sind, kann es in dem so markierten Bereich zu weiteren Systemdifferenzierungen kommen. Innerhalb der Gesellschaft ist die Ausdifferenzierung weiterer Sozialsysteme zwar auf sehr verschiedene, spontane oder organisiert Weise möglich. Es gibt Wildwuchs der verschiedensten Art - wie in der Natur. Wenn aber eine Subsystembildung als Differenzierung eines Funktionssystems erkennbar sein soll, setzt dies eine operative Schließung voraus.“ (Ebd., S. 760.)

„Immer wiederholt die weitere Differenzierung das Systembildungsschema, sie wiederholt das Einsetzen und Reproduzieren einer Differenz zwischen System und Umwelt. Dabei stehen im Prinzip wieder alle Formen der Systemdifferenzierung zur Verfügung, sowohl Segmentierung als auch Zentrum/Peripherie-Differenzierung, Hierarchiebildung ebenso wie weitere funktionale Differenzierung. Im einzelnen unterscheiden sich die Funktionssysteme erheblich, die Komplexitätssteigerung nach innen folgt keinem gemeinsamen Muster. Im allgemeinen scheint jedoch eine Art segementärer Differenzierung vorzuherrschen, die Momente einer funktionalen Differenzierung in sich aufnimmt. Das weltpolitische System ist segementär in Territorialstaaten differenziert, bringt dabei aber zugleich eine Art Zentrum/Peripherie-Differenzierung zustande (doch wohl auch eine auf Stratifikation [Schichten- bzw. Hierarchiebildung] setzende Differenzierung; HB). Das Weltwirtschaftssystem kann man am besten als eine Differenzierung von Märkten begreifen, die als Umwelt für Organisationsbildungen (Unternehmen) dienen, die sich ihrerseits als Konkurrenten wahrnehmen. Dabei entsteht keinesfalls eine strikte Gleichheit der Segmente, man denke nur an die Sonderstellung der Finanzmärkte und der Banken oder auch an die sehr unterschiedliche Empfindlichkeit von Arbeits-, Rohstoff- und Produktionsmärkten für Außeneinwirkungen. Auch das Wissenschaftssystem ist primär segmentär in Diziplinen gegliedert, die sich ebenfalls nicht durch Gleichheit, sondern gerade durch Ungleichheit der Forschungsgegenstände auszeichnen, aber in bezug auf unterschiedliche Forschungsgegenstände die gleiche Funktion erfüllen. Innerhalb der einzelnen Funktionssysteme scheint sich mithin das zu wiederholen, was wir auch für die Gesellschaft im ganzen ausmachen konnten: daß die eindeutige Festlegung auf den Primat einer bestimmten Differenzierungsform eher die Ausnahme als die Regel ist, und daß dies, wenn es gelingt, das System evolutionären Änderungsschüben aussetzen kann, absehbar etwa für den Fall einer zu krassen Zentrum/Peripherie-Differenzierung des Wirtschaftzssystems.“ (Ebd., S. 760-761.)

„Die für die Gesellschaft wichtigsten Funktionen können auf dem erfolgreichen Leistungsniveau (»Leistung« in dem soeben [S. 757; HB]) erörterten, auf andere Systeme bezogenen Sinne) nur noch in den dafür ausdifferenzierten Funktionssystemen erfüllt werden. Für Politik ist das politische System zuständig, aber wenn dieses System Geld braucht, muß es monetär agieren, das heißt: wirtschaftliche Zahlungsvorgänge konditionieren. Es mag die politikspezifische Illusion haben, selbst Geld »machen« zu können. Aber damit nimmt die Wirtschaft dieses Geld nicht oder nur unter Abwertungsbedingungen an, und das Problem kehrt als »Inflation« zurück. Umgekehrt gibt es kein politisches Handeln außerhalb der Politik, wie manch in Professor erfahren mußte, der sich auf dieses Terrain wagte. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, für alle Funktionssysteme. Zugleich stellen sich diese Systeme aber wechselseitig auf ein fein regulierte Leistungsnivaeu ein, die Politik etwa auf die Subtilitäten des vom zuständigen Gericht fortentwickelten Verfassungsrechts und mehr oder weniger alle Funktionssysteme auf die gewohnten Finanzierungen. das heißt: geringfügige Schwankungen in der Leistungsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft (etwa der politischen Bereitschaft zur Rechtsdurchsetzung) können in anderen Systemen überproportionale Irritationen auslösen. Wenn nur 10% des akademisch ausgebildeten Nachwuchses in der Wirtschaft keine niveauentsprechenden Berufschancen gegeben sind, deprimiert das eine ganze Generation, lenkt die Ausbildungsströme, verändert die Personalzuteilungen und die Finanzmittel, und dies in jeweils anderen Systemen, das heißt: ohne gesicherte Proportionalität im Verhältnis zur Auslöserursache!“ (Ebd., S. 762.)

„Jedes Funktionssystem kann nur die eigene Funktion erfüllen.“ (Ebd., S. 762.)

„Der damit gesamtgesellschaftlich ansteigende Irritationskoeffizient spiegel die gleichzeitige Zunahme von wechselseitigen Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten.“ (Ebd., S. 763.)

„Für das Gesellschaftssystem hat diese Ordnung des Verhältnisses der Funktionssysteme zueinander weitreichende Folgen. Unter der Bedingung der Stratifikation und/oder der Zentrum/Peripherie-Differenzierung konnte man davon ausgehen, daß das stärkste System »herrscht« und mit entsprechenden Ressourcen versorgt wird (wenngleich realistisch gesehen eine regressive Entwicklung in Richtung auf tribale Verhältnisse durchaus möglich war, weil auf dem Land noch weithin archaische Verhältnisse herrschten). In funktional differenzierten Gesellschaften gilt eher die umgekehrte Ordnung: das system mit der höchsten Versagensquote dominiert, weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt. .... Wenn Recht nicht mehr durchsetzbar wäre oder Geld nicht mehr angenommen werden würde, wären auch andere Funktionssysteme vor kaum mehr lösbare Probleme gestellt. Je unwahrscheinlicher die Leistung, je voraussetzungvoller die Errungenschaften, desto größer ist auch das gesamtgesellschaftliche Ausfallrisiko. Das Ausmaß an Beachtung und Besorgnis läßt sich nicht mehr mit der Metaphorik der »Kraft«, sondern nur noch mit der Metaphorik der »Krise« beschreiben.“ (Ebd., S. 769-770.)

„Mit dem Umbau von Stratifikation auf funktionale Differenzierung wird zwar die Differenzierungsform der Gesellschaft geändert, keineswegs aber Schichtung beseitigt.“ (Ebd., S. 772.)

„Die Gesellschaftstheorie hätte sich eher für die Frage zu interessieren, wie es kommt, daß nach wie vor krasse Unterschiede der Lebenschancen reproduziert werden, auch wenn die Differenzierungsform der Gesellschaft darauf nicht mehr angewisen ist. Die Antwort lautet: daß dies offenbar ein Nebenprodukt des rationalen Operierens der einzelnen Funktionssysteme ist und vor allem: des Wirtschaftssystems und des Erziehungssystems. (Daß diese Beiden Funktionssysteme mehr als andere eine solche perverse Selektivität entfalten, ist - unter optimistischen Vorzeichen und schon früh - auch daran zu erkennen, daß das Bürgertum sich in seinem Verhältnis zum Adel vor allem auf sie stützt: auf Geld und auf Bildung.)“ (Ebd., S. 774.)

„Die Chancen für Segmentierungen (etwa auf Organisationsbasis) und für sich selbst verstärkende Ungleichheiten (etwa zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern) nehmen mit der Komplexität des Gesellschaftssystem zu; und sie ergeben sich gerade daraus, daß Funktionssysteme wie das Wirtschaftssystem und das Erziehungssystem Gleichheiten bzw. Ungleichheiten als Moment der Rationalität ihrer eigenen Operationen nutzen und damit steigern.“ (Ebd., S. 776.)

„Vordringlich ist es demgegenüber (gegenüber z.B. Anleitung, Planung, Steuerung, Ethik u.ä.; HB), jene Schieflage der Gesellschaftstheorie zu korrigieren, die entsteht, wenn man allein die autopoietische Dynamik der Funktionssysteme in Betracht zieht. In der klassischen soziologischen Diskussion ... ist dies Problem mit dem Schema Differenz/Integration behandelt worden. (Die bedeutende Ausnahme ist natürlich Max Weber, der nur einen tragischen Konflikt heterogener Wertbeziehungen und Motive feststellen konnte, sich aber, eben deshalb, genötigt sah, auf einen Gesellschaftsbegriff zu verzichten.) Die Aufgabe der Soziologie lag dann in der Suche nach Formen der Integration, die zu funktionaler Differenzierung passen. Wir ersetzen dieses Schema durch die Unterscheidung von Autopoiesis und struktureller Kopplung.“ (Ebd., S. 778.)

„Faktisch sind alle Funktionssysteme durch strukturelle Kopplung miteinander verbunden und in der Gesellschaft gehalten. Dieser in Kapitel 1, VI (S. 92-120; HB) erläuterte Begriff ist nicht nur auf die gesellschaftsinternen Verhältnisse anwendbar. Schon auf der Ebene des einfachen Lebens von Einzellensystemen kann autopoietische Schließung nicht entstehen, ohne daß sich das Umweltverhältnis in strukturelle Kopplung umformt, die bestimmte Abhängigkeiten steigern und andere wirksam ausschließen bzw. auf die Möglichkeit der Destruktion reduzieren. Dieser genetische und strukturelle Zusammenhang von operativer Schließung und struktureller Kopplung setzt sich auf allen vom Leben abhängigen Ebenen der Bildung autopoietischer Systeme fort.“ (Ebd., S. 779.)

„Auch hier besagt strukturelle Kopplung: Umformung analoger (gleichzeitger, kontinuierlicher) Verhältnisse in digitale, die nach einem Entweder/Oder-Schema behandelt werden können, und ferner Intensivierung bestimmter Bahnen wechselseitiger Irritation bei hoher Indifferenz gegenüber der Umwelt im übrigen. Ohne solche Formen struktureller Kopplung wäre die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen in ihren Anfängen, etwa auf der Ebene besonderer Korporationen oder Organisationen, stecken geblieben. Solange die Einrichtung struktureller Kopplungen gelingt, läuft der gesamtgesellschaftliche Einfluß auf die strukturelle Entwicklung von Funktionssystemen über diese Bahnen. Langfristige Tendenzen der »strukturellen Drift« der Funktionssysteme können deshalb nur erklärt werden, wenn man dies mit in Betracht zieht. Obwohl es keine Möglichkeit des Durchgriffs auf Strukturentwicklungen von außen mehr gibt, spielt eine wesentliche Rolle, mit welchen Irritationen ein System sich immer und immer wieder beschäftigen muß - und welche Indifferenzen es sich leisten kann.“ (Ebd., S. 779--780.)

„(1) Die Kopplung von Politik und Wirtschaft wird in erster Linie durch Steuern und Abgaben erreicht. .... (2) Die Kopplung zwischen Recht und Politik wird durch die Verfassung geregelt. ... (3) Im Verhältnis von Recht und Wirtschaft wird die strukturelle Kopplung durch Eigentum und Vertrag erreicht. .... (4) Wissenschaftssystem und Erziehungssystem werden durch die Organisationsform der Universitäten gekoppelt. .... (5) Für die Verbindung der Politik mit der Wirtschaft ... bilden sich neue Einrichtungen struktureller Kopplung heraus. Sie liegen mehr und mehr in der Beratung durch Experten. .... (6) Für die Beziehungen zwischen dem Erziehungssystem und dem Wirtschaftssystem (hier: als Beschäftigungssystem) liegt der Mechanismus struktureller Kopplung in Zeugnissen und Zertifikaten. .... Wir belassen es bei den Beispielen. Man könnte weitere nennen, etwa das »Krankschreiben« im Verhältnis von Medizinsystem und Wirtschaftssystem oder Kunsthandel (Galerien) im Verhältnis von Kunstsystem und Wirtschaftssystem. Auch würde eine voll durchgeführte Analyse ergeben, daß es Funktionssysteme, etwa das Religionssystem, gibt, die kaum strukturelle Kopplungen ausgebildet haben und deshalb auch in ihrer strukturellen Drift nicht deutlich geführt sind.“ (Ebd., S. 781-787.)

„Die Verwirklichung funktionaler Differenzierung als Primärform gesellschaftlicher Differenzierung ändert auf tiefgreifende Weise die Umweltverhältnisse der Systeme, und zwar sowohl des Gesamtsystems Gesellschaft als auch seiner Teilsysteme. Zur Darstellung dieser Veränderung benutzen wir, strukturelle Kopplungen voraussetzend, den Begriff der Irritation. Die These ist, daß der Übergang zu dieser Differenzierungsform die Irritierbarkeit der Gesellschaft steigert, ihre Fähigkeit, auf Veränderungen der Umwelt rasch zu reagieren, zunehmen läßt, zugleich aber dies mit einem weitgehenden Verzicht auf Koordination der Irritationen bezahlen muß. Auf die Unkoordiniertheit der Irritationen kann die Gesellschaft dann wiederum nur irritiert reagieren - und nicht etwa durch eine zentral überwachte Lösung des Problems der Überirritation. Denn wäre eine solche zentrale Planung und Steuerung möglich, würde das sehr rasch die Irritation der Gesellschaft auf das Format der Informationsverarbeitungskapazität der entsprechenden Stelle (und man kann eigentlich nur an Organisation denken) einschränken und den Vorteil wiederaufgeben, der mit den der Steigerung von Irritabilität gewonnen war. In der Tendenz verlagert sich die Informationsverarbeitung von antizipativen auf reaktive Muster (obwohl bei zunehmender Komplexität beides zunehmen kann).“ (Ebd., S. 789.)

„Irritation ... hat seinen theoretischen Ort in der These eines Zusammenhangs von operativer Schließung (Auopoiesis) und strukturelle Kopplung von System und Umwelt. Umwelteinwirkugen auf das System, die es selbstverständlich in jedem Augenblick in riesigen Ausmaßen gibt, können das System nicht determinieren, weil jede Determination des Systems nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen (hier also: nur durch Kommunikation) erzeugt werden kann und in diesem Zusammenhang an die systemeigenen Strukturen gebunden bleibt, die solche Rekursionen und entsprechende operative Sequenzen ermöglichen (Strukturdetermination). Irritation ist danach ein Systemzustand, der zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems anregt, dabei aber, als bloße Irritation, zunächst offen läßt, ob dazu Strukturen geändert werden müssen oder nicht; ob also über weitere Irritationen Lernprozesse eingeleitet werden oder das System sich darauf verläßt, daß die Irritation mit der Zeit von selbst verschwinden werde, weil sie ein nur einmaliges Ereignis war. Im Offenhalten beider Möglichkeiten liegt eine Garantie für die Autopoiesis des Systems und zugleich eine Garantie seiner Evolutionsfähigkeit. Aber die Autopoiesis hängt nicht, das wäre fatal, von der Lernfähigkeit des Systems ab. Zugleich zeigt diese Überlegung auch (und das wird schon für Organismen gelten), daß die Steigerung der Irritabilität mit der Steigerung der Lernfähigkeit, also mit der Fähigkeit zusammenhängt, eine Ausgangsirritation im System zu vermehren und im Abgleichen mit vorhandenen Strukturen solange weitere Irritationen zu erzeugen, bis die Irritation durch angepaßte Strukturen konsumiert ist.“ (Ebd., S. 790.)

„Zu beobachten ist, daß die Irritationsanlässe aus der Umwelt des Gesellschaftssystems in den letzten Jahrzehnten dramatisch zunehmen - und zwar auch und gerade auf dem Bildschirm der Gesellschaft selbst. Das gilt in mindestens drei Hinsichten: (1) in bezug auf die durch Technik und Übervölkerung ausgelösten ökologischen Probleme der außermenschlichen Umwelt: (2) in bezug auf die Bevölkerungszunahmen selbst, also die rapide Vermehrung menschlicher Körper und deren unkontrollierbaren Wanderungen; und (3) in bezug auf die zunehmend individualisierten, zunehmend »eigensinnig« gebildeten, auf Glück und Selbstverwirklichung gerichteten Erwartungen der Einzelmenschen. All diese Insuffizienzen sind, wie leicht zu sehen, ein direkter oder indirekter Effekt der modernen Gesellschaftsevolution, also des Übergangs zu funktionaler Differenzierung.“ (Ebd., S. 795.)

„Was man gegenwärtig beobachten kann, läßt sich nicht als zielstrebige Lösung dieses Problems begreifen, sondern nur als evolutionäre Veränderung (einschließlich Neubildung) von Strukturen, die auf die gegebene Lage reagieren. Zu diesen epigenetisch evoluierenden Formen zählt vor allem das überraschende Neuentstehen harter Unterscheidungen und Grenzen, die zur Identitätsbildung beitragen und deshalb nicht überschritten werden können. (Hieran knüpft Dirk Baecker in einem Seminarvortrag an der Bielefelder Universität [24.11.1992] die Hoffnung, daß dadurch auch die Umweltprobleme besser bedient werden können.) Das sieht man an der Wiederkehr ethnischer Unterscheidungen in vermeintlich staatlich pazifizierten Regionen und ebenso an dem Wiederaufleben religiöser Fundamentalismen in einer »Weltgesellschaft« (Anführungsstriche von mir; HB), die üblicherweise als »säkularisiert« beschrieben wird. (Siehe hierzu den Vergleich von islamischen und us-amerikanisch-protestantischen Fundamentalismen .... Der Vergleich zeigt schlagend, daß der Fundamentalismus nicht auf die jeweiligen Traditionen zurückgeführt werden kann, mit denen die Anhänger sich identifizieren. Es handelt sich nicht um »survivals«, sondern um Neubildungen, die Opposition suchen.)“ (Ebd., S. 796.)

„Und weil es um Identität geht, geht es auch um Gewalt.“ (Ebd., S. 797.)

„Was bleibt, ist die eigene Larmoryanz (*), die feststellt, daß die Gesellschaft den ethischen Amsprüchen nicht genügt, und mit dieser Feststellung verständlicherweise kommunikativ erfolgreich agiert. (* Hegel hätte vielleicht von einem Standpunkt der Rührung gesprochen, mit dem das Individuum sich in seiner guten Gesinnung selbst affirmiert. Siehe dazu die Vorlesungen über die Philosophie der Religion, I, a.a.O. Solange man »Ethik« auf individuelles Verhalten bezieht und den Begriff des Individuums empirisch ernst nimmt, wird man darüber kaum hinauskommen.)“ (Ebd., S. 798.)

„An sich sind Werte nur Präferenzen.“ (Ebd., S. 799.)

„Die vielen problematischen Folgen der funktionalen Differenzierung und der unkorrigierbaren operativen Autonomie der Funktionssysteme sind oft beschrieben und der modernen Gesellschaft zur Last gelegt worden. Am bekanntesten ist sicher das Versagen des Weltwirtschaftssystems vor dem Problem der gerechten Verteilung des erreichten Wohlstandes. Ähnliche Folgeprobleme lassen sich für andere Funktionssysteme aufweisen. Das auf Schulen und Hochschulen konzentrierte Erziehungssystem hat zu einer erheblichen (erheblichen! HB) Verlängerung der Ausbildungszeiten für den Nachwuchs geführt. Er könnte längst produktiv tätig sein und heiraten (und bald auch Kinder haben! HB), statt sich weiter in Einrichtungen der höheren Bildung zu tummeln, um seine Ausgangsposition für einen Berufsstart zu verbessern (falls überhaupt noch angestrebt in dem hohen Alter! HB). Das politische System zieht über die politischen Parteien Personen in die Politik, die dann auf Grund der puren Notwendigkeit, beschäftigt zu sein (Geld und damit Macht abzuzocken! HB), das Volk mit nichtfinanzierbaren Wohltaten beglücken. Die Erwartungen, die an Intimbeziehungen (Stichwort Liebesheirat) gerichtet werden, sind so gesteigert, weil man schließlich Motive braucht, sich darauf einzulassen, daß in den anschließenden Ehen ein erheblicher (erheblicher! HB) Therapiebedarf entsteht und es häufig zu Scheidungen (was wiederum vor allem, aber nicht nur das Rechtssystem erfreut! HB) und Neuversuchen kommt.“ (Ebd., S. 801-802.)

„Die genannten Beispiele zeigen, daß die Funktionssysteme der Gesellschaft sich selbst - und damit die Gesellschaft! - mit Folgeproblemen ihrer eigenen Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Hochleistungsorientierung belasten. Dies ist jedoch nur ein Teilbereich dessen, was man an gesellschaftlichen Folgen funktionaler Differenzierung beachten müßte. Ein anderer Bereich betrifft die Umweltbeziehungen der Gesellschaftssystems und hier besonders das Feheln einer Zentralinstanz, die für solche Probleme zuständig wäre. Signale, die die Umwelt erzeugt und die die Gesellschaft in Informationen verwandelt, werden nur in den einzelnen Funktionssystemen aufgenommen und bearbeitet, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. .... Die Gesellschaft selbst kann nicht handeln. Sie kommt in der Gesellschaft nicht nochmals vor und kann sich, wenn funktionale Differenzierung durchgesetzt ist, in der Gesellschaft auch nicht vertreten lassen. Es gibt in der Gesellschaft keine »gute Gesellschaft«, keinen Adel, keine ausgezeichnete Form städtischer (ziviler) Lebensführung, an die man sich wenden könnte. Deshalb ist es eine allzu bequeme Illusion, Umweltprobleme »ethisch« lösen zu können ....“ (Ebd., S. 802.)

„Zwar erzeugt jede Ausdifferenzierung eines systems immer zugleich System und Umwelt, da Systeme nur als Formen gebildet werden können, die eine andere Seite, einen »unmarked space« voraussetzen. Auch operieren sinnorientierte Systeme immer mit der Kontextur Selbstreferenz/Fremdreferenz. Sie können ihre Umwelt nicht vergessen.“ (Ebd., S. 802-803.)

Wohin gehört ein westafrikanischer Trommler, der eine hohe Zahl von verschiedenen Rhythmen beherrscht und eigenwillig kombinieren kann, seine Prominenz aber den Massenmedien und den Exotikinteressen des westlichen Publikums verdankt? (Die»Weltgesellschaft« ist eben nur eine westliche! HB.) In Zahlreichen trancebasierten Kulten lassen sich medizinische, seelentherapeutische und religiöse Bezüge kaum unterscheiden, und gerade das macht ihre Attraktivität aus. Wie kann man die weltweit zu beobachtende Ghettobildung in Großstädten (Rio de Janeiro, Chikago, jetzt auch Paris) erklären: durch wirtschaftlich erzwungene Migrationsbewegungen, durch Schichtendifferenzierungen im Schulsystem, durch unterschiedliche Rechtsordnungen, durch ein Versagen politischer Kontrolle? Offenbar kombinieren, verstärken und behindern sich die Auswirkungen verschiedener Funktionssysteme auf Grund von Bedingungen, die nur regional gegeben sind und folglich sehr unterschiedliche Muster erzeugen. Niemand wird diese Fakten bestreiten. Die Frage ist, welche Theorie ihnen gerecht werden kann. - Eine Zeitlang hat man versucht, diese Probleme mit dem Schema von Tradition und Moderne zu behandeln und damit traditionsbedingte Modernisierungspfade anzuerkennen. Fast parallel dazu kam es jedoch zu erheblichen Bedenken gegen eine solche Kontrastierung. In der Tat: Man wird kaum übersehen können, daß die Traditionsfeindlichkeit (und Innovationsfreundlichkeit) des europäischen Rationalismus ihrerseits eine Tradition ist, während andererseits die nostalgischen bis fanatischen Rückwendungen zur Tradition seit der Romantik, aber auch in den religiösen Fundamentalismen der letzten Jahrzehnte als typische Intellektuellenattitüde durchschaut werden muß. Seit langem ist dies Schema also durch einen Wiedereintritt in sich selbst bestimmt und damit fast beliebig anwendbar. Schon dem Hektor war es egal, ob der Vogel nach links fliegt oder nach rechts fliegt oder im Westen oder im Osten (vgl. Ilias, XII, 249-250). Außerdem kann der Rückgriff auf unterschiedliche regionale Traditionen kaum erklären, daß die Spannungen zwischen globalen und regionalen Orientierungen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts offenbar zugenommen haben.“ (Ebd., S. 807-808.)

„Vor allem die Fortexistenz von Natinalstaaten führt dazu, daß innerhalb der Weltgesellschaft und unter Ausnutzung ihrer Fluktuationen regionale Interessen zur Geltung gebracht werden. Die Staaten konkurrieren zum Bespiel auf den internationalen Finanzmärkten um Kapital für regionale Investitionszwecke. Besonders am Staat wird diese Differenz von global und regional sichtbar, auch wenn das politische System der Weltgesellschaft ein Staatensystem ist, das es nicht mehr zuläßt, die Einzelstaaten als Einheiten für sich zu betrachten.“ (Ebd., S. 808.)

„Die so verstandene Differenz von global/regional bewirkt uigleich, daß das Gesamtsystem sich nicht zielabhängig, sondern geschichtsabhängig entwickelt und man stets retrospektiv auf Situationen reagieren muß, die schon eingetreten sind, was wiederum eine kognitive Integration ausschließt und regional unterschiedliche Situationswahrnehmungen begünstigt. Dies widerspricht nicht den Grundannahmen, ohne die es keine Weltgesellschaft und keine Globalisierungen geben würde, daß alle Funktionssysteme zur Globalisierung tendieren und daß der Übergang zu funktionaler Differenzierung, wie oben (Kapitel 1, X [S. 145-171]) ausgeführt, nur in der Etablierung eines Weltgesellschaftssystems seinen Abschluß finden kann. Raumgrenzen haben für die auf Universalismus und Spezifikation angelegten Funktionssysteme keinen Sinn (Abendländer »kennen keine Grenzen« [Oswald Spengler] - dies ist ebenfalls ein Indiz dafür, daß die »Weltgesellschaft« eine rein abendländische ist; HB) - es sei denn als segemntäre Differenzierung (zum Beispiel in politische Staaten) innerhalb von Funktionssystemen.“ (Ebd., S. 808-809.)

„Trotz dieser ziemlich deutlichen Indikatoren folgt daraus nicht, daß regionale Unterschiede keine Bedeutung mehr hätten. Im Gegenteil; gerade das dominante Muster funktionaler Diffderenzierung scheint ihnen den Ansatzpunkt für ein Bewirken von Unterschiedn zu bieten.“ (Ebd., S. 810.)

„Die Regionen finden sich selbst deshalb fernab von einem gesamtgesellschaftlichen Gleichgewicht und haben gerade darin die Chancen eines eigenen Schicksals, das nicht als eine Art Mikroausgabe des Formprinzips funktionaler Differenzierung gesehen werden kann. Nur: wenn es dem Primat dieses Prinzips auf weltgesellschaftlicher Ebene nicht gäbe, wäre alles anders, und diesem Gesetz kann sich keine region entziehen.“ (Ebd., S. 811.)

„Eine Ausdifferenzierung autopoietischer Sozialsysteme kann auf der Grundlage einer schon etablierten Gesellschaft auch ohne jeden Bezug auf das Gesellschaftssystem oder seine bereits eingerichteten Teilsysteme stattfinden - einfach dadurch, daß doppelte Kontingenz erfahren wird und autopoietische Systembildungen in Gang bringt. So entstehen oft ganz ephemere, triviale, kurzfristige System/Umwelt-Unterscheidungen ohne weiteren Formzwang und ohne daß die Differenz durch bezug auf die Gesellschaft legitimiert werden kann oder muß. Die Großformen der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme. (Diesen Gesichtspunkt der »ephemeren« Verbindung zwischen den »Großgebilden« der Gesellschaft hat Georg Simmel verschiedentlich betont; z.B. in: Grundfragen der Soziologie, 1917, S. 13.) Keine gesellschaftliche Teilsystembildung, keine Form gesellschaftlicher Systemdifferenzierung kann alle Bildung sozialer Systeme so dominieren, daß sie ausschließlich innerhalb des Primärsysteme des Gesellschaftssystems stattfindet. Und gerade die sogenannten »Interfcae«-Beziehungen zwischen den Funktionssystemen benutzen Interaktionen oder auch Organisationen, die sich keiner Seite einseitig zuordnen lassen.“ (Ebd., S. 812-813.)

„Es gibt, rein sprachlich gesehen, immer schon Möglichkeiten, über Vergangenes oder über Künftiges zu kommunizieren (sprechen! HB), aber eben nur in der Interaktion (nein; denn man kann doch auch mit oder zu sich selber sprecchen! HB). Dies ändert sich erst durch die Erfindung der Schrift und durch die Ausbreitung des Schriftgebrauchs; denn Schrift ermöglicht eine Desynchronisation der Kommunikation selbst. (Auch eine Gesellschaft, die bereits über Schrift verfügt, mag in den Leitunterscheidungen ihre Zeitsemantik nach älteren Vorgaben folgen. So kennt die altägyptische Sprache ein Wort für Zeit als Resultat vergangener Geschehnisse (djet) und ein anderes Wort für Virtualität, also für künftige Möglichkeiten (nehe). Daß dies in zwei gegenwartsbezogene Zeitbegriffe auseinandergezogen ist, deutet darauf hin, daß diese Begrifflichkeit einer Vorgeschichte entstammt, in der die Differenz von Vergangenheit und Zukunft noch nicht als Synchronisationsproblem gesehen werden konnte. Dieser Interpretation von djet und nehe folgt Jan Assmann, Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken, in: Anton Peisl / Armin Mohler [Hrsg.], Die Zeit, 1983, S. 189-223.) Und eben dadurch stellt die Kommunikation sich als Synchronisationsinstrument zur Verfügung. In das Einzelereignis der elementaren Kommunikation wird durch Schrift eine nahezu beliebige (nur durch Verlust der Mitteilungsträger bedrohte) Zeitdistanz eingebaut. Es können viel mehr Empfänger erreicht werden, als je gleichzeitig anwesend sein könnten. Man kann daher, wenn man über standardisierte Zeitmessungen verfügt (die man ohne Schrift gar nicht braucht (*), Zeitdispositionen treffen, die nicht verabredet sein müssen. (* Elman R. Service, a.a.O., 1966, erwähnt Fälle, in denen die Zählmöglichkeit bis 4 reicht und dann »viele« folgt, mit der Folge, daß Vergangenheit und Zukunft nur der unmittelbaren Handlungskoordination dienen und nicht als Horizonte für Veränderungen wahrgenommen werden. Bei den Baktaman reicht die Zahlmöglichkeit bis 27, reicht also nur für Koordination innerhalb der Mondphasen aus. Das verringert dann auch die Wahrscheinlichkeit, daß Neidkomplexe vorkommen oder Ressentiments sich halten können .... [Gemäß Daniel Everett {Die größte Erfindung der Menschheit, 2010, S. 315} verfügt das im Urwald Brasiliens gesprochene Piraha über gar keine Zahlwörter! HB.]) Der Mitteilende kann in der Vergangenheit des Verstehenden aktiv gewesen sein und für den Verstehenden trotzdem in seiner Zeit verständlich sein. Und dies kann antizipiert werden. Die Zeit expandiert gewissermaßen mit der Kommunikation (durch die Schriftssprache! HB), und so können sich in einem vorher unmöglichen Umfange Abstimmungen entwickeln, die davon ausgehen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas geschehen sein wird, was nur geschehen ist, damit zu diesem späteren Zeitpunkt etwas anderes geschehen kann. Die heilige Zeit, in der man wissen mußte, wie man wann zu handeln hatte, wird zunächst ergänzt, dann ersetzt durch den Synchronisationsrahmen Zeit, in dem man verabreden kann, wann synchronisiertes Handeln stattfinden soll. Im Prinzip ist das natürlich auch durch mündliche Verabredung möglich und in dieser Form auch zweckmäßig, wenn es auf Konsens ankommt. Man verabredet sich zu einer Segelpartie, die man allein nicht unternehmen könnte oder würde. Aber das sind jetzt Sonderfälle. Alle Großkoordinationen arbeiten auf Grund von vorweg gesichertem Konsens mit schriftlich ausgearbeiteten Plänen.“ (Ebd., S. 821-822.)

„Die Analyse zeigt zugleich, daß Schrift erst nötig ist, wenn die Differenzierungsform der Gesellschaft eine beträchtliche Komplexität erzeugt hat - zuerst wohl für Registraturzwecke in Großhaushalten.“ (Ebd., S. 822.)

„Angesichts solcher Diskrepanzen ist es ausgeschlossen, die Gesellschaft selbst nach dem Muster von Interaktion zu begreifen oder auch nur aus Interaktionserfahrungen zu extrapolieren, was sie ist. Was man von der Gesellschaft weiß, weiß man aus den Massenmedien. (Wir kommen daruf zurück. Siehe Kapitel 5, XX [S. 1096-1109].) Der in Interaktionen zugängliche Erfahrungsausschnitt deckt nur noch ein Minimum des (in Schriftform und heute über Fernsehen [und Internet! HB] verfügbaren) Wissens ab. Gleichwohl werden Interaktionen zu Modellen (und in der Literatur: zu Modellkonstruktionen) spezifisch sozialer Rationalität stilisiert, weil nur hier soziale Reflexivität mit ihren immens komplexen Spiegelungsverhältnissen wirklich praktiziert werden kann. Und nochmals wird die Reziprozitätsregel hier (aber eben nur hier) neu aufgelegt. Zugleich kann man aber wissen, daß auf diese Weise die Gesellschaft selbst nicht zu begreifen ist. Je komplexer ihr System, desto härter die Gleichzeitigkeit und damit die Unbeeinflußbarkeit dessen, was in jedem Moment faktisch geschieht. Und desto illusorischer schließlich der Glaube, dies könne in der Form der Interaktion, durch Dialoge, durch Verständigungsversuche unter erreichbaren Partnern in eine rationale Form gebracht werden.“ (Ebd., S. 826.)

„Anders als im Falle von Interaktion handelt es sich bei Organisationen nicht um ein Universalphänomen jeder Gesellschaft, sondern um eine evolutionäre Errungenschaft, die ein relativ hohes Entwicklungsniveau voraussetzt. Man kann sich dies mit der Frage verdeutlichen, wie die Gesellschaft den Zugriff auf Arbeitsleistungen regelt, die der Arbeitende nicht aus eigenem Interesse und nicht auf Grund des Genießens der Tätigkeit selbst erbringen würde.“ (Ebd., S. 827.)

„Während die ältesten Gesellschaften Arbeit weitestgehend im Überlebensinteresse des Einzelnen liegt, also gesellschaftsexternen Bedingungen folgt, nimmt im Laufe der gesellschaftlichen Evolution die soziale, also gesellschaftsinterne Determination der Arbeit und der Ertragsverteilung zu. Die Formen gesellschaftlicher Differenzierung machen sich bemerkbar. Eine häusliche Differenzierung von Arbeitsrollen wird durch wechselseitige Hilfeleistungen, oft auch durch Gruppenarbeit junger Männer aus besonderem Anlaß ergänzt. Mit der Entstehung von hierarchischen und/oder nach dem Muster von Zentrum und Peripherie geordneten Gesellschaften kommt es, wiederum zusätzlich, zu politisch-rechtlich erzwungener Arbeit, sei es in der Form von Sklaverei, sei es als Schuldknechtschaft oder mittels einer detaillierten und praktisch ausweglosen Regulierung durch Gilden und Zünfte. In all diesen Fällen entstehen bereits bedarfsgerechte Rollendifferenzierungen, aber die institutionellen Bedingungen beschränken deren Zumutbarkeit und damit die erreichbare Komplexität und Flexibilität.“ (Ebd., S. 827.)

„Dies kann sich erst in dem Maße ändern, in dem der soziale Zugriff aud Arbeit über Individuen läuft und dies zum Normalfall wird. (Sonderfälle von Vertragsarbeit hatte es natürlich schon lange zuvor gegeben.) Festzuhalten ist, daß dies an der sozialen Determination von Arbeit nichts ändert, sie aber auf eigens dafür eingerichtete Organisationen beschränkt und eben dadurch zugleich ausweitet. (Daß dies nicht in jeder Hinsicht gelingt und zunächst hauptsächlich für Männer erreicht wird, zeigt sich am Beispiel der Hausarbeit, die nun mehr und mehr als Benachteiligung der Frauen empfunden wird. Am Beispiel der von Frauen erwarteten Arbeit [Hausarbeit, Kindererziehung, Bereitschaft für Gastlichkeit] zeigen sich Restbestände der direkten gesellschaftlichen Determination - und dies um so mehr, als das Hauspersonal verschwindet - und den Hausfrauen zugemutet wird, auch dessen Arbeitsleistung zu übernehmen. Statt des üblichen Ärgers mit dem Personal haben Hausfrauen es jetzt mit Pannen der technischen Geräte und mit Abwälzung eigener Arbeit auf dem Markt zu tun.) Organisationen ersetzen externe soziale Abhängigkeiten durch selbsterzeugte Abhängigkeiten. Sie machen sich unabhängig von zufällig auftretenden Reziprozitäten in Bedarf und Hilfsbereitschaft und regulieren dadurch die Arbeit als regelmäßig wiederholte Beschäftigung, die nur noch von den Fluktuationen des Marktes oder sonstiger Finanzierungen abhängig ist.“ (Ebd., S. 827-828.)

„Dieser Übergang zu in der Form von Individuen rekrutierter Arbeit setzt nicht nur Geldwirtschaft voraus, die die Annahme von Geld attraktiv macht. Sie beruht außerdem auf rechtlich gesicherter Erzwingbarkeit von Verträgen mit der anderen Seite, daß es ohne Vertrag kaum noch Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten und damit zu Lebensunterhalt gibt. (Nach Abschaffung der Sklaverei wird zum Beispiel die Arbeit auf den Zuckerplantagen Brasiliens zur Saisonarbeit ohne Vorsorge für die Zwischenzeit.) Außerdem trägt auch das in der Form von Schulen und Universitäten organisierte Erziehungssystem dazu bei, daß fachliche Kompetenz individuell und ohne weitere Sozialmerkmale rekrutiert werden kann und daß entsprechende Ausbildungen nachentwickelt werden, wenn man mit entsprechenden Arbeitsplätzen rechnen kann. (Daß man, statistisch gesehen, noch mit deutlichen Zusammenhängen von Schichtung und Ausbildung rechnen muß, wird jetzt als Problem der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit gesehen und nicht, oder kaum noch, als Chance der Rekrutierung von Merkmalen begriffen, die durch Schichtung garantiert sind. Der diplomatische Dienst rekrutiert adelige - Namen.)“ (Ebd., S. 828.)

„Die Funktionssysteme für Wirtschaft, Recht und Erziehung stellen ... wichtige Vorsaussetzungen für die Entstehung und Ausbreitung der Systemform Organisation bereit, ohne daß dies dazu führen würde, daß es Organisationen nur in diesen Systemen gibt. Man sieht schon an diesem Beispiel, daß Organisationen soziale Interdependenzen ermöglichen, die mit der Autopoiesis und der operativen Schließung von Funktionssystemen kompatibel sind, ja sie geradezu voraussetzen als Bedingung der Individualisierung des Rekrutierungsprozesses und der Verteilung von Personen auf Stellen.“ (Ebd., S. 828-829.)

„Die Klärung der Vorbedingungen für eine Evolution organisierter Arbeit gibt schon wichtige Hinweise auf die besonderen Eigenschaften dieser Systemform. Organisation ist, wie die Gesellschaft selbst und wie Interaktion auch, eine bestimmte Form des Umgangs mit doppelter Kontingenz. Jeder kann immer auch annders handeln und mag den Wünschen und Erwartungen entsprechen oder auch nicht - aber nicht als Mitglied einer Organisation. Hier hat er sich durch Eintritt gebunden und läuft Gefahr, die Mitgliedschaft zu verlieren, wenn er sich hartnäckig querlegt. Mitgliedschaft in Organisationen ist mithin kein gesellschaftlich notwendiger (obwohl heute in vielen Hinsichten unvermeidlicher) Status. .... Die Lösung des Problems der doppelten Kontingenz liegt darin, daß die Mitgliedschaft konditioniert werden kann, und dies nicht nur mit Bezug auf den Eintrittsakt, sondern als Bedingung der Aufrechterhaltung des Status. “ (Ausführlicher hierzu: Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 1964.) (Ebd., S. 829.)

„Organisationen ... produzieren Entscheidungen aus Entscheidungen und sind in diesem Sinne operativ geschlossene Systeme.“ (Ebd., S. 830.)

„Eine Organisation ... »besteht« ... aus der Kommunikation von Entscheidungen. Diese Operationsbasis ermöglicht die Schließung eines besonderen autopoietischen Systems. Autopoiesis heißt: Reproduktion aus eigenen Produkten.“ (Ebd., S. 833.)

„Während Interaktionssysteme ihre Umwelt nur über eine Aktivierung von Anwesenden und nur über eine Internalisierung der Differenz von anwesend/abwesend berücksichtigen können, haben Organisationen zusätzlich die Möglichkeit, mit Systemen in ihrer Umwelt zu kommunizieren. Sie sind der einzige Typ sozialer Systeme, der diese Möglichkeit hat, und wenn man dies erreichen will, muß man organisieren. Dies Nach-außen-Kommunizieren setzt Autopoiesis auf der Basis von Entscheidungen voraus. Denn die Kommunikation kann intern nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Entscheidungstätigkeit, also nur als Entscheidung angefertigt werden; sie wäre anderenfalls nicht als eigene Kommunikation erkennbar.“ (Ebd., S. 834.)

„Daß Organisationen nach außen kommunizieren können, ist vor allem durch ihre hierarchische Struktur gewährleistet. Von Hierachie kann man in einem doppelten Sinne sprechen. Einerseits können sich im Falle von Organisatioen Subsysteme nur innerhalb von Subsystemen bilden - und nicht einfach auf Grund der internen Umwelt im freien Wildwuchs. (Wenn sich solche ungeplanten Systeme bilden, spricht man von »informaler« Organisation. Typisch dafür ist dann aber eine untypische Strukturierung: keine feste Mitgliedschaft, unsichere Identifizierbarkeit, Motivation zu abweichendem Verhalten - immerhin Motivation! - etc.. Neuerdings findet man außerdem auch Organisationen, die verschiedene Organisationen auf unteren Ebenen verbinden und nicht mehr eindeutig hierarchisch zugeordnet werden können. Ein Bedarf für solche Firmenverbunde ergibt sich vor allem aus dem »Just-in-Time«-Prinzip der Zulieferung, mit dem Lagerhaltung eingespart und Produktion beschleunigt wird.) Anders als das Gesellschaftssystem bevorzugt und realisiert die Organisation eine Kästchen-in-Kästchen-Hierarchie. Zugleich damit werden Weisungsketten gebildet - Hierarchien in einem ganz anderen Sinne. Die Ketten garantieren eine formale Entscheidbarkeit von Konflikten, während die Kästchen-in-Kästchen-Differenzierung garantiert, daß auf diese Weise das gesamte System erreichbar bleibt. Wie man heute weiß, führt diese Struktur nicht unbedingt zur Konzentration von Macht an der Spitze, und moderne Theorien der »Führung« in Organisationen beschreiben, wie man sich verhalten muß, um trotzdem etwas auszurichten. Aber ungeachtet dieses Problems der Machtverteilung reicht die Hierarchie aus, um Kommunikationsfähigkeit nach außen zu garantieren - nicht zuletzt deshalb, weil das interene Machtspiel für Außenstehende schwer zugänglich ist und sie sich an das halten müssen, was offiziell gesagt ist.“ (Ebd., S. 834-835.)

„Offensichtlich geht es hier um hochmoderne Sachverhalte, die man in traditionellen Gesellschaften vergeblich suchen wird.“ (Ebd., S. 835.)

„Die moderne Gesellschaft verzichtet darauf, selbst Organisation (Korporation) zu sein.“ (Ebd., S. 836.)

„Organisation kostet Geld.“ (Ebd., S. 837.)

„Autopoietische Organisationssysteme können Autoritätsverluste kompensieren ....“ (Ebd., S. 837.)

„Unsicherheitsabsorption heißt auch: Übernahme der Verantwortung für den Anschluß von Möglichkeiten; aber sie bedeutet nach den Organisationsgepflogenheiten nicht ohne weiteres: Verantwortlichkeit für Fehler.“ (Ebd., S. 837-838.)

„Der Modus der Umsetzung von Entscheidungen in Entscheidungen ist die Autopoiesis des Systems. Er transformiert weltbedingte Unsicherheiten in systeminterne Sicherheiten - nicht nur, aber auch in der Form von Akten. Gerade deshalb können Organisationen sich an Risiken, auf die sie sich eingelassen haben, und an Konflikte mit immer denselben Gegnern, an Konkurrenz usw. gewöhnen. (Dazu am Beispiel politischer Parteien: Niklas Luhmann, Die Unbeliebtheit politischer Parteien, in: Die politische Meinung, 37, Heft 272, 1992, S. 177-186.) Sie finden in der so weit erfolgreichen Unsicherheitsabsorption eine Bestätigung, die schwer zu ersetzen ist. So läßt sich die den Organisationen als »Bürokratien« oft zugeschriebene Trägheit erklären. Gerade weil unter aller Sicherheit von Entscheidungsprämissen Unsicherheit begraben liegt, darf man daran nicht rütteln. Gerade weil es sich um eine selbstgefertigte Konstruktion handelt, bleibt man dabei. Das schließt Irritierbarkeit keineswegs aus, aber sie muß an Ereignissen festgemacht werden, die sich in der Systemkommunikation als neu und unvorhergesehen darstellen lassen.“ (Ebd., S. 838.)

„So wie Interaktionen brauchen Organisationen nicht mit Bezug auf die Einheit des Gesellschaftssystems eingerichtet zu sein. Sie können ohne gesellschaftlichen »Systemzwang« frei entstehen, und es gibt zahllose Organisationen (man nennt sie oft irreführend »freiwillige« Vereinigungen oder Assoziationen), die sich keinem der gesellschaftlichen Funktionssysteme zuordnen. Alle Organisationen profitieren jedoch von der Komplexität des Gesellschaftssystems, wie sie im heutigen Umfange erst durch funktionale Differenzierung möglich geworden ist. Insofern kann man, mit nur wenig Übertreibung, sagen, daß es erst unter dem Regime funktionaler Differenzierung zu jenem Typus autopoietischer Systeme kommt, den wir als organisiertes Sozialsystem bezeichnen. Erst jetzt gibt es dafür genügend zahlreiche Nischen. Erst jetzt gibt es dafür genug zu entscheiden. Erst jetzt lohnt es sich, die Umwelt als so komplex anzusetzen, daß dem intern nicht mehr durch Fakten, Zeichen, Repräsentationen entsprochen werden kann, sondern nur noch durch Entscheidungen.“ (Ebd., S. 840.)

„Unbestreitbar bilden sich jedoch, wenn nicht die meisten, so doch die wichtigsten und größten Organisationen innerhalbe der Funktionssysteme und übernehmen damit deren Funktionsprimate. In diesem Sinne kann man von Wirtschaftsorganisationen, Staatsorganisationen, Wissenschaftsorganisationen, Organisationen der Rechtsprechung unterscheiden.“ (Ebd., S. 840-841.)

„Der Ausgangspunkt für das weitere liegt in der Einsicht, daß kein einziges Funktionssystem seine eigene Einheit als Organisation gewinnen kann. Oder anders gesagt: keine Organisation im Bereich eines Funktionssystems kann alle Operationen des Funktionssystems an sich ziehen und als eigene durchführen. Erziehung gibt es immer auch außerhalb von Schulen und Hochschulen. Medizinische Behandlung findet nicht nur in Krankenhäusern statt. Die Riesenorganisation im politischen System, die man »Staat« nennt, bewirkt gerade, daß es staatsbezogene politische Aktivitäten gibt, die nicht als staatliche Entscheidungen fungieren. Und selbstverständlich werden die Organisationen des REchtssystems, vor allem die Gerichte, nur dann in Anspruch genommen, wenn außerhalb der Organisation stattfindende Kommunikation über Recht und Unrecht dies ratsam erscheinen läßt.“ (Ebd., S. 841.)

„Aber auch die Organisationen innerhalb von Funktionssystemen müssen als operativ geschlossene, auf der Basis ihres Entscheidens eigenständige Sozialsysteme angesehen werden. Sie übernehmen den Funktionsprimat .... Sie übernehmen den binären Code des jeweiliegn Funktionssystems. Nur unter diesen beiden Bedingungen können sie ihre eigenen Opeartionen dem betreffenden Funktionssystem zuordnen und zum Beispiel als Gerichte, als Banken, als Schulen erkennbar sein. Ihre Eigenwelt gewinnen und organisieren sie dagegen durch eine weitere Unterscheidung, nämlich die von Programmen und Entscheidungen.“ (Ebd., S. 841-842.)

„Um die Funktion von Organisationen im Aufbau einer funktional differenzierten Gesellschaft erkennen zu können, muß man sich daran erinnern, daß Organisationen die einzigen Sozialsysteme sind, die mit Systemen ihrer Umwelt kommunizieren können. Die Funktionssysteme können das nicht. Weder die Wissenschaft, noch die Wirtschaft, aber auch nicht die Politik und auch nicht die Familie kann als Einheit nach außen in Kommunikation treten. Um Funktionssysteme mit externer Kommunikationsfähigkeit auszustatten (die als Kommunikation natürlich immer Vollzug der Autopiesis von Gesellschaft ist), müssen in den Funktionssystemen Organisationen gebildet werden - sei es mit angemaßten Sprecherrollen, so wie die Arbeitgeber und Arbeitnehmer angeblich für »die Wirtschaft« sprechen, sei es mit Großzentren komplex verschachtelter Organisationseinheiten, den Regierungen, den internationalen Korporationen, der Militärführung.“ (Ebd., S. 842-843.)

„Die wachsende Bedeutung von Organisationen in Funktionssystemen geht aber einher mit, ja wird ausgelöst durch die Unmöglichkeit, die Funktionssysteme selbst zu organisieren. Man sieht damit auch, wie sehr Organisationen auf einen laufend neu entscheidenden Synchronisationsbedarf hin gebildet sind und genau damit auf die Künstlichkeit einer Differenzierung des Gesellschaftssystems nach Funktionen reagieren.“ (Ebd., S. 843-844.)

„Funktionssysteme behandeln Inklusion, also Zugang für alle, als den Normalfall. Für Organisationen gilt das Gegenteil: sie schließen alle aus mit Ausnahme der hochselektiv ausgewählten Mitglieder. Dieser Unterschied ist als solcher funktionswichtig. Denn nur mit Hilfe der intern gebildeten Organisationen können Funktionssysteme ihre eigene Offenheit für alle regulieren und Personen unterschiedlich behandeln, obwohl alle gleichen Zugang haben. Die Differenz der Systembildungsweisen ermöglicht es also, beides zugleich zu praktizieren: Inklusion und Exklusion. Und sie ermöglicht es auch, diese Differenz selbst bei hoher Systemkomplexität durchzuhalten und gerade mit Hilfe der Komplexität den Widerspruch Inklusion/Exklusion aufzulösen.“ (Ebd., S. 844.)

„Dieser Unterschied in der Behandlung des Inklusions-/Exklusionsproblems beginnt sich auszuwirken. Einerseits wird der Zugang zu organisierter Arbeit (und nicht mehr die »Ausbeutung« in organisierter Arbeit) zum Problem. Andererseits bilden sich in vielen Funktionssystemen, vor allem aber im politischen System, Ressentiments gegen das, was dem Einzelnen als Resultat organisierter Entscheidungsprozesse zugemutet wird. .... Es geht um Beteilgung an Öffentlichkeit ohne Mitgliedschaft in Organisationen. Das Problem liegt auch nicht länger in der besonderen Herrschaftsform der »Bürokratie«, sondern eher in den unbefriedigenden Ergebnissen organisierter »Unsicherheistabsorption«, die in erheblichem Umfange das beschränken, was in Funktionssystemen möglich ist.“ (Ebd., S. 844-845.)

„Die politischen Programm werden von politischen Parteien, also von Organisationen, aufgestellt mit dem Systemimperativ, sich zu unterscheiden (was angesichts der Sachlogik von Problemen nicht immer leichtfällt); und die Entscheidung zur Aktualisierung von Politik obliegt einer anderen Organisation: dem Staat, der unter anderem auch die politischen Wahlen organisiert. Ohne diese Differenzierung aud organisatorischer Ebene und ohne das dadurch ermöglichte kontinuierliche Beobachten von Beobachtungen wäre keine Demokratie möglich. Ähnliches gilt für das Wirtschaftssystem. Auch hier ermöglicht die Vorstellung eines vollständigen Konkurrenzgleichgewichts zwar mathematische Formulierungen in der Reflexionstheorie des Systems, entspricht aber, wie man ebenfalls seit langem weiß, nicht der Realität. Vielmehr organisieren sich auch in der Wirtschaft wirtschaftseigene Interdependenzunterbrechungen, die verhindern, daß jeder Preis von allen anderen Preisen abhängt, und es eben dadurch ermöglichen, wirtschaftliche Rationalität zwar nicht im Zustand des Gesamtsystems, wohl aber auf der Ebene unternehemnsspezifischer Bilanzen zu erreichen. Und auch hier ermöglicht und erzwingt diese Form der Interdependenzunterbrechung die Ersetzung der unerreichbaren Einheitsrationalität durch ein laufendes Beobachten von Beobachtern. Organisationen lassen sich zwar nicht im Hinblick auf ihre Entscheidungsprozesse, wohl aber an Hand ihrer Preise beobachten.“ (Ebd., S. 845-846.)

„An die Stelle einer hierarchischen Konzeption des Verhältnisses von Funktionssystemen und Organisationen tritt mithin ein Netzwerk-Konzept. Die Organisationen entfaleten eine Eigendynamik, die im Funktionssystem mit Verfahren der Beobachtung zweiter Ordnung aufgefangen wird, und dies unter der Bedingung laufender Reaktualisierung - etwa in der Form des Marktes, über die öffentliche Meinung, in laufend neu erscheinenden wissenschaftlichen Publikationen oder Rechtstexten. Statistische Überwachungen bleiben möglich, sofern es besondere Organisationen gibt, die Daten auswerten. Aber im Wirtschaftssystem zum Beispiel zeigt sich deutlich, daß die das System bestimmenden Entscheidungen bei der Firmenpopulation liegen und Überinstanzen wie Börsen und Zentralbanken mit ihren eigenen Rekursivitäten wiederum nur als Organisationen das Geschehen beeinflussen. Keine Organisation repräsentiert das System im System, und jede ist nur für sich selbst verantwortlich. Die sich dabei einstellenden Rückkopplungen lassen sich nicht in der Form von Gleichgewichtsmodellen begreifen. Sie neigen zu plötzlichen Effektaggregationen, die wiederum von außen auf die Organisationen einwirken und die dann eintretenden Erschütterungen auch in andere Funktionssysteme übertragen können.“ (Ebd., S. 846.)

„Jedenfalls verdeutlicht eine so entschieden auf operative Geschlossenheit und Autopoiesis abstellende Theorie, wie sehr das Entstehen von Organisationen einerseits nur in Gesellschaften möglich ist, dann aber auf eigenständige Weise zur gesellschaftlichen Differenzierung beiträgt, und dies in einem doppelten Sinne: zur Differenzierung des Gesellschaftssystems und seiner Funktionssysteme gegen die Autopoiesis der Organisationen und, mit Hilfe dieser Autopoiesis, zur Differenzierung der Funktionssysteme gegeneinander und gegen ihre jeweilge Umwelt. Auf diese Weise kann eine augenfällige strukturelle Diskrepanz verdeutlicht werden, daß die moderne Gesellschaft mehr als ihre Vorgängerinnen auf Organisation angewiesen ist (ja erstmals einen Begriff dafür geschaffen hat); daß sie aber andererseits weniger als jede Gesellschaft zuvor in ihrer Einheit oder in ihren Teilsystemen als Organisation begriffen werden kann.“ (Ebd., S. 847.)

„Der Versuch, eine Grenze zu ziehen, um von der anderen Seite aus Gott und seine Schöpfung zu beobachten, galt in der alten Welt als Fall des Engels Satan. Der Beobachter muß sich ja, da er das Beobachtete und anderes sieht, für besser halten und damit Gott verfehlen. (.... Für ein Säkularisat dieser Theoriefigur siehe Hegels Ausführungen über »Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels« in der Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 266 ff..) In der heutigen Welt ist dies Sache der Protestbewegungen. Aber sie fallen nicht, sie steigen auf. Sie verfehlen nicht das Wesen Gottes (Theologen schließen sich sogar an), so daß auch das Merkmal der Sünde, die Gottesferne, nicht zutrifft. .... Aber die beobachtungstechnik des Teufels, das Ziehen einer Grenze in einer Einheit gegen diese Einheit, wird kopiert; und auch die Folgewirkung tritt ein: das unreflektierte Sich-für-besser-halten. Entsprechend wir mit Schuldzuweisungen gearbeitet.“ (Ebd., S. 847-848.)

„Der Protest lebt von der Selektion seines Themas. Wollte er die Selektivität seines Themas und damit sich selbst als Selektor refelktieren, müßte er die Paradoxie des Protestes in der Einheit gegen die Einheit erkennen und damit an den Bedingungen der eigenen Möglichkeit zweifeln. (Auch der Teufel hatte, wenn man auf die Spitzenleistungen theologischer Reflexion zurückblickt, dieses Problem. Aber er konnte im Sündenkosmos der Tradition eine einzigartige Position für sich selbst finden. Er hatte als einziger die Sünde begangen, die man nicht bereuen kann: die Sünde der Beobachtung Gottes. .... Auf elegante und in der Theoriestruktur überzeugende Weise löst schließlich der absolute Geist der Metaphysik Hegels dieses Problem. Er unterscheidet sich in sich [nicht gegen sich]. Nur hat sich dafür keine soziale Realisation finden lassen, so daß der Geist am Ende nichts anderes ist als die Form, die für dieses Problem empfindlich macht. Er symbolisiert ein Innen ohne Außen, eine Gesellschaft ohne Umwelt.)“ (Ebd., S. 860.)

 

Die Gesellschaft der Gesellschaft Selbstbeschreibungen.

„Im abschließenden Kapitel (nämlich: »Selbstbeschreibungen«; HB) wird unser Thema zum Thema, nämlich die Gesellschaft der Gesellschaft (Titel des Buches; HB). Unser Ausgangspunkt ist, daß keine Gesellschaft sich selbst mit ihren eigenen Operationen erreichen kann. Die Gesellschaft hat keine Adresse. Sie ist auch keine Organisation, mit der man kommunizieren könnte. Dies ist, empirisch gesehen, ein wohl unbestrittener Sachverhalt. Auch die Erklärung bereitet uns keine Schwierigkeiten. Wir können uns auf die Analyse des Mediums Sinn berufen, das mit jeder kommunikativen Verwendung neue Möglichkeiten reproduziert, die das verändern, was als Gesellschaft vorausgesetzt werden muß. Einen anderen Zugang bietet die Mathematik selbstreferentieller Systeme. Wenn das Gesellschaftssystem die Differenz von System und Umwelt nicht nur erzeugt, sondern sich außerdem noch daran orientiert, liegt ein Fall eines »re-entry« (eines »Wiedereintritts«; HB) einer Form in die Form (einer Unterscheidung in die Unterscheidung) vor, der das System in den Zusatnd einer »unresolvable indeterminacy« (einer »unlösbaren Unbestimmtheit«; HB) versetzt. »Unresolvable« heißt, daß die normalen mathematischen Operationen der Arithmetik und der Algebra nicht mehr zu eindeutigen Ergebnissen führen. Das System braucht imaginäre Zahlen oder imaginäre Räume, um sich weiterzuhelfen. Dies ist sicher kein Argument, das für die Gesellschaftstheorie irgendetwas beweist, aber die kommunikative Unerreichbarkeit der Gesellschaft, also das Versagen der Operationen, die das System reproduzieren, steht empirisch eindeutig fest, und auch hier gibt es statt dessen imaginäre Konstruktionen der Einheit des Systems, die es ermöglichen, in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft, aber über die Gesellschaft zu kommunizieren. Wir werden solche Konstruktionen »Selbstbeschreibunegn« des Gesellschaftssystems nennen.“ (Ebd., S. 866-867.)

„Die Prämisse der »Intersubjektivität« bzw. des Konsenses kann man ... schlicht aufgeben. (Wir sehen hier ganz ab von einer tiefergehenden Problematik, mit der Husserl in der für ihn selbstverständlichen analytischen Strenge gerungen hat, nämlich der Frage, ob nicht die Vorstellung dre Intersubjektivität dem Subjektbegriff widerspricht.) Sie läßt sich nicht auf ein Subjekt, nicht auf ein Sozialapriori, nicht auf die »Lebenswelt« oder auf sonst etwas zurückführen im Sinne einer Reduktion auf etwas, was als Voraussetzung aller Kommunikation immer schon gegeben sein müßte.“ (Ebd., S. 874-875.)

„Das System selbst muß auch die Beobachtung seines Beobachtens, die Beschreibung seiner Beschreibungen leisten. Es kann deshalb weder als Subjekt noch als Objekt im klassischen Sinne dieser Unterscheidung begriffen werden.“ (Ebd., S. 875.)

„In der Realität gibt es keine Willkür, die gleichsam am Subjekt haftet. .... Wirkommen aus mit der Beschreibung von Systemverhältnissen auf der Ebene der Beobachtung erster bzw. zweiter Ordnung, und »Willkür« wird damit zu einem Beschreibungsnotbehelf.“ (Ebd., S. 876.)

„Auch Selbstbeschreibungen sind und bleiben im strengen Sinne Beobachtungen. Wir erinnern: eine Beobachtung bezeichnet etwas, indem sie es unterscheidet. Sie produziert mit dem, was sie bezeichnet, zugleich einen unmarkierten Bereich, der nicht intentional oder thematisch erfaßt (bezeichnet), aber als Welt-im-übrigen vorausgesetzt ist. Und sie sondert die Operation der Beobachtung (und damit: den Beobachter) ab von dem, was beobachtet wird.“ (Ebd., S. 882.)

„Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft sind immer kommunikative Operationen, existieren also nur im Ereigniszusammenhang des Systems. Sie müssen voraussetzen, daß das System schon vorliegt, sind also nie konstitutive, sondern immer nachträgliche Operationen, die es mit dem bereits hochselektive formierten Gedächtnis zu tun haben.“ (Ebd., S. 883.)

„Auch Gesellschaften, die nicht über Schrift verfügen, fertigen Selbstbeschreibungen an. Sie produzieren Erzählunegn für wiederholten Gebrauch und setzen bei der Erzählung voraus, daß die Erzählung bekannt ist und nur das Beiwerk, die Ausschmückung, das Geschick des Erzählers überraschen. So können auch Mythen über das Menschengeschlecht, den Stamm, den ersten Ahnen usw. fixiert werden, in denen die Gesellschaft in der Gesellschaft repräsentiert wird. Im täglichen Gebrauch, in der mündlichen Rede genügen jedoch indexikalische Ausdrücke (»indexical expressions«; vgl. S. 640; HB), deren Referenz sich von selbst versteht. Erst Schrift hebt diese Unmittelbarkeit des »Wir«sagen-Könnens auf und führt damit in ein Referenzproblem. denn wenn der Leser liest, was geschrieben ist, ist der Schreiber längst mit anderem beschäftigt oder gar gestorben. Erst mit der Schrift entsteht ein Bedarf für begrifflich elaborierte Selbstbeschreibungen, die zu fixieren versuchen, worüber kommuniziert wird, wenn in der Gesellschaft über die Gesellschaft kommuniziert wird.“ (Ebd., S. 883-884.)

„Ebenso wie Selbstbeobachtungen sind auch Selbstbeschreibungen (Anfertigungen von Texten) Einzeloperationen des Systems. Überthaupt handelt es sich bei Beschreibung und Beschriebenem nicht um zwei getrennte, nur äußerlich verknüpfte Sachverhalte; sondern bei einer Selbstbeschreibung ist die Beschreibung immer ein Teil dessen, was sie beschreibt, und ändert es allein schon dadurch, daß sie auftritt und sich der Beobachtung aussetzt. Diese Einsicht konnte vermieden werden, solange die Beschreibung der Welt und der Gesellschaft als religiöse Wahrheit begriffen wurde. Die religion symbolsiert die Gesellschaft und konzentriert das Bewußtsein der Individuen auf sakrale Objekte und muß eben deshalb verschweigen, daß dies nur eine Gesellschaftsbeschreibung ist.“ (Ebd., S. 884.)

„Das System kann ja nicht anders als real operieren. Jede Selbstbeobachtung und jede Selbstbeschreibung setzt sich daher unvermeidbar ihrerseits der Beobachtungn und Beschreibung aus. Jede Kommunikation kann ihrerseits Thema einer Kommunikation werden, das heißt aber, daß sie positiv oder negativ kommentiert, daß sie angenommen oder abgelehnt werden kann. Relativ stabile Selbstbeschreibungen bilden sich daher nicht einfach in der Form des überzeugenden Zugriffs auf eingegebenes Objekt, sondern als Resultat eines rekursiven Beobachtens und Beschreibens solcher Beschreibungen aus. In der mathematischen Kybernetik nennt man ein solches Resultat auch einen »Eigenwert« des Systems.“ (Ebd., S. 888.)

„Nichtidentität von Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen ist ... ein im Normalgang zu erwartendes Resultat und dies mit zunehmender Wahrscheinlichkeit, wenn die Primärbeobachtung nicht mehr auf der Basis von Autorität und Tradition operieren kann. Zusätzlich muß auf eine Besonderheit aller selbstreferentiellen Praktiken, aber besonders der Selbstbeschreibungen von Gesellschaften hingewiesen werden. Es gibt für sie keine externen Kriterien, nach denen sie beurteilt werden könnten.“ (Ebd., S. 889-890.)

„Selbst bei radikalen strukturellen Veränderungen wird die Gesellschaft das, was sie über sich selbst weiß und sagt, nicht abrupt ändern können, um voraussetzungslos neu zu beginnen. Sie wird Neues in alten Kontext wahrnehmen müssen, um es überhaupt spezifizieren zu können. .... Selbst die moderne Gesellschaft beschreibt, wie wir ausführlich sehen werden, sich selbst daher zunächst einmal historisch, um sich von ihrer Geschichte zu lösen.“ (Ebd., S. 891.)

„Eine andere Frage ist, ob das Gesellschaftssystem selbst eine Mehrheit von Selbstbeschreibungen anbietet und (wenn ja; HB) auch bemerkt, daß dies geschieht. Dies ist, wie wir noch ausführlich sehen werden, erst unter modernen (...) Bedingungen der Fall, und es hängt offensichtlich mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung zusammen.“ (Ebd., S. 891.)

„Auch die Wiederbeschreibung von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft ist eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Die Wiederbeschreibung kann dann nicht länger als Erzeugung besseren Wissens, geschweige denn als Fortschritt angesehen werden. (Das wäre jetzt leicht durchschaubar als Voreingenommenheit einer weiteren Ebene, einer Selbstbeschreibung der Wiederbeschreibung, die ihren autologischen Charakter unbeachtet läßt.) Vielmehr geht es um eine laufende Transformation von Prämissen, die vordem als notwendig und natürlich angesehen wurden, in kontingente und künstlich gewählte Limitierungen bestimmter Operationen. So zum Beispiel die Wiederbeschreibung tonaler Musik durch die Einführung atonaler Musik oder die Wiederbeschreibung der politischen Ökonomie durch die Marxsche Analyse des »Kapitalismus«. Der Zugriff solcher Wiederbeschreibungen auf Beschreibungen kann sich dann nur noch zeitlich rechtfertigen als der heutigen Lage angemessen mit der Aussicht, daß er morgen als von gestern behandelt werden wird.“ (Ebd., S. 892-893.)

„Die Wissenschaft bleibt als Beobachter der aus sich selbst ausgeschlossene Dritte.“ (Ebd., S. 970.)

„Die erkenntnistheoretische Reflexion nimmt mit ihrer Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit« nur sehr begrenzt auf, was in den Wissenschaften selbst geschieht. Die Einstellung der Natuwissenschaften auf »Materie«, der Biologie auf »Population« und der Humanwissenschaften auf »Subjekt« lassen immerhin erkennen, daß es um zukunftsoffene Forschungsprogramme geht, die eine Festlegung auf Wesen, ja sogar auf invariante Gesetze, die das Vergangene mit dem Zukünftigen verbinden, nach Möglichkeit vermeiden oder doch immer weiter aufzulösen suchen. Das entspricht einer Gesellschaft, die ihr eigenes »Wesen« nicht mehr bestimmen kann, ihre Geschichte als vergangen behandelt und auf eine selbstbestimmte Zukunft setzt. Die erkenntnistheoretische Konsequenz lautet zunächst: Pragmatismus, dann Konstruktivismus.“ (Ebd., S. 970.)

„Ferner ist heute klar, daß Kausalität Zurechnungsentscheidungen erfordert, da nie alle Ursachen auf alle Wirkungen (oder umgekehrt) bezogen werden können. (Vgl. Niklas Luhmann, Das Risiko der Kausalität, in: Zeitschrift für Wissenschaftsforschung, 9/10; 1995, S. 107-119.) Die Selektion von zu berücksichtigenden und nichtt zu berücksichtigenden Kausalfaktoren obliegt also den Beobachtern, die das Kausalschema verwenden. Folglich muß man diese Beobachter beobachten, will man feststellen, welche Ursachen welche Wirkungen bewirken, und keine »Natur« wird heute garantieren, daß darüber Einvernehmen herrscht. Kausalurteile sind »politische« Urteile.“ (Ebd., S. 1011.)

„Die deutlich an Zeit und Geschichte orientierte Geistmetaphysik Hegels benutzt einen Begriff der Bewegung bzw. des Prozesses und läuft auf einen Begriff des Geistes zu, der jedenfalls insofern noch eindeutig ist, als er am Ende der Geschichte (**|**|**|**) alle Unterscheidungen in sich aufnimmt und nur Exklusionen ausschließt. Im übrigen werden Grenzen dieser Semantik als Irrationalitäten markiert.“ (Ebd., S. 1012-1013.)

„Das System der Massenmedien operiert in all seinen Programmsektoren (Nachrichten/Berichte Werbung, Unterhaltung) unter dem Code Information/Nichtinformation. Jede Mitteilung, die als Information ausgewählt wird. wird damit automatisch zur Nichtinformation, denn Information läßt sich nicht wiederholen.“ (Ebd., S. 1014-1015.)

„Sowohl philosophische als auch physikalische Zeittheorien (Heidegger, Derrida, Einstein) legen eine entsprechende Umstellung der modernen Zeitorientierung nahe.“ (Ebd., S. 1015.)

„Die transzendentaltheoretische Wende erlaubt es, den Begriff des Subjekts an philosophischen Brgründungsdesideraten auszurichten und ganz davon abzusehen, was ein empirisches Bewußtsein wirklich zu leisten vermag. Nut unter transzendentaltheoretischen Prämissen kann man davon ausgehen, daß jedes Subjekt in sich selbst Notwendigkeiten/Unmöglichkeiten (also Ersatz für die alte »Natur«) finden kann, die es bei allen anderen in gleicher Form voraussetzen kann. “ (Ebd., S. 1028.)

„Ein weiteres »Suvival« des Subjekts findet man in der Doppelformel von Entzauberung und Verinnerlichung der Welt. Diese Doppelung motiviert einerseits die Rede vom Ende der Geschichte (**|**|**|**), Ende der Kunst, Ende der Philosophie usw., womit nicht gemeint sein kann, daß dies nocht mehr vorkommt, sondern nur: daß es nicht mehr die alte Einheit symbolisieren und verwirklichen kann. Man hat es jetzt nur noch mit Differenzphänomenen zu tun und mit der Enttäuschung des Subjekts darüber, daß es die Welt weder sein noch sie sich als Bildung aneignen kann. Auch dies ist aber kein Urteil über die empirische Befindlichkeit wirklich lebender Menschen, sondern nur eine Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft; und vielleicht nicht die glücklichste Fassung dieses Problems.“ (Ebd., S. 1033.)

„Das Individuum muß vorausgesetzt und zugleich neutralisiert werden, wenn nicht über eine transzendentaltheoretische Reduktion, dann eben statistisch.“ (Ebd., S. 1036.)

„Veränderungen, die man im 18. Jahrhundert findet. Die Einheit von Moral und Manieren zerbricht. Moral wird jetzt als »Selbsteinschränkung des Sozialen durch das Soziale« (Dietrich Schwanitz) in Anspruch genommen und mit Pseudonymen wie Natur oder Vernunft ausstaffiert. Neue »ethische« Anforderungen an die Moral überschreiten die Grenzen familialer, tribaler, lokaler Einheiten, die nur interne Moralbindungen kannten. (Daß man auch heute solche Verhältnisse noch finden kann, soll damit nicht bestritten werden; aber ihre Darstellung ist nicht immer frei von Übertreibungen.)“ (Ebd., S. 1038.)

„Die Gründe für Berufung auf Moral sind eben nicht mehr ohne weiteres »gute« Gründe. Die Ethik selbst muß auf Gödel hören.“ (Ebd., S. 1040.)

„Die Überzeugungskraft dieser Aufhebung der Paradoxie der (Einheit) binärer Codierungen durch sich selbst muß so stark gewesen sein, daß die Ethik sich nur noch mit Begründungsproblemen zu befassen und die Anwendbarkeit ihrer Theorien zu demonstrieren hat. Sie »gödelisiert« ihre Theorem transzendental durch Rekurs auf Tatsachen (!) des Bewußtseins, die jeder durch Refexion in sich selbst feststellen kann; oder sie baut Selbstreferenz ein mit Benthams These, daß alle ethischen Theorien sich letztlich an ihrem eigenen Nutzen ausweisen müßten. Die theoretischen (»philosophischen«) Folgelasten dieser Positionen sind heute leicht zu erkennen, und man braucht schon die reichen Obduktionserfahrungen der Philosophen, um damit zurechtzukommen. Die soziologische Frage ist eher, warum es überhaupt zu derart extravaganten Selbstbegründungsversuchen der ethisch beaufsichtigten Moral gekommen ist. - Die uns leitende Hypothese lautet, daß dies mit der Ausweitung von Kommunikation durch den Buchdruck, mit der Erleichterung des interregionalen Verkehrs, vor allem aber mit dem Übergang von primär stratifikatorischer zu primär funktionaler Differenzierung zusammenhängt, also mit gesellschaftsstrukturellen Veränderungen, die sich außerhalb jeder moraklischen Kontrolle, nämlich durch Evolution vollzogen haben.“ (Ebd., S. 1040-1041.)

„Die Universalisierung der Moral führt einerseits zu einem Verzicht auf Moralisierungen oder auch zu Warnungen vor allzu aufdringlichen Belästigungen mit Moral. Sie setzt andererseits das Medium Moral inflationären bzw. deflationären Trends aus.“ (Ebd., S. 1043-1044.)

„Zu den auffallenden Begleitphänomenen der semantischen Reaktion auf funktionale Differenzierung gehört die Auffangsemantik der Nationen, die nicht auf funktional, sondern auf segemntäre Differenzierung abstellt. Die geschichtlichen Bedingungen einer solchen Selbstbeschreibung liegen sicher in der regionalen, sprachlichen und kulturellen Differenzierung Europas; oder in anderen Worten: in der Verhinderung eines religiös-politischen Reichsbildung.“ (Ebd., S. 1045-1046.)

„Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts wendet sich das Blatt.“ (Ebd., S. 1047.)

„Aber: warum läßt diese Wende zum Nationalbewußtsein (Nationalismus! HB) mit teils fiktiver Normalität, tels normativen Forderungen sich so exakt auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datieren?“ (Ebd., S. 1049.)

„Man könnte sagen, daß der intern friedliche Territorialstaat jetzt voll etabliert ist und sich mit Bezug auf die Bevölkerung legitimieren muß. Man könnte auch auf die Fortschritte in der Seuchenpolitik, in der Agrikulturtechnik und in der Übernahme amerikanischer Landfrüchte hinweisen, die frühere Anlässe zu umfangreichen demographischen Verschiebungen innerhalb Europas obsolet werden lassen und den Glauben an einen relativ stabilen (nur in sich wachsenden) nationalen Bevölkerungsstand ermöglichen. Überschüssiger Nachwuchs konnte, obwohl die Bevölkerung weltweit (und selbst auf den amerikanischen Sklavenplantagen) wuchs, über See auswandern, ohne die nationale Inegrität zu berühren. Dies alles angenommen, wird es kein Zufall sein, daß die Idee der Nation (der Nationalismus! HB) als Normalform und als normativer Anspruch sich historisch in genau dem Zeitpunkt durchsetzt, in dem der Übergang zu funktionaler Differenzierung irreversibel wird und sich in zahlreichen Bereichen bemerkbar macht. “ (Ebd., S. 1049-1050.)

„Ironischerweise leitet das Ende des Ersten Weltkrieges mit der Erklärung des Rechts auf Selbstbestimmung der Nationen das Ende dieser Idee ein. Ihr Scheitern wird in den Versuchen, sie zu realisieren, offenkundig. Sie dekonstruiert sich, könnte man sagen, von nun an selber, indem sie zu Entscheidungen gezwungen wird, deren Folgen sich durch die Idee nicht rechtfertigen lassen.“ (Ebd., S. 1054.)

„Funktionale Differenzierung treibt die Ausdifferenzierung einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme ins Extrem einer vollen, eigenen, autopoietischen Autonomie. Das führt dazu, so können wir voraussagen, daß auch die Generalisierung der Semantik, die die Einheit des Ganzen noch symbolisieren kann, ins Extrem getrieben werden muß. Man wird dann auf jede gattungsförmige Zusammenfassung, schließlich sogar auf jede ontologische Beschreibung verzichten müssen. Es bleibt nur die Möglichkeit, paradox oder tautologisch zu identifizieren. Der Beobachter wird ... eingestehen müssen, daß ein Beobachter (und auch ein Selbstbeobachter) nicht sehen kann, was er nicht sehen kann, und zwar vor allem sich selbser nicht. Die Einheit der Gesellschaft wird in der Selbstbeobachtung zur Paradoxie des Beobachters.“ (Ebd., S. 1061.)

„Hegels Kritik der romantischen »Subjektivität« trifft nicht den Kernpunkt. Die Frage ist, warum ein derart gepflegtes Paradox angeboten wird.“ (Ebd., S. 1062.)

„Explizites Paradoxieren findet man, wenn man von den üblichen rhetorischen Spielereien absieht, vor allem im Kontext des Sichablösens von Moral ....“ (Ebd., S. 1062.)

„Auch wußte man schon, oder man hätte es zumindest wissen können, daß über Mehrheitsabstimmungen keine transitive Ordnung zu erreichen ist mit der Folge, daß im Laufe der Zeit Widersprüche auftreten, die sich nicht moralisch codieren lassen.“ (Ebd., S. 1063.)

„Das Resultat ist eine gut ausbalancierte Lösung, die unter dem Namen »Liberalismus« angeboten wird. Eine Lösung ohne Gesellschafttheorie. Die Paradoxieprobleme werden auf das politische System und auf das Wirtschaftssystem verteilt. Für die Kontrolle der guten Absichten der guten Absichten der Politiker ist die Verfassung des Staates zuständig. Ihr Paradox ist die Fixierung von Unruhe. (Mit einer Formulierung von Friedrich Schlegel, a.a.O., S. 713.) Für die Transformation von Eigennutz in Wohlstand sorgt die »unsichtbare Hand« der Marktwirtschaft. Und da es nur diese beiden Paradoxien gibt, beschränkt sich die Reflexion auf das Verhältnis von »Staat« und »Gesellschaft« (= Wirtschaft).“ (Ebd., S. 1063.)

„Der »Fingerzeig Gottes« wird durch die »unsichtbare Hand« ersetzt. Das Paradox wird nicht erkannt - aber bezeichnet. Die pragmatische Lösung liegt im Angebot einer Vielzahl von Unterscheidungen, die eine Ordnung der Phänomene erlauben, aber nicht zulassen, daß die Frage nach der Einheit der Unterscheidung selbst gestellt wird. Und wenn man sie stellt, wie Hegel es tut, wird das Resultat sofort wieder in neue Unterscheidungen dekomponiert - Geist und Materie, Theorie und Praxis usw..“ (Ebd., S. 1063-1064.)

„Wir können das hier anfallende Material grob sichten und ordnen, indem wir es nach Sinndimensionen sortieren, nämlich nach der Unterscheidung von Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension. Mit sachbezogenen Unterscheidungen erfaßt man Gegebenheiten, die man besonders aufzeichnen möchte. Die nach Hegel geläufige, in die Verfassungen als Prämisse eingebaute Unterscheidung von »Staat« und »Gesellschaft« hatten wir schon erwähnt. Die ältere Unterscheidung von »imperium« und »dominium« hatte noch nicht nach Politik und Wirtschaft getrennt. Erst nach dem Zusammenbruch der merkantilistischen Wirtschaftspolitik regiert man mit Systemunterscheidungen .... Zugleich gewinnt die Eigentumsfrage in den verfassungspolitischen Diskussionen an Bedeutung. Aber erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Realitätsbeschreibung geläufig, und dies unabhängig von ihrer eigentümlichen Situierung in der Hegelschen Theorie. Denn man will nun diskutieren, ob und wie der Staat gegenüber der Gesellschaft und ihren Verteilungsproblemen eine besonderen Funktion zu erfüllen habe, und für diesen Zweck muß die Unterscheidung aus dem Hegelschen Kontext ausgegliedert werden. Bewaht wird dabei jedoch der eigentümliche Staatsbezug der Unterscheidung selbst: Der Staat ist zwar nicht mehr das alles »aufhebende« Resultat der Geschichtsdialektik, aber er ist diejenige Seite der Unterscheidung, die die Unterscheidung selbst zu treffen, zu respektieren, zu vollziehen hat; formal gesehen ein »re-entry« der Form in die Form im Sinne von Spencer Brown.“ (Ebd., S. 1064-1065.)

„Schließlich sei noch die von Ferdinand Tönnies vorgeschlagene Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft genannt. Mit »Gemeinschaft« wird an ein Personen einbeziehendes soziales System erinnert, an Nestwärme und an Ländlichkeit, und »Gesellschaft« besagt, daß solche Verhältnisse in der Moderne wie auf verlorenem Posten überleben, aber daß sie in einer formalen Soziologie gleichwohl zu berücksichtigen seien.“ (Ebd., S. 1068.)

„Offenbar fehlt es in allen Fällen an einen brauchbaren (hinreichend konkretisierbaren) Begriff für das, was dem Unterschiedenen gemeinsam ist oder was die Unterscheidung selbst vor anderen Unterscheidungen auszeichnet. (Und man hätte das merken können, hätte man Hegel konsultiert). Statt dessen wird das, worauf es ankommt, nämlich die moderne Gesellschaft, auf jeweils eine Seite der Unterscheidung gebracht und durch den Gegensatz zur jewelis anderen unterschiedlich eingefärbt. So entsteht eine Mehrzahl von Gesellschaftsbegriffen, je nachdem, wovon Gesellschaft unterschieden wird. Man kann auf diese Weise die Komplexität der neuen Lage registrieren, ohne über einen einheitlichen Begriff zu verfügen, der sie direkt bezeichnet. Die Gesellschaftstheorie kommt ohne einen Begriff des umfassenden Systems der Gesellschaft aus.“ (Ebd., S. 1068-1069.)

„Das 18. Jahrhundert leitet einen in vielen Hinsichten grundlegenden Wandel ein. “ (Ebd., S. 1070.)

„Mehr und mehr wird die Zeit heute nur noch durch die Differenz von Vergangenheit und Zukunft beschrieben. Das führt dazu, daß die Gesellschaft sich zwischen einer nicht mehr gültigen, nicht mehr verbindlichen Vergangenheit und einer noch nicht bestimmten Zukunft findet - wie ein Jugendlicher, dem das Elternhaus keine Sicherheit und keine Maßstäbe mehr bietet und der Beruf noch nicht. Nur solange die moderne Gesellschaft noch nicht voll erkennbar war, konnte man einen Blankoscheck auf die Zukunft akzeptieren. Gegenwärtig scheint dies sich zu ändern. Die Zukunftsperspektiven verdunkeln sich, und damit zugleich wächst der Entscheidungsdruck in der Gegenwart, denn nur in der Gegenwart, nur im Kontext einer gleichzeitig gegebenen Welt, ist man entscheidungs- und handlungsfähig. Entsprechend scheint die Zeit schneller zu laufen. Wie weit die Entscheidungsorganisationen, vor allem die des politischen Systems, diesen Druck und das damit wachsende Mißtrauen auffangen können, ist eines der wichtigsten Gegenwartsprobleme.“ (Ebd., S. 1073-1074.)

„Im Vergleich zur alteuropäischen Zeitsemantik hat sich damit die Grundunterscheidung geändert, die die Zeitdimension bestimmt und damit festlegt, wie die Paradoxie der Zeit erscheinen und aufgelöst werden kann. Wenn es um die Unterscheidung Zeit/Ewigkeit geht, liegt die Paradoxie (sieht man einmal von den Zenonischen Bewegungsparadoxien ab) auf der einen Seite der Unterscheidung: in der Ewigkeit, die Zeit und doch keine Zeit ist. Hier kann sie mit dem Gottesbegriff absorbiert werden. Die Unterscheidung Vergangenheit/Zukunft wird paradox, wenn man bedenkt, daß Vergangenheit und Zukunft immer gleichzeitig gegeben sind, nämlich als Horizonte der Gegenwart. Die Gegenwart ist die Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft. Sie katapultiert sich als Zeit des Beobachters der Zeit selbst aus der Zeit hinaus. Sie ist die Zeit, in der man keine Zeit hat, weil alles, was man als Zeit erfassen kann, schon vergangen oder noch zukünftig ist. Diese zeitlose »Gesamtzeitlichkeit« der Gegenwart tritt im modernen Denken an die Stelle der Ewigkeit. Und sie wird entparadoxiert, indem man zwischen der gegenwärtigen Vergangenheit bzw. Zukunft und den vergangenen bzw. künftigen Gegenwarten unterscheidet, die Zeitbegrifflichkeit also doppelt modalisiert. Genau das leistet, auf konkreteren Forschungsebenen, die Historisierung des Geschichtsbewußtseins.“ (Ebd., S. 1074.)

„In der Sozialdimension schließlich geht es um die Frage, wie die Gesellschaft im Hinblick auf die Formdifferenz von Ego und Alter als Einheit dargestellt werden kann. Der Beobachter erster Ordnung sieht die Unterschiede der Menschen und ihrer Schicksale und fragt nach Gerechtigkeit. Auf der Ebene zweiter Ordnung kann man beobachten und beschreiben, daß und wie die Gesellschaft selbst reguliert, welche Positionen sie Personen zuweist und wie sie dies rechtfertigt. Wir wollen im Hinblick darauf von Inklusionsprinzipien sprechen.“ (Ebd., S. 1075.)

„Die alte Gesellschaft hatte Inklusion durch Zuweisung fester Plätze an Familien oder Korporationen (und damit indirekt: an Personen) reguliert. Diese einfache Lösung muß im Übergang zu funktionaler Differenzierung aufgegeben werden, denn man kann Personen nicht auf die Funktionssysteme aufteilen. Statt dessen sucht und findet man neue Inklusionsprinzipien, die die Namen Freiheit und Gleichleit erhalten und die Form von Bürger- oder sogar Menschenrechten annehmen. Freiheit heißt: daß die Zuordnung von Personen (nicht mehr: Familien) zur Gesellschaft nicht mehr gesellschaftsstrukturell determiniert ist, sondern auf einer Kombination von Selbstselektion und Fremdselektion beruht. Gleichheit heißt: daß keine anderen Inklusionsprinzipien anerkannt werden, als die, die das Funktionssystem selber festlegt. Anders gesagt: Nur Funktionssysteme haben das Recht, aus systeminternen (und insofern für sie rationalen) Gründen Ungleichheiten zu produzieren. Alle Vorgaben müssen unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit, also strukturlos, an das System herangetragen werden, also zum Beispiel: Gleichheit aller vor dem Recht mit Ausnahme der im Rechtssystem selbst begründeten Unterschiede. Die latente Funktion dieser Menschenrechte liegt also gerade nicht in einer Honorierung und Ratifikation von Vorgaben, die mit der »Natur des Menschen« gegeben sind. Sie liegt vielmehr darin, daß in der modernen Gesellschaft prinzipiell nicht vorausgesagt werden kann, in welchen Sozialkontexten wer was zu sagen oder sonstwie beizutragen hat. Sie liegt im Offenhalten der Zukunft gegen alle Vorwegfestlegungen, die sich aus einer Einteilung oder Klassifikatiori von Menschen (zum Beispiel: in höhere oder niedrigere) und vor allem aus politischen Sortierungen ergeben könnten.“ (Ebd., S. 1075-1076.)

„Es fällt auf, daß die Inklusionsprinzipien Freiheit und Gleichheit ihre eigene Form nicht verraten. Zwar kann man rasch zwischen Freiheit und Untreiheit unterscheiden und ebenso rasch zwischen Gleichheit und Ungleichheit. Aber auf dieser Ebene der Abstraktion realisiert die Gesellschaft immer beide Seiten der Unterscheidung zugleich. Konkret muß dann immer noch geklärt werden, gegen welche Art Unfreiheit Freiheit eingeklagt werden kann und gegen welche Art Ungleichheit Gleichheit. Die Inklusionsprinzipien sind, vor allem durch die französische Revolution, als eine Art Blankoscheck auf die Zukunft proklamiert worden. Sie haben sich so natürlich nicht realisieren lassen. Ein in dieser Form unlösbares Problem wurde nur aus der Gegenwart in die Zukunft verschoben. Die Konkretisierung mußte dann durch Ideen erfolgen, die für diese Funktion den Namen Ideologien erhalten haben. Da aber die Prinzipien den Konkretisierungsschritt nicht bestimmen können, gibt es mehr als nur eine Möglichkeit ihrer Ideologisierung.“ (Ebd., S. 1076.)

„Neben der Verzeitlichung erwähnt das Programm des Wörterbuchs Geschichtliche Grundbegriffe die »Ideologisierbarkeit« vieler Ausdrücke als eines der Merkmale jener semantischen Wende, in der die neuzeitliche Gesellschaft sich selbst entdeckt. Auch damit ist die Sozialdimension angesprochen, denn ideologisch denken jeweils die anderen. Die Voraussetzungen dafür liegen im oben bereits behandelten Verzicht auf naturale Vorgaben und in deren Ablösung durch eine selbstreferenzfähige Semantik. Der Sachverhalt war längst vor der Erfindung des Ideologiebegriffs geläufig. »As no party, in the present age«, schreibt Hume 1748, »can well support itself without a philosophicalor speculative system of principles, annexed to its politicalor practical one; we accordingly find, that each of the factions, into which thisnation is divided, has rearedup afabric of the former kind, in order to protect and cover that scheme of actions, which it pursues.« DiePrinzipien und Ideen differieren nach Maßgabe sozialpraktischer Differenzen; und der Ideologiebegriff im Marxschen Verständnis fügt dem nur die Einsicht hinzu, daß auch diese Differenzen aus der Sozialordnung heraus erklärt werden können.“ (Ebd., S. 1076-1077.)

„In einem sehr anspruchslosen Verständnis kann man die Unterscheidung verschiedener Ideologien benutzen, um darzustellen; daß die französische Revolution eine Option eröffnet hatte: dafür oder dagegen. Es gibt folglich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konstitutionelle und restaurative Bewegungen. Dann kommt, bezogen auf die Folgen der Industrialisierung, die Kontroverse über Liberalismus und Sozialismus hinzu. Der Ideologiebegriff bietet eine Form für solche Unterscheidungen. Die Teilnehmer, also die Beobachter der Verhältnisse, reagieren auf diese Weise kontrovers auf Strukturprobleme der modernen Gesellschaft. Als Beobachter dieser Beobachter sieht man, daß damit unterschiedliche Strategien für die Auflösung der nur noch als Paradoxie erfaßbaren Einheit realisiert werden. Man kann die Gesellschaft paradox definieren: sie ist (noch) nicht, was, sie ist. Sie ist aber schon, was sie noch nicht ist. Sie befindet sich auf der Bahn des Fortschritts, den man durch Liberalisierung unterstützen muß; oder sie sammelt bereits die Kräfte für eine Revolution, indem sie immer tiefer in die dafür notwendige Krise gerät. Die Gegenwart der Zukt:lnft dient als noch unbestimmter Ort für die Einlösung des Rationalitätsversprechens. Dann sucht man Ideen zu verwirklichen und verhält sich progressiv. Sowohl Planung als auch Utopie bilden hier Gegenbestimmtheiten, die eine Flucht in eine noch unbestimmte Zukunft ermöglichen, und »Demokratisierung« verspricht, daß man sich, wenn die Zeit soweit ist, wird einigen können. Oder man löst die Paradoxie in die Gegenrichtung auf. Man definiert sie zunächst als Tautologie (das heißt: mit einer Unterscheidung, die behauptet, keine zu sein) und kommt dann zu der Feststellung: die Gesellschaft ist, was sie ist. Man kann nichts machen, aber man kann Unglücke verhindern und Abwegen vorbeugen. So wird man konservativ. “ (Ebd., S. 1077-1078.)

„An den Programmproblemen der Konservativen läßt sich gut ablesen, daß die Historisierung der gesellschaftlichen Zeit ihre Position zwar ermöglicht, sie zugleich aber benachteiligt. Die Zukunft hat als Moment einer Unterscheidung ja nur Sinn, wenn sie anders ist als die Vergangenheit. Das können die Konservativen aber nicht wollen. Ihnen wäre das liebste, wenn alles so bliebe, wie es geworden ist, und man dies gar nicht erst zu fordern brauchte. Die Progressiven können sich eher als von der Zeit begünstigt verstehen. Andererseits haben nur die Konservativen die Chance einer höheren Reflexionskultur, weil sich nur für sie das Problem stellt, inwiefern die Gesellschaft in allen Veränderungen dieselbe bleibt. Sie oszillieren daher zwischen konkreter Polemik und Reflexion. (Heute haben diese Bedingungen sich in sehr kennzeichnender Weise umgekehrt. Die Progressiven sind ihrerseits ideenkonservativ geworden, und sie selbst oszillieren jetzt, da sie über keine GesellschaftStheorie mehr verfügen, zwischen Reflexion und Polemik. Der sogenannte »Neokonservativismus« ist ihre Erfindung, nicht die Selbstbezeichnung einer anderen Gruppe.) Den Progressiven genügt eine Idee; und sie sondern Theorie nur ab, um sich zu erklären, weshalb die Idee bisher nicht zum Zuge gekommen ist.“ (Ebd., S. 1078.)

„Diese Positionen haben unterschiedliche Affinitäten zu anderen Ideenkomplexen. Nur der Konservative zum Beispiel kann »organisch« denken oder sich Skepsis in Bezug auf den Menschen leisten. Vor allem aber eignet sich dieser Oppositionsstil dazu, Zeit je verschieden zu sehen. Entweder ergibt sich die Zukunft aus der Gegenwart und der Kontrast von Vergangenheit und Zukunft sollte eher abgeschwächt werden (ohne daß die Vergangenheit deshalb einen Selbstwert annehmen oder schlicht kontinuiert werden müßte). Oder man muß den- Kontrast verschärfen und dafür sorgen, daß die Zukunft beseitigen wird, was als Defekt einer obsoleten Geschichte, vor allem an Ungleichheit, in die Gegenwart hineinreicht.“ (Ebd., S. 1078-1079.)

„Der heimliche Paradoxiebezug und der offengelegte Geschichtsbezug führen diese Form der Ideologiebildung zu einem Erfolg, der es ermöglicht, sich die Frage nach der Einheit der kontrovers beurteilten Angelegenheit zu ersparen. Eben das wird nun, je nach Standpunkt und politischem Engagement, unterschiedlich gesehen. Die Ausmalung der vorgegebenen Formen verstärkt i dann nur noch den Eindruck, daß es sich um »WeItanschauungen« handelte, über die man nicht weiter verhandeln kann. Gleichzeitig beginnt der Wertbegriff, der dies nur bestätigt, seine Karriere. Er gibt keine Instruktion, aber er trägt dem Bedürfnis Rechnung, oberhalb aller Meinungskontingenzen noch eine Ebene unverletztlicher Geltung zu wissen. Und wieder ist eine Untersch~i9ung zur Hand, deren Einheit nicht thematisiert werden kann: die Unterscheidung von »Sein« und »Geltung«.“ (Ebd., S. 1079.)

„Will man genauer wissen, wie damit über die Sozialdimension der Beschreibung von Gesellschaft entschieden ist, kann man sehr leicht sehen, daß, analog zur zeitdimensionalen Verschärfung des Unterschiedes von Vergangenheit und Zukunft, auch die Unterscheidung verschärft wird, die die Sozialdimension definiert, nämlich die Unterscheidung von Ego und Alter. Etwas deutlichere Anhaltspunkte gibt der Ideologiebegriff selbst. Nachdem der Begriff Ideologie zunächst nur die Wissenschaft von der Steuerung des empirischen Verhaltens durch Ideen bezeichnet hatte (also etwa das, was wir »Semantik« nennen), gewinnt er mit Marx einen neuen Sinn. Es greift zu kurz, wenn man nur die polemische und pejorative Komponente bemerkt. Es geht nicht nur und nicht primär um eine Beschimpfung, auch wenn Marx selbst sich oft im Ton vergreift. Entscheidend ist die Verlagerung des Problems der gesellschaftlichen Orientierung auf eine Ebene zweiter Ordnung und der Verzicht auf eine konsentierte Realität. Ein Beobachter beobachtet einen anderen Beobachter im Hinblick auf das, was dieser nicht sehen kann. Ideologien sind, in anderen Worten, Texte, die etwas enthalten, was sie nicht enthalten, nämlich eine Auskunft über ihre Verfasser und Benutzer, und in der üblichen Interpretation besagt dies: eine Auskunft über deren Interessen. (Seit dieser Entwicklung diskutiert man, und wie es scheint: ausweglos, wie dieser Interessenbezug »wissenschaftlich« nachgewiesen werden könne, wenn doch keine Aussicht besteht, darüber allgemeine Einigung auch mit den beobachteten Interessenten erreichen zu können. .... Es scheint mithin, daß der Ideologiebegriff schon aus erkenntnistheoretischen Gründen zur Parteilichkeit zwingt.) Es geht, mit anderen Worten, um den blinden Fleck, um das Problem der Latenz. Die Kapitalisten arbeiten nach Marx an ihren eigenen Untergang, weil sie genau dies nicht wissen und nicht korrigieren können. (Man mag sich fragen, wie Marx angesichts dieser Theorie sich selbst als Publizist eingeschätzt hat. Können die Marx lesenden Kapitalisten zumindest lernen, daß sie nicht sehen können, was sie nicht sehen können? Und was würde aus einer rekursiven Vernetzung des Sehens des Nichtsehens folgen? Marx selbst scheint jedoch, wie schon Hegel, nicht in der Lage gewesen zu sein, die eigene Theorie in der eigenen Theorie zu berücksichtigen - es sei denn als wissenschaftlichen Beweis für die Aussicht auf, und Klärung der Bedingungen für, die vorausgesagte Revolution.)“ (Ebd., S. 1079-1080.)

„Mit Vorläufern im Roman des 18. und 19. Jahrhunderts, ferner in einer Literatur, die man später als »Gegenaufklärung« bezeichnen wird, und nach Marx mit vielen Neuauflagen, etwa in der Psychoanalyse Freuds oder in der Soziologie latenter Strukturen und Funktionen, breitet sich seit dem 19. Jahrhundert eine radikale Neufassung des Problems der Sozialdimension aus, eben die Fixierung des sozialen Interesses auf ein Beobachten des Nichtbeobachtenkönnens. Solange man unter »Beobachtern« nur psychische Systeme versteht, mag das ein belangloses oder allenfalls ein therapeutisch einsetzbares Privathobby bleiben. Aber was geschieht, wenn so kommuniziert wird?“ (Ebd., S. 1080-1081.)

„All diese komplexen Formen einer Übergangssemantik lassen sich auf eine Frage bringen - auf die Frage: wer ist der Beobachter? Diese Frage kann nicht beantwortet, also auch nicht gestellt werden. Die übliche Charakterisierung des Beobachters als »Subjekt« gestattet es bestenfalls, das Problem der Sozialdimension als Problem der »Intersubjektivität« zu bezeichnen. Immerhin hat man damit einen strikt paradoxen Begriff an der Hand, aber auch nicht mehr; denn das »Inter« kann dem Subjekt, wenn das Subjekt ein Subjekt ist, weder zu Grunde liegen noch nicht zu Grunde liegen. Der Roman, der Liebesroman, aber auch Hegels Roman der Liebe zwischen Weltgeschichte und Philosophie, lokalisiert den Beobachter, der auch das sehen kann, was er selber bisher nicht sehen konnte, am Ende der Geschichte (**|**|**|**). Das macht es erforderlich, den Erzähler, der alles immer schon weiß, und also auch Hegel selber, aus der Geschichte herauszuhalten. (Vgl. dazu Dietrich Schwanitz, Systemtheorie und Literatur, 1990, S. 181 ff..) Auch das reicht aber nicht, um die Frage nach dem Beobachter zu beantworten. Erst recht versagen die zur Zeit modischen Auskünfte: der Sprachspielpluralismus eines Wittgenstein, die These eines kulturellen Relativismus oder die Diskurspluralität der sogenannten »Postmoderne« (**). Auch hat es wenig Sinn, sich mit Kontroversen zwischen diesen verschiedenen Positionen zu beschäftigen, denn das führt nur zur wechselseitigen Rekonstruktion der jeweiligen Unzulänglichkeiten.“ (Ebd., S. 1081.)

„Unsere Analysen legen die Annahme nahe, daß die moderne Gesellschaft mit dieser Technik des Beobachtens des Nichtbeobachtenkönnens das Paradox des Beobachters als des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten nachvollzieht. Das zwingt dann aber das Beobachten des Beobachtens zum autologischen Schluß auf sich selbst und zum Paradox als Abschlußgedanken: Der Beobachter ist das Unbeobachtbare. Das führt jedoch nicht zur Verzweiflung. Im autopoietischen System gibt es keinen Abschluß, weder Anfang noch Ende. Jedes Ende ist Anfang. Das Paradox löst sich damit in Zeit auf. Das System versetzt damit das, was als Gegenstand nicht beobachtbar ist, in Operation. Und wenn dies geschieht und wenn solche Beobachtungsoperationen immer wieder auf ihre eigenen Resultate angewandt werden, könnte es sein, daß das im Ergebnis zu stabilen »Eigenwerten« führt, das heißt zu einer Semantik, die dies aushält und deshalb bevorzugt wird.“ (Ebd., S. 1081-1082.)

„Information ist ein Zerfallsprodukt. Sie verschwindet, wenn sie aktualisiert wird. Die Informationsgesellschaft wäre danach eine Gesellschaft, die es aus zunächst unerfindlichen Gründen für notwendig hält, sich selbst ständig zu überraschen. (Hierzu: Niklas Luhmann, Entscheidungen in der »Informationsgesellschaft«, 1996).“ (Ebd., S. 1090.)

„Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen ... und damit ... Übergang von Beschreibungen, die in der öffentlichen Meinung zeitweise Furore machen und dann wieder abflauen, zu theoriegeführten Analysen, die sich nur innerhalb der Wissenschaft bewähren müssen. Damit verschiebt sich der Standpunkt des Beobachters auf eine Ebene zweiter, wenn nicht dritter Ordnung.“ (Ebd., S. 1090.)

„Will man ein Urteil über die Möglichkeiten der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft gewinnen, muß man vor allem bedenken, daß sie nicht mehr als Weisheitslehre mündlich tradiert wird und nicht mehr als Philosophie hohe Abschlußgedanken artikuliert, sondern den Eigengesetzlichkeiten der Massenmedien folgt. Jeden Morgen und jeden Abend senkt sich unausweichlich das Netz der Nachrichten auf die Erde nieder und legt fest, was gewesen ist und was man zu gewärtigen hat. Einige Ereignisse ereignen sich von selbst, und die Gesellschaft ist turbulent genug,daß immer etwas geschieht. Andere werden für die Massenmedien produziert. Dabei kann vor allem die Äußerung einer Meinung als ein Ereignis behandelt werden, so daß die Medien ihr Material reflexiv in sich selbst eintreten lassen können. Bei all dem wirken die Erzeugnisse der Druckpresse mit dem Fernsehen zusammen. Schon durch die Ausdifferenzierung der Massenmedien wird ein Überschuß an Kommunikationsmöglichkeiten erzeugt. Das wieder führt zu einer sehr scharfen Selektion dessen, was mitgeteilt werden kann, und dann noch zu einer Selektion dessen, was (journalistisch bzw. fernsehtechnisch) »gut« mitgeteilt ist. Unausweichlich muß jede Beschreibung unserer Gesellschaft diese Mittel (und insofern: ihre eigenen Mittel) und deren Verhältnis zu sich selbst mitenthalten. In soziologischen Beschreibungen, die »Massenmedien« zu einem eigenen Forschungsgebiet ausdiffe renziert haben, geschieht das vorerst nur selten Die »kulturelle Hegemonie« der Massenmedien, der sich selbst Protestbewegungen zu fügen haben, wenn sie nicht vorab auf Erfolge verzichten wollen, wird durchaus wahrgenommen, aber nur als Phänomen beschrieben, da für eine genauere Erfassung und Einschränkung ein gesellschaftstheoretischer Kontext fehlt.“ (Ebd., S. 1097-1098.)

„In der Bezeichnung »Massenmedien« werden Perspektiven zusammengefaßt, die wir sorgfältig unterscheiden müssen. Von »Medium« sollte nur die Rede sein, wenn eine Menge nur lose gekoppelter Elemente bezeichnet wird, die für Formenbildung zur Verfügung stehen. Ein Medium in diesem Sinne ist die »öffentliche Meinung« - gleichviel ob die Gesamtheit der Elemente psychisch als diffus verstreutes Aufmerksamkeitspotential verstanden wird, das durch Formenbildung temporär gebunden wird; oder sozial als Beiträge zu Themen der Kommunikation, wobei die Formenbildung im Bekanntsein (oder inder Untersteilbarkeit des Bekanntseins) liegt. Davon zu unterscheiden ist die Frage, welches soziale System dieses Medium produziert und reproduziert- die Gesellschaft selbst oder ein eigens dafür ausdifferenziertes Funktionssystem. Nur dieses Funktionssystem soll mit dem Begriff der Massenmedien bezeichnet werden.“ (Ebd., S. 1098.)

„Von »öffentlicher Meinung« in einem gegenüber der Tradition aufgewerteten Sinne spricht man seit dem 18. Jahrhundert. (Vorläufer gab es in vielen verschiedenen Diskussionszusammenhängen. Zum Beispiel in Form der Unterscheidung von Meinung und Wissen. Oder im Begriff des »common sense«. Oder in der These, daß es der Staatsräson entspreche, wenn der Fürst die Meinungen seiner Untertanen beachte, wenn auch nicht unbedingt: ihnen folge.) Allen Erwartungen des 18. und 19. Jahrhunderts zuwider beruht jedoch die eigentümliche Modernität der so zustandekommenden öffentlichen Meinung darauf, daß sie, darin dem Markt vergleichbar, keine Einheit bildet. Sie wählt nicht das aus, was der Vernunft entspricht. Sie trägt zur Autopoiesis der Gesellschaft bei, denn es geht ja um Kommunikation, aber sie formuliert keinen Konsens darüber, was die Gesellschaft ist oder sein soll. Ihre Funktion liegt nicht in der gesellschaftlichen Integration, sondern darin, ein Beobachten von Beobachtern zu ermöglichen. Jeder momentane Zustand wird als Ausgangspunkt für Differenzen, wenn nicht überhaupt als Differenz vorgestellt. Das zeigt sich, wenn man von einer Beschreibung zu einer Analyse derjenigen Faktoren übergeht, die regulieren, wie das erzeugt wird, was dann als öffentliche Meinung erscheint. Das geschieht über sehr spezifische Selektionsweisen, deren Resultate eben deshalb Kontingenz und vor allem die Möglichkeit, zu anderen Beurteilungen zu kommen, nicht ausschließen können.“ (Ebd., S. 1098-1099.)

„Die Selektivität dessen, was auf Grund der Wirksamkeit dieser MassenmedienaIs »öffentliche Meinung« reflektiert wird, kann man pointiert in den drei Sinndimensionen beschreiben. In der Sachdimension gewinnen quantitative Angaben eine hervorragende Bedeutung, ohne daß deren Berechnungsweise mitreflektiert werden könnte. Katastrophen werden bevorzugt berichtet, wenn ungewöhnliche Quantitäten (Massenkarambolage, Tausende von toten Robben, Millionenschäden etc.) im Spiel sind. Das Steigen des Bruttosozialprodukts wird begrüßt, das Fallen beklagt, Politik und Börse reagieren auf das Bekanntwerden der Zahl, ohne daß man bedenkt, daß das Bruttosozialprodukt auch dadurch zum Steigen gebracht werden kann, daß vorher unbezahlte Arbeit bezahlt wird oder daß Unfälle und Katastrophen zunehmen und der Schaden mit Zahlungen ausgeglichen wird. (Torvald Sande, a.a.O., 1987, S. 183-189, schätzt den Beitrag von Unfällen und Katastrophen zum Bruttosozialprodukt auf 2% [ohne nähere Angaben und vielleicht nur auf präventive Maßnahmen und nicht auf Ausgl:ichszahlungen bezogen].)“ (Ebd., S. 1099.)

„Im Ergebnis verfälft die Gesellschaft in eine Art statistische Normaldepression. Jedes Mehr ist, in der Gegenrichtung gesehen, zugleich ein Weniger dessen, was vorher war. Wenn Wachstum berichtet wird, ist man mit den Zuständen und Erträgen nicht mehr zufrieden, die vor einigen Jahren noch ganz normal waren. Und selbst wenn das Wachstum sich verlangsamt, ist das eine Unglücksnachricht. Eine Rückkehr zu den Werten, die vor einigen Jahren noch voll zufriedenstellten, wird infolge dieser Paradoxie des mehr=weniger als Rückschritt erfahren. Wie zum Ausgleich des Abstraktionsgrades der Quantitäten wird ein lokaler (oder funktional äquivalent: ein personaler) Bezug der Informationen erwartet und hergestellt. Man kann damit die Paradoxien des Typs mehr=weniger oder höher=niedriger, die Paradoxien des Werdens also, auflösen in eine Identitätsthese, die dadurch nicht in Frage gestellt wird. Das führt zu ethnozentrischen Perspektiven und zur Überschätzung der Bedeutung einzelner Personen für die Dramaturgie der Ereignisse - alles in allem also zu soziologisch kaum korrigierbaren Eigenarten der Realitätskonstruktion.“ (Ebd., S. 1099-1100.)

„In zeitlicher Hinsicht muß das Berichtenswerte neu sein, also Ereignis mit einem gewissen Überraschungswert (Informationswert) sein, und die zeitliche Tiefe des Berichts (Vorgeschichte und mutmaßliche Folgen) organisiert sich von daher. Die Sozialdimension wird als Konflikt präsentiert mit der Dauerhintergrundserwartung, daß man eigentlich zu einer Verständigung kommen müßte. Konfliktdarstellungen gehen zumeist Hand in Hand mit moralischen Beurteilungen, die die Illusion von Fall zu Fall erneuern, daß es Regeln für die Entscheidung von Konflikten gebe; und dies in der Form von Gesichtspunkten, die jeden zur Mitbeurteilung auffordern. Zusammen wirken diese Filter im Sinne einer Verstärkung von Aufregung. Das heißt natürlich nicht, daß im Inneren psychischer Systeme wirklich Aufregung entsteht und anhält. Aber auf der Ebene dessen, was kommuniziert wird und dessen, was kommunikativ anschlußfähig ist, erscheint die Gesellschaft als eine sich über sich aufregende, sich selbst alarmierende Gesellschaft. Sie reproduziert daher in sich selbst die Schizophrenie des doppelten Wunsches: an Änderungen teilnehmen zu können und gegen ihre Folgen abgesichert zu werden. Und sie schafft für diese Schizophrenie die Position des unbeteiligt-beteiligten Zuschauers. “ (Ebd., S. 1100.)

„Man kann dies besonders gut an einem paradigmatischen Sonderfall erkennen, nämlich an der Art und Weise, wie ökologische Themen aufgetaucht sind und heute eineri prominenten Platz einnehmen. Sicher ist das Tempo der Einführung und Ausbreitung dieses Themenkomplexes teils den mediennah operierenden Protestbewegungen (vgl Kapitel 4, XV) vor allem aber den Massenmedien selbst zu verdanken. Viele Selektionskriterien treffen hier zusammen: große Quantitäten, ständiger Nachschub an Katastrophen, technisch ausgelöste, also kontingente Ereignisse, ideologische und politische Konflikte über die angemessene Einstellung zur Sache. Dazu kommt der lokale und zugleich überlokale Bezug, die individuelle Betreffbarkeit und die weithin unsichtbare Form der Bedrohung (Radioaktivität, verschlossene Fabriken, unsichtbare chemische Substanzen). Andererseits ist mit genau diesen begünstigenden Bedingungen auch das bestimmt, was nicht berichtet wird, was unsichtbar bleibt. Das gilt für die für Selbstbeschreibungen der Gesellschaft entscheidende Frage: für die gesellschaftlliche Einbettung der Trends, die schon gegeben sind und schon wirken, bevor es zur Katastrophe kommt, für die »katastrophalen Entwicklungen« (Hans Peter Dreitzel / Horst Stenger, a.a.O. ). Die typische Themenbehandlung alarmiert, stumpft ab, festigt den Vorausblick auf weitere Katastrophen und erzeugt beim individuellen Nachrichtenempfänger ein Gefühl der Hilflosigkeit (und damit nicht zuletzt: ein Rekrutierungspotential für Protestbewegungen, die aber ihrerseits nur fordern können, daß die anderen es anders machen).“ (Ebd., S. 110-1101.)

„Allein schon die Täglichkeit des Erscheinens und das Produktionstempo der Massenmedien schließen es aus, daß die im Publikum vorhandenen Meinungen vorweg konsultiert werden. Die Organisationen der Massenmedien sind hier auf Vermutungen und, im Ergebnis, auf self-fulfilling prophecies angewiesen. Sie arbeiten weitgehend selbstinspirativ: durch Lektüre ihrer eigenen Erzeugnisse, durch Beobachtung ihrer eigenen Sendungen. Sie müssen dabei eine hinreichende moralische Uniformität unterstellen, um täglich über Normverstöße, Skandale und sonstige Abartigkeiten berichten zu können. Verschiebungen können einkalkuliert werden: Stichwort »Wertewandel«; aber der eigene Anteil daran kann nicht herausdividiert werden. Insofern kann man von Eigenwertproduktion sprechen: von relativ stabilen Einstellungen, die sich ergeben, wenn eine Operation auf ihre eigenen Resultate angewandt wird.“ (Ebd., S. 1101-1102.)

„Das, was als Resultat der Dauerwirksamkeit von Massenmedien entsteht, die »öffentliche Meinung«, genügt sich selbst. Es hat deshalb wenig Sinn, zu fragen, ob und wie die Massenmedien eine vorhandene Realität verzerrt wiedergeben; sie erzeugen eine Beschreibung der Realität, eine Weltkonstruktion, und das ist die Realität, an der die Gesellschaft sich orientier. Die Informationen werden in großen Mengen ausgestreut und Tag für Tag erneuert. Dadurch entsteht eine immense Redundanz, die es erübrigt, nachzuforschen, was Einzelne wirklich wissen und denken. Man kann, und man kann gar nicht anders als: Informiertsein unterstellen. So wirkt die öffentliche Meinung wie ein Spiegel, auf dessen Rückseite ebenfalls ein Spiegel angebracht ist. Der Informationsgeber sieht im Medium der kurrenten Informatlon sich selbst und andere Sender. Der lnformationsnehmer sieht sich selbst und andere Informationsnehmer und lernt nach und nach, was man hochselektiv zur Kenntnis zu nehmen hat, um im jeweiligen Sozialkontext (sei es Politik, sei es Schule, seien es Freundschaftsgruppen, seien es soziale Bewegungen) mitwirken zu können. Der Spiegel selbst ist intransparent.“ (Ebd., S. 1102.)

„Viel spricht dafür, daß hierein besonderes Funktionssystem entstanden ist, noch ohne klaren Begriff (aber schließlich hatte die Tradition auch für das, was wir heute Familie nennen, nicht einmal ein Wort) und ohne anerkannte Funktionszuweisung. Gegen die Annahme eines eigenständigen Funktionssystems könnte sprechen, daß die Massenmedien dicht mit der Kommunikation ihrer gesellschaftlichen Umwelt verbunden sind; und mehr noch: daß gerade darin ihre gesellschaftliche Funktion liegt. Sie rechnen damit, daß im Anschluß an die Veröffentlichung auch außerhalb der Medien über die entsprechenden Themen kommuniziert wird; ja daß diese Möglichkeit zur Teilnahme an der Medienkommunikation geradezu zwingt und damit die Gesellschaft der Selbstbeobachtung durch Medien aussetzt. Und auch auf der Inputseite ist die Vernetzung dicht und unentbehrlich; denn wie sollten die Medien für ihre Berichte Glaubwürdigkeit und Authentizität gewinnen können, wenn sie die Informationen nicht aus der gesellschaftlichen Kommunikation selbst bezögen - mögen dies recherchierte Sachverhalte, Indiskretionen, offizielle Pressemitteilungen oder was sonst noch sein.“ (Ebd., S. 1102-1103.)

„Dennoch ist die operative Schließung dieses Systems nicht zu verkennen. Das System seligiert die eigenen Operationen nach Maßgabe der binären Codierung Information/Nichtinformation. Es reagiert damit ständig auf den eigenen Output: auf das, was es selbst erzeugt hat, nämlich auf die Bekanntheit von Sachverhalten, die ausschließt, daß dasselbe nochmals berichtet wird. Das System muß, da es selbst Bekanntheit produziert, also Information vernichtet, ständig selbst neue Information erzeugen, neue Überraschungswerte produzieren. Und es grenzt sich allein schon durch die benutzte Verbreitungstechnik gegen den diffusen Kommunikationsfluß der Gesellschaft ab. Die Technik asymmetrisiert das System im Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt: sie schließt für den Normalfall aus, daß die verbreiteten Kommunikationen sofort beantwortet werden.“ (Ebd., S. 1103.)

„Abgesehen von dieser Besonderheit einer Steigerung von Geschlossenheit und Offenheit, von Selbstisolierung und VernetzuIig, finden wir viele Merkmale ausdifferenzierter Funktionssysteme auch bei den Massenmedien. Ihre Funktion läge, historisch gesehen, im Ersatz dessen, was in der alten Gesellschaft über (konkurrenzlose) Repräsentation geregelt war, also in der Absorption von Unsicherheit bei der Herstellung und Reformulierung von Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen.“ (Ebd., S. 1103.)

„Dabei wird die Verbindlichkeit, die strukturell nur auf Grund von konkurrenzfreier Repräsentation möglich war, ersetzt durch Instabilität. Statt der Monumente hat man jetzt nur noch die Momente, in denen ein bestimmter Wissensstand unterstellt werden kann; statt des Meinungswissens ein Informationswissen, das nicht angibt, wie man richtig und konsensfähig handeln könne, aber vollauf ausreicht, um sich selbst zu reproduzieren. Der Code des Systems besteht folglich in der jeweils augenblicksbezogenen Differenz von Information und Nichtinformation, die in ihrem zeitlichen Prozessiertwerden alles schon Bekannte zur Nichtinformation werden läßt, die aber erinnert bleiben muß, soweit sie zum Verstehen der neuen Information erforderlich ist. Die Programme des Systems, die die Informationsauswahl steuern, findet man in den thematischen Präferenzen und, auf höherer Aggregationsstufe, in den Thementypen, die als Zeitungsseiten oder als Sendeperioden den Zugriff auf Information erleichtern. Die Autopoiesis des Systems scheint darin zu liegen, daß die hierfür in Betracht kommende Information rekursiv vernetzt ist und nur so reproduziert werden kann. Ein hohes Maß an Reflexivität - Berichte in den Medien berichten über Berichte in den Medien - gehört zum Alltag. Information ist nur auf Grund des Informationsstandes verständlich und ist als Vorinformation unerläßliche Bedingung weiterer Teilnahme. Die jeweils aktuelle öffentliche Meinung, die jeweilige thematische Bestimmung der Formen des Mediums, ist als Resultat bisheriger Kommunikation Bedingung kühftiger Kommunikation. Ganz typisch deshalb auch die Ereignishaftigkeit der Elemente des Systems, deren Sinn in ihrem Verschwinden, in ihrer Ausgabe, in ihrem Beitrag zur Reproduktion weiterer Elemente des Systems liegt - und nur darin. Und schließlich kann, wie keines der Funktionssysteme, auch dieses nicht auf die Einheit eines Organisationssystems reduziert werden, obwohl auch hier, wie überall, Organisation eine unentbehrliche Rolle spielt.“ (Ebd., S. 1104.)

„Soweit eine in der Systemtheorie oft vertretene These zutrifft: daß hochmobile Systeme mit rasch variierenden Strukturen besonders geeignet sind, trägere Systeme zu steuern, liegen hier besondere Chancen der Massenmedien. Unbestreitbar hat das Raffinement bei der Festlegung von Realitäten durch die Massenmedien und wohl auch die Effektsicherheit in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen, vor allem im Sektor Werbung. Die Werbung mag zwar durch Hoffnung auf Verkaufserfolge motiviert sein. Ihre latente Funktion liegt aber in der Erzeugung und Festigung von Kriterien des guten Geschmacks für Leute, die von sich aus darüber nicht mehr verfügen; also in der Belieferung mit Urteilssicherheit in bezug auf die symbolischen Qualitäten von Objekten und Verhahensweisen. Die Nachfrage findet man heute auch und vor allem in der oberschicht, die durch schnelle Aufstiege und unregulierte Heiratspraktiken nicht mehr weiß, wie sie als Vorbild wirken kann. Diese latente Funktion der Werbung kann dann strategisch genutzt werden, um auf diese Weise den Absatz zu fördern (*); aber sie wirkt natürlich auch bei denen, die gar nicht kaufen. (* Daß dies tiefreichenden Einfluß auf den Stil der Werbung hat, bedarf kaum noch des Nachweises. Die eigentlich zu verkaufenden Objekte können in den Hintergrund eines Prestige-setting gerückt werden. Und man wird für Zigaretten auch dann noch werben können, wenn dies verboten wird; denn man braucht nicht mehr explizit zu sagen, daß und wofür man wirbt.)“ (Ebd., S. 1104-1105.)

„Trotzdem kann man daraus noch nicht auf »Manipulation der öffentlichen Meinung« schließen - allein schon wegen des Themenfilzes und der Mehrzahl von Selektionskriterien für Neuigkeiten. Als System, also in ihrer Eigendynamik betrachtet, lassen die Massenmedien sich kaum auf Verantwortung festlegen, was immer eine umfangreiche Diskussion über journalistische Ethik ergeben mag. Ebensowenig läßt sich aber präzisieren, was der Begriff des »Steuerns« in diesem Zusammenhang besagt. Man kann nur feststellen, daß die Beschreibungen der Welt und der Gesellschaft mit all ihren Funktionssystemen durch das Funktionssystem der Massenmedien mobilisiert werden, so daß Zeitdifferenzen eine vorherrschende Bedeutung gewinnen und jede Bestimmtheit zeitlich situiert sein muß. Das Übermaß an Gedächtnis, das Schrift, Buchdruck und modernere elektronische Speichertechniken mit sich bringen, wird dadurch in gewisser Weise neutralisiert. Zugriffe bleiben möglich, aber Orientierungen werden nur für den Moment festgelegt.“ (Ebd., S. 1105-1106.)

„An den Tag auf Tag und Tat auf Tat folgenden Mitteilungen der Massenmedien kristallisiert das, was in der gesellschaftlichen Kommunikation als »Wissen« behandelt werden kann. Anders gesagt: die tägliche Unsicherheitsabsorption durch die Massenmedien erzeugt Tatsachen, die dann in der weiteren Kommunikation als solche behandelt werden können. Das läßt genug Raum für Kontroversen; aber selbst Kontroversen sind dadurch bedingt, daß beide Seiten Wissen, wenn auch unterschiedliches Wissen vertreten können. Tatsächlich nimmt jedoch, vor allem auf Grund der wissenschaftlichen Forschung und allgemein mit zunehmender Komplexität des Wissens, das Nichtwissen überproportional zu. Darauf hinzuweisen, wäre Aufgabe eines Beobachters zweiter Ordnung, der aber ebenfalls über Massenmedien kommunizieren muß und sich deshalb genötigt sehen mag, sein Nichtwissen als »kritisches« Wissen zu vertreten. Wir kommen darauf und auf die Rolle der Soziologie in diesem Kontext zurück.“ (Ebd., S. 1106.)

„Fast unbemerkt, jedenfalls unvermeidlich kondensieren in diesem Prozeß der laufenden Informationskommunikation Strukturen, die der strukturellen Kopplung psychischer und sozialer Systeme dienen. Wir hatten von Schemata oder, wenn Handlungen involviert sind, von Skripts gesprochen (vgl.S. 110 f.). Das schließt die Bezeichnung von »etwas als etwas« ebenso ein wie stark verkürzende Kausalattributionen und wie eine pointierende Zuschreibung auf Intentionen, die dazu verhelfen, Verhalten als Handlung zu beschreiben und gegebenenfalls politisch oder moralisch zu bewerten. Solche Schemata lassen mehr oder weniger offen, wie man sich zu den Informationen einstellt, was man erinnert bzw. vergißt und ob man Reaktionen für angebracht hält oder nicht; und »man« heißt in diesem Falle: Individuen und soziale Systeme jeder Art. Es geht bei der öffentlichen Meinung also nicht nur um eine ständig erneuerte und vergessene Riesenmenge von Informationen, aber auch nicht um eine Prägung typischer Einstellungen. Vielmehr besteht die strukturelle Komponente aus Schemata, deren Bekanntheit und Verwendbarkeit man voraussetzen kann, wenn es darum geht, Kommunikation in Gang zu bringen und weiterzuführen. Es geht, könnte man im Anschluß an eine von Max Weber bis Alfred Schütz reichende soziologische Tradition sagen, um die Reproduktion von Typen (stereotypisierten Erwartungsmustern), die für das Verstehen von Handlungen bzw. Kommunikationen unabdingbar sind und nicht allein schon durch die richtige Anwendung von Wörtern oder grammatischen Regeln, also nicht schon durch die Sprache selbst, gewährleistet sind.“ (Ebd., S. 1106-1107.)

„Massenmedien garantieren mithin, daß solche Schemata zugriffsbereit verfügbar sind, und dies in einem Umfang und in einer Vielfalt, die den Erfordernissen der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation entsprechen und die bei Bedarf leicht variiert und neu kombiniert werden können. Es geht um eine operative Bedingung der Fortsetzung von Kommunikation unter hochkomplexen, rasch sich ändernden Bedingungen. Es geht nicht um die Herstellung eines Mindestkonsenses in der Beschreibung von Realität. Und gerade diese Kombination von Notwendigkeit und Unverbindlichkeit hat zur Folge, daß diese Art der Produktion von Eigenwerten kaum auf andere Weise durchgeführt werden kann. Jedenfalls nicht durch Wissenschaft, deren Methodologie ja gerade darauf abzielt, Unterschiede der Beobachter zu neutralisieren und eine (wie immer dann kritisierund überprüfbare) Beschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt herzustellen.“ (Ebd., S. 1107.)

„Die öffentliche Meinung ist nach all dem weder die bloße Mode der Meinungen, wie man im 17. Jahrhundert meinte; noch ist sie , das Medium rationaler Aufklärung oder die »puissance invisilble«, von denen man im 18. Jahrhundert ein Sichherauslösen aus den Traditionen erwartet hatte. (Siehe für das eine Argument, das des Philosophen, Kants bekannte Antwort auf die Frage: Was ist Aufklärung? [1784]. ....) Sie ist das Medium der Selbst- und Weltbeschreibung der modernen Gesellschaft. Sie ist der »Heilige Geist« des Systems, die kommunikative Verfügbarkeit der Resultate von Kommunikation. Anders als in den Erwartungen des 18. Jahrhunderts geht es also nicht mehr darum, die Einheit in der Einheit repräsentativ (oder doch vernünftig, oder doch mächtig) zum Ausdruck zu bringen. Es geht um das laufende Prozessieren struktureller Differenzen und semantischer Unterscheidungen. Und erreicht wird damit hohe Irritabilität des operativ geschlossenen Systems der Gesellschaft sowie hohe Eigenkomplexität der jeweils relevanten Strukturen bei gleichzeitiger Absorption von Ungewißheit.“ (Ebd., S. 1107-1108.)

„Mit dieser Position der Massenmedien und der öffentlichen Meinung wird es zu einem Problem für die Soziologie, ob und wie sie sich an gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen beteiligen kann. Sie wird neue Selbstbeschreibungen der Gesellschaft allenfaIIs anbrüten, nicht aber durchsetzen können. Daß sie für ihren Hausgebrauch Theorien produzieren, zerstören und neu produzieren kann, versteht sich von selbst. Aber das wäre nur ein Beitrag zu ihrer eigenen Autopoiesis, nur die Operation des Subsystems Soziologie des Subsystems Wissenschaft des Gesellschaftssystems. Ein Überschreiten dieser Beschränkungen wird oft von den »Intellektuellen« erwartet. (.... Eine bemerkenswert kritische Reflexion dieses Syndroms findet man im Spätwerk von Helmut Schelsky, und dies mit jener Mischung von Reflexionskultur und auf Darstellung der Reflexion verzichtender Polemik, die nach herrschenden Denkgewohnheiten als »konservativ« gilt. VgI. besonders Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, 1975.) In der Praxis wird ein solches Programm dann freilich eher von soziologischen Schriftstellern eingelöst.“ (Ebd., S. 1108-1109.)

„Die Experimente, die in dieser Richtung unternommen worden sind, zeigen zugleich, daß es so nicht geht. Wenn die Soziologie eine Gesellschaftstheorie anbietet, kann sie dies nur in Reflexion ihrer eigenen Lage tun, also nur als fachgebundene Eigenleistung, die den Kriterien des eigenen, operativ geschlossenen Systems zu genügen hat. Wie gerade die Selbstreflexion der Soziologie zeigt, ist und bleibt auch dies ein gesellschaftliches Beobachten und Beschreiben; denn es bedient sich der Kommunikation. Es ist ohne weiteres Selbstbeschreibung der Gesellschaft, aber eben eine Selbstbeschreibung, die durch besondere Systemgrenzen geschützt ist, sich deshalb besonderer Formen, also besonderer Unterscheidungen bedient und, anders als die öffentliche Meinung, auch dies noch reflektiert.“ (Ebd., S. 1109.)

„Die damit verfügbaren Möglichkeiten werden mißverstanden, sie werden jedenfalls zu eng interpretiert, wenn die Soziologie sich daraufhin als Oppositionswissenschaft begreift und sich damit im Streit der progressiven und konservativen Ideologien auf die eine Seite schlägt. Das kann nur dazu führen, daß die Einheit der Differenz erneut unreflektiert bleibt. Wenn die Soziologie sich als »kritische« Wissenschaft begreift, kann damit dieselbe Schwäche gemeint sein. Aber »kritisch« kann auch, dem, ursprünglichen Wortsinne näherkommend, bedeuten, daß die Soziologie in der Lage sein muß, zu unterscheiden und den Gebrauch von Unterscheidungen zu reflektieren. Und damit sind wir erneut beim Begriff des Beobachters angelangt.“ (Ebd., S. 1109.)

„Es gibt in allen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen ... zwei Blindheiten, die miteienander korrespondieren: die alle Unterscheidungen transzendierende Welteinheit und der jeweils fungierende Beobachter.“ (Ebd., S. 1110.)

„Das Problem liegt jeweils im Rücken, und es läßt sich verschieben, wenn sich Beobachter finden, die andere Beobachter beobachten. Die Verschiebung kann in der Zeitdimension und in der Sozialdimension erfolgen. Man sieht später, was bei früheren Beobachtungen ausgeblendet war, oder andere sehen es. Auch für die Beobachtung zweiter Ordnung gilt natürlich, was für jede Beobachtung gilt. Aber eben deshalb kann es auch hier wieder zu Verschiebungen .... kommen. Das Problem liget also eher in der gesellschaftlichen Institutionalisierung dr Praxis des Beobachtens zweiter Ordnung. Daß dies in der modernen Gesellschaft üblich geworden ist, läßt sich vielfältig und vor allem für die verschiedenen Funktionssysteme belegen. Es bleibt nur zu erkennen, daß hier eine Alternative zu metaphysischen Letztbegründungen - schon etabliert ist.“ (Ebd., S. 1113.)

„In den an Fichte anschließenden Überlegungen der Romantiker warenbereits nicht mehr nur subjektive Kandidaturen angemeldet worden. Eine der Möglichkeiten war, neben Sprache, Poesie. Von da aus machten Alternativen eine schlechte Figur. Bei August Wilhelm Schlegel liest man zum Beispiel: »Wenn man sich aber die gesamte Natur als ein selbstbewußtes Wesen denkt, wie würde man die Zumutung finden: sich selbst vermittels der Experimentalphysik zu studieren?« (Die Antwort lautet: »blindes Tappen. Siehe August Wilhelm Schlegel, Die Kunstlehre [Teil I der Vorlesungen über die Schöne Literatur und Kunst, 1801 ff.], a.a.O., S. 49. ....) Im 20. Jahrhundert ist dagegen die Physik geradezu das Paradebeispiel für unser Problem. Für die Physik dieses Jahrhunderts ist klar, daß die Selbstbeobachtung der Welt auf physikalische Instrumente, darunter lebende Physiker, angewiesen ist, die die Operation der Selbstbeobachtung erst ermöglichen - und zugleich irritieren. Diese Erfahrung - man kann es so nennen - bestätigt und überbietet alles, was die Subjektphilosophie und die Sprachphilosophie ins Auge gefaßt hatten. Als Form der Selbstbeschreibung erfordert sie Mathematik, die sich dieser Aufgabe anpassen muß. Als Form der Reflexion erfordert si~ ein Beobachten des Beobachtens, ein Beobachten zweiter Ordnung.“ (Ebd., S. 1115.)

„Das hat, will man sich nicht blind stellen, Konsequenzen auch für eine Soziologie, die als Gesellschaftstheorie auftreten will, also als eine Theorie des Welt beschreibenden Gesellschaftssystems. Auch sie muß durchdenken, was sie tut, wenn sie beobachtet und beschreibt, wie in der Gesellschaft die Gesellschaft selbst und mit ihr die Welt der Gesellschaft beobachtet und beschrieben wird. Und das sprengt den Traditionsrahmen all dessen, was als soziologische »Kritik« der Gesellschaft vertreten worden ist.“ (Ebd., S. 1115.)

„Die kritische Soziologie hatte Attitüden des Besserwissens angenommen. Sie gerierte sich als konkurrierender Beschreiber mit tadelfreien moralischen Impulsen und besserem Durchblick. Wie immer vorsichtig formuliert und wie immer den Anforderungen an Wissenschaftlichkeit zu genügen bestrebt: ihre Perspektive war die eines Beobachters erster Ordnung. Sie bot eine konkurrierende Gesellschaftsbeschreibung an und stand damit vor der Aufgabe, sich zu erklären, weshalb andere diese Auffassung nicht teilten, sondern im Verblendungszusammenhang ihrer Interessen die Gesellschaft anders beschrieben, etwa als commercial society. Ihre Erklärungsbegriffe waren daher nicht frei von diffamierenden Intentionen. (So - von Marx bis Adorno - »Fetischismus ....) Damit war jedoch schon eine ambivalente, auf Dauer nicht haltbare Position erreicht. Das Beschreiben dessen, der gesellschaftskonform, konservativ, affirmativ usw. denkt, und die Erklärung, weshalb er dies tut, ja tun muß, kompensierte in gewisser Weise das Stagnieren eigener Theorieentwicklung. Ideologiekritik wurde Schwerpunkt, und in gewissem Umfange verlagerte sich die eigene Gesellschaftsbeschreibung auf die Bemühung, zu erklären, auf Grund welcher gesellschaftlicher Bedingungen andere nicht in der Lage sind, die Gesellschaft (inklusive sich selber) so zu beschreiben, wie es von den Kritikern für richtig gehalten wurde. Und in dem Maße, in dem konservative Einstellungen (das heißt: Einstellungen gegen die Ideen der französischen Revolution) an Überzeugungskraft verloren, und in dem Maße, in dem die Vorstellungswelt des Liberalismus durch Übertragung auf wirtschaftliche Sachverhalte an dynamischer Stabilität gewann, nahm diese Faszination der Kritiker durch ihre Gegner zu. Sie mußten schließlich das Etikett »neokonservativ« erfinden, um ihre Gegner zu formieren und sich selbst das Geschäft der Kritik zu ermöglichen. Die Dauerproduktion von Dissens im Blick auf vernünftige Verständigung, und wer wird hier nicht an das intellektuelle Schicksal von Jürgen Habermas denken, ist die konsequente Endposition dieser großen bürgerlichen Tradition von Krise und Kritik.“ (Ebd., S. 1115-1116.)

„Die Kritik (im geläufigen Verständnis) setzt eine Diagnose der Gesellschaft voraus, die diese beschreibt als in einer Krise befindlich. Krisen sind vorübergehende Zustände. Man muß die Hoffnung nicht aufgeben. Die krisenhaften Erscheinungen der Gegenwart werden auf Fehlentwicklungen, vor allem Industriekapitalismus, zurückgeführt, die man korrigieren kann. Es muß gleichsam eine gute Gesellschaft hinter der Gesellschaft geben, auf die man Strukturen und Effekte zurückdirigieren kann, um in eine bessere Zukunft zu gelangen. Noch in den 1970er Jahren konnte man lesen, daß die ökologischen Probleme der modernen Gesellschaft ein Phänomen kapitalistischer Gesellschaften seien und unter sozialistischen Bedingungen nicht auftreten würden. In dem Maße jedoch, in dem die moderne Gesellschaft den Erfahrungen. mit sich selber realistisch Rechnung zu tragen lernt, verschwindet diese Doppelung der Zurechnungsebenen und mit ihr verschwindet die Krise. Bei allen Schwierigkeiten und bei allen, bei weitem nicht ausgeschöpften Möglichkeiten der Korrektur müssen wir mit der Gesellschaft zurechtkommen, die als Resultat von Evolution entstanden ist. Und selbst der Utopiebedarf ist noch dieser Gesellschaft zuzurechnen.“ (Ebd., S. 1116-1117.)

„Die Beobachtung solcher Sachlagen erfordert eine Position dritter Ordnung, die sich jedoch nicht prinzipiell (sondern nur in ihrer Reflektiertheit) von einer Position des Beobachtens zweiter Ordnung unterscheidet. Es handelt sich nicht nur um ein Kettenphänomen, nicht nur darum, daß A beobachtet, wie B C beobachtet, oder Habermas beschreibt, wie Hegel Kant beschreibt; sondern um eine Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung und ihrer Folgen für das; was dann noch gemeinsame Welt oder Beschreibungen ermöglichende Gesellschaft sein kann. Es liegt nahe, in dieser Situation, gleichsam als Weiterentwicklung der kritischen Soziologie, die mit »Kritik« bezeichnete Unterscheidung durch die Unterscheidung von Beobachtern zu ersetzen. Das wiederum setzt die Einsicht voraus, daß es sich bei allem Beobachten und Beschreiben (auch bei dem zweiter und dritter Ordnung) um kontextabhängige Realoperationen handelt. Auch ein Beobachter zweiter Ordnung ist immer ein Beobachter erster Ordnung insofern, als er einen anderen Beobachter als sein Objekt herausgreifen muß, um durch ihn (wie immer kritisch) die Welt zu sehen. Das zwingt ihn zum autologischen Schluß, das heißt: zur Anwendung des Begriffs der Beobachtung auf sich selber. Der Beobachter ist eben kein Subjekt mehr mit transzendental begründeten Sonderrechten im Safe; er ist der Welt, die er erkennt, ausgeliefert. Ihm ist keine Selbstexemption gestattet. Er muß sich auf der Innenseite oder auf der Außenseite der Form, die er benutzt, verorten. Er ist selbst, sagt Spencer Brown, ein »mark«.“ (Ebd., S. 1117-1118.)

„Denn jede Weltbeobachtung findet in der Welt statt, jede Gesellschafsbeobachtung, wenn sie als Kommunikation vollzogen wird, in der Gesellschaft. Die Gesellschaftskritik ist Teil des kritisierten Systems, sie läßt sich inspirieren und subventionieren, sie läßt sich beobachten und beschreiben. Und es kann unter heutigen Bedingungen schlicht peinlich wirken, wenn sie bessere Moral und bessere Einsicht für sich reklamiert.“ (Ebd., S. 1118.)

„Eine weitere Konsequenz liegt in der Instrumentenabhängigkeit jeder Beobachtung -bis hin zur Quantenphysik. Das heißt auch, daß Selektion unumgänglich und Vollständigkeit ausgeschlossen ist. Weder in der Fremdbeobachtung noch in der Selbstbeobachtung kann die gesamte Realität eines aUtopoietischen Systems erfaßt werden. Andererseits kann ein Beobachter (und wieder: in beiden Arten) Regelmäßigkeiten feststellen, die nicht zu den Vollzugsbedingungen der Autopoiesis des Systems gehören. Man braucht keine Grammatik zu kennen, um sprechen zu können; aber ein Beobachter kann entsprechende Regeln erkennen. Dasselbe gilt für Regelmäßigkeiten in den Außenbeziehungen des Systems, für sein äußeres Erscheinungsbild, für Inputs und Outputs. In all diesen Hinsichten ist auch die Soziologie als Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft ihrem Gegenstand, was dessen Autopoiesis betrifft, überlegen, aber autopoietisch redundant. Wenngleich ihr Wissen gesellschaftliches Wissen ist und bleibt, weiß die Soziologie mehr, als eine Gesellschaft ohne Soziologie wissen würde. Um dies zu benennen, hat Paul Lazarsfeld den Begriff latent structure analysis eingeführt und zur Methodologie empirischer Sozialforschung in Verbindung gesetzt.“ (Ebd., S. 1118.)

„Latenz, in diesem Verständnis ist der Beobachtungsbereich eines Beobachters erster Ordnung, der mehr als bisher über seinen Gegenstand wissen möchte. Das ist im sogenannten »Positivismusstreit« als unzulänglich kritisiert worden. (Siehe Theodor W. Adorno et al., Der Postivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969. Im Text distanzieren wir uns von dieser Kontroverse, ohne ihre Thematik für unerheblich zu halten. Sie ist nur als Kontroverse nicht sinnvoll. Das Problem der »Dialektik« ausklammernd, reduzieren wir den Unterschied auf die Differenz von Beobachtung erster und zweiter Ordnung und ein entsprechend unterschiedliches Verständnis von Latenz, Kritik, Aufklärung.) Wie immer man darüber urteilen mag: es gibt jedenfalls auch die Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung, der Beobachtung der Gesellschaft als eines beobachtenden Systems. Auch für den Beobachter zweiter Ordnung gilt, daß er weniger und anderes sehen kann als der beobachtete Beobachter. Für ihn gewinnt daher auch der Begriff der Latenz einen anderen Sinn, bezogen nämlich auf den blinden Fleck des beobachteten Beobachters, auf das, was er nicht sehen kann. Und das, was in der Gesellschaft als natürlich und notwendig gilt, wird in dieser Perspektive etwas Artifizielles und Kontingentes. Aber daraus folgt nicht, daß man auch sagen könnte, wie es anders zu machen wäre.“ (Ebd., S. 1118-1119.)

„Versteht die Soziologie sich als »kritisch« in diesem Sinne, folgt sie damit nicht notwendigerweise den Direktiven der »Frankfurter Schule«. Sie kann die bloße Konfrontation, die Ablehnung von »Kapitalismus«, »System«, »Klassenherrschaft« vermeiden, die in einer Negation ohne Alternativkonzept stecken bleibt. Auch wenn man Latenzen, Ideologien, Vordergründigkeiten und Sichtunmöglichkeiten der gesellschaftlichen Selbstbeobachtungen miteinschließt, und auch wenn man sieht, daß die Strukturen des Gesellschaftssystems zu kaum erträglichen Folgen führen (siehe für ein Beispiel: Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986), liefert eine solche Beschreibung kein Rezept für die Herstellung eines anderen Gegenstandes Gesellschaft, sondern nur eine Verlagerung von Aufmerksamkeiten und Empfindlichkeiten in der Gesellschaft. Nimmt man »kritisch« in diesem Sinne; heißt das zunächst, daß die Soziologie die Position eines Beobachters zweiter Ordnung einnimmt. Sie hat es mit einer Beobachtung von Beobachtern zu tun. Das schließt, wie bereits bemerkt, eine »autologische« Theoriekomponente ein. Denn der Gegenstand dieses Beobachtens ist das Beobachten, und es ist eine zweite Frage: ob fremdes Beobachten oder eigenes. Ferner führt dieses Programm unausweichlich zu einem »konstruktivistischen« Wissenschaftsverständnis. ( Die heutige Wissenschaftssoziologie ist ohnehin auf diesem Weg. ....) Eine Wissenschaft, die sich selbst als Beobachtung zweiter Ordnung begreift, vermeidet Aussagen über eine unabhängig von Beobachtungen gegebene Außenwelt, und sie findet die Letztgarantie des Realitätsbezugs ihrer Kognition allein in der Faktizität ihres eigenen Operierens und in der Einsicht, daß dies ohne hochkomplexe Voraussetzungen (wir hatten von strukturellen Kopplungen gesprochen) gar nicht möglich ist. Es wäre mithin verfehlt, hier die Gefahr eines »Solipsismus« zu wittern. Das Korrektiv liegt in der Beobachtung zweiter Ordnung selbst, nämlich in der »autologischen« Komponente der Erkenntnis und in der Einsicht, daß alles Erkennen Unterscheidungsgebrauch ist und insofern - nur insofern! - stets eine Eigenleistung des Systems. Nicht einmal das hier diskutierte Problem könnte formuliert werden, wenn es nicht die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz gäbe; und diese Unterscheidung kann, wie sich schon aus der Formulierung ergibt, nur im System selbst und nur ohne jedes Korrelat in der Umwelt getroffen werden.“ (Ebd., S. 1119-1120.)

„Der Beobachter erster Ordnung, hier also die normale gesellschaftliche Kommunikation, beobachtet die Welt, um eine Formulierung Maturanas aufzugreifen, in einer »Nische« (*), und für ihn ist daher die Welt ontisch gegeben. (* Mit Bezug auf Organismen formuliert Maturana [a.a.O.]: »Mit Bezug auf den Beobachter erscheint die Nische daher als ein Teil der Umwelt, für den beobachteten Organismus stellt die Nische hingegen den gesamten ihm zugehörigen Interaktionsbereich dar, sie kann daher als solche nicht Teil einer Umwelt sein, die ausschließlich im kognitiven Bereich des Beobachters liegt. Nische und Umwelt überschneiden sich daher nur in dem Maße, in dem der Beobachter (einschließlich seiner Instrumente) und der Organismus vergleichbare Organisationen besitzen.« Bei der Übernahme dieser Unterscherdung in die Soziologie ist hinzuzufügen, daß die Kognitionen des Beobachters erster und zweiter Ordnung sich immer im Medium Sinn formieren und daß die Überschneidung ihrer Kognitionsbereiche dadurch gewährleistet ist, daß beide Beobachter Kommunikationen als Beobachtungsoperationen benutzen.) Seine Philosophie wäre eine Ontologie. Der Beobachter zweiter Ordnung kann dagegen eine System/Umwelt-Beziehung erkennen, die in der für ihn gegebenen Welt (in seiner Nische) auch anders organisiert sein könnte. Was der Beobachter erster Ordnung sieht und was er nicht sieht, hängt für den Beobachter zweiter Ordnung davon ab, welche Unterscheidungen der Beobachtung zu Grunde gelegt werden; und das können immer auch andere Unterscheidungen sein. “ (Ebd., S. 1120-1121.)

„Dies gilt für jede Beobachtung, also auch für die Beobachtung zweiter Ordnung. Jede Beobachtung benutzt eine Unterscheidung, um etwas (aber nicht: die Unterscheidung selbst) zu bezeichnen. Jede Beobachtung benutzt, mit anderen Worten, die operativ verwendete Unterscheidung als blinden Fleck, denn anders wäre sie nicht in der Lage, etwas herauszugreifen, um es zu bezeichnen. Und auch das gilt für die Beobachtung zweiter Ordnung, die einen Beobachter (und nichts anderes) herausgreift, um ihn zu beobachten. In dem Maße, in dem Theorien in diesem Sinne radikal konstruktivistisch überarbeitet werden, muß die Voraussetzung einer strukturellen Latenz durch die Voraussetzung einer operativen Latenz ersetzt werden. Das heißt für die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, daß notwendige Latenz kontingent wird (*), nämlich wählbar wird und immer auch anders möglich ist - je nachdem, welche Unterscheidung der Beobachtung zugrundegelegt wird. (* Daß man sich hier, in der Beschreibung dritter Ordnung, auf eine Paradoxie einlassen muß, ist leicht zu erkennen, wenn man bedenkt, daß Kontingenz durch Negation von Notwendigkeit definiert wird. Und ebenso deutlich wird, daß wir uns in einer supramodalen Sphäre befinden, die einst ausschließlich für Gott reserviert war.)“ (Ebd., S. 1121-1122.)

„Was Selbstbeschreibungen des Gesellschaftssystems angeht, also des Systems, das in sich selbst Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung ermöglicht, führt der Übergang von der ersten zur zweiten Ebene dazu, die Realität als kontingent, als auch anders möglich zu beschreiben. ( Kein Zufall also, daß die These der Kontingenz der Welt zuerst in der Theologie formuliert worden ist, nämlich als Resultat der Bemühungen, Gott als Schöpfergott, also als Beobachter zu beobachten. Dabei bot jedoch der Gedanke an Gott als den Erstbeobachter, der sich selbst nicht unterscheiden muß, um beobachten zu können, besondere Garantien, die aufgegeben werden müssen, wenn man die Position des Erstbeobachters mit normalen empirischen Systemen besetzt denkt.) Die Selbstbeschreibung endet für den Beobachter erster Ordnung mit Angaben über invariante Grundlagen, über die Natur und über Notwendiges. Heute nimmt der Wertbegriff, der Superunbezweifelbares symbolisiert, diesen Platz ein. Für den Beobachter zweiter Ordnung erscheint die Welt dagegen als Konstruktion über je verschiedenen Unterscheidungen. Ihre Beschreibung ist infolgedessen nicht notwendig, sondern kontingent, und nicht mit Bezug auf Natur richtig, sondern artifiziell. Sie ist selbst ein autopoietisches Produkt. Dabei wird (und darin liegt die autologische Komponente) die Differenz von notwendig/kontingent und von natürlich/artifiziell nochmals reflektiert und auf die Unterscheidung von Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung zurückgeführt, Die Ambition einer gemeinsamen Grundlage, eines Grundsymbols, eines Abschlußgedankens muß aufgegeben -bzw. den Philosophen überlassen werden. Die Soziologie findet, jedenfalls auf diesem Wege, nicht zu dem, was Hegel »Geist« genannt hatte. Sie ist keine Geisteswissenschaft.“ (Ebd., S. 1122.)

„Im heutigen Kontext werden die damit angedeuteten Unterschiede hauptsächlich am Wertbegriff diskutiert. Es versteht sich von selbst, daß keine Wissenschaft und auch nicht die Soziologie eine wertlose Kommunikation produzierenwill; und zumindest in diesem Sinne gibt es keine »wertfreie« Wissenschaft. Aber was sonst ist mit dieser Formulierung gemeint? Auch diese Frage klärt sich, wenn »man Beobachten erster und Beobachten zweiter Ordnung unterscheidet. Der Beobachter erster Ordnung beobachtet mit Hilfe von Werten. Seine jeweiligen Werte machen für ihn den Unterschied, der sein Erkennen und Handeln steuert. Der Beobachter zweiter Ordnung bezieht die Semantik der Werte auf ihre Verwendung in der Kommunikation. Erkann zum Beispiel erkennen, daß über die Bezugnahme auf Werte weder Entscheidungen abgeleitet noch Konflikte vermieden werden können. Vor allem aber sieht er, wie die Unbezweifelbarkeit der Werte in der Kommunikation produziert wird, nämlich dadurch, daß nichtdirekt, sondern indirekt, nicht über sie, sondern mit ihnen kommuniziert wird. Man teilt ja nicht mit, daß man für Gerechtigkeit, Frieden, Gesundheit, Erhaltung der Umwelt usw. sei, um damit die Möglichkeit zu eröffnen, auf diese Mitteilung mit Annahme oder mit Ablehnung zu reagieren; sondern man sagt nur, was man für gerecht und was man für ungerecht hält. Die Geltung des Wertes wird vorausgesetzt und hat allein in diesem Modus der Kommunikation ihre täglich erneuerte Unbezweifelbarkeit. ( Hierzu ausführlicher: S. 340 ff.)“ (Ebd., S. 1122-1123.)

„In der Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung wird also nicht etwa »wertfrei« argumentiert. Man ersetzt nur die wertende Unterscheidung, die in Bezug auf sich selbst blind operiert, durch die Unterscheidung Wertgeltung/Kommunikation. Auch diese Unterscheidung funktioniert, wie der autologische Rückschluß lehrt, blind; und es kann sein, daß sie sich in der Forschungspraxis nicht bewährt und durch eine andere Unterscheidung ersetzt werden muß. Im Kontext der Kommunikation gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen wird damit eine Distanz zu den unmittelbaren Wertengagements in der Gesellschaft erzeugt, die es der Soziologie ermöglicht, sich innerhalb ihres operativ geschlossenen Systems am Netzwerk der eigenen Kommunikation auszurichten.“ (Ebd., S. 1123.)

„Was die Soziologie zusätzlich tun kann, ist: die strukturellen Bedingungen für ihre Position als Beobachter zweiter Ordnung zu reflektieren. Sie liegen, wie leicht zu sehen, in der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems. Durch funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems wird jedem Funktionssystem die Einrichtung einer eigenen Autopoiesis ermöglicht. Zugleich wird die Position eliminiert, die als die »herrschende« für alle sprechen konnte. Dadurch entsteht jener logische Strukturreichtum, der, wenn man ihn an traditionalen Erwartungen mißt, als Relativismus oder als Pluralismus beschrieben wird. Vor allem gewinnen und reproduzieren die Funktionssysteme damit eigene Grenzen, die es ihnen ermöglichen, die Gesellschaft durch die Unterscheidung von Selbstreferenz u.nd Fremdreferenz zu rekonstruieren, bezogen auf das jeweils eigene Funktionssystem. Unter diesen Rahmenbedingungen operiert auch die Wissenschaft und speziell die Soziologie. Soziologie kann in ihrer Gesellschaftsbeschreibung miterfassen, daß sie ihrerseits in der Gesellschaft durch die Gesellschaft ermöglicht wird.“ (Ebd., S. 1123-1124.)

„Das führt schließlich auf die Frage zurück, wie es in einem Kommunikationszusammenhang auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung zu Stabilitäten kommen kann. Während der Beobachter erster Ordnung voraussetzt, daß es eine geordnete Welt gibt, die eindeutige Merkmale hat, die man richtig oder falsch beschreiben kann, muß der Beobachter zweiter Ordnung auf diese logisch-ontologische Annahme verzichten. Er muß voraussetzen, daß die Welt diverses Beobachten toleriert, und zwar so, daß das, was sie bei unterschiedlichen Unterscheidungen zeigt, nicht immer als Irrtum der einen oder der anderen Beobachtung eliminiert werden kann. Legt man die allgemeine Theorie rekursiver Operationen zu Grunde, kann man dies Problem als Frage nach den »Eigenwerten« des Systems formulieren. Die relativ invariante Objektwelt und die Regelmäßigkeiten (Erwartbarkeiten) ihrer Variation werden nun beobachtbar als »Eigenwerte« des Systems, das sie konstruiert. Das Problem verschärft sich, wenn man Latenzbeobachtungen einbezieht. Dann kann man wissen, daß man sich über Phänomene nicht mehr verständigen kann, und muß folglich Sprachformen entwickeln, die trotzdem eine Fortsetzung der Kommunikation ermöglichen. Hierfür könnte der Übergang von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen einen Anhaltspunkt bieten.“ (Ebd., S. 1124-1125.)

„Man könnte formulieren: die Funktion der Funktion ist die Funktion - um deutlich zu machen, daß es sich um eine Form handelt, die universell und also auch selbstreferentiell praktiziert werden kann. Im weiteren können sich dann nur noch Fragen der Ergiebigkeit, der Opportunität usw. stellen, nicht aber Fragen der Bedingungen der Möglichkeit. Es handelt sich um ein durch Problembezug eingeschränktes Vergleichsverfahren, das für praktische wie für theoretische Zwecke geeignet ist. Es eignet sich in der Form der Frage nach latenten Funktionen besonders gut füreine Beobachtung dessen, was andere nicht beobachten können. Es kann auch offen bleiben, ob die funktionale Betrachtungsweise »kritisch« gemeint ist, das heißt hier: zur Ablehnung aufrufen soll, oder nicht. Dem Beobachter bleibt diese Einschätzung überlassen, sofern er selbst mit der Unterscheidung kritisch/affirmativ beobachten will.“ (Ebd., S. 1125.)

„Dieser Hinweis auf die Funktion der Funktion, Eigenwert zu sein in einem autopoietischen Kommunikationszusammenhang auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, ist exemplarisch zu verstehen. Exemplarisch und auch historisch. Es ist so gekommen. Man kann aus dem bloßen Vorkommen rekursiver Operationen auf dieser Ebene der Selbstbeschreibung nicht schließen, daß und welche Eigenwerte sich finden lassen. Es ist auch schwer, sie zu entdecken, wenn gleichzeitig immer auch ein Beobachten erster Ordnung mitläuft, das die Welt als Welt der Dinge aufnimmt. Und es mag andere Eigenwerte geben, zumal selbstreferentielle Unabdingbarkeiten sich auch sonst nachweisen lassen, etwa beim Begriff des Nutzens in der Frage nach dem Nutzen der Ablehnung der Reflexion des Nutzl:ns und vor allem bei der Umarbeitung des Begriffs der Vernunft aus einem naturalen, den Menschen vom Tier unterscheidenden Phänomen in ein transzendentales, sich selbst einsichtig machendes. All dies sind geordnete Rücksichtslosigkeiten, die es ermöglichen, die Kommunikation über die Gesellschaft in der Gesellschaft fortzusetzen, auch wenn man auf eine einhellige Erfassung des Objekts verzichten muß und folglich gerade diesen Verzicht zu reflektieren hat. Wenn es aber zutrifft, daß die Eigenwerte der modernen Gesellschaft letztlich in Funktionsangaben liegen und daß Selbstbeschreibungen sich folglich an der Funktion der Selbstbeschreibung orientieren, ist der Seitenblick auf andere Möglichkeiten stets eingebaut. Und das heißt nicht zuletzt: daß sich neue Anforderungen an die Präzision von Beschreibungskonzepten ergeben, die es trotzdem ermöglichen, sich über Probleme und funktionale Äquivalenzen zu verständigen und Meinungsverschiedenheiten zu erhalten, ohne dem Belieben die Tür zu öffnen.“ (Ebd., S. 1125-1126.)

„Hierzu könnte man schließlich Überlegungen heranziehen, die in der Semiotik und der Texttheorie entstanden sind. Linguistische, konstruktivistische und dekonstruktivistische Techniken der Textanalyse sind inzwischen so weit fortgeschritten, daß sie einer Soziologie gefährlich werden könnten, die ihren Realitätsbegriff über metaphysische Prämissen festlegt. Der Ausgangspunkt dieser Kritik war die Problematisierung der Möglichkeit einer Beziehung von Zeichen zur Außenwelt gewesen. Das hat zur Reformulierung des Realitätsbegriffes geführt. Wenn Realität nach wie vor als Widerstand gegen beliebige Thematisierungen begriffen werden soll - und welchen anderen Realitätsbegriff hätten wir? - dann muß es sich um Widerstand von Zeichen gegen Zeichen, von Sprache gegen Spt:ache, von Kommunikatioh gegen Kommunikation handeln. Das heißt: um rekursiv gebildete Komplexität. Das System testet, so gesehen, an selbsterzeugter Ungewißheit und an selbsterzeugtem Widerstand im laufenden Operieren das, was es von Moment zu Moment als Eigenwert behandeln kann. Will man dem innerhalb soziologischer Theoriekonstruktionen Rechnung tragen, muß auch die Gesellschaftstheorie auf Selbstreferenzkonzepte umgestellt werden.“ (Ebd., S. 1126-1127.)

„Die moderne Gesellschaft ist, wie der Gott des Aristoteles, mit sich selber beschäftigt. Sie tut, wie der Gott der Christen, alles, was sie tut, um ihrer selbst willen. Im Unterschied aber zur alteuropäischen Semantik, die solche Figuren der geschlossenen Selbstreferenz in die Transzendenz verlagert und ihnen die Qualität des unbedingt Guten zugesprochen hatte, um die gelegentliche Korruption oder sogar die prinzipielle Verderbtheit der Natur (und in ihr: der Gesellschaft) dagegen ins Profil zu setzen, hält die selbstreferentiell geschlossehe Gesellschaft der Moderne sich selbst für mangelhaft, für kritikbedürftig, für verbesserungsfähig und dann wieder: für an Aufklärung leidend. Und während die alte Welt meinte, sich mit den Augen des primärbeobachters Gott beobachten oder, wenn dessen Kriterien (unterscheidet er überhaupt?) nicht deutlich wurden, in Spiegeln auf Besseres hin beobachten zu können, ist die moderne Gesellschaft vor allem mit ihrer eigenen Misere beschäftigt. Sie kann sich nur selber zu Hilfe kommen. Aber sie kommt im Beobachten ihres Beobachtens immer nur auf den Punkt, an dem etwas auszusetzen ist -und sei es schließlich auf den Zentralpunkt, an dem das Gute und das Schlechte fusionieren: daß man beobachten kann, daß der Beobachter nicht beobachten kann, wie er beobachtet. Die eigentümliche Ausnahmslosigkeit dieser Struktur präsentiert sich nicht mehr in der Ferne, nicht mehr in der Form eines unbedingt existierenden Wesens. Sie liegt für uns in der Operation des Beobachtens selber, in der Angewiesenheit auf Sinn als Medium, das nur selektiv, nur für Formbildung, nur mit Hinweis auf etwas anderes benutzt werden kann. Und man hat keinen Grund mehr, dies zu beklagen. Denn es würde ja auch für das Beklagen selber gelten.“ (Ebd., S. 1127-1128.)

„Man kann heute vielleicht davon ausgehen, daß der dürre veri-/falsifikationistische Stil des logischen Positivismus, der alle anderen Ausdrucksformen als Poesie oder Metaphysik deklassiert, sich nicht eignet. Abgesehen davon, daß er philosophisch und erkenntnistheoretisch nicht länger gedeckt ist, bringt er gerade zum Ausdruck, daß er sein Objekt vor sich, also außer sich sieht. Man kann dann aber immer noch wählen, ob man Darstellungsformen bevorzugt, die Betroffensein und Mitleiden zum Ausdruck bringen, was ohne Parteinahme in der Sache selbst kaum möglich ist, oder ob man die Reflexionsform der (romantischen) Ironie bevorzugt, die das Verwickeltsein in die Angelgenheiten trotz allem als Distanz zum Ausdruck bringt.“ (Ebd., S. 1129.)

„Die Moral hat ja auch eine schlechte Seite, fordert dann aber als Moral, daß man sich gegen das Schlechte wendet ....“ (Ebd., S. 1130.)

„Wir gehen davon aus (vgl. Kapitel 1, III), daß alle Kommunikation im Medium Sinn operieren muß. Das heißt, extrem verkürzt gesagt, daß jede Operation, wenn beobachtet, als Selektion aus einer Vielzahl von Möglichkeiten erscheint und daß die Zirkularität der auf sich selbst zurückgreifenden Sinnzusammenhänge unterbrochen werden muß, um die Asymmetrie einer Sequenz von Kommunikationen zu ermöglichen. Dies geschieht in drei Sinndimensionen (Sach-, Zeit und Sozialdimension; HB), die durch jeweils eine dimensionsspezifische Unterscheidung konstituiert werden. In der Sachdimension (traditionell repräsentiert in der Kategorienlehre) gibt es das »Innen« im Unterschied zum »Außen« der Form. Die systemtheoretische Fassung spricht von System und Umwelt. In der Zeitdimension (traditionell repräsentiert durch den Begriff der Bewegung) geht es um die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. In der Sozialdimension (traditionell repräsentiert durch die Lehre vom »animal sociale«) geht es um die Unterscheidung von Ego und Alter, wobei wir als Ego den bezeichnen, der eine Kommunikation versteht, und als Alter den, dem die Mitteilung zugerechnet wird.“ (Ebd., S. 1136-1137.)

„Mit diesen Fassungen sind die Sinndimensionen vorweg schon asymmetrisiert vorgestellt. Das, was unterschieden wird, kann nicht umgetauscht werden. Innen ist niemals außen, vorher niemals nachher, Ego niemals Alter, obwohl die jeweils nächste Beobachtung (aber eben nur: durch Aufwendung von Zeit) die Unterscheidung verschieben kann, so daß, was vorher innen war, jetzt außen ist, usw..“ (Ebd., S. 1137.)

„Ein Gesellschaftssystem, das durch Vollzug seiner Autopoiesis Formen im Medium Sinn produziert, muß in diesen drei Dimensionen operieren. Das heißt selbstverständlich nicht, daß diese Dimensionen Thema der Kommunikation werden müssen, weil anders die Kommunikation nicht zustandekäme und nicht fortgesetzt werden könnte. Der für Orientierung und Fortsetzung notwendige Strukturvorrat liegt nur in den Formen; die auf diese Weise produziert werden. Nicht die Sinndimensionen selbst machen die Gesellschaft schon zu einem strukturdeterminierten System; sondern das geschieht erst geschichtlich durch die Fortsetzung der Autopoiesis der Kommunikation im Rückgriff und Vorgriff auf ihre eigenen Resultate. Wenn man aber die Gesellschaft als Einheit beschreiben will, hat man in den Sinndimensionen einen Anhaltspunkt für die Themen, die in der Beschreibung zu berücksichtigen sind. Anders gesagt: In der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems wird das Medium Sinn selbst zur Form, wird Sinn selbst reflexiv. Und eben deshalb mußten wir Sinndimensionen als Unterscheidungen unterscheiden.“ (Ebd., S. 1137.)

„Auch wenn man dies akzeptiert, sind immer noch verschiedene Möglichkeiten denkbar, die Sinndimensionen der Autopoiesis zu interpretieren. Jede Selbstbeschreibung erfordert historische Plausibilität in der Situation, in der sie als Beschreibung beobachtet wird. Ohnehin wissen wir, daß die Position des Beobachters zweiter Ordnung nur kontingente Phänomene erzeugen kann. Mit diesem Vorbehalt läßt sich beschreiben, wie wir die Sinndimensionen besetzt haben, nämlich: die Sozialdimension durch das Konzept der Kommunikation und ihrer Medien; die Zeitdimension durch das Konzept der Evolution; und die Sachdimension durch das Konzept der Systemdifferenzierungen, das heißt der Ausdifferenzierung und der Wiederholung von Ausdifferenzierungen in bereits ausdifferenzierten Systemen. Wir fassen das Resultat in einer Skizze zusammen:
A u t o p o i e s i s   d e r   G e s e l l s c h a f t
/ | \
Kommunikation Evolution Differenzierung
| | |
SOZIAL ZEITLICH SACHLICH
\ | /
S e l b s t b e s c h r e i b u n g   d e r   G e s e l l s c h a f t
So wie die Sinndimensionen einander wechselseitig voraussetzen und jede von ihnen zum Ausgangspunkt für die Beobachtung der anderen genommen werden kann, so sind auch Kommunikationstheorie, Evolutionstheorie und Differenzierungstheorie jeweils verschiedene Einstiegstore für die Darstellung der Gesamttheorie. Soziale Systeme entstehen dadurch, daß Kommunikation in Gang kommt und sich autopoietisch aus sich selbst aufbaut. Zur Evolution kommt es dadurch, daß die Differenz zwischen System und Umwelt durch strukturelle Kopplungen überbrückt wird. Keine dieser Theorien kann auf die Mitwirkung der anderen verzichten. Die in der Präsentation dieses Buches gewählte Reihenfolge ist beliebig. Ebensowenig kann die Gesellschaftstheorie als logische Konsequenz aus systemtheoretischen Prämissen verstanden werden ~ etwa im Sinne der schon etwas angestaubten Idee eines hypothetisch-deduktiven Erkenntnissystems. Sie ist schließlich auch nicht die strenge Konsequenz eines bestimmten konstruktiven Prinzips, etwa eines dialektischen Vorgehens oder einer Technik der Kreuztabeliierung (Parsons). Sie ist Resultat des Versuchs, eine Vielzahl verschiedener Theorieentscheidungen aufeinander abzustimmen. Und nur diese relativ lockere Form des Theoriedesigns, die möglichst erkennen läßt, welche Entscheidungen getroffen sind und welche Konsequenzen es hätte, wenn man an diesen Stellen anders entscheiden würde, scheint uns angemessen zu sein als Angebot einer Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft.“ (Ebd., S. 1137-1139.)

„Die soziologische Analyse bestätigt, daß eine hinreichend komplexe Selbstbeschreibung der Gesellschaft sich in der sachlichen, in der zeitlichen und in der sozialen Sinndimension artikulieren muß. Zugleich beobachtet sie aber auch, welchen einschränkenden Erfordernissen Rechnung getragen wird, wenn die Dimensionen zu Selbstbeschreibungsformen kondensiert werden; und insofern verhält sich die soziologische Theorie dann »kritisch«, wenn sie ihre eigene Analytik auf diese Kondensate ansetzt. Sie wird feststellen, daß und wie die einzellien Sinndimensionen bereits besetzt sind und wird daher zu einer »Wiederbeschreibung« der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems ansetzen müssen.“ (Ebd., S. 1139.)

„So entdeckt sie in der Sachdimension, in der Differenzierungstheorie, das Problem der Selektion von Systemreferenzen. Sie nimmt nicht nur hin, daß es viele verschiedene Systeme gleichzeitig gibt, sondern sieht sich selbst als Beobachter zweiter Ordnung genötigt, zu entscheiden, von welchem System aus sie anderes als Umwelt sieht. In der Zeitdimension beobachtet sie, daß die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft Zeit als historischen Prozeß auffassen, und dies auch dann, wenn von Evolution gesprochen wird. Mit dem Prozeßbegriff wird aber Kontinuität betont und nicht Diskontihuität, weil anders die Identität und Unterscheidbarkeit eines spezifischen Prozesses nicht feststellbar wäre. Ereignisse erscheinen dann an sekundärer Stelle als Zäsuren, als Unterbrechungen, als Innovationen oder auch als notwendige, richtunggebende Anstöße. Geht man dagegen umgekehrt mit der Theorie der Autopoiesis von Ereignissen oder Operationen aus, wird Diskontinuität die grundlegende Annahme, wird ständiger Zerfall der Normalfall, gegen den sich dann Prozesse konstituieren können, wenn das jeweilige Ereignis genügend Möglichkeitsüberschüsse (= Sinn) bereithält, damit Passendes zur Prozeßbildung ausgewählt werden kann. (Man sieht wohl, dies sei noch angemerkt, daß damit gegen jeden Typenzwang, gegen jede Vorgabe von »Wesensformen« argumentien wird.) In der Sozialdimension schließlich wird jede Selbstbeschreibung die Bindemittel betonen (sei es Moral, sei es Vernunft, seien es Werte, sei es Verständigung oder wünschenswerter Konsens), während die soziologische Analytik davon ausgeht, daß jede Kommunikation die Ja/Nein-Bifurkation eröffnet, weil ohne sie die Autopoiesis nicht fortgesetzt werden könnte, und erst von da aus Präferenzen erklärt werden können, die auf eine Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit abzielen.“ (Ebd., S. 1139-1140.)

„Eine solche Wiederbeschreibung der Beschreibung führt weder zu einer positiven noch zu einer negativen Charakterisierung der Gesellschaft. Sie formuliert die Identität des Systems nicht als Wert und schon gar nicht als Norm, nach der man die Gesellschaft oder das Verhalten in ihr beurteilen könnte. Sie läßt es nicht zu, zwischen progressiven und konservativen Einstellungen zu wählen. All das würde einen externen Beobachter voraussetzen, nach dem man sich richten kann, oder eine interne Position für einzig-richtiges Beobachten, das den anderen nur noch mitzuteilen hätte, was von ihr aus zu sehen ist. Solche Annahmen ersetzen wir durch die These, daß die Gesellschaft Sinn schlechthin konstituiert dadurch, daß sie sich im Medium Sinn als Form produziert und reproduziert. Und alle Kriterien für gut oder schlecht, wahr oder unwahr, rational oder irrational, funktional oder dysfunktional müssen in der Gesellschaft per Kommunikation erzeugt werden, und das heißt: in einer Weise, die beobachtet werden kann und die Möglichkeiten des Annehmens oder Ablehnens eröffnet.“ (Ebd., S. 1140.)

„Das bedeutet auch, daß die Form der Selbstbeschreibung sich ändern muß. Diese Veränderung hat eine ähnliche Radikalität wie der Übergang zu funktionaler Differenzierung, die auf die Gleichheit der ungleichen Systeme hinausläuft und gesellschaftliche Ordnungsvorgaben in weitestem Umfange zurücknimmt; eine ähnliche Radikalität auch wie der evolutionäre Kollaps der Differenzierung von Stabilisierung und Variation mit der Folge, daß ein nicht-stationäres Gesellschaftssystem entsteht. Im Kontext der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems scheint eine gleichermaßen radikale Veränderung anzulaufen. Sie liegt im Übergang von einer Beobachtung erster Ordnung zu einer Beobachtung zweiter Ordnung.“ (Ebd., S. 1140-1141.)

„Nach wie vor muß, wenn überhaupt von Selbstbeschreibung die Rede sein soll, das »Selbst« der Selbstbeschreibung identifizierbar sein; und das heißt immer auch: unterscheidbar bleiben. Auch wenn es eine Mehrzahl von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft in der Gesellschaft gibt, gibt es deshalb noch nicht mehrere Gesellschaftenp, (so als ob jeder Beobachter ein anderes Objekt beobachte - der eine die Engel, der andere die Teufel). Aus diesem Grunde kann bei polykontexturalen Beschreibungen die Einheit nur in der Form der Beobachtung zweiter Ordnung zum Ausdruck kommen - eben dadurch, daß jeder Beschreiber in seine Beschreibung einbezieht, daß andere Beschreiber anders beschreiben. Das mag dann, bei avancierten Versuchen, dazu führen, daß in die Beschreibungen sie selbst transzendierende M omente aufgenommen werden, oder anders gesagt: daß ihre Sinnhaftigkeit als Selektivität mitkommuniziert wird. Und es führt, da all dies registriert wird als in der Gesellschaft stattfindend, auch dazu, daß die Gesellschaft als selbstmodifikationsfähige Einheit begriffen werden muß.“ (Ebd., S. 1141.)

„Man mag darüber streiten, ob das »Projekt der Moderne« beendet ist oder nicht; oder darüber, ob es gut ausgehen wird oder nicht. Dieser Streit führt, das sieht man bereits, zur Konfusion der Positionen. Ihm liegt eine überalterte Begrifflichkeit zu Grunde, die ihrerseits nur Themen der Selbstbeschreibung (wie Freiheit, Emanzipation, Gleichheit, Vernunftorientierung etc.) diskutiert. Was sich, all dies unterlaufend und tragend, zu ändern scheint, ist dagegen die Form der Selbstbeschreibung. Die stationären Gesellschaften der alten Welt hatten sich als Objekte beschrieben, etwa mit Begriffen wie Sein, Wesen, Natur, Gattung. In diesem strukturellen und semantischen Rahmen waren Möglichkeiten der Evolution nicht ausgeschlossen; aber deren Beobachtung und Beschreibung konnte an der Oberfläche bleiben und mit dem anschaulichen Begriff der Bewegung arbeiten, der als Gegenbegriff etwas Festes voraussetzt wie der Fluß die Ufer. Die moderne Gesellschaft beobachtet sich als Beobachter, beschreibt sich als Beschreiber; und erst das ist in einem logisch strengen Sinne Selbstbeobachtung bzw. Selbstbeschreibung. . Nun erst ist das »Selbst« der Beobachtung der Beobachter, das »Selbst« der Beschreibung der Beschreiber selbst.“ (Ebd., S. 1141-1142.)

„Wenn man weiterhin von einem »Projekt der Moderne« sprechen will, so ist dieses Projekt unvollendet, ja noch nicht einmal adäquat entworfen. Es kann nicht auf der Basis des Subjektbegriffs ausgeführt werden, wenn dieser Begriff weiterhin nur das individuelle Bewußtsein bezeichnet. Man wird weiter an Hegel denken - der bisher einzige voll durchdachte Versuch. Aber dann dürfte man einen Terminus wie Geist nicht ans Ende der Geschichte (**|**|**|**) setzen, darin keinen Abschlußgedanken, keine Überlegenheitsfigur sehen, und man müßte (gegen Hegel und mit Darwin) jede Verwendung von Ausdrücken wie »niedriger« oder »höher« vermeiden. Der Beobachter des Beobachters ist kein »besserer« Beobachter, nur ein anderer. Er mag Wertfreiheit bewerten oder dem Vorurteil der Vorurteilslosigkeit folgen; er sollte dabei aber, wie diese Formulierungen anzeigen, zumindest bemerken, daß er autologisch operiert.“ (Ebd., S. 1142.)

„Strukturelle Umbrüche des Ausmaßes, das wir hinter uns haben, sind nie im Vollzuge beobachtet und beschrieben worden; es sei denn unter völlig inadäquaten Begriffen und im Rückblick auf eine zerfallende Tradition. Semantische Veränderungen folgen den strukturellen in beträchtlichem Abstand. Das Kondensieren von Sinn durch Wiederholen und Vergessen unter neuartigen Bedingungen braucht Zeit. In dieser Hinsicht, das ist unser Eindruck, steht die moderne Gesellschaft erst am Anfang. Die deutlich erkennbare Unzufriedenheit mit allem, was derzeit im Angebot ist, könnte ein fruchtbarer Anfang werden.“ (Ebd., S. 1142.)

„Unsere Analysen haben keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, daß irgendwann in diesem Jahrhundert, vermutlich in dessen zweiter Hälfte, eine Epochenzäsur zu beobachten wäre, die das Gesellschaftssystem selbst betrifft und es rechtfertigen könnte, einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen Gesellschaft zu behaupten. Bemerkenswerte strukturelle Veränderungen innerhalb der einzelnen Funktionssysteme gibt es zuhauf, vor allem als Folge von Globalisierungstendenzen und wechselseitiger Belastungen der einzelnen Funktionssysteme. Aber nach wie vor werden all die Errungenschaften der Moderne (Altersklassen in den Schulsystemen, Parteiendemokratie als Staatsform, unregulierte Heiratspraxis, positives Recht, an Kapital und Kredit orientiertes Wirtschaften, um nur einiges zu nennen) beibehalten; nur ihre Konsequenzen findet man schärfer ausgeprägt. Selbst im Kunstsystem (Architektur vielleicht ausgenommen [**]) gibt es keine scharfen Epochengrenzen zwischen moderner und postmoderner Kunst. Von »Postmoderne« kann man also allenfalls mit Bezug auf die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems sprechen. Damit stehen wir vor der Frage, ob und woran man eine spezifisch »postmoderne« (im Unterschied zu einer modernen) Beschreibung erkennen kann.“ (Ebd., S. 1143.)

„Daß die Rede von »Postmoderne« aufgekommen ist, liegt vielleicht daran, daß die Dynamik der modernen Gesellschaft unterschätzt worden war und ihre Beschreibungen allzu statisch ausgefallen sind: Das gilt für die Prominenz des cartesischen Subjekts, für die Idee der Menschenrechte und auch noch für die Annahme von Habermas, die Moderne sei ein unvollendetes Projekt. Wenn die Signaturen der Moderne in dieser Weise festgeschrieben sind, liegt es nahe, mit einer Theorie der Postmoderne zu reagieren. Faktisch sind jedoch die damit postulierten Zäsuren nicht zu erkennen, und es wäre deshalb der richtigere Weg, das Verständnis der modernen Gesellschaft mitsamt ihrer Selbstbeschreibung zu dynamisieren.“ (Ebd., S. 1143-1144.)

„Am Begriff der Postmoderne ist vieles kontrovers. Ein ziemlich unbestrittener (wenngleich interpretationsbedürftiger) Ausgangspunkt dürfte jedoch in der These vom Ende der Großen Erzählungen liegen. Man wird sofort konzedieren müssen, daß dies selbst eine Erzählung ist .... Wenn die These autologisch verwandt wird, also sich selbst einschließt, widerspricht sie sich selbst: wenn wahr, dann falsch. Man muß deshalb umformulieren und sagen, daß die Einheit der Gesellschaft oder, von ihr aus gesehen, der Welt nicht mehr als Prinzip, sondern nur noch als Paradox behauptet werden kann. Die Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale postmodemen Denkens. Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit. Das heißt vor allem, daß Unterscheidungen und Bezeichnungen nur noch als Auflösung eines Paradoxes »begründet« werden können. Beim Problem der Selbstbeschreibung, sei es der Welt in der Welt, sei es der Gesellschaft in der Gesellschaft, fällt dies relativ leicht. Man muß nur eine Pluralität von Selbstbeschreibungen zulassen, im »Diskurs« der Selbstbeschreibung also eine Mehrheit von Möglichkeiten, die einander weder tolerieren noch nicht tolerieren, sondern einander nur nicht mehr zur Kenntnis nehmen können. Das haben wir mit der These vorweggenommen, daß universalistische (sich selbst einschließende) Selbstbeschreibungen nicht einzig-richtige, nicht exklusive Selbstbeschreibungen sein müssen. Wenn man auf die Funktion von Selbstbeschreibungen achtet, wird man hinzufügen müssen: nicht exklusiv sein können, denn die Funktion der Funktion ist es, funktionale Äquivalente zuzulassen.“ (Ebd., S. 1144.)

„Etwas mehr Schwierigkeiten bereitet ein zweiter Vorschlag, postmodernes Denken als Entdifferenzierung zu begreifen. Entdifferenzierung kann aber nicht heißen, daß man die Differenzierungen vergessen könnte, denn dann hätte auch das »Ent-« keinen Sinn. Wenn Entdifferenzierung Gedächtnis voraussetzt, läuft dieser Vorschlag auf Bewahrung der Differenzen (zum Beispiel: auf Bewahrung von Stildifferenzen in postmodernen Kunstwerken) hinaus. Auch hier wird eine Interpretation des Vorschlags gut tun. Es kann nicht darum gehen, innerhalb von Unterscheidungen von der einen Seite zur anderen überzuwechseln, zum Beispiel von Produktionsorientierung zu Konsumorientierung oder von Vergangenheitsorientierung zu Zukunftsorientierung, also von Gebundensein zu Ungebundensein. Die Frage kann nur sein, ob die Einstellung zu Unterscheidungen oder, wenn gegenstandsbezogen gedacht wird, zu Differenzen sich geändert hat.“ (Ebd., S. 1144-1145.)

„Wir erinnern daran, daß schon die Umpolung des modernen Denkens von vorgefundenen Wesensunterschieden auf Differenzierung eine semantische Innovation gewesen ist, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts an Resonanz gewinnt. (Vgl. Kapitel 4, I.) Es könnte gut sein, daß auf dieser Ebene der Formen des Beobachtens und Beschreibens abermals ein Wechsel zu verzeichnen ist, und, um es gleich postmodern zu formulieren, ein Wechsel in Richtung auf einen Dekonstruktionsvorbehalt bei allen Unterscheidungen. Man kann, anders gesagt, immer fragen, wer die Unterscheidung trifft (wer der Beobachter ist) und warum er die eine und nicht die andere Seite markiert. Die Antwort auf diese Frage hängt aber wiederum davon ab, wer sie stellt, also davon, wer hierfür der Beobachter ist.“ (Ebd., S. 1145-1146.)

„Wenn man postmodernes Beschreiben als Operieren in Bereichen selbsterzeugter Unbestimmtheit begreift, sieht man sofort Parallelen zu anderen Wissenschaftstrends, die sich in Mathematik, Kybernetik, Systemtheorie mit den Eigenarten selbstreferentieller, rekursiv operierender Maschinen befassen. Bekannte Namen sind auch Chaostheorie oder fraktale Geometrie. Komplexität entsteht hier nicht durch Versuche, die Welt einigermaßen sachgemäß abzubilden, sondern durch wiederholende Operationen, die an einen selbsterzeugten Ausgangszustand anknüpfen und diesen mit jeder Operation als Ausgangspunkt für weitere Operationen fortschreiben. Hierbei wird dann die Zeit, die solche Verschiebungen im seiben System ermöglicht, zur entscheidenden Variable, und Unvorhersehbarkeit ist die gleichsam zeitgemäße Folge einer Sequenz solcher Rekursionen.“ (Ebd., S. 1146.)

„Am ergiebigsten dürfte es deshalb sein, die Zeitunterscheidung von Vergangenheit und Zukunft zu analysieren, nicht zuletzt deshalb, weil der Begriff der Postmoderne ja selbst auf dieser Unterscheidung beruht. Derridas Kritik der ontologischen Metaphysik kann so gelesen werden, daß sie die Überschätzung der Gegenwart als Ort der Anwesenheit des Seins moniert und statt dessen eine stärker zeitbezogene Analyse vorschlägt. Was operativ läuft, ist die Einkerbung einer Differenz in eine Welt, die dies toleriert und ein »recutting« ermöglicht. Das geschieht durch »Schrift«. Da es aber eine Differenz ist, kann sie nicht von Dauer sein, sondern muß von Moment zu Moment verschoben werden. Différence ist différance. Das wiederum impliziert, daß das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft sich laufend verschiebt, ohne daß diese Verschiebung als räumlich-zeitliche Bewegung in einer immer schon vorhandenen Seinswelt begriffen werden könnte. Als Kommunikation begriffen, demontiert die Operation ihre eigenen Voraussetzungen, dekonstruiert die Unterscheidungen, die sie verwendet im Sinne eines auch aus anderen Forschungen bekannten performativen Widerspruchs zwischen report (Information) und command (Mitteilung mit Annahmezumutung).“ (Ebd., S. 1146-1147.)

„Auf ganz anderen Wegen führt auch die rasch zunehmende Computerisierung des Alltagslebens vor dieselbe Frage, sie ist also auch unabhängig von literarischen Bemühungen um eine Kritik der Seinsmetaphysik aktuell. Denn in den Computern verbergen sich unsichtbare Maschinen, die nur auf Befehlseingabe hin ihre Schaltzustände sichtbar machen. Es hat wenig Sinn, diese unsichtbaren Maschinen als »anwesend« zu bezeichnen. Jedenfalls werden sie erst durch zeitlich und lokal situierte Anfragen dazu gebracht, Informationen sichtbar zu machen, die dann im Anfragekontext ihre eigene Differenz von Vergangenheit und Zukunft erzeugen. Die Bruchlinie zwischen den unsichtbaren und unvorstellbaren Rechenvorgängen der Maschine und dem gelegentlichen, interessenbedingten Erscheinenlassen ihrer Zustände könnte auf dem Wege sein, die alten Unterscheidungen von aeternitas und tempus und von Anwesenheit und Abwesenheit vom ersten Rang der Weltkonstruktion zu verdrängen. Man spricht mit Bezug darauf bereits von »virtueller Realität« (*), und das legt es nahe, von da aus einen Zusammenhang mit der Diskussion über die postmoderne Moderne herzustellen. (* Dies allerdings mehr jargonhaft und ohne Klärung der Frage, welche Virtus denn das bloß Mögliche in etwas Virtuelles transformiert. Vorwiegend wird dabei an die Möglichkeit gedacht, den Computer (ähnlich wie das Nervensystem) unbemerkt mitwirken zu lassen, so daß mit Hilfe von Handschuhen, Anzügen usw. eine illusionäre Realität entsteht und im Wahrnehmen selbst eine Unterscheidung von lllusion und Realität nicht mehr möglich ist. Das ist jedoch nur eine zusätzliche Möglichkeit, nachzuweisen, daß das Gehirn als operativ geschlossenes System arbeitet.)“ (Ebd., S. 1147-1148.)

„Eine gleichermaßen radikale, postontologische Thematisierung von Zeit scheint dem Formenkalkül von George Spencer Brown zugrundezuliegen. Form wird hier als Markierung einer Unterscheidung begriffen, also als eine Einheit mit zwei Seiten, von denen nur die eine bezeichnet wird und die andere unmarkiert bleiben muß. Der Übergang zur anderen Seite (das »Kreuzen«) erfordert eine weitere Operation, setzt also Zeit voraus. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn das Kalkül seine eigenen Voraussetzungen einzuholen versucht und zwischen marked und unmarked space zu oszillieren beginnt. Während die klassische Formtheorie Form als statische Gestalt begriffen hatte, die nach gelungen/mißlungen zu beurteilen sei, wird Form jetzt als Dispositiv eines Beobachters begriffen und als Regulativ für die Entscheidung, zu bleiben, wo man ist, (sich zu wiederholen) oder zur anderen Seite überzugehen. Ein Primat der Form gegenüber Instanzen, die in der Tradition Vernunft und Wille (Freiheit) genannt wurden, scheint eine Temporalisierung der Formen zu erfordern. Selbst Habermas ist ja heute bereit, auf Vernunft - zu warten.“ (Ebd., S. 1148.)

„Zur geläufigen Diskussion über Postmoderne führt die Frage zurück, was mit den geschichtlich bewährten, aber heute überholten Formen geschehen soll. Sie werden als Material verwendet. Man könnte auch sagen: als Medium für die Bildung neuer Formen, die durch Rekombination gewonnen werden. Das wird für die Formenwelt der Kunst diskutiert, könnte aber auch für die Begriffswelt der Wissenschaften oder anderer intellektueller Diskurse gelten. Mit postmodernen Formen wird ein Wiedererkennen ermöglicht - und zugleich verboten. Man soll sich mit dem Vergnügen des Wiedererkennens - wenn zum Beispiel von »Subjekt« oder von »Demokratie« die Rede ist - nicht begnügen. Das wiederverwendete Formenarsenal ist anders gemeint. Die überlieferten Formen sind, bei aller scheinbaren Seinsfestigkeit, nur noch ein Medium der Selbstverständigung unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen. Man kann dies im Modus der Ironie zum Ausdruck bringen, aber damit wäre nur ein expressiver Ausweg gewonnen und keine Konstruktionsanweisung. Das scheint zu bedeuten, daß konstruktivistische Theorieversuche die Postmoderne nicht fortsetzen, sondern beenden, obwohl sie die Distanz zur Geschichte und ihre Neubeschreibung als Medium übernehmen.“ (Ebd., S. 1148-1149.)

„Ob der Ausdruck »postmodern« gut gewählt war, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls sind Beschreibungen nicht schon deshalb postmodern, weil man die Folgen des Sündenfalls nicht mehr über Arbeit, sondern über Genuß erträglich zu machen versucht. Die soeben skizzierten Hinweise, Einheit und Differenz betreffend, deuten einen Bedarf für Formstrenge theoretischer Reflexion an. Dazu gibt es mehr Anregungen, als sich im Moment unter dem Etikett der Postmoderne versammeln. Es fällt aber auf, daß unter den Vorarbeiten eine Theorie der modernen Gesellschaft fehlt. Das mag daran liegen, daß die Unterscheidung modern/postmodern von Versuchen dieser Art abschreckt. Wenn aber die Eigenart postmoderner Beschreibungen in der Problematisierung von Unterscheidungen und in der Temporalisierung der sie markierenden Formen liegt, könnte man vermuten, daß die Aufgabe einer »postmodernen« Gesellschaftstheorie in einer Neubeschreibung der modernen Gesellschaft auf Grund der Erfahrungen besteht, über die wir heute verfügen. Jedenfalls verlangt eine heute adäquate Gesellschaftstheorie (ebenso wie die Theorie der postmodernen Kunst), auf den bloßen Genuß des Wiedererkennens zu verzichten und die Theoriekonstruktion aus sich selbst heraus zu beurteilen.“ (Ebd., S. 1149.)

„In diesem Sinne möchten die im Vorstehenden skizzierten Überlegungen zu einer Theorie der Gesellschaft verstanden sein.“ (Ebd., S. 1149.)

 

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