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Ernst Nolte (1923-2016)
- Selbstentfremdung und Dialektik im deutschen Idealismus und bei Marx (Dissertation; 1952) -
- Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Theorien über den Faschismus (Hrsg.; 1967) -
- Sinn und Widersinn der Demokratisierung in der Universität (1968) -
- Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen (1968) -
- Deutschland und der Kalte Krieg (1974) -
- Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg (1977) -
- Zwischen Geschichslegende und Revisionismus?  (Aufsatz, in: F.A.Z., 24.07.1980) -
- Der Weltkonflikt in Deutschland (1981) -
- Marxismus und Industrielle Revolution (1983) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (Aufsatz, in: F.A.Z., 06.06.1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus (1987) -
- Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten „Historikerstreit“ (1988) -
- Das Vor-Urteil als „strenge Wissenschaft“ (1989) -
- Nietzsche und der Nietzscheanismus (1990) -
- Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert (1991) -
- Martin Heidegger. Politik und Geschichte im Leben und Denken (1992) -
- Martin Heidegger und die Konservative Revolution (Aufsatz; 1992) -
- Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus (1993) -
- Die Deutschen und ihre Vergangenheiten (1995) -
- Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?  (1998) -
- Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus im 20 Jahrhundert. Ein Briefwechsel (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
- Der kausale Nexus. Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft (2002) -
- Faschismus. Von Mussolini zu Hitler (2003) -
- Die europäische Philosophie und die Zukunft Europas (Aufsatz, in: Sezession; Juli 2003) -
- Der heutige Islam - im Angriff oder in der Verteidigung? (2004)
- Carl Schmitt und der Marxismus (in: Der Staat, Band 44, Heft 2; 2005) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (Gespräch; 2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (Gespräch; 2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -
- Geschichte Europas 1848-1918. Von der Märzrevolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (2007) -
- Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus (2009)

Nolte-Zitate. Da ich Ernst Nolte für einen großartigen Geschichtsphilosophen halte, möchte ich ihm eine
separate Seite widmen und aus folgenden seiner Werke zitieren:      

 

- Der Faschismus in seiner Epoche (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 (1987) -
- Historische Existenz (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
-Der kausale Nexus (2002) -
- Der heutige Islam (2004) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -

 

 

 

Religion vom absoluten Bösen: Roger Köppel im Gespräch mit Ernst Nolte (2006)

Interview, in: Die Welt, 24.06.2006

„»Die Welt« ....

Ernst Nolte: Es ging im Kern darum, die sich abzeichnende Absolutsetzung des Dritten Reiches zu hinterfragen, um das damalige Lieblingswort zu gebrauchen. Es ging darum, einen Kontext herzustellen. Der Nationalsozialismus fiel ja nicht vom Himmel, und er kam auch nicht aus der Hölle. Daß der Nationalsozialismus eine ideologische Bewegung war, das ist unbestritten. Daß es aber eine ältere ideologische Bewegung gab - den Bolschewismus -, auf die der Nationalsozialismus ständig bezogen war, obwohl er in dieser Beziehung nicht aufging, war damals nicht selbstverständlich. Die Empörung ergab sich dadurch, daß ich für das Handeln Hitlers und seiner Leute Verstehbarkeit einklagte.

»Die Welt«: Man hat Ihnen vorgeworfen, dadurch die NS-Gräuel zu verharmlosen.

Ernst Nolte: Ich habe nichts verharmlost. Von mir hinzugefügt wurde ein neues Paradigma der geschichtlichen Interpretation. Ich griff zurück auf den Begriff des Weltbürgerkriegs. Es war paradox, daß man das Offensichtliche nicht sehen wollte: Nicht ein nationalistisches Deutschland zog unter der Führung des Super-Nationalisten Hitler aus heiterem Himmel gegen die Welt zu Felde, sondern es kämpften in Europa damals zwei tief in der Zeit verwurzelte Ideologien und die entsprechenden Bewegungen gegeneinander.

»Die Welt«: Wenn Sie sich in Ihre damaligen Gegner hineinversetzen: Worin bestand der Skandal Nolte?

Ernst Nolte: Ich scheine eine Befürchtung unter Linksintellektuellen bestätigt zu haben. Dem Historikerstreit war ein Regierungswechsel vorausgegangen, der sich selbst als »Wende« verstehen wollte. Zwar wußte jedermann, daß der neue Bundeskanzler Helmut Kohl ein überzeugter »Europäer« war und daß in der Europapolitik keineswegs größere Änderungen zu erwarten waren. Aber da die neue Regierung die Errichtung eines Museums für deutsche Geschichte angekündigt hatte, kam der Verdacht auf, Kohl wolle die deutsche Geschichte im ganzen »normalisieren«, um ein selbstbewußtes Deutschland in die EU zu führen. Das hat Leute wie Habermas sehr aufgeregt, und sie haben ihr Möglichstes getan, um das zu verhindern. Sie bekämpften ein konservatives Geschichtsbild. Leute wie Stürmer, Hillgruber und Nolte sagten, die deutsche Geschichte sei nicht einfach nur die Geschichte des Nationalsozialismus, sondern man müsse die umfassenderen Zusammenhänge sehen. Man war wohl bereit, die Verbrechen Stalins zu sehen, aber der Marxismus galt doch als eine insgesamt humane Ideologie, die in der Praxis vielleicht etwas in die Irre ging. Mein Vortrag über »Vergangenheit, die nicht vergehen will« war die Lunte am Pulverfaß.

»Die Welt«: Sie haben Gulag und Auschwitz verglichen, wenn auch nicht gleichgesetzt, wie man Ihnen fälschlich vorwarf. Es muß Ihnen aber bewußt gewesen sein, daß Sie mit Begriffen der obersten Giftklasse hantierten.

Ernst Nolte: Rückblickend bedauere ich, daß das Wort Auschwitz in meinem Artikel überhaupt vorkam.

»Die Welt« Warum haben Sie es verwendet?

Ernst Nolte: Das Wort wurde von der Gegenseite derart inflationär verwendet, daß eine Nicht-Erwähnung abwegig gewesen wäre. Ich hätte aber besser daran getan zu sagen: Roter Terror, Vernichtung der Bourgeoisie. Denn das war gemeint: Der bolschewistische Vernichtungswille, der sich damals gegen das bürgerliche Europa, gegen Deutschland richtete und einen entsprechenden Gegenimpuls auslöste. Diese Antwort mag noch verbrecherischer, unmenschlicher und schlimmer gewesen sein, aber es war gleichwohl eine Antwort. Dies zu verdrängen, war aus meiner Sicht ein Hauptanliegen der Linksintellektuellen.

»Die Welt«: Sehen Sie sich als Apologeten des Nationalsozialismus?

Ernst Nolte: Ich bitte Sie. Wenn man ein Phänomen offiziell nur schwarz auf schwarz beschreiben darf, dann muß jeder Versuch, ein paar Grautöne beizumischen, sofort als Apologie verstanden werden. Das mußte ich in Kauf nehmen. Damals setzte sich allmählich durch, die Nationalsozialisten zum absoluten Bösen zu erklären. Mit Geschichtswissenschaft hatte das nichts zu tun, eher mit dem Entstehen einer neuen Religion vom absoluten Bösen, dem wir uns entgegensetzen, um uns dadurch als Gute zu empfinden.

»Die Welt«: Haben Sie für sich eigentlich jemals eine schlüssige Erklärung dafür gefunden, warum gerade Hitler, ein Mann ohne Karriere, ein Mann aus dem Nichts, ein Gefreiter und Wirtshausredner, die Macht über eine der am höchsten entwickelten Kulturnationen des Westens erlangen konnte?

Ernst Nolte: Der Zusammenbruch im Ersten Weltkrieg hat die Deutschen im Kern erschüttert. Man hielt es nicht für möglich, daß das alte Deutschland, das sich als miltärische und kulturelle Weltmacht empfunden hatte (und auch war, und zwar in jeder Hinsicht;  HB **), nun auf einmal so gedemütigt wurde, in den Augen vieler auch vollkommen zu Unrecht darniederlag. Aus dieser Situation konnte ein Hexenkessel von Emotionen entstehen, und Hitler hat diese Emotionen mit einer Intensität erfaßt und daraus Überzeugungen abgeleitet von einer Stärke, die andere eben nicht hatten. Dann kann allerdings nicht weiter gedacht werden, ohne seine innere Beziehung zum Marxismus und zum Bolschewismus zu betrachten. Ich bin der Meinung, daß Hitler die Dinge folgendermaßen sah: Die antideutsche marxistische Bewegung wird sich durchsetzen, weil sie von einer bis ans Äußerste gehenden Entschlossenheit beseelt ist und außerdem viele Unterstützung gerade auch in Deutschland genießt. Wenn sich das Deutschland, das ihm vorschwebte, behaupten sollte, dann mußte es eine ähnliche Entschlossenheit entwickeln und auch einen Todfeind namhaft machen können wie ihn die Bolschewisten im Kapitalisten, im Bourgeois hatten. Diese Feindbestimmung wurde für die Juden - und für die Deutschen - zum großen Unglück.

»Die Welt«: Hat Hitler an seine Überzeugungen geglaubt?

Ernst Nolte: Ich würde mir das gedankliche Hilfsmittel erlauben, daß sich Hitler als derjenige Mann empfunden haben könnte, der einzig und allein imstande war, die außerordentliche Gefahr, die die bolschewistische, marxistische Bewegung für die ganze Welt bedeutete, zu erkennen und ihr dadurch zu begegnen, daß er ihre Impulse bis zu einem gewissen Grade übernahm und sich und seiner Bewegung anähnelte.

»Die Welt«: Worauf beruhte seine enorme emotionale Wirkung auf die Deutschen?

Ernst Nolte: Er wurde wohl als die Verkörperung des wiedererstandenen Deutschland gesehen. Er galt als der Mann, der das wieder besaß, was Deutschland verloren hatte.

»Die Welt«: Der Nationalsozialismus entfesselte Primitivinstinkte. Das moralische Immunsystem einer ganzen Gesellschaft brach zusammen. Wie war das möglich ?

Ernst Nolte: Es ging ja noch weiter. Es hat im Nationalsozialismus die ungeheuerliche These gegeben, daß das Gewissen eine Erfindung der Juden sei. Die Behauptung der Nationalsozialisten war, daß der jüdisch-christliche Glaube eine Distanz geschaffen habe zwischen dem Individuum und dem Kollektiv, genannt Gewissen. Diese Trennung wollten die Nationalsozialisten aufheben. Es ging schließlich um eine völlige Identifizierung mit der Staatsführung, die den individuellen Gewissensvorbehalt nicht mehr gelten lassen wollte.

»Die Welt«: Unter welchen Bedingungen konnte so etwas passieren?

Ernst Nolte: Eine Hauptbedingung ist eine gravierende, kollektive Verletzung. Ich sehe nicht, welcher Gemeinschaft heute eine derart schwerwiegende Verletzung zugefügt werden könnte, daß im Gegenzug eine so intensive Identifizierung des einzelnen mit dem Kollektiv und infolgedessen eine Abschaffung des Gewissens möglich wäre.

»Die Welt«: Sind die Deutschen besonders anfällig, sich erlöserhaften Führerfiguren auszuliefern?

Ernst Nolte: Die Deutschen setzen wohl mehr als andere Völker großes Vertrauen in ihre Führer, Kaiser, Könige. In einem ratlosen, tief niedergeschlagenen, andererseits aber von der vergangenen Größe überzeugten Volk konnte sich ein Mann durch die Stärke seiner Überzeugungen durchsetzen. Wenn man schließlich nach einem Faktor fragt, der von viel weiter herkommt, dann würde ich Marx zustimmen: Die Deutschen seien ein philosophisches Volk, das heißt ein Volk, das sich gern durch Denksynthesen führen läßt. Wir müssen nicht konstatieren, daß die Denksynthese Hitlers nicht die Denksynthese eines Hegel war. Es war eben eine Denksynthese für die Unterschicht und die untere Mittelschicht.

»Die Welt«: Existiert das Böse in der Geschichte?

Ernst Nolte: Die ganze Geschichte ist ein Gemisch von Gut und Böse, ein Gemisch von Verbot und Übertretung. Wenn allerdings die Verbote wie die Übertretungen ins Extreme tendieren, tritt »das Böse« in die Geschichte. Wir sprechen von dem Augenblick, wo der Verbietende gegenüber dem Übertretenden nicht mehr flexibel sein will, und derjenige, der die Verbote mißachtet, seine Freiheit unbegrenzt in Anspruch nehmen will. Allerdings: Kein Mensch kann das absolute Gute verkörpern, das kann nur Gott. Genauso ist es unmöglich für einen Menschen, das absolut Böse zu verkörpern. Insofern ist die heutige Rede von dem absolut Bösen ein metaphysisches Moment, das in unsere nachgeschichtliche Mittelmäßigkeit einbricht. Es wird von einigen Vertretern dieser Mittelmäßigkeit als Fahne herumgetragen, um andere Menschen zum Stillschweigen zu bringen.

»Die Welt«: Kann der Historiker ohne Kategorien von Gut und Böse auskommen? Kann Geschichtswissenschaft betrieben werden wie Insektenforschung?

Ernst Nolte: Als Maxime des Historikers galt mir von Anfang an, und ich habe spät angefangen, daß er sich auf jeden Fall um ein Verstehen bemühen muß, daß er nicht von einer absoluten Warte aus verdammen oder glorifizieren darf. Er sollte nicht zum Richter werden. Urteile sind unvermeidlich, aber Urteile, die man bis zum Richteramt forttreibt, sind nicht akzeptabel.

»Die Welt«: Wer alles versteht, will alles verzeihen.

Ernst Nolte: Ich weiß, daß diese Gefahr besteht. Und das wurde mir ja immer vorgeworfen, obschon ich mir der Gefahr stets sehr bewußt war. Daß man die großen Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten, also abgekürzt: Auschwitz, jemals verzeihen könnte, das ist mir unvorstellbar. Nur: Sie aus allem Bezug zu den Vernichtungsaktionen des Bolschewismus herauszunehmen, sie zu isolieren und damit absolut zu setzen, das darf einem Historiker nicht begegnen.

»Die Welt«: Sie sagen, Ihr Motiv sei es gewesen zu verstehen. War nicht ein ebenso wichtiges Motiv, die Deutschen mit sich und ihrer Geschichte zu versöhnen ?

Ernst Nolte: Das überwiegende Motiv meiner Arbeit war es nicht. Daß es mitgespielt hat, will ich nicht ausschließen. Alle Geschichtswissenschaft, die als bedeutend gelten kann, ist nicht nur bloß antiquarisches Feststellen, ist nicht nur Bibliographie im höheren Sinne, sondern ist immer auch Stellungnahme, ist immer auch Konzeption. Man könnte sagen, die Geschichtswissenschaft ist eine Art von Poesie. Aber es ist eine Poesie, die an Realitäten rückgebunden bleibt.

»Die Welt«: Was macht Sie so sicher, daß Sie als deutscher Wissenschaftler nicht zum Opfer einer gleichsam national und damit emotional bedingten Distanzlosigkeit geworden sind?

Ernst Nolte: Ich habe mir schon früh die Frage vorgelegt: Würdest Du, wenn Du Amerikaner wärst und sähest, wie sich eine Nation in ihren Repräsentanten auf einseitige Weise dauernd anklagt, würdest Du Dich dann als amerikanischer Historiker zum Eingreifen verpflichtet fühlen?  Ich glaube behaupten zu dürfen, ich würde auch als Amerikaner etwas an historischer Erkenntnis aufdecken wollen, was in diesem Impetus des Bereuens und des Bestrafenwollens unterzugehen droht. Deshalb habe ich für mich die Vermutung, mein Tun als Ausfluß des Nationalismus zu sehen, stets und guten Gewissens zurückgewiesen.

»Die Welt«: Was sind die treibenden Kräfte der Weltgeschichte?

Ernst Nolte: In dieser Allgemeinheit kann kein Historiker antworten. Was ich sehr hoch einschätze, sind Emotionen. Und zwar Emotionen erhebender und Emotionen gekränkter Art. Emotionen erhebender Art, zum Beispiel Bismarcks Reichseinigung. Dann Emotionen der Kränkung, der Verletzung, zum Beispiel Deutschlands Zusammenbruch 1918. Aus solchen Emotionen entspringen meines Erachtens die meisten großen Dinge in der Geschichte.

»Die Welt«: Ist Geschichte, mit Hegel, Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit?  Ist die Weltgeschichte, bei allen Opfern, letztlich die Geschichte der Überwindung großer Irrtümer ?

Ernst Nolte: Das ist der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts, der schon am Anfang des letzten Jahrhunderts in Frage gestellt wurde. Ich habe mich mit dieser Frage unter dem Begriff der praktischen Transzendenz beschäftigt. Für mich ist die grundlegende Kategorie die praktische Transzendenz, die den materiellen Fortschritt, aber auch geistige Rückschritte möglich macht.

»Die Welt«: Mit Transzendenz meinen Sie die Möglichkeit des Menschen, über sich hinauszugehen, seine Endlichkeit zu überwinden.

Ernst Nolte: Es geht darum, den Menschen als denkendes und damit über sich selbst hinausgehendes Wesen zu begreifen. Schon die Frühmenschen haben die theoretische Transzendenz gekannt, indem sie die Sonne, den Mond nicht einfach zur Kenntnis genommen haben, sondern vom Mondgott, vom Sonnengott sprachen, zu dem man in Beziehung treten kann. Das ist die theoretische Transzendenz, ohne die es eine praktische Transzendenz als Ausweitung der menschlichen Wirkungsmöglichkeiten auf der Erde nicht geben könnte. Transzendenz bringt keinen automatischen Fortschritt, sie ist das Hauptkennzeichen des endlichen Menschen und, wie ich einmal formuliert habe, zugleich »sein Thronsessel und sein Marterholz«. Man könnte diese Wendung ein Heideggersches Einsprengsel in meiner Arbeit nennen. Aber dahinter steht die Überlegung: Könnte Transzendenz, die Fähigkeit zur Selbstüberschreitung, eine Gefahr für den Menschen selber werden? Diese Frage hängt zusammen mit einem uralten philosophischen Konzept, daß nämlich ein endliches Wesen, das durch Transzendenz gekennzeichnet ist, also durch die Möglichkeit der Unendlichkeit, diese seine Endlichkeit im Streben nach Unendlichkeit zerstört. Der Mensch will Gott werden. Wenn man das säkular denkt, nicht mystisch, könnte man sagen, die Auszeichnung durch die Transzendenz könnte zur Katastrophe des endlichen Wesens Mensch werden.

»Die Welt«: Sehen Sie es nicht zu düster?  Der Mensch hat doch gelernt, mit seinen Möglichkeiten immer besser umzugehen.

Ernst Nolte: Meine Sorge ist nicht, ob der Faschismus, ob der Kommunismus wieder kommen könnte, ich halte das für unwahrscheinlich. Viel wichtiger ist die Frage: Könnte sich der Mensch in der Selbstüberschreitung gefährden? Das ist meine bewegende Sorge, und in diese bewegende Sorge habe ich meine Analysen des Faschismus, des Kommunismus gleichsam eingebettet. Das ist meistens nicht verstanden worden, weil man sich an Einzelaussagen geklammert hat, an den kausalen Nexus, an den Gulag, an Auschwitz. Im Kern ging es mir immer um diese Frage der Transzendenz und damit verbunden um die Frage, ob sich der Mensch, indem er sich überschreitet, am Ende selber abschaffen könnte. In diesem Zusammenhang hat mich während der letzten Jahre nicht selten die Frage bedrückt, ob ich nicht doch gegen meinen Willen objektiv eine Apologie Hitlers geschrieben habe, der sich ja betontermaßen als Kämpfer gegen eine drohende »Abschaffung des Menschen« betrachtete. Aber wer die Menschheit auf einer überholten Stufe der Geschichte festhalten oder dahin zurückführen möchte - Charles Maurras wollte zurück zu dem aristokratischen Ancien régime Frankreichs, Hitler zu dem angeblich in Preußen vorgebildeten voll souveränen Kriegerstaat -, kann nicht im historischen Recht sein und ist als solcher einer Apologie entzogen.

»Die Welt«: Wenn Sie noch einmal dreißig Jahre jünger wären. Was wäre Ihr Thema?

Ernst Nolte: Wenn ich auch nur zehn Jahre vor mir hätte, würde ich mich intensiv mit dem Islamismus auseinandersetzen. Mit dem Islamismus als der Verneinung der amerikanischen, der liberistischen Gesellschaft. Das wäre der Abschluß eines Lebenswerks nach Kommunismus und Faschismus nun also das dritte, wenn auch schwächste, zugleich aber erstaunlichste Phänomen des Widerstandes gegen diese sich abzeichnende Entwicklung, gegen die individualistische Uniformität der Menschheit.

»Die Welt«: Ist der Islam ein neuer Faschismus?

Ernst Nolte: Ich würde diesen Terminus nicht verwenden. Aber ich würde doch sagen, der Islamismus, also der zu extremer Politisierung neigende Islam, legt die sehr starken Abwehrreaktionen an den Tag, die im deutschen Nationalsozialismus und im Bolschewismus gegen den eindringenden Kapitalismus vorhanden waren. Vergleiche sind auf dieser Ebene denkbar, aber Gleichsetzungen sind zu vermeiden.

»Die Welt«: Hat Sie der Historikerstreit verbittert?

Ernst Nolte: Ach, es ärgert mich etwas und ich wüßte nicht, wie ich es verhindern sollte, daß ich immer und immer wieder auf die gleichen Dinge angesprochen werde, kausaler Nexus, Gulag, Auschwitz. Das ist nur ein untergeordneter Teil meiner Arbeit. Mich haben die Kategorien der historischen Existenz (**) des Menschen weit mehr und im eigentlichen Sinn beschäftigt.

»Die Welt«: Fühlen Sie sich verkannt?

Ernst Nolte: Meinen Kollegen Andreas Hillgruber haben die Angriffe sehr getroffen. Rudolf Augstein hat ihn einen »konstitutionellen Nazi« genannt, um für diese ungeheuerliche Verleumdung nicht juristisch belangt zu werden. Darunter hat Hillgruber sehr gelitten. Dem Historikerkollegen Hans-Ulrich Wehler habe ich die Angriffe auf den bereits todkranken Hillgruber nie verziehen. Was mich betrifft: Ich war ja nie ein wirklicher Zunftgenosse. Ich war jemand, der von außen kam. Die Historiker haben mich freundlich aufgenommen und für geraume Zeit als einen der ihren akzeptiert, um ihn schließlich wieder fortzustoßen. Es wurde wiederhergestellt, was von Anfang gegeben war. Ich bin ja strenggenommen auch kein Historiker, lieber ist mir, obwohl es anmaßend klingen mag, die Bezeichnung der Geschichtsdenker Ernst Nolte. So möchte ich gesehen werden. Und ich glaube, daß mein Lebenswerk, wenn es als Ganzes wahrgenommen wird, diese Bezeichnung rechtfertigt.“ (Zitat-Ende).

 

Zitate: Hubert Brune, 2007 (zuletzt aktualisiert: 2009).

 

NACH OBEN

Anmerkungen:


Der „Historikerstreit“wurde ausgelöst durch einen von Ernst Nolte (1923-2016) für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 06.06.1986 geschriebenen Artikel. Dem Text lagen Gedanken zu Grunde, die er bereits am 24. Juli 1980 in einem Artikel der FAZ geäußert hatte. Wer die „Hitlersche Judenvernichtung“ nicht in einem bestimmten Zusammenhang sehe, so schrieb Nolte, „verfälscht die Geschichte“, denn „Auschwitz resultiert nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer »Völkermord«, sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution.“ Außerdem meinte Nolte: „Es wird sich kaum leugnen lassen, daß Hitler gute Gründe hatte, von dem Vernichtungswillen seiner Gegner sehr viel früher überzeugt zu sein als zu dem Zeitpunkt, wo die ersten Nachrichten über die Vorgänge in Auschwitz zur Kenntnis der Welt gelangt waren.“ Denn bereits vor dem 1. September 1939 - also: vor Kriegsausbruch - hat Chaim Weizmann als Präsident des jüdischen Weltkongresses und der Jewish Agency for Palestine offiziell geäußert, daß: „die Juden in aller Welt in diesem Krieg auf der Seite Englands kämpfen würden.“ Dies begründe nach Noltes Meinung die These, „daß Hitler die Juden als Kriegsgefangene … behandeln und internieren durfte.“ (Rudolf Augstein u.a.: Historikerstreit, 1987, S. 24). Einen weiteren Anstoß der Debatte bedeutete für die Kritiker das Buch „Zweierlei Untergang“ des Historikers Andreas Hillgruber (1925-1989). In dem Buch parallelisierte Hillgruber den „Holocaust“ mit dem Zusammenbruch der Ostfront und der danach erfolgten Flucht und Vertreibung. – Der Historikerstreit wurde also zweimal, d.h. durch zwei Artikel von Nolte in der FAZ (24.07.1980, 06.06.1986) ausgelöst, obwohl ihm ja Gedanken aus dem Artikel vom 06.06.1986 zugrunde liegen. Der Wissenschaftler behauptet darin, der Archipel Gulag habe „das logische und faktische Prius“ vor Auschwitz, das heißt, der „Rassenmord“ der Nationalsozialisten sei nur aus Furcht vor dem älteren „Klassenmord“ der Bolschewisten entstanden. Der Mord an den Juden, der schon in seinen älteren Thesen nicht zum Wesenskern des Faschismus gerechnet wurde, sei nur eine „überschießende Reaktion“ auf die Gräuel der Oktoberrevolution und habe damit einen „rationalen Kern“. Diese These erweiterte er zur Behauptung eines „europäischen Bürgerkriegs“ von 1917 bis 1945. Nolte rückt hier Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus recht eng aneinander, weshalb seine Thesen nach Meinung der Kritiker auf eine nivellierende Variante der Totalitarismusthese oder gar Geschichtsrevisionismus hinauslaufen. Auch stilisiert er den von jüdischer Seite als Reaktion auf antisemitische Ausschreitungen gestarteten Boykott deutscher Waren im Ausland und die Bekanntgabe einer „Kriegserklärung“ für einen Finanz- und Wirtschaftskrieg im Daily Express vom 24.03.1933 sowie die Loyalitätsbekundung Chaim Weizmanns von 1939 für England zur Kriegserklärung der Juden an das Deutsche Reich und erklärt so die mit Kriegsbeginn eskalierende Judenverfolgung des NS-Regimes als eine „Gegenmaßnahme“. - „Gerade diejenigen, die am meisten und mit dem negativsten Akzent von »Interessen« sprechen, lassen die Frage nicht zu, ob bei jenem Nichtvergehen der Vergangenheit auch Interessen im Spiel waren oder sind. Etwa die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem permanenten Status des Herausgehoben- und Privilegiertseins. Die Rede von der »Schuld der Deutschen« übersieht allzu geflissen die Ähnlichkeit mit der Rede von der »Schuld der Juden«, die ein Hauptargument der Nationalsozialisten war. Alle Schuldvorwürfe gegen »die Deutschen«, die von Deutschen kommen, sind unaufrichtig, da die Ankläger sich selbst oder die Gruppe, die sie vertreten, nicht einbeziehen und im Grunde bloß den alten Gegnern einen entscheidenden Schlag versetzen wollen.“ (Ernst Nolte, Die Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: F.A.Z., 06.06.1986 **).

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- Literaturverzeichnis -