Bazon
Brock hat den Neologismus »Uchronie« aus dem Begriff »Utopie«
gebildet. Dabei wird das Wort »topos«, Ort, durch das Wort »chronos«,
Zeit ersetzt. Die »Uchronie« ist die Nichtzeit, die Herauslösung
aus dem Zeittluß, die allen Ewigkeitslegitimationen und allen ontologischen
Begriffen anhaftet. Erst die Erzeugung von »Uchronie« ermöglicht
den Gedanken der Utopie, denn die eigentliche Voraussetzung von Utopie ist die
Loslösung aus dem Zeittluß, nicht die Lösung aus der räumlichen
Einbindung.Heiner
Mühlmann, Die Natur der Kulturen, Einleitung, 1996 |
»Uchronisch«
ist die kulturelle Vererbung von philosophischen, metaphysischen Prinzipien. Diese
erklären sich selbst für überzeitlich und werden von den Nachgeborenen
als eine bereits existierende noietische Welt vorgefunden. »Uchronie«
und die Vererbung von Merkmalen erzeugen einen Effekt kulturellen Eigenverhaltens,
der gekennzeichnet ist von narzistischem Festhalten an einem Zustand, in dem das
individuelle Beharrungsstreben und das genetische Beharrungsstreben zu einer Einheit
finden. Indem wir es »mentales Instinktverhalten« nennen, betonen
wir die Verstärkung, die ein gleichbleibendes Verhalten des Geistes durch
das genetische Invarianzstreben des »selfish gene« (Richard
Dawkins; HB) erfährt. Wir stehen vor der paradoxen Vermählung
zwischen geistiger Genetikangst und genetischer Geistverachtung.Heiner
Mühlmann, Die Natur der Kulturen, Einleitung, 1996 |
Ja,
ich habe das im Buch selbst Kränkungseffekt genannt. Ich schreibe über
etwas, das den Menschen sehr lieb ist, nämlich die Kultur und decke gewisse
Zusammenhänge auf, vor allem Zusammenhänge zwischen kulturellem Erfolg
und Krieg. Das ist eine, wenn sie denn stimmen sollte, schmerzliche Erkenntnis,
gegen die man sich zunächst mal wehrt. Es ist wie das Entdecken einer Leiche
im Keller.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Das
könnte man auch an der Evolution der westlichen Kultur ablesen. Es
gab erst eine kulturelle Ästhetik, die eindeutig kriegstransparent war, und
in der Folge darauf gab es erst diese ästhetische Situation des schönen
Traums in der die Kriegsbezüge undurchsichtig geworden sind. Das würde
bedeuten, daß auch die globale Evolution der westlichen Kultur nach
diesem Phasengesetz gegliedert ist: Erst der Streß offenkundiger Kriegskultur,
dann die Erholung, sprich: die Kultur des wirtschaftlichen Reichtums und des Hedonismus.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Das
Unterscheidungsmerkmal scheint sehr wichtig zu sein für die Identitätsbehauptung:
woran kann ich erkennen , daß ich nicht so bin wie die Italiener, Franzosen
und Spanier, daß ich nicht so bin wie die Nichtangehörigen der westlichen
Kultur?Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Es
geht um eine Selbsterkenntnis und um den Entzug einer angenehmen Vorstellung,
mit der wir alle sehr gern leben wollen. Kultur ist schön, enthält das
Beste im Menschen, die Kreativität, die Fähigkeit zum Frieden. Und nun
komme ich mit der Behauptung, daß Kriegsdynamiken das wichtigste für
die Entstehungen von Kulturen sind, für die Stabilisierung von Kulturen und
für das Überleben von Kulturen. Nun will ich aber die Menschen aus ihrem
Traum von der schönen Kultur nicht aufwecken, damit sie sich wieder auf die
Werte der alten Kriegskultur besinnen und wieder richtig zuschlagen. Nein, ich
will sie aufwecken, damit sie zur Selbsterkenntnis ihrer Kriegskultur gelangen,
und erst dann besteht die schwache Chance, daß wir diese Kriegskultur zum
Guten beeinflussen. Das nenne ich dann Lerneffekt. Oder ich spreche vom erforderlichen
nächsten Schritt der »Hominisierung«. Oder ich spreche, und das
übernehme ich von Bazon Brock, dem Leiter unserer kulturwissenschaftlichen
Forschungsgruppe an der Universität Wuppertal, von der »Zivilisierung
der Kultur«.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Wenn
wir in die Vergangenheit zurückschauen, bestand die Hauptakivität der
Kulturen darin, sich gegen andere zu behaupten und sich von anderen zu unterscheiden,
andere Götter zu haben und die Götter der anderen Kultur zu vernichten.
Es gibt erste Gewißheiten der eigenen Kultur - z.B. hatten die Kreuzritter
die Gewißheit, daß Christus der einzige Gott ist. Sie extrapolierten
diese Gewißheit auf den Rest der Welt, und das diente ihnen als Legitimation
dafür, den Rest der Welt zu erobern. Auch in der heutigen westlichen
Kultur gibt es solche Gewißheiten, von denen wir glauben, daß
sie universal sind, die aber in Wirklichkeit Hervorbringungen unserer eigenen
Kultur sind, und, wie wir zu unserer Überraschung feststellen: Vieles findet
in den nicht-westlichen Kulturen keine Akzeptanz. Bei uns dämmert
es jetzt, daß das ganz etwas anders ist, und das ist ja nun mit dem Begriff
Überwindung der Kultur durch Zivilisation, ausgedrückt worden.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Das
im Zusammenhang der von mir vorgeschlagenen Theorie wichtigste molekulargenetische
Merkmal ist die Streßphysiologie, die Fähigkeit des Organismus, streßartig
zu reagieren. Interessanterweise stellt es sich auch da heraus, daß das
Streßvermögen ein kognitives Vermögen ist. Streß ist gewissermaßen
das letzinstanzliche Urteil des Organismus. Es tritt in Aktion, nachdem das Verstandesurteil
und das Gefühlsurteil das Ihre geleistet haben. Bei der Bewertung einer Situation
muß die Entscheidung gefällt werden: wie kann ich mein Überleben
retten, durch Angriff oder Flucht. Und der Streß mobilisiert in dieser Situation
alle organische Energie, um zu einer Aktion zu gelangen, die das Überleben
gewährleistet.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Triumphgeschrei
der Sieger, Triumphverhalten nach erfgolgreich geführten Kriegen, wie bei
den Römern. Aber es kann auch so etwas sein wie eine nachträgliche Legitimation,
eine nachträgliche Rechtfertigung, eine »Dolchstoßlegende«:
Im Felde unbesiegt. Wir haben zwar gelitten , wir sind zwar besiegt worden, aber
in Wirklichkeit sind wir doch nicht besiegt. Die Bewertung, die dem Individuum
nach der Aktion gelingt, ist entscheidend für das weitere Wohlergehen und
das kann man an der Streßphisyologie deutlich beschreiben. Gelangt das Individuum
zu der Meinung, daß es durch die aggressive Aktion eine höhere Situationskontrolle
gefunden hat, wird es gesünder, die physiologischen Reaktionen laufen günstiger
ab für die Gesundheit des Individuums. Das kann man an den Streßhormonen
erkennen. Cortisol mobilisiert Energie für eben diese Streßleistungen
und schwächt dadurch andere Bereiche des Organismus, z.B. das Immunsystem.
Das schwächere Immunsystem ist ein Indiz für geringere Gesundheit.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Kriegsmetaphern
rutschen immer in die Umgangssprache hinein, man darf es nicht überbewerten.
Aber es gibt explizite Kriegstheorien für die Wirtschaft. Der amerikanische
Strategietheoretiker Luttwak hat das in seinem Buch »Weltwirtschaftskrieg«
dargelegt.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Erkenntnis, daß Kriege im eigentlichen Sinne nicht gewinnbar sind, finden
wir schon in den ältesten strategischen Theorien, daß auf eine seltsame
Weise der Verlierer hinterher der Gewinner ist ....Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Ich
könnte das ausdrücken mit der von Bazon Brock vorgeschlagenen Definition:
»Kultur ist die Natur des Sozialen.« Das Buch, das uns hier zu diesem
Gespräch zusammengeführt hat, hat den Titel Die Natur der Kulturen .
Die Kultur wird beschrieben mit Methoden, die aus der Naturwissenschaft stammen,
vor allem mit Darstellungsmethoden aus der Genetik.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Beschreibung der Evolution und der Dynamik innerhalb der Molekulargenetik ist
die gleiche wie die Beschreibung der Kulturentwicklung, der Kulturevolution. Es
geht um die Übertragung von Merkmalen an die nächste Generation. Es
gibt eine, wie ich meine, sehr gute Definition der Kultur. Sie lautet: Die
Kultur ist der einzige Bereich, in dem ontogenetisch erworbenes vererbt werden
kann an die nächste Generation. Interessante Zusammenhänge eröffnen
sich da ....Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Es
gibt Ansätze von Kulturen bei den Tieren, das Beispiel ist sehr gut: die
Affendame hat durch individuelles Lernen, durch ihre eigene Erfahrung gelernt,
daß Kartoffeln in Salzwasser gewaschen besser schmecken. Und in dem Moment,
in dem sie ihrem Jungen beibringt, es genauso zu machen, ist es kulturell, nach
meiner Definition. Also die Übertragung von etwas ontogenetisch gelerntem,
in die nächste Generation.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Dinge,
die wir früher gelernt haben während des Hominisierungsprozesses, können
wir auch heute noch gut gebrauchen, zum Beispiel die Technik der Domestikation.
Heute müssen wir versuchen, das »wilde Tier Kultur« zu domestizieren
(der typische Gedanke eines Zivilisationsbarbaren bzw. Nihilisten;
HB).Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Es
gibt zwei europäische Vorstellungen von Humanismus: Eine sehr realistische
und skeptische, das ist die der italienischen Humanisten, der alten Humanisten
aus der Antike und der italienischen Renaissance. Und es gibt diesen schwärmerischen,
neueren Humanismus, der sehr stark von der deutschen, idealistischen Philosophie
beeinflußt worden ist. Beim alten skeptischen Humanismus fühle ich
mich sehr wohl. Ich würde die italienischen Humanisten und die Sophisten
als meine Lehrer bezeichnen. Irritierend sind diese schwärmerischen Menschlichkeitsvorstellungen
vor allem der deutschen Philosophen, - vor Nietzsche natürlich. Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Weil
sie die Natur des Menschen außer Acht lassen, weil sie von einem überzeitlichen
Menschenwesen sprechen, was wir auch beispielsweise im Marxschen Begriff vom menschlichen
Gattungswesen immer wiederfinden. .... Man vermißt derartige Überlegungen
z.B. in den Marxschen Theorien. Er bleibt immer wieder bei dem Begriff vom »menschlichen
Gattungswesen« stehen. Von da aus werden die Bedürfnisse und die Notwendigkeiten
abgeleitet. Das menschliche Gattungswesen wird als ein ontologisches Prinzip dem
Zeitfluß entzogen, der bei Marx in der dialektisch beschriebenen Wirtschaftsdynamik
gesehen wird. Vom überzeitlichen menschlichen Gattungswesen werden die Forderungen
an die Wirtschaft gestellt.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Kränkungen sind ein Mittel, auf indirekte Weise diese blinden Bereiche der
Wahrnehmung erahnbar zu machen. Diese Kränkungen, von denen man im kulturellen
Zusammenhang spricht, sind Abwehrhaltungen, die immer wieder durch schmerzliche
Lernerfahrungen über die innere und äußere Menschennatur hervorgerufen
wurden. Die kopernikanische Kränkung, die darwinsche Kränkung, sie haben
bei einem Teil der Kulturbevölkerung ein neues Wissen erzeugt, bei einem
anderen haben sie eine vergrößerte Blindheit, eine verstärkte
Einnebelungs- eine Selbsteinnebelungsaktivität hervorgerufen. Daran kann
man erkennen, daß es da so etwas wie ein Schutzverhalten gibt. Wie bei einer
Krankheit, einer orthopädischen Krankheit: Um keinen Schmerz zu empfinden,
verzichtet man darauf, bestimmte Bewegungen zu machen.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Auslösung von Krieg stellt sich von selbst ein, sie wird nicht rational herbeigeführt.
Es ist ein Globalverhalten. Die globale Intelligenz, die geringer ist als die
individuelle lokale Intelligenz, stellt sich immer ein, wenn die kulturelle Zugehörigkeit,
die kulturelle Geborgenheit instabil wird. Wenn z.B. die große westliche
Kultur nicht alle ihre Individuen integrieren kann in ihrer Gefühlsdynamik,
in ihrer Ästhetik, entstehen diese blasenartigen Störkulturen im Innern,
wie z.B. Ausschreitungen aller Art. Es entstehen Streßsportarten bei Menschen,
die ihre Streßsehnsucht gerade noch kulturell auffangen können, wie
z.B dieses Springen mit den Gummibändern, wie Metro-Surfen, wie Gletscher-Surfen.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Also
im Krieg wird ganz eindeutig kaputtgemacht, das ist irrational. Es wird auch
noch zugeschlagen, wenn eigentlich schon alles vorbei ist. Wir sehen das in Jugoslawien.
Es wird alles zerstört und am Ende sagt man mit großer Selbstverständlichkeit
: »Ja, wir müssen jetzt alle gemeinsam bezahlen, damit alles wieder
aufgebaut werden kann«;. Und sie zerstören dann immer noch. Also Rationalität
scheint im Krieg nicht vorhanden zu sein. Der globale Wirtschaftskrieg will auch
die anderen Wirtschaften zerstören. Man darf kriegerisches, also strategisches
Verhalten in der Wirtschaft nicht gleich überall vermuten. Der normale Konkurrenzkampf
ist kein kriegerisches oder strategisches Verhalten; aber, wir haben es schon
angesprochen: Kriegerische Strategien, um ausländische Konkurrenz zu vernichten,
sind eindeutig destruktiv. Das normale Wirtschaftsverhalten ist dagegen von der
rationalen Überlegung gekennzeichnet: Ich darf das Gut nicht zerstören,
sonst lohnt es sich nicht, es in Besitz zu bringen.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Evolution der Intelligenz in der Naturevolution ist durch das Verhältnis
von globalen und regionalen Systemen bestimmt. Das Gesamtverhalten, kann intelligenter
oder weniger intelligent als das Verhalten der Individuen sein. Termiten z.B.
können als Kollektiv ... diese äußerst komplexen Gebäude
errichten, und das Individuum weiß nichts davon. Das globale Verhalten bei
den Menschen ist dümmer als das lokale, individuelle Verhalten und das ist
eine verhängnisvolle Situation.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Wenn
wir jetzt versuchen, Kulturen zu zivilisieren, dann versuchen wir ja dieses Globalverhalten
intelligenter zu machen (da ist er wieder: der typische
Gedanke eines Zivilisationsbarbaren bzw. Nihilisten; HB). Wir müssen
es aber erst in seinem wirklichen Zustand erkennen, damit wir Ansatzmöglichkeiten
finden. Wir müssen erst richtig diagnostizieren; wir können nicht einfach
davon ausgehen, wie die schwärmerischen Humanisten, daß wir es mit
Appellen schaffen werden, etwa indem wir ausrufen: »Leute, seid doch alle
vernünftig, wir sind doch alle rationale Lebewesen, wir sind doch alle menschliche
Lebewesen.« Es muß eingesehen werden, daß diese Appelle und
diese Art von Kommunikation es noch nie geschafft haben, das destruktive Globalverhalten
zu verhindern, oder irgendwie zu beeinflussen.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Ja,
es gibt auch die intelligenten Menschen und die dummen Menschen, und wenn es die
dummen Menschen wirklich gibt, bewiesen sie sich dadurch als sehr überlebensfähig.
Es ist nicht alles auf dem letzten Stand der Evolution, es existiert vieles auf
verschiedenen Entwicklungsstufen gleichzeitig. Wenn die individuellen Menschen
intelligenter sind, es zu großen Intelligenzleistungen gebracht haben, heißt
es nicht, daß sie diese Intelligenz schon in der richtigen Weise auf ihr
eigenes Globalverhalten bezogen haben.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
richtige Beschreibung dieser Regeln ist die einzige Voraussetzung dafür,
die natürliche Evolution der Kulturen auf rationale Weise zu beeinflussen.
Deshalb dieser Umweg über die Naturwissenschaften.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Es
wird langsam gefährlich, wenn es so weitergeht, und wir müssen uns schleunigst
etwas einfallen lassen. Wir haben lange in der Vorstellung gelebt - übrigens
wieder eine innere Vorstellung der westlichen Kultur -, daß die Resourcen
auf der Welt ausreichen, um allen ein »menschenwürdiges« Leben
zu ermöglichen. Wir stellen jetzt fest, daß das relativ menschenwürdige
Leben, das wir hier führen können - im Inneren der westlichen Kultur
- von der aggressiven Außenseite der westlichen Kultur ermöglicht
wird. Und wir beobachten, daß die westliche Kultur ihre Bindekraft
verliert, und daß im Inneren wie Blasen in einer Flüssigkeit Streßgemeinschaften
und kulturelle Verwerfungen entstehen: Beispiel: die Gangster-Kulturen in den
verwahrlosten Innercities. Luttwak, der Strategieforscher aus Washington, hat
die provozierende Frage gestellt: Wann werden die USA ein Dritte-Welt-Land sein?
Aber das gilt nicht nur für die USA, sondern auch für Europa. Wenn es
so weitergeht. Wenn die kulturellen Integrationsfähigkeiten schwächer
werden. Die Integrationsfähigkeit wird auf eine eigenartige Weise durch Kriegsenthusiasmus
gestärkt.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Also
ich würde in der Moderne eher das Bemühen sehen, das Behagen zu erzeugen.
Oder wenn es nicht schon in der Intention der Künstler lag, dann wird es
zumindest hinterher hergestellt. Auch in der Vernissage, in der Exponate ausgestellt
werden, die Desaster ausdrücken, wird es doch hinterher immer sehr gemütlich,
weil es eben doch ein schöner Kunstabend war. Jede neue Erkenntnis, jede
neue Einsicht, wenn man glaubt, daß sie zutreffend sein könnte, erzeugt
ja auch so etwas wie ein Behagen oder ein angenehmes Gefühl. Nur wenn das
Behagen eine Abschirmung braucht, eine uneingestandene Abschirmung, dann müßten
die roten Lichter aufleuchten.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Werke, die erzeugt worden sind, um die Harmlosigkeit der behaglichen Kultur zu
stören, enden nach einiger Zeit als harmlose Kunstwerke neben allen anderen
harmlosen Kunstwerken. Das geschieht spätestens, sobald sie museumswürdig
geworden sind. Die revoltierenden Werke werden vom Wohlbehagen in der Kultur absorbiert.
Man erkennt daran wieder, daß es eben nicht die Institutionen, wie z.B.
die Theater und Museen mit ihren Werken sind, die das kulturelle Verhalten beeinflussen,
sondern daß es die von den Individuen verinnerlichten Regeln sind, die weitergegeben
werden, und die auch vererbt werden. Man erkennt, daß die Kultur als ganze
nach Gesetzen abläuft, die von den Intentionen eines einzelnen Künstlers
nicht erreicht werden können, daß hier die lokale Intelligenz des Künstlers
nicht auf der Höhe des kulturellen Globalverhaltens ist. Die revoltierenden
Werke hängen am Ende harmlos im Museum, falls sie Kunsterfolg haben. »Timelag-Effekt«
(Zeitverzögerungs-Effekt; HB) hat das einmal
ein Student in Paris genannt.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen - das ist auch eine wichtige Beobachtung
in der Kultur, z.B. bei der Frage von den gleichzeitig vorhandenen verschiedenen
Intelligenzstufen in der Evolution. Diese Frage haben Sie ja schon erwähnt.
Sie sagten, wenn etwas natürlich ist, müßte es doch auf der höchstmöglichsten
Intelligenz angelangt sein. Auch Inteligenz, also kognitive Fähigkeit, Lernfähigkeit
evolvieren. Evolution ist Lernen, ist eine ständige Weiterentwicklung, und
wir können nicht davon ausgehen, daß alles gleichzeitig auf derselben
Stufe stehen muß. Das ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, und
es gilt für kulturelle Zusammenhänge auch. Wir haben schon darüber
gesprochen, daß die westliche Kultur ein kleines bißchen weiter
ist, aber sie darf sich keinesfalls überschätzen. Es ist so etwas wie
Kindheit und Pubertät, erwachsen ist sie noch nicht.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Nun,
die Kultur hat manchmal aus der Geschichte gelernt, die Sophisten und die italienischen
Humanisten, von denen wir auch sprachen, Macchiavelli zum Beispiel. Sie alle sind
doch sehr skeptisch, und sie beurteilen die menschliche Natur und die Natur der
Staaten auf eine sehr realistische Weise.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
kriegerische Dynamik wurde in der älteren Zeit offen akzeptiert. Aristoteles
sagt in der »Rhetorik«: »Die Feinde vernichten ist gut«.
Hier handelt es sich um eine Kultur, die sich ihrer Kriegsdynamik bewußt
ist. Es ist dann mit dem 19. Jahrhundert und der Moderne eine Phase gefolgt, in
der man die Kriegsdynamik verdrängt hat. Und jetzt erkennen wir wieder, daß
sie nicht zu verdrängen ist, und nun müssen wir lernen.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Einige
griechische Philosophen waren große Realisten, sicherlich nicht alle, Platon
war mit Sicherheit ein großer Philosoph, aber er war wohl nicht auf diese
Weise Realist. Aischylos war ein großer Realist. Man erkennt es daran, wie
er die Perser, die Feinde der Griechen beschreibt, mit welchem Respekt. Respekt
gegenüber den Feinden findet man bei Hegel in den Beschreibungen der Feinde
der Griechen und der Kreuzritter nicht. Aischylos hat gekämpft bei Marathon,
und sein Bruder oder Schwager ist neben ihm in der Phalanx gefallen.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Philosophie hat einen fatalen Hang zur »Uchronie«: ... ein Begriff
von Bazon Brock. Es liegt in der Definition der Philosophie, sich nur mit Wesenheiten
zu beschäftigen, die vom zeitlichen Fluß unabhängig sind.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Natur ist zeitlicher Fluß schlechthin, die Natur ist Evolution, in der Natur
wechselt alles ständig. Du steigst nie zweimal in denselben Fluß. Die
Philosophie aber möchte sich nur mit den gesicherten Dingen beschäftigen,
mit dem Sein, mit dem Wesen. Nur leider gibt es das nicht in der Natur. Also kann
Philosophie sich nicht mit Krieg beschäftigen. Aber es gab andere, die vielleicht
an der quantitativen Ausbreitung der Ästhetik dieser westlichen Kultur
größeren Anteil hatten, die sehr wohl über Krieg und über
den Einfluß des kriegerischen Verhaltens auf die Menschen nachgedacht haben.
Das waren die Sophisten und Rhetoriker (gemäß
Spenglers Theorie: nicht der abendländischen, sondern der antiken Kultur!
HB).Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Decorum
ist ein Regeleinstellungssystem, das man mit naturwissenschaftlichen Methoden
sehr schön beschreiben kann. Die Vermutung liegt nahe, daß es universal
und invariant sein muß. Das hieße: Analoge Systeme gibt es in allen
Kulturen (vgl. Spengler; Anm HB). Sie gehören
zum Funktionieren einer Kultur. Wir haben übrigens ein neues Decorum jetzt,
in der westlichen Kultur am Ende des 20. Jahrhunderts: das »Political-correctness-Verhalten«.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Wenn
heute jemand gegen das politische Korrektheitsverhalten verstößt, wird
er verachtet. Er wird ausgegliedert. Er wird in der Kommunikationsgesellschaft
der Medien nicht mehr zugelassen, er wird nach und nach hinausgedrängt.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Es
gibt Decorumverhalten in allen Kulturen - Kleinkulturen, Subkulturen. Das große
Decorumsystem, das repräsentativ ist für 2000 Jahre europäische
Geschichte, war ein Regelsystem, das auf eine ganz bestimmte Weise ausgerichtet
war. Ein wichtiges Merkmal ist eben dieses offene, stolze Zur-Schau-Tragen des
kriegerischen Heroismus. .... Aber in unserer Hauptkultur wird es eben nicht getan
im Moment. Doch in jeder Subkultur, in jeder Hooligankultur ist der stolzeste
Mensch der mit der größten Situationskontrolle. Wer der beste Fighter
ist, hat das stolzeste Verhalten.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Kulturen, die generativen Regeln der Kulturen gelten für alle Kulturen: für
die großen Hochkulturen wie für die kleinen und Subkulturen und Störkulturen.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Die
Kriegskultur träumt den Traum des Behagens in der Kultur. Sie muß erwachen,
um zu erkennen, daß sie nach wie vor eine Kriegskultur ist, und daß
sie damit den Anschluß an die heutige Zeit verpaßt hat. Sie ist immer
noch auf das Suchbild des Kriegsfeindes eingestellt. Der Kriegsfeind ist für
sie der größtmögliche Stressor. Das war vielleicht richtig bis
zum Ende des Kalten Krieges. Heute aber ist die größte Bedrohung
nicht mehr der mögliche Kriegsfeind, sondern das ökologische Desaster
(der typische Gedanke eines westlichen [!] Zivilisationsbarbaren
bzw. Nihilisten; HB). Und das erscheint nur als Stressor im kognitiven
Feld der Kulturen, wenn wir als Rainbowwarrior auftreten. Also wieder als Krieger,
als Greenpeacekämpfer. So schließt sich der Kreis unserer Kultur.Heiner
Mühlmann, Über das Behagen in der Kultur, Interview, 1996 |
Durch
diese Politik der Zentralbanken bleibt das Geschäft im Finanzsektor und geht
... nicht zurück in die sogenannte »Realwirtschaft«.Heiner
Mühlmann, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober
2009 |
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