Im Sommer 1913 promoviert er in der Philosophie
mit dem Thema DIE LEHRE VOM URTEIL IM PSYCHOLOGISMUS. - In dieser Arbeit
erweist sich Heidegger als fleißiger und gelehriger Schüler
Husserls, dessen »Logische Untersuchungen« bei ihm mächtig
nachwirken. Mit Husserl streitet er gegen die Vertrter des Psychologismus,
gegen den Versuch also, das Logische aus dem Psychologischen zu erklären.
.... Die Auseinandersetzung mit dem Psychologismus zwingt ihn zum ersten
Mal zu einer Reflexion über das große Problem seines späteren
Hauptwerkes: die Zeit.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 59 |
Das Denken ... geschieht in der Zeit, beansprucht Zeit. Der logische
Gehalt des Denkens aber, so sagt Heidegger mit Husserl, gilt unabhängig
von der Zeit.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 60 |
Der Anstoß, zumindest zu einem Teil von SEIN UND
ZEIT fertigzumachen, war von außen gekommen. Nicolai Hartmann hatte
1925 die Berufung nach Köln angenommen, und die Marburger Fakultät
wollte den Extraordinarius Heidegger zum ordentlichen Ordinarius machen.
Die Berufungskommission übt nun einen sanften Druck auf Heidegger
aus, er möge doch endlich eine neue Arbeit zur Veröffentlichung
vorlegen. Man bezieht sich dabei auf eine Ausage Hartmanns, der darauf
hingewi4sen hatte, daß »eine ganz hervorragende Arbeit Heideggers«
unmittelbar vor dem Abschluß stehe. Dieser Hinweis genügt der
Philosophischen Fakultät, um Hediegger am 5. August für die
Nachfolge Hartmanns vorzuschlagen. Aber aus Berlin am 27. Januar 1926
ein ablehnender Bescheid. Der Kultusminister Becker schreibt: »Bei
aller Anerkennung der Lehrerfolge des Professors Heidegger erscheint es
mir doch nicht angängig, ihm eine etatmäßige ordentliche
Professur von der historischen Bedeutung des dortigen Lehrstuhls für
Philosophie zu übertragen, bevor nicht große literarische Leistungen
die besondere Anerkennung der Fachgenossen gefunden haben, die eine solche
Berufung erheischt.« Am 18.Juni 1926 schreibt die Philosophische
Fakultät nochmals an das Ministerium mit der Bitte, den Professor
Heidegger zu berufen. Er habe in der Zwischenzeit eine größere
Arbeit zum Drucke gebracht. Druckbogen liegen bei. Am 25. November kommen
die Druckbogen zurück. Das Ministerium bleibt bei seiner Entscheidung.
Anfang 1927 erscheint dann SEIN UND ZEIT als Sonderdruck des von Husserl
und Max Scheler herausgegebenen »Jahrbuches für Philosophie
und Phänomenologische Forschung«. Jetzt begreift endlich auch
das Ministerium, was da für ein Werk das Licht der Öffentlichkeit
erblickt hat. Am 19. Oktober 1927 erhält Heidegger den ersten ordentlcihen
Lehrstuhl für Philosophie.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 166-167 |
Es war ein leidiges Hin und Her - Heidegger am 24. April 1926
an Jaspers: »Die ganze Geschichte ist ... mir gänzlich gleichgültig«
- aber immerhin haben diese Umstände Heidegger gezwungen, sein Werk
zur Veröffentlichung zu geben, auch wenn es für ihn noch nicht
fertig war. Jaspers bekommt nach und nach die Druckbogen übersandt
mit Heideggers eher bescheidenen Kommentaren. Am 24. Mai 1926: »Im
Ganzen ist es für mich eine Übergangsarbeit ...«.
Am 21. Dezember 1926: Er schätze die Arbeit nicht »übermäßig
hoch ein, habe aber auf ihrem Grunde verstehen gelernt ..., was Größere
wollten«. Am 26. Dezember 1926: »Mehr wird mir die
Arbeit überhaupt nicht einbringen, als was ich schon von ihr besitze:
daß ich für mich selbst ins Freie gekommen bin und mit einiger
Sicherheit und Direktion Fragen stellen kann.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 167 |
Im Frühjahr 1927 liegt die Mutter Heideggers im Sterben.
Heidegger äußert Jaspers gegenüber, welchen Kummer es
ihm bereitet, in den Augen der frommen Mutter als ein vom Glauben abgefallener
Sohn erscheinen zu müssem: »Daß ich für sie eine
schwere Sorge bin und das Sterben schwer mache, werden Sie ungefähr
ermessen. Die letzte Stunde, die ich bei meiner Mutter verbrachte ...
war ein Stück praktischer Philosophie, das mir bleiben
wird. Ich glaube, den meisten Philosophen ist die Frage Theologie
und Philosophe oder besser Glaube und Philosophie - eine reine Schreibtischfrage.«
(Briefwechsel, 01.03.1927, S. 73). Es ist in diesen
Wochen des Sterbens der Mutter, daß Heidegger am 9. März 1927
in Tübingen einen Vortrag zum Thema PHÄNOMENOLOGIE UND THEOLOGIE
hält, den er ein Jahr später in Marburg in überarbeiteter
Form wiederholt. Dort spricht Heidegger davon, »daß der
Glaube in seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit
gegenüber der wesenhaft zur Philosophie gehörigen ... Existenzform
der Todesfeind bleibt.« Dieser Gegensatz schließe jedoch
kein »gegenseitiges Ernstnehmen und Anerkennen« aus,
aber das sei eben nur möglich, wenn die Differenz festgehalten und
nicht verwischt werde. Christliche Philosophie sei ein »hölzerenes
Eisen«. Philosophie muß sich auf sich selbst verlassen
können »als das freie Fragen des rein auf sich gestellten
Daseins«. (Vgl. ebd., S. 65 und 66). So versteht
er Philosophie. Mit SEIN UND ZEIT glaubt er, bei ihr angekommen zu sein.
Und deshalb legte er der Mutter (sie starb am 3.
Mai 1927; HB) beim Abschied das Handexemplar des soeben erschienenen
Werkes aufs Totenbett.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 167-168 |
Und nun die Eigentlichkeit selbst. Sie ist die Negation
der Negation. Sie widersteht der Neigung zur Flucht, zum Ausweichen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 188 |
Eigentlichkeit ... bedeutet, noch einmal zur Welt kommen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 188 |
Eigentlichkeit entdeckt keine neuen Daseinsgebiete. Alles kann
bleiben und wird auch wohl so bleiben, wie es war, nur die Haltung dazu
hat sich geändert.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 188 |
SEIN UND ZEIT war ein Torso. Zwei Teile waren geplant.
Noch nicht einmal der erste wurde fertig, obwohl Heidegger unter Termindruck
zuletzt Tag und Nacht daran arbeitete. Es war wohl das einzige Mal in
seinem Leben, daß er sich tagelang nicht mehr rasierte. Doch er
hat alle Themen der in SEIN UND ZEIT angekündigten, aber nicht aufgeführten
Kapitel nach und nach bearbeitet. Eine Skizze des fehlenden dritten Abschnitts
des ersten Teils zum Thema Zeit und Sein trägt er noch im
Sommer 1927 vor im Rahmen der Vorlesung DIE GRUNDPROBLEME DER PHÄNOMENOLOGIE.
Den noch ausstehenden großen zweiten Teil von SEIN UND ZEIT - vorgesehen
war die Destruktion exemplarischer Ontologien bei Kant, Descartes und
Aristoteles - arbeitet Heidegger in den folgenden Jahre zu Einzelschriften
oder Vorlesungen aus: 1929 erscheint KANT UND DAS PROBLEM DER METAPHYSIK,
1938 wird der WELTBILD-Vortrag gehalten (später
wird dieser unter dem Titel »Die Zeit des Weltbildes« erscheinen;
HB) mit der Kritik des Cartesianismus; die Auseinandersetzung mit
Aristoteles führt er in Vorlesungen weiter. In
diesem Sinne ist SEIN UND ZEIT weitergeführt und auch abgeschlossen
worden.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 197 |
Auch die sogenannte Kehre, von der Heideggerschule
später so mystifiziert, wird noch im Rahmen dieses Projektes anvisiert.
In der LOGIK-Vorlesung vom Sommersemester 1928 (der
genaue Titel: »Metpahysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang
von Leibniz; HB) wird sie zum ersten Mal als Aufgabe genannt: Die
temporale Analytik ist zugleich die Kehre (in: GA, 26, 201). Diese
Kehre bedeutet: Die Analytik des Daseins »entdeckt«
zuerst die Zeit, kehrt sich dann aber zurück auf das eigene Denken
- unter dem Gesichtspunkt der begriffenen Zeit. Das Denken der Zeit bedenkt
die eigene Zeitlichkeit des Denkens. Dies nun allerdings nicht im Sinne
einer Analyse der historischen Umstände - darin liegt für Heidegger
nicht der Kern der Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit des Daseins vollzieht
sich, wie wir schon wissen, in der Sorge. Sorgend lebt das Dasein
in seinen offenen Zeithorizont hinein, besorgend und versorgend auf der
Suche nach Haltepunkten und Verläßlichkeiten im Fluß
der Zeit. Solche Haltepunkte können sein: Arbeit, Rituale, Institutionen,
Organisationen, Werte. Solche Haltepunkte aber müssen für eine
Philosophie, die sich zum Bewußtsein ihrer eigenen Zeitlichkeit
»gekehrt« hat, alle subtsanzhafte Würde verlieren. Indem
die Philosophie den Strom der Zeit entdeckt, kann sie nicht mehr anders,
als sich selbst als Teil davon zu begreifen. Ihrer universalistischen,
zeitenthobenen Prätentionen beraubt, entdeckt diese »gekehrte«
Philosophie, daß, wenn der Sinn des Seins die Zeit ist, es auch
keine Flucht aus der Zeit in ein verläßliches Sein geben kann.
Die Fluchtwege sind abgeschnitten; Philosophie gibt keine Antworten mehr,
sie kann sich nur noch verstehen als besorgtes Fragen. Philosophie ist
nichts anderes als Sorge in Aktion, Selbstbekümmerung, wie
Heidegger sagt. Philosophie hat wegen ihrer Weisheisprätentionen
eine besonders schwer duchschaubare Art, sich etwas vorzumachen. Philosophierend
will Heidegger der Philosophie auf die Schliche kommen. Was kann sie
denn überhaupt leisten? Heidggers Antwort: Sie kann, indem sie die
Zeit als Sinn entdeckt, die Sinne schärfen für das pochende
Herz der Zeit - für den Augenblick. Die Kehre: nach dem Sein
der Zeit nun also die Zeit des Seins. Die aber balanciert auf der Spitze
des jeweiligen Augenblicks.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 197 |
Wenn die Angst das Initiationserlebnis der Eigentlichkeit ist,
dann gehört das berühmte Heideggersche Vorlaufen zum Tod
bereits zum Gelingen dieser Eigentlichkeit. Dehalb hat das Todeskapitel
im ausgeklügelten Aufbau von SEIN UND ZEIT seinen Platz im Abschnitt
über das mögliche Ganzsein des Daseins - ein anderer
Terminus für Eigentlichkeit.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 188 |
Dieser neue Ton der existentiellen Aktionsphilosphie übte
damals eine gewaltige Wirkung aus auf die Hörer. Heinrich Wiegang
Petzet, der als Student die Antrittvorlesung WAS IST METAPHYSIK? erlebtem
berichtet: »Es war, als spalte ein riesiger Blitz jenen dunkel verhangenen
Himmel ..., in einer fast schmerzenden Helle lagen die Dinge der Welt
offen da ..., es ging nicht um ein System, sondern um Existenz.
.... Es hatte mir die Sprache verschlagen,als ich die Aula verließ.
Mir war, als hätte ich einen Moment auf den Grund der Welt geblickt.«.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 204 |
Es ist so, Heidegger will seine Zuhörer zwingen, für
einen Augenblick »auf den Grund der Welt« zu blicken.
Der Grund, die Begründung, alle diese Sätze vom zrueichenden
grund, die wissenschaftliche Einstellung und dads alltägliche Lebensgefühl
- wo man hinblickt: überall meldet sich das Bedürfnis, auf fetsem
Boden zu stehen. Heidegger läßt die verschiedenen Varianten
von Solidität und Behaustheit mit leicht spöttischem Unterton
Revie passieren. Wie aber steht es mit dem Nichts? - fragt er dazwischen.
Wer radikal nach dem Grund und den Gründen fragt, muß der nicht
irgendwann einmal entdecken, daß der Grund ein Abgrund ist? Daß
ein Etwas sich vor uns nur abheben kann auf dem Hintergrund des Nichts?
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 204-205 |
Heidegger bleibt dem Nichts auf der Spur. Er kann es aber nicht
argumentativ aufweisen, er muß eine Erfahrung wachrufen (ein
Argument ist auch eine Erfahrung; HB). Die Angst offenbart das
Nichts. Wir schweben in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns
schweben, weil sie das Seiende im ganzen zum Entgleiten bringt. (WM,
35).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 205 |
Dieses Entgleiten ist beengend und entleerend zugleich.
Entleerend, weil alles seine Bedeutung verliert und nichtig wird, Beengend,
weil das Nichtige ins Selbstgefühl eindringt. Angst entleert, ud
diese Leere beengt: das Herz krampft sich zusammen. Die äußere
Welt verdinglicht sich, erstarrt in Leblosigkeit, und das innere Selbst
verliert sein Aktionszentrum, es depersonalisiert sich. ANgst ist Verdinglichung
draußen und Depersonalisierung drinnen. Darin liegt, daß
wir selbst - diese seienden Menschen - inmitten des Seienden uns mitentgleiten.
Daher ist im Grunde nicht »dir« oder »mir« unheimlich,
sondern »einem« ist es so. (WM, 35).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 205 |
An diesem Nullpunkt der Angst vollzieht Heidegger nun eine überraschende
Wende. Dieses augenblickliche Versinken ins Nichts nennt er ein Hinaussein
über das Seiende (WM, 38). Es ist ein Akt des Transzendierens,
wodurch es uns überhaupt erst möglich ist, vom Seienden als
einem Ganzen zu sprechen. Natürlich können wir auch abstrakt
das Thema des Ganzen ansprechen. Wir bilden rein gedanklich einen Über-
oder Sammelbegriff: totum, das Ganze. Doch das so verstandene Ganze hat
keine erlebte Wirklichkeit, es ist nur Begriff ohne Gehalt. Erst wenn
das beängstigende Gefühl aufkommt, daß es nichts auf sich
hat mit diesem Ganzen, wird es zur erlebten Wirklichkeit, die nicht auf
uns zukommt, sondern von uns wegleitet. Wem die Wirklichkeit in der Angst
entgleitet, der erfährt darin das Drama des Abstandes. Der ängstigende
Abstand beweist, daß wir nicht ganz von dieser Welt sind, daß
wir über sie hinausgetrieben werden, abgetrieben, nicht in eine andere
Welt, sondern in eine Leere. Mitten im Leben sind wir von Leere umfangen.
In der Transzendenz dieses leeren Spielraums, der sich zwischen uns und
der Welt auftut, erfahren wir die Hineingehaltenheit in das Nichts
(WM, 38). Jede Warum-Frage zehrt von jener letzten Frage: Warum ist Etwas
und nicht vielmeghr Nichts? Wer sich selbst oder die Welt wegdenken kann,
wer nein sagen kann, handelt (nein: denkt
und spricht! HB) in der Dimension des Nichtens. Er beweist,
daß es das gibt: das Nichts. Der Mensch ist, sagt Heidegger, Platzhalter
des Nichts (WM, 38).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 205-206 |
Die Transzendenz des Daseins ist also - das Nichts.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 206 |
In der Angst der Leere verliert man eine Welt und erfährt
doch, wie aus dem Nichts stes wieder eine neue Welt geboeen wird. Durch
die Angst hindurch kann man wieder neu zur Welt kommen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 206 |
Heidegger beginnt seinen Kursus bei den Steinen. Der Stein ist
weltlos. .... Bei der Beschreibung des Weltverhältnisses der
Tiere folgt Heidegger vor allem den Forschungen von Jakob von Uexküll.
Er nennt das Tier weltarm. Seine Umwelt ist ein Umring,
von dem die Triebe des Tieres benommen sind (GA 29/39, 347).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 228 |
Welt ist für das Tier Umwelt.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 228 |
Diese »Umwelt« als erweiterter Körper nennt
Heidegger den Enthemmungsring. Das Tier reagiert auf das, was diesen
Ring durchbricht; es reagiert auf ein Etwas und ist insofern darauf bezogen,
aber es nimmt das Etwas nicht als dieses bestimmte Etwas wahr, mit anderen
Worten: es nimmt nicht wahr, daß es etwas wahrnimmt.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 228 |
Das Tier hat eine bestimmte Offenheit für die Welt, doch
kann ihm die Welt nicht als Welt offenbar werden. Das geschieht
erst im Menschen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 228 |
Diese Vertrautheit mit dem Möglcihsein und dem Nichts - was
es im Weltbezug des Tieres nicht gibt - zeigt den gelockerten Weltbezug,
den Heidegger weltbildend nennt.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 229 |
So wie Max Scheler in seinem anthropologischen Entwurf »Die
Stellung des Menschen im Kosmos« die geistige Personalität
des Menschen gedeutet hatte im Anschluß an Schellings Idee des in
dem und durch den Menschen werdenden Gottes, so knüpft Heidegger
am Ende seiner Vorlesung an einen anderen großen Gedanken Schellings
an: Die Natur schlägt im Menschen die Augen auf und bemerkt, daß
sie das ist. Diesem Schellingschen Lichtblick (GA 29/30, 529) nennt
Heidegger die offene Stelle, die sich im Menschen inmitten des
natgurhaft verschlossenen Seienden aufgetan hat.Ohne den Menschen wäre
das Sein stumm: es wäre vorhanden, aber es wäre nicht
da. Im Menschen ist dei Natur zur Selbstsichtbarkeirt durchgebrochen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 229 |
Diese Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 - wohl
die bedeutendste, die Heidegger gehalten hat, und schon fast ein zweites
Hauptwerk, hatte mit der Wirkung und Analyse der Langeweile begonnen,
dieser Stimmung fahler Entrücktheit. Mit dem Umschlag dieser gelangweilten
Enrücktheit in die ganz andere des Enhusiasmus endet die Vorlesung.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 229-230 |
Seit 1930 spricht er in den Briefen an Elisabeth Blochmann und
an Jaspers häufig von der Notwendigkeit eines neuen Anfangs,
aber auch von den Zweifeln, ob ihm ein solcher neuer Anfang gelingen würde.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 239 |
Und dieser völkische Singular wird unter das Existenzideal
des Selbsteins gestellt, ein Ideal, das »eigentlich« an dem
auf sich sich selbst zurückgeworfenen einzelnen entwickelt worden
war. Die Urforderung alles Daseins, daß es sein eigenes Wesen
behalte und rette, überträgt Heidegger bei der »Kundgebung
der deutschen Wissenschaft für Adolf Hitler« am 11. November
1933 in Leipzig ausdrücklich auf das Volk, das sein eigenes Wesen
behalten und retten muß. Wodurch ist es bedroht? Durch die
Demütigungen des Versailler Vertrages (Diktates!
HB), durch die Abtrennung deutscher Gebiete, durch die Reaparationen.
Welche Organisation sanktioniert dieses Unrecht? Der Völkerbund.
Und deshalb war es richtig, daß Adolf Hitler den Austritt aus dem
Völkerbund erklärte und nun vom Volk in einem Plebiszit (verbunden
mit der Wahl des Reichstags mittel Einheitsliste) die nachträgliche
Zustimmung für diesen Schritt einholt. Diesem politischen Manöver
erteilt Heidegger mit seiner vom einzelnen aufs Volk verschobenen Eigentlichkeitsphilosophie
die höchsten Weihen: Urforderung des Daseins.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 299 |
Die Rede vom November 1933 ist angewandte Fundamentalontologie.
In der Logik-Vorlesung vom Sommer 1934 (LOGIK ALS DIE FRAGE NACH DEM
WESEN DER SPRACHE, Sommersemester 1934) ... hat Heidegger ausdrücklich
über diese Verwandlung der Je-meinigkeit in die »Je-unsrigkeit«
refelktiert. Das Selbst, so sagt er, ist keine zureichende Bestimmung
des Ich. Fundierend vielmehr ist das Wir-selbst. Beim Bemühen
um das Ich-selbst verliert der einzelne den Boden unter den Füßen,
er steht in der Verlorenheit des Selbst, weil er das Selbst am
falschen Ort, nämlich im losgelösten Ich sucht. Zu finden ist
es nur im Wir, allerdings ist nicht jede Ansammlung von Menschen
- ein Kegelklub, eine Räuberbande - schon ein solches Wir.
Die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit gibt es auch
auf der Ebene des Wir. Das uneigentliche »Wir«
ist das Man, das eigentliche »Wir« ist das Volk,
das sich wie ein Mann behauptet. Ein Volksganzes ist also ein Mensch
im Großen (L, 26 ff,.).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 300 |
Was den Griechenland-Traum betrifft, den Heidegger mit der nationalsozialistischen
Revolution verwirklichen wollte, so hatte Nietzsche darüber schon
ein halbes Jahrhundert zuvor das Notwendige gesagt:
»Die deutsche Philosophie als
Ganzes Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen
zu nennen ist die gründlichste Art Romantik und
Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals
war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem
zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort
allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische
Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen
ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen
überallhin, in alle Heimaten und »Vaterländer«,
die es für Griechen-Seelen gegeben hat! Freilich: man muß
sehr leicht, sehr dünn sein, um über diese Brücken
zu schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen
zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit
von »Druck und Stoß«, von der mechanischen Tölpelei
der Naturwissenschaften, von dem Jahrmarkts-Lärme der »modernen
Ideen«! Man will zurück, durch die Kirchenväter
zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln
zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Altertums,
das Christentum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück
alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und
antiker Werturteile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer
Abstraktionen immer noch besser, nämlich feiner und
dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen
Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den
Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen
Geschmack im Norden Europas Herr geworden ist und welcher an dem
großen »ungeistigen Menschen«, an Luther, seinen
Anführer hatte: in diesem Betracht ist deutsche Philosophie
ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens
Wille zur Renaissance, Wille fortzufahren in der Entdeckung
des Altertums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor allem
der Vorsokratiker der bestverschütteten aller griechischen
Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später
urteilen wird, daß alles deutsche Philosophieren darin seine
eigentliche Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des
antiken Bodens zu sein, und daß jeder Anspruch auf »Originalität«
kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnis zu jenem
höheren Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien,
neu gebunden zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst
gearteten Typus »Mensch«. Wir nähern uns heute
allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder,
welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides,
Empedokles, Demokrit und Anaxagoras erfunden hat, wir werden
von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen
und Wertschätzungen, gleichsam als gräzisierende Gespenster:
aber dereinst hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin
liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!«
(Friedrich Wilhelm Nietzsche, Der Wille zur Macht, 284-286). |
Heidegger wollte, wie wir inzwischen wissen, die Wiederkehr des Griechtums
im g e s e l l s c h a f t l i c h e n
Leibe: die Revolution als die Wiederherstellung der ursprünglichen
Macht des Aufbruchs der griechischen Philosophie (Rektoratsrede).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 312 |
Der andere Ort: die Privinz, Todtnauberg. Auf seiner Schwarzwaldhöhe
hatte Heidegger sich seinem griechischen Traum nahe gefühlt, von
dorther war er herabgestiegen ins politische Flachland, dem er etwas abgewinnen
konnte, weil es sich im Aufruhr befand - denn: Alles Große steht
im Sturm.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 313 |
In den Monaten seiner politischen Aktivität muß Heidegger
die schmerzhafte Erfahrung machen, daß er die beiden Welten - die,
in der er lebt, und die, in der er denkt - nicht so zusammenzubringen
kann, wie er sich das wünscht. Es ist viel gelästert worden
über Heidggers Rundfunkvortrag vom März 1934, der die öffentliche
Absage an Berlin enthielt: SCHÖPFERISCHE LANDSCHAFT: WARUM BLEIBEN
WIR IN DER PROVINZ?. Man hat häufig nur eine iedeologisierte Heimat-
und Bauernromantik darin sehen wollen. Doch auf seine Weise gibt Heidegger
hier wirklich Auskunft über eine einfache, aber für ihn sehr
wesemtliche Erfahrung: »Meine ganze Arbeit ... ist von der Welt
dieser Berge und Bauern getragen und geführt. Zuweilen ist jetzt
die Arbeit dort oben für längere Zeit unterbrochen durch Verhandlunegn,
Vortragsreisen, Besprechungen und die Lehrtätigkeit hier unten. Aber
sobald ich wieder hinaufkomme, drängt sich schon in den ersten Stunden
des Hüttendaseins die ganze Welt der früheren Fragen heran,
und zwar ganz in der Prägung, in der ich sie verließ. Ich werde
einfach in die Eigenschwingung der Arbeit versetzt und bi ihres verborgenen
Gesetzes im Grunde nicht mächtig.« (D, 11)
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 313 |
Heidegger bemerkt und gesteht sich ein, daß die Welt seines
Lebens und seines Denkens in der Hütte von Todtnauberg, und eigentlich
nur dort, zur Übereinstimmung kommen. Nur im Hüttendasein
wird die ganze Welt der früheren Fragen, dieses Wiederholen
des griechischen Anfangs, zur lebendigen Wirklichkeit; nur dort west
sie an, wie Heidegger zu sagen pflegt.. Deshalb ist er auch erleichtert,
nach dem Scheitern des Rektorats wieder an diese Ortschaft seines
Denkens zurückkehren zu können. »Zurück aus Syrakus?«
soll Wolfgang Schadewaldt anzüglich gefragt haben bei einer zufälligen
Begegnung auf der Straße. In Syrakus hatte Platon bekanntlich seine
Staatsutopie verwirklichen wollen und war dabei nur mit großem Glück
der Sklaverei entronnen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 313 |
Als Heidegger am 23. April 1934 vom Rektorat zurücktritt,
gibt er eine politisch exponierte Stellung auf ....
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 313 |
Im Wintersemester 1934/35 hält er seine erste Hölderlin-Vorlesung.
Von nun an wird Hölderlin ein ständiger Bezugspunkt seines Denkens
bleiben. Bei Hölderlin will Heidegger herausfinden,w as es auf sich
hat mit dem Göttlichen, das uns fehlt, und mit einer »Politik«,
die über den Geschäften des Tages steht.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 317 |
Seine Hölderlin-Exegese hat drei Schwerpunkte. Es geht, nach
dem Scheitern der eigenen Macht-Politik, um das Wesen der Macht und um
die Hierarchie der Daseinsmächte. Dichten, Denken und Politik ....
Zweitens will Heidegger mit Hölderlin eine Sprache finden für
das, was uns fehlt. Er zitiert Hölderlin als wortmäßigen
Zeugen unseres Mangels an Sein (»Götternacht« {Hölderlin})
und als Vorboten einer möglichen Überwindung dieses Mangels.
Und drittens will er über das Medium Hölderlin, diesen Dichter
des Dichtens, sein eigenen Tun begreifen, das Denken des Denkens.
Er spiegelt sich selbst in Hölderlin, vor allem in dessen Scheitern.
Er zeichnet indirekt ein Bild von sich, wie er sich sieht und wie er gesehen
werden möchte.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 319 |
In seiner Vorlesung kommentiert er die beiden späten Hölderlin-Hymnen
»Germanien« und »Der Rhein«. Heidegger zitiert
als Grundgedanken seiner ganzen Auslegung einen Aphorismus Hölderlins:
»Meist haben sich Dichter zu Anfang oder zu Ende einer Weltperiode
gebildet. Mit Gesang steigen die Völker aus dem Himmel ihrer Kindheit
ins thätige Leben, ind Land der Cultur. Mit Gesang kehren sie da
zurück ins ursprüngliche Leben.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 319 |
Nun setzt Heidegger die kulturstiftende Tat des Dichtens in Beziehung
zu den anderen großen Stiftungstaten: die philosophische Welterschließung
und die Gründung eines Staates. Die Grundstimmung, und das heiß
die Wahrheit des Daseins eines Volkes, wird ursprünglich gestiftet
durch den Dichter. Das so enthüllte Seyn des Seienden aber wird als
Seyn begriffen ... durch den Denker, und das so begriffene Seyn wird ...
in die b e - s t i m m t e
geschichtliche Wahrheit gestellt dadurch, daß das Volk zu sich selbst
als Volk gebracht wird. Das geschieht durch die Schaffung ... des Staates
durch den Staatsschöpfer. (GA, 39, 144).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 319 |
Dieses Europa Verblendung immer auf dem Sprunge, sich selbst zu
erdolchen, liegt heute in der großen Zange zwischen Rußland
auf der einen und Amerika auf der anderen Seite. Rußland und Amerika
sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei
der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen.
Wenn die hinterste Ecke des Erdballs technisch erobert und wirtschaftlich
ausbeutbar geworden ist, wenn jedes beliebige Vorkommnis an jedem , beliebigen
Ort zu jeder beliebigen Zeit beliebig schnell zugänglich geworden
ist, ...wenn Zeit nur noch Schnelligkeit, Augenblicklichkeit und Gleichzeitigkeit
ist und die Zeit als Geschichte aus allem Dasein aller Völker geschwunden
ist, wenn der Boxer als der große Mann eines Volkes gilt, wenn die
Millionenzahl von Massenversammlungen ein Triumph sind- dann, ja dann
greift immer noch wie ein Gespenst über all diesen Spuk hinweg die
Frage: wozu? -wohin? -und was dann? (EM, 28-29). Aber
der Geist des Aufbruchs ist auch bedroht von innen -durch den Rassismus
(organisatorische Lenkung der Lebensmasse und Rasse eines Volkes).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 324-325 |
In der nationalsozialistischen Revolution hatte er eine Kraft
des Widerstandes gegen die unheilvolle Entwicklung der Moderne gesehen.
Das machte für ihn die innere Wahrheit und Größe dieser
Bewegung (EM, 152) aus. Aber 1935 sieht er die Gefahr, daß die
besten Impulse dieser Bewegung verspielt werden und der trostlosen
Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen
(EM, 28) zum Opfer fallen. In dieser Situation muß der Philosoph
die ursprüngliche Wahrheit des revolutionären Aufbruchs bewahren
und verteidigen. Er muß sich aber mit Geduld wappnen. Die Philosophie
ist wesenhaft unzeitgemäß, weil sie zu jenen wenigen Dingen
gehört, deren Schicksal es bleibt, nie einen unmittelbaren Wiederklang
in ihrem jeweiligen Heute finden zu können und auch nie finden zu
dürfen. (EM, 6).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 325 |
Mit keinem Wort aber geht Heidegger darauf ein, daß er selbst
der Versuchung, einen unmittelbaren Wiederklang hervorrufen zu
wollen, kurz zuvor erlegen war. Nach der mißlungenen Machtergreifung
der Philosophie kehrt Heidegger jedenfalls wieder zurück zur einsamen
Philosophie, die, wie das Vorbild Hölderlin, die epochale Gefahr
der Weltverdüsterung einzelkämpferisch zu bannen versucht.
Das hat er bei seinem gescheiterten Ausflug in die Politik doch gelernt:
Die Vorbereitung des Wahren geschieht nicht über Nacht. Das Offenbarwerden
des Seyns ereignet sich zwar jetzt schon gelegentlich in der Philosophie,
in seiner Philosophie, aber ehe dieses Geschehnis ausstrahlt in die ganze
Gesellschaft und sie von Grund aus umgestaltet, wird noch eine lange Zeit
verstreichen, die gerade deshalb eine dürftige Zeit bleibt.
An solchem Ort der metaphysischen Not müssen die Geister,
ob Hölderlin oder Heidegger, aushalten, um die Erinnerung an das,
was noch aussteht, wachzuhalten.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 325-326 |
Heidegger hält also an seiner philosophischen Phantasie fest,
er beginnt aber, sie aus ihrer Verstrickung in die nationalsozialistische
Politik zu lösen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 326 |
Der real existierende Nationalsozialismus wird für ihn immer
mehr zu einem System der verratenen Revolution, die für ihn ja eine
metaphysische Revolution war, ein Offenbarwerden des Seyns auf
dem Boden einer völkischen Gemeinschaft. So muß der authentische
Nationalsozialist, als der sich Heidegger auch weiterhin fühlt, zum
Denker in dürftiger Zeit werden.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 326 |
Aus dem Scheitern des Rektorats macht Heidegger das Beste: Er
schreibt sich in seine Seinsgeschichte ein als Herold, der zu früh
gekommen ist und deshalb in die Gefahr gerät, von seiner Zeit zerrieben
und verworfen zu werden. Ein Bruder Hölderlins.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 326 |
Bei den letzten freien Wahlen am 6. November 1932 hatten die Nationalsozialisten
33,5 Prozent der Stimmen gewonnen. Bei der Wahl vom 5. März 1933,
nach Reichstagsbrand, Ausschaltung der KPD und massiver Einschüchterung
der übrigen Opposition, brachte die NSDAP immer noch nicht die Mehrheit
des Volkes hinter sich. Bei der Reichstagswahl vom 12. November 1933,
als es nur eine Einheitsliste gab, verbunden mit einem Plebiszit über
den Austritt aus dem Völkerbund, stimmten dann 92 Prozent für
die NSDAP. Dieses Wahlergebnis wird die Stimmung im Volk sicherlich nicht
zutreffend widergespiegelt haben: so groß war die Zustimmung zu
Hitler zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber für die späten dreißiger
Jahre wird man vermuten dürfen, daß die überwältigende
Mehrheit des Volkes Hitlers Politik im großen und ganzen unterstützte.
Und zwar nicht deshalb, weil Terror, Gleichschaltung und Einschüchterung
so wirkungsvoll gewesen wären, sondern weil Hitlers Politik zu diesem
Zeitpunkt in den Augen der übergroßen Mehrheit sich als erfolgreich
erwiesen hatte. Am 28. April 1939 gibt Hitler in einer großen Rede
ein Resümee dieser Erfolge: »Ich habe das Chaos in Deutschland
überwunden, die Ordnung wiederhergestellt, die Produktion auf allen
Gebieten unserer nationalen Wirtschaft ungeheuer gehoben. .... Es ist
mir gelungen, die uns allen so zu Herzen gehenden sieben Millionen Erwerbslosen
restlos wieder in nützliche Produktionen einzubauen. .... Ich habe
das deutsche Volk nicht nur politisch geeint, sondern auch militärisch
aufgerüstet, und ich habe weiter versucht, jenen Vertrag Blatt um
Blatt zu beseitigen, der in seinen 448 Artikeln die gemeinste Vergewaltigung
enthält, die jemals Völkern und Menschen zugemutet worden ist.
Ich habe die uns 1919 geraubten Provinzen dem Reich wieder zurückgegeben,
ich habe Millionen von uns weggerissenen, tiefunglücklichen Deutschen
wieder in die Heimat geführt, ich habe die tausendjährige historische
Einheit des deutschen Lebensraumes wiederhergestellt, und ich habe ...
mich bemüht, dies alles zu tun, ohne Blut zu vergießen und
ohne meinem Volke oder anderen das Leid des Krieges zuzufügen. Ich
habe dies ... als ein noch vor 21Jahren unbekannter Arbeiter und Soldat
meines Volkes, aus meiner eigenen Kraft geschaffen.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 327-328 |
Dieser Erfolgsbilanz konnte auch Heidegger Punkt für Punkt
zustimmen. Er begrüßte die diktatorisch herbeigeführte
innere politische Einheit des Volkes. Als Verächter der Weimarer
Demokratie nahm er keinen Anstoß an der Ausschaltung der politischen
Opposition. Gegen das Prinzip Führung und Gefolgschaft hatte Heidegger
nichts einzuwenden. Das NS-Regime hatte vielen Menschen wieder Arbeit
gegeben und sie damit wieder daseinsfähig (Heidegger in einem
Vortrag vom Februar 1934) gemacht. Der Austritt aus dem Völkerbund
und die einseitige Außerkraftsetzung des Versailler Vertrages (Diktates!
HB) galten Heidegger als Bekundung des Willens zur Selbstbehauptung
des Volkes, als Erfüllung jener Urforderung des Daseins, daß
es sein eigenes Wesen behalte und rette. Die Annexionspolitik (Wiedervereinigungspolitik!
HB) Hitlers fand seine Unterstützung, hatte er es doch als
Skandal empfunden, daß 18 Millionen Deutsche zwar zum Volk, aber,
weil außerhalb der Reichsgrenze lebend, doch nicht zum Reich gehören
(zitiert in: Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus,
S. 186; HB). Die innere und äußere Politik des Regimes
entsprach Heideggers politischen Vorstellungen, die ja niemals klar umrissen
waren.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 328 |
Der Nationalsozialismus sei der für Deutschland vorgezeichnete
Weg, man müsse nur lange genug »durchhalten«,
sagte er im Sommer 1936 zu Karl Löwith in Rom. Doch diese Zustimmung
war nun wieder herabgestimmt zur politischen Meinungsäußerung.
Das metaphysische Pathos war weg. Es war eben die Meinung, daß die
Nationalsozialisten eine ganz gute Politik machten - Beseitigung der Arbeitslosigkeit,
sozialer Friede, Revision des Versailler Vertrages (Diktates!
HB) usw. Es war ihm inzwischen klar, daß die Vision der metaphysischen
Revolution, die ihn in die politische Arena gelockt hatte, nicht Wirklichkeit
geworden war. Und indem er mit mühsamem Tasten, wie er an
Jaspers am 1. Juli 1935 schreibt, wieder Anschluß zu finden sucht
an die im Wintersemester 1932/33 abgerissene Arbeit, kann
er sich immer weniger der Einsicht verschließen, daß der Durchbruch
von der Neuzeit zur neuen Zeit einstweilen nur dem einsamen Denken vorbehalten
bleibt - einem Denken, das der überwältigenden Dynamik der Neuzeit
und damit dem tieferen Grund für das Scheitern der eigenen politik-philosophischen
Ambitionen auf die Spur kommen will. Er hatte diese Dynamik offenbar unterschätzt,
als er ,die nationalsozialistische Revolution als einen Bruch in der Tiefe
der Zeit erlebte. Die Jahre zwischen 1935 und 1938 sind der Arbeit an
der Umdeutung gewidmet. Noch 1935 in der METAPHYSIK-Vorlesung hatte er
dem Nationalsozialismus innere Wahrheit und Größe bescheinigt
und damit das gegen die Neuzeit widerständige an ihm bezeichnen wollen.
Während der folgenden Jahre, in denen er die unabschließbare
Dimension des Projektes Moderne erkundet, verändert sich seine Optik,
und der Nationalsozialismus erscheint ihm nun nicht mehr als A u s b r u c h
aus der Moderne, sondern als ihr besonders konsequenter A u s d r u c k .
Er entdeckt, daß der Nationalsozialismus selbst das Problem ist,
für dessen Lösung er ihn gehalten hatte. Er sieht im Nationalsozialismus
den Furor der Neuzeit toben: technische Raserei, Herrschaft und Organisation,
also Uneigentlichkeit als totale Mobilisierung.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 328-329 |
Heidegger scheut sich allerdings nicht, diese spätere Einsicht
früheren Bemerkungen über die Bewegung unterzuschieben. So geschehen
bei der 1953 erfolgten Veröffentlichung der METAPHYSIK-Vorlesung
von 1935. Dort fügt er der Bemerkung über die innere Wahrheit
und Größe der Bewegung die in Klammern gesetzte Erläuterung
hinzu, es sei die Größe des Schrecklichen gemeint, nämlich
die Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen
Menschen. Wie wir gleich sehen werden, ist dies eine Deutung, die
Heidegger erst nach der METAPHYSIK-Vorlesung entwickelt - in den NIETZSCHE-Vorlesungen,
in seinen geheimphilosophischen Aufzeichnungen, den BEITRÄGEN ZUR
PHILOSOPHIE, und in dem Vortrag DIE BEGRÜNDUNG DES NEUZEITLICHEN
WELTBILDES DURCH DIE METAPHYSIK, der nach dem Krieg unter dem Titel DIE
ZEIT DES WELTBILDES erscheint - unter den Schriften Heideggers eine der
wirkungsmächtigsten. Zwischen 1935 und 1938 verarbeitet Heidegger
also seine Enttäuschung darüber, daß die metaphysische
Revolution als politische nicht stattgefunden hat, er versucht die überwältigende
Macht der Neuzeit zu begreifen; zu begreifen, was ihn selbst ergriffen
hat und wie man sich diesem Griff wieder entwinden kann.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 329 |
Was ist das für ein Moloch - diese Neuzeit, an der Heideggers
politik-philosophische Hoffnungen zunichte wurden und die ihn wieder das
Asyl des einsamen Denkens aufsuchen ließ?
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit,
1994, S. 329 |
Heidegger beschreibt in DIE ZEIT DES WELTBILDES die Neuzeit in
den Bildern der totalen Mobilisierung. Er bezieht sich dabei auf Ernst
Jünger, ohne ihn ausdrücklich zu zitieren. Maschinentechnik,
Wissenschaft und Forschung haben sich zu einem mächtigen System der
Arbeit zusammengeschlossen, einem System der Arbeit und der Bedürfnisse.
Das technische Denken regiert nicht nur Forschung und Produktion im engeren
Sinne, sondern technisch-verfügend ist auch das Verhalten der Menschen
zu sich selbst in Begriffen technischer Verfügbarkeit. Das gilt auch
für die Kunst, die als »Kunstproduktion« dem produktiven
Universum der Neuzeit eingefügt bleibt. Die Kultur insgesamt gilt
als ein Bestand von »Werten«, die bewirtschaftet, kalkuliert,
eingesetzt und geplant werden können. Zu diesen Kulturwerten zählen
dann auch religiöse Erlebnisse und Traditionen, die ebnfalls zu einem
Mittel der Bestandsicherung des Ganzen herabsinken. Mit solcher Instrumentalisierung
der Transzendenz ist der Zustand der vollkommenen Entgötterung
(H, 76) erreicht. Neuzeit ist für Heidegger also: Maschinentechnik,
instrumentelle Wissenschaft, Kulturbetrieb und Entgötterung. Das
aber sind doch nur die dringlichen und ins Auge fallenden Symptome. Zugrunde
liegt eine metaphysische Grundstellung, eine alle Lebensbereiche und Tätigkeiten
bestimmende Sicht auf das Seiende insgesamt. Eine Entscheidung darüber,
was als Seiendes zu gelten hat und worauf es bei allem Tun und Lassen
ankommt. Diese Grundstellung ist nach Heidegger definiert durch die Verwandlung
des Menschen in ein »Subjekt«, dem die Welt zum Inbegriff
von »Objekten«, also zu lauter wirklichen und möglichen
Gegenständen wird, die beherrscht, gebraucht, verbraucht, abgewehrt
oder eliminiert werden können. Der Mensch richtet sich auf, er erfährt
sich nicht mehr als in eine Welt eingelassen - sondern diese Welt wird
zu seinem Gegenüber, das er im Weltbild fixiert. Der Mensch
wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen. (H, 88).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 329-330 |
Aber ist er das nicht schon immer gewesen? Nein, sagt Heidegger,
es war einmal anders, und es wird, bei Strafe des Untergangs, wieder einmal
anders werden müssen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 330 |
Es war anders: im antiken Griechenland. In diesem Vortrag gibt
Heidegger eine gedrängte Darstellung seiner Imagination über
die anfängliche Art, in der Welt zu wohnen. Für das antike
Griechentum (und also auch für unsere Zukunft, wenn wir noch eine
haben wollen) gilt: Das Seiende ist das Aufgehende und Sichöffnende,
was als das Anwesende über den Menschen als den Anwesenden kommt,
d.h. über den, der sich selber dem Anwesenden öffnet, indem
er vernimmt. Das Seiende wird nicht seiend dadurch, daß erst
der Mensch es anschaut im Sinne gar des Vorstellens .... Vielmehr ist
der Mensch der vom Seienden Angeschaute, von dem Sichöffnenden auf
das Anwesen bei ihm Versammelte. Vom Seienden angeschaut, in dessen Offenes
einbezogen und einbehalten und so von ihm getragen, in seinen Gegensätzen
umgetrieben und von seinem Zwiespalt gezeichnet sein: das ist das Wesen
des Menschen in der großen griechischen Zeit. (H, 90-91).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 330-331 |
Diese gedrängte Darstellung ist nicht so deutlich, daß
sie einen Kommentar erübrigt. Für das griechische Denken ist
die Welt eine Szene, wo der Mensch unter seinesgleichen und unter die
Dinge tritt, um dort zu handeln und zu sehen und behandelt und gesehen
zu werden. Der Ort des Menschen ist ein Platz der Sichtbarkeit im doppelten
Sinne: er zeigt sich selbst (und nur wenn er sich zeigt, ist er wirklich,
sonst ist er in der Höhle des Privaten, ein »Idiot«),
und er ist das Wesen, dem sich das übrige Seiende zeigen kann. »Erscheinung«
ist für das griechische Denken kein defizienter Modus des Seins.
Sondern Sein ist Erscheinung und nichts anderes. Nur was erscheint, ist.
Deshalb war für Platon das höchste Sein immer noch - als Idee
- dem Sehen aufgegeben. Der Mensch wurde verstanden als ein Wesen, das
mit der übrigen Welt das Sehen und Sich-zeigen-Können teilt.
Nicht nur der Mensch, sondern die Welt insgesamt will zum Vorschein kommen;
sie ist nicht nur das passiv Angeschaute, das Material für unsere
Blicke und Eingriffe. Im griechischen Denken blickt die Welt gleichsam
zurück. Der Mensch drückt den kosmischen Grundzug, daß
alles zum Erscheinen drängt, besonders rein aus und ist darum der
Punkt der höchsten Sichtbarkeit, im aktiven und passiven Sinn. Der
griechische Mensch hat deshalb auch das Theater erfunden, die Bühne
der Welt noch einmal. Der Kosmos insgesamt hatte für ihn Bühneneigenschaften.
Der Mensch ist die offene Stelle des Seins.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 331 |
In diesen Verhältnissen, so Heideggers Überzeugung,
gibt es ein reicheres, intensiveres Sein, eine offene Weite. Im Kontrast
dazu befindet sich der neuzeitliche Mensch in der Gefangenschaft seiner
Projekte, und was ihm widerfährt, erfährt er als Abweichung,
Unfall, Zufall. So verschwindet das Geheimnis aus der Welt, die Fülle,
der Abgrund, das Schicksal, die Gnade. Erst wo das Seiende zum Gegenstand
des Vor-stellens geworden ist, geht das Seiende in gewisser Weise des
Seins verlustig. (H, 101).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 331 |
So gliedert sich die Heideggersche Seinsgeschichte: Das Griechentum
agierte auf einer offenen Bühne, wo der Mensch und die Welt zum Vorschein
kommen und miteinander ihre Tragogien und Komödien aufführen,
im Bewußtsein der Übermacht und Überfülle des Seins,
das geheimnisvoll und verborgen bleibt. In christlicher Zeit ist das Sein
geborgen in Gott, dem man mit Ehrfurcht begegnet, während man aber
dabei doch schon neugierig Ausschau hält nach Ähnlichkeiten
und Entsprechungen zwischen dem Creator und dem Creatum und schließlich
auf den Ehrgeiz verfällt, das Geschaffene im Selbstgemachten zu wiederholen.
Die Neuzeit aber ist nun vollends zum Angriff (H, 108) übergegangen.
Im planetarischen Imperialismus des technisch organisierten Menschen erreicht
der Subjektivismus des Menschen seine höchste Spitze, von der er
sich in die Ebene der organisierten Gleichförmigkeit niederlassen
und dort sich einrichten wird. Diese Gleichförmigkeit wird das sicherste
Instrument der vollständigen, nämlich technischen Herrschaft
über die Erde. (H, 111).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 331-332 |
Den Gedanken Max Webers von der entzauberten Welt der Moderne
aufnehmend und umkehrend, spricht Heidegger von unserer Verzauberung
durch die Welt der Technik. Die neuzeitliche Geschichte bewegt sich unter
einem Bann. Gibt es einen Ausweg?
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 332 |
Heidegger hatte 1933 daran geglaubt, daß der kollektive
Ausbruch aus dem stählernen Gehäuse der Neuzeit eine geschichtliche
Realität geworden sei. Fünf Jahre später konstatiert er,
daß es diese Chance einer grundsätzlichen Wende nicht gegeben
hat und auch weiterhin auf der politischen Ebene einstweilen nicht geben
wird. Er versteht jetzt die Revolution und was aus ihr hervorging als
einen Vorgang, der noch ganz im Banne der neuzeitlichen totalen Mobilisierung
steht, ohne sein eigenes Engagement selbstkritisch zu reflektieren.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 332 |
Seine Diagnose lautet: Die Neuzeit tritt ins Stadium der härtesten
Konfrontation der konkurrierenden Weltbemächtigungskonzepte, Amerikanismus,
Kommunismus, Nationalsozialismus. Die jeweiligen Grundstellungen
werden scharf abgesetzt und entschlossen verteidigt - aber alles geschieht
auf dem gemeinsamen Boden der technisch verzauberten Neuzeit. Für
diesen Kampf ... setzt der Mensch die uneingeschränkte Gewalt der
Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge ins Spiel.
(H, 94).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 332 |
Berechnung steht für Amerikanismus, Planung
für Kommunismus und Züchtung für Nationalsozialismus.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 332 |
Aus der Globalperspektive des Neuzeit-Kritikers Heidegger, der
diese Verhältnisse in seiner NIETZSCHE-Vorlesung auch das Zeitalter
der vollendeten Sinnlosigkeit (N II, 3, 14, 16, 17) nennt, ist das
alles ein einziger »Verhängniszusammenhang«, wie Adorno
später sagen wird - in einem anderen Jargon.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 332-333 |
Blickt man lange ins Dunkle, ist immer etwas darin. Heidegger
bemüht sich darum, in der allgemeinen Finsternis Unterschiede auszumachen.
Die Neuzeit ist zwar insgesamt ein Aufstand des Subjekts, aber
es macht einen Unterschied, ob der Mensch als das auf seine Beliebigkeit
beschränkte und in seine Willkür losgelassene Ich oder als Wir
der Gesellschaft, ob der Mensch als Einzelner oder als Gemeinschaft, ob
der Mensch als Persönlichkeit in der Gemeinschaft oder als bloßes
Gruppenglied der Körperschaft, ob er als Staat und Nation und als
Volk oder als die allgemeine Menschheit des neuzeitlichen Menschen das
Subjekt sein will und muß, das er als neuzeitliches Wesen s c h o n
ist. (H, 92).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 333 |
Was Heidegger bevorzugt, ist klar. Er sagt es deutlich genug,
wenn er wenige Sätze später vom Unwesen des Subjektivismus
im Sinne des Individualismus spricht. Das Wir, die Persönlichkeit
in der Gemeinschaft und das Volk - das sind die am wenigsten
verwahrlosten Formen von Subjekt-Sein in der Neuzeit. Und damit sanktioniert
er seinen politischen Umtrieb zwar nicht in der ursprünglich gemeinten
Bedeutung einer metaphysischen Revolution, aber als die immerhin bessere
Option im allgemeinen Unwesen der Neuzeit. Aber das Richtige, das, was
not tut, ist dies natürlich auch nicht.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 333 |
Heidegger muß Mißverständnissen vorbeugen. Es
geht nicht um eine Verneinung des Zeitalters. Ein Denken, das sich
auf den Machtanspruch der Verneinung versteift, bleibt an das Verneinte
gefesselt und verliert damit seine eröffnende Kraft. Es geht auch
nicht um eine geschichtslose Mystik. Das Sein des Seienden, dem das Denken
sich öffnet, ist kein weltloser Gott. Ganz im Gegenteil: Solches
Denken will eine Perspektive zurückgewinnen, in der die Welt wieder
zu einem Raum wird, \darin, so Heidegger in der METAPHYSIK-Vorlesung von
1935, ein jeglich Ding, ein Baum, ein Berg, ein Haus, ein Vogelruf
die Gleichgültigkeit und Gewöhnlichkeit ganz verliert (EM,
20).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 333 |
Wie sehr dieses Denken in die Nachbarschaft der Kunst gehört,
erläutert Heidegger in seinem 1935 zum ersten Mal gehaltenen Vortrag
DER URSPRUNG DES KUNSTWERKES. Er beschreibt dort am Beispiel eines Gemäldes
van Goghs, das die ausgetretenen Schuhe des Künstlers darstellt (die
Heidegger fälschlich für Bauernschuhe hält), wie die Kunst
die Dinge so zum Vorschein bringt, daß sie ihre Gleichgültigkeit
und Gewöhnlichkeit verlieren. Kunst schildert nicht, sondern
macht sichtbar. Was sie ins Werk hebt, schließt sich zu einer eigenen
Welt zusammen, die durchscheinend bleibt für die Welt insgesamt,
doch so, daß der weltbildende Akt eigens als solcher erfahrbar wird.
So stellt das Werk zugleich sich selbst dar als eine sinnspendende Kraft,
die weItet, durch die das Seiende seiender wird. Deshalb kann Heidegger
sagen, daß es das Wesen der Kunst sei, daß sie inmitten
des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles
anders ist als sonst (H, 59).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 333-334 |
Das Kunstwerk ist auch etwas Hergestelltes. Wie grenzt Heidegger
das Hergestelltsein der Kunst ab von dem im WELTBILD-Aufsatz analysierten
technischen Herstellen?
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 334 |
Um den Unterschied zu bezeichnen, führt Heidegger den Begriff
der Erde ein. Erde ist die undurchdringliche, sich selbst genügende
Natur. Die Erde ist das wesenhaft Sich-verschließende (H,
33). Die technisch-wissenschaftliche Vergegenständlichung
will in die Natur eindringen, ihr das Geheimnis ihres Funktionierens entreißen.
Aber auf diesem Wege werden wir nie verstehen, was sie ist. Es gibt dieses
In-sich-Bestehen der Natur, ihre Art, sich uns zu entziehen. Diesen »Entzug«
eigens zu erfahren, bedeutet, sich für die faszinierende Verschlossenheit,
für die »Erdigkeit« der Natur zu öffnen. Nichts
anderes versucht die Kunst. Wir können das Gewicht eines Steines
bestimmen, das farbige Licht in Schwingungen zerlegen; aber in solchen
Bestimmungen ist das Lasten des Gewichts und das Leuchten der Farbe nicht
erschlossen. Die Erde läßt so jedes Eindringen in sie an
ihr selbst zerschellen (H, 33). Die Kunst aber macht das Unerschließbare
(H, 33) der Erde sichtbar, sie stellt etwas her, woran sonst keine Vorstellung
heranreicht; sie eröffnet einen Raum, worin gerade das Sich-verschließende
der Erde sich zeigen kann. Sie offenbart ein Geheimnis, ohne es anzutasten.
Die Kunst stellt nicht nur eine Welt dar, sondern sie gestaltet das Staunen,
das Entsetzen, den Jubel, die Gleichgültigkeit angesichts der Welt.
Die Kunst schließt das ihre zu einer eigenen Welt zusammen, Heidegger
sagt : Sie stiftet eine Welt, die dem allgemeinen Weltentzug
und Weltzerfall eine Weile lang widerstehen kann. Auf diesen weltbildenden
Aspekt und damit auf die besondere Mächtigkeit der Kunst kommt es
ihm vor allem an. Zum Beispiel der griechische Tempel. Für uns ist
er heute nur noch ein Monument der Kunstgeschichte und war doch einst
die Bezugsmitte, um die herum sich das Leben einer Gemeinschaft organisierte,
es mit Sinn und Bedeutung erfüllend. Das Tempelwerk fügt
erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um
sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren
und Verfall - dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschicks gewinnen.
(H, 27-28). Dadurch gibt der Tempel dem Menschen die Aussicht auf sich
selbst (H, 29). In dieser machtvollen Manifestation stiftet das Kunstwerk
den Gott der Gemeinschaft, ihre höchste Beglaubigung und ihre sinnspendende
Instanz. Deshalb nennt Heidegger die Kunst auch ein Sich-ins-Werk-setzen
der Wahrheit (H, 49). Unter diesem Gesichtspunkt parallelisiert er,
wie schon in der HÖLDERLIN-Vorlesung, die Kunst, das Denken und die
staatsgründende Tat.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 334-335 |
Es handelt sich hier um einen feierlichen Pragmatismus, der erstens
die Geschichtlichkeit der gestifteten »Wahrheiten« begründet:
sie sind von befristeter Haltbarkeit. Zweitens sind die »Wahrheiten«
nirgendwo anders als nur in den Werken. Die Einrichtung der Wahrheit
ins Werk ist das Hervorbringen eines solchen Seienden, das vordem noch
nicht war und nachmals nie mehr wird (H, 50).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 335 |
Wenn Heidegger die Ursprungsmacht der gestifteten Wahrheiten beschreibt,
merkt man, daß die Erregung von 1933, als er die nationalsozialistische
Revolution als das Gesamtkunstwerk der staatsgründenden Tat erlebte,
noch nicht verebbt ist. Das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit stoßt
das Un-geheure auf und stößt zuglezch das Geheure und das,
was man dafür hält, um. Die im Werk sich eröffnende Wahrheit
ist aus dem Bisherigen nie zu belegen und abzuleiten. Das Bisherige wird
in seiner ausschließlichen Wirklichkeit durch das Werk widerlegt.
(H, 63). Diese Sätze passen, aus der Sicht Heideggers, sowohl auf
das politische Gesamtkunstwerk der Revolution wie auch auf einen griechischen
Tempel, eine Sophokles-Tragödie, ein Heraklit-Fragment oder ein Hölderlin-Gedicht.
Jedesmal handelt es sich um ein schöpferisches Tun, das den Menschen
in ein gewandeltes Verhältnis zur Wirklichkeit versetzt; er gewinnt
einen neuen Spielraum, einen anderen Bezug zum Sein. Doch jeder gründende
Akt steht unter dem Gesetz des Veraltens und der Vergewöhnlichung.
Das Eröffnete verschließt sich wieder. Das hatte Heidegger
besonders bei der politischen Revolution erlebt. Der Anfang ist das
Unheimlichste und Gewaltigste. Was nachkommt, ist nicht Entwicklung, sondern
Verflachung als bloße Verbreiterung, ist Nichtinnehaltenkönnen
des Anfangs, ist Verharmlosung und Übertreibung. (EM, 119). So
ist der anfängliche Ausbruch aus der neuzeitlichen Welt wieder ins
Stocken geraten, und es bleibt dem Denken im Bunde mit dem Dichten vorbehalten,
den Spielraum (H, 112) offenzuhalten für den ganz anderen
Bezug zum Sein. Worin dieses ganz Andere besteht, dafür prägt
Heidegger im WELTBILD-Aufsatz die Formel von der Überwindung des
Subjektseins, genauer: von der verwandelnden Kraft des Gedankens,
daß das Subjektsein des Menschentums weder die einzige Möglichkeit
des anfangenden Wesens des geschichtlichen Menschen je gewesen, noch je
sein wird (H, 111).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 335-336 |
Aber hier gerät Heidegger in beträchtliche Schwierigkeiten:
Die Überwindung des Subjektseins soll eröffnet werden durch
ein Dichten und Denken, das aus dem Willen zum Werk entspringt. Das Werk
aber ist Ausdruck einer höchst aktivistischen Gestimmtheit. Denn
was tun die Dichter und Denker? Sie werfen dem überwältigenden
Walten den Block des Werkes entgegen und bannen in dieses die damit eröffnete
Welt (EM, 47). Ist Heideggers Wille zum Werk nicht eine besonders
krasse subjektive Ermächtigung? Liegt es nicht nahe, den Willen zum
Werk zu identifizieren mit Nietzsches Willen zur Macht, der ja auch als
subjektive Ermächtigung verstanden werden kann? Handelt es sich nicht
beide Male um subjektive Einsprüche und Machtansprüche gegen
den grassierenden neuzeitlichen Nihilismus, den beide diagnostizieren?
(Und bei beiden - bei dem einen mehr vom Ländlichen/Bäuerlichen
und dem anderen mehr vom Städtischen/Bürgerlichen her - um eine
Romantik, genauer gesagt, da die Romantik zu ihrer Zeit schon längst
vorbei war, um Neo-Romantiker, und muß demzufolge nicht jeder noch
spätere, nämlich nach der Kulturphase, zu der diese beiden gehören,
kommende Romantisierer (z.B. Sloterdijk) ein Neo-Neo-Romantiker sein?
Vgl. auch meine Anmerkung aus Seite 412; HB)
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 336 |
Heidegger, der in seiner Rektoratsrede sich ausdrücklich
Nietzsches Diagnose »Gott ist tot« zu eigen gemacht hatte,
ist sich seiner Nähe zu Nietzsche durchaus bewußt. Im WELTBILD-Aufsatz
sieht er in ihm einen Denker, dem die Überwindung der Neuzeit fast,
aber eben nur fats, gelungen wäre. Dort resümoert er einen zentralen
Gedanken seiner seit 1936 gehaltenen NIETZSCHE-Vorlesungen: Nietzsche
ist im neuzeitlichen Wertdenken steckengeblieben. Das Zeitalter, das er
überwinden wollte, hatte zuletzt doch über ihn gesiegt und ihm
seine besten gedanken verdorben. Heidegger will Nietzsche besser verstehen,
als dieser sich selbst verstanden hat. Er will ihn überholen auf
dem Weg zu einem neuen Seinsdenken. Dabei kommt er nicht umhin, sich mit
der Vereinnahmung Nietzsches durch nationalsozialistische Ideologen wie
Alfred Baeumler auseinanderzusetzen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 336 |
Baeumler braucht nur Nietzsches physiologische Interpretation
zu radikalisieren, so wird schließlich »Rasse« und »Blut«.
Tatsächlich ist die Blut- und Rassenmystik eine
mögliche Konsequenz des physiologischn gefaßten Willens zur
Macht, das sieht auch Heidegger so, wenngleich er diese Konsequenz, anders
als Baeumler, negativ bewertet. .... Die Verherrlichung der »blonden
Bestie« ist, nach Heidegger, die nihilistische Konsequenz des Aufstandes
des Subjektes.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 337 |
Heidegger gibt Nietzsches partielle Verwendbarkeit für die
herrschende Ideologie zu - wobei er selbst sich von ihr absetzt. Andererseits
versucht er an Nietzsche anzuknüpfen, aber so, daß er sein
eigenes Denken darstellt als eine Überwindung Nietzsches -auf den
Spuren Nietzsches.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 338 |
Nietzsche wollte die traditionelle Metaphysik zum Einsturz bringen,
indem er von einem zutiefst metaphysischen Satz ausging, der in der Schellingschen
Formulierung lautet: »Wollen ist Ursein«. Doch Nietzsche faßt
den Willen anders als die Tradition bis hin zu Schopenhauer. Wille ist
nicht Begehren, dumpfer Trieb, sondern er ist »Befehlenkönnen«,
eine Kraft, das Sein wachsen zu lassen. »Wollen überhaupt ist
soviel wie Stärkerwerden-wollen, wachsen wollen«.
Wille ist der Wille zur Steigerung der Lebensmacht. Für Nietzsche
ist Selbsterhaltung nur möglich in der Logik der Steigerung. Was
nur die Kraft der Selbsterhaltung hat, geht unter. Es erhält sich
nur, wenn es sich steigert, intensiviert, ausdehnt. Das Lebendige hat
keinen transzendenten Sinn, es hat aber einen immanenten Richtungssinn:
es ist auf Intensitätssteigerung und auf Gelingen aus. Es versucht
das Fremde in die eigene Machtsphäre und die eigenen Gestalt zu integrieren.
Das Lebendige waltet, indem es überwältigt. Es ist ein energetischer
Prozeß und als solcher »sinnlos«, weil auf keinen übergeordneten
Zweck bezogen. Ist er darum nihilistisch? Nietzsche trägt seine Lehre
vor als Überwindung des Nihilismus durch seine Vollendung.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 338 |
Nietzsche ... will in der Kunst unterweisen, wie man gewinnt,
wenn man verliert. Alle Ekstase, alle Beseligungen, die Himmelfahrten
des Gefühls, alle Intensitäten, die sich vormals ans Jenseits
hefteten, sollen sich im diesseitigen Leben sammeln. Die Kräfte des
Transzendierens bewahren, aber umlenken in die Immanenz. Überschreiten
und doch »der Erde treu bleiben« - das ist es, was Nietzsche
seinem Übermenschen, dem Menschen der Zukunft zumutet. Der Übermensch,
wie ihn Nietzsche entwirft, ist frei von Religion, aber nicht in dem Sinne,
daß er sie verloren hat; er hat sie in sich selbst zurückgenommen.
So hat denn auch seine Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen nicht
den Zug der resignativen Weltmüdigkeit. Der kreisende Zeitumtrieb
soll das Geschehen nicht zur Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit entleereb,
sondern bei Nietzsche soll der Gedanke der Wiederkehr verdichten; sein
Imperativ: Du sollst den Augenblick so leben, daß du wünschen
kannst, daß er dir ohne Grauen wiederkehrt. Da capo.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 339-340 |
Und nun Heidegger: Er folgt Nietzsche bei der
Kritik des Idealismus, er folgt ihm auch bei dem »bleibet der Erde
treu«. Aber genau an diesem Punkt kritisiert er Nietzsche und wirft
ihm vor, daß er mit seiner Philosophie des Willens zur Macht eben
nicht der Erde teru geblieben sei. Für Heidegger bedeutet »der
Erde treu bleiben«: über die Verwirklung ins Seiende nicht
das Sein zu vergessen. Nietzsche, so Heidegger, ziehe ausgehend vom Prinzip
des Willens zur Macht alles in den Umkreis des wertenden Menschen hinein.
Das Sein, mit dem es der Mensch zu tun hat und das er selbst ist, wert
gänzlich als »Wert« gesehen. Das Sein gehe fälschlich
darin auf, daß es jeweils »Wert« für ihn hat. Nietzsche
wollte, daß der Mensch sich zu sich selbst ermutige, sich aufrichte.
Heidegger sagt: Daraus ist nicht nur ein Aufrichten, sondern ein Aufstand
geworden; ein Aufstand der Technik und der Massen, die nun durch die technische
Beherrschung vollends zu den von Nietzsche so genannten »letzten
Menschen« werden, die »blinzelnd« sich in ihren Behausungen
und ihrem kleinen Glück einrichten und sich mit äußerlicher
Brutalität gegen jede Beeinträchtigung ihrer Sicherheit und
Besitzstände wehren. Der Mensch tritt in den Aufstand, sagt
Heidegger auch im Blick auf die deutsche Gegenwart, die Welt wird zum
Gegenstand. .... Die Erde selbst kann sich nur noch als der Gegenstand
des Angriffes zeigen .... Die Natur erscheint überall ...
als der Gegenstand der Technik. Heidegger zufolge ist das alles schon
bei Nietzsche angelegt, da bei ihm das Sein nur aus der Perspektive der
ästhetischen, theoretischen, ethischen und praktischen Wertsetzung
gesehen und deshalb verfehlt wird. Für den Willen zur Macht ist die
Welt nur noch der Inbegriff von »Erhaltung-Steigerungsbedingungen«.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 340 |
Doch kann, fragt Heidegger, das Sein höher geschätzt
werden als so, daß es eigens zum Wert erhoben wird? Und ergibt
die Antwort: Allein, indem das Sein als ein Wert gewürdigt wird,
ist es schon zu einer vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingung
herabgesetzt, und damit sei jeder Weg zur Erfahrung des Seins selbst
ausgelöscht.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 340 |
Mit der Erfahrung des Seins ist - das wissen
wir inzwischen - nicht die Erfahrung einer höheren Welt gemeint,
sondern die Erfahrung von der Unerschöpflichkeit der Wirklichkeit
und das Staunen darüber, daß sich in ihrer Mitte mit dem Menschen
eine offene Stelle aufgetan hat, wo die Natur ihre Augen aufschlägt
und bemerkt, daß sie da ist. In der Erfahrung des Seins entdeckt
sich der Mensch als Spielraum. Er ist nicht im Seienden gefangen und festgerannt.
Inmitten der Dinge hat er »Spiel«, wie das Rad an der Nabe
»Spiel« haben muß, damit es sich bewegt. Das Problem
des Seins, sagt Heidegger, sei letztlich ein Problem der Freiheit.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 341 |
Mit der Erfahrung des Seins ist - das wissen
wir inzwischen - nicht die Erfahrung einer höheren Welt gemeint,
sondern die Erfahrung von der Unerschöpflichkeit der Wirklichkeit
und das Staunen darüber, daß sich in ihrer Mitte mit dem Menschen
eine offene Stelle aufgetan hat, wo die Natur ihre Augen aufschlägt
und bemerkt, daß sie da ist. In der Erfahrung des Seins entdeckt
sich der Mensch als Spielraum. Er ist nicht im Seienden gefangen und festgerannt.
Inmitten der Dinge hat er »Spiel«, wie das Rad an der Nabe
»Spiel« haben muß, damit es sich bewegt. Das Problem
des Seins, sagt Heidegger, sei letztlich ein Problem der Freiheit.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 341 |
Die Erfahrung des Seins ist überall dort ausgelöscht,
wo Einzelne oder ganze Kulturen in ihren jeweiligen Kulturen erstarren
- theoretisch, praktisch, moralisch -, wenn sie von ihrem eigenen Entwurf
benommen sind und das Bewußtsein der Relativität dieses
Seinsverhältnisses verlieren und damit auch die Kraft, es zu transzendieren.
Es ist eine Relativität im Blick auf den großen verborgenen
Strom (Heidegger) der Zeit, auf dem wie zerbrechliche Flöße
unsere Wahrheiten und Kulturen treiben.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 341 |
Das Denken des Seins ist für Heidegger diese »spielende«
Bewegung des Offenhaltens für den unermeßlichen Horizont der
möglichen Seinsverhältnisse. Deshalb darf man Heidegger auch
nicht danach fragen, was das Sein sei; dann nämlich würde man
von ihm eine Definition für etwas verlangen, das selbst der Horizont
jeder möglichen Definition ist. Und weil die Seinsfrage diese Horizonteröffnung
ist, so kann ihr Sinn auch nichr darin liegen, beantwortet zu werden.
Eine von Heideggers Formeln für die Abwehr der Zumutung, doch nun
endlich die Frage nach dem Sein zu beantworten, lautet in den NIETZSCHE-Vorlesungen:
Mit dem Sein ist es nichts .... Das bedeutet: Sein ist nichts,
woran man sich festhalten könnte. Es ist gegenüber den fixierenden
und Sicherheit gewährenden Weltanschauungen das schlechthin Áuflösende.
Die Frage nach dem Sein soll verhindern, daß die Welt zum Weltbild
wir- Als Heidegger merkte, daß dieses »Sein« selbst
zu einem Weltbild werden könnte, schrieb er es mit einem Ypsilon,
und manchmal behalf er sich auch, indem er »Sein« ausschrieb
und dann durchstrich.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 341-342 |
Für Heidegger war auch noch Nietzsche ein Philosoph des Weltbildes.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 342 |
Bei der Erörterung der Lehre von der ewigen Wiederkunft kommt
Heidegger darauf zu sprechen, daß Nietzsche seine besten Einsichten
zurückgehalten habe, weil es für manche seiner Gedanken noch
keine Stätte ihre Entfaltung (N I, 264) gegeben habe. Er zitiert
den Satz Nietzsches: Man liebt seine Erkenntnis nicht genug mehr, sobald
man sie mitteilt. (N I, 265).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 342 |
So verständnisvoll kommentiert Heidegger Nietzsches Schweigen,
daß man sofort bemerkt, daß Heidegger hier auch in eigener
Sache spricht. Bliebe unsere Kenntnis auf das von Nietzsche selbst
Veröffentlichte beschränkt, dann könnten wir niemals erfahren,
was Nietzsche schon wußte und vorbereitete und ständig durchdachte,
aber zurückbehielt. Erst der Einblick in den handschriftlichen Nachlaß
gibt ein deutliches Bild. (N I, 235).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 342 |
Als Heidegger diese Bermerkung machte, arbeitete er selbst an
einem Manuskript, das er zurückbehielt, an Gedanken, für
deren Mitteilung er die Zeit offenbar noch nicht gekommen sah: die BEITRÄGE
ZUR PHILOSOPHIE, im Untertitel: VOM EREIGNIS.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 343 |
Alles dies ist nicht das sein, aber alles dies gibt es, weil wir
in einem Bezug zum Sein stehen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 344 |
In Heidegger redet das Sein wie vormals in Hegel der Weltgeist.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 345 |
Der Heidegger der zwanziger Jahre hatte eine ganz andere Metaphorik
bevorzugt. Damals wollte er die versteinerten Denggebäude verflüssigen.
Jetzt läßt er sie hoch aufragen und auch seine eigene Philosophie
schickt er ins Gebirg des Seyns. Das widerspricht
eigentlcih der Idee von Philosophie, die Heidegger vor 1933 entwickelt
hatte. Damals ging es ihm um die freie, aber in sich endliche Beweglichkeit
eines Denkens, das aus dem Faktum des In-der-Welt-Seins aufsteigt, um
das Dasein für eine Weile zu erhellen und mit ihm wieder zu verschwinden.
Das Denken als Ereignis, so kontingent wie das Dasein selbst. Die Bergmetaphorik
aber weist unübersehbar darauf hin, daß Heidegger sich inzwischen
mit seiner Philosophie in eine dauerhafte Welt einschreiben will.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 350 |
Der Göttinger Lehrstuhl des zwangsemeritierten Dilthey-Schwiegersohns
Georg Misch soll neu besetzt werden. Im Juni 1935 setzt die Philosophische
Fakultät Martin Heidegger auf Platz eins der Berufungsliste.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 355 |
Beim Ministerium war inzwischen bekannt, daß Heidegger den
Nationalsozialismus zwar in wichtigen politischen Belangen nach wie vor
unterstützte (Außenpolitik, Wirtschaft, Arbeitsdienst, Führerprinzip),
aber die nationalsozialistische Weltanschauung durchaus nicht vertrat.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 355 |
Heidegger trug das Parteiabzeichen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 356 |
In den TATSACHEN UND GEDANKEN berichtet Heidegger, wie im Sommersemester
1937 ein Dr. Hanke aus Berlin auftauchte, sehr begabt und interessiert
mitgearbeitet und nach einiger Zeit um ein persönliches Gespräch
nachgesucht habe. Dabei, so Heidegger, gestand er mir, er könne
mir nicht länger verheimlichen, daß er im Auftrag von Dr. Scheel
arbeite, der damals des SD Hautabschnitt Südwest leitete (T,
41).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 360 |
Wenn man bedenkt, daß Heidegger von der Überwachung
wußte, als er in den NIETZSCHE-Vorlesungen seine Kritik am Biologismus
und Rassismus äußerte, dann wir dman ihm in diesem Falle persönlichen
Mut becsheinigen müssen. Das haben auch die Hörer dieser Vorlesungen
damals so empfunden, die sich allerdings dann um so mehr darüber
wunderten, daß Heidegger, ausdrücklicher als andree Professoren,
am Hitler-Gruß festhielt.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 360 |
Heidegger in der HÖLDERLIN-Vorlesung im Sommer 1942: Wir
wissen heute, daß die angelsächsiche Welt des Amerikanismus
entschlossen ist, Europa, und d.h. die Heimat, und d.h. den Anfang des
Abendländischen, zu zerstören.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 367 |
In der HERAKLIT-Vorlesung von 1943 sagt Heidegger: Das Wesen
des Menschen ist aus den Fugen. Nur von den Deutschen kann, gesetzt,
daß sie »das Deutsche« finden und wahren, die weltgeschichtliche
Bestimmung kommen. (GA, 55, 123).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 367 |
Er habe den Nationalsozialismus unterstützt, weil er von
ihm einen Ausgleich der sozialen Gegensätze auf dem Boden eines erneuerten
nationalen Gemeinschaftsempfindens erhoffte. Außerdem hätte
dem Vordringen des Kommunismus Einhalt geboten werden müssen. (Dem
Kommunismus sind Tür und Tor geöffnet worden in der Weimarer
Republik bis 1933, dann nach 1945 in der Bonner Republik und besonders
seit 1990 in der Berliner Republik - nicht einmal der Chef der kommunistischen
DDR ist, obwohl er zu greifen war, vom angeblich »antikommunistischen«
Westen gerichtlich verurteilt worden; man hat ihn laufen lassen, als sei
er »ein Reisender, den man nicht aufhalten soll«, gewesen;
HB). Ins Rektorat habe er sich nur mit größtem Widerstreben
wählen lassen, und er sei dann das erste Jahr im Amt geblieben, um
Schlimmeres (z.B. die Wahl des Parteibonzen Aly) zu verhindern.
Das aber hätten die Kollegen schon damals nicht bemerkt und es deshalb
unterlassen, ihn in gebührender Weise zu unterstützen. Seit
Mitte der dreißiger Jahre habe er daann vor der Öffentlichkeit
- vor allem in den Nietzsche-Vorlesungen - eine Kritik an dem Machtdenken
der Nationalsozialisten geäußert. Die Partei habe darauf auch
entsprechend reagiert, indem sie ihm Spitzel in die Lehrveranstaltungen
schickte und ihm Schwierigkeiten bei der Publikation seiner Werke bereitete.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 375 |
Alarmiert aber waren die Gegner von Heideggers Rehabilitation
vor allem durch Nachrichten und Gerüchte, die von einem wahren Pilgerzug
französischer Intellektueller nach Freiburg und Todtnauberg sprachen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 379 |
Als Raymond Aron, der in Deutschland studiert und dort die Phänomenologie
kennengelernt hatte, seinem Freund Sartre Anfang der dreißiger Jahre
von seinen phänomenologischen »Erfahrungen« berichtet,
da ist Sartre wie elektrisiert: Es gibt also eine Philosophie, sagt er,
die es uns erlaubt, über alles, über diese Tasse, den Löffel,
den ich in ihr umrühre, den Stuhl, den Kellner, der auf meine Bestellung
wartet, zu philosophieren? Das Gerücht der Phänomenologie, mehr
war es zunächst nicht, wird Sartre veranlassen, im Winter 1933 nach
Berlin zu gehen, um dort Husserl zu studieren, und er wird dann über
die phänomenologie sagen: »seitjahrhunderten hat man in der
Philosophie keine derart realistische Strömung mehr gespürt.
Die Phänomenologen haben den Menschen wieder in die Welt eingetaucht,
sie haben seinen Ängsten und seinen Leiden, auch seinen Revolten
ihr ganzes Gewicht wiedergegeben.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 381-382 |
In dieser existentialistischen und phänomenologischen Szenerie
beginnt seit Anfang der dreißiger Jahre nun auch Heideggers Philosophie
wirksam zu werden.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 382 |
1931 waren Heideggers Vorträge VOM WESEN DES GRUNDES und
WAS IST METAPHYSIK? in französischen philosophischen Zeitschriften
erschienen. Es waren die ersten Übersetzungen. 1938 folgte ein Auswahlband,
der zwei Kapitel aus SEIN UND ZEIT (über die Sorge und über
den Tod), ein Kapitel aus dem KANT-Buch und den Aufsatz HÖLDERLIN
UND DAS WESEN DER DICHTUNG enthielt.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 382 |
Aber Heidegger wurde zum Geheimtip der Pariser Intelligenz weniger
durch diese spärlichen Übersetzungen als vielmehr durch die
legen, där gewordenen Hegel- Vorlesungen des Exilrussen Alexandre
Kojève zwischen 1934 und 1938.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 382 |
Roger Caillois verwies später auf Kojèves »absolut
außergewöhnliche intellektuelle Herrschaft über eine ganze
Generation«. Bataille berichtet, jede Begegnung mit Kojève
habe ihn »gebrochen, zermalmt, zehnmal hintereinander getötet:
erstickt und zu Boden gedrückt« zurückgelassen. Für
Raymond Aron zählte Kojève zu den drei wahrhaft überlegenen
Geistern (neben Sartre und Eric Weil), denen er in seinem Leben begegnet
sei.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 382 |
Alexandre Wladimirowitsch Kojewnikow, so hieß er ursprünglich,
war, als Sproß einer hochadligen Familie, nach der Oktoberrevolution
.im jahre 1920 nach Deutschland geflohen. Er lebte vom Verkauf der geschmuggelten
Reste des Familienschmucks. Auch besaß er einige Bilder seines Onkels,
Wassily Kandinsky, die sich gut beleihen ließen. Er studierte und
promovierte bei jaspers in Heidelberg und führte während all
der Jahre ein philosophisches Tagebuch zum Thema »Philosophie des
Nichtseienden«. Sein Freund Alexandre Koyre, auch ein russischer
Emigrant, holte ihn Anfang der dreißiger Jahre nach Paris. Mit ihm
hatte Kojève Bekanntschaft gemacht, als er mit dessen Schwägerin
eine Liebschaft begann, die junge Frau entführte und Koyre nun von
der Verwandtschaft beauftragt wurde, dem Verführer die Liebesbeute
wieder abzujagen. Aber Koyre war von seiner ersten Begegnung mit Kojève
so beeindruckt, daß er bekannte: »Das Mädchen hat recht.
Kojève ist viel besser als mein Bruder.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 382-383 |
Kojève war in Geldnot - er hatte beim Börsenkrach
sein in Aktien bei der Käsemarke »La vache qui rit« angelegtes
Vermögen verloren -, und deshalb kam ihm das Angebot gelegen, an
der »Ecole pratique des Hautes Etudes« Hegel zu lesen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 383 |
Kojève ... führte einen Hegel vor, wie manihn bisher
noch nicht kannte: es war ein Hegel, der Heidegger zum Verwechseln ähnlich
sah.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 383 |
Jeder kannte den Satz Hegels, »das Wirkliche ist vernünftig«.
Hegel galt als Rationalist. Und nun zeigte Kojève, wie dieser Hegel
nichts anderes getan hatte, als den unvernünftigen Ursprung der Vernunftaufzudecken
-in den Kämpfen um Anerkennung. Ein Selbst verlangt von einem anderen
in seinem So-sein anerkannt zu werden. Kojève greift Heideggers
Sorge auf und macht daraus im Anschluß an Hegel die »Sorge
um Anerkennung«. Die geschichtliche Realität, die aus dieser
Sorge um Anerkennung entspringt, ist der bis aufs Blut geführte Kampf
der Menschen um bisweilen lächerliche Einsätze: man setzt sein
Leben aufs Spiel, um hier einen Grenzverlauf zu korrigieren, um eine Fahne
zu verteidigen, um Genugtuung für eine Beleidigung zu erreichen usw.
Hegel muß nicht erst umgedreht werden, er steht schon auf den Füßen
und er geht durch den Schlamm der Geschichte. Im Kern der Vernunft steckt
die Kontingenz, und es sind Kontingenzen, die da oft so blutig zusammenprallen.
Das ist die Geschichte.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 383 |
Im Anschluß an Hegel und ausdrücklich mit Heidegger
fragt Kojève: Was ist der Sinn des ganzen Seins? Mit Heidegger
gibt er die Antwort: die Zeit. Die Zeit aber ist nicht auf dieselbe Art
wirklich wie die r-;orkom~e;den Dinge, die auch altern und ihre Zeit haben.
Nur der Mensch erlebt, wie etwas, das ist, wenig später nicht mehr
ist, und etwas, das noch nicht ist, nun ins Sein tritt. Der Mensch ist
die offene Stelle im Sein, der Schauplatz, wo das Sein ins Nichts und
das Nichts ins Sein umschlägt.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 383 |
Die erregendsten Passagen der Kojèveschen Vorlesung handeln
vom Tod und vom Nichts. Kojève sagt: Die Totalität der Wirklichkeit
schließt die »menschliche oder sprechende Wirklichkeit«
ein, was bedeutet: »Ohne den Menschen wäre das Sein stumm;
es wäre da, aber es wäre nicht das Wahre.« Diese »das
Wirkliche offenbarende Rede« (Kojève) setzt aber voraus,
daß der Mensch zwar in den kompakten Zusammenhang des Seins hineingehört
-aber zugleich auch davon abgeschnitten, losgerissen ist. Nur deshalb
kann er sich -irren. Der Mensch, so formuliert Kojève im Sinne
Hegels, ist der »Irrtum, der sich im Dasein erhält, der in
der Wirklichkeit dauert« (151), und interpretiert dann diesen Satz
im Sinne Heideggers: »darum kann man auch sagen, daß der Mensch,
der sich irrt, ein im Sein nichtendes Nichts ist«. Die Grundlage
und Quelle der menschlichen Wirklichkeit sei das »Nichts«,
es manifestiere und offenbare sich »als negierende oder schöpferische,
freie und ihrer selbst bewußte Tat« (267).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 384 |
Abschließend zitiert Kojève noch einmal Hegel: »Der
Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit
enthält, ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen .... Dies ist
die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiert - reines Selbst
.... Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt -
in eine Nacht hinein, die furchtbar wird; es hängt die Nacht
der Welt einem entgegen« (268).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 384 |
Diese Sätze formulieren den Übergang von SEIN UND ZEIT
zu »Das Sein und das Nichts«.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 384 |
Sartre hatte Kojève nicht gehört, aber sich Mitschriften
besorgt. Im Winter 1933/34 hatte er Husserl und Heidegger in Berlin studiert
und sich so darin vertieft, daß er vom nationalsozialistischen Regime
kaum Notiz nahm.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 384 |
Was ihn an der Phänomenologie faszinierte, war erstens ihre
Aufmerksamkeit für die massive, verführerische, aber auch erschreckende
Gegenwart der Dinge; sie führte wieder vor das beharrliche Rätsel
ihres »An-sich«-Seins. Zweitens, im Kontrast dazu, sensibilisierte
sie für den inneren Reichtum des Bewußtseins; eine ganze Welt
des »Für-sich« brachte sie wieder zum Vorschein. Und
drittens schien sie, wenn auch undeutlich, das Versprechen zu enthalten,
die innere Spannung dieser doppelten Ontologie des »An-sich«
und des »Für-sich« irgendwie auflösen zu können.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 384 |
Über das »An-sich« der Naturdinge, die sich der
ph:nomenologischen Einstellung in ihrer überwältigenden, sinnabweisenden
Präsenz zur Geltung bringen, hatte Sartre Ende der dreißiger
Jahre in seinem Roman »Der Ekel« eine eindrucksvolle Schilderung
gegeben, die bald zum klassischen Muster der Kontingenzerfahrung werden
sollte: »Also, ich war gerade im Park. Die Wurzel des Kastanienbaums
bohrte sich in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich nicht
mehr, daß das eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden
und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachen
Markierungen, die die Menschen auf ihrer Oberfläche eingezeichnet
haben. Ich saß da, etwas krumm, den Kopf gesenkt, allein dieser
schwarzen und knotigen, ganz und gar rohen Masse gegenüber, die mir
angst machte. Und dann habe ich diese Erleuchtung gehabt.« Die Erleuchtung:
Roquentin, der Erzähler, sieht die Dinge ohne Zusammenhang und ohne
die Bedeutung, die ihnen das Bewußtsein gibt, sie stehen nackt da.
Geradezu obszön breiten sie sich vor ihm aus und machen ihm »das
Geständnis ihrer Existenz«. Existenz bedeutet hier: pure Vorhandenheit
und Kontingenz. »Das Wesentliche ist die Kontingenz ...kein notwendiges
Sein kann die Existenz erklären: die Kontingenz ist kein Trug, kein
Schein, den man vertreiben kann; sie ist das Absolute, folglich die vollkommene
Grundlosigkeit. Alles ist grundlos, dieser Park, diese Stadt, und ich
selbst. Wenn es geschieht, daß man sich dessen bewußt wird,
dreht es einem den Magen um« (149). Die Erfahrung im Park konfrontiert
mit einem Sein, das die vernünftige Rede durchschlägt. Die Szene
ist eine literarische Anordnung, in der Kojèves Satz: »ohne
den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre da, aber es wäre
nicht das Wahre« in der Anschauung überprüft wird. Der
Erzähler erfährt sich als Ding unter Dingen, hinabgezogen ins
vegetative An-sich- »Ich war die Wurzel des Kastanienbaumes«.
Mit seinem ganzen Leib spürt er das Sein, ein schweres, undurchdringliches
Etwas, und das treibt ihn angstvoll zurück in die Welt des Bewußtseins,
die Welt des Für-sich, um dann dort den eigenartigen Mangel an Sein
zu erfahren. »Der Mensch ist das Sein, durch das das Nichts in die
Welt kommt«, heißt es in »Das Sein und das Nichts«,
an Formulierungen von Kojève und Heidegger anknüpfend.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 384-385 |
Sartre verstand dieses 1943 erschienene große philosophische
Werk als Fortsetzung der von Heidegger begonnenen Fundamentalontologie.
Was Heidegger Dasein nennt, heißt bei Sartre, in hegelsch-Kojèvescher
Terminologie, das »Für-sich«. Der Mensch ist dasjenige
Wesen, das nicht fraglos im Sein ruht, sondern in prekärer Lage seinen
Bezug zum Sein immer erst herstellen, entwerfen, wählen muß.
Der Mensch ist wirklich und muß sich doch erst noch verwirklichen.
Er ist zur Welt gekommen, und muß sich selbst stets aufs neue zur
Welt bringen. Das Bewußtsein als bewußtes Sein ist immer auch
ein Mangel an Sein,.sagt Sartre. Der Mensch wird niemals so in sich ruhen
können wie ein Gott oder ein Stein. Sein Merkmal ist Transzendenz.
Diese Transzendenz versteht Sartre natürlich nicht im Sinne eines
Reiches übersinnlicher Ideen, sondern es handelt sich um Selbsttranszendenz,
um jene Bewegung, in der das Selbst sich ständig entgleitet, sich
immer voraus ist, besorgend, reflektierend, die Blicke der anderen in
sich hineinnehmend. In diesen Analysen läßt sich Heideggers
Lehre von den Existentialien Geworfenheit, Entwurf, Sorge unschwer wiedererkennen.
Nur daß Sartre über eine noch eindringlichere Kunst der Beschreibung
dieser Phänomene verfügt. Sartre folgt auch Heideggers Thesen
zur Zeitlichkeit des Daseins. Es ist der privilegierte Zugang zur Zeit,
der dem menschlichen Sein nicht erlaubt, bei sich zu bleiben. Privilegierter
Zugang bedeutet: Der Mensch ist nicht in der Zeit wie der Fisch im Wasser,
sondern er realisiert die Zeit, er zeitigt sie. Diese Bewußtseinszeit,
sagt Sartre, ist »das Nichts, das sich als detotalisierendes Ferment
in die Totalität einschleicht« (287).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 385-386 |
Es handelt sich hier tatsächlich um eine ingeniöse Fortsetzung
der phänomenologischen Daseinsanalyse von SEIN UND ZEIT, die den
bei Heidegger unterbelichteten Bereich des Mit-Seins energisch in den
Mittelpunkt rückt. Allerdings nimmt Sartre eine Veränderung
der Terminologie vor, die dann zu folgenschweren Mißverständnissen
und auch Scheingefechten führen und Heidegger später Anlaß
geben wird, sich nach ersten zustimmenden Bekundungen von Sartre abzusetzen.
Sartre verwendet nämlich den Terminus »Existenz« in traditionell-cartesianischem
Sprachgebrauch. Existenz bedeutet das empirische Vorhandensein von etwas,
im Gegensatz zu seinen bloß gedachten Bestimmungen. Sartre verwendet
diesen Begriff also im Sinne von Heideggers Vorhandenheit. Der
Mensch »existiert« heißt demnach, er bemerkt, daß
er zunächst einmal einfach vorhanden ist und daß es zu seinem
Schicksal gehört, sich zu seiner eigenen Vorhandenheit verhalten
zu müssen. Er muß etwas daraus machen, sich entwerfen etc..
In diesem Sinne wird Sartre in seinem Vortrag von 1946 »Ist der
Existentialismus ein Humanismus?« sagen: Die Existenz kommt vor
der Essenz. Heideggers Begriff von Existenz in SEIN UND ZEIT aber meint
gerade nicht diese pure Vorhandenheit, Faktizität, sondern bezeichnet
den transitiven Sinn des Existierens, das Selbstverhältnis also;
daß der Mensch nicht einfach lebt, sondern sein Leben »führen«
muß. Doch auf dieses von Heidegger Existenz genannte Selbstverhältnis
hat es natürlich auch Sartre abgesehen, bei dem dieses Phänomen
aber »Für-sich« heißt. Sartre versucht ebenso wie
Heidegger die Vorhandenheitsmetaphysik in bezug auf den Menschen zu überwinden,
nur benützt er dafür eben eine andere Terminologie. Wie Heidegger
betont Sartre, daß die Rede über den Menschen stets in der
Gefahr der Selbstverdinglichung steht. Der Mensch ist eben nicht in der
geschlossenen Kugel des Seins gefangen, sondern er ist ein ekstatisches
Wesen. Deshalb versteht Sartre seine Philosophie auch als eine Phänomenologie
der Freiheit. So wie auch Heidegger die Wahrheitsfähigkeit des Menschen
in seiner Freiheit begründet sieht. Wahrheit, sagte Heidegger in
seiner METAPHYSIK-VOrlesung von 1935, istFreiheit. Nichts anderes.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 386-387 |
Sartres Buch »Das Sein und das Nichts« war geschrieben
und erschien in dem von den Nazis besetzten Frankreich. Es entwickelt
in einem Gespinst von Subtilitäten eine ganze Philosophie des Antitotalitären.
Dem totalitären Denken ist der Mensch ein Ding. Ein Faschist, sagt
Sartre in seinen »Betrachtungen zur Judenfrage«, ist jemand,
der »ein unerbittlicher Felsen, ein reißender Sturzbach, ein
verheerender Blitz« sein will, »alles, nur kein Mensch«.
Sartres Philosophie will dem Menschen seine Würde zurückgeben,
indem er seine Freiheit entdeckt als ein Element, in dem sich alles feste
Sein auflöst. In diesem Sinne ist das Werk eine Apotheose des Nichts,
das Nichts aber verstanden als die schöpferische Kraft des Nichtens.
Worauf es ankommt: nein zu sagen zu dem, was einen verneint.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 387 |
Heidegger berichtet (im Brief vom 28.10.1945;
HB) von seiner Lektüre des Sartreschen Werkes. Hier begegnet
mir zum erstenmal ein selbständiger Denker, der von Grund aus den
Bereich erfahren hat, aus dem heraus ich denke. Ihr Werk ist von einem
so unmittelbaren Verstehen meiner Philosophie beherrscht, wie es mir noch
nirgends begegnet ist.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 388 |
Es leigt für Heidegger nahe, die Frage nach der Nähe
zunächst einmal mit einem Rückblick auf SEIN UND ZEIT zu beantworten.
Dort hatte er herauszufinden versucht, was für das Dasein, das sich
in der Welt vorfindet, das Nächste, das Anfängliche ist. Die
Pointe dieser Untersuchung war gewesen: Uns selbst und unsere Welt erfahren
wir zunächst nicht in quasiwissenschaftlicher Einstellung. Die Welt
ist nicht in diesem Sinne unsere Vorstellung, sondern zunächst erfahren
wir unser in-der-Welt-Sein. Das In-Sein ist das Maßgebliche und
Primäre. Das gemeinsame In-Sein, geängstigt, gelangweilt, besorgt,
geschäftig, benommen, hingebungsvoll, ekstatisch. Nur auf diesem
Hintergrund des anfänglichen In-Seins kann so etwas geschehen, wie
daßwir uns herausreflektieren, uns bestimmte Vorstellungen machen,
Gegnstände aus dem Kontinuum unseres Besorgens und Beziehens herausschneiden.
Daß es das ein »Subjekt« gibt, dem »Objekte«
gegenüberstehen, ist keine basale Erfahrung, sondern verdankt sich
einer sekundären, abstraktiven Leistung. Wenn das ursprüngliche
In-Sein das Nächste ist, wenn in dieser Nähe die Dinge des Lebens
noch in ihrem ganzen reichtum aufgehen können, und wenn das Denken
die Aufgabe hat, diese Nähe zu bedenken, so ergibt sich eine paradoxe
Kosntellation. Da wir nicht zuletzt durch das Denken die Unmittelbarkeit
verlieren, so wird einem Denken, das in die Nähe kommen will, die
Aufgabe zugemutet, gegen seine eigene entfernende, distanzierende Tendenz
anzudenken.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 406-407 |
Es ... war ihm um das Bedenken des Bedenklichsten zu tun, um das
Dasein des Menschen als offene Stelle, die sich im Seienden aufgetan hat.
Dasein verstanden als Ort, wo das Seiende zur Sprache kommt und eben dadurch
zum Sein wird, und das heißt: es wird hell, begegnend, eröffnend
auch in seiner Undruchdringlichkeit und in seinem Entzug.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 407 |
Man kann es drehen und wenden wie man will, es bleibt zuletzt
doch die Wiederholung jenes wunderbaren Gedankens von Schelling, wonach
die Natur im Menschen die Augen aufschlägt und bemerkt, daß
es sie gibt. Der Mensch als der Ort der Selbstsichtbarkeit des Seins.
»Ohne den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre das, aber
es wäre nicht das Wahre« (Kojève).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 409 |
Hannah Arendt entwickelt ... die These, daß in der deutesche
Versin des Existentialismus (Existenz(ial)philosophie;
HB), beginnend bei Schelling über Nietzsche bis hin zu Heidegger,
die Tendenz immer stärker geworden sei,, das vereienzelte menschliche
Selbst als einen Ort der wahrheit dem unwahren gesellschaftlichen Ganzen
gegenüberzustellen. (Ist nicht das Verbindende
zwischen dem Idealisten Schelling, der als der Matador der Romantik
gilt, Nietzsche, der als Lebensphilosoph gilt, und Heidegger, der als
Existenz(ial)philosoph gilt, eher in der Romantik zu sehen: Romantik
[Schelling], Neo-Romantik [Nietzsche, Neo-Neo-Romantik [Heidegger]? Vgl.
auch meine Anmerkung aus Seite 336; HB).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 412 |
Karl Jaspers hatte die Korrespondenz mit Heidegger angefangen
(die Pause in der Korrepondenz beendet; HB),
als er sich gerade für die Aufhebung des Lehrverbots gegen Heidegger
einsetzte. In diesem Sinne hatte Jaspers Anfang 1949 an den Freiburger
Rektor Gerd Tellenbach geschrieben. »Herr Professor Martin Heidegger
ist durch seine Leistungen in der Philosophie als einer der bedeutendsten
Philosophen der Gegenwart (der bedeutenste Philosoph
des 20. Jahrhunderts! HB) in der ganzen Welt anerkannt.
In Deutschland ist niemand (und anderswo erst
recht niemand! HB), der ihn überträfe. Sein fast
verborgenes, mit den tiefsten Fragen in Fühlung stehendes, in seinen
Schriften nur indirekt erkennbares Philosophieren macht ihn vielleicht
heute in einer philosophisch armen Welt zu einer einzigartigen Gestalt«
Es müsse von nun an gewährleistet werden, daß Heidegger
ruhig arbeiten und, falls er dies wünsche, auch lehren könne.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 413 |
Hannah Arendt .... Als 1960 die deutsche Ausgabe ihres philosophischen
Hauptwerkes »Vita activa« erscheint, schickt sie Heidegger
ein Exemplar und schreibt ... im Begleitbrief, daß dieses Werk nicht
hätte entstehen können, »ohne das, was ich in der Jugend
bei Dir gelernt habe .... Es ist unmittelbar aus den ersten Marburger
Tagen entstanden und schuldet Dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 420 |
Auf einem gesonderten, nicht abgeschickten Blatt ... schreibt
Hannah: »De Vita Activa / Die Widmung dieses Buches ist ausgespart.
/ Wie soll ich es Dir widmen, / dem Vertrauten, / dem ich die Treue gehalten
habe / und nicht gehalten habe, / und beides in Liebe.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 420 |
Heidegger hat keine »Notizen zu Jaspers« hinterlassen.
In der Beziehung zwischen den beiden war Heideger der Umworbene.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 429 |
Die Verbindung zu Bremen bestand schon seit den frühen dreißiger
Jahren (der erste bekannte Vortrag in Bremen ist
der vom 8. Oktober 1930 mit dem sehr bekannt gewordenen Titel »Vom
Wesen der Wahrheit«; HB). Der Bremer Großbürgersohn
undspätere Kulturhistoriker Heinrich Wiegand Petzet, einst Student
bei Heidegger und lebenslang ein Bewunderer, hatte sie hergestellt. Heidegger
hielt damals vor dem »Club« in einem halb privaten Rahmen,
den Vortrag VOM WESEN DER WAHRHEIT. Es hatte sich daraus eine Freundschaft
mit den Petzets entwickelt. Der Vater von Heinrich Wiegand Petzet war
ein vermögender Schiffsmakler, und Heidegger war einige Male im Sommerhaus
der Familie im bayrischen Icking zu Gast gewesen. Bei Kriegsende hatte
er dorthin einen Teil seiner Manuskripte ausgelagert. Im Spätherbst
1949 erging an Heidegger die Einladung nach Bremen. Der erste Vorlesungszyklus
unter dem Gesamttitel EINBLICK IN DAS WAS IST (die einzelnen Vortragstitel
lauteten: DAS DING, DAS GESTELL, DIE GEFAHR, DIE KEHRE) fand am 1. und
2. Dezember 1949 im Kaminsaal des Neuen Rathauses statt. Ein andachtsvolles
Publikum war versammelt, und der Bürgermeister eröffnete die
Veranstaltung. Heidegger begann: Hier habe ich von neunzehn Jahren
(1930; HB) einen Vortrag gehalten, in dem
ich damals Dinge ausgesprochen habe, die erst jetzt langsam verstanden
und wirksam zu werden beginnen. Ich habe damals etwas gewagt - und ich
will auch heute wieder etwas wagen! (Zitiert in: Heinrich Wiegand
Petzet, Auf einen Stern zugehen - Begegnungen mit Martin Heidegger,
S. 62).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 432 |
In den späten fünfziger Jahren wurden die »Mittwochabende«
am folgenden Tag mit einer .Matinee abgeschlossen. Einmal war Heidegger
schon abgereist, aber sein Bruder war geblieben. Eine Dame, die Fritz
wahrscheinlich für Martin hielt, stellte die Frage, was Heidegger
denn von Mao Tse-tung halte. Darauf der listige Bruder: Mao tse ist das
Gestell von Lao tse.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 435 |
Das geschah zu einer Zeit, da Heideggers Ausdruck Gestell
als Bezeichnung für die technische Welt in Deutschland die Runde
machte. Zum ersten Mal hatte Heidegger ihn in Bremen verwendet. Aber berühmt
wurde er erst durch seinen 1953 an der »Bayerischen Akademie der
Schönen Künste« gehaltenen Vortrag DIE FRAGE NACH DER
TECHNIK.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 435 |
Seit Anfang der fünfziger Jahre hatte die Bayerische Akademie
Heidegger zu Vorträgen eingeladen. Zunächst waren diese Einladungen
in München durchaus umstritten. Es hatte eine Debatte im Landtag
gegeben, bei der Minister Hundhammer die Akademie dafür tadelte,
daß sie Heidegger »als einstigen Steigbügelhalter des
Naziregimes« sprechen lasse. Während Studenten sich von Wien,
Frankfurt und Harnburg auf den Weg nach München machten, um Heidegger
zu hören, kündigte die Kant-Gesellschaft, offenbar besorgt um
das Seelenheil ihrer Mitglieder, für denselben Abend einen Gegenvortrag
an. Fast hätte Heidegger diesen ersten Vortrag in München im
Sommer 1950 abgesagt. Er war durch ein Telegramm um die Formulierung des
Vortragstitels gebeten worden. Durch einen Verschreiber war aus dem »Vortragstitel«
»Vortragsstil« geworden. Und so mußte Heidegger glauben,
man bevormunde ihn, indem man einen angemessenen »Stil« von
ihm verlange. Empört schrieb er an Petzet: Das Maß wird
nun langsam voll .... Man traut mir, von allem übrigen dieses Gebarens
abgesehen, es nicht einmal zu, etwas für diese Akademie sehr Wesentliches
vorzutragen. So etwas ist mir während der ganzen Hitler-Zeit nicht
vorgekommen. Nach Aufklärung des Mißverständnisses
hatte Heidegger sich dann doch bereit erklärt, nach München
zu kommen, doch zu Petzet sagte er: Das bleibt eine zwiespältige
Sache und der unumgängliche Tribut an das Gestell. Am Vortragsabend
wurde der Saal der Akademie gestürmt. Die geladenen Gäste wurden
eingekeilt von den ungeladenen, die sich auf herbeigeschleppten Stühlen,
auf Stufen, Fensterbänken, in Nischen und Gängen drängten.
Heidegger sprach über DAS DING. Wieder war vom Geviert der
Welt die Rede, aber als Heidegger mit dem Spiegelspiel von Erde und
Himmel, Sterblichen und Göttlichen anfing, da wurde es dem anwesenden
Staatssekretär zuviel, empört verließ er den Saal, sich
mühsam den Weg durch die Menge bahnend. Das war im Sommer 1950. Drei
Jahre später dann der Vortrag DIE FRAGE NACH DER TECHNIK. An diesem
Abend vereinigte sich das ganze geistige Münchien der fünfziger
Jahre. Es waren da Hans Carossa, Friedrich Georg Jünger, Werner Heisenberg,
Ernst Jünger, Jose Ortega y Gasset. Es war vielleicht der größte
öffentliche Erfolg Heideggers im Nachkriegsdeutschland. Als Heidegger
mit dem berühmt gewordenen Satz schloß, denn das Fragen
ist die Frömmigkeit des Denkens, gab es kein andachtsvolles Schweigen,
sondern stehende Ovationen. Man nahm Heideggers Auftritt als philosophische
Belcanto-Arie und applaudierte, weil er die ganz hohen Töne getroffen
hatte, die man in den fünfziger Jahren so gerne hörte.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 435-436 |
Mit seinen Gedanken über die Technik rührte Heidegger
an die damals gar nicht mehr so geheimen Ängste der Zeit. Er war
nicht der einzige, der dieses tat. In der Epoche des Kalten Krieges, die
eigentlich den Gedanken nahelegte, daß die Politik das Schicksal
sei, meldeten sich vermehrt und unüberhörbar die Stimmen zu
Wort, welche die Fixierung aufs Politische als Selbsttäuschung kritisierten
und davon sprachen, daß in Wahrheit die Technik inzwischen zu unserem
Schicksal geworden sei. Ein Schicksal, so hieß es, dessen wir politisch
kaum mehr Herr werden könnten, vor allem dann nicht, wenn wir an
den überlieferten Begriffen der Politik, seien es die des »Plans«
oder die des »Marktes«, festhielten. .... Ein Unbehagen angesichts
der Zukunft der technischen Welt. Zahllos waren die Tagungen evangelischer
Akademien zum einschlägigenThema, es spukte in den Sonntagsreden
der Politiker, in den Zeitschriften wurde es breit diskutiert. In der
Bewegung »Kampf dem Atomtod« fand es unmittelbaren politischen
Ausdruck. Es waren dazu auch wichtige Bücher erschienen. Die erste
Kafka-Rezeption nach dem Krieg stand im Zeichen einer metaphysischen Kritik
der Technik und der verwalteten Welt. Günther Anders wurde 1951 bekannt
durch seinen Essay »Kafka, pro und contra«, worin Kafka als
ein Dichter dargestellt wird, den die Ȇbermacht der verdinglichten
Welt« entsetzt und der aus seinem Entsetzen einen »heiligen«
Schrecken gemacht hat: ein Mystiker im technischen Zeitalter. 1953 erschien
die deutsche Ausgabe von Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«,
ein Bestseller der fünfziger Jahre. Der Roman bietet die Horrorvision
einer Welt, worin die Menschen schon im Reagenzglas auf ihr Glück
und ihre Profession programmiert werden: eine Welt, deren Schicksal es
ist, kein Schicksal mehr zu haben, und die sich zu, einem totalitären
System zusammenschließt - ganz ohne Politik, allein durch Technik.
Im selben Jahr erschien Alfred Webers Buch »Der dritte oder der
vierte Mensch«. Es erregte großes Aufsehen, weil es als Schreckgemälde
emer technischen Zivilisation der Roboter-Menschen in der Sprache einer
als solide empfundenen Soziologie und Kulturphilosophie ausmalte. Außerdem
gab es dem Leser das Gefühl, Zeitgenosse einer epochalen Zäsur
zu sein, der dritten in der Menschheitsgeschichte. Zuerst der Neandertaler,
dann der primitive Mensch der Horden- und Stammesgeschichte und schließlich
der Mensch der Hochkultur, der im Abendland die Technik hervorgebracht
hatte. Aber inmitten dieser hochgerüsteten technischen Zivilisation,
so Alfred Weber, ist die Menschheit wieder dabei, sich seelisch und geistig
zurückzubilden. Was da mit uns geschieht, ist nichts weniger als
die Soziogenese einer Mutation. Am Ende wird es zwei Menschentypen geben:
die roboterhaft funktionierenden Gehirntiere und die neuen Primitiven,
die sich in der künstlichen Welt wie in einem Dschungel bewegen,
enthemmt, ahnungslos und geängstigt. Solche Panoramen erregten ein
schauriges Gefühl und hatten deshalb auch einen Unterhaltungswert.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 437-438 |
Im selben Jahr, 1953, erschien auch Friedrich Georg Jüngers
Buch »Die Perfektion der Technik«. Jünger entwickelte
seine Theorie bereits während der dreißiger Jahre als Antwort
auf den ,.Arbeiter«, den großen Essay seines Bruders von 1932.
Ernst Jünger hatte dort die These aufgestellt, daß die technische
Welt so lange als eine fremde, äußere Macht erscheinen muß,
wie die »Perfektion der Technik« durch Technisierung des inneren
Menschen noch nicht erreicht ist. Ernst Jünger träumte von einem
»neuen Menschentum«, das er in der »Gestalt des Arbeiters«
verwirklicht sah. Dieser Menschentyp bewegt sich wie selbstverständlich
in einer Landschaft der »eisigen Geometrie des Lichtes«, der
»Weißglut des überhitzten Metalls«. Er ist reaktionsschnell,
kaltblütig, präzise, mobil, kann sich den technischen Rhythmen
anpassen. Aber er bleibt Herr der Maschine, weil er eine innere Technizität
besitzt: Er kann mit sich selbst technisch spielend umgehen, wie es Nietzsche
einst in der Vision des »freien Menschen« ausphantasiert hat,
der seine »Tugenden« als »Werkzeuge« handhabt
und mit ihnen schalten und walten, sie »aus- und wieder einhängen«
kann, ganz nach Belieben und den eigenen Zwecken gemäß. Solche
Menschen, so Ernst Jünger, werden es nicht mehr als Verlust empfinden,
wenn »die letzten Reste der Gemütlichkeit« verschwunden
sind und man seinen Lebensraum wie »vulkanische Gebiete oder ausgestorbene
Mondlandschaften durchqueren kann«. Ein abenteuerliches Herz, das
die Kälte sucht. Wir werden in dieser Kälte
umkommen, antwortet Friedrich Georg Jünger seinem Bruder, der inzwischen
allerdings auch nicht mehr bei den Apologeten, sondern bei den Dissidenten
der Technik, bei den »Waldgängern« zu finden ist. Friedrich
Georg Jüngers Hauptthese: Die Technik ist nicht mehr nur ein »Mittel«,
ein Instrument, dessen sich der moderne Mensch zu seinen Zwecken bedient.
Weil die Technik den Menschen bereits innerlich verwandelt hat, sind die
Zwecke, die er sich setzen kann, bereits technisch determiniert. Zur industriellen
Produktion gehört auch die Produktion von Bedürfnissen. Das
Sehen, Hören, Sprechen, das Verhalten und die Reaktionsweisen, die
Erfahrung der Zeit und des Raumes haben sich - durch Auto, Film und Radio
- grundlegend geändert. Die Eigendynamik dieses Prozesses läßt
kein Jenseits der Technik mehr übrig. Der Grundzug der technischen
Zivilisation ist nicht die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen,
sondern die gigantische Ausbeutung der Erde. Der Industrialismus spürt
die von der Naturgeschichte akkumulierte Energiematerie auf, verbraucht
sie und erleidet damit das Schicksal der Entropie: »Die Technik
insgesamt und der von ihr entwickelte Universalarbeitsplan, der vollkommene
Technizität erstrebt, dieser Arbeitsplan, der mit einer Universalmaschinerie
verbunden ist, untersteht den Gesetzen der Wärmelehre und den von
ihr beschriebenen Verlusten nicht weniger als jede beliebige Maschine.«
Indem die Technik alles verfügbar macht, nichts Unantastbares oder
Heiliges kennt, zerstört sie den planetarischen Grund, auf dem sie
steht. Noch trägt der Grund, noch genießt ein Teil der Erdbevölkerung
die Vorteile des Zivilisationskomforts, und deshalb erscheint der Preis
für die »Perfektion der Technik« angemessen. Aber der
Schein trügt. Friedrich Georg Jünger: »Nicht der Anfang,
das Ende trägt die Last.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 438-439 |
Diese Kassandrarufe der Technikkritiker werden von anderen ins
Lächerliche gezogen. »Im Gruselkabinett der Technik«
lautet die Überschrift eines Artikels im »Monat«, der
die These entwickelt, daß das »Böse« nicht in der
Technik, sondern im Menschen liegt. Nicht die Technik, sondern nur die
Zwecke, für die sie eingesetzt wird, können »böse«
sein. Man solle sich vor einer Dämonisierung der Technik hüten
und sich dafür die »Technik der Dämonisierung« genauer
ansehen. »Im Erschrecken vor der Technik wiederholt sich heute auf
einer höheren geistigen Ebene der Hexenwahn des Mittelalters in sublimierter
Form.« Die Technikkritik, so lautet die Antikritik, nimmt die Herausforderung
der Zeit nicht an und weigert sich, ein Ethos zu entwickeln, das der Technik
angemessen wäre. Hätten wir dieses Ethos, brauchten wir nicht
zu erschrecken. Max Bense war ein Wortführer dieser Antikritik: »Wir
haben eine Welt hervorgebracht, und eine außerordentlich weit zurückreichende
Tradition bezeugt die Herkunft dieser Welt aus den ältesten Bemühungen
unserer Intelligenz. Aber heute sind wir nicht in der Lage, diese Welt
theoretisch, geistig, intellektuell, rational zu beherrschen. Ihre Theorie
fehlt, und damit fehlt die Klarheit des technischen Ethos, das heißt,
die Möglichkeit, seinsgerechte ethische Urteile innerhalb dieser
Welt zu fällen. .... Wir perfektionieren vielleicht noch diese Welt,
aber wir sind außerstande, den Menschen dieser Welt für diese
Welt zu perfektionieren. Das ist die bedrückende Situation unserer
technischen Existenz.« Die von Bense herausgestellte »Diskrepanz«
zwischen dem Menschen und der von ihm geschaffenen technischen Welt wird
Günther Anders 1956 in seinem Buch »Die Antiquiertheit des
Menschen« die »prometheische Scham« nennen. Der Mensch
»schämt« sich vor seinen Produkten, die vollkommener
und wirkungsmächtiger sind als er selbst: bei der Atombombe zum Beispiel
kann er sich nicht mehr die Wirkungen dessen vorstellen, was er hergestellt
hat. Im Mittelpunkt des Nachdenkens über die Technik steht also die
Frage: Muß sich der Mensch an die Technik anpassen, wie es Bense
fordert, oder sollte die Technik wieder an das menschliche Maß zurückgebunden
werden, worauf Friedrich Georg Jünger und auch Günther Anders
hinauswollen?
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 439-440 |
Soviel wird inzwischen deutlich geworden sein: Heideggers TECHNIK-Vortrag
von 1953 ist kein einsamer philosophischer Vorstoß auf diesem Gebiet.
Er ergreift das Wort in einer Debatte, die schon im Gange ist. Wenn er
sich von der »instrumentellen« Vorstellung der Technik abgrenzt
und die Technik als grundlegendes Merkmal des neuzeitlichen In-der-Welt-Seins
versteht, dann sagt er im Vergleich zu Friedrich Georg Jünger (und
später Günther Anders) nichts Neues. Jünger wie auch Anders
lassen den Ursprung dieses Vorgangs, der die menschliche Welt in ein technisches
Universum verwandelt hat, ausdrücklich im dunkeln. Hier will Heidegger
Licht in die Sache bringen. Seine These kennen wir schon aus seiner Philosophie
der dreißiger Jahre, insbesondere aus seinem Aufsatz ZEIT DES WELTBILDES.
Der Ursprung der Technik liegt in der Art, wie wir der Natur gegenübertreten.
Ob wir sie von sich aus hervorkommen lassen - wie bei der altgriechischen
Aletheia-Vorstellung -, oder ob wir sie herausfordern. Technik, sagt Heidegger,
ist eine Weise des Entbergens (TK, 13). Das Entbergen, das die
moderne Technik durchherrscht, hat den Charakter des Stellens im Sinne
der Herausforderung (TK, 16). Um den Zentralbegriff der Herausforderung
gruppiert Heidegger alle Weisen der technischen Bemächtigung. Der
Gegenbegriff ist das Hervorbringen (TK, 27) im Sinne des Hervorkommenlassens.
Michelangelo sagte einmal, die Plastik ruht schon im Stein, man muß
sie nur daraus befreien. So etwa hat man sich das vorzustellen, was Heidegger
mit Hervorbringen und Hervorkommenlassen meint.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 440-441 |
Diese beiden Verhaltensweisen gegenüber der Natur - das Herausfordern
und das Hervorkommenlassen - hatte Heidegger in seiner kurz zuvor gehaltenen
Vorlesung WAS HEISST DENKEN? einprägsam charakterisiert. Man steht
vor einem blühenden Baum. Nur in einem wissenschaftlich unbewachten
und praktisch desinteressierten Augenblick wird man sein Blühen richtig
erleben. In wissenschaftlicher Sicht wird man das Erleben seines Blühens
als etwas Naives fallenlassen. Es gilt, sagt Heidegger, allem zuvor
und endlich den blühenden Baum nicht fallen, sondern ihn erst einmal
dort stehen zu lassen, wo er steht. Weshalb sagen wir »endlich«?
Weil das Denken ihn bisher noch nie dort hat stehen lassen, wo er steht.
(WHD, 18). Wir lassen also die Natur nicht hervorkommen, sondern fordern
sie heraus und gehen sie so an, daß sie sich in irgendeiner rechnerisch
feststellbaren Weise meldet und als ein System von Informationen bestellbar
bleibt (TK, 22).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 441 |
Nach dem Herausfordern ist das Bestellen der zweite
zentrale Terminus. Was bestellt wird, wird zum verfügbaren Bestand.
Eine Brücke verbindet ein Ufer mit dem anderen und respektiert mit
der Gebärde des Überwölbens den Strom. Läßt
ihn sein. Ein Wasserkraftwerk aber, dessentwegen der Strom umgeleitet
oder begradigt wird, macht den Strom zu einem Bestand. Es wird nicht das
Kraftwerk in den Strom, sondern umgekehrt der Strom in das Kraftwerk
verbaut (TK, 15). Um das Ungeheure, das hier geschieht, zu ermessen,
weist Heidegger auf den Gegensatz hin zwischen einem »Rhein«,
der in das Kraftwerk verbaut ist, und dem »Rhein« der gleichnamigen
Hymne Hölderlins. Aber der Rhein bleibt doch ein Strom der Landschaft,
könnte man sagen. Mag sein. Aber wie bleibt er? Nicht anders denn
als bestellbares Objekt der Besichtigung durch eine Reisegesellschaft,
die eine Urlaubsindustrie dorthin bestellt hat. (TK, 16).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 441 |
Der technische Zugriff verwandelt die Natur in einen wirklichen
oder potentiellen Bestand. Und damit dieser einem nicht über dem
Kopf zusammenstürzt, muß man berechnende und planende Bestandssicherung
betreiben. Technik fordert mehr Technik. Die Technikfolgen können
nur wieder mit technischen Mitteln bewältigt werden. Man hat die
Natur herausgefordert, und jetzt fordert die Natur, damit fortzufahren
- bei Strafe des Untergangs. So schließt sich der Kreis zu einem
Circulus vitiosus der Seinsvergessenheit. Herausforderung, Bestand, Bestandssicherung
- dieses Ganze nennt Heidegger das Gestell, seine Bezeichnung für
die Epoche der technischen Zivilisation, in der alles mit allem in der
Art eines kybernetischen Regelkreises mit Rückkoppelungseffekten
zusammenhängt. Die Industriegesellschaft existiert auf dem Grunde
der Eingeschlossenheit in ihr eigenes Gemächte. (TK, 19).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 441-442 |
Das Gestell ist etwas vom Menschen Gemachtes, aber wir haben ihm
gegenüber die Freiheit verloren. Das Gestell ist zu unserem Geschick
geworden. Das Gefährliche daran ist, daß dieses Leben im Gestell
eindimensional, alternativlos zu werden droht, daß die Erinnerung
an eine andere Art der Weltbegegnung und des Weltaufenthaltes ausgelöscht
wird. Die Bedrohung des Menschen kommt nicht erst von den möglicherweise
tödlich wirkenden Maschinen und Apparaturen der Technik. Die eigentliche
Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen. Die Herrschaft
des Gestells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt
sein könnte, in ein ursprüngliches Entbergen einzukehren und
so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren. (TK,
28).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 442 |
Mit Heideggers anfänglicheren Wahrheit sind wir inzwischen
schon vertraut. Es ist die Wahrheit des freien, seinlassenden Blicks auf
die Dinge. Den Baum blühen lassen oder den Weg aus Platons Höhle
finden, damit unter der Sonne, in der offenen Lichtung des Seins, das
Seiende seiender werden kann. Die panische Mittagsstunde der Wahrheit.
Es ist die Erwartung, daß die Natur anders antworten könnte,
wenn wir sie anders befragen. Heidegger im HUMANISMUS-Brief: Es könnte
doch sein, daß die Natur in der Seite, die sie der technischen Bemächtigung
durch den Menschen zukehrt, ihr Wesen gerade verbirgt. (ÜH, 16).«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 442 |
Heidegger aber begnügt sich nicht mit der Aussicht, daß
besinnliches Denken die blühenden Bäume da und dort stehen und
sein lassen könnte, daß sich im Denken da und dort ein anderes
In-der-Welt-Sein ereignet, sondern er projiziert die sich im Denken vollziehende
Einstellungsänderung in die Geschichte. Aus der Kehre im Kopf des
Philosophen wird eine Vermutung über eine Kehre in der Geschichte.
Und so findet Heidegger für die Dramaturgie seines Festvortrages
ein gutes Ende, das die Zuhörer mit dem feierlichen Gefühl entläßt,
Ernstes, aber auch irgendwie Erbauliches gehört zu haben. Heidegger
zitiert Hölderlin: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende
auch ....«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 442 |
Gewiß ist das Denken, das den Verhängniszusammenhang
des Gestells bedenkt, eben dadurch schon einen Schritt darüber hinaus,
es eröffnet einen Spielraum, in dem überhaupt erst zu sehen
ist, was gespielt wird. Insofern steckt im Denken tatsächlich schon
eine »Kehre«. Es ist die Haltung der Gelassenheit, die Heidegger
bei einem Vortrag in Meßkirch 1955 einmal so beschrieben hat: Wir
lassen die technischen Gegenstände in unsere tägliche Welt herein
und lassen sie zugleich draußen, d. h. auf sich beruhen als Dinge,
die nichts Absolutes sind, sondern selbst auf Höheres angewiesen
bleiben. Ich möchte diese Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein
zur technischen Welt mit einem alten Wort nennen: die Gelassenheit
zu den Dingen. (G, 23). Aber diese Gelassenheit zu den Dingen, verstanden
als Kehre des Denkens, macht die Vermutung einer realgeschichtlichen Kehre
nicht plausibel.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 442 |
Auf den Vorwurf mangelnder Plausibilität würde Heidegger
erwidern, daß »Plausibilität« eine Kategorie des
technisch-berechnenden Denkens sei; wer in »Plausibilitäten«
denke, bleibe im Gestell - auch beim Versuch, aus ihm herauszufinden.
Es gibt für Heidegger ganz einfach keine »machbare« Lösung
des Problems der Technik. Kein menschliches Rechnen und Machen kann
von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes
bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem
Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch
seiner Herr werden? (24. 12. 1963, BwHK, 59). Die Wende wird als ein
Ereignis des Geschicks geschehen, oder sie wird gar nicht geschehen.
Dieses Ereignis aber wirft seine Schatten voraus - ins besinnliche Denken.
Von der eigentlichen Kehre gilt, was Paulus über die Wiederkehr
Christi gesagt hat: sie kommt wie ein Dieb in der Nacht. Die Kehre
der Gefahr ereignet sich jäh. In der Kehre lichtet sich jäh
die Lichtung des Wesens des Seins. Das jähe Sichlichten ist das Blitzen.
(TK, 43).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 442-443 |
Das sind die Träume vom künftigen Geschick. Etwas anderes
ist es, wenn Heidegger sich von diesen Träumen lebensgeschichtlich
bewegen läßt und schließlich dorthin aufbricht, wo sie
für ihn ihren zwar gewesenen, aber immer noch anwesenden
Ort haben.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 443 |
Das waren die Jahre, da ... bei manchen inzwischen als schwäbischer
Taoist galt und fest davon überzeugt war, daß er für die
gegenwärtige Öffentlichkeit schon so gut wie »gestorben«
sei. Hannah Arendts liebevoller Essay zu Heideggers achtzigstem Geburtstag
1969 klingt fast wie ein Nachruf: »Der Sturm, der durch das Denken
Heideggers zieht - wie der, welcher uns nach Jahrtausenden noch aus dem
Werk Platons entgegenweht -, stammt nicht aus dem Jahrhundert. Er kommt
aus dem Uralten, und was er hinterläßt, ist ein Vollendetes,
das, wie alles Vollendete, heimfällt zum Uralten.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 461 |
Einige Jahre zuvor hatte es noch einmal ein großes Aufsehen
gegeben. Am 1. Februar 1966 war zu Alexander Schwans Buch »Politische
Philosophie im Denken Heideggers« ein Artikel im »Spiegel«
erschienen mit der Überschrift »Heidegger. Mitternacht einer
Weltnacht«, der einige falsche Behauptungen enthielt, zum Beispiel
die, daß Heidegger Husserl das Betreten der Universität verboten
und seine Besuche bei Jaspers wegen dessen jüdischer Frau eingestellt
habe. Jaspers hatte sich über diesen Artikel geärgert und an
Hannah Arendt geschrieben: »Der Spiegel fällt in
solchen Augenblicken zurück in seine alten schlechten Manieren«
(09.03.1966, BwAJ, 655). Hannah Arendt reagierte mit einem Zornesausbruch
gegen Adorno, der aber mit dem »Spiegel«-Artikel von 1966
nun wirklich nichts zu tun hatte. »Ich kann es zwar nicht beweisen,
bin aber ziemlich überzeugt, daß die eigentlichen Drahtzieher
hier die Wiesengrund-Adorno-Leute in Frankfurt sind. Und das ist grotesk,
um so mehr, als sich nun herausgestellthat (die Studenten haben es entdeckt),
daß Wiesengrund (Halbjude und einer der widerlichsten Menschen,
die ich kenne) versucht hat, sich gleichzuschalten. Er und Horkheimer
haben jahrelang jeden Menschen in Deutschland, der sich gegen sie stellte,
des Antisemitismus bezichtigt oder gedroht, sie würden es tun. Wirklich
eine abscheuliche Gesellschaft« (18.04.1966, BwAJ, 670).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 461 |
Heidegger wurde von Freunden und Bekannten gedrängt, sich
gegen die »Spiegel«-Kritik zu wehren. Erhart Kästner
schrieb am 4.März: »Ich wünschte nichts dringlicher, ...
als daß Sie es aufgäben, sich nicht zu verteidigen. Sie wissen
gar nicht, wieviel Kummer Sie Ihren Freunden machen dadurch, daß
Sie es bisher trotzig verschmähten. Es ist eines der stärksten
Argumente, ... daß Verleumdungen, wenn man sich nicht hörbar
dagegen verteidigt, zu Fakten werden« (BwHK, 80). Kästner genügte
es nicht, daß Heidegger einen kurzen Leserbrief an den »Spiegel«
schrieb. Er wünschte sich eine ausführlichere und energischere
Verteidigung. Er selbst war kurz zuvor aus der Berliner Akademie der Schönen
Künste ausgetreten, weil er ihr nicht mehr zusammen mit Günter
Grass angehören wollte, der in einer Episode seines Romans »Hundejahre«
gegen Heidegger zu Felde gezogen war. (»Hör gut zu, Hund: Der
wurde geboren in Meßkirch. Das liegt bei Braunau am Inn. Der und
der Andere wurden abgenabelt im gleichen Zipfelmützenjahr. Der und
der Andere haben sich gegenseitig erfunden.«) Kästner hatte
herausgefunden, daß der »Spiegel« an einem Gespräch
mit Heidegger interessiert war, und versuchte, Heidegger dafür zu
gewinnen. Aber Heidegger lehnte zunächst ab. Wenn im »Spiegel«
ein wirkliches Interesse an meinem Denken bestünde, hätte auch
Herr Augstein bei Gelegenheit seines Vortrages in der hiesigen Universität
während des vergangenen Wintersemesters mich besuchen können,
so gut wie er im Anschluß an seinen hiesigen Vortrag Jaspers in
Basel aufsuchte. (11.03.1966, BwHK, 82). Kästner bleibt hartnäckig.
Er schreibt am 2I.März: »Niemand wird den »Spiegel«,
seinen Ton lieben, sein Niveau überschätzen. Aber ich meine,
man dürfte den günstigen Wind, der im Augenblick weht, wo Herr
Augstein seinen Zorn, seinen Hohn auf den Grass hat, nicht unterschätzen.
Ich höre läuten, ... daß Abneigung gegen die moderne Wissenschaftsvergötzung,
eine tiefe Skepsis, Lieblingsgedanken Herrn Augsteins seien. Ich sehe
eigentlich keinen Grund, diesen Besuch nicht zu wünschen« (BwHK,
85).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 461-462 |
Das Gespräch kam zustande, weil die »Spiegel«-Redaktion
auf die Bedingung Heideggers einging: keine Veröffentlichung zu Lebzeiten.
Das »Spiegel«-Interview fand am 3. September 1966 im Freiburger
Haus Heideggers statt. Neben Heidegger, Augstein, dem »Spiegel«Redakteur
Georg Wolf und der Fotografin Digne Meller Markovicz nahm auch Heinrich
Wiegand Petzet als stummer »Sekundant« Heideggers daran teil.
Petzet berichtet, wie ihm Augstein kurz vor dem Gespräch seine »Heidenangst«
vor dem »berühmten Denker« gestanden habe. Dadurch sei
ihm Augstein, in dem er zunächst einen »fragenden Henker«
vermutete, sofort sympathisch geworden. Auch Heidegger war erregt. Er
erwartete die Teilnehmer an der Tür seines Arbeitszimmers. »Ich
erschrak ein bißchen«, berichtet Petzet, »als ich ihn
ansah und merkte, in welcher übersteigerten Spannung er sich befand.
..Die Adern an den Schläfen und an der Stirn mächtig geschwollen,
die Augen in Erregung ein wenig hervortretend.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 462-463 |
Augsteins »Heidenangst« merkt man besonders zu Anfang
des Gesprächs. Äußerst behutsam, gewunden und mit spitzen
Fingern wird das »heiße Eisen« angefaßt: »Herr
Professor Heidegger, wir haben immer wieder festgestellt, daß Ihr
philosophisches Werk ein wenig umschattet wird von nicht sehr lange währenden
Vorkommnissen Ihres Lebens, die nie aufgehellt worden sind, weil Sie entweder
zu stolz waren oder Sie nicht für zweckmäßig hielten,
sich dazu zu äußern.« Heidegger hatte damit gerechnet,
daß das Gespräch vor allem um seine Verstrickung in den Nationalsozialismus
kreisen würde. Um so mehr war er überrascht, daß Augstein
sich geradezu beeilte, diese Thematik hinter sich zu bringen, um auf Heideggers
philosophische Deutung der Moderne und insbesondere auf seine Technik-Philosophie
zu sprechen zu kommen. Immer wieder entschuldigen sich Augstein und Georg
Wolf dafür, wenn sie Zitate aus der Rektoratsrede oder der Rede zur
Schlageter-Feier anführen und Heidegger mit den Gerüchten konfrontieren
über seine angebliche Beteiligung an der Bücherverbrennung oder
über sein Verhalten gegenüber Husserl. So behutsam definieren
die Fragesteller Heideggers Engagement, daß Heidegger selbst eine
stärkere Version vorschlägt. Augstein/Wolf boten Heidegger die
Interpretation an, daß er während seiner Rektoratszeit »manches
ad usum Delphini« habe sagen müssen. Doch Heidegger betont
demgegenüber, daß die Wendung »ad usum Delphini«
zu wenig besagt. Ich war damals des Glaubens, daß in der Auseinandersetzung
mit dem Nationalsozialismus ein neuer und der allein noch mögliche
Weg zu einer Erneuerung sich öffnen könnte (87). Diese Version
ist aber immer noch nicht »stark« genug. Denn: Nicht die Auseinandersetzung
mit dem Nationalsozialismus, sondern die nationalsozialistische Revolution
selbst - wie er sie damals verstand - bedeutete für ihn die Erneuerung.
Auch spricht er nicht davon, daß diese Erneuerung von ihm
als säkulares Ereignis verstanden worden war, als metaphysische Revolution
und Umwälzung des ganzen deutschen Daseins, ja des ganzen
Abendlandes. Er spricht nicht davon, daß er in einen Machtrausch
geraten war, daß er die Remheit der Revolution hatte verteidigen
wollen und deshalb auch zum Denunzianten geworden war, daß er mit
den nationalsozialistischen Amtsstellen und mit seinen Kollegen zusammengestoßen
war und infolgedessen als Rektor scheiterte, weil er die Revolution hatte
weitertreiben wollen. Statt dessen erweckt er den Eindruck, er habe mitgemacht,
um eine Art Widerstand zu leistell. Er unterstreicht seine unpolitische
Einstellung vor 1933 und stellt seine Entscheidung für das Rektorat
als Opfergang dar, um Schlimmeres, d. h. die Machtergreifung der Funktionäre
an der Universität zu verhindern. Kurz: Heidegger versteckt in diesem
Gespräch den nationalsozialistischen Revolutionär, der er für
eine bestimmte Zeit gewesen war, und er verschweigt die philosophischen
Antriebe, die ihn dazu gemacht hatten.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 463-464 |
Wenn Heidegger einerseits seine Rolle in der Nazi-Zeit harmloser
darstellt, als sie war, so ist er andererseits doch nicht bereit, die
Rolle des »geläuterten Demokraten« zu spielen, wie das
im Nachkriegsdeutschland viele taten. Als das Gespräch auf das Problem
kommt, daß die Technik den Menschen immer mehr von der Erde losreißt
und entwurzelt (98), verweist Heidegger darauf, daß der Nationalsozialismus
ursprünglich gegen diese Entwicklung hatte ankämpfen wollen,
dann aber selbst zu ihrem Motor geworden sei. Heidegger gesteht seine
Ratlosigkeit ein in bezug darauf, wie dem heutigen technischen Zeitalter
überhaupt ein - und welches - politisches System zugeordnet werden
kann. .... Ich bin nicht überzeugt, daß es die Demokratie ist.
(96). Es war an dieser Stelle des Gesprächs, daß Heidegger
sagte: Nur noch ein Gott kann uns retten (99). Unter diesem Titel
wird das Gespräch 1976, nach dem Tode Heideggers, im »Spiegel«
veröffentlicht.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 464 |
Das Gespräch sollte die Diskussion um Heideggers Engagement
zum Ende bringen und mußte sie doch aufs neue entfachen. Denn Heidegger
verteidigte sich so, wie es die meisten »Belasteten« damals
taten, von denen Carl Schmitt übrigens in seinem »Glossarium«
bissig bemerkte, sie hätten das Mitmachen als eine Form des Widerstandes
entdeckt. Was »man« üblicherweise tut, mußte einen
unwürdigen Eindruck machen bei einem Eigentlichkeits-Philosophen,
der vom entschlossenen Dasein auch den Mut zur Verantwortung gefordert
hatte. Verantwortung aber erstreckt sich nicht nur auf den Bereich der
eigenen Absichten, sondern auch auf die nicht beabsichtigten Konsequenzen
des Handelns. Aber sollte Heidegger Mitverantwortung übernehmen für
die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus, an denen er nun
wirklich keinen Anteil hatte - auch nicht über gemeinsame gedankliche
Voraussetzungen? Heidegger war niemals ein Rassist gewesen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 464-465 |
Neben dem Klingelknopf am Hause Rötebuckweg 47 war ein Kärtchen
angebracht: »Besuche nach 17 Uhr«. Es kamen viele Besucher,
Heidegger mußte sich seine Arbeitszeit freihalten. Petzet erinnert
sich des amüsanten Vorfalls, daß an einem Sonntagnachmittag
eine vielköpfige südamerikanische Familie Zutritt erbat mit
dem einzigen stockend vorgebrachten Wunsch: »Seulement voir Monsieur
Heidegger.« Heidegger zeigte sich, die Familie bestaunte das Wundertier
und zog dann unter vielen Verbeugungen wortlos davon. Besucher, die ins
Arbeitszimmer Heideggers geladen waren - was eine besondere Auszeichnung
bedeutete -, mußten eine geschwungene Holztreppe zum ersten Stock
hinaufsteigen, wo sich neben einem riesigen Familienschrank die Tür
zum Arbeitszimmer öffnete. Ein von umlaufenden Bücherregalen
verdunkelter Raum, der durch ein efeuumranktes Fenster Licht empfing.
Davor der Schreibtisch. Von ihm aus sah man auf den Turm der Zähringer
Burgruine. Neben dem Schreibtisch ein Ledersessel, worin Generationen
von Besuchern gesessen hatten, Bultmann, Jaspers, Sartre, Augstein. Auf
dem Schreibtisch stapelten sich Manuskriptmappen, von Fritz Heidegger
mit liebevollem Spott »Martins Verschiebebahnhöfe« genannt.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 470 |
In diesem Zimmer saß Hannah Arendt 1967 wieder, zum ersten
Mall nach einer Zwischenzelt von 15 Jahren. Seit dem letzten Besuch 1952
waren nur Briefe hin und her gegangen. Heidegger hatte ihr zu ihrem sechzigsten
Geburtstag 1966 das Gedicht HERBST geschickt. Hannah will Heidegger, der
nun auf die 80 zugeht, noch einmal sehen; den Geburtstagsgruß nimmt
sie als Ermunterung. Nach den Mißhelligkeiten der vorausgegangenen
Jahre wieder eine Versöhnung. Hannah und Elfride beschließen,
einander mit Vornamen anzureden. Zwei Jahre später, imAugsut 1969,
kurz vor Heideggers achtzigsten Geburtstag, bringt Hanna Arend ihren Mann
mit, Heinrich Blücher. Die Stimmung ist herzlich und gelöst.
Wenn Hannah nur nicht so viel rauchen würde! Elfride muß hinterher
tagelang lüften. Ein Buchgeschenk versieht Heidegger, so Ettinger,
mit der Widmung: Für Hannah und Heinrich - Martin und Elfride.
Man plant für das nächste Jahr eine Wiederholung dieses Zusammenseins
zu viert. Aber irn Oktober 1970m stirbt Heinrich Blücher. Ihre letzten
Jahre widmet Hannah Arendt der Arbeit an ihrem großen, unvollendet
gebliebenen Werk »Vom Leben des Geistes: Das Denken - Das Wollen
- Das Urteilen«. In den dort entwickelten Gedanken ist sie Heidegger
so nahe wie nirgends sonst. Heidegger habe, so lautet ihr Fazit, der Philosophie
ein »Denken zurückgewonnen, das Dankbarkeit dafür ausdrückt,
daß ihm das nackte Daß überhaupt zuteil geworden
ist«. Auch sonst reißt ihre Verbindung zu Heidegger nun nicht
mehr ab. Jedes Jahr besucht sie ihn und kümmert sich energisch um
die Herausgabe und Ubersetzung seines Werkes in Amerika. Heidegger erkennt
ihre Hilfe dankbar an; es bestätige sich wieder, schreibt er, daß
niemand seine Gedanken besser verstehe als sie.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 470-471 |
Ettinger berichtet noch die folgende charakteristische Episode:
Da das Treppensteigen inzwischen Mühe bereitet, soll im Garten des
Wohnhauses ein ebenerdiger kleinerer Bau als bequemer Alterssitz errichtet
werden. Zur Finanzierung des Baus will Heidegger das Manuskript von SEIN
UND ZEIT verkaufen, an eine Stiftung, eine Bibliothek oder auch an einen
privaten Sammler. Es ist Elfride, die im April 1969 in dieser Angelegenheit
bei Hannah Arendt Rat einholt. Wieviel kann man verlangen, wo würde
man einen höheren Preis erzielen? In Amerika oder in Deutschland?
Umgehend zieht Hannah Arendt Erkundigungen bei Fachleuten ein, die erklären,
daß der höchste Verkaufspreis wohl an der Universität
von Texas zu erzielen sei, man könne sicherlich mit einer Summe um
100000 Mark rechnen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 471 |
Das SEIN UND ZEIT-Manuskript gelangte dann doch nicht nach Texas
in die Neue Welt, sondern blieb im Abendland: das Schiller-Literaturarchiv
in Marbach meldete sein Interesse an. Dorthin gelangte schließlich
das gesamte Konvolut des Heideggerschen Manuskripten-Nachlasses. Das kleine
Haus auf dem Gartengrundstück wurde gebaut, zum Einzug schickte Hannah
Blumen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 471 |
Heidegger konnte seinen gewohnten Lebensrhythmus beibehalten.
Vormittags Arbeit, nach dem Mittagessen Ruhe, dann wieder Arbeit bis zum
späten Nachmittag; die Spaziergänge führten ihn häufig
zum »Jägerhäusle«, einer Gastwirtschaft am Hang
mit Blick über die Stadt. Dort traf er sich gerne mit Bekannten und
Freunden zu einem »Viertele«. Jeweils im Frühjahr und
Herbst verbrachte er einige Zeit in Meßkirch beim Bruder. Am Tag
des heiligen Martin, am 11 November, sitzt Heidegger jedesmal vorne auf
dem angestammten Platz im Chorgestühl der Kirche, wo er schon als
Läuterbub gesessen hat. Die Meßkirchener wußten seine
Anwesenheit zu schätzen, wenn auch manche, die ihn von Kindesbeinen
an kannten, nun ein wenig befangen waren gegenüber dem berühmten
Professor mit der Baskenmütze. Als eine ehemalige Mitschülerin
aus der Volksschule, die es nur zur Putzfrau gebracht hatte, ihm einmal
begegnete und nicht wußte, wie sie ihn anreden sollte, ob mit dem
gebräuchlichen »Du« oder dem für sie geziert klingenden
»Sie«, verfiel sie in ihrer Ratlosigkeit auf das Heideggersche
»Man«, denn sie sagte zu ihm: »Isch me au do?«
(»Ist man auch da?«) Zu den runden Geburtstagen gab es Feierstunden
im städtischen Festsaal. Ein Schweizer Musiker hatte einen Heidegger-Marsch
mit der Motivfigur h-e-d-e-g-g-e komponiert, den die Stadtkapelle von
Meßkirch für solche feierliche Gelegenheiten in ihr Repertoire
aufgenommen hatte. Daß der Prophet nichts gilt im eigenen Land,
gilt also nicht für Meßkirch, wo Heidegger 1959 auch die Ehrenbürgerwürde
verliehen bekam.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 471-472 |
Heidegger war nun ein ehrfurchtgebietender alter Herr, aber was
an ihm schroff und streng gewesen war, das milderte sich. Er ging zu Nachbarn,
um Fernsehübertragungen großer Fußball-Europapokalspiele
zu verfolgen. Beim legendären Spiel Hamburger SV gegen FC Barcelona
Anfang der sechziger Jahre warf er vor Aufregung seine Teetasse um. Der
damalige Intendant des Freiburger Theaters traf ihn einmal im Zug und
wollte mit Heidegger ein Gespräch über Literatur und Bühne
führen, was ihm aber nicht gelang, weil Heidegger, noch unter dem
frischen Eindruck eines Fußball-Länderspiels, lieber über
Franz Beckenbauer reden wollte. Er hegte größte Bewunderung
für dessen gefühlvolle Ballbehandlung - wobei er dem erstaunten
Zuhörer die Finessen seines Spiels geradezu augenfällig zu machen
versuchte. Er nannte Beckenbauer einen genialen Spieler und rühmte
seine Unverwundbarkeit in den Zweikämpfen. Heidegger traute sich
durchaus fachmännisches Urteil zu, in Meßkirch hatte er nämlich
nicht nur die Glocken geläutet, sondern auch als Linksaußen
erfolgreich den Ball getreten.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 472 |
Am 4. Dezember 1975 stirbt Hannah Arendt. Auch Heidegger bereitet
sich jetzt aufs Sterben vor, ruhig, gefaßt, gelassen. Als sein Spielgefährte
der Kindheit, Karl Fischer, ihm zu seinem 86. Geburtstag, seinem letzten,
gratuliert, antwortet Heidegger: Lieber Karle, .... Ich denke jetzt
oft an unsere Jugendzeit zurück und dabei auch an Dein Elternhaus
mit den vielen Tieren auf der Terrasse, unter anderen war ein Uhu.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 461 |
Bei sinkender Dämmerung wird das Frühe sichtbar. Man
darf vermuten, daß Heidegger diesen Uhu wieder sehr deutlich vor
sich gesehen hat. Die Zeit, da dieser Vogel zu seinem Flug ansetzt, war
gekommen. Vielleicht hat sich Heidegger bei dieser Gelegenheit auch daran
erinnert, was mir Karl Fischer, mit dem ich noch sprechen konnte, einmal
erzählte: daß der kleine Martin einen Säbel gehabt habe,
der so lang war, daß er ihn hinter sich herschleppte. Er war nicht
aus Blech, sondem aus Stahl. »Er war eben der Hauptmann«,
sagte Karl Fischer, immer noch mit der Bewunderung aus gemeinsamen Lausbubentagen.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 461 |
Im Winter 1975 der letze besuch Petzets bei Martin Heidegger.
»Wie immer mußte ich ihm vieles erzählen; anteilnehmend
fragte er nach Menschen und Dingen, Erfahrung und Arbeit - klar und weitgespannten
Geistes wie nur je. Als ich dann bei vorgerücktem Abend gehen wollte
und Frau Heidegger das Zimmer schon verlassen hatte, drehte ich mich an
der Tür noch einmal um. Der Greis blickte mir nach, hob die Hand,
und ich hörte ihn leise sagen: »Ja, Petzet, nun geht es auf
das Ende zu«. Ein letztes Mal grüßten mich seine Augen.«
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 476 |
Im Januar 1976 bat Heidegger seinen Meßkirchener Landsmann,
den Freiburger Theologieprofessor Bernhard Welte, zu einem Gespräch
zu sich und teilte ihm mit, er wolle, wenn es demnächst soweit sei,
auf dem Friedhof in Meßkirch, der gemeinsamen Heimat, begraben sein.
Er bat um ein kirchliches Begräbnis und darum, daß Welte an
seinem Grabe sprechen möge. In diesem letzten Gespräch, das
die beiden miteinander führten, ging es um die Erfahrung, daß
die Nähe des Todes die Nähe zur Heimat in sich einschließt.
»Es schwebte«, so berichtet Welte, »auch der eckhartische
Gedanke im Raum, daß Gott dem Nichts gleich sei.« Am 24. Mai,
zeei Tage vor seinem Tod, schreibt Heidegger noch einmal an Welte; ein
Grußwort aus Anlaß der Verleihung der Meßkirchener Ehrenbürgerschaft
an den Theologen. Dieses Grußwort ist die letzte handschriftliche
Äußerung von Martin Heidegger: Den neuen Ehrenbürger
der gemeinsamen Heimatstadt Meßkirch - Bernhard Weite - grüßt
heute herzlich der ältere .... Erfreuend und belebend sei dieser
Festtag der Ehrung. Einmütig sei der besinnliche Geist aller Teilnehmenden.
Denn es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeitalter der technisierten
gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann. (D, 187).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 476-477 |
Am 26. Mai, nach einem erquickten Erwachen am Morgen, schläft
Heidegger wenig später noch einmal ein und stirbt.
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 477 |
Die Beisetzung in Meßkirch findet am 28. Mai statt. Ist
Heidegger in den Schoß der Kirche zurückgekehrt? Max Müller
erzählt, wie Heidegger auf Wanderungen, wenn man zu Kirchen und Kapellen
kam, stets Weihwasser nahm und eine Kniebeuge machte. Einmal habe er ihn
gefragt, ob das nicht eine Inkonsequenz sei, da er doch von den Dogmen
der Kirche Abstand genommen habe. Darauf habe Heidegger geantwortet: Geschichtlich
muß man denken. Und wo soviel gebetet worden ist, da ist das Göttliche
in einer ganz besonderen Weise nahe. (Zitiert aus: Max Müller,
Martin Heidgger - Ein Philosoph und die Politik, S. 213).
Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine
Zeit, 1994, S. 477 |
Man
beneidet die Tiere, weil sie ganz Natur, ohne störendes Bewußtsein.
Man beneidet Gott, weil er vielleicht reines Bewußtsein ist, ohne störende
Natur. Und man beneidet das Kind, dieses göttliche Tier. Man beneidet damit
sich selbst um seine verlorene Kindheit, seine Spontaneität und Unmittelbarkeit.
Unsere Erinnerung läßt uns glauben, daß wir alle die Austreibung
aus dem Paradies schon einmal erlebt haben - als unsere Kindheit zu Ende ging.Rüdiger
Safranski, Das Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 25 |
Der
Mensch mußte also, als er die Freiheit der Wahl bekam, die Unschuld des
Werdens und Seins verlieren. Die richtige Wahl konnte ihm keiner abnehmen, auch
nicht Gott. Gott mußte dem Menschen das zumuten, da er seine Freiheit respektierte.
Aber diese Freiheit konnte nicht vollkommen sein, denn Vollkommenheit ist nur
bei Gott.
Rüdiger Safranski, Das Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997,
S. 25 |
Was heißt vollkommene Freiheit
? Das ist eine Freiheit, der das Leben gelingt. So aber verhält es
sich beim Menschen nicht. Freiheit ist bei ihm nur eine Chance, keine Garantie
des Gelingens. Das Leben kann ihm auch mißlingen - aus Freiheit. Der Preis
der menschlichen Freiheit ist genau dfiese Möglichkkeit des Mißlingens.
Natürlich hätte der Mensch lieber eine Freiheit ohne dieses Risiko.Rüdiger
Safranski, Das Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997, S. 25 |
Man zitierte gern Lenin: Dieser hatte gesagt, während man
Musik von Beethoven hört, möchte man den Menschen, allen Menschen,
über den Kopf streichen. So aber seien die Zeiten nicht, einige Köpfe
müsse man abschlagen.
Rüdiger Safranski, Das Böse oder: Das Drama der Freiheit, 1997,
S. 235 |
Ich habe ein Buch über die
Freiheit geschrieben. Das Böse ist der Preis der Freiheit.Rüdiger
Safranski, im Gespräch mit der NZZ, 1997 |
Gerade
weil Schopenhauer sich das Gegenteil so lebhaft vorstellen konnte, wurden ihm
die Spielregeln des Urvertrauens sinnfällig: ein Wesen, das sich in die monströse
Einsamkeit hinausdenken kann, verlangt nach dem Gefühl, bedacht zu sein.
Die Formel des Weltvertrauens lautet: »cogitor ergo sum«, (ich werde
bedacht, also bin ich). Die Lehre Schopenhauers aber lautet: Wir werden lernen
müssen, ohne Weltvertrauen zu leben, wir sind alleine, es gibt keinen übergreifenden
Sinn. Schopenhauers Welt ist eine, der man den Kredit entzogen hat.Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
In
Schopenhauers Philosophie drängt alles auf ein gewandeltes Leben. Die große
Wandlung wäre die heilige Erleuchtung. Auf sie kann Schopenhauer nur hinweisen.
Er selbst bringt es »nur« bis zur Philosophie oder zur Kunst, das
gesteht er sich ein. Philosophie und Kunst liegt auf dem halben Weg. Eine befristete
Heiligkeit, ein Vorgeschmack, prosaisch gesprochen: ästhetischer oder kontemplativer
Weltabstand.Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
Wollte
man Schopenhauers Philosophie insgesamt charakterisieren, müßte man
sie als eine Metaphysik des ästhetischen Abstandnehmens bezeichnen, wobei
»ästhetisch« heißt: auf die Welt hinblicken und dabei schlechterdings
nicht tätig darin verflochten sein. Dieses ästhetische Abstandnehmen
eröffnet einen Ort der Transzendenz, der leer bleiben muß. Kein Wollen,
kein Sollen, nur noch ein Sein, das ganz zurn Sehen geworden ist, zum Weltauge.
Solches gelassene Sehen ist jene Art der Verneinung, welche die Philosophie als
Akt selbst noch vollziehen kann, mehr kann sie nicht. Aber wenn sie so weit kommt,
dann wird das auch die Wirkung haben können, die Schopenhauer der beseligenden
Kunst zuschreibt ....Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
Es
ist zu Genüge bekannt, wie Nietzsche sich von Schopenhauer hat inspirieren
lassen, wie die erste Lektüre der »Welt als Wille und Vorstellung«
geradezu als Bekehrungserlebnis gewirkt hat. Später entfernte er sich von
ihm, aber blieb ihm antithetisch verbunden: der Schopenhauerschen Entsagung setzt
er den Willen zur Macht entgegen.Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
Nietzsche
hat der Schopenhauerschen Verneinung auf den Grund gesehen und dort jenes Verlangen
nach einem anderen Sein entdeckt, wovon schon die Rede war. Verschafft sich Schopenhauer,
so fragt Nietzsche, nicht mit seiner ganzen Verneinungsphilosophie die die besten
Bedingungen für die »schönste Fruchtbarkeit«, bedeutet die
Askese nicht eine Intensivierung und raffinierte Ausgestaltung des Lebenswillens?
Nietzsche entdeckt das uneingestandene »Ja« in Schopenhauers »Nein«.
Und zwar deshalb, weil er nach seinem Zarathustra-Erlebnis die ganze Welt im Lichte
einer ekstatischen Lebensbejahung sehen will und sehen kann und darum ein so feines
Gespür entwickelt für die heimlichen und unheimlichen Lebensaffirmationen
im Werk Schopenhauers.Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
Auch
sonst ist Schopenhauers Philosophie in Nietzsches Konzeption der dionysischen
und apollinischen Lebensmächte gegenwärtig. Dionysos ist die Welt des
»Willens«, Apoll ist für die »Vorstellung« zuständig.
Nietzsche nimmt eine ganze Reihe von Identifikationen vor. Aus dem Kunstprinzip
Dionysos (worin sich auch die Kunst Wagners spiegelt) wird ein Weltprinzip und
daraus schließlich ein Prinzip seiner innersten Erfahrung, wie Nietzsche
sagt. Schopenhauer strebt mit seinem »bessren Bewußtsein« und
seiner Ekstase der Verneinung ins Überindividuelle, Nietzsche dagegen will
mit seinem Prinzip Dionysos Fühlung halten zu den vitalen, gewissermaßen
unterindividuellen Lebensmächten, diesem Gemisch aus Glück, Qual und
Entsetzen. Sein Ideal ist ein Glück, das in den Abgrund geblickt hat; ein
Glück, das stark genug ist, um einverstanden zu sein mit Schmerz, Verzweiflung,
Grausamkeit.Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
Eine
Generation vor Sigmund Freud diagnostiziert Nietzsche die Krankheit der Kultur:
ihr Fundament sei die Angst, die sich an vermeintliche Sicherheiten klammert.
Über lange Zeit hin war das Christentum eine solche Sicherheit. Das Christentum
hat inzwischen, das sieht auch Nietzsche, seine Rückversicherungskraft eingebüßt;
deshalb hat man sich nun daran gemacht, Ersatzgötter zu finden: im Nationalismus
und Sozialismus, im bienenfließigen Arbeitsleben, im Glauben an den technischen
Fortschritt. Das alles bewegt sich für Nietzsche im Milieu eines faden Optimismus,
der darauf angelegt ist, das Leben vor den großen Problemen sicherzustellen:
Tod, Schmerz, Gewalt, Sinnlosigkeit werden verdrängt. Die Kultur errichtet
einen Sicherheitskordon. Eine Kultur, die Nietzsche mit der zweiflerischen Frage
belästigt: dieses Leben, das sich hier schützen will, - lebt es eigentlich
noch? Im Zarathustra läßt Nietzsche den »letzten Menschen«,
also uns, auftreten.Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
Auf
die Heiligung des Diesseits kommt es an. Das unterscheidet Nietzsches Atheismus
vom modernen Nihilismus. Der moderne Nihilismus, so wie er ihn sieht, ist nur
noch Ernüchterung. Man hatte dem Leben einen transzendenten Sinn und Wert
beigelegt. Wenn dieser Jenseitssinn schwindet, bleibt das Leben zurück: sinnlos,
man hat ein Jenseits geheiligt und das Diesseits profaniert. Verschwindet das
heilige Jenseits, bleibt das profanierte Diesseits zurück. Deshalb hat der
Nihilismus eigentlich schon mit Platon und dem Christentum, dem Platonismus fürs
Volk, begonnen, als nämlich im Zeichen einer höheren Idee das immanente
Leben entwertet wurde. Damals begann das Zerwürfnis mit dem Leben. Und deshalb
verliert am Ende dieser langen Geschichte der platonisch-christlichen Entwertung
des Lebens der moderne Nihilismus sein überschwengliches Jenseits, ohne das
Diesseits als Wert zurückzugewinnen. Nietzsche Zarathustra aber will in der
Kunst unterweisen, wie man gewinnt, wenn man verliert. Alle Ekstase, alle Beseligung,
die ganzen Himmelfahrten des Gefühls, dieser Hunger nach Intensität,
der vormals ins Jenseits ausgriff, sollen sich nun ans unmittelbare, diesseitige
Leben halten. Nietzsche will die Kräfte des Transzendierens für die
Immanenz bewahren. Überschreiten und doch der Erde treu bleiben - das ist
es, was Nietzsche seinem Übermenschen aufträgt. Der Übermensch
, wie ihn Nietzsche entwirft, ist frei von Religion: er hat sie nicht verloren,
er hat sie in sich zurückgenommen. Der gewöhnliche Nihilist hingegen,
der letzte Mensch, hat sie nur verloren und das profanierte Leben zurückbehalten.
Nietzsche will die heiligenden Kräfte fürs Diesseits retten - gegen
die nihilistische Tendenz ihrer Profanierung.Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
Nietzsche
und Schopenhauer sind Beispiele dafür, wie große Philosophie aus inspirierenden
Augenblicken erwächst und - mit nur wenig Übertreibung gesagt - nur
noch eine Ausfaltung dessen ist, was in diesen Augenblicken als Erlebnis und Erfahrung
gelegen hat. An diesem Paar zeigen sich - zweitens - zwei Grundmöglichkeiten
der Ekstase. Die Ekstase des »Nein« zur Welt, wie sie ist. Und eine
Ekstase des »Ja«. Schopenhauer will aus der Welt transzendieren, Nietzsche
in die Welt transzendieren. Beide aber bleiben natürlich »in der Welt«.
Und so bleiben sie sich nahe, weil sich zuletzt doch alles abspielt in einer Dimension,
die man die »ästhetische« nennt. Eine Umwandlung, die sich zwar
ohne Gott vollzieht, aber wohl genauso fundamental ist, wie als wäre dieser
Gott, der alles neu macht, im Spiel. Zwei atheistische Philosophien, in denen
Gott verschwunden, aber ein Gotteseffekt geblieben ist: der ästhetische.
Eine gewandelte Wahrnehmung - als ob einem ein Gott neue Augen eingesetzt hätte.Rüdiger
Safranski, Schopenhauer und Nietzsche, 1998 |
Man
glaubt, das bloße Vorhandensein von etwas sei die einfachste Sache der Welt.
Aber, genau betrachtet, ist es das Rätselhafte schlechthin.Rüdiger
Safranski, Nietzsche - Biographie seines Denkens, 2000, S. 174 |
Die
Kunst des Wohnens, da hat Heidegger vollkommen recht, ist vielleicht das Wichtigste.Rüdiger
Safranski, im Gespräch mit dem Marbuger Forum, 2001 |
Ohne
Glauben könnten wir gar nicht leben. In der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft
lebt jeder, was das Wissen betrifft, aus zweiter oder dritter Hand. Bei den meisten
Dingen, die unseren unmittelbaren Lebens- und Kompetenzbereich überschreiten,
bleibt uns nichts anderes übrig, als an das Wissen der anderen zu
glauben. In den meisten Angelegenheiten sind alle dazu verurteilt, gläubige
Mitwisser zu sein. Da jeder nur Spezialist für Bestimmtes ist und Laie in
Bezug auf den riesigen Rest, wächst mit der spezialisierten Wissensgesellschaft
auch die Glaubensgemeinschaft. Je mehr Wissen, desto mehr Glauben an das Wissen
der anderen. Diese Art des Glaubens hat also auf jeden Fall eine große Zukunfte.Rüdiger
Safranski, in: Cicero, 5, 2004 |
Es gibt
in der Wissensgesellschaft Felder, wo in diesem Sinne besonders intensiv geglaubt
wird. Wenn die Wirtschaftsweisen im Fernsehen wie Schamanen aus den Kulissen treten
und ihre Orakelsprüche verkünden, dann sollen wir an die verkündeten
Konjunkturprognosen glauben. Aber so glauben wir auch an die Psychoanalyse, an
den Urknall, an das Chaos in der Natur, an die künftige Klimakatastrophe,
an die Entropie samt kosmischem Wärmetod, an die egoistischen Gene und an
vieles andere mehr. Zwar könnte man sagen, das seien nur Formen des Für-wahrscheinlich-Haltens,
die deshalb wenig mit dem religiösen Glauben zu tun hätten. Und doch
nähern wir uns dabei dem religiösen Feld, weil es hier um Zuversicht
oder Angst in bezug auf Themen geht, die lange Zeit genuin religiöse Themen
waren. Wer an den Urknall glaubt, hält nicht nur eine wissenschaftliche Hypothese
für wahrscheinlich, sondern glaubt daran wie an die göttliche Weltschöpfung.
Und an die Entropie-Hypothese mit dem schließlichen Wärmetod kann man
auch glauben wie an die Apokalypse.Rüdiger
Safranski, in: Cicero, 5, 2004 |
Noch in
einem anderen Sinne leben wir alltäglich aus dem Glauben. Der Mensch ist
das Tier, das versprechen kann, hat Nietzsche einmal gesagt. Der eine verspricht,
der andere glaubt ihm. Glauben ist auf beiden Seiten im Spiel, denn auch der Versprechende
muß an sich selbst glauben, genauer: an sein künftiges Selbst, das
ein gegebenes Versprechen einhalten soll. Ich verspreche, weil ich an mich glaube
und du glaubst mir, weil ich verspreche. Diese Art des Glaubens zirkuliert zwischen
den Menschen und ist so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Es ist ein Glaube,
dem wir im Interesse unserer Lebensfähigkeit eine Zukunft wünschen müssen.
Der Mensch lebt, anthropologisch gesehen, auf Kredit.Rüdiger
Safranski, in: Cicero, 5, 2004 |
Die Philosophen
jedenfalls haben dann auf einmal bemerkt, daß in der Finanzwirtschaft ...
offenbar Leute in mächtigen Positionen agieren, deren Wirklichkeitskontakt
noch viel beschädigter ist als der beschädigte Wirklichkeitskontakt
der Philosophen.Rüdiger
Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009 |
Ich
denke, wenn es die katholische Kirche nicht gäbe, müßte man sie
erfinden. Gerade als antimodernistisches Gegenlager gegenüber den unglaublich
gefährlichen Potenzen, die in der Moderne ... liegen. Mir ist ... wirklich
am wohlsten, also ich fühle mich am sichersten, wenn wir diesen »Elefanten«
der katholischen Kirche da stehen haben und die Modernitätshysteriker können
sich daran abarbeiten. Dadurch entsteht eine Entschleunigung in diesen Prozessen
der Modernität. Und auf die setze ich. Der Charme der katholischen Kirche
ist für mich der, daß sie genau an allen Punkten, die wir so bisher
genannt haben, auf der Bremse steht. Die steht auf der Bremse. Und die brauchen
wir. Rüdiger
Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, November 2009 |
So
wie ich das bei Benedikt XVI. höre, ist mir das insofern sympathisch, als
ich z.B. im Moment das Gefühl habe, daß wir in unserer Gesellschaft
eine inbrünstige quasi-religiöse Gläubigkeit an die Naturwissenschaften
z.B. haben. .... Die größte Gefahr - für mich - im geistigen Leben
ist der pseudo-naturwissenschaftlich begründete Naturalismus. ....
Einen ... Standpunkt in dem allgemeinen Meinungskampf, wie ihn Benedikt XVI. vertritt,
empfinde ich als eine Befreiung von Flachköpfen wie Dawkins u.s.w..Rüdiger
Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, November 2009 |
Die
Finanzwirtschaft ... ersetzt die alte antibürgerliche Arbeiterbewegung von
der ganz anderen Seite. Das sind die Chaoten am anderen Ende der Skala, die ungleich
gefährlicher sind als alles, was wir bisher hatten.Rüdiger
Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010 |
Bürgerlich
ist die Beschreibung des Teils der Gesellschaft, der die Werte schafft, die dann
verteilt werden können. Wir bekommen das vielleicht sogar im internationalen
Maßstab .... Jetzt schälen sich ja Staaten heraus wie Griechenland
u.a., die selber wiederum Transferempfänger sind von den Kernländern
Europas, die Werte schaffen und dort ausleihen - weil wir auch dorthin exportieren
-, ... will sagen: Ist ... das Bürgerliche ... nicht auch eine Beschreibung
eines neuen Dualismus in der Gesellschaft, eben zwischen Transferempfängern
... und dem Leistungskern einer Gesellschaft.Rüdiger
Safranski, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010 |
Der
Mensch lebt immer in einem Wahrnehmungs- und in einem Handlungskreis. Heute leben
wir in einer Situation, in der wir unendlich mehr wahrnehmen, als wir im Handlungskreis
abführen können, was zur Dauererregung führt.Rüdiger
Safranski, Vielleicht waren wir zu früh, in: Zeit-Online,
11. Mai 2012 |
Künstlerische Werke sind
heute so etwas wie Schrottpapiere. Völlig entwertet oder in anderen Fällen
zum Spekulationswert hochgesteigert. Es gibt, wie wir wissen, kein vernünftiges
Verhältnis mehr zwischen Real- und Finanzwirtschaft. Zirkulation rangiert
vor Produktion. Dass Werte, die zirkulieren, zuvor irgendwie geschaffen werden
müssen, macht man sich kaum mehr klar. Man muss nur zugreifen, es ist doch
alles schon da, denkt der Konsument in uns. Der Konsument aber ist bekanntlich,
nach Nietzsche, der letzte Mensch. Der Endverbraucher eben.Rüdiger
Safranski, Vielleicht waren wir zu früh, in: Zeit-Online,
11. Mai 2012 |
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