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Ernst Nolte (1923-2016)
- Selbstentfremdung und Dialektik im deutschen Idealismus und bei Marx (Dissertation; 1952) -
- Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Theorien über den Faschismus (Hrsg.; 1967) -
- Sinn und Widersinn der Demokratisierung in der Universität (1968) -
- Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen (1968) -
- Deutschland und der Kalte Krieg (1974) -
- Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg (1977) -
- Zwischen Geschichslegende und Revisionismus?  (Aufsatz, in: F.A.Z., 24.07.1980) -
- Der Weltkonflikt in Deutschland (1981) -
- Marxismus und Industrielle Revolution (1983) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (Aufsatz, in: F.A.Z., 06.06.1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus (1987) -
- Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten „Historikerstreit“ (1988) -
- Das Vor-Urteil als „strenge Wissenschaft“ (1989) -
- Nietzsche und der Nietzscheanismus (1990) -
- Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert (1991) -
- Martin Heidegger. Politik und Geschichte im Leben und Denken (1992) -
- Martin Heidegger und die Konservative Revolution (Aufsatz; 1992) -
- Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus (1993) -
- Die Deutschen und ihre Vergangenheiten (1995) -
- Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?  (1998) -
- Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus im 20 Jahrhundert. Ein Briefwechsel (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
- Der kausale Nexus. Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft (2002) -
- Faschismus. Von Mussolini zu Hitler (2003) -
- Die europäische Philosophie und die Zukunft Europas (Aufsatz, in: Sezession; Juli 2003) -
- Der heutige Islam - im Angriff oder in der Verteidigung? (2004)
- Carl Schmitt und der Marxismus (in: Der Staat, Band 44, Heft 2; 2005) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (Gespräch; 2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (Gespräch; 2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -
- Geschichte Europas 1848-1918. Von der Märzrevolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (2007) -
- Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus (2009)

Nolte-Zitate. Da ich Ernst Nolte für einen großartigen Geschichtsphilosophen halte, möchte ich ihm eine
separate Seite widmen und aus folgenden seiner Werke zitieren:      

 

- Der Faschismus in seiner Epoche (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 (1987) -
- Historische Existenz (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
-Der kausale Nexus (2002) -
- Der heutige Islam (2004) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -

 

 

 

Der heutige Islam - im Angriff oder in der Verteidigung? (2004)

„Anders als das Christentum und anders auch als das rabbinische Judentum war ja der Islam als eine Religion von Kriegern in die Welt getreten: Mohammed war nicht nur ein Verkünder des kommenden »Reiches Gottes« wie Jesus, sondern er war im letzten Jahrzehnt seines Lebens ein Staatsmann und Feldherr gewesen, der von Medina aus bereits viele der Stämme der arabischen Halbinsel zum Glauben an den  e i n e n  Gott, an Allah, und damit zur Überwindung ihrer Zwistigkeiten unter dem Zeichen eines gemeinsamen Glaubens, eben des Islam, gebracht hatte, und zwar gutenteils durch kriegerische Mittel. Nach seinem Tode im Jahre 632 der christlichen Zeitrechnung (und: im Jahre 10 der islamischen Zeitrechnung; HB) unterwarfen seine Nachfolger innerhalb von wenigen Jahrzehnten große Teile des »fruchtbaren Halbmonds«, vernichteten die dortige christliche Kultur und machten die Christen und Juden zu »Schutzbefohlenen«, zu »dhimmis«, denen gegen die Zahlung einer Kopfsteuer eine sehr beschränkte Duldung gewährt wurde, während alle Heiden nach den Vorschriften des Propheten getötet werden sollten – eine der ersten politischen Taten Muhammads war ja sogar eine Art »Genozid« gewesen, nämlich die Tötung aller nicht zur Bekehrung bereiten Männer des jüdischen Stammes der »Qurayza« in Medina. Unter den dem Propheten zugeschriebenen Äußerungen finden sich im Korpus der so genannten »Hadith«-Sammlung Sätze wie die folgenden: »Das Paradies liegt im Schatten des Schwertes« und »Die Schwerter sind die Schlüssel zum Paradies«. Unter dem Eindruck der Paradiesversprechungen und der zahlreichen Höllendrohungen des »Koran«, der nach der späteren Lehre »ungeschaffenen« und unveränderlichen Offenbarung, die dem »Gesandten Allahs« zuteil geworden war, teilten diese Glaubenskrieger die Welt in zwei Hälften, von denen die eine die andere immer mehr zurückdrängen würde, in die »dar-al-islam«, das Friedensgebiet der Gläubigen, und die »dar-al-harb«, das Kriegsgebiet, in dem der Krieg gegen die Ungläubigen geführt wurde und in dem diese Ungläubigen sich selbst bekriegten. Am Ende der Geschichte würde der islamische »Weltstaat« entstanden sein, der die ganze Menschheit nach dem Muster der Einheit Allahs zu einer Einheit jenseits aller Rassen und Völker verbinden würde. So ist der Islam in seinem Außenverhältnis ein Feindbild von monumentaler und höchst lebendiger Art.

Aber der Islam schuf sein Weltreich, das schon vor dem Ende des siebten Jahrhunderts bis an die Grenzen Indiens reichte, keineswegs nur »mit Feuer und Schwert«. Er machte sich große Teile der christlichen Kultur der Länder des »Nahen Ostens« zu eigen, er entwickelte starke Stränge des griechischen Denkens, vornehmlich des Aristoteles, fort und vermittelte sie, nicht zuletzt über das seit dem Anfang des 8. Jahrhundert eroberte Spanien dem christlichen Abendland, das sich geraume Zeit mit dem Glanz und der Kraft der islamischen Kultur nicht messen konnte. Es handelte sich also trotz aller bald einsetzenden Nachfolgekämpfe und Streitigkeiten bei dem riesigen Gebiet zwischen Gibraltar und Indien um ein von der Religion geprägtes Weltreich, dessen muslimische Bewohner sich fünfmal am Tage vor Allah zu Boden warfen und vom Gefühl der Einheitlichkeit der Gesamtgemeinde, der »umma«, durchdrungen waren. In der Tat konnte der Islam von allen Weltreligionen am ehesten den Anspruch erheben, zur »Religion der Menschheit« zu werden, denn er war in seinen Vorschriften und Dogmen die einfachste und faßlichste aller Religionen, weit entfernt von der zu Zweifeln herausfordernden Mysterienreligion des Christentums und in seinem genuinen Universalismus auch dem Judentum entgegengesetzt. Es gab also schwerwiegende Gründe für die Zukunftsgewißheit der Muslime, ganz wie es später gute und für viele Menschen anziehende Gründe für den Zukunftsglauben der Marxisten und Kommunisten gab. In der Tat könnte man heute die bekannte These von Jules Monnerot, der Kommunismus sei der Islam des 20. Jahrhunderts, umkehren und durch die andere These ersetzen, der Islam sei der Kommunismus des 21. Jahrhunderts. Jedenfalls ist unter dem Gesichtspunkt der Gläubigkeit, der Überzeugungskraft und d1es Kampfwillens keine Ideologie der Moderne so gut mit dem Islam zu vergleichen wie der Weltkommunismus unter der Ägide Lenins und noch Stalins.

Den älteren unter den Menschen dieser Gegenwart ist es indessen noch ganz präsent, wie diese Weltideologie, welche die entschiedenste Vorkämpferin des heute »Globalisierung« genannten Prozesses sein wollte, nach den phänomenalen Erfolgen insbesondere der zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch innere Zwistigkeiten und die Einwirkungen eines materiell überlegenen Gegners gleichsam ins Stocken geriet und ihre Angriffskraft verlor, nicht zuletzt durch die sowjetische Invasion im islamischen Afghanistan, so daß das letzte Jahrzehnt nur noch ein Verteidigungskampf war. Für den Islam nahm der vergleichbare Vorgang mehr als ein Jahrtausend voller Wechselfälle in Anspruch: von der christlichen »Reconquista« in Spanien über die Katastrophe der Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahre 1258 bis zu der Niederlage der osmanischen Heere vor Wien im Jahre 1683, ja bis zu den Reformen des »tanzimat«, mit denen die osmanischen Sultane die Kampfkraft ihrer Armeen auf einen »europäischen Standard« heben wollten. Aber trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge und trotz jener wenigen Intellektuellen, die einer »Verwestlichung« des Reiches und des ganzen Islam das Wort redeten, blieben die Grundüberzeugungen unangetastet, und noch in einer halboffiziellen Publikation des Jahres 1985, die in London erschien und Sympathien für den Islam im Westen erwecken sollte, konnte man lesen, der Islam kämpfe einzig und allein um die Errichtung des Reiches Gottes auf Erden, und deshalb könnten Gläubige und Nichtgläubige nicht gleichgestellt werden, denn »die einen erwartet das Paradies und die anderen die Hölle« (»Die Religion des Islam«?). Die Frage lag also nahe, ob sich der Islam in seiner Zielsetzung und in seiner kriegerischen Natur während nahezu anderthalb Jahrtausenden im Kern so gut wie unverändert geblieben sei.

Und doch geben die Berichte über den imperialen Universalismus des Islam und den »Heiligen Krieg« gegen die Ungläubigen, den er auch dann noch führt, wenn er sich die »taqiyya«, die Verstellung, zunutze macht, welche in bestimmten Situationen erlaubt, ja geboten ist, nur die eine Hälfte des gegenwärtigen Phänomens wieder. Wie mir scheint, ist die Erzählung eines recht bekannten deutschen Journalisten überaus aufschlussreich, der in der Mitte der dreißiger Jahre Palästina bereiste: er habe sich in der Nähe einer Gruppe von einigen arabischen Männern befunden, die ihre Wasserpfeifen geraucht und in großer Gelassenheit Gespräche geführt hätten. Plötzlich sei eine Gruppe von zionistischen Juden vor ihren Augen durch die Straße gegangen: junge Männer und junge Frauen, in Arbeitskleidung, gleichmäßig mit Werkzeugen versehen, in leichter Kleidung, scherzend und lachend. Es habe ihm tiefen Eindruck gemacht, erzählt der Journalist, mit welchen Blicken äußerster Befremdung und entschiedener Mißbilligung die Augen dieser würdigen Männer in ihren weißen Gewändern dieser lärmenden Gruppe gefolgt seien. Diese Befremdung galt offenbar nicht so sehr den Juden, die sich nach ihrer Ansicht des Landes zu bemächtigen suchten, sondern der »westlichen Lebensart«, die mit ihrer Nivellierung uralter Unterscheidungen und ihrer Arbeitshast in das islamische Land eingebrochen sei. Ganz in diesem Sinne sprach 1971 der Ajatollah Khomeini in einer Predigt davon, »die giftige Kultur des Imperialismus« dringe in die Tiefen der Städte und Dörfer der islamischen Welt ein und verdränge die Kultur des Islam. Und schon mehrere Jahre früher hatte einer der einflußreichsten islamischen Ideologen, der Ägypter Sayyed Qutb, der 1966 als Mitbegründer der »Moslembrüder«unter Gamal Abdel Nasser hingerichtet wurde, die USA besucht, und war voller Entsetzen zurückgekehrt, weil ihn drei Merkmale der amerikanischen Kultur besonders schockiert hatten, nämlich der Materialismus, der Rassismus und die sexuelle Permissivität«. Dabei handelte es sich um die immer noch sehr christlichen und fast puritanischen USA der unmittelbaren Nachkriegszeit, und es ist leicht vorstellbar, was Qutb gesagt haben würde, wenn er die USA oder gar das Europa des Anfangs des 21. Jahrhunderts kennengelernt hätte. In der Tat war für Qutb die anthropozentrische kulturelle Moderne »die Ursache der tödlichen Krankheit, die den Westen befallen hat und den Islam anzustecken droht.« Und der Jude Leopold Weiss, der sich nach seiner Konversion zum Islam »Muhammad Asad« nannte und als pakistanischer Botschafter starb, erzählt in seinen Erinnerungen von seinen Erfahrungen in der Berliner U-Bahn, wo er nur wohlgenährte und gut angezogene Menschen gesehen habe, die aber allesamt einen unglücklichen und kummervollen Eindruck gemacht hätten. Der Islam sei dagegen ganz anders, denn er habe eine ruhigere und menschlichere Konzeption des Lebens als die hastige, mechanisierte Lebensart, die in Europa vorherrsche. Für Asad (Weiss) ist also der Islam die positive Kulturkritik und damit das Paradigma eines besseren, weniger angestrengten und harmonischeren Lebens.

Aber trotz aller dieser Defensivität verloren große Teile des Islam die ursprüngliche Zielsetzung nicht aus dem Auge, und gerade der Ayatollah Khomeini, der im Iran auf revolutionärem Wege zwar nicht den ersten, wohl aber den radikalsten islamischen, wenngleich in den Augen seiner Gegner »islamistischen« Staat gegründet hatte, verlangte schon vor seiner Machtergreifung wie ein wiedergeborener Muhammad »die völlige Ausrottung des Okzidentalismus«, der die islamische Welt ein Jahrhundert lang ausgeplündert habe. Dadurch rief er jedoch nicht in erster Linie die Erinnerung an den Kommunismus hervor, sondern gerade diejenige an Mussolini und Hitler, die sich ja in ihren Anfängen ebenfalls als Verteidiger einer bedrohten Lebensform empfunden hatten und Vorkämpfer eines »Verteidigungsangriffs« gewesen waren. So konnten Khomeinis Gegner mit einigem Recht vom »Islam-Faschismus« sprechen.

Aber auch eine ganz andersartige Lösung der planetarischen Streitfrage zeichnete sich ab, sobald man dasjenige, was Khomeini und Qutb für das »absolute Böse« erklärten, als positiv betrachtete und die Entstehung eines »weltlichen« oder »europäischen« Islam zu fördern suchte. Dafür gab es bedeutende Ansatzpunkte. Auch nach der Zurückdrängung der Osmanen auf ihre wichtigste Eroberung in Europa, nämlich Konstantinopel und dessen westliches Umland, nach den Balkankriegen 1912/13 befanden sich viele Muslime unter der Bevölkerung der Balkanstaaten, und sie galten in der Regel nicht als fanatisch; einige der reformierenden Staatsmänner hatten tatsächlich so etwas wie eine säkularisierten Islam im Auge, und der erfolgreichste unter ihnen, Kemal Pascha (Atatürk), schreckte nicht davor zurück, den Islam »die absurde Theologie eines unmoralischen Beduinen, die unser Leben vergiftet« zu nennen. Freilich blieb es unvorstellbar, daß auch nur in der Türkei die islamischen Massen sich eine so radikale Position zu Eigen machen würden, aber eine genuine »neue Epoche« der Weltgeschichte schien möglich zu werden: Der »Westen« oder »der Okzident« oder »Europa« bildete nicht länger das »Liberale System« aus unterschiedlichen religiösen oder ideologischen Kräften, welches die moderne Entwicklung hervorgebracht hatte, sondern er repräsentierte nun einen »Liberismus«, in dem der frühere Liberalismus, von einigen Restbeständen der Vergangenheit abgesehen, zur Alleinherrschaft gelangt war und den zuvor immer eingeschränkten Individualismus zum Höhepunkt geführt hatte. Für die Menschen dieser »Spaßgesellschaft« konnte es eine erhellende und herausfordernde Erfahrung sein, mit Muslimen zusammenzutreffen, die zwar »europäisiert«, aber immer noch »gläubig« waren, ein starkes Gemeinschaftsgefühl besaßen und Mitglieder einer »tugendhaften Gesellschaft« sein wollten. So würde sich möglicherweise das Liberale System in seiner produktiven Differenz rekonstituieren, und die Einwirkungen des tief veränderten, aber keineswegs vernichteten Islam könnte, dem ersten Anschein durchaus zuwider, zu einer Neugeburt Europas führen.

Ich mache keinen Versuch, die Frage zu entscheiden, ob solche Hoffnungen gut begründet sind oder nicht. Sie setzen jedenfalls einen starken Glauben an die innere Kraft des nachchristlichen Europa und an die Wandlungsfähigkeit des Islam voraus. Aber ein ganz anderer Ausgangspunkt wird erforderlich, wenn die Frage konkretisiert und auf das aktuelle Problem des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union bezogen werden soll. Ich gehe abermals von den Erinnerungen an ein simples Faktum aus.

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt erzählt in einem autobiografischen Rückblick, er habe in den frühen siebziger Jahren dem türkischen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel einen Besuch gemacht und dieser habe am Schluß der Unterredung zu seiner Überraschung gesagt, die Türkei habe in Anatolien zwanzig Millionen Menschen, für die sie keine Arbeit schaffen könne, und sie müsse daher diesen Bevölkerungsüberschuß nach Deutschland exportieren. Er, Schmidt, habe nur eine erschrockene Abwehrbewegung mit der Hand gemacht und den Satz hervorgestoßen »Das werden Sie nie erreichen«, aber Demirel habe geantwortet: »Warten Sie ab, und Sie werden sehen«.

Beiden Staatsmännern war vermutlich nicht bewußt (wohl eher: sollte und wollte nicht bewußt werden! HB), daß das Hauptproblem der Zukunft der Menschheit vor ihnen auftauchte, nämlich das demographische, das Malthussche Problem. Noch war ... die Bevölkerungszahl der Türkei infolge der auch in der damaligen Zeit weit größeren Fruchtbarkeit der einheimischen Frauen nicht auf fast 70 Millionen angestiegen, und doch zeichneten sich schon die zwei Abgründe ab, zwischen denen die Menschheit im Zeitalter der höchstentwickelten Technik und der europäisch-amerikanischen Massenwohlfahrt werde wandeln müssen: Wenn das deutsche und im weiteren Sinne europäische Beispiel für die Weltentwicklung leitend sein würde, würde die Menschheit innerhalb weniger Jahrhunderte aussterben, sofern es nicht gelänge, auch die Zeugung von Menschen zu technisieren; wenn dagegen das türkische oder generell das islamische Beispiel diese Rolle übernehmen würde, würde noch früher die Malthussche Schreckensvorstellung realisiert sein, daß auf einen Menschen kaum auch nur ein Quadratmeter an Raum entfallen werde. Niemals hatte die technisch vergleichsweise ohnmächtige Menschheit der Vergangenheit vor solchen Gefahren für ihre Existenz gestanden. Das anschaulichste Beispiel bot und bietet Israel. Wenn es zu einer genuinen, jede Art von »Apartheit« verwerfenden Demokratie werden will, wird es angesichts der weit stärkeren Vermehrung der islamischen Palästinenser nur noch für kurze Zeit ein »jüdischer Staat« bleiben können, und der nach 50 Jahren der Unterdrückung aufgestaute Haß könnte dazu führen, daß die Juden zwar nicht »ins Meer«, wohl aber »über das Meer« getrieben würden. Ein vergleichbares Schicksal steht Europa und zunächst Deutschland bevor, wenn die »Vollmitgliedschaft« der Türkei in der EU realisiert wird und das Maghrebinische Nordafrika konsequenterweise in die Fußstapfen tritt. Es ist die wohl verhängnisvollste, wenngleich nicht zwingend notwendige Folge der Erfahrung mit dem deutschen Nationalsozialismus, daß ein ganz einfacher Gedankengang nicht nachvollziehbar zu sein scheint: »Die EU ist aus guten Gründen gewillt, keine Staaten mit einer ganz anderen Gesellschaftsordnung aufzunehmen, etwa kommunistische oder faschistische Diktaturen, aber ebenso wenig können Staaten aufgenommen werden, die eine weitaus höhere Fertilitätsrate haben als die bisherigen Mitglieder. Wenn den Franzosen von einem früher geborenen Stresemann im Jahre 1910 das Briandsche Angebot einer politischen Union gemacht worden wäre, würden sie es mit Empörung zurückgewiesen haben, denn ihnen war bewußt, daß Frankreich dann innerhalb weniger Generationen von Deutschen übernommen werden würde. Aber die Europäer von heute scheinen zu der entsprechenden und sachgerechten Entscheidung nicht fähig zu sein: daß der Gedanke eines Beitritts der Türkei nicht einmal erwogen werden kann, solange die Fertilitätsrate sich der allgemein-europäischen nicht wenigstens angenähert hat. Sobald sich gerade unter den »einfachen Menschen« der Eindruck verfestigt, ihr Land stehe im Begriff, von einem anderen Volk auf scheinbar friedlichem Wege erobert zu werden, wird es zu spät sein, den schärfsten aller Klassenkämpfe, denjenigen zwischen verschiedenen Nationen in demselben Lande, und damit bürgerkriegsähnliche Zustände zu vermeiden.

Doch schon gegen die Fragestellung wehrt sich das moralistische Denken, das in Europa weit verbreitet ist und das dahin tendiert, Malthus mit Adolf Hitler gleichzusetzen. Ist es nicht eine schlimme Ungerechtigkeit, wenn dem lebensvolleren und insofern aufsteigenden Volk von einem alternden und nicht einmal zur Selbsterhaltung fähigen Volk der Weg zur Selbstverwirklichung versperrt wird? Ist es überhaupt moralisch vertretbar, den biologisch überlegenen Völkern bzw. Kulturen Widerstand zu leisten? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht wissenschaftlich begründbar, sondern sie verlangt eine Entscheidung, die man »existenziell« nennen mag: Ich glaube, daß ein solcher Widerstand gerechtfertigt und notwendig ist, denn »alte Völker oder Kulturen« können die »jungen Völker oder Kulturen« auf vielfältige Weise belehren, und sie müssen diese nicht zuletzt vor einer der schlimmsten Vorstellungen der faschistischen Regime bewahren: daß das biologisch stärkere (oder das technisch fortgeschrittenste) Leben das Recht hat, sich durch kriegerische oder auch friedliche Invasionen einen neuen »Lebensraum« zu verschaffen. So wäre das »Nein« von heute eine »Ja« zur Zukunft Europas. Die dadurch gewonnene Chance ist jedoch zeitlich begrenzt. Wenn sich nicht ein autonomer Wille zur eigenen Zukunft in Europa zu entwickeln vermag, wird der biologistische Ansatz mit Macht sein Recht einfordern, und Europa wird auch physisch ein Ende finden, wie es ja heute schon jene Gruppierungen unbewegt ins Auge fassen, die der historischen Prägung und gar der genetischen Eigenart keinerlei Wert zuschreiben, weil sie einst zu Feindschaften und Krisen den Anlaß geführt haben.

Aber ich habe nun anscheinend die kulturelle Frage nach dem heutigen Islam durch die biologische Frage nach Lebenskraft und Lebensschwäche oder Dekadenz ersetzt. Dieser Hinweis wäre indessen nur dann richtig, wenn eine sehr einfache und altbekannte Konzeption zugrunde gelegt würde: daß junge und von der Zivilisation erst kaum berührte Völker oder Kulturkreise die überzivilisierten und dekadenten Völker bzw. Kulturkreise abzulösen oder zu verdrängen bestimmt sind. Der Islam ist jedoch alles andere als ein von der Zivilisation erst kaum berührter Kulturkreis, und die größere Fruchtbarkeit der islamischen Frauen hat, ohne Zweifel viel mit der Lehre Mohammeds zu tun, welcher jene »Unterdrückung der Frau« entspringt, die von dem westlichen Individualismus so heftig abgelehnt wird und von der man in der Tat sagen kann, sie betrachte die Frauen nicht als selbst verantwortliche Personen, sondern als eine Art Keimzellen, die gegen alle Gefahren auf das sorgfältigste geschützt werden müßten. Das würde von muslimischen Theologen kaum bestritten werden, aber sie würden wohl hinzufügen, was ein deutscher Diplomat, der zum Islam konvertiert war, mit den Worten zum Ausdruck brachte, im Islam schauten die Männer den Frauen nicht auf die Beine, sondern in die Augen. Die biologische Stärke wäre also nicht nur kulturell begründet, sondern sie schlösse auch eine moralische Überlegenheit in sich.

So läßt sich, wie ich meine, in den Augen derjenigen, die auf beiden Seiten sowohl dem bedenkenlosen Angriff wie der rückhaltlosen Selbstverteidigung ihre Zustimmung verweigern, in der Frage des Verhältnisses zweier so unterschiedlicher Denk- und Lebensformen wie des säkularisierten Europa und des immer noch religiös-politischen, dem Projekt der Welteroberung immer noch anhängenden Islam nur eine scheinbar paradoxe Doppelantwort finden: ein Nein zu kurzfristigen und nicht zuletzt strategischen Zwecken der USA dienenden Projekten wie dem baldigen Beitritt der Türkei zur »Europäischen Union« und ein Ja zu der langfristigen Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen den einst so feindlichen, aber trotz aller historischen Wandlungen in ihrer Verschiedenheit fortexistierenden Kulturen anzustreben.“ (Zitat-Ende).

 

Zitate: Hubert Brune, 2004 (zuletzt aktualisiert: 2009).

 

NACH OBEN

Anmerkungen:


Das „Liberale System“ ist laut Ernst Nolte u.a. dadurch charakterisiert, daß zu ihm wie selbstverständlich auch der Links-Sozialismus (z.B. Kommunismus, Marximus u.ä.) und der Rechts-Sozialismus (z.B. Faschismus, Nationalsozialismus [„Radikalfaschismus“, so Nolte] u.ä.) gehören. „Erst viel später wurde mir der Begriff des »Liberalen Systems« geläufíg, welches in seinem Ursprung das »europäische System« des Neben- und Miteinanders geschichtlicher Kräfte ist, die zunächst den Gegner vernichten wollen und sich doch damit begnügen müssen, ihn zu schwächen und zurückzudrängen, um dann an seiner Seite einen Platz einzunehmen, der den eigenen Erwartungen nicht entsprach, der aber das Ganze reicher und vielfältiger sein läßt, als der Teil es mit seinem Abolutheitsanspruch je hätte sein können. So erging es dem Protestantismus, der Aufklärung, dem Positivismus und der Lebensphilosophie, und schon in der Einheit des »mittelalterlichen« Katholizismus gab es eine Spaltung oder - besser - eine Differenzierung zwischen Staat und Kirche, zwischen Monarchie und Adel, zwischen Bürgerstädten und Landbevölkerung. Bis in die jüngste Zeit ist keiner dieser Faktoren völlig untergegangen ....“ (Ernst Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 340-341 **). Vgl. auch die im „Liberalen System“ enthaltenen „Liberalismus“ und „Liberismus“.

Der Begriff „Liberismus“ „sucht ein bestimmtes Entwicklungsstadium dessen zu fassen, was ich das »Liberale System« genannte habe. »Liberismus« ist ein Entwicklungsmoment dieser vielpoligen Gesellschaft, mit dem der Liberalismus in gewisser Weise totalitär wird. Aber der totalitäre Liberalismus weist grundsätzlich andere Merkmale auf als andere Totalitarismen: er ist hedonistischer Individualismus und damit die Verneinung des Begriffs der Pflicht. Insofern ist der liberale Totalitarismus von präzendenzloser Art.“ (Ernst Nolte, in: JF, 03.07.1998 **). Der Liberalismus ist ja schon von seinem Anfang an verknüpft mit dem Glauben an den Individualismus und tendiert zum Anarchismus; darum verwundert es nicht, daß er, indem er immer totalitärer wird - als „Liberismus“, so Nolte -, den endgültigen Untergang der Gemeinschaft bedeutet. Darüber hinaus ist der Liberalismus der Grund für sein eigenes Verschwinden, denn er muß ja gemäß seines Selbstverständnisses auch tolerant gegenüber denjenigen sein, die ihn abschaffen.

Zum „Ende der Geschichte“ vgl. auch: Ernst Nolte, Historische Existenz, 1998, S. 9-14 (**), S. 597-668 (**), S. 669-684 (**); ders., Der kausale Nexus, 2002, S. 257 ff. (**).


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- Literaturverzeichnis -