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Prägnant und möglichst knapp formulierte Gedanken

von

Rüdiger Safranski (*1945)

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„Im Sommer 1913 promoviert er in der Philosophie mit dem Thema DIE LEHRE VOM URTEIL IM PSYCHOLOGISMUS. - In dieser Arbeit erweist sich Heidegger als fleißiger und gelehriger Schüler Husserls, dessen »Logische Untersuchungen« bei ihm mächtig nachwirken. Mit Husserl streitet er gegen die Vertrter des Psychologismus, gegen den Versuch also, das Logische aus dem Psychologischen zu erklären. .... Die Auseinandersetzung mit dem Psychologismus zwingt ihn zum ersten Mal zu einer Reflexion über das große Problem seines späteren Hauptwerkes: die Zeit.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 59

„Das Denken ... geschieht in der Zeit, beansprucht Zeit. Der logische Gehalt des Denkens aber, so sagt Heidegger mit Husserl, gilt unabhängig von der Zeit.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 60

„Der Anstoß, zumindest zu einem Teil von SEIN UND ZEIT fertigzumachen, war von außen gekommen. Nicolai Hartmann hatte 1925 die Berufung nach Köln angenommen, und die Marburger Fakultät wollte den Extraordinarius Heidegger zum ordentlichen Ordinarius machen. Die Berufungskommission übt nun einen sanften Druck auf Heidegger aus, er möge doch endlich eine neue Arbeit zur Veröffentlichung vorlegen. Man bezieht sich dabei auf eine Ausage Hartmanns, der darauf hingewi4sen hatte, daß »eine ganz hervorragende Arbeit Heideggers« unmittelbar vor dem Abschluß stehe. Dieser Hinweis genügt der Philosophischen Fakultät, um Hediegger am 5. August für die Nachfolge Hartmanns vorzuschlagen. Aber aus Berlin am 27. Januar 1926 ein ablehnender Bescheid. Der Kultusminister Becker schreibt: »Bei aller Anerkennung der Lehrerfolge des Professors Heidegger erscheint es mir doch nicht angängig, ihm eine etatmäßige ordentliche Professur von der historischen Bedeutung des dortigen Lehrstuhls für Philosophie zu übertragen, bevor nicht große literarische Leistungen die besondere Anerkennung der Fachgenossen gefunden haben, die eine solche Berufung erheischt.« Am 18.Juni 1926 schreibt die Philosophische Fakultät nochmals an das Ministerium mit der Bitte, den Professor Heidegger zu berufen. Er habe in der Zwischenzeit eine größere Arbeit zum Drucke gebracht. Druckbogen liegen bei. Am 25. November kommen die Druckbogen zurück. Das Ministerium bleibt bei seiner Entscheidung. Anfang 1927 erscheint dann SEIN UND ZEIT als Sonderdruck des von Husserl und Max Scheler herausgegebenen »Jahrbuches für Philosophie und Phänomenologische Forschung«. Jetzt begreift endlich auch das Ministerium, was da für ein Werk das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. Am 19. Oktober 1927 erhält Heidegger den ersten ordentlcihen Lehrstuhl für Philosophie.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 166-167

„Es war ein leidiges Hin und Her - Heidegger am 24. April 1926 an Jaspers: »Die ganze Geschichte ist ... mir gänzlich gleichgültig« - aber immerhin haben diese Umstände Heidegger gezwungen, sein Werk zur Veröffentlichung zu geben, auch wenn es für ihn noch nicht fertig war. Jaspers bekommt nach und nach die Druckbogen übersandt mit Heideggers eher bescheidenen Kommentaren. Am 24. Mai 1926: »Im Ganzen ist es für mich eine Übergangsarbeit ...«. Am 21. Dezember 1926: Er schätze die Arbeit nicht »übermäßig hoch ein, habe aber auf ihrem Grunde verstehen gelernt ..., was Größere wollten«. Am 26. Dezember 1926: »Mehr wird mir die Arbeit überhaupt nicht einbringen, als was ich schon von ihr besitze: daß ich für mich selbst ins Freie gekommen bin und mit einiger Sicherheit und Direktion Fragen stellen kann.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 167

„Im Frühjahr 1927 liegt die Mutter Heideggers im Sterben. Heidegger äußert Jaspers gegenüber, welchen Kummer es ihm bereitet, in den Augen der frommen Mutter als ein vom Glauben abgefallener Sohn erscheinen zu müssem: »Daß ich für sie eine schwere Sorge bin und das Sterben schwer mache, werden Sie ungefähr ermessen. Die letzte Stunde, die ich bei meiner Mutter verbrachte ... war ein Stück ›praktischer Philosophie‹, das mir bleiben wird. Ich glaube, den meisten ›Philosophen‹ ist die Frage Theologie und Philosophe oder besser Glaube und Philosophie - eine reine Schreibtischfrage.« (Briefwechsel, 01.03.1927, S. 73).  –  Es ist in diesen Wochen des Sterbens der Mutter, daß Heidegger am 9. März 1927 in Tübingen einen Vortrag zum Thema PHÄNOMENOLOGIE UND THEOLOGIE hält, den er ein Jahr später in Marburg in überarbeiteter Form wiederholt. Dort spricht Heidegger davon, »daß der Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur Philosophie gehörigen ... Existenzform der Todesfeind bleibt.« Dieser Gegensatz schließe jedoch kein »gegenseitiges Ernstnehmen und Anerkennen« aus, aber das sei eben nur möglich, wenn die Differenz festgehalten und nicht verwischt werde. Christliche Philosophie sei ein »hölzerenes Eisen«. Philosophie muß sich auf sich selbst verlassen können »als das freie Fragen des rein auf sich gestellten Daseins«. (Vgl. ebd., S. 65 und 66).  –  So versteht er Philosophie. Mit SEIN UND ZEIT glaubt er, bei ihr angekommen zu sein. Und deshalb legte er der Mutter (sie starb am 3. Mai 1927; HB) beim Abschied das Handexemplar des soeben erschienenen Werkes aufs Totenbett.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 167-168

„Und nun die Eigentlichkeit selbst. Sie ist die Negation der Negation. Sie widersteht der Neigung zur Flucht, zum Ausweichen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 188

„Eigentlichkeit ... bedeutet, noch einmal zur Welt kommen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 188

„Eigentlichkeit entdeckt keine neuen Daseinsgebiete. Alles kann bleiben und wird auch wohl so bleiben, wie es war, nur die Haltung dazu hat sich geändert.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 188

„SEIN UND ZEIT war ein Torso. Zwei Teile waren geplant. Noch nicht einmal der erste wurde fertig, obwohl Heidegger unter Termindruck zuletzt Tag und Nacht daran arbeitete. Es war wohl das einzige Mal in seinem Leben, daß er sich tagelang nicht mehr rasierte. Doch er hat alle Themen der in SEIN UND ZEIT angekündigten, aber nicht aufgeführten Kapitel nach und nach bearbeitet. Eine Skizze des fehlenden dritten Abschnitts des ersten Teils zum Thema Zeit und Sein trägt er noch im Sommer 1927 vor im Rahmen der Vorlesung DIE GRUNDPROBLEME DER PHÄNOMENOLOGIE. Den noch ausstehenden großen zweiten Teil von SEIN UND ZEIT - vorgesehen war die Destruktion exemplarischer Ontologien bei Kant, Descartes und Aristoteles - arbeitet Heidegger in den folgenden Jahre zu Einzelschriften oder Vorlesungen aus: 1929 erscheint KANT UND DAS PROBLEM DER METAPHYSIK, 1938 wird der WELTBILD-Vortrag gehalten (später wird dieser unter dem Titel »Die Zeit des Weltbildes« erscheinen; HB) mit der Kritik des Cartesianismus; die Auseinandersetzung mit Aristoteles führt er in Vorlesungen weiter.  –  In diesem Sinne ist SEIN UND ZEIT weitergeführt und auch abgeschlossen worden.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 197

„Auch die sogenannte Kehre, von der Heideggerschule später so mystifiziert, wird noch im Rahmen dieses Projektes anvisiert. In der LOGIK-Vorlesung vom Sommersemester 1928 (der genaue Titel: »Metpahysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz; HB) wird sie zum ersten Mal als Aufgabe genannt: Die temporale Analytik ist zugleich die Kehre (in: GA, 26, 201). Diese Kehre bedeutet: Die Analytik des Daseins »entdeckt« zuerst die Zeit, kehrt sich dann aber zurück auf das eigene Denken - unter dem Gesichtspunkt der begriffenen Zeit. Das Denken der Zeit bedenkt die eigene Zeitlichkeit des Denkens. Dies nun allerdings nicht im Sinne einer Analyse der historischen Umstände - darin liegt für Heidegger nicht der Kern der Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit des Daseins vollzieht sich, wie wir schon wissen, in der Sorge. Sorgend lebt das Dasein in seinen offenen Zeithorizont hinein, besorgend und versorgend auf der Suche nach Haltepunkten und Verläßlichkeiten im Fluß der Zeit. Solche Haltepunkte können sein: Arbeit, Rituale, Institutionen, Organisationen, Werte. Solche Haltepunkte aber müssen für eine Philosophie, die sich zum Bewußtsein ihrer eigenen Zeitlichkeit »gekehrt« hat, alle subtsanzhafte Würde verlieren. Indem die Philosophie den Strom der Zeit entdeckt, kann sie nicht mehr anders, als sich selbst als Teil davon zu begreifen. Ihrer universalistischen, zeitenthobenen Prätentionen beraubt, entdeckt diese »gekehrte« Philosophie, daß, wenn der Sinn des Seins die Zeit ist, es auch keine Flucht aus der Zeit in ein verläßliches Sein geben kann. Die Fluchtwege sind abgeschnitten; Philosophie gibt keine Antworten mehr, sie kann sich nur noch verstehen als besorgtes Fragen. Philosophie ist nichts anderes als Sorge in Aktion, Selbstbekümmerung, wie Heidegger sagt. Philosophie hat wegen ihrer Weisheisprätentionen eine besonders schwer duchschaubare Art, sich etwas vorzumachen. Philosophierend will Heidegger der Philosophie auf die Schliche kommen. Was kann sie denn überhaupt leisten? Heidggers Antwort: Sie kann, indem sie die Zeit als Sinn entdeckt, die Sinne schärfen für das pochende Herz der Zeit - für den Augenblick. Die Kehre: nach dem Sein der Zeit nun also die Zeit des Seins. Die aber balanciert auf der Spitze des jeweiligen Augenblicks.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 197

„Wenn die Angst das Initiationserlebnis der Eigentlichkeit ist, dann gehört das berühmte Heideggersche Vorlaufen zum Tod bereits zum Gelingen dieser Eigentlichkeit. Dehalb hat das Todeskapitel im ausgeklügelten Aufbau von SEIN UND ZEIT seinen Platz im Abschnitt über das mögliche Ganzsein des Daseins - ein anderer Terminus für Eigentlichkeit.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 188

„Dieser neue Ton der existentiellen Aktionsphilosphie übte damals eine gewaltige Wirkung aus auf die Hörer. Heinrich Wiegang Petzet, der als Student die Antrittvorlesung WAS IST METAPHYSIK? erlebtem berichtet: »Es war, als spalte ein riesiger Blitz jenen dunkel verhangenen Himmel ..., in einer fast schmerzenden Helle lagen die Dinge der Welt offen da ..., es ging nicht um ein ›System‹, sondern um Existenz. .... Es hatte mir die Sprache verschlagen,als ich die Aula verließ. Mir war, als hätte ich einen Moment auf den Grund der Welt geblickt.«.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 204

„Es ist so, Heidegger will seine Zuhörer zwingen, für einen Augenblick »auf den Grund der Welt« zu blicken.  –  Der Grund, die Begründung, alle diese Sätze vom zrueichenden grund, die wissenschaftliche Einstellung und dads alltägliche Lebensgefühl - wo man hinblickt: überall meldet sich das Bedürfnis, auf fetsem Boden zu stehen. Heidegger läßt die verschiedenen Varianten von Solidität und Behaustheit mit leicht spöttischem Unterton Revie passieren. Wie aber steht es mit dem Nichts? - fragt er dazwischen. Wer radikal nach dem Grund und den Gründen fragt, muß der nicht irgendwann einmal entdecken, daß der Grund ein Abgrund ist? Daß ein Etwas sich vor uns nur abheben kann auf dem Hintergrund des Nichts?“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 204-205

„Heidegger bleibt dem Nichts auf der Spur. Er kann es aber nicht argumentativ aufweisen, er muß eine Erfahrung wachrufen (ein Argument ist auch eine Erfahrung; HB). Die Angst offenbart das Nichts. Wir schweben in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im ganzen zum Entgleiten bringt. (WM, 35).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 205

„Dieses Entgleiten ist beengend und entleerend zugleich. Entleerend, weil alles seine Bedeutung verliert und nichtig wird, Beengend, weil das Nichtige ins Selbstgefühl eindringt. Angst entleert, ud diese Leere beengt: das Herz krampft sich zusammen. Die äußere Welt verdinglicht sich, erstarrt in Leblosigkeit, und das innere Selbst verliert sein Aktionszentrum, es depersonalisiert sich. ANgst ist Verdinglichung draußen und Depersonalisierung drinnen. Darin liegt, daß wir selbst - diese seienden Menschen - inmitten des Seienden uns mitentgleiten. Daher ist im Grunde nicht »dir« oder »mir« unheimlich, sondern »einem« ist es so. (WM, 35).
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 205

„An diesem Nullpunkt der Angst vollzieht Heidegger nun eine überraschende Wende. Dieses augenblickliche Versinken ins Nichts nennt er ein Hinaussein über das Seiende (WM, 38). Es ist ein Akt des Transzendierens, wodurch es uns überhaupt erst möglich ist, vom Seienden als einem Ganzen zu sprechen. Natürlich können wir auch abstrakt das Thema des Ganzen ansprechen. Wir bilden rein gedanklich einen Über- oder Sammelbegriff: totum, das Ganze. Doch das so verstandene Ganze hat keine erlebte Wirklichkeit, es ist nur Begriff ohne Gehalt. Erst wenn das beängstigende Gefühl aufkommt, daß es nichts auf sich hat mit diesem Ganzen, wird es zur erlebten Wirklichkeit, die nicht auf uns zukommt, sondern von uns wegleitet. Wem die Wirklichkeit in der Angst entgleitet, der erfährt darin das Drama des Abstandes. Der ängstigende Abstand beweist, daß wir nicht ganz von dieser Welt sind, daß wir über sie hinausgetrieben werden, abgetrieben, nicht in eine andere Welt, sondern in eine Leere. Mitten im Leben sind wir von Leere umfangen. In der Transzendenz dieses leeren Spielraums, der sich zwischen uns und der Welt auftut, erfahren wir die Hineingehaltenheit in das Nichts (WM, 38). Jede Warum-Frage zehrt von jener letzten Frage: Warum ist Etwas und nicht vielmeghr Nichts? Wer sich selbst oder die Welt wegdenken kann, wer nein sagen kann, handelt (nein: denkt und spricht! HB) in der Dimension des Nichtens. Er beweist, daß es das gibt: das Nichts. Der Mensch ist, sagt Heidegger, Platzhalter des Nichts (WM, 38).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 205-206

„Die Transzendenz des Daseins ist also - das Nichts.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 206

„In der Angst der Leere verliert man eine Welt und erfährt doch, wie aus dem Nichts stes wieder eine neue Welt geboeen wird. Durch die Angst hindurch kann man wieder neu zur Welt kommen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 206

„Heidegger beginnt seinen Kursus bei den Steinen. Der Stein ist weltlos. .... Bei der Beschreibung des Weltverhältnisses der Tiere folgt Heidegger vor allem den Forschungen von Jakob von Uexküll. Er nennt das Tier weltarm. Seine Umwelt ist ein Umring, von dem die Triebe des Tieres benommen sind (GA 29/39, 347).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 228

„Welt ist für das Tier Umwelt.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 228

„Diese »Umwelt« als erweiterter Körper nennt Heidegger den Enthemmungsring. Das Tier reagiert auf das, was diesen Ring durchbricht; es reagiert auf ein Etwas und ist insofern darauf bezogen, aber es nimmt das Etwas nicht als dieses bestimmte Etwas wahr, mit anderen Worten: es nimmt nicht wahr, daß es etwas wahrnimmt.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 228

„Das Tier hat eine bestimmte Offenheit für die Welt, doch kann ihm die Welt nicht als Welt offenbar werden. Das geschieht erst im Menschen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 228

„Diese Vertrautheit mit dem Möglcihsein und dem Nichts - was es im Weltbezug des Tieres nicht gibt - zeigt den gelockerten Weltbezug, den Heidegger weltbildend nennt.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 229

„So wie Max Scheler in seinem anthropologischen Entwurf »Die Stellung des Menschen im Kosmos« die geistige Personalität des Menschen gedeutet hatte im Anschluß an Schellings Idee des in dem und durch den Menschen werdenden Gottes, so knüpft Heidegger am Ende seiner Vorlesung an einen anderen großen Gedanken Schellings an: Die Natur schlägt im Menschen die Augen auf und bemerkt, daß sie das ist. Diesem Schellingschen Lichtblick (GA 29/30, 529) nennt Heidegger die offene Stelle, die sich im Menschen inmitten des natgurhaft verschlossenen Seienden aufgetan hat.Ohne den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre vorhanden, aber es wäre nicht  –  da. Im Menschen ist dei Natur zur Selbstsichtbarkeirt durchgebrochen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 229

„Diese Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 - wohl die bedeutendste, die Heidegger gehalten hat, und schon fast ein zweites Hauptwerk, hatte mit der Wirkung und Analyse der Langeweile begonnen, dieser Stimmung fahler Entrücktheit. Mit dem Umschlag dieser gelangweilten Enrücktheit in die ganz andere des Enhusiasmus endet die Vorlesung.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 229-230

„Seit 1930 spricht er in den Briefen an Elisabeth Blochmann und an Jaspers häufig von der Notwendigkeit eines neuen Anfangs, aber auch von den Zweifeln, ob ihm ein solcher neuer Anfang gelingen würde.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 239

„Und dieser völkische Singular wird unter das Existenzideal des Selbsteins gestellt, ein Ideal, das »eigentlich« an dem auf sich sich selbst zurückgeworfenen einzelnen entwickelt worden war. Die Urforderung alles Daseins, daß es sein eigenes Wesen behalte und rette, überträgt Heidegger bei der »Kundgebung der deutschen Wissenschaft für Adolf Hitler« am 11. November 1933 in Leipzig ausdrücklich auf das Volk, das sein eigenes Wesen behalten und retten muß. Wodurch ist es bedroht? Durch die Demütigungen des Versailler Vertrages (Diktates! HB), durch die Abtrennung deutscher Gebiete, durch die Reaparationen. Welche Organisation sanktioniert dieses Unrecht? Der Völkerbund. Und deshalb war es richtig, daß Adolf Hitler den Austritt aus dem Völkerbund erklärte und nun vom Volk in einem Plebiszit (verbunden mit der Wahl des Reichstags mittel Einheitsliste) die nachträgliche Zustimmung für diesen Schritt einholt. Diesem politischen Manöver erteilt Heidegger mit seiner vom einzelnen aufs Volk verschobenen Eigentlichkeitsphilosophie die höchsten Weihen: Urforderung des Daseins.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 299

„Die Rede vom November 1933 ist angewandte Fundamentalontologie. In der Logik-Vorlesung vom Sommer 1934 (LOGIK ALS DIE FRAGE NACH DEM WESEN DER SPRACHE, Sommersemester 1934) ... hat Heidegger ausdrücklich über diese Verwandlung der Je-meinigkeit in die »Je-unsrigkeit« refelktiert. Das Selbst, so sagt er, ist keine zureichende Bestimmung des Ich. Fundierend vielmehr ist das Wir-selbst. Beim Bemühen um das Ich-selbst verliert der einzelne den Boden unter den Füßen, er steht in der Verlorenheit des Selbst, weil er das Selbst am falschen Ort, nämlich im losgelösten Ich sucht. Zu finden ist es nur im Wir, allerdings ist nicht jede Ansammlung von Menschen - ein Kegelklub, eine Räuberbande - schon ein solches Wir. Die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit gibt es auch auf der Ebene des Wir. Das uneigentliche »Wir« ist das Man, das eigentliche »Wir« ist das Volk, das sich wie ein Mann behauptet. Ein Volksganzes ist also ein Mensch im Großen (L, 26 ff,.).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 300

„Was den Griechenland-Traum betrifft, den Heidegger mit der nationalsozialistischen Revolution verwirklichen wollte, so hatte Nietzsche darüber schon ein halbes Jahrhundert zuvor das Notwendige gesagt:
»Die deutsche Philosophie als Ganzes – Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen – ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen – ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überallhin, in alle Heimaten und »Vaterländer«, die es für Griechen-Seelen gegeben hat! Freilich: man muß sehr leicht, sehr dünn sein, um über diese Brücken zu schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit von »Druck und Stoß«, von der mechanischen Tölpelei der Naturwissenschaften, von dem Jahrmarkts-Lärme der »modernen Ideen«! Man will zurück, durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Altertums, das Christentum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werturteile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen – immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europas Herr geworden ist und welcher an dem großen »ungeistigen Menschen«, an Luther, seinen Anführer hatte: – in diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille fortzufahren in der Entdeckung des Altertums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor allem der Vorsokratiker – der bestverschütteten aller griechischen Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später urteilen wird, daß alles deutsche Philosophieren darin seine eigentliche Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein, und daß jeder Anspruch auf »Originalität« kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnis zu jenem höheren Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst gearteten Typus »Mensch«. Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras erfunden hat, – wir werden von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Wertschätzungen, gleichsam als gräzisierende Gespenster: aber dereinst hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!« (Friedrich Wilhelm Nietzsche, Der Wille zur Macht, 284-286).
Heidegger wollte, wie wir inzwischen wissen, die Wiederkehr des Griechtums im  g e s e l l s c h a f t l i c h e n  Leibe: die Revolution als die Wiederherstellung der ursprünglichen Macht des Aufbruchs der griechischen Philosophie (Rektoratsrede).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 312

„Der andere Ort: die Privinz, Todtnauberg. Auf seiner Schwarzwaldhöhe hatte Heidegger sich seinem griechischen Traum nahe gefühlt, von dorther war er herabgestiegen ins politische Flachland, dem er etwas abgewinnen konnte, weil es sich im Aufruhr befand - denn: Alles Große steht im Sturm.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 313

„In den Monaten seiner politischen Aktivität muß Heidegger die schmerzhafte Erfahrung machen, daß er die beiden Welten - die, in der er lebt, und die, in der er denkt - nicht so zusammenzubringen kann, wie er sich das wünscht. Es ist viel gelästert worden über Heidggers Rundfunkvortrag vom März 1934, der die öffentliche Absage an Berlin enthielt: SCHÖPFERISCHE LANDSCHAFT: WARUM BLEIBEN WIR IN DER PROVINZ?. Man hat häufig nur eine iedeologisierte Heimat- und Bauernromantik darin sehen wollen. Doch auf seine Weise gibt Heidegger hier wirklich Auskunft über eine einfache, aber für ihn sehr wesemtliche Erfahrung: »Meine ganze Arbeit ... ist von der Welt dieser Berge und Bauern getragen und geführt. Zuweilen ist jetzt die Arbeit dort oben für längere Zeit unterbrochen durch Verhandlunegn, Vortragsreisen, Besprechungen und die Lehrtätigkeit hier unten. Aber sobald ich wieder hinaufkomme, drängt sich schon in den ersten Stunden des Hüttendaseins die ganze Welt der früheren Fragen heran, und zwar ganz in der Prägung, in der ich sie verließ. Ich werde einfach in die Eigenschwingung der Arbeit versetzt und bi ihres verborgenen Gesetzes im Grunde nicht mächtig.« (D, 11)“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 313

„Heidegger bemerkt und gesteht sich ein, daß die Welt seines Lebens und seines Denkens in der Hütte von Todtnauberg, und eigentlich nur dort, zur Übereinstimmung kommen. Nur im Hüttendasein wird die ganze Welt der früheren Fragen, dieses Wiederholen des griechischen Anfangs, zur lebendigen Wirklichkeit; nur dort west sie an, wie Heidegger zu sagen pflegt.. Deshalb ist er auch erleichtert, nach dem Scheitern des Rektorats wieder an diese Ortschaft seines Denkens zurückkehren zu können. »Zurück aus Syrakus?« soll Wolfgang Schadewaldt anzüglich gefragt haben bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße. In Syrakus hatte Platon bekanntlich seine Staatsutopie verwirklichen wollen und war dabei nur mit großem Glück der Sklaverei entronnen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 313

„Als Heidegger am 23. April 1934 vom Rektorat zurücktritt, gibt er eine politisch exponierte Stellung auf ....“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 313

„Im Wintersemester 1934/’35 hält er seine erste Hölderlin-Vorlesung. Von nun an wird Hölderlin ein ständiger Bezugspunkt seines Denkens bleiben. Bei Hölderlin will Heidegger herausfinden,w as es auf sich hat mit dem Göttlichen, das uns fehlt, und mit einer »Politik«, die über den Geschäften des Tages steht.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 317

„Seine Hölderlin-Exegese hat drei Schwerpunkte. Es geht, nach dem Scheitern der eigenen Macht-Politik, um das Wesen der Macht und um die Hierarchie der Daseinsmächte. Dichten, Denken und Politik .... Zweitens will Heidegger mit Hölderlin eine Sprache finden für das, was uns fehlt. Er zitiert Hölderlin als wortmäßigen Zeugen unseres Mangels an Sein (»Götternacht« {Hölderlin}) und als Vorboten einer möglichen Überwindung dieses Mangels. Und drittens will er über das Medium Hölderlin, diesen Dichter des Dichtens, sein eigenen Tun begreifen, das Denken des Denkens. Er spiegelt sich selbst in Hölderlin, vor allem in dessen Scheitern. Er zeichnet indirekt ein Bild von sich, wie er sich sieht und wie er gesehen werden möchte.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 319

„In seiner Vorlesung kommentiert er die beiden späten Hölderlin-Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«. Heidegger zitiert als Grundgedanken seiner ganzen Auslegung einen Aphorismus Hölderlins: »Meist haben sich Dichter zu Anfang oder zu Ende einer Weltperiode gebildet. Mit Gesang steigen die Völker aus dem Himmel ihrer Kindheit ins thätige Leben, ind Land der Cultur. Mit Gesang kehren sie da zurück ins ursprüngliche Leben.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 319

„Nun setzt Heidegger die kulturstiftende Tat des Dichtens in Beziehung zu den anderen großen Stiftungstaten: die philosophische Welterschließung und die Gründung eines Staates. Die Grundstimmung, und das heiß die Wahrheit des Daseins eines Volkes, wird ursprünglich gestiftet durch den Dichter. Das so enthüllte Seyn des Seienden aber wird als Seyn begriffen ... durch den Denker, und das so begriffene Seyn wird ... in die  b e - s t i m m t e  geschichtliche Wahrheit gestellt dadurch, daß das Volk zu sich selbst als Volk gebracht wird. Das geschieht durch die Schaffung ... des Staates durch den Staatsschöpfer. (GA, 39, 144).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 319

„Dieses Europa Verblendung immer auf dem Sprunge, sich selbst zu erdolchen, liegt heute in der großen Zange zwischen Rußland auf der einen und Amerika auf der anderen Seite. Rußland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen. Wenn die hinterste Ecke des Erdballs technisch erobert und wirtschaftlich ausbeutbar geworden ist, wenn jedes beliebige Vorkommnis an jedem , beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit beliebig schnell zugänglich geworden ist, ...wenn Zeit nur noch Schnelligkeit, Augenblicklichkeit und Gleichzeitigkeit ist und die Zeit als Geschichte aus allem Dasein aller Völker geschwunden ist, wenn der Boxer als der große Mann eines Volkes gilt, wenn die Millionenzahl von Massenversammlungen ein Triumph sind- dann, ja dann greift immer noch wie ein Gespenst über all diesen Spuk hinweg die Frage: wozu? -wohin? -und was dann? (EM, 28-29).  –  Aber der Geist des Aufbruchs ist auch bedroht von innen -durch den Rassismus (organisatorische Lenkung der Lebensmasse und Rasse eines Volkes).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 324-325

„In der nationalsozialistischen Revolution hatte er eine Kraft des Widerstandes gegen die unheilvolle Entwicklung der Moderne gesehen. Das machte für ihn die innere Wahrheit und Größe dieser Bewegung (EM, 152) aus. Aber 1935 sieht er die Gefahr, daß die besten Impulse dieser Bewegung verspielt werden und der trostlosen Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen (EM, 28) zum Opfer fallen. In dieser Situation muß der Philosoph die ursprüngliche Wahrheit des revolutionären Aufbruchs bewahren und verteidigen. Er muß sich aber mit Geduld wappnen. Die Philosophie ist wesenhaft unzeitgemäß, weil sie zu jenen wenigen Dingen gehört, deren Schicksal es bleibt, nie einen unmittelbaren Wiederklang in ihrem jeweiligen Heute finden zu können und auch nie finden zu dürfen. (EM, 6).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 325

„Mit keinem Wort aber geht Heidegger darauf ein, daß er selbst der Versuchung, einen unmittelbaren Wiederklang hervorrufen zu wollen, kurz zuvor erlegen war. Nach der mißlungenen Machtergreifung der Philosophie kehrt Heidegger jedenfalls wieder zurück zur einsamen Philosophie, die, wie das Vorbild Hölderlin, die epochale Gefahr der Weltverdüsterung einzelkämpferisch zu bannen versucht. Das hat er bei seinem gescheiterten Ausflug in die Politik doch gelernt: Die Vorbereitung des Wahren geschieht nicht über Nacht. Das Offenbarwerden des Seyns ereignet sich zwar jetzt schon gelegentlich in der Philosophie, in seiner Philosophie, aber ehe dieses Geschehnis ausstrahlt in die ganze Gesellschaft und sie von Grund aus umgestaltet, wird noch eine lange Zeit verstreichen, die gerade deshalb eine dürftige Zeit bleibt. An solchem Ort der metaphysischen Not müssen die Geister, ob Hölderlin oder Heidegger, aushalten, um die Erinnerung an das, was noch aussteht, wachzuhalten. “
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 325-326

„Heidegger hält also an seiner philosophischen Phantasie fest, er beginnt aber, sie aus ihrer Verstrickung in die nationalsozialistische Politik zu lösen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 326

„Der real existierende Nationalsozialismus wird für ihn immer mehr zu einem System der verratenen Revolution, die für ihn ja eine metaphysische Revolution war, ein Offenbarwerden des Seyns auf dem Boden einer völkischen Gemeinschaft. So muß der authentische Nationalsozialist, als der sich Heidegger auch weiterhin fühlt, zum Denker in dürftiger Zeit werden.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 326

„Aus dem Scheitern des Rektorats macht Heidegger das Beste: Er schreibt sich in seine Seinsgeschichte ein als Herold, der zu früh gekommen ist und deshalb in die Gefahr gerät, von seiner Zeit zerrieben und verworfen zu werden. Ein Bruder Hölderlins.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 326

„Bei den letzten freien Wahlen am 6. November 1932 hatten die Nationalsozialisten 33,5 Prozent der Stimmen gewonnen. Bei der Wahl vom 5. März 1933, nach Reichstagsbrand, Ausschaltung der KPD und massiver Einschüchterung der übrigen Opposition, brachte die NSDAP immer noch nicht die Mehrheit des Volkes hinter sich. Bei der Reichstagswahl vom 12. November 1933, als es nur eine Einheitsliste gab, verbunden mit einem Plebiszit über den Austritt aus dem Völkerbund, stimmten dann 92 Prozent für die NSDAP. Dieses Wahlergebnis wird die Stimmung im Volk sicherlich nicht zutreffend widergespiegelt haben: so groß war die Zustimmung zu Hitler zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber für die späten dreißiger Jahre wird man vermuten dürfen, daß die überwältigende Mehrheit des Volkes Hitlers Politik im großen und ganzen unterstützte. Und zwar nicht deshalb, weil Terror, Gleichschaltung und Einschüchterung so wirkungsvoll gewesen wären, sondern weil Hitlers Politik zu diesem Zeitpunkt in den Augen der übergroßen Mehrheit sich als erfolgreich erwiesen hatte. Am 28. April 1939 gibt Hitler in einer großen Rede ein Resümee dieser Erfolge: »Ich habe das Chaos in Deutschland überwunden, die Ordnung wiederhergestellt, die Produktion auf allen Gebieten unserer nationalen Wirtschaft ungeheuer gehoben. .... Es ist mir gelungen, die uns allen so zu Herzen gehenden sieben Millionen Erwerbslosen restlos wieder in nützliche Produktionen einzubauen. .... Ich habe das deutsche Volk nicht nur politisch geeint, sondern auch militärisch aufgerüstet, und ich habe weiter versucht, jenen Vertrag Blatt um Blatt zu beseitigen, der in seinen 448 Artikeln die gemeinste Vergewaltigung enthält, die jemals Völkern und Menschen zugemutet worden ist. Ich habe die uns 1919 geraubten Provinzen dem Reich wieder zurückgegeben, ich habe Millionen von uns weggerissenen, tiefunglücklichen Deutschen wieder in die Heimat geführt, ich habe die tausendjährige historische Einheit des deutschen Lebensraumes wiederhergestellt, und ich habe ... mich bemüht, dies alles zu tun, ohne Blut zu vergießen und ohne meinem Volke oder anderen das Leid des Krieges zuzufügen. Ich habe dies ... als ein noch vor 21Jahren unbekannter Arbeiter und Soldat meines Volkes, aus meiner eigenen Kraft geschaffen.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 327-328

„Dieser Erfolgsbilanz konnte auch Heidegger Punkt für Punkt zustimmen. Er begrüßte die diktatorisch herbeigeführte innere politische Einheit des Volkes. Als Verächter der Weimarer Demokratie nahm er keinen Anstoß an der Ausschaltung der politischen Opposition. Gegen das Prinzip Führung und Gefolgschaft hatte Heidegger nichts einzuwenden. Das NS-Regime hatte vielen Menschen wieder Arbeit gegeben und sie damit wieder daseinsfähig (Heidegger in einem Vortrag vom Februar 1934) gemacht. Der Austritt aus dem Völkerbund und die einseitige Außerkraftsetzung des Versailler Vertrages (Diktates! HB) galten Heidegger als Bekundung des Willens zur Selbstbehauptung des Volkes, als Erfüllung jener Urforderung des Daseins, daß es sein eigenes Wesen behalte und rette. Die Annexionspolitik (Wiedervereinigungspolitik! HB) Hitlers fand seine Unterstützung, hatte er es doch als Skandal empfunden, daß 18 Millionen Deutsche zwar zum Volk, aber, weil außerhalb der Reichsgrenze lebend, doch nicht zum Reich gehören (zitiert in: Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, S. 186; HB). Die innere und äußere Politik des Regimes entsprach Heideggers politischen Vorstellungen, die ja niemals klar umrissen waren.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 328

„Der Nationalsozialismus sei der für Deutschland vorgezeichnete Weg, man müsse nur lange genug »durchhalten«, sagte er im Sommer 1936 zu Karl Löwith in Rom. Doch diese Zustimmung war nun wieder herabgestimmt zur politischen Meinungsäußerung. Das metaphysische Pathos war weg. Es war eben die Meinung, daß die Nationalsozialisten eine ganz gute Politik machten - Beseitigung der Arbeitslosigkeit, sozialer Friede, Revision des Versailler Vertrages (Diktates! HB) usw. Es war ihm inzwischen klar, daß die Vision der metaphysischen Revolution, die ihn in die politische Arena gelockt hatte, nicht Wirklichkeit geworden war. Und indem er mit mühsamem Tasten, wie er an Jaspers am 1. Juli 1935 schreibt, wieder Anschluß zu finden sucht an die im Wintersemester 1932/’33 abgerissene Arbeit, kann er sich immer weniger der Einsicht verschließen, daß der Durchbruch von der Neuzeit zur neuen Zeit einstweilen nur dem einsamen Denken vorbehalten bleibt - einem Denken, das der überwältigenden Dynamik der Neuzeit und damit dem tieferen Grund für das Scheitern der eigenen politik-philosophischen Ambitionen auf die Spur kommen will. Er hatte diese Dynamik offenbar unterschätzt, als er ,die nationalsozialistische Revolution als einen Bruch in der Tiefe der Zeit erlebte. Die Jahre zwischen 1935 und 1938 sind der Arbeit an der Umdeutung gewidmet. Noch 1935 in der METAPHYSIK-Vorlesung hatte er dem Nationalsozialismus innere Wahrheit und Größe bescheinigt und damit das gegen die Neuzeit widerständige an ihm bezeichnen wollen. Während der folgenden Jahre, in denen er die unabschließbare Dimension des Projektes Moderne erkundet, verändert sich seine Optik, und der Nationalsozialismus erscheint ihm nun nicht mehr als  A u s b r u c h  aus der Moderne, sondern als ihr besonders konsequenter  A u s d r u c k .  Er entdeckt, daß der Nationalsozialismus selbst das Problem ist, für dessen Lösung er ihn gehalten hatte. Er sieht im Nationalsozialismus den Furor der Neuzeit toben: technische Raserei, Herrschaft und Organisation, also Uneigentlichkeit als totale Mobilisierung.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 328-329

„Heidegger scheut sich allerdings nicht, diese spätere Einsicht früheren Bemerkungen über die Bewegung unterzuschieben. So geschehen bei der 1953 erfolgten Veröffentlichung der METAPHYSIK-Vorlesung von 1935. Dort fügt er der Bemerkung über die innere Wahrheit und Größe der Bewegung die in Klammern gesetzte Erläuterung hinzu, es sei die Größe des Schrecklichen gemeint, nämlich die Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen. Wie wir gleich sehen werden, ist dies eine Deutung, die Heidegger erst nach der METAPHYSIK-Vorlesung entwickelt - in den NIETZSCHE-Vorlesungen, in seinen geheimphilosophischen Aufzeichnungen, den BEITRÄGEN ZUR PHILOSOPHIE, und in dem Vortrag DIE BEGRÜNDUNG DES NEUZEITLICHEN WELTBILDES DURCH DIE METAPHYSIK, der nach dem Krieg unter dem Titel DIE ZEIT DES WELTBILDES erscheint - unter den Schriften Heideggers eine der wirkungsmächtigsten. Zwischen 1935 und 1938 verarbeitet Heidegger also seine Enttäuschung darüber, daß die metaphysische Revolution als politische nicht stattgefunden hat, er versucht die überwältigende Macht der Neuzeit zu begreifen; zu begreifen, was ihn selbst ergriffen hat und wie man sich diesem Griff wieder entwinden kann.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 329

„Was ist das für ein Moloch - diese Neuzeit, an der Heideggers politik-philosophische Hoffnungen zunichte wurden und die ihn wieder das Asyl des einsamen Denkens aufsuchen ließ?“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 329

„Heidegger beschreibt in DIE ZEIT DES WELTBILDES die Neuzeit in den Bildern der totalen Mobilisierung. Er bezieht sich dabei auf Ernst Jünger, ohne ihn ausdrücklich zu zitieren. Maschinentechnik, Wissenschaft und Forschung haben sich zu einem mächtigen System der Arbeit zusammengeschlossen, einem System der Arbeit und der Bedürfnisse. Das technische Denken regiert nicht nur Forschung und Produktion im engeren Sinne, sondern technisch-verfügend ist auch das Verhalten der Menschen zu sich selbst in Begriffen technischer Verfügbarkeit. Das gilt auch für die Kunst, die als »Kunstproduktion« dem produktiven Universum der Neuzeit eingefügt bleibt. Die Kultur insgesamt gilt als ein Bestand von »Werten«, die bewirtschaftet, kalkuliert, eingesetzt und geplant werden können. Zu diesen Kulturwerten zählen dann auch religiöse Erlebnisse und Traditionen, die ebnfalls zu einem Mittel der Bestandsicherung des Ganzen herabsinken. Mit solcher Instrumentalisierung der Transzendenz ist der Zustand der vollkommenen Entgötterung (H, 76) erreicht. Neuzeit ist für Heidegger also: Maschinentechnik, instrumentelle Wissenschaft, Kulturbetrieb und Entgötterung. Das aber sind doch nur die dringlichen und ins Auge fallenden Symptome. Zugrunde liegt eine metaphysische Grundstellung, eine alle Lebensbereiche und Tätigkeiten bestimmende Sicht auf das Seiende insgesamt. Eine Entscheidung darüber, was als Seiendes zu gelten hat und worauf es bei allem Tun und Lassen ankommt. Diese Grundstellung ist nach Heidegger definiert durch die Verwandlung des Menschen in ein »Subjekt«, dem die Welt zum Inbegriff von »Objekten«, also zu lauter wirklichen und möglichen Gegenständen wird, die beherrscht, gebraucht, verbraucht, abgewehrt oder eliminiert werden können. Der Mensch richtet sich auf, er erfährt sich nicht mehr als in eine Welt eingelassen - sondern diese Welt wird zu seinem Gegenüber, das er im Weltbild fixiert. Der Mensch wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen. (H, 88).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 329-330

„Aber ist er das nicht schon immer gewesen? Nein, sagt Heidegger, es war einmal anders, und es wird, bei Strafe des Untergangs, wieder einmal anders werden müssen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 330

„Es war anders: im antiken Griechenland. In diesem Vortrag gibt Heidegger eine gedrängte Darstellung seiner Imagination über die anfängliche Art, in der Welt zu wohnen. Für das antike Griechentum (und also auch für unsere Zukunft, wenn wir noch eine haben wollen) gilt: Das Seiende ist das Aufgehende und Sichöffnende, was als das Anwesende über den Menschen als den Anwesenden kommt, d.h. über den, der sich selber dem Anwesenden öffnet, indem er vernimmt. Das Seiende wird nicht seiend dadurch, daß erst der Mensch es anschaut im Sinne gar des Vorstellens .... Vielmehr ist der Mensch der vom Seienden Angeschaute, von dem Sichöffnenden auf das Anwesen bei ihm Versammelte. Vom Seienden angeschaut, in dessen Offenes einbezogen und einbehalten und so von ihm getragen, in seinen Gegensätzen umgetrieben und von seinem Zwiespalt gezeichnet sein: das ist das Wesen des Menschen in der großen griechischen Zeit. (H, 90-91).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 330-331

„Diese gedrängte Darstellung ist nicht so deutlich, daß sie einen Kommentar erübrigt. Für das griechische Denken ist die Welt eine Szene, wo der Mensch unter seinesgleichen und unter die Dinge tritt, um dort zu handeln und zu sehen und behandelt und gesehen zu werden. Der Ort des Menschen ist ein Platz der Sichtbarkeit im doppelten Sinne: er zeigt sich selbst (und nur wenn er sich zeigt, ist er wirklich, sonst ist er in der Höhle des Privaten, ein »Idiot«), und er ist das Wesen, dem sich das übrige Seiende zeigen kann. »Erscheinung« ist für das griechische Denken kein defizienter Modus des Seins. Sondern Sein ist Erscheinung und nichts anderes. Nur was erscheint, ist. Deshalb war für Platon das höchste Sein immer noch - als Idee - dem Sehen aufgegeben. Der Mensch wurde verstanden als ein Wesen, das mit der übrigen Welt das Sehen und Sich-zeigen-Können teilt. Nicht nur der Mensch, sondern die Welt insgesamt will zum Vorschein kommen; sie ist nicht nur das passiv Angeschaute, das Material für unsere Blicke und Eingriffe. Im griechischen Denken blickt die Welt gleichsam zurück. Der Mensch drückt den kosmischen Grundzug, daß alles zum Erscheinen drängt, besonders rein aus und ist darum der Punkt der höchsten Sichtbarkeit, im aktiven und passiven Sinn. Der griechische Mensch hat deshalb auch das Theater erfunden, die Bühne der Welt noch einmal. Der Kosmos insgesamt hatte für ihn Bühneneigenschaften. Der Mensch ist die offene Stelle des Seins.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 331

„In diesen Verhältnissen, so Heideggers Überzeugung, gibt es ein reicheres, intensiveres Sein, eine offene Weite. Im Kontrast dazu befindet sich der neuzeitliche Mensch in der Gefangenschaft seiner Projekte, und was ihm widerfährt, erfährt er als Abweichung, Unfall, Zufall. So verschwindet das Geheimnis aus der Welt, die Fülle, der Abgrund, das Schicksal, die Gnade. Erst wo das Seiende zum Gegenstand des Vor-stellens geworden ist, geht das Seiende in gewisser Weise des Seins verlustig. (H, 101).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 331

„So gliedert sich die Heideggersche Seinsgeschichte: Das Griechentum agierte auf einer offenen Bühne, wo der Mensch und die Welt zum Vorschein kommen und miteinander ihre Tragogien und Komödien aufführen, im Bewußtsein der Übermacht und Überfülle des Seins, das geheimnisvoll und verborgen bleibt. In christlicher Zeit ist das Sein geborgen in Gott, dem man mit Ehrfurcht begegnet, während man aber dabei doch schon neugierig Ausschau hält nach Ähnlichkeiten und Entsprechungen zwischen dem Creator und dem Creatum und schließlich auf den Ehrgeiz verfällt, das Geschaffene im Selbstgemachten zu wiederholen. Die Neuzeit aber ist nun vollends zum Angriff (H, 108) übergegangen. Im planetarischen Imperialismus des technisch organisierten Menschen erreicht der Subjektivismus des Menschen seine höchste Spitze, von der er sich in die Ebene der organisierten Gleichförmigkeit niederlassen und dort sich einrichten wird. Diese Gleichförmigkeit wird das sicherste Instrument der vollständigen, nämlich technischen Herrschaft über die Erde. (H, 111).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 331-332

„Den Gedanken Max Webers von der entzauberten Welt der Moderne aufnehmend und umkehrend, spricht Heidegger von unserer Verzauberung durch die Welt der Technik. Die neuzeitliche Geschichte bewegt sich unter einem Bann. Gibt es einen Ausweg?“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 332

„Heidegger hatte 1933 daran geglaubt, daß der kollektive Ausbruch aus dem stählernen Gehäuse der Neuzeit eine geschichtliche Realität geworden sei. Fünf Jahre später konstatiert er, daß es diese Chance einer grundsätzlichen Wende nicht gegeben hat und auch weiterhin auf der politischen Ebene einstweilen nicht geben wird. Er versteht jetzt die Revolution und was aus ihr hervorging als einen Vorgang, der noch ganz im Banne der neuzeitlichen totalen Mobilisierung steht, ohne sein eigenes Engagement selbstkritisch zu reflektieren.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 332

„Seine Diagnose lautet: Die Neuzeit tritt ins Stadium der härtesten Konfrontation der konkurrierenden Weltbemächtigungskonzepte, Amerikanismus, Kommunismus, Nationalsozialismus. Die jeweiligen Grundstellungen werden scharf abgesetzt und entschlossen verteidigt - aber alles geschieht auf dem gemeinsamen Boden der technisch verzauberten Neuzeit. Für diesen Kampf ... setzt der Mensch die uneingeschränkte Gewalt der Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge ins Spiel. (H, 94).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 332

Berechnung steht für Amerikanismus, Planung für Kommunismus und Züchtung für Nationalsozialismus.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 332

„Aus der Globalperspektive des Neuzeit-Kritikers Heidegger, der diese Verhältnisse in seiner NIETZSCHE-Vorlesung auch das Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit (N II, 3, 14, 16, 17) nennt, ist das alles ein einziger »Verhängniszusammenhang«, wie Adorno später sagen wird - in einem anderen Jargon.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 332-333

„Blickt man lange ins Dunkle, ist immer etwas darin. Heidegger bemüht sich darum, in der allgemeinen Finsternis Unterschiede auszumachen. Die Neuzeit ist zwar insgesamt ein Aufstand des Subjekts, aber es macht einen Unterschied, ob der Mensch als das auf seine Beliebigkeit beschränkte und in seine Willkür losgelassene Ich oder als Wir der Gesellschaft, ob der Mensch als Einzelner oder als Gemeinschaft, ob der Mensch als Persönlichkeit in der Gemeinschaft oder als bloßes Gruppenglied der Körperschaft, ob er als Staat und Nation und als Volk oder als die allgemeine Menschheit des neuzeitlichen Menschen das Subjekt sein will und muß, das er als neuzeitliches Wesen  s c h o n  ist. (H, 92).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 333

„Was Heidegger bevorzugt, ist klar. Er sagt es deutlich genug, wenn er wenige Sätze später vom Unwesen des Subjektivismus im Sinne des Individualismus spricht. Das Wir, die Persönlichkeit in der Gemeinschaft und das Volk - das sind die am wenigsten verwahrlosten Formen von Subjekt-Sein in der Neuzeit. Und damit sanktioniert er seinen politischen Umtrieb zwar nicht in der ursprünglich gemeinten Bedeutung einer metaphysischen Revolution, aber als die immerhin bessere Option im allgemeinen Unwesen der Neuzeit. Aber das Richtige, das, was not tut, ist dies natürlich auch nicht.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 333

„Heidegger muß Mißverständnissen vorbeugen. Es geht nicht um eine Verneinung des Zeitalters. Ein Denken, das sich auf den Machtanspruch der Verneinung versteift, bleibt an das Verneinte gefesselt und verliert damit seine eröffnende Kraft. Es geht auch nicht um eine geschichtslose Mystik. Das Sein des Seienden, dem das Denken sich öffnet, ist kein weltloser Gott. Ganz im Gegenteil: Solches Denken will eine Perspektive zurückgewinnen, in der die Welt wieder zu einem Raum wird, \darin, so Heidegger in der METAPHYSIK-Vorlesung von 1935, ein jeglich Ding, ein Baum, ein Berg, ein Haus, ein Vogelruf die Gleichgültigkeit und Gewöhnlichkeit ganz verliert (EM, 20).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 333

„Wie sehr dieses Denken in die Nachbarschaft der Kunst gehört, erläutert Heidegger in seinem 1935 zum ersten Mal gehaltenen Vortrag DER URSPRUNG DES KUNSTWERKES. Er beschreibt dort am Beispiel eines Gemäldes van Goghs, das die ausgetretenen Schuhe des Künstlers darstellt (die Heidegger fälschlich für Bauernschuhe hält), wie die Kunst die Dinge so zum Vorschein bringt, daß sie ihre Gleichgültigkeit und Gewöhnlichkeit verlieren. Kunst schildert nicht, sondern macht sichtbar. Was sie ins Werk hebt, schließt sich zu einer eigenen Welt zusammen, die durchscheinend bleibt für die Welt insgesamt, doch so, daß der weltbildende Akt eigens als solcher erfahrbar wird. So stellt das Werk zugleich sich selbst dar als eine sinnspendende Kraft, die weItet, durch die das Seiende seiender wird. Deshalb kann Heidegger sagen, daß es das Wesen der Kunst sei, daß sie inmitten des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles anders ist als sonst (H, 59).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 333-334

„Das Kunstwerk ist auch etwas Hergestelltes. Wie grenzt Heidegger das Hergestelltsein der Kunst ab von dem im WELTBILD-Aufsatz analysierten technischen Herstellen?“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 334

„Um den Unterschied zu bezeichnen, führt Heidegger den Begriff der Erde ein. Erde ist die undurchdringliche, sich selbst genügende Natur. Die Erde ist das wesenhaft Sich-verschließende (H, 33). Die technisch-wissenschaftliche Vergegenständlichung will in die Natur eindringen, ihr das Geheimnis ihres Funktionierens entreißen. Aber auf diesem Wege werden wir nie verstehen, was sie ist. Es gibt dieses In-sich-Bestehen der Natur, ihre Art, sich uns zu entziehen. Diesen »Entzug« eigens zu erfahren, bedeutet, sich für die faszinierende Verschlossenheit, für die »Erdigkeit« der Natur zu öffnen. Nichts anderes versucht die Kunst. Wir können das Gewicht eines Steines bestimmen, das farbige Licht in Schwingungen zerlegen; aber in solchen Bestimmungen ist das Lasten des Gewichts und das Leuchten der Farbe nicht erschlossen. Die Erde läßt so jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen (H, 33). Die Kunst aber macht das Unerschließbare (H, 33) der Erde sichtbar, sie stellt etwas her, woran sonst keine Vorstellung heranreicht; sie eröffnet einen Raum, worin gerade das Sich-verschließende der Erde sich zeigen kann. Sie offenbart ein Geheimnis, ohne es anzutasten. Die Kunst stellt nicht nur eine Welt dar, sondern sie gestaltet das Staunen, das Entsetzen, den Jubel, die Gleichgültigkeit angesichts der Welt. Die Kunst schließt das ihre zu einer eigenen Welt zusammen, Heidegger sagt : Sie stiftet eine Welt, die dem allgemeinen Weltentzug und Weltzerfall eine Weile lang widerstehen kann. Auf diesen weltbildenden Aspekt und damit auf die besondere Mächtigkeit der Kunst kommt es ihm vor allem an. Zum Beispiel der griechische Tempel. Für uns ist er heute nur noch ein Monument der Kunstgeschichte und war doch einst die Bezugsmitte, um die herum sich das Leben einer Gemeinschaft organisierte, es mit Sinn und Bedeutung erfüllend. Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall - dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschicks gewinnen. (H, 27-28). Dadurch gibt der Tempel dem Menschen die Aussicht auf sich selbst (H, 29). In dieser machtvollen Manifestation stiftet das Kunstwerk den Gott der Gemeinschaft, ihre höchste Beglaubigung und ihre sinnspendende Instanz. Deshalb nennt Heidegger die Kunst auch ein Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit (H, 49). Unter diesem Gesichtspunkt parallelisiert er, wie schon in der HÖLDERLIN-Vorlesung, die Kunst, das Denken und die staatsgründende Tat.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 334-335

„Es handelt sich hier um einen feierlichen Pragmatismus, der erstens die Geschichtlichkeit der gestifteten »Wahrheiten« begründet: sie sind von befristeter Haltbarkeit. Zweitens sind die »Wahrheiten« nirgendwo anders als nur in den Werken. Die Einrichtung der Wahrheit ins Werk ist das Hervorbringen eines solchen Seienden, das vordem noch nicht war und nachmals nie mehr wird (H, 50).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 335

„Wenn Heidegger die Ursprungsmacht der gestifteten Wahrheiten beschreibt, merkt man, daß die Erregung von 1933, als er die nationalsozialistische Revolution als das Gesamtkunstwerk der staatsgründenden Tat erlebte, noch nicht verebbt ist. Das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit stoßt das Un-geheure auf und stößt zuglezch das Geheure und das, was man dafür hält, um. Die im Werk sich eröffnende Wahrheit ist aus dem Bisherigen nie zu belegen und abzuleiten. Das Bisherige wird in seiner ausschließlichen Wirklichkeit durch das Werk widerlegt. (H, 63). Diese Sätze passen, aus der Sicht Heideggers, sowohl auf das politische Gesamtkunstwerk der Revolution wie auch auf einen griechischen Tempel, eine Sophokles-Tragödie, ein Heraklit-Fragment oder ein Hölderlin-Gedicht. Jedesmal handelt es sich um ein schöpferisches Tun, das den Menschen in ein gewandeltes Verhältnis zur Wirklichkeit versetzt; er gewinnt einen neuen Spielraum, einen anderen Bezug zum Sein. Doch jeder gründende Akt steht unter dem Gesetz des Veraltens und der Vergewöhnlichung. Das Eröffnete verschließt sich wieder. Das hatte Heidegger besonders bei der politischen Revolution erlebt. Der Anfang ist das Unheimlichste und Gewaltigste. Was nachkommt, ist nicht Entwicklung, sondern Verflachung als bloße Verbreiterung, ist Nichtinnehaltenkönnen des Anfangs, ist Verharmlosung und Übertreibung. (EM, 119). So ist der anfängliche Ausbruch aus der neuzeitlichen Welt wieder ins Stocken geraten, und es bleibt dem Denken im Bunde mit dem Dichten vorbehalten, den Spielraum (H, 112) offenzuhalten für den ganz anderen Bezug zum Sein. Worin dieses ganz Andere besteht, dafür prägt Heidegger im WELTBILD-Aufsatz die Formel von der Überwindung des Subjektseins, genauer: von der verwandelnden Kraft des Gedankens, daß das Subjektsein des Menschentums weder die einzige Möglichkeit des anfangenden Wesens des geschichtlichen Menschen je gewesen, noch je sein wird (H, 111).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 335-336

„Aber hier gerät Heidegger in beträchtliche Schwierigkeiten: Die Überwindung des Subjektseins soll eröffnet werden durch ein Dichten und Denken, das aus dem Willen zum Werk entspringt. Das Werk aber ist Ausdruck einer höchst aktivistischen Gestimmtheit. Denn was tun die Dichter und Denker? Sie werfen dem überwältigenden Walten den Block des Werkes entgegen und bannen in dieses die damit eröffnete Welt (EM, 47). Ist Heideggers Wille zum Werk nicht eine besonders krasse subjektive Ermächtigung? Liegt es nicht nahe, den Willen zum Werk zu identifizieren mit Nietzsches Willen zur Macht, der ja auch als subjektive Ermächtigung verstanden werden kann? Handelt es sich nicht beide Male um subjektive Einsprüche und Machtansprüche gegen den grassierenden neuzeitlichen Nihilismus, den beide diagnostizieren? (Und bei beiden - bei dem einen mehr vom Ländlichen/Bäuerlichen und dem anderen mehr vom Städtischen/Bürgerlichen her - um eine Romantik, genauer gesagt, da die Romantik zu ihrer Zeit schon längst vorbei war, um Neo-Romantiker, und muß demzufolge nicht jeder noch spätere, nämlich nach der Kulturphase, zu der diese beiden gehören, kommende Romantisierer (z.B. Sloterdijk) ein Neo-Neo-Romantiker sein? Vgl. auch meine Anmerkung aus Seite 412; HB)“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 336

„Heidegger, der in seiner Rektoratsrede sich ausdrücklich Nietzsches Diagnose »Gott ist tot« zu eigen gemacht hatte, ist sich seiner Nähe zu Nietzsche durchaus bewußt. Im WELTBILD-Aufsatz sieht er in ihm einen Denker, dem die Überwindung der Neuzeit fast, aber eben nur fats, gelungen wäre. Dort resümoert er einen zentralen Gedanken seiner seit 1936 gehaltenen NIETZSCHE-Vorlesungen: Nietzsche ist im neuzeitlichen Wertdenken steckengeblieben. Das Zeitalter, das er überwinden wollte, hatte zuletzt doch über ihn gesiegt und ihm seine besten gedanken verdorben. Heidegger will Nietzsche besser verstehen, als dieser sich selbst verstanden hat. Er will ihn überholen auf dem Weg zu einem neuen Seinsdenken. Dabei kommt er nicht umhin, sich mit der Vereinnahmung Nietzsches durch nationalsozialistische Ideologen wie Alfred Baeumler auseinanderzusetzen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 336

„Baeumler braucht nur Nietzsches physiologische Interpretation zu radikalisieren, so wird schließlich »Rasse« und »Blut«.  –  Tatsächlich ist die Blut- und Rassenmystik eine mögliche Konsequenz des physiologischn gefaßten Willens zur Macht, das sieht auch Heidegger so, wenngleich er diese Konsequenz, anders als Baeumler, negativ bewertet. .... Die Verherrlichung der »blonden Bestie« ist, nach Heidegger, die nihilistische Konsequenz des Aufstandes des Subjektes.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 337

„Heidegger gibt Nietzsches partielle Verwendbarkeit für die herrschende Ideologie zu - wobei er selbst sich von ihr absetzt. Andererseits versucht er an Nietzsche anzuknüpfen, aber so, daß er sein eigenes Denken darstellt als eine Überwindung Nietzsches -auf den Spuren Nietzsches.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 338

„Nietzsche wollte die traditionelle Metaphysik zum Einsturz bringen, indem er von einem zutiefst metaphysischen Satz ausging, der in der Schellingschen Formulierung lautet: »Wollen ist Ursein«. Doch Nietzsche faßt den Willen anders als die Tradition bis hin zu Schopenhauer. Wille ist nicht Begehren, dumpfer Trieb, sondern er ist »Befehlenkönnen«, eine Kraft, das Sein wachsen zu lassen. »Wollen überhaupt ist soviel wie Stärkerwerden-wollen, wachsen wollen«.  –  Wille ist der Wille zur Steigerung der Lebensmacht. Für Nietzsche ist Selbsterhaltung nur möglich in der Logik der Steigerung. Was nur die Kraft der Selbsterhaltung hat, geht unter. Es erhält sich nur, wenn es sich steigert, intensiviert, ausdehnt. Das Lebendige hat keinen transzendenten Sinn, es hat aber einen immanenten Richtungssinn: es ist auf Intensitätssteigerung und auf Gelingen aus. Es versucht das Fremde in die eigene Machtsphäre und die eigenen Gestalt zu integrieren. Das Lebendige waltet, indem es überwältigt. Es ist ein energetischer Prozeß und als solcher »sinnlos«, weil auf keinen übergeordneten Zweck bezogen. Ist er darum nihilistisch? Nietzsche trägt seine Lehre vor als Überwindung des Nihilismus durch seine Vollendung.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 338

„Nietzsche ... will in der Kunst unterweisen, wie man gewinnt, wenn man verliert. Alle Ekstase, alle Beseligungen, die Himmelfahrten des Gefühls, alle Intensitäten, die sich vormals ans Jenseits hefteten, sollen sich im diesseitigen Leben sammeln. Die Kräfte des Transzendierens bewahren, aber umlenken in die Immanenz. Überschreiten und doch »der Erde treu bleiben« - das ist es, was Nietzsche seinem Übermenschen, dem Menschen der Zukunft zumutet. Der Übermensch, wie ihn Nietzsche entwirft, ist frei von Religion, aber nicht in dem Sinne, daß er sie verloren hat; er hat sie in sich selbst zurückgenommen. So hat denn auch seine Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen nicht den Zug der resignativen Weltmüdigkeit. Der kreisende Zeitumtrieb soll das Geschehen nicht zur Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit entleereb, sondern bei Nietzsche soll der Gedanke der Wiederkehr verdichten; sein Imperativ: Du sollst den Augenblick so leben, daß du wünschen kannst, daß er dir ohne Grauen wiederkehrt. Da capo.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 339-340

„Und nun Heidegger: Er folgt Nietzsche bei der Kritik des Idealismus, er folgt ihm auch bei dem »bleibet der Erde treu«. Aber genau an diesem Punkt kritisiert er Nietzsche und wirft ihm vor, daß er mit seiner Philosophie des Willens zur Macht eben nicht der Erde teru geblieben sei. Für Heidegger bedeutet »der Erde treu bleiben«: über die Verwirklung ins Seiende nicht das Sein zu vergessen. Nietzsche, so Heidegger, ziehe ausgehend vom Prinzip des Willens zur Macht alles in den Umkreis des wertenden Menschen hinein. Das Sein, mit dem es der Mensch zu tun hat und das er selbst ist, wert gänzlich als »Wert« gesehen. Das Sein gehe fälschlich darin auf, daß es jeweils »Wert« für ihn hat. Nietzsche wollte, daß der Mensch sich zu sich selbst ermutige, sich aufrichte. Heidegger sagt: Daraus ist nicht nur ein Aufrichten, sondern ein Aufstand geworden; ein Aufstand der Technik und der Massen, die nun durch die technische Beherrschung vollends zu den von Nietzsche so genannten »letzten Menschen« werden, die »blinzelnd« sich in ihren Behausungen und ihrem kleinen Glück einrichten und sich mit äußerlicher Brutalität gegen jede Beeinträchtigung ihrer Sicherheit und Besitzstände wehren. Der Mensch tritt in den Aufstand, sagt Heidegger auch im Blick auf die deutsche Gegenwart, die Welt wird zum Gegenstand. .... Die Erde selbst kann sich nur noch als der Gegenstand des Angriffes zeigen .... Die Natur erscheint überall ... als der Gegenstand der Technik. Heidegger zufolge ist das alles schon bei Nietzsche angelegt, da bei ihm das Sein nur aus der Perspektive der ästhetischen, theoretischen, ethischen und praktischen Wertsetzung gesehen und deshalb verfehlt wird. Für den Willen zur Macht ist die Welt nur noch der Inbegriff von »Erhaltung-Steigerungsbedingungen«.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 340

Doch kann, fragt Heidegger, das Sein höher geschätzt werden als so, daß es eigens zum Wert erhoben wird? Und ergibt die Antwort: Allein, indem das Sein als ein Wert gewürdigt wird, ist es schon zu einer vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingung herabgesetzt, und damit sei jeder Weg zur Erfahrung des Seins selbst ausgelöscht.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 340

„Mit der Erfahrung des Seins ist - das wissen wir inzwischen - nicht die Erfahrung einer höheren Welt gemeint, sondern die Erfahrung von der Unerschöpflichkeit der Wirklichkeit und das Staunen darüber, daß sich in ihrer Mitte mit dem Menschen eine offene Stelle aufgetan hat, wo die Natur ihre Augen aufschlägt und bemerkt, daß sie da ist. In der Erfahrung des Seins entdeckt sich der Mensch als Spielraum. Er ist nicht im Seienden gefangen und festgerannt. Inmitten der Dinge hat er »Spiel«, wie das Rad an der Nabe »Spiel« haben muß, damit es sich bewegt. Das Problem des Seins, sagt Heidegger, sei letztlich ein Problem der Freiheit.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 341

„Mit der Erfahrung des Seins ist - das wissen wir inzwischen - nicht die Erfahrung einer höheren Welt gemeint, sondern die Erfahrung von der Unerschöpflichkeit der Wirklichkeit und das Staunen darüber, daß sich in ihrer Mitte mit dem Menschen eine offene Stelle aufgetan hat, wo die Natur ihre Augen aufschlägt und bemerkt, daß sie da ist. In der Erfahrung des Seins entdeckt sich der Mensch als Spielraum. Er ist nicht im Seienden gefangen und festgerannt. Inmitten der Dinge hat er »Spiel«, wie das Rad an der Nabe »Spiel« haben muß, damit es sich bewegt. Das Problem des Seins, sagt Heidegger, sei letztlich ein Problem der Freiheit.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 341

„Die Erfahrung des Seins ist überall dort ausgelöscht, wo Einzelne oder ganze Kulturen in ihren jeweiligen Kulturen erstarren - theoretisch, praktisch, moralisch -, wenn sie von ihrem eigenen Entwurf benommen sind und das Bewußtsein der Relativität dieses Seinsverhältnisses verlieren und damit auch die Kraft, es zu transzendieren. Es ist eine Relativität im Blick auf den großen verborgenen Strom (Heidegger) der Zeit, auf dem wie zerbrechliche Flöße unsere Wahrheiten und Kulturen treiben.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 341

„Das Denken des Seins ist für Heidegger diese »spielende« Bewegung des Offenhaltens für den unermeßlichen Horizont der möglichen Seinsverhältnisse. Deshalb darf man Heidegger auch nicht danach fragen, was das Sein sei; dann nämlich würde man von ihm eine Definition für etwas verlangen, das selbst der Horizont jeder möglichen Definition ist. Und weil die Seinsfrage diese Horizonteröffnung ist, so kann ihr Sinn auch nichr darin liegen, beantwortet zu werden. Eine von Heideggers Formeln für die Abwehr der Zumutung, doch nun endlich die Frage nach dem Sein zu beantworten, lautet in den NIETZSCHE-Vorlesungen: Mit dem Sein ist es nichts .... Das bedeutet: Sein ist nichts, woran man sich festhalten könnte. Es ist gegenüber den fixierenden und Sicherheit gewährenden Weltanschauungen das schlechthin Áuflösende. Die Frage nach dem Sein soll verhindern, daß die Welt zum Weltbild wir- Als Heidegger merkte, daß dieses »Sein« selbst zu einem Weltbild werden könnte, schrieb er es mit einem Ypsilon, und manchmal behalf er sich auch, indem er »Sein« ausschrieb und dann durchstrich.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 341-342

„Für Heidegger war auch noch Nietzsche ein Philosoph des Weltbildes.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 342

„Bei der Erörterung der Lehre von der ewigen Wiederkunft kommt Heidegger darauf zu sprechen, daß Nietzsche seine besten Einsichten zurückgehalten habe, weil es für manche seiner Gedanken noch keine Stätte ihre Entfaltung (N I, 264) gegeben habe. Er zitiert den Satz Nietzsches: Man liebt seine Erkenntnis nicht genug mehr, sobald man sie mitteilt. (N I, 265).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 342

„So verständnisvoll kommentiert Heidegger Nietzsches Schweigen, daß man sofort bemerkt, daß Heidegger hier auch in eigener Sache spricht. Bliebe unsere Kenntnis auf das von Nietzsche selbst Veröffentlichte beschränkt, dann könnten wir niemals erfahren, was Nietzsche schon wußte und vorbereitete und ständig durchdachte, aber zurückbehielt. Erst der Einblick in den handschriftlichen Nachlaß gibt ein deutliches Bild. (N I, 235).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 342

„Als Heidegger diese Bermerkung machte, arbeitete er selbst an einem Manuskript, das er zurückbehielt, an Gedanken, für deren Mitteilung er die Zeit offenbar noch nicht gekommen sah: die BEITRÄGE ZUR PHILOSOPHIE, im Untertitel: VOM EREIGNIS.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 343

„Alles dies ist nicht das sein, aber alles dies gibt es, weil wir in einem Bezug zum Sein stehen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 344

„In Heidegger redet das Sein wie vormals in Hegel der Weltgeist.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 345

„Der Heidegger der zwanziger Jahre hatte eine ganz andere Metaphorik bevorzugt. Damals wollte er die versteinerten Denggebäude verflüssigen. Jetzt läßt er sie hoch aufragen und auch seine eigene Philosophie schickt er ins Gebirg des Seyns.  –  Das widerspricht eigentlcih der Idee von Philosophie, die Heidegger vor 1933 entwickelt hatte. Damals ging es ihm um die freie, aber in sich endliche Beweglichkeit eines Denkens, das aus dem Faktum des In-der-Welt-Seins aufsteigt, um das Dasein für eine Weile zu erhellen und mit ihm wieder zu verschwinden. Das Denken als Ereignis, so kontingent wie das Dasein selbst. Die Bergmetaphorik aber weist unübersehbar darauf hin, daß Heidegger sich inzwischen mit seiner Philosophie in eine dauerhafte Welt einschreiben will.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 350

„Der Göttinger Lehrstuhl des zwangsemeritierten Dilthey-Schwiegersohns Georg Misch soll neu besetzt werden. Im Juni 1935 setzt die Philosophische Fakultät Martin Heidegger auf Platz eins der Berufungsliste.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 355

„Beim Ministerium war inzwischen bekannt, daß Heidegger den Nationalsozialismus zwar in wichtigen politischen Belangen nach wie vor unterstützte (Außenpolitik, Wirtschaft, Arbeitsdienst, Führerprinzip), aber die nationalsozialistische Weltanschauung durchaus nicht vertrat.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 355

„Heidegger trug das Parteiabzeichen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 356

„In den TATSACHEN UND GEDANKEN berichtet Heidegger, wie im Sommersemester 1937 ein Dr. Hanke aus Berlin auftauchte, sehr begabt und interessiert mitgearbeitet und nach einiger Zeit um ein persönliches Gespräch nachgesucht habe. Dabei, so Heidegger, gestand er mir, er könne mir nicht länger verheimlichen, daß er im Auftrag von Dr. Scheel arbeite, der damals des SD Hautabschnitt Südwest leitete (T, 41).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 360

„Wenn man bedenkt, daß Heidegger von der Überwachung wußte, als er in den NIETZSCHE-Vorlesungen seine Kritik am Biologismus und Rassismus äußerte, dann wir dman ihm in diesem Falle persönlichen Mut becsheinigen müssen. Das haben auch die Hörer dieser Vorlesungen damals so empfunden, die sich allerdings dann um so mehr darüber wunderten, daß Heidegger, ausdrücklicher als andree Professoren, am Hitler-Gruß festhielt.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 360

„Heidegger in der HÖLDERLIN-Vorlesung im Sommer 1942: Wir wissen heute, daß die angelsächsiche Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d.h. die Heimat, und d.h. den Anfang des Abendländischen, zu zerstören.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 367

„In der HERAKLIT-Vorlesung von 1943 sagt Heidegger: Das Wesen des Menschen ist aus den Fugen. Nur von den Deutschen kann, gesetzt, daß sie »das Deutsche« finden und wahren, die weltgeschichtliche Bestimmung kommen. (GA, 55, 123).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 367

„Er habe den Nationalsozialismus unterstützt, weil er von ihm einen Ausgleich der sozialen Gegensätze auf dem Boden eines erneuerten nationalen Gemeinschaftsempfindens erhoffte. Außerdem hätte dem Vordringen des Kommunismus Einhalt geboten werden müssen. (Dem Kommunismus sind Tür und Tor geöffnet worden in der Weimarer Republik bis 1933, dann nach 1945 in der Bonner Republik und besonders seit 1990 in der Berliner Republik - nicht einmal der Chef der kommunistischen DDR ist, obwohl er zu greifen war, vom angeblich »antikommunistischen« Westen gerichtlich verurteilt worden; man hat ihn laufen lassen, als sei er »ein Reisender, den man nicht aufhalten soll«, gewesen; HB). Ins Rektorat habe er sich nur mit größtem Widerstreben wählen lassen, und er sei dann das erste Jahr im Amt geblieben, um Schlimmeres (z.B. die Wahl des Parteibonzen Aly) zu verhindern. Das aber hätten die Kollegen schon damals nicht bemerkt und es deshalb unterlassen, ihn in gebührender Weise zu unterstützen. Seit Mitte der dreißiger Jahre habe er daann vor der Öffentlichkeit - vor allem in den Nietzsche-Vorlesungen - eine Kritik an dem Machtdenken der Nationalsozialisten geäußert. Die Partei habe darauf auch entsprechend reagiert, indem sie ihm Spitzel in die Lehrveranstaltungen schickte und ihm Schwierigkeiten bei der Publikation seiner Werke bereitete.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 375

„Alarmiert aber waren die Gegner von Heideggers Rehabilitation vor allem durch Nachrichten und Gerüchte, die von einem wahren Pilgerzug französischer Intellektueller nach Freiburg und Todtnauberg sprachen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 379

„Als Raymond Aron, der in Deutschland studiert und dort die Phänomenologie kennengelernt hatte, seinem Freund Sartre Anfang der dreißiger Jahre von seinen phänomenologischen »Erfahrungen« berichtet, da ist Sartre wie elektrisiert: Es gibt also eine Philosophie, sagt er, die es uns erlaubt, über alles, über diese Tasse, den Löffel, den ich in ihr umrühre, den Stuhl, den Kellner, der auf meine Bestellung wartet, zu philosophieren? Das Gerücht der Phänomenologie, mehr war es zunächst nicht, wird Sartre veranlassen, im Winter 1933 nach Berlin zu gehen, um dort Husserl zu studieren, und er wird dann über die phänomenologie sagen: »seitjahrhunderten hat man in der Philosophie keine derart realistische Strömung mehr gespürt. Die Phänomenologen haben den Menschen wieder in die Welt eingetaucht, sie haben seinen Ängsten und seinen Leiden, auch seinen Revolten ihr ganzes Gewicht wiedergegeben.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 381-382

„In dieser existentialistischen und phänomenologischen Szenerie beginnt seit Anfang der dreißiger Jahre nun auch Heideggers Philosophie wirksam zu werden.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 382

„1931 waren Heideggers Vorträge VOM WESEN DES GRUNDES und WAS IST METAPHYSIK? in französischen philosophischen Zeitschriften erschienen. Es waren die ersten Übersetzungen. 1938 folgte ein Auswahlband, der zwei Kapitel aus SEIN UND ZEIT (über die Sorge und über den Tod), ein Kapitel aus dem KANT-Buch und den Aufsatz HÖLDERLIN UND DAS WESEN DER DICHTUNG enthielt.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 382

„Aber Heidegger wurde zum Geheimtip der Pariser Intelligenz weniger durch diese spärlichen Übersetzungen als vielmehr durch die legen, där gewordenen Hegel- Vorlesungen des Exilrussen Alexandre Kojève zwischen 1934 und 1938.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 382

„Roger Caillois verwies später auf Kojèves »absolut außergewöhnliche intellektuelle Herrschaft über eine ganze Generation«. Bataille berichtet, jede Begegnung mit Kojève habe ihn »gebrochen, zermalmt, zehnmal hintereinander getötet: erstickt und zu Boden gedrückt« zurückgelassen. Für Raymond Aron zählte Kojève zu den drei wahrhaft überlegenen Geistern (neben Sartre und Eric Weil), denen er in seinem Leben begegnet sei.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 382

„Alexandre Wladimirowitsch Kojewnikow, so hieß er ursprünglich, war, als Sproß einer hochadligen Familie, nach der Oktoberrevolution .im jahre 1920 nach Deutschland geflohen. Er lebte vom Verkauf der geschmuggelten Reste des Familienschmucks. Auch besaß er einige Bilder seines Onkels, Wassily Kandinsky, die sich gut beleihen ließen. Er studierte und promovierte bei jaspers in Heidelberg und führte während all der Jahre ein philosophisches Tagebuch zum Thema »Philosophie des Nichtseienden«. Sein Freund Alexandre Koyre, auch ein russischer Emigrant, holte ihn Anfang der dreißiger Jahre nach Paris. Mit ihm hatte Kojève Bekanntschaft gemacht, als er mit dessen Schwägerin eine Liebschaft begann, die junge Frau entführte und Koyre nun von der Verwandtschaft beauftragt wurde, dem Verführer die Liebesbeute wieder abzujagen. Aber Koyre war von seiner ersten Begegnung mit Kojève so beeindruckt, daß er bekannte: »Das Mädchen hat recht. Kojève ist viel besser als mein Bruder.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 382-383

„Kojève war in Geldnot - er hatte beim Börsenkrach sein in Aktien bei der Käsemarke »La vache qui rit« angelegtes Vermögen verloren -, und deshalb kam ihm das Angebot gelegen, an der »Ecole pratique des Hautes Etudes« Hegel zu lesen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 383

„Kojève ... führte einen Hegel vor, wie manihn bisher noch nicht kannte: es war ein Hegel, der Heidegger zum Verwechseln ähnlich sah.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 383

„Jeder kannte den Satz Hegels, »das Wirkliche ist vernünftig«. Hegel galt als Rationalist. Und nun zeigte Kojève, wie dieser Hegel nichts anderes getan hatte, als den unvernünftigen Ursprung der Vernunftaufzudecken -in den Kämpfen um Anerkennung. Ein Selbst verlangt von einem anderen in seinem So-sein anerkannt zu werden. Kojève greift Heideggers Sorge auf und macht daraus im Anschluß an Hegel die »Sorge um Anerkennung«. Die geschichtliche Realität, die aus dieser Sorge um Anerkennung entspringt, ist der bis aufs Blut geführte Kampf der Menschen um bisweilen lächerliche Einsätze: man setzt sein Leben aufs Spiel, um hier einen Grenzverlauf zu korrigieren, um eine Fahne zu verteidigen, um Genugtuung für eine Beleidigung zu erreichen usw. Hegel muß nicht erst umgedreht werden, er steht schon auf den Füßen und er geht durch den Schlamm der Geschichte. Im Kern der Vernunft steckt die Kontingenz, und es sind Kontingenzen, die da oft so blutig zusammenprallen. Das ist die Geschichte.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 383

„Im Anschluß an Hegel und ausdrücklich mit Heidegger fragt Kojève: Was ist der Sinn des ganzen Seins? Mit Heidegger gibt er die Antwort: die Zeit. Die Zeit aber ist nicht auf dieselbe Art wirklich wie die r-;orkom~e;den Dinge, die auch altern und ihre Zeit haben. Nur der Mensch erlebt, wie etwas, das ist, wenig später nicht mehr ist, und etwas, das noch nicht ist, nun ins Sein tritt. Der Mensch ist die offene Stelle im Sein, der Schauplatz, wo das Sein ins Nichts und das Nichts ins Sein umschlägt.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 383

„Die erregendsten Passagen der Kojèveschen Vorlesung handeln vom Tod und vom Nichts. Kojève sagt: Die Totalität der Wirklichkeit schließt die »menschliche oder sprechende Wirklichkeit« ein, was bedeutet: »Ohne den Menschen wäre das Sein stumm; es wäre da, aber es wäre nicht das Wahre.« Diese »das Wirkliche offenbarende Rede« (Kojève) setzt aber voraus, daß der Mensch zwar in den kompakten Zusammenhang des Seins hineingehört -aber zugleich auch davon abgeschnitten, losgerissen ist. Nur deshalb kann er sich -irren. Der Mensch, so formuliert Kojève im Sinne Hegels, ist der »Irrtum, der sich im Dasein erhält, der in der Wirklichkeit dauert« (151), und interpretiert dann diesen Satz im Sinne Heideggers: »darum kann man auch sagen, daß der Mensch, der sich irrt, ein im Sein nichtendes Nichts ist«. Die Grundlage und Quelle der menschlichen Wirklichkeit sei das »Nichts«, es manifestiere und offenbare sich »als negierende oder schöpferische, freie und ihrer selbst bewußte Tat« (267).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 384

„Abschließend zitiert Kojève noch einmal Hegel: »Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen .... Dies ist die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiert - reines Selbst .... Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt - in eine Nacht hinein, die furchtbar wird; es hängt die Nacht der Welt einem entgegen« (268).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 384

„Diese Sätze formulieren den Übergang von SEIN UND ZEIT zu »Das Sein und das Nichts«.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 384

„Sartre hatte Kojève nicht gehört, aber sich Mitschriften besorgt. Im Winter 1933/34 hatte er Husserl und Heidegger in Berlin studiert und sich so darin vertieft, daß er vom nationalsozialistischen Regime kaum Notiz nahm.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 384

„Was ihn an der Phänomenologie faszinierte, war erstens ihre Aufmerksamkeit für die massive, verführerische, aber auch erschreckende Gegenwart der Dinge; sie führte wieder vor das beharrliche Rätsel ihres »An-sich«-Seins. Zweitens, im Kontrast dazu, sensibilisierte sie für den inneren Reichtum des Bewußtseins; eine ganze Welt des »Für-sich« brachte sie wieder zum Vorschein. Und drittens schien sie, wenn auch undeutlich, das Versprechen zu enthalten, die innere Spannung dieser doppelten Ontologie des »An-sich« und des »Für-sich« irgendwie auflösen zu können.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 384

„Über das »An-sich« der Naturdinge, die sich der ph:nomenologischen Einstellung in ihrer überwältigenden, sinnabweisenden Präsenz zur Geltung bringen, hatte Sartre Ende der dreißiger Jahre in seinem Roman »Der Ekel« eine eindrucksvolle Schilderung gegeben, die bald zum klassischen Muster der Kontingenzerfahrung werden sollte: »Also, ich war gerade im Park. Die Wurzel des Kastanienbaums bohrte sich in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich nicht mehr, daß das eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen auf ihrer Oberfläche eingezeichnet haben. Ich saß da, etwas krumm, den Kopf gesenkt, allein dieser schwarzen und knotigen, ganz und gar rohen Masse gegenüber, die mir angst machte. Und dann habe ich diese Erleuchtung gehabt.« Die Erleuchtung: Roquentin, der Erzähler, sieht die Dinge ohne Zusammenhang und ohne die Bedeutung, die ihnen das Bewußtsein gibt, sie stehen nackt da. Geradezu obszön breiten sie sich vor ihm aus und machen ihm »das Geständnis ihrer Existenz«. Existenz bedeutet hier: pure Vorhandenheit und Kontingenz. »Das Wesentliche ist die Kontingenz ...kein notwendiges Sein kann die Existenz erklären: die Kontingenz ist kein Trug, kein Schein, den man vertreiben kann; sie ist das Absolute, folglich die vollkommene Grundlosigkeit. Alles ist grundlos, dieser Park, diese Stadt, und ich selbst. Wenn es geschieht, daß man sich dessen bewußt wird, dreht es einem den Magen um« (149). Die Erfahrung im Park konfrontiert mit einem Sein, das die vernünftige Rede durchschlägt. Die Szene ist eine literarische Anordnung, in der Kojèves Satz: »ohne den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre da, aber es wäre nicht das Wahre« in der Anschauung überprüft wird. Der Erzähler erfährt sich als Ding unter Dingen, hinabgezogen ins vegetative An-sich- »Ich war die Wurzel des Kastanienbaumes«. Mit seinem ganzen Leib spürt er das Sein, ein schweres, undurchdringliches Etwas, und das treibt ihn angstvoll zurück in die Welt des Bewußtseins, die Welt des Für-sich, um dann dort den eigenartigen Mangel an Sein zu erfahren. »Der Mensch ist das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt«, heißt es in »Das Sein und das Nichts«, an Formulierungen von Kojève und Heidegger anknüpfend.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 384-385

„Sartre verstand dieses 1943 erschienene große philosophische Werk als Fortsetzung der von Heidegger begonnenen Fundamentalontologie. Was Heidegger Dasein nennt, heißt bei Sartre, in hegelsch-Kojèvescher Terminologie, das »Für-sich«. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das nicht fraglos im Sein ruht, sondern in prekärer Lage seinen Bezug zum Sein immer erst herstellen, entwerfen, wählen muß. Der Mensch ist wirklich und muß sich doch erst noch verwirklichen. Er ist zur Welt gekommen, und muß sich selbst stets aufs neue zur Welt bringen. Das Bewußtsein als bewußtes Sein ist immer auch ein Mangel an Sein,.sagt Sartre. Der Mensch wird niemals so in sich ruhen können wie ein Gott oder ein Stein. Sein Merkmal ist Transzendenz. Diese Transzendenz versteht Sartre natürlich nicht im Sinne eines Reiches übersinnlicher Ideen, sondern es handelt sich um Selbsttranszendenz, um jene Bewegung, in der das Selbst sich ständig entgleitet, sich immer voraus ist, besorgend, reflektierend, die Blicke der anderen in sich hineinnehmend. In diesen Analysen läßt sich Heideggers Lehre von den Existentialien Geworfenheit, Entwurf, Sorge unschwer wiedererkennen. Nur daß Sartre über eine noch eindringlichere Kunst der Beschreibung dieser Phänomene verfügt. Sartre folgt auch Heideggers Thesen zur Zeitlichkeit des Daseins. Es ist der privilegierte Zugang zur Zeit, der dem menschlichen Sein nicht erlaubt, bei sich zu bleiben. Privilegierter Zugang bedeutet: Der Mensch ist nicht in der Zeit wie der Fisch im Wasser, sondern er realisiert die Zeit, er zeitigt sie. Diese Bewußtseinszeit, sagt Sartre, ist »das Nichts, das sich als detotalisierendes Ferment in die Totalität einschleicht« (287). “
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 385-386

„Es handelt sich hier tatsächlich um eine ingeniöse Fortsetzung der phänomenologischen Daseinsanalyse von SEIN UND ZEIT, die den bei Heidegger unterbelichteten Bereich des Mit-Seins energisch in den Mittelpunkt rückt. Allerdings nimmt Sartre eine Veränderung der Terminologie vor, die dann zu folgenschweren Mißverständnissen und auch Scheingefechten führen und Heidegger später Anlaß geben wird, sich nach ersten zustimmenden Bekundungen von Sartre abzusetzen. Sartre verwendet nämlich den Terminus »Existenz« in traditionell-cartesianischem Sprachgebrauch. Existenz bedeutet das empirische Vorhandensein von etwas, im Gegensatz zu seinen bloß gedachten Bestimmungen. Sartre verwendet diesen Begriff also im Sinne von Heideggers Vorhandenheit. Der Mensch »existiert« heißt demnach, er bemerkt, daß er zunächst einmal einfach vorhanden ist und daß es zu seinem Schicksal gehört, sich zu seiner eigenen Vorhandenheit verhalten zu müssen. Er muß etwas daraus machen, sich entwerfen etc.. In diesem Sinne wird Sartre in seinem Vortrag von 1946 »Ist der Existentialismus ein Humanismus?« sagen: Die Existenz kommt vor der Essenz. Heideggers Begriff von Existenz in SEIN UND ZEIT aber meint gerade nicht diese pure Vorhandenheit, Faktizität, sondern bezeichnet den transitiven Sinn des Existierens, das Selbstverhältnis also; daß der Mensch nicht einfach lebt, sondern sein Leben »führen« muß. Doch auf dieses von Heidegger Existenz genannte Selbstverhältnis hat es natürlich auch Sartre abgesehen, bei dem dieses Phänomen aber »Für-sich« heißt. Sartre versucht ebenso wie Heidegger die Vorhandenheitsmetaphysik in bezug auf den Menschen zu überwinden, nur benützt er dafür eben eine andere Terminologie. Wie Heidegger betont Sartre, daß die Rede über den Menschen stets in der Gefahr der Selbstverdinglichung steht. Der Mensch ist eben nicht in der geschlossenen Kugel des Seins gefangen, sondern er ist ein ekstatisches Wesen. Deshalb versteht Sartre seine Philosophie auch als eine Phänomenologie der Freiheit. So wie auch Heidegger die Wahrheitsfähigkeit des Menschen in seiner Freiheit begründet sieht. Wahrheit, sagte Heidegger in seiner METAPHYSIK-VOrlesung von 1935, istFreiheit. Nichts anderes.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 386-387

„Sartres Buch »Das Sein und das Nichts« war geschrieben und erschien in dem von den Nazis besetzten Frankreich. Es entwickelt in einem Gespinst von Subtilitäten eine ganze Philosophie des Antitotalitären. Dem totalitären Denken ist der Mensch ein Ding. Ein Faschist, sagt Sartre in seinen »Betrachtungen zur Judenfrage«, ist jemand, der »ein unerbittlicher Felsen, ein reißender Sturzbach, ein verheerender Blitz« sein will, »alles, nur kein Mensch«. Sartres Philosophie will dem Menschen seine Würde zurückgeben, indem er seine Freiheit entdeckt als ein Element, in dem sich alles feste Sein auflöst. In diesem Sinne ist das Werk eine Apotheose des Nichts, das Nichts aber verstanden als die schöpferische Kraft des Nichtens. Worauf es ankommt: nein zu sagen zu dem, was einen verneint.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 387

„Heidegger berichtet (im Brief vom 28.10.1945; HB) von seiner Lektüre des Sartreschen Werkes. Hier begegnet mir zum erstenmal ein selbständiger Denker, der von Grund aus den Bereich erfahren hat, aus dem heraus ich denke. Ihr Werk ist von einem so unmittelbaren Verstehen meiner Philosophie beherrscht, wie es mir noch nirgends begegnet ist.
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 388

„Es leigt für Heidegger nahe, die Frage nach der Nähe zunächst einmal mit einem Rückblick auf SEIN UND ZEIT zu beantworten. Dort hatte er herauszufinden versucht, was für das Dasein, das sich in der Welt vorfindet, das Nächste, das Anfängliche ist. Die Pointe dieser Untersuchung war gewesen: Uns selbst und unsere Welt erfahren wir zunächst nicht in quasiwissenschaftlicher Einstellung. Die Welt ist nicht in diesem Sinne unsere Vorstellung, sondern zunächst erfahren wir unser in-der-Welt-Sein. Das In-Sein ist das Maßgebliche und Primäre. Das gemeinsame In-Sein, geängstigt, gelangweilt, besorgt, geschäftig, benommen, hingebungsvoll, ekstatisch. Nur auf diesem Hintergrund des anfänglichen In-Seins kann so etwas geschehen, wie daßwir uns herausreflektieren, uns bestimmte Vorstellungen machen, Gegnstände aus dem Kontinuum unseres Besorgens und Beziehens herausschneiden. Daß es das ein »Subjekt« gibt, dem »Objekte« gegenüberstehen, ist keine basale Erfahrung, sondern verdankt sich einer sekundären, abstraktiven Leistung. Wenn das ursprüngliche In-Sein das Nächste ist, wenn in dieser Nähe die Dinge des Lebens noch in ihrem ganzen reichtum aufgehen können, und wenn das Denken die Aufgabe hat, diese Nähe zu bedenken, so ergibt sich eine paradoxe Kosntellation. Da wir nicht zuletzt durch das Denken die Unmittelbarkeit verlieren, so wird einem Denken, das in die Nähe kommen will, die Aufgabe zugemutet, gegen seine eigene entfernende, distanzierende Tendenz anzudenken. “
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 406-407

„Es ... war ihm um das Bedenken des Bedenklichsten zu tun, um das Dasein des Menschen als offene Stelle, die sich im Seienden aufgetan hat. Dasein verstanden als Ort, wo das Seiende zur Sprache kommt und eben dadurch zum Sein wird, und das heißt: es wird hell, begegnend, eröffnend auch in seiner Undruchdringlichkeit und in seinem Entzug.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 407

„Man kann es drehen und wenden wie man will, es bleibt zuletzt doch die Wiederholung jenes wunderbaren Gedankens von Schelling, wonach die Natur im Menschen die Augen aufschlägt und bemerkt, daß es sie gibt. Der Mensch als der Ort der Selbstsichtbarkeit des Seins. »Ohne den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre das, aber es wäre nicht das Wahre« (Kojève).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 409

„Hannah Arendt entwickelt ... die These, daß in der deutesche Versin des Existentialismus (Existenz(ial)philosophie; HB), beginnend bei Schelling über Nietzsche bis hin zu Heidegger, die Tendenz immer stärker geworden sei,, das vereienzelte menschliche Selbst als einen Ort der wahrheit dem unwahren gesellschaftlichen Ganzen gegenüberzustellen. (Ist nicht das Verbindende zwischen dem Idealisten Schelling, der als der Matador der Romantik gilt, Nietzsche, der als Lebensphilosoph gilt, und Heidegger, der als Existenz(ial)philosoph gilt, eher in der Romantik zu sehen: Romantik [Schelling], Neo-Romantik [Nietzsche, Neo-Neo-Romantik [Heidegger]? Vgl. auch meine Anmerkung aus Seite 336; HB).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 412

„Karl Jaspers hatte die Korrespondenz mit Heidegger angefangen (die Pause in der Korrepondenz beendet; HB), als er sich gerade für die Aufhebung des Lehrverbots gegen Heidegger einsetzte. In diesem Sinne hatte Jaspers Anfang 1949 an den Freiburger Rektor Gerd Tellenbach geschrieben. »Herr Professor Martin Heidegger ist durch seine Leistungen in der Philosophie als einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart (der bedeutenste Philosoph des 20. Jahrhunderts! HB) in der ganzen Welt anerkannt. In Deutschland ist niemand (und anderswo erst recht niemand! HB), der ihn überträfe. Sein fast verborgenes, mit den tiefsten Fragen in Fühlung stehendes, in seinen Schriften nur indirekt erkennbares Philosophieren macht ihn vielleicht heute in einer philosophisch armen Welt zu einer einzigartigen Gestalt« Es müsse von nun an gewährleistet werden, daß Heidegger ruhig arbeiten und, falls er dies wünsche, auch lehren könne.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 413

„Hannah Arendt .... Als 1960 die deutsche Ausgabe ihres philosophischen Hauptwerkes »Vita activa« erscheint, schickt sie Heidegger ein Exemplar und schreibt ... im Begleitbrief, daß dieses Werk nicht hätte entstehen können, »ohne das, was ich in der Jugend bei Dir gelernt habe .... Es ist unmittelbar aus den ersten Marburger Tagen entstanden und schuldet Dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 420

„Auf einem gesonderten, nicht abgeschickten Blatt ... schreibt Hannah: »De Vita Activa / Die Widmung dieses Buches ist ausgespart. / Wie soll ich es Dir widmen, / dem Vertrauten, / dem ich die Treue gehalten habe / und nicht gehalten habe, / und beides in Liebe.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 420

„Heidegger hat keine »Notizen zu Jaspers« hinterlassen. In der Beziehung zwischen den beiden war Heideger der Umworbene.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 429

„Die Verbindung zu Bremen bestand schon seit den frühen dreißiger Jahren (der erste bekannte Vortrag in Bremen ist der vom 8. Oktober 1930 mit dem sehr bekannt gewordenen Titel »Vom Wesen der Wahrheit«; HB). Der Bremer Großbürgersohn undspätere Kulturhistoriker Heinrich Wiegand Petzet, einst Student bei Heidegger und lebenslang ein Bewunderer, hatte sie hergestellt. Heidegger hielt damals vor dem »Club« in einem halb privaten Rahmen, den Vortrag VOM WESEN DER WAHRHEIT. Es hatte sich daraus eine Freundschaft mit den Petzets entwickelt. Der Vater von Heinrich Wiegand Petzet war ein vermögender Schiffsmakler, und Heidegger war einige Male im Sommerhaus der Familie im bayrischen Icking zu Gast gewesen. Bei Kriegsende hatte er dorthin einen Teil seiner Manuskripte ausgelagert. Im Spätherbst 1949 erging an Heidegger die Einladung nach Bremen. Der erste Vorlesungszyklus unter dem Gesamttitel EINBLICK IN DAS WAS IST (die einzelnen Vortragstitel lauteten: DAS DING, DAS GESTELL, DIE GEFAHR, DIE KEHRE) fand am 1. und 2. Dezember 1949 im Kaminsaal des Neuen Rathauses statt. Ein andachtsvolles Publikum war versammelt, und der Bürgermeister eröffnete die Veranstaltung. Heidegger begann: Hier habe ich von neunzehn Jahren (1930; HB) einen Vortrag gehalten, in dem ich damals Dinge ausgesprochen habe, die erst jetzt langsam verstanden und wirksam zu werden beginnen. Ich habe damals etwas gewagt - und ich will auch heute wieder etwas wagen! (Zitiert in: Heinrich Wiegand Petzet, Auf einen Stern zugehen - Begegnungen mit Martin Heidegger, S. 62).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 432

„In den späten fünfziger Jahren wurden die »Mittwochabende« am folgenden Tag mit einer .Matinee abgeschlossen. Einmal war Heidegger schon abgereist, aber sein Bruder war geblieben. Eine Dame, die Fritz wahrscheinlich für Martin hielt, stellte die Frage, was Heidegger denn von Mao Tse-tung halte. Darauf der listige Bruder: Mao tse ist das Gestell von Lao tse.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 435

„Das geschah zu einer Zeit, da Heideggers Ausdruck Gestell als Bezeichnung für die technische Welt in Deutschland die Runde machte. Zum ersten Mal hatte Heidegger ihn in Bremen verwendet. Aber berühmt wurde er erst durch seinen 1953 an der »Bayerischen Akademie der Schönen Künste« gehaltenen Vortrag DIE FRAGE NACH DER TECHNIK.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 435

„Seit Anfang der fünfziger Jahre hatte die Bayerische Akademie Heidegger zu Vorträgen eingeladen. Zunächst waren diese Einladungen in München durchaus umstritten. Es hatte eine Debatte im Landtag gegeben, bei der Minister Hundhammer die Akademie dafür tadelte, daß sie Heidegger »als einstigen Steigbügelhalter des Naziregimes« sprechen lasse. Während Studenten sich von Wien, Frankfurt und Harnburg auf den Weg nach München machten, um Heidegger zu hören, kündigte die Kant-Gesellschaft, offenbar besorgt um das Seelenheil ihrer Mitglieder, für denselben Abend einen Gegenvortrag an. Fast hätte Heidegger diesen ersten Vortrag in München im Sommer 1950 abgesagt. Er war durch ein Telegramm um die Formulierung des Vortragstitels gebeten worden. Durch einen Verschreiber war aus dem »Vortragstitel« »Vortragsstil« geworden. Und so mußte Heidegger glauben, man bevormunde ihn, indem man einen angemessenen »Stil« von ihm verlange. Empört schrieb er an Petzet: Das Maß wird nun langsam voll .... Man traut mir, von allem übrigen dieses Gebarens abgesehen, es nicht einmal zu, etwas für diese Akademie sehr Wesentliches vorzutragen. So etwas ist mir während der ganzen Hitler-Zeit nicht vorgekommen. Nach Aufklärung des Mißverständnisses hatte Heidegger sich dann doch bereit erklärt, nach München zu kommen, doch zu Petzet sagte er: Das bleibt eine zwiespältige Sache und der unumgängliche Tribut an das Gestell. Am Vortragsabend wurde der Saal der Akademie gestürmt. Die geladenen Gäste wurden eingekeilt von den ungeladenen, die sich auf herbeigeschleppten Stühlen, auf Stufen, Fensterbänken, in Nischen und Gängen drängten. Heidegger sprach über DAS DING. Wieder war vom Geviert der Welt die Rede, aber als Heidegger mit dem Spiegelspiel von Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen anfing, da wurde es dem anwesenden Staatssekretär zuviel, empört verließ er den Saal, sich mühsam den Weg durch die Menge bahnend. Das war im Sommer 1950. Drei Jahre später dann der Vortrag DIE FRAGE NACH DER TECHNIK. An diesem Abend vereinigte sich das ganze geistige Münchien der fünfziger Jahre. Es waren da Hans Carossa, Friedrich Georg Jünger, Werner Heisenberg, Ernst Jünger, Jose Ortega y Gasset. Es war vielleicht der größte öffentliche Erfolg Heideggers im Nachkriegsdeutschland. Als Heidegger mit dem berühmt gewordenen Satz schloß, denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens, gab es kein andachtsvolles Schweigen, sondern stehende Ovationen. Man nahm Heideggers Auftritt als philosophische Belcanto-Arie und applaudierte, weil er die ganz hohen Töne getroffen hatte, die man in den fünfziger Jahren so gerne hörte.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 435-436

„Mit seinen Gedanken über die Technik rührte Heidegger an die damals gar nicht mehr so geheimen Ängste der Zeit. Er war nicht der einzige, der dieses tat. In der Epoche des Kalten Krieges, die eigentlich den Gedanken nahelegte, daß die Politik das Schicksal sei, meldeten sich vermehrt und unüberhörbar die Stimmen zu Wort, welche die Fixierung aufs Politische als Selbsttäuschung kritisierten und davon sprachen, daß in Wahrheit die Technik inzwischen zu unserem Schicksal geworden sei. Ein Schicksal, so hieß es, dessen wir politisch kaum mehr Herr werden könnten, vor allem dann nicht, wenn wir an den überlieferten Begriffen der Politik, seien es die des »Plans« oder die des »Marktes«, festhielten. .... Ein Unbehagen angesichts der Zukunft der technischen Welt. Zahllos waren die Tagungen evangelischer Akademien zum einschlägigenThema, es spukte in den Sonntagsreden der Politiker, in den Zeitschriften wurde es breit diskutiert. In der Bewegung »Kampf dem Atomtod« fand es unmittelbaren politischen Ausdruck. Es waren dazu auch wichtige Bücher erschienen. Die erste Kafka-Rezeption nach dem Krieg stand im Zeichen einer metaphysischen Kritik der Technik und der verwalteten Welt. Günther Anders wurde 1951 bekannt durch seinen Essay »Kafka, pro und contra«, worin Kafka als ein Dichter dargestellt wird, den die »Übermacht der verdinglichten Welt« entsetzt und der aus seinem Entsetzen einen »heiligen« Schrecken gemacht hat: ein Mystiker im technischen Zeitalter. 1953 erschien die deutsche Ausgabe von Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«, ein Bestseller der fünfziger Jahre. Der Roman bietet die Horrorvision einer Welt, worin die Menschen schon im Reagenzglas auf ihr Glück und ihre Profession programmiert werden: eine Welt, deren Schicksal es ist, kein Schicksal mehr zu haben, und die sich zu, einem totalitären System zusammenschließt - ganz ohne Politik, allein durch Technik. Im selben Jahr erschien Alfred Webers Buch »Der dritte oder der vierte Mensch«. Es erregte großes Aufsehen, weil es als Schreckgemälde emer technischen Zivilisation der Roboter-Menschen in der Sprache einer als solide empfundenen Soziologie und Kulturphilosophie ausmalte. Außerdem gab es dem Leser das Gefühl, Zeitgenosse einer epochalen Zäsur zu sein, der dritten in der Menschheitsgeschichte. Zuerst der Neandertaler, dann der primitive Mensch der Horden- und Stammesgeschichte und schließlich der Mensch der Hochkultur, der im Abendland die Technik hervorgebracht hatte. Aber inmitten dieser hochgerüsteten technischen Zivilisation, so Alfred Weber, ist die Menschheit wieder dabei, sich seelisch und geistig zurückzubilden. Was da mit uns geschieht, ist nichts weniger als die Soziogenese einer Mutation. Am Ende wird es zwei Menschentypen geben: die roboterhaft funktionierenden Gehirntiere und die neuen Primitiven, die sich in der künstlichen Welt wie in einem Dschungel bewegen, enthemmt, ahnungslos und geängstigt. Solche Panoramen erregten ein schauriges Gefühl und hatten deshalb auch einen Unterhaltungswert.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 437-438

„Im selben Jahr, 1953, erschien auch Friedrich Georg Jüngers Buch »Die Perfektion der Technik«. Jünger entwickelte seine Theorie bereits während der dreißiger Jahre als Antwort auf den ,.Arbeiter«, den großen Essay seines Bruders von 1932. Ernst Jünger hatte dort die These aufgestellt, daß die technische Welt so lange als eine fremde, äußere Macht erscheinen muß, wie die »Perfektion der Technik« durch Technisierung des inneren Menschen noch nicht erreicht ist. Ernst Jünger träumte von einem »neuen Menschentum«, das er in der »Gestalt des Arbeiters« verwirklicht sah. Dieser Menschentyp bewegt sich wie selbstverständlich in einer Landschaft der »eisigen Geometrie des Lichtes«, der »Weißglut des überhitzten Metalls«. Er ist reaktionsschnell, kaltblütig, präzise, mobil, kann sich den technischen Rhythmen anpassen. Aber er bleibt Herr der Maschine, weil er eine innere Technizität besitzt: Er kann mit sich selbst technisch spielend umgehen, wie es Nietzsche einst in der Vision des »freien Menschen« ausphantasiert hat, der seine »Tugenden« als »Werkzeuge« handhabt und mit ihnen schalten und walten, sie »aus- und wieder einhängen« kann, ganz nach Belieben und den eigenen Zwecken gemäß. Solche Menschen, so Ernst Jünger, werden es nicht mehr als Verlust empfinden, wenn »die letzten Reste der Gemütlichkeit« verschwunden sind und man seinen Lebensraum wie »vulkanische Gebiete oder ausgestorbene Mondlandschaften durchqueren kann«. Ein abenteuerliches Herz, das die Kälte sucht.  –  Wir werden in dieser Kälte umkommen, antwortet Friedrich Georg Jünger seinem Bruder, der inzwischen allerdings auch nicht mehr bei den Apologeten, sondern bei den Dissidenten der Technik, bei den »Waldgängern« zu finden ist. Friedrich Georg Jüngers Hauptthese: Die Technik ist nicht mehr nur ein »Mittel«, ein Instrument, dessen sich der moderne Mensch zu seinen Zwecken bedient. Weil die Technik den Menschen bereits innerlich verwandelt hat, sind die Zwecke, die er sich setzen kann, bereits technisch determiniert. Zur industriellen Produktion gehört auch die Produktion von Bedürfnissen. Das Sehen, Hören, Sprechen, das Verhalten und die Reaktionsweisen, die Erfahrung der Zeit und des Raumes haben sich - durch Auto, Film und Radio - grundlegend geändert. Die Eigendynamik dieses Prozesses läßt kein Jenseits der Technik mehr übrig. Der Grundzug der technischen Zivilisation ist nicht die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, sondern die gigantische Ausbeutung der Erde. Der Industrialismus spürt die von der Naturgeschichte akkumulierte Energiematerie auf, verbraucht sie und erleidet damit das Schicksal der Entropie: »Die Technik insgesamt und der von ihr entwickelte Universalarbeitsplan, der vollkommene Technizität erstrebt, dieser Arbeitsplan, der mit einer Universalmaschinerie verbunden ist, untersteht den Gesetzen der Wärmelehre und den von ihr beschriebenen Verlusten nicht weniger als jede beliebige Maschine.« Indem die Technik alles verfügbar macht, nichts Unantastbares oder Heiliges kennt, zerstört sie den planetarischen Grund, auf dem sie steht. Noch trägt der Grund, noch genießt ein Teil der Erdbevölkerung die Vorteile des Zivilisationskomforts, und deshalb erscheint der Preis für die »Perfektion der Technik« angemessen. Aber der Schein trügt. Friedrich Georg Jünger: »Nicht der Anfang, das Ende trägt die Last.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 438-439

„Diese Kassandrarufe der Technikkritiker werden von anderen ins Lächerliche gezogen. »Im Gruselkabinett der Technik« lautet die Überschrift eines Artikels im »Monat«, der die These entwickelt, daß das »Böse« nicht in der Technik, sondern im Menschen liegt. Nicht die Technik, sondern nur die Zwecke, für die sie eingesetzt wird, können »böse« sein. Man solle sich vor einer Dämonisierung der Technik hüten und sich dafür die »Technik der Dämonisierung« genauer ansehen. »Im Erschrecken vor der Technik wiederholt sich heute auf einer höheren geistigen Ebene der Hexenwahn des Mittelalters in sublimierter Form.« Die Technikkritik, so lautet die Antikritik, nimmt die Herausforderung der Zeit nicht an und weigert sich, ein Ethos zu entwickeln, das der Technik angemessen wäre. Hätten wir dieses Ethos, brauchten wir nicht zu erschrecken. Max Bense war ein Wortführer dieser Antikritik: »Wir haben eine Welt hervorgebracht, und eine außerordentlich weit zurückreichende Tradition bezeugt die Herkunft dieser Welt aus den ältesten Bemühungen unserer Intelligenz. Aber heute sind wir nicht in der Lage, diese Welt theoretisch, geistig, intellektuell, rational zu beherrschen. Ihre Theorie fehlt, und damit fehlt die Klarheit des technischen Ethos, das heißt, die Möglichkeit, seinsgerechte ethische Urteile innerhalb dieser Welt zu fällen. .... Wir perfektionieren vielleicht noch diese Welt, aber wir sind außerstande, den Menschen dieser Welt für diese Welt zu perfektionieren. Das ist die bedrückende Situation unserer technischen Existenz.« Die von Bense herausgestellte »Diskrepanz« zwischen dem Menschen und der von ihm geschaffenen technischen Welt wird Günther Anders 1956 in seinem Buch »Die Antiquiertheit des Menschen« die »prometheische Scham« nennen. Der Mensch »schämt« sich vor seinen Produkten, die vollkommener und wirkungsmächtiger sind als er selbst: bei der Atombombe zum Beispiel kann er sich nicht mehr die Wirkungen dessen vorstellen, was er hergestellt hat. Im Mittelpunkt des Nachdenkens über die Technik steht also die Frage: Muß sich der Mensch an die Technik anpassen, wie es Bense fordert, oder sollte die Technik wieder an das menschliche Maß zurückgebunden werden, worauf Friedrich Georg Jünger und auch Günther Anders hinauswollen?“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 439-440

„Soviel wird inzwischen deutlich geworden sein: Heideggers TECHNIK-Vortrag von 1953 ist kein einsamer philosophischer Vorstoß auf diesem Gebiet. Er ergreift das Wort in einer Debatte, die schon im Gange ist. Wenn er sich von der »instrumentellen« Vorstellung der Technik abgrenzt und die Technik als grundlegendes Merkmal des neuzeitlichen In-der-Welt-Seins versteht, dann sagt er im Vergleich zu Friedrich Georg Jünger (und später Günther Anders) nichts Neues. Jünger wie auch Anders lassen den Ursprung dieses Vorgangs, der die menschliche Welt in ein technisches Universum verwandelt hat, ausdrücklich im dunkeln. Hier will Heidegger Licht in die Sache bringen. Seine These kennen wir schon aus seiner Philosophie der dreißiger Jahre, insbesondere aus seinem Aufsatz ZEIT DES WELTBILDES. Der Ursprung der Technik liegt in der Art, wie wir der Natur gegenübertreten. Ob wir sie von sich aus hervorkommen lassen - wie bei der altgriechischen Aletheia-Vorstellung -, oder ob wir sie herausfordern. Technik, sagt Heidegger, ist eine Weise des Entbergens (TK, 13). Das Entbergen, das die moderne Technik durchherrscht, hat den Charakter des Stellens im Sinne der Herausforderung (TK, 16). Um den Zentralbegriff der Herausforderung gruppiert Heidegger alle Weisen der technischen Bemächtigung. Der Gegenbegriff ist das Hervorbringen (TK, 27) im Sinne des Hervorkommenlassens. Michelangelo sagte einmal, die Plastik ruht schon im Stein, man muß sie nur daraus befreien. So etwa hat man sich das vorzustellen, was Heidegger mit Hervorbringen und Hervorkommenlassen meint.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 440-441

„Diese beiden Verhaltensweisen gegenüber der Natur - das Herausfordern und das Hervorkommenlassen - hatte Heidegger in seiner kurz zuvor gehaltenen Vorlesung WAS HEISST DENKEN? einprägsam charakterisiert. Man steht vor einem blühenden Baum. Nur in einem wissenschaftlich unbewachten und praktisch desinteressierten Augenblick wird man sein Blühen richtig erleben. In wissenschaftlicher Sicht wird man das Erleben seines Blühens als etwas Naives fallenlassen. Es gilt, sagt Heidegger, allem zuvor und endlich den blühenden Baum nicht fallen, sondern ihn erst einmal dort stehen zu lassen, wo er steht. Weshalb sagen wir »endlich«? Weil das Denken ihn bisher noch nie dort hat stehen lassen, wo er steht. (WHD, 18). Wir lassen also die Natur nicht hervorkommen, sondern fordern sie heraus und gehen sie so an, daß sie sich in irgendeiner rechnerisch feststellbaren Weise meldet und als ein System von Informationen bestellbar bleibt (TK, 22).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 441

„Nach dem Herausfordern ist das Bestellen der zweite zentrale Terminus. Was bestellt wird, wird zum verfügbaren Bestand. Eine Brücke verbindet ein Ufer mit dem anderen und respektiert mit der Gebärde des Überwölbens den Strom. Läßt ihn sein. Ein Wasserkraftwerk aber, dessentwegen der Strom umgeleitet oder begradigt wird, macht den Strom zu einem Bestand. Es wird nicht das Kraftwerk in den Strom, sondern umgekehrt der Strom in das Kraftwerk verbaut (TK, 15). Um das Ungeheure, das hier geschieht, zu ermessen, weist Heidegger auf den Gegensatz hin zwischen einem »Rhein«, der in das Kraftwerk verbaut ist, und dem »Rhein« der gleichnamigen Hymne Hölderlins. Aber der Rhein bleibt doch ein Strom der Landschaft, könnte man sagen. Mag sein. Aber wie bleibt er? Nicht anders denn als bestellbares Objekt der Besichtigung durch eine Reisegesellschaft, die eine Urlaubsindustrie dorthin bestellt hat. (TK, 16).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 441

„Der technische Zugriff verwandelt die Natur in einen wirklichen oder potentiellen Bestand. Und damit dieser einem nicht über dem Kopf zusammenstürzt, muß man berechnende und planende Bestandssicherung betreiben. Technik fordert mehr Technik. Die Technikfolgen können nur wieder mit technischen Mitteln bewältigt werden. Man hat die Natur herausgefordert, und jetzt fordert die Natur, damit fortzufahren - bei Strafe des Untergangs. So schließt sich der Kreis zu einem Circulus vitiosus der Seinsvergessenheit. Herausforderung, Bestand, Bestandssicherung - dieses Ganze nennt Heidegger das Gestell, seine Bezeichnung für die Epoche der technischen Zivilisation, in der alles mit allem in der Art eines kybernetischen Regelkreises mit Rückkoppelungseffekten zusammenhängt. Die Industriegesellschaft existiert auf dem Grunde der Eingeschlossenheit in ihr eigenes Gemächte. (TK, 19).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 441-442

„Das Gestell ist etwas vom Menschen Gemachtes, aber wir haben ihm gegenüber die Freiheit verloren. Das Gestell ist zu unserem Geschick geworden. Das Gefährliche daran ist, daß dieses Leben im Gestell eindimensional, alternativlos zu werden droht, daß die Erinnerung an eine andere Art der Weltbegegnung und des Weltaufenthaltes ausgelöscht wird. Die Bedrohung des Menschen kommt nicht erst von den möglicherweise tödlich wirkenden Maschinen und Apparaturen der Technik. Die eigentliche Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen. Die Herrschaft des Gestells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprüngliches Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren. (TK, 28).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442

„Mit Heideggers anfänglicheren Wahrheit sind wir inzwischen schon vertraut. Es ist die Wahrheit des freien, seinlassenden Blicks auf die Dinge. Den Baum blühen lassen oder den Weg aus Platons Höhle finden, damit unter der Sonne, in der offenen Lichtung des Seins, das Seiende seiender werden kann. Die panische Mittagsstunde der Wahrheit. Es ist die Erwartung, daß die Natur anders antworten könnte, wenn wir sie anders befragen. Heidegger im HUMANISMUS-Brief: Es könnte doch sein, daß die Natur in der Seite, die sie der technischen Bemächtigung durch den Menschen zukehrt, ihr Wesen gerade verbirgt. (ÜH, 16).«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442

„Heidegger aber begnügt sich nicht mit der Aussicht, daß besinnliches Denken die blühenden Bäume da und dort stehen und sein lassen könnte, daß sich im Denken da und dort ein anderes In-der-Welt-Sein ereignet, sondern er projiziert die sich im Denken vollziehende Einstellungsänderung in die Geschichte. Aus der Kehre im Kopf des Philosophen wird eine Vermutung über eine Kehre in der Geschichte. Und so findet Heidegger für die Dramaturgie seines Festvortrages ein gutes Ende, das die Zuhörer mit dem feierlichen Gefühl entläßt, Ernstes, aber auch irgendwie Erbauliches gehört zu haben. Heidegger zitiert Hölderlin: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch ....«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442

„Gewiß ist das Denken, das den Verhängniszusammenhang des Gestells bedenkt, eben dadurch schon einen Schritt darüber hinaus, es eröffnet einen Spielraum, in dem überhaupt erst zu sehen ist, was gespielt wird. Insofern steckt im Denken tatsächlich schon eine »Kehre«. Es ist die Haltung der Gelassenheit, die Heidegger bei einem Vortrag in Meßkirch 1955 einmal so beschrieben hat: Wir lassen die technischen Gegenstände in unsere tägliche Welt herein und lassen sie zugleich draußen, d. h. auf sich beruhen als Dinge, die nichts Absolutes sind, sondern selbst auf Höheres angewiesen bleiben. Ich möchte diese Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt mit einem alten Wort nennen:  die Gelassenheit zu den Dingen. (G, 23). Aber diese Gelassenheit zu den Dingen, verstanden als Kehre des Denkens, macht die Vermutung einer realgeschichtlichen Kehre nicht plausibel.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442

„Auf den Vorwurf mangelnder Plausibilität würde Heidegger erwidern, daß »Plausibilität« eine Kategorie des technisch-berechnenden Denkens sei; wer in »Plausibilitäten« denke, bleibe im Gestell - auch beim Versuch, aus ihm herauszufinden. Es gibt für Heidegger ganz einfach keine »machbare« Lösung des Problems der Technik. Kein menschliches Rechnen und Machen kann von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch seiner Herr werden? (24. 12. 1963, BwHK, 59). Die Wende wird als ein Ereignis des Geschicks geschehen, oder sie wird gar nicht geschehen. Dieses Ereignis aber wirft seine Schatten voraus - ins besinnliche Denken. Von der eigentlichen Kehre gilt, was Paulus über die Wiederkehr Christi gesagt hat: sie kommt wie ein Dieb in der Nacht. Die Kehre der Gefahr ereignet sich jäh. In der Kehre lichtet sich jäh die Lichtung des Wesens des Seins. Das jähe Sichlichten ist das Blitzen. (TK, 43).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442-443

„Das sind die Träume vom künftigen Geschick. Etwas anderes ist es, wenn Heidegger sich von diesen Träumen lebensgeschichtlich bewegen läßt und schließlich dorthin aufbricht, wo sie für ihn ihren zwar gewesenen, aber immer noch anwesenden Ort haben.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 443

„Das waren die Jahre, da ... bei manchen inzwischen als schwäbischer Taoist galt und fest davon überzeugt war, daß er für die gegenwärtige Öffentlichkeit schon so gut wie »gestorben« sei. Hannah Arendts liebevoller Essay zu Heideggers achtzigstem Geburtstag 1969 klingt fast wie ein Nachruf: »Der Sturm, der durch das Denken Heideggers zieht - wie der, welcher uns nach Jahrtausenden noch aus dem Werk Platons entgegenweht -, stammt nicht aus dem Jahrhundert. Er kommt aus dem Uralten, und was er hinterläßt, ist ein Vollendetes, das, wie alles Vollendete, heimfällt zum Uralten.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 461

„Einige Jahre zuvor hatte es noch einmal ein großes Aufsehen gegeben. Am 1. Februar 1966 war zu Alexander Schwans Buch »Politische Philosophie im Denken Heideggers« ein Artikel im »Spiegel« erschienen mit der Überschrift »Heidegger. Mitternacht einer Weltnacht«, der einige falsche Behauptungen enthielt, zum Beispiel die, daß Heidegger Husserl das Betreten der Universität verboten und seine Besuche bei Jaspers wegen dessen jüdischer Frau eingestellt habe. Jaspers hatte sich über diesen Artikel geärgert und an Hannah Arendt geschrieben: »Der ›Spiegel‹ fällt in solchen Augenblicken zurück in seine alten schlechten Manieren« (09.03.1966, BwAJ, 655). Hannah Arendt reagierte mit einem Zornesausbruch gegen Adorno, der aber mit dem »Spiegel«-Artikel von 1966 nun wirklich nichts zu tun hatte. »Ich kann es zwar nicht beweisen, bin aber ziemlich überzeugt, daß die eigentlichen Drahtzieher hier die Wiesengrund-Adorno-Leute in Frankfurt sind. Und das ist grotesk, um so mehr, als sich nun herausgestellthat (die Studenten haben es entdeckt), daß Wiesengrund (Halbjude und einer der widerlichsten Menschen, die ich kenne) versucht hat, sich gleichzuschalten. Er und Horkheimer haben jahrelang jeden Menschen in Deutschland, der sich gegen sie stellte, des Antisemitismus bezichtigt oder gedroht, sie würden es tun. Wirklich eine abscheuliche Gesellschaft« (18.04.1966, BwAJ, 670).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 461

„Heidegger wurde von Freunden und Bekannten gedrängt, sich gegen die »Spiegel«-Kritik zu wehren. Erhart Kästner schrieb am 4.März: »Ich wünschte nichts dringlicher, ... als daß Sie es aufgäben, sich nicht zu verteidigen. Sie wissen gar nicht, wieviel Kummer Sie Ihren Freunden machen dadurch, daß Sie es bisher trotzig verschmähten. Es ist eines der stärksten Argumente, ... daß Verleumdungen, wenn man sich nicht hörbar dagegen verteidigt, zu Fakten werden« (BwHK, 80). Kästner genügte es nicht, daß Heidegger einen kurzen Leserbrief an den »Spiegel« schrieb. Er wünschte sich eine ausführlichere und energischere Verteidigung. Er selbst war kurz zuvor aus der Berliner Akademie der Schönen Künste ausgetreten, weil er ihr nicht mehr zusammen mit Günter Grass angehören wollte, der in einer Episode seines Romans »Hundejahre« gegen Heidegger zu Felde gezogen war. (»Hör gut zu, Hund: Der wurde geboren in Meßkirch. Das liegt bei Braunau am Inn. Der und der Andere wurden abgenabelt im gleichen Zipfelmützenjahr. Der und der Andere haben sich gegenseitig erfunden.«) Kästner hatte herausgefunden, daß der »Spiegel« an einem Gespräch mit Heidegger interessiert war, und versuchte, Heidegger dafür zu gewinnen. Aber Heidegger lehnte zunächst ab. Wenn im »Spiegel« ein wirkliches Interesse an meinem Denken bestünde, hätte auch Herr Augstein bei Gelegenheit seines Vortrages in der hiesigen Universität während des vergangenen Wintersemesters mich besuchen können, so gut wie er im Anschluß an seinen hiesigen Vortrag Jaspers in Basel aufsuchte. (11.03.1966, BwHK, 82). Kästner bleibt hartnäckig. Er schreibt am 2I.März: »Niemand wird den »Spiegel«, seinen Ton lieben, sein Niveau überschätzen. Aber ich meine, man dürfte den günstigen Wind, der im Augenblick weht, wo Herr Augstein seinen Zorn, seinen Hohn auf den Grass hat, nicht unterschätzen. Ich höre läuten, ... daß Abneigung gegen die moderne Wissenschaftsvergötzung, eine tiefe Skepsis, Lieblingsgedanken Herrn Augsteins seien. Ich sehe eigentlich keinen Grund, diesen Besuch nicht zu wünschen« (BwHK, 85).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 461-462

„Das Gespräch kam zustande, weil die »Spiegel«-Redaktion auf die Bedingung Heideggers einging: keine Veröffentlichung zu Lebzeiten. Das »Spiegel«-Interview fand am 3. September 1966 im Freiburger Haus Heideggers statt. Neben Heidegger, Augstein, dem »Spiegel«Redakteur Georg Wolf und der Fotografin Digne Meller Markovicz nahm auch Heinrich Wiegand Petzet als stummer »Sekundant« Heideggers daran teil. Petzet berichtet, wie ihm Augstein kurz vor dem Gespräch seine »Heidenangst« vor dem »berühmten Denker« gestanden habe. Dadurch sei ihm Augstein, in dem er zunächst einen »fragenden Henker« vermutete, sofort sympathisch geworden. Auch Heidegger war erregt. Er erwartete die Teilnehmer an der Tür seines Arbeitszimmers. »Ich erschrak ein bißchen«, berichtet Petzet, »als ich ihn ansah und merkte, in welcher übersteigerten Spannung er sich befand. ..Die Adern an den Schläfen und an der Stirn mächtig geschwollen, die Augen in Erregung ein wenig hervortretend.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 462-463

„Augsteins »Heidenangst« merkt man besonders zu Anfang des Gesprächs. Äußerst behutsam, gewunden und mit spitzen Fingern wird das »heiße Eisen« angefaßt: »Herr Professor Heidegger, wir haben immer wieder festgestellt, daß Ihr philosophisches Werk ein wenig umschattet wird von nicht sehr lange währenden Vorkommnissen Ihres Lebens, die nie aufgehellt worden sind, weil Sie entweder zu stolz waren oder Sie nicht für zweckmäßig hielten, sich dazu zu äußern.« Heidegger hatte damit gerechnet, daß das Gespräch vor allem um seine Verstrickung in den Nationalsozialismus kreisen würde. Um so mehr war er überrascht, daß Augstein sich geradezu beeilte, diese Thematik hinter sich zu bringen, um auf Heideggers philosophische Deutung der Moderne und insbesondere auf seine Technik-Philosophie zu sprechen zu kommen. Immer wieder entschuldigen sich Augstein und Georg Wolf dafür, wenn sie Zitate aus der Rektoratsrede oder der Rede zur Schlageter-Feier anführen und Heidegger mit den Gerüchten konfrontieren über seine angebliche Beteiligung an der Bücherverbrennung oder über sein Verhalten gegenüber Husserl. So behutsam definieren die Fragesteller Heideggers Engagement, daß Heidegger selbst eine stärkere Version vorschlägt. Augstein/Wolf boten Heidegger die Interpretation an, daß er während seiner Rektoratszeit »manches ad usum Delphini« habe sagen müssen. Doch Heidegger betont demgegenüber, daß die Wendung »ad usum Delphini« zu wenig besagt. Ich war damals des Glaubens, daß in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein neuer und der allein noch mögliche Weg zu einer Erneuerung sich öffnen könnte (87). Diese Version ist aber immer noch nicht »stark« genug. Denn: Nicht die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, sondern die nationalsozialistische Revolution selbst - wie er sie damals verstand - bedeutete für ihn die Erneuerung. Auch spricht er nicht davon, daß diese Erneuerung von ihm als säkulares Ereignis verstanden worden war, als metaphysische Revolution und Umwälzung des ganzen deutschen Daseins, ja des ganzen Abendlandes. Er spricht nicht davon, daß er in einen Machtrausch geraten war, daß er die Remheit der Revolution hatte verteidigen wollen und deshalb auch zum Denunzianten geworden war, daß er mit den nationalsozialistischen Amtsstellen und mit seinen Kollegen zusammengestoßen war und infolgedessen als Rektor scheiterte, weil er die Revolution hatte weitertreiben wollen. Statt dessen erweckt er den Eindruck, er habe mitgemacht, um eine Art Widerstand zu leistell. Er unterstreicht seine unpolitische Einstellung vor 1933 und stellt seine Entscheidung für das Rektorat als Opfergang dar, um Schlimmeres, d. h. die Machtergreifung der Funktionäre an der Universität zu verhindern. Kurz: Heidegger versteckt in diesem Gespräch den nationalsozialistischen Revolutionär, der er für eine bestimmte Zeit gewesen war, und er verschweigt die philosophischen Antriebe, die ihn dazu gemacht hatten.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 463-464

„Wenn Heidegger einerseits seine Rolle in der Nazi-Zeit harmloser darstellt, als sie war, so ist er andererseits doch nicht bereit, die Rolle des »geläuterten Demokraten« zu spielen, wie das im Nachkriegsdeutschland viele taten. Als das Gespräch auf das Problem kommt, daß die Technik den Menschen immer mehr von der Erde losreißt und entwurzelt (98), verweist Heidegger darauf, daß der Nationalsozialismus ursprünglich gegen diese Entwicklung hatte ankämpfen wollen, dann aber selbst zu ihrem Motor geworden sei. Heidegger gesteht seine Ratlosigkeit ein in bezug darauf, wie dem heutigen technischen Zeitalter überhaupt ein - und welches - politisches System zugeordnet werden kann. .... Ich bin nicht überzeugt, daß es die Demokratie ist. (96). Es war an dieser Stelle des Gesprächs, daß Heidegger sagte: Nur noch ein Gott kann uns retten (99). Unter diesem Titel wird das Gespräch 1976, nach dem Tode Heideggers, im »Spiegel« veröffentlicht.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 464

„Das Gespräch sollte die Diskussion um Heideggers Engagement zum Ende bringen und mußte sie doch aufs neue entfachen. Denn Heidegger verteidigte sich so, wie es die meisten »Belasteten« damals taten, von denen Carl Schmitt übrigens in seinem »Glossarium« bissig bemerkte, sie hätten das Mitmachen als eine Form des Widerstandes entdeckt. Was »man« üblicherweise tut, mußte einen unwürdigen Eindruck machen bei einem Eigentlichkeits-Philosophen, der vom entschlossenen Dasein auch den Mut zur Verantwortung gefordert hatte. Verantwortung aber erstreckt sich nicht nur auf den Bereich der eigenen Absichten, sondern auch auf die nicht beabsichtigten Konsequenzen des Handelns. Aber sollte Heidegger Mitverantwortung übernehmen für die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus, an denen er nun wirklich keinen Anteil hatte - auch nicht über gemeinsame gedankliche Voraussetzungen? Heidegger war niemals ein Rassist gewesen. “
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 464-465

„Neben dem Klingelknopf am Hause Rötebuckweg 47 war ein Kärtchen angebracht: »Besuche nach 17 Uhr«. Es kamen viele Besucher, Heidegger mußte sich seine Arbeitszeit freihalten. Petzet erinnert sich des amüsanten Vorfalls, daß an einem Sonntagnachmittag eine vielköpfige südamerikanische Familie Zutritt erbat mit dem einzigen stockend vorgebrachten Wunsch: »Seulement voir Monsieur Heidegger.« Heidegger zeigte sich, die Familie bestaunte das Wundertier und zog dann unter vielen Verbeugungen wortlos davon. Besucher, die ins Arbeitszimmer Heideggers geladen waren - was eine besondere Auszeichnung bedeutete -, mußten eine geschwungene Holztreppe zum ersten Stock hinaufsteigen, wo sich neben einem riesigen Familienschrank die Tür zum Arbeitszimmer öffnete. Ein von umlaufenden Bücherregalen verdunkelter Raum, der durch ein efeuumranktes Fenster Licht empfing. Davor der Schreibtisch. Von ihm aus sah man auf den Turm der Zähringer Burgruine. Neben dem Schreibtisch ein Ledersessel, worin Generationen von Besuchern gesessen hatten, Bultmann, Jaspers, Sartre, Augstein. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Manuskriptmappen, von Fritz Heidegger mit liebevollem Spott »Martins Verschiebebahnhöfe« genannt.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 470

„In diesem Zimmer saß Hannah Arendt 1967 wieder, zum ersten Mall nach einer Zwischenzelt von 15 Jahren. Seit dem letzten Besuch 1952 waren nur Briefe hin und her gegangen. Heidegger hatte ihr zu ihrem sechzigsten Geburtstag 1966 das Gedicht HERBST geschickt. Hannah will Heidegger, der nun auf die 80 zugeht, noch einmal sehen; den Geburtstagsgruß nimmt sie als Ermunterung. Nach den Mißhelligkeiten der vorausgegangenen Jahre wieder eine Versöhnung. Hannah und Elfride beschließen, einander mit Vornamen anzureden. Zwei Jahre später, imAugsut 1969, kurz vor Heideggers achtzigsten Geburtstag, bringt Hanna Arend ihren Mann mit, Heinrich Blücher. Die Stimmung ist herzlich und gelöst. Wenn Hannah nur nicht so viel rauchen würde! Elfride muß hinterher tagelang lüften. Ein Buchgeschenk versieht Heidegger, so Ettinger, mit der Widmung: Für Hannah und Heinrich - Martin und Elfride. Man plant für das nächste Jahr eine Wiederholung dieses Zusammenseins zu viert. Aber irn Oktober 1970m stirbt Heinrich Blücher. Ihre letzten Jahre widmet Hannah Arendt der Arbeit an ihrem großen, unvollendet gebliebenen Werk »Vom Leben des Geistes: Das Denken - Das Wollen - Das Urteilen«. In den dort entwickelten Gedanken ist sie Heidegger so nahe wie nirgends sonst. Heidegger habe, so lautet ihr Fazit, der Philosophie ein »Denken zurückgewonnen, das Dankbarkeit dafür ausdrückt, daß ihm das ›nackte Daß‹ überhaupt zuteil geworden ist«. Auch sonst reißt ihre Verbindung zu Heidegger nun nicht mehr ab. Jedes Jahr besucht sie ihn und kümmert sich energisch um die Herausgabe und Ubersetzung seines Werkes in Amerika. Heidegger erkennt ihre Hilfe dankbar an; es bestätige sich wieder, schreibt er, daß niemand seine Gedanken besser verstehe als sie.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 470-471

„Ettinger berichtet noch die folgende charakteristische Episode: Da das Treppensteigen inzwischen Mühe bereitet, soll im Garten des Wohnhauses ein ebenerdiger kleinerer Bau als bequemer Alterssitz errichtet werden. Zur Finanzierung des Baus will Heidegger das Manuskript von SEIN UND ZEIT verkaufen, an eine Stiftung, eine Bibliothek oder auch an einen privaten Sammler. Es ist Elfride, die im April 1969 in dieser Angelegenheit bei Hannah Arendt Rat einholt. Wieviel kann man verlangen, wo würde man einen höheren Preis erzielen? In Amerika oder in Deutschland? Umgehend zieht Hannah Arendt Erkundigungen bei Fachleuten ein, die erklären, daß der höchste Verkaufspreis wohl an der Universität von Texas zu erzielen sei, man könne sicherlich mit einer Summe um 100000 Mark rechnen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 471

„Das SEIN UND ZEIT-Manuskript gelangte dann doch nicht nach Texas in die Neue Welt, sondern blieb im Abendland: das Schiller-Literaturarchiv in Marbach meldete sein Interesse an. Dorthin gelangte schließlich das gesamte Konvolut des Heideggerschen Manuskripten-Nachlasses. Das kleine Haus auf dem Gartengrundstück wurde gebaut, zum Einzug schickte Hannah Blumen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 471

„Heidegger konnte seinen gewohnten Lebensrhythmus beibehalten. Vormittags Arbeit, nach dem Mittagessen Ruhe, dann wieder Arbeit bis zum späten Nachmittag; die Spaziergänge führten ihn häufig zum »Jägerhäusle«, einer Gastwirtschaft am Hang mit Blick über die Stadt. Dort traf er sich gerne mit Bekannten und Freunden zu einem »Viertele«. Jeweils im Frühjahr und Herbst verbrachte er einige Zeit in Meßkirch beim Bruder. Am Tag des heiligen Martin, am 11 November, sitzt Heidegger jedesmal vorne auf dem angestammten Platz im Chorgestühl der Kirche, wo er schon als Läuterbub gesessen hat. Die Meßkirchener wußten seine Anwesenheit zu schätzen, wenn auch manche, die ihn von Kindesbeinen an kannten, nun ein wenig befangen waren gegenüber dem berühmten Professor mit der Baskenmütze. Als eine ehemalige Mitschülerin aus der Volksschule, die es nur zur Putzfrau gebracht hatte, ihm einmal begegnete und nicht wußte, wie sie ihn anreden sollte, ob mit dem gebräuchlichen »Du« oder dem für sie geziert klingenden »Sie«, verfiel sie in ihrer Ratlosigkeit auf das Heideggersche »Man«, denn sie sagte zu ihm: »Isch me au do?« (»Ist man auch da?«) Zu den runden Geburtstagen gab es Feierstunden im städtischen Festsaal. Ein Schweizer Musiker hatte einen Heidegger-Marsch mit der Motivfigur h-e-d-e-g-g-e komponiert, den die Stadtkapelle von Meßkirch für solche feierliche Gelegenheiten in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Daß der Prophet nichts gilt im eigenen Land, gilt also nicht für Meßkirch, wo Heidegger 1959 auch die Ehrenbürgerwürde verliehen bekam.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 471-472

„Heidegger war nun ein ehrfurchtgebietender alter Herr, aber was an ihm schroff und streng gewesen war, das milderte sich. Er ging zu Nachbarn, um Fernsehübertragungen großer Fußball-Europapokalspiele zu verfolgen. Beim legendären Spiel Hamburger SV gegen FC Barcelona Anfang der sechziger Jahre warf er vor Aufregung seine Teetasse um. Der damalige Intendant des Freiburger Theaters traf ihn einmal im Zug und wollte mit Heidegger ein Gespräch über Literatur und Bühne führen, was ihm aber nicht gelang, weil Heidegger, noch unter dem frischen Eindruck eines Fußball-Länderspiels, lieber über Franz Beckenbauer reden wollte. Er hegte größte Bewunderung für dessen gefühlvolle Ballbehandlung - wobei er dem erstaunten Zuhörer die Finessen seines Spiels geradezu augenfällig zu machen versuchte. Er nannte Beckenbauer einen genialen Spieler und rühmte seine Unverwundbarkeit in den Zweikämpfen. Heidegger traute sich durchaus fachmännisches Urteil zu, in Meßkirch hatte er nämlich nicht nur die Glocken geläutet, sondern auch als Linksaußen erfolgreich den Ball getreten.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 472

„Am 4. Dezember 1975 stirbt Hannah Arendt. Auch Heidegger bereitet sich jetzt aufs Sterben vor, ruhig, gefaßt, gelassen. Als sein Spielgefährte der Kindheit, Karl Fischer, ihm zu seinem 86. Geburtstag, seinem letzten, gratuliert, antwortet Heidegger: Lieber Karle, .... Ich denke jetzt oft an unsere Jugendzeit zurück und dabei auch an Dein Elternhaus mit den vielen Tieren auf der Terrasse, unter anderen war ein Uhu.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 461

„Bei sinkender Dämmerung wird das Frühe sichtbar. Man darf vermuten, daß Heidegger diesen Uhu wieder sehr deutlich vor sich gesehen hat. Die Zeit, da dieser Vogel zu seinem Flug ansetzt, war gekommen. Vielleicht hat sich Heidegger bei dieser Gelegenheit auch daran erinnert, was mir Karl Fischer, mit dem ich noch sprechen konnte, einmal erzählte: daß der kleine Martin einen Säbel gehabt habe, der so lang war, daß er ihn hinter sich herschleppte. Er war nicht aus Blech, sondem aus Stahl. »Er war eben der Hauptmann«, sagte Karl Fischer, immer noch mit der Bewunderung aus gemeinsamen Lausbubentagen.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 461

„Im Winter 1975 der letze besuch Petzets bei Martin Heidegger. »Wie immer mußte ich ihm vieles erzählen; anteilnehmend fragte er nach Menschen und Dingen, Erfahrung und Arbeit - klar und weitgespannten Geistes wie nur je. Als ich dann bei vorgerücktem Abend gehen wollte und Frau Heidegger das Zimmer schon verlassen hatte, drehte ich mich an der Tür noch einmal um. Der Greis blickte mir nach, hob die Hand, und ich hörte ihn leise sagen: »Ja, Petzet, nun geht es auf das Ende zu«. Ein letztes Mal grüßten mich seine Augen.«“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 476

„Im Januar 1976 bat Heidegger seinen Meßkirchener Landsmann, den Freiburger Theologieprofessor Bernhard Welte, zu einem Gespräch zu sich und teilte ihm mit, er wolle, wenn es demnächst soweit sei, auf dem Friedhof in Meßkirch, der gemeinsamen Heimat, begraben sein. Er bat um ein kirchliches Begräbnis und darum, daß Welte an seinem Grabe sprechen möge. In diesem letzten Gespräch, das die beiden miteinander führten, ging es um die Erfahrung, daß die Nähe des Todes die Nähe zur Heimat in sich einschließt. »Es schwebte«, so berichtet Welte, »auch der eckhartische Gedanke im Raum, daß Gott dem Nichts gleich sei.« Am 24. Mai, zeei Tage vor seinem Tod, schreibt Heidegger noch einmal an Welte; ein Grußwort aus Anlaß der Verleihung der Meßkirchener Ehrenbürgerschaft an den Theologen. Dieses Grußwort ist die letzte handschriftliche Äußerung von Martin Heidegger: Den neuen Ehrenbürger der gemeinsamen Heimatstadt Meßkirch - Bernhard Weite - grüßt heute herzlich der ältere .... Erfreuend und belebend sei dieser Festtag der Ehrung. Einmütig sei der besinnliche Geist aller Teilnehmenden. Denn es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeitalter der technisierten gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann. (D, 187).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 476-477

„Am 26. Mai, nach einem erquickten Erwachen am Morgen, schläft Heidegger wenig später noch einmal ein und stirbt.“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 477

„Die Beisetzung in Meßkirch findet am 28. Mai statt. Ist Heidegger in den Schoß der Kirche zurückgekehrt? Max Müller erzählt, wie Heidegger auf Wanderungen, wenn man zu Kirchen und Kapellen kam, stets Weihwasser nahm und eine Kniebeuge machte. Einmal habe er ihn gefragt, ob das nicht eine Inkonsequenz sei, da er doch von den Dogmen der Kirche Abstand genommen habe. Darauf habe Heidegger geantwortet: Geschichtlich muß man denken. Und wo soviel gebetet worden ist, da ist das Göttliche in einer ganz besonderen Weise nahe. (Zitiert aus: Max Müller, Martin Heidgger - Ein Philosoph und die Politik, S. 213).“
Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 477

„Man beneidet die Tiere, weil sie ganz Natur, ohne störendes Bewußtsein. Man beneidet Gott, weil er vielleicht reines Bewußtsein ist, ohne störende Natur. Und man beneidet das Kind, dieses göttliche Tier. Man beneidet damit sich selbst um seine verlorene Kindheit, seine Spontaneität und Unmittelbarkeit. Unsere Erinnerung läßt uns glauben, daß wir alle die Austreibung aus dem Paradies schon einmal erlebt haben - als unsere Kindheit zu Ende ging.“
Rüdiger Safranski, Das Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 25

„Der Mensch mußte also, als er die Freiheit der Wahl bekam, die Unschuld des Werdens und Seins verlieren. Die richtige Wahl konnte ihm keiner abnehmen, auch nicht Gott. Gott mußte dem Menschen das zumuten, da er seine Freiheit respektierte. Aber diese Freiheit konnte nicht vollkommen sein, denn Vollkommenheit ist nur bei Gott.“
Rüdiger Safranski, Das Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 25

„Was heißt vollkommene Freiheit ?  Das ist eine Freiheit, der das Leben gelingt. So aber verhält es sich beim Menschen nicht. Freiheit ist bei ihm nur eine Chance, keine Garantie des Gelingens. Das Leben kann ihm auch mißlingen - aus Freiheit. Der Preis der menschlichen Freiheit ist genau dfiese Möglichkkeit des Mißlingens. Natürlich hätte der Mensch lieber eine Freiheit ohne dieses Risiko.“
Rüdiger Safranski, Das Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 25

„Man zitierte gern Lenin: Dieser hatte gesagt, während man Musik von Beethoven hört, möchte man den Menschen, allen Menschen, über den Kopf streichen. So aber seien die Zeiten nicht, einige Köpfe müsse man abschlagen.“
Rüdiger Safranski, Das Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 235

„Ich habe ein Buch über die Freiheit geschrieben. Das Böse ist der Preis der Freiheit.“
Rüdiger Safranski, im Gespräch mit der NZZ, 1997

„Gerade weil Schopenhauer sich das Gegenteil so lebhaft vorstellen konnte, wurden ihm die Spielregeln des Urvertrauens sinnfällig: ein Wesen, das sich in die monströse Einsamkeit hinausdenken kann, verlangt nach dem Gefühl, bedacht zu sein. Die Formel des Weltvertrauens lautet: »cogitor ergo sum«, (ich werde bedacht, also bin ich). Die Lehre Schopenhauers aber lautet: Wir werden lernen müssen, ohne Weltvertrauen zu leben, wir sind alleine, es gibt keinen übergreifenden Sinn. Schopenhauers Welt ist eine, der man den Kredit entzogen hat.“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„In Schopenhauers Philosophie drängt alles auf ein gewandeltes Leben. Die große Wandlung wäre die heilige Erleuchtung. Auf sie kann Schopenhauer nur hinweisen. Er selbst bringt es »nur« bis zur Philosophie oder zur Kunst, das gesteht er sich ein. Philosophie und Kunst liegt auf dem halben Weg. Eine befristete Heiligkeit, ein Vorgeschmack, prosaisch gesprochen: ästhetischer oder kontemplativer Weltabstand.“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„Wollte man Schopenhauers Philosophie insgesamt charakterisieren, müßte man sie als eine Metaphysik des ästhetischen Abstandnehmens bezeichnen, wobei »ästhetisch« heißt: auf die Welt hinblicken und dabei schlechterdings nicht tätig darin verflochten sein. Dieses ästhetische Abstandnehmen eröffnet einen Ort der Transzendenz, der leer bleiben muß. Kein Wollen, kein Sollen, nur noch ein Sein, das ganz zurn Sehen geworden ist, zum Weltauge. Solches gelassene Sehen ist jene Art der Verneinung, welche die Philosophie als Akt selbst noch vollziehen kann, mehr kann sie nicht. Aber wenn sie so weit kommt, dann wird das auch die Wirkung haben können, die Schopenhauer der beseligenden Kunst zuschreibt ....“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„Es ist zu Genüge bekannt, wie Nietzsche sich von Schopenhauer hat inspirieren lassen, wie die erste Lektüre der »Welt als Wille und Vorstellung« geradezu als Bekehrungserlebnis gewirkt hat. Später entfernte er sich von ihm, aber blieb ihm antithetisch verbunden: der Schopenhauerschen Entsagung setzt er den Willen zur Macht entgegen.“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„Nietzsche hat der Schopenhauerschen Verneinung auf den Grund gesehen und dort jenes Verlangen nach einem anderen Sein entdeckt, wovon schon die Rede war. Verschafft sich Schopenhauer, so fragt Nietzsche, nicht mit seiner ganzen Verneinungsphilosophie die die besten Bedingungen für die »schönste Fruchtbarkeit«, bedeutet die Askese nicht eine Intensivierung und raffinierte Ausgestaltung des Lebenswillens? Nietzsche entdeckt das uneingestandene »Ja« in Schopenhauers »Nein«. Und zwar deshalb, weil er nach seinem Zarathustra-Erlebnis die ganze Welt im Lichte einer ekstatischen Lebensbejahung sehen will und sehen kann und darum ein so feines Gespür entwickelt für die heimlichen und unheimlichen Lebensaffirmationen im Werk Schopenhauers.“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„Auch sonst ist Schopenhauers Philosophie in Nietzsches Konzeption der dionysischen und apollinischen Lebensmächte gegenwärtig. Dionysos ist die Welt des »Willens«, Apoll ist für die »Vorstellung« zuständig. Nietzsche nimmt eine ganze Reihe von Identifikationen vor. Aus dem Kunstprinzip Dionysos (worin sich auch die Kunst Wagners spiegelt) wird ein Weltprinzip und daraus schließlich ein Prinzip seiner innersten Erfahrung, wie Nietzsche sagt. Schopenhauer strebt mit seinem »bessren Bewußtsein« und seiner Ekstase der Verneinung ins Überindividuelle, Nietzsche dagegen will mit seinem Prinzip Dionysos Fühlung halten zu den vitalen, gewissermaßen unterindividuellen Lebensmächten, diesem Gemisch aus Glück, Qual und Entsetzen. Sein Ideal ist ein Glück, das in den Abgrund geblickt hat; ein Glück, das stark genug ist, um einverstanden zu sein mit Schmerz, Verzweiflung, Grausamkeit.“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„Eine Generation vor Sigmund Freud diagnostiziert Nietzsche die Krankheit der Kultur: ihr Fundament sei die Angst, die sich an vermeintliche Sicherheiten klammert. Über lange Zeit hin war das Christentum eine solche Sicherheit. Das Christentum hat inzwischen, das sieht auch Nietzsche, seine Rückversicherungskraft eingebüßt; deshalb hat man sich nun daran gemacht, Ersatzgötter zu finden: im Nationalismus und Sozialismus, im bienenfließigen Arbeitsleben, im Glauben an den technischen Fortschritt. Das alles bewegt sich für Nietzsche im Milieu eines faden Optimismus, der darauf angelegt ist, das Leben vor den großen Problemen sicherzustellen: Tod, Schmerz, Gewalt, Sinnlosigkeit werden verdrängt. Die Kultur errichtet einen Sicherheitskordon. Eine Kultur, die Nietzsche mit der zweiflerischen Frage belästigt: dieses Leben, das sich hier schützen will, - lebt es eigentlich noch? Im Zarathustra läßt Nietzsche den »letzten Menschen«, also uns, auftreten.“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„Auf die Heiligung des Diesseits kommt es an. Das unterscheidet Nietzsches Atheismus vom modernen Nihilismus. Der moderne Nihilismus, so wie er ihn sieht, ist nur noch Ernüchterung. Man hatte dem Leben einen transzendenten Sinn und Wert beigelegt. Wenn dieser Jenseitssinn schwindet, bleibt das Leben zurück: sinnlos, man hat ein Jenseits geheiligt und das Diesseits profaniert. Verschwindet das heilige Jenseits, bleibt das profanierte Diesseits zurück. Deshalb hat der Nihilismus eigentlich schon mit Platon und dem Christentum, dem Platonismus fürs Volk, begonnen, als nämlich im Zeichen einer höheren Idee das immanente Leben entwertet wurde. Damals begann das Zerwürfnis mit dem Leben. Und deshalb verliert am Ende dieser langen Geschichte der platonisch-christlichen Entwertung des Lebens der moderne Nihilismus sein überschwengliches Jenseits, ohne das Diesseits als Wert zurückzugewinnen. Nietzsche Zarathustra aber will in der Kunst unterweisen, wie man gewinnt, wenn man verliert. Alle Ekstase, alle Beseligung, die ganzen Himmelfahrten des Gefühls, dieser Hunger nach Intensität, der vormals ins Jenseits ausgriff, sollen sich nun ans unmittelbare, diesseitige Leben halten. Nietzsche will die Kräfte des Transzendierens für die Immanenz bewahren. Überschreiten und doch der Erde treu bleiben - das ist es, was Nietzsche seinem Übermenschen aufträgt. Der Übermensch , wie ihn Nietzsche entwirft, ist frei von Religion: er hat sie nicht verloren, er hat sie in sich zurückgenommen. Der gewöhnliche Nihilist hingegen, der letzte Mensch, hat sie nur verloren und das profanierte Leben zurückbehalten. Nietzsche will die heiligenden Kräfte fürs Diesseits retten - gegen die nihilistische Tendenz ihrer Profanierung.“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„Nietzsche und Schopenhauer sind Beispiele dafür, wie große Philosophie aus inspirierenden Augenblicken erwächst und - mit nur wenig Übertreibung gesagt - nur noch eine Ausfaltung dessen ist, was in diesen Augenblicken als Erlebnis und Erfahrung gelegen hat. An diesem Paar zeigen sich - zweitens - zwei Grundmöglichkeiten der Ekstase. Die Ekstase des »Nein« zur Welt, wie sie ist. Und eine Ekstase des »Ja«. Schopenhauer will aus der Welt transzendieren, Nietzsche in die Welt transzendieren. Beide aber bleiben natürlich »in der Welt«. Und so bleiben sie sich nahe, weil sich zuletzt doch alles abspielt in einer Dimension, die man die »ästhetische« nennt. Eine Umwandlung, die sich zwar ohne Gott vollzieht, aber wohl genauso fundamental ist, wie als wäre dieser Gott, der alles neu macht, im Spiel. Zwei atheistische Philosophien, in denen Gott verschwunden, aber ein Gotteseffekt geblieben ist: der ästhetische. Eine gewandelte Wahrnehmung - als ob einem ein Gott neue Augen eingesetzt hätte.“
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998

„Man glaubt, das bloße Vorhandensein von etwas sei die einfachste Sache der Welt. Aber, genau betrachtet, ist es das Rätselhafte schlechthin.“
Rüdiger Safranski, Nietzsche - Biographie seines Denkens, 2000, S. 174

„Die Kunst des Wohnens, da hat Heidegger vollkommen recht, ist vielleicht das Wichtigste.“
Rüdiger Safranski, im Gespräch mit dem Marbuger Forum, 2001

„Ohne Glauben könnten wir gar nicht leben. In der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft lebt jeder, was das Wissen betrifft, aus zweiter oder dritter Hand. Bei den meisten Dingen, die unseren unmittelbaren Lebens- und Kompetenzbereich überschreiten, bleibt uns nichts anderes übrig, als an das Wissen der anderen – zu glauben. In den meisten Angelegenheiten sind alle dazu verurteilt, gläubige Mitwisser zu sein. Da jeder nur Spezialist für Bestimmtes ist und Laie in Bezug auf den riesigen Rest, wächst mit der spezialisierten Wissensgesellschaft auch die Glaubensgemeinschaft. Je mehr Wissen, desto mehr Glauben an das Wissen der anderen. Diese Art des Glaubens hat also auf jeden Fall eine große Zukunfte.“
Rüdiger Safranski, in: Cicero, 5, 2004

„Es gibt in der Wissensgesellschaft Felder, wo in diesem Sinne besonders intensiv geglaubt wird. Wenn die Wirtschaftsweisen im Fernsehen wie Schamanen aus den Kulissen treten und ihre Orakelsprüche verkünden, dann sollen wir an die verkündeten Konjunkturprognosen glauben. Aber so glauben wir auch an die Psychoanalyse, an den Urknall, an das Chaos in der Natur, an die künftige Klimakatastrophe, an die Entropie samt kosmischem Wärmetod, an die egoistischen Gene und an vieles andere mehr. Zwar könnte man sagen, das seien nur Formen des Für-wahrscheinlich-Haltens, die deshalb wenig mit dem religiösen Glauben zu tun hätten. Und doch nähern wir uns dabei dem religiösen Feld, weil es hier um Zuversicht oder Angst in bezug auf Themen geht, die lange Zeit genuin religiöse Themen waren. Wer an den Urknall glaubt, hält nicht nur eine wissenschaftliche Hypothese für wahrscheinlich, sondern glaubt daran wie an die göttliche Weltschöpfung. Und an die Entropie-Hypothese mit dem schließlichen Wärmetod kann man auch glauben wie an die Apokalypse.“
Rüdiger Safranski, in: Cicero, 5, 2004

„Noch in einem anderen Sinne leben wir alltäglich aus dem Glauben. Der Mensch ist das Tier, das versprechen kann, hat Nietzsche einmal gesagt. Der eine verspricht, der andere glaubt ihm. Glauben ist auf beiden Seiten im Spiel, denn auch der Versprechende muß an sich selbst glauben, genauer: an sein künftiges Selbst, das ein gegebenes Versprechen einhalten soll. Ich verspreche, weil ich an mich glaube und du glaubst mir, weil ich verspreche. Diese Art des Glaubens zirkuliert zwischen den Menschen und ist so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Es ist ein Glaube, dem wir im Interesse unserer Lebensfähigkeit eine Zukunft wünschen müssen. Der Mensch lebt, anthropologisch gesehen, auf Kredit.“
Rüdiger Safranski, in: Cicero, 5, 2004

„Die Philosophen jedenfalls haben dann auf einmal bemerkt, daß in der Finanzwirtschaft ... offenbar Leute in mächtigen Positionen agieren, deren Wirklichkeitskontakt noch viel beschädigter ist als der beschädigte Wirklichkeitskontakt der Philosophen.“
Rüdiger Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009

„Ich denke, wenn es die katholische Kirche nicht gäbe, müßte man sie erfinden. Gerade als antimodernistisches Gegenlager gegenüber den unglaublich gefährlichen Potenzen, die in der Moderne ... liegen. Mir ist ... wirklich am wohlsten, also ich fühle mich am sichersten, wenn wir diesen »Elefanten« der katholischen Kirche da stehen haben und die Modernitätshysteriker können sich daran abarbeiten. Dadurch entsteht eine Entschleunigung in diesen Prozessen der Modernität. Und auf die setze ich. Der Charme der katholischen Kirche ist für mich der, daß sie genau an allen Punkten, die wir so bisher genannt haben, auf der Bremse steht. Die steht auf der Bremse. Und die brauchen wir. “
Rüdiger Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, November 2009

„So wie ich das bei Benedikt XVI. höre, ist mir das insofern sympathisch, als ich z.B. im Moment das Gefühl habe, daß wir in unserer Gesellschaft eine inbrünstige quasi-religiöse Gläubigkeit an die Naturwissenschaften z.B. haben. .... Die größte Gefahr - für mich - im geistigen Leben ist der pseudo-naturwissenschaftlich begründete Naturalismus. .... Einen ... Standpunkt in dem allgemeinen Meinungskampf, wie ihn Benedikt XVI. vertritt, empfinde ich als eine Befreiung von Flachköpfen wie Dawkins u.s.w..“
Rüdiger Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, November 2009

„Die Finanzwirtschaft ... ersetzt die alte antibürgerliche Arbeiterbewegung von der ganz anderen Seite. Das sind die Chaoten am anderen Ende der Skala, die ungleich gefährlicher sind als alles, was wir bisher hatten.“
Rüdiger Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010

„Bürgerlich ist die Beschreibung des Teils der Gesellschaft, der die Werte schafft, die dann verteilt werden können. Wir bekommen das vielleicht sogar im internationalen Maßstab .... Jetzt schälen sich ja Staaten heraus wie Griechenland u.a., die selber wiederum Transferempfänger sind von den Kernländern Europas, die Werte schaffen und dort ausleihen - weil wir auch dorthin exportieren -, ... will sagen: Ist ... das Bürgerliche ... nicht auch eine Beschreibung eines neuen Dualismus in der Gesellschaft, eben zwischen Transferempfängern ... und dem Leistungskern einer Gesellschaft.“
Rüdiger Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010

„Der Mensch lebt immer in einem Wahrnehmungs- und in einem Handlungskreis. Heute leben wir in einer Situation, in der wir unendlich mehr wahrnehmen, als wir im Handlungskreis abführen können, was zur Dauererregung führt.“
Rüdiger Safranski, „Vielleicht waren wir zu früh“, in: Zeit-Online, 11. Mai 2012

„Künstlerische Werke sind heute so etwas wie Schrottpapiere. Völlig entwertet oder in anderen Fällen zum Spekulationswert hochgesteigert. Es gibt, wie wir wissen, kein vernünftiges Verhältnis mehr zwischen Real- und Finanzwirtschaft. Zirkulation rangiert vor Produktion. Dass Werte, die zirkulieren, zuvor irgendwie geschaffen werden müssen, macht man sich kaum mehr klar. Man muss nur zugreifen, es ist doch alles schon da, denkt der Konsument in uns. Der Konsument aber ist bekanntlich, nach Nietzsche, der letzte Mensch. Der Endverbraucher eben.“
Rüdiger Safranski, „Vielleicht waren wir zu früh“, in: Zeit-Online, 11. Mai 2012

 

 

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