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Prägnant und möglichst knapp formulierte Gedanken

von

Hermann Franz-Heinrich Schmitz (1928-2021)

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„In meiner Analyse des leiblichen Befindens setze ich mir - soviel ich sehe, zum ersten Mal in der Weltliteratur - das Ziel, ein abgerundetes Begriffssystem allein auf das Zeugnis des eigenleiblichen Spürens zu gründen, also dessen, was der Mensch, wie man sagt, am eigenen Leibe spürt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, 1964

„Was das große Unternehmen eines Systems der Philosophie gegenwärtig zu rechtfertigen scheint, ist nicht allein theoretisches, spekulatves Interesse, sondern hauptsächlich das Bedürfnis nach Überwindung der Introjektion der Gefühle, d.h. der Neigung, Gefühle als subjektive, private Seelenzustände der einzelnen Menschen aufzufassen, statt als erregende, ergreifende Mächte, die von sich aus wirken und über die Menschen – nicht bloß über einzelne, sondern ebenso über Mengen und Gruppen – kommen, ohne der Heimstatt in einem Subjekt zu bedürfen und bloß dessen Ausgeburten, Inhalte oder Eigenschaften zu sein. Die Alten waren dieser Introjektion noch nicht oder weniger als wir verfallen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1. Band: Die Gegenwart, Vorrede, 1964, S. XI-XII

„Ludwig Klages schreibt: »Kurz, in der Vorzeit waren die Gefühle, um den von den Griechen bevorzugten Namen zu wählen, Dämonen (daimones), mit denen der Mensch sich auseinanderzusetzen hatte als mit den seinem Weltbild innewohnenden Wesen.«. (Ludwig Klages, Die Sprache als Quell der Seelenkunde, 1948, S. 226).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1. Band: Die Gegenwart, Vorrede, 1964, S. XI-XII

„Die bloße Versicherung der Eigenmacht der Gefühle hat aber kaum Aussicht, sich gegen das Selbstbewußtsein einer sich überlegen dünkenden aufklärerischen Psychologie durchzusetzen, solange ihr wesentlicher Inhalt die negative Beteuerung ist, daß Gefühle keine subjektiven Zustände seien. Es bedarf einer positiven, aus umfassender phänomenologischer Besinnung geschöpften Charakteristik, um der Introjektion einen Riegel vorzuschieben. Dazu soll die Einsicht dienen, daß Gefühle nicht subjektiv, sondern räumlich sind. Die Räumlichkeit der Gefühle widerspricht aber so sehr der heute gewöhnlichen, überwiegend von Mathematik und Naturwissenschaft diktierten Meinung über das Räumliche, daß durch jene Einsicht eine weitreichende Untersuchung des Wesens der Räumlichkeit überhaupt erforderlich wird. Diese Untersuchung erzwingt den Rückgang zur Leiblichkeit, denn Räumlichkeit und Leiblichkeit sind an der Wurzel mit einander verwachsen; gemeinsam werden sie erst im Rückgang auf Gegenwart verständlich.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1. Band: Die Gegenwart, Vorrede, 1964, S. XIII

„Das Eingehen auf die Gegenwart und den Leib wird durch die Überwindung der Introjektion der Gefühle auch noch in anderer Weise motiviert. Das Wesen des Menschen muß nämlich neu durchforscht werden, um einen Begriff davon zu gewinnen, wie die Gefühle aus seiner Subjektivität herausgenommen werden können, ohne daß er aufhört, Mensch zu sein und als solcher im Bann der Gefühle zu stehen. Für die herkömmliche Anthropologie mit ihrem dualistischen, psycho-somatischen Ansatz ist es ja ausgeschlossen, den Menschen ohne die Subjektivität der Gefühle, die das Kernstück seines seelischen Lebens bilden, zu denken. Wer den Gefühlen solche Subjektivität bestreitet, ist also verpflichtet, die Anthropologie neu zu begründen. Das gelingt höchstens durch Besinnung auf die zentrale Bedeutung der Leiblichkeit und Gegenwart für den Menschen, auch sofern er Person ist. Der Mensch als eingekörperter Leib mit fünffältig entfalteter Gegenwart, der Gefühlen ausgesetzt ist – fähig, durch sie erschüttert zu werden –, erweist sich als ein Wesen, dem in der europäischen Geschichte eigentlich nur die vorphilosophische Anthropologie Homers, die noch in der angeführten Rede Sapphos von ihren frenes gegenwärtig ist, gerecht wird, während die spätere, namentlich dem Diktat Platons unterworfene Anthropologie mit allen ihren Folgen revidiert werden muß.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1. Band: Die Gegenwart, Vorrede, 1964, S. XI-XII

Im Westen entdeckte er für die Menschheit Amerika und damit den Raum als Ortsraum. Diese absichtlich überspitzte Formulierung soll besagen, daß Kolumbus - und später der Weltumsegler Magellan als Vollstrecker seiner Initiative - durch ihre Erfolge auf der Westroute eine chocartige Umwälzung der menschlichen Raumvorstellung erzwangen, die m.E. den Eintritt in die spezifisch neuzeitliche Bewußtseinsweise tiefer als irgendein anderer Übergang markiert.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 3. Band: Der Raum, 1969

„In unser Lebenserfahrung sind die Gefühle und das leibliche Befinden die Faktoren, die merklich dafür sorgen, das irgend etwas uns angeht oder nahegeht. Denken wir sie weg, so wäre alles in gleichmäßige, neutrale Objektivität abgerückt. Sogar der einzelne für sich selbst wäre dann nur ein Objekt unter Objekten. Er hätte keinen Anlaß mehr, die erste grammatische Person zu gebrauchen, um eine Nuance seines Lebens auszudrücken, hinter der jede Beschreibung in der dritten Person zurückbleibt. (Wie Lichtenberg meinte: ,Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt, es blitzt‘ (Georg Christoph Lichtenberg, Vermischte Schriften, Band I, S. 99). Damit wäre die Möglichkeit entfallen, sich selbst als etwas zu verstehen und dem Gedanken, daß ein Subjekt - z.B. ich und jeder Mensch - fühlt und will oder auch nur denkt und glaubt und zweifelt, Sinn und Gewißheit zu verleihen. Erst Gefühle und leibliche Regungen bringen Subjektivität in die Welt. (Vgl. § 148 meines Systems der Philosophie, Band III, 3: Der Gefühlsraum, 1969, S. 91-98.) Die Tradition sucht diese Sonderstellung zu würdigen, indem sie diesen Bestandteilen der Lebenserfahrung einen besonderen intimen Platz in der sogenannten Innenwelt des einzelnen zuweist, einer privaten, von der Umwelt abgesonderten, obwohl durch Intentionalität darauf bezogenen, oft merkwürdigerweise als unräumlich gedachten Sphäre names ,Geist‘, ,Seele‘ ,Gemüt‘ ,Bewußtsein‘ usw., worin jedermann ursprünglichen Reichtum oder Schätze, die er im Zug seiner Erfahrung eingesammelt hat, speichern kann. Ich habe umständlich und sorgfältig nachgewiesen, daß es so etwas gar nicht gibt, daß diese Annahme die Beschreibung von Phänomenen nicht fördert und ihr Aufstieg zu kanonischer Geltung im Lauf der nachhomerischen Geschichte auf bestimmte praktische Bedürfnise zurückgeht. (Vgl ebd. Band III, 3, S. 527-545, Band III, 2, Kapitel 1, Band II, 1, Kapitel 7.) Subjektivität ist nicht eine Eigenschaft von Subjekten, Eigenschaften oder Zuständen von Subjekten, sondern eine Eigenschaft von Tatsachen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das leibliche Befinden und die Gefühle, Vortrag, 1974, S. 1

„Ich will beschreiben, wie die Welt sich zeigt, wenn ihr zurückgegeben wird, was man fälschlich in die vermeintlich private Innenwelt einzelner Subjekte (Seele, Bewußtsein, Gemüt pp.) hineingesteckt hat.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mein System der Philosophie, 1977

„Mit Hilfe des Spürens am eigenen Leib (Leiblichkeit) und des Fühlens (Gefühle) und der durch die Neue Phänomenologie ermöglichten kategorialen Erschließung der so wahrgenommenen Gegenstände kann erstmals der jahrtausendealte Psychologismus überwunden werden. Die Eichung von Worten an Phänomenen schafft die Voraussetzung dafür, daß die Menschen in die Lage versetzt werden, über Erfahrungen zu sprechen, die ihnen wichtig werden, wenn sie nach durchdringender Enttäuschung des Lebens in Projektionen und Utopien Gelegenheit und Bedürfnis haben, ihren Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mein System der Philosophie, 1977

„Nach Platon ist das Lebewesen - Mensch oder Tier - yuch kai swma pagen, Seele und Körper zusammengefügt. .... Keine zwei Jahrzehnte ist es her, daß der Psychologe Albert Wellek warnte: „Durch die Rede von der ,Ganzheit der Person‘ droht das Leib-Seele-Problem verdunkelt zu werden. . . . Der Monismus ist Theorie, der Dualismus Erfahrung.“ (A. Wellek, Das Leib-Seele-Problem und die Ganzheit der Person, in: Seelenleben und Menschenbild - Festschrift zum 60. Geburtstag von Philipp Lersch, 1958, S. 25). Als Warnung vor ganzheitlichem Wunschdenken ist das mit Recht gesagt; andererseits genügt schon ein geringes Maß unbefangener Überlegung, um die dagegen aufgebotene Zerteilung des Menschen in einen körperlichen und einen seelischen Anteil nicht minder suspekt zu machen. Die leiblichen Regungen - um das einfachste und vielleicht wichtigste Gegenbeispiel zu wählen - passen nicht in dieses Verteilungsschema. Hunger, Durst, Schmerz, Kitzel, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit und vielerlei Benanntes oder noch Namenloses dieser Art aus dem Gegenstandsgebiet des Spürens am eigenen Leibe ohne Vermittlung durch Sehen, Hören oder Tasten ist unverkennbar auf eigentümliche Weise räumlich ausgedehnt und kann schon deshalb nicht der als raumlose Innenwelt gemeinten Seele zugerechnet werden; ebenso wenig darf es als Bestandteil des Körpers, als körperlich im herkömmlichen Sinn, gelten, da man sonst mittelbaren oder unmittelbaren Zugang durch Sehen und Tasten zu ihm verlangen müßte. Ich kenne nur einen Fall, in dem eine fremde leibliche Regung so unmittelbar geradezu wie Köprer oder Farben gesehen werden kann, nämlich als begegnender Blick. Die dualistische Tradition sucht sich die leiblichen Regungen als Organempfindungen zurechtzulegen; ,Organ‘ soll die körperliche, ,Empfindung‘ die seelische Hälfte sein, in die das schlichte Phänomen zerrissen wird. Es gibt keine Organempfindungen, wie ich gezeigt habe. (In meinem Buch: Der Leib, a.a.O., s. Register s. v. ,Organempfindung‘). Erst indem ich die leiblichen Regungen aus diesem Versteck am Rande der herkömmlichen Wissenschaftssystematik befreite, konnte es mir gelingen, das große und wichtige Gegenstandsgebiet des Spürens am eigenen Leib von der Wurzel her begrifflich-kategorial zu rekonstruieren und in seiner Bedeutung für das Menschsein zu bestimmen. Unräumlichkeit versagt also als Kriterium des Seelischen beim Versuch einer Aufgliederung des Menschen in Körper und Seele. Nicht besser steht es mit der Privatheit, die von denen, die jedem Menschen eine private Innenwelt im Gegensatz zur öffentlichen Außenwelt reservieren möchten, als Kennzeichen des Seelischen empfohlen wird. Einerseits ist zu fragen, warum Körper nicht als mindestens ebenso privat gelten sollen wie Gedanken und Gefühle; gibt es doch schlechterdings keine Möglichkeit, sich dessen zu vergewissern, daß ein Mensch z. B. Farben oder Formen ebenso sieht wie ein anderer. Andererseits können auch viele Menschen dieselben Gedanken und Gefühle haben; die Situation ist hier durchaus nicht prinzipiell anders als angesichts von Körpern oder in Bezug auf das spürbare Wetter oder Klima, das als räumlich ergossene, aber nicht lokal dem Menschen gegenübertretende Atmosphäre gleich anderen Atmosphären - etwa Morgen-, Abend-, Frühlings- und Gewitterstimmung, Atmosphäre kollektiver Aufgeregtheit, Verlegenheit, Albernheit, Niedergeschlagenheit usw. - gleichsam ein Niemandsland füllt, das in der herkömmlichen Scheidung des Körperlichen und Seelischen nicht vorgesehen ist, obwohl sich Menschsein in seinen wesentlichsten Zügen (z. B. in religiöser oder andersartiger Ergriffenheit) vornehmlich gerade in diesem Niemandsland abspielt. Ich habe die Innenwelthypothese, den Glauben an die Realität einer (z. B. seelischen) Innenwelt des einzelnen Menschen und die Introjektion der Gefühle, Gedanken usw. in sie einerseits prinzipiell widerlegt (in meinem Buch: Der Gefühlsraum [System der Philosophie, Bd. III, Teil 2, 1969], besonders Kap. 1: Bewußtsein und Subjektivität) und andererseits aus dieser Widerlegung fruchtbare Konsequenzen in detaillierter und vielseitiger phänomenologischer Analyse zu ziehen gesucht. (In allen meinen systematischen Publikationen, namentlich in allen bisher erschienenen Teilen meines Werkes: System der Philosophie; einen kurzen Abriß einiger wichtiger Ergebnisse, namentlich aus Bd. II und Bd. III, Teil 2, gebe ich in dem Aufsatz: Das leibliche Befinden und die Gefühle, in: Zschr. für Philos. Forsch., Bd. 28, 1974, S. 325-338.) Auf diese systematischen Ergebnisse und Probleme kann ich jetzt nicht eingehen: der Hinweis auf sie dient mir an dieser Stelle nur dazu, die Frage zu motivieren: Wie konnte es überhaupt geschehen, daß die Annahme einer seelischen Innenwelt des einzelnen Menschen und seiner Aufgliederung in die Hälften Körper und Seele sich mit solcher Macht durchsetzte und zu solcher Plausibilität verfestigte, daß das menschliche Selbstverständnis in Wissenschaft und Leben fast oder noch bis heute davon gegängelt worden ist?
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 221-223

„Es stellt sich heraus, daß die psychosomatische Anthropologie, die den Menschen als einen wie immer organisierten Komplex von Körper und Seele versteht, ihr für die gesamte Folgezeit maßgebliches Gepräge spätestens bei Platon erhalten hat. Die fruchtbare Phase der Prägung dieses Dogmas ist also die für das menschliche Selbstverständnis in den folgenden Jahrtausenden schlechthin entscheidende Entwicklung zwischen Homer und Platon .... Ich werde drei Motive für die Durchsetzung der Seelenvorstellung erörtern: das praktisch-pädagogische der Selbstermächtigung des Menschen als mündige Person gegen die unwillkürlichen Regungen; den Physiologismus der Wahrnehmungslehre; die Objektivierung der Außenwelt. Später hat es nur noch zwei geschichtsmächtige Versuche gegeben, die bei Demokrit und Platon gewonnene psychosomatische, an Introjektion und Innenweltglauben orientierte Prägung der Anthropologie rückgängig zu machen: einerseits den urchristlichen von Autoren wie Paulus, Johannes, Ignatius und Hermas, der sich am Platonismus rasch totgelaufen hat, und andererseits den aristotelisch-averroistischen Aufstand, der sich viel zäher und undeutlicher entwickelt und nach seinem Gipfel im hohen Mittelalter allmählich verebbt, bis in unser Jahrhundert Nachwellen schlagend. Ich werde auch diese beiden Krisen der psychosomatischen Anthropologie besprechen und anschließend darauf hinweisen, wie wenig Bewegendes und Grundsätzliches die Neuzeit - auch mit ihren kritizistischen, idealistischen und existenzphilosophischen Impulsen - bei der Weiterarbeit an dieser Prägung des menschlichen Selbstverständnisses hinzugebracht hat. Daß ich dieses für dringend revisionsbedürftig halte, und im welchem Sinn, habe ich inzwischen durch die Tat der Ausführung eines diesem Bedürfnis angemessenen Programms in umfangreichen Publikationen deutlich gemacht.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 223

„Bei Platon ist der Kampf zwischen tumos und yuch zu Gunsten der zweiten entschieden .... Unter folgenden Gesichtspunkten ist Platons ... Kennzeichnung des Nachdenkens revolutionär und prägend für die Folgezeit: 1. Die Person hat als Seele die Initiative der Überlegung. 2. Sie ist dabei, sich ansprechend, allein und ,Herr im Haus‘, ohne daß ein Regungsherd nach Art des homerischen tumos eine Rolle spielte. 3. Was sie denkt, ist ihrem eigenen Urteil unterworfen, denn im stummen Dialog ist ihr ja auch die antwortende Stellungnahme zum eigenen Zuspruch überlassen. 4. Der Sprecher und Adressat des Gesprächs ist zugleich der Raum, in dem sich dieses abspielt: die Seele als Innenwelt. Nirgends wird deutlicher als an dieser paradoxen Identifizierung, in der sich im Gefolge Platons die spätere Erkenntnistheorie bis hin zu Nicolai Hartmanns Buch Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921 erschienen; HB) verhaspelt hat, daß die Seele als Burg der sich gegen ihre Regungen ermächtigenden Person erfunden worden ist, um diese Regungen, die dem Menschen in der Ilias als überwältigende Eingebungen von den leiblich spürbaren Regungsherden oder den Göttern her begegnen, dem emanzipierten Subjekt so anzueignen, daß sie seine eigenen und damit seiner Botmäßigkeit unterworfen werden; zu diesem Zweck werden sie in die Seele als von der Außenwelt sich abspaltende Innenwelt eingefangen und durch Identifizierung dieser Innenwelt mit dem Subjekt diesem einverleibt, wobei der paradoxe Doppelsinn in Kauf genommen wird, daß die Seele einerseits als das Subjekt selbst gilt, andererseits als das Haus, in dem dieses Herr ist. Konsequente Entfaltung dieses Doppelsinns ist die Identifizierung der Seele mit dem Menschen und eines Teils der Seele (der steuernden Besonnenheit) mit dem Menschen im Menschen. Die geschichtsmächtige Prägung dieses Doppelsinns, der zur Wurzel des Humanismus als der Proklamation eines wahren oder eigentlichen Menschen im wirklichen geworden ist, geht gleichfalls auf Platon zurück (vgl. Politeia, 588c-589b). Ihr entspricht eine ebenso doppelsinnige Einordnung der personal zu beherrschenden unwillkürlichen Regungen: Einerseits versammelt Platon diese im Inneren der Seele, der steuernden Besonnenheit als dem Menschen im Menschen gegenüber, in den beiden inferioren Seelenteilen, den Rössern seines Phaidros-Gleichnisses, und andererseits schiebt er sie mit eifernder Abwertung dem Körper als dessen Begierden zu, während er die Seele gegen den Körper als den eigentlichen Menschen, der durch die Gemeinschaft mit jenem geschändet wurde, ausspielt. Für Homer ist, wie das Prooemium der Ilias zeigt, der Mensch sein Körper; Sophokles beginnt ihn mit der Seele zu identifizieren, und Platon stellte diese neue Ortung des Menschen kraß heraus. Damit ist die psychosomatische Anthropologie vollendet, für die schon Sophokles eine schwungvolle, fast an Schiller gemahnende Devise in der isoliert überlieferten Verszeile findet: ,Ist auch der Körper Sklave, bleibt der Geist doch frei‘ (Fragment, 940).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 225-227

„Der Innenweltglaube und die psychosomatische Anthropologie bieten dem Menschen Gelegenheit, ... Regungen sich zu unterstellen, statt sie als eigenständige Mächte - Winden gleich, so wie Sappho und Ibykos den Eros erfahren - sich begegnen zu lassen. Die Umdeutung der Gefühle durch Reduktion auf Lust und Leid dient diesem Ziel, aber das alte Selbstverständnis, das bei Euripides mit dem bei Platon siegreichen neuen kämpft, war damals noch so mächtig, daß diese Chance nicht gleich unverkürzt wahrgenommen werden konnte: Im frühen Sokratismus und in der mittleren Komödie, also etwa bis zur Zeit der platonischen Spätdialoge, gibt es eine Phase, in der die Lust hauptsächlich als andrängende und ergreifende Macht, die den Menschen zu besiegen droht, verstanden wird, nicht viel anders als Eros bei den alten Lyrikern und den großen Tragikern. Damals triumphierte das Ringen um Selbstermächtigung gegen diese unwillkürliche Regung Lust in der Devise des vermeintlichen Hedonikers Aristipp: ,Ich habe, aber ich werde nicht gehabt‘. Dieses Streben ist nach Ausweis der überlieferten Zeugnisse in erster Linie dafür verantwortlich, daß der europäische Mensch sich in der fruchtbarsten und plastischsten, die Folgezeit beherrschenden Phase seines Selbstverständnisses - in Griechenland zwischen Homer und Platon - eine Innenwelt und eine Seele zugelegt hat. Die philosophische und populärphilosophische Theorie wurde dabei von einem Impuls gesteuert, der weit über alle gedanklichen Konstruktionen hinaus für die Selbstbehauptung des einzelnen Menschen und der Menschheit praktisch wichtig war und deshalb in die Folgezeit - z. B. in Kants Moralphilosophie - weit und mächtig auszustrahlen vermochte, bis der Augenblick kam, in dem der gebildete Mensch endlich formal vernünftig und emanzipiert, eben deshalb - welch grausame Ironie! - aber inhaltlich ratlos geworden war (dazu mein Buch: Der Rechtsraum [System der Philosophie, Bd. III, Teil 3, 1973], S. 681 f.); das ist etwa der Standpunkt unserer Zeit, in der mir daher eine erneute Umwälzung des menschlichen Selbstverständnisses auch von vortheoretischen Bedürfnissen her geboten zu sein scheint. Mächtigen Auftrieb gewannen psychosomatische Anthropologie und Innenweltdogma zur Zeit ihrer Entstehung im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert darüber hinaus aber aus einem theoretischen Mißverständnis über die Wahrnehmung, dem Physiologismus ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 228

„Die Bedeutung der physiologistischen Verkürzung des Spektrums der Gegenstände natürlicher Wahrnehmung für die Verfestigung der psychosomatischen Anthropologie läßt sich leicht an den Gefühlen zeigen. Der Physiologismus gestattet nicht mehr, von diesen zu sagen, sie würden wahrgenommen, wie die Liebe von Empedokles oder Eros, von dem Ibykos sagt, jener habe ihn mit schmelzenden Augen unter dunklen Lidern angeblickt. Dieses Wegdeuten der Wahrnehmbarkeit von Gefühlen kommt der Introjektion zugute: Das Gefühl kann nicht mehr mit der Wahrnehmung einströmen, sondern wird in der Seele angesiedelt, als privater Bestandteil einer persönlichen Innenwelt, und sei es auch der heilige Geist des pfingstlichen Enthusiasmus christlicher Liebe und Freude (dazu mein Buch: Das Göttliche und der Raum [System der Philosophie, Bd. III, Teil 4, 1977], S. 25-33). Nicht weniger kommt die Verdrängung der Sachverhalte aus dem Bereich des Wahrnehmbaren, allenfalls mit dürftigen Resten an dessen Rand, der Tendenz zugute, die Seele dem Körper gegenüber zu ermächtigen. Auf Sachverhalte kann bei Beschreibung der Welt und des Verhaltens zu ihr nämlich nicht verzichtet werden; Regentropfen z. B. hätten für uns keine oder eine ganz andere Bedeutung, wenn wir nicht merken könnten, daß es regnet. Die Wahrnehmung darf solche Sachverhalte laut physiologistischem Dogma nicht mehr geradezu präsentieren; daher wird die Seele dazu berufen, als Geist oder Verstand die fehlenden Sachverhalte in der subjektivierten Form von Urteilen nachzuliefern und in den rohen Stoff der Wahrnehmung hineinzulegen. Gleich nachdem Platon im Theätet durch Deutung der Augen, Ohren usw. als Sinnesorgane, d. h. Werkzeuge der Wahrnehmung von Qualitäten wie Weiß, Schwarz usw., den Physiologismus endgültig etabliert hat, begründet er den Rationalismus, indem er die Sachverhalte, daß etwas ist, was es ist und wie es sich zu etwas verhält, aus der Wahrnehmung verweist und der Einsicht des Verstandes oder Urteilsvermögens überträgt. Im aristotelisch-scholastischen Lehrgebäude übernimmt der intellectus componens et dividens diese Aufgabe. Schließlich bringt Kant den abenteuerlichen Gedanken vor, erst der Verstand trage durch eine Synthesis an Hand von Urteilsformen Verbindung in die sonst chaotische Wahrnehmung hinein. Durch die physiologistisch von körperlichen Sinnesorganen her verstandene Wahrnehmung ist die Seele nach dieser Denkart dem Körper verbunden, während sie als urteilende, Sachverhalte zur Wahrnehmung hinzubringend, sich über den Körper erhebt und so einen eigenen, unerläßlichen Beitrag zum Weltbild leistet. Auf diese Weise hat der Physiologismus durch seinen Sprößling, den Rationalismus, der Verfestigung des psychosomatischen Dualismus nachhaltig Vorschub geleistet.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 230-231

„Die Gefühle werden in private Seelenzustände umgedeutet. Atmosphären anderer Art, wie das Klima und die klimatisch-optischen Atmosphären, werden heimatlos. Sie scheinen zu sehr an den Körpern zu haften, um die Übersetzung in Seelenzustände zu vertragen, und sind nicht körperlich genug, um im Zeichen des Physiologismus als Gegenstände der Wahrnehmung anerkannt zu werden. Die Folge ist, daß eine der wichtigsten alltäglichen Wahrnehmungen, die klimatische, von der Wahrnehmungslehre bis in unsere Zeit nicht prägnanter Typ abgehoben worden ist. Der Physiologismus benötigt als Gegenstände der Wahrnehmung Körper, die den körperlichen Sinnesorganen entsprechen. Er begünstigt das sonst keineswegs selbstverständliche Körpermodell bei der Vorstellung von Gegenständen überhaupt. Im 5. Jahrhundert v. Chr., als er sich durchsetzte, gewann dieses Modell noch zusätzliche erkenntnistheoretische Bedeutung. Der eleatische Zweifel am wahren Sein der wahrnehmbaren, veränderlichen Gegenstände traf sich damals mit der wiederauflebenden archaischen Skepsis gegen die Leistungsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis. Empedokles suchte diesen Bedenken mit dynamischen Invarianten des Weltlaufs (Liebe und Groll) zu begegnen. Demokrit hatte den genialen Gedanken, zu diesem Zweck vielmehr das vom Physiologismus empfohlene Körpermodell aufzubieten, das sich der Skepsis entgegenhalten läßt, weil sich feste Körper mit den Eigenschaften, die sich im zentralen Gesichtsfeld zählen lassen, beharrlich und intersubjektiv unzweideutig zu präsentieren pflegen. Wenn jemand feste Körper im zentralen Gesichtsfeld zählt oder mißt - auch das Messen ist ein Zählen - und dann er selbst oder ein anderer die Operation wiederholt, pflegt das Ergebnis nicht so zu schwanken, wie das Urteil über Farben oder gar über atmosphärische Stimmungen, es sei denn, daß Veränderungen gewisser bekannter Typen mit deutlich erkennbaren Ursachen eingetreten sind; diese lassen sich dann aber gedanklich beherrschen und vom Ergebnis abziehen. Nur was diesem Standardmodell rigoroser Vergegenständlichung mit Hilfe des Zählens fester Körper im zentralen Gesichtsfeld sich fügt, läßt Demokrit als objektive Außenwelt gelten; alles andere, namentlich die sogenannten sekundären Sinnesqualitäten, wandert als ,bloß subjektive‘ Abfall in die vom menschlichen Selbstermächtigungsstreben bereitgestellte Seele, die damit zum Sammelbecken des Scheinhaften, des nicht ganz ernst und nicht als wirklich zu Nehmenden, herabsinkt. Noch für Kant ist ,objektive Realität‘ fast synonym mit „empirischer Wirklichkeit“. Die Disziplinierung der Person durch das Bedürfnis nach Ermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen hat die Seele als Innenwelt geschaffen und dem Körper entgegengesetzt; die Disziplinierung der Außenwelt durch rigorose Objektivierung füllt diese Seele mit dem dabei abfallenden Material, das sich so schroffem Anspruch nicht fügt, wie mit dem weichen Nebel des schwankenden Subjektiven im Gegensatz zur Härte objektiver, auf intersubjektiv übereinstimmende Ergebnisse des Zählens und Messens gegründeter Tatsachen. Erst die Neuzeit, in gleichem Maß auf den Schultern Platons und Demokrits sich erhebend, hat mit ihrer Naturwissenschaft und Technik aus dieser doppelten Disziplinierung alle Konsequenzen gezogen. Der moderne Ingenieur, der mit nüchterner Selbstdisziplin alles Begegnende auf das Zähl- und Meßbare reduziert, schließt so den Bogen zwischen diesen beiden Säulen der psychosomatischen Anthropologie: der Selbstermächtigung der Person und der Objektivierung der Außenwelt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 231-232

„Empedokles hat ein Reinigungsgedicht geschrieben, das als Seelenwanderungslehre mißverstanden wird, doch ist in seinen wörtlichen Fragmenten von einer Seele nicht die Rede, und ich glaube nicht, daß er als Vertreter der psychosomatischen Anthropologie in Anspruch genommen werden darf. Der Mensch, wie er ihn sieht, ist vielmehr leibliches Resonanzzentrum für räumlich ausgedehnte, mächtig auf ihn und aufeinander wirkende Atmosphären, die ihn umhüllen und durchdringen, in erster Linie für den trennenden Groll und die zusammenführende Liebe, von der Empedokles sagt, daß sie, für waches Bemerken gleich lang wie breit zu sehen, unter den Namen der Freude und der Aphrodite als den sterblichen Gliedern eingepflanzt in Geltung stehe und das sei, worin die Wesen zu einander streben, wie andererseits im Groll aus einander. Im kosmogonischen Prozeß verdrängt die Liebe nach Empedokles den Groll und erfüllt den Raum, in dem sich dann unter ihrem Einfluß die Geschöpfe bilden und mischen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 233

„Im 1. Johannesbrief heißt es: ,Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm‘. Auch diese Liebe ist also einerseits eine umgreifende Atmosphäre und andererseits etwas, das die Betroffenen in sich spüren, wovon sie durchdrungen werden. Wie nach dem 1. Johannesbrief jeder Liebende aus Gott (der Liebe) geworden ist, bilden sich nach Empedokles erst aus der siegreichen Liebe die sterblichen Geschöpfe. Ähnlich, wie bei Johannes Gott in seinem Wesen als Liebe, werden im paulinischen oder pseudopaulinisdien Kolosserbrief die Leidenschaften als ausgedehnte Atmosphären verstanden: Begierde, Habsucht, Zorn und das Pathos schlechthin sind nach den Worten des Verfassers etwas, worin die Christen vor ihrer Bekehrung herumgingen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 233

„Paulus kennt keine Seele, und auch nicht die Tendenz menschlicher Selbstermächtigung, die die Seele zustande gebracht hat. Er sagt im Römerbrief: ,Wenn ich tue, was ich nicht will, dann tue nicht ich das, sondern die Sünde, die in mir wohnt‘. .... Für sich hat der paulinische Mensch bloß seinen Leib, seine Glieder, aber dieser Leib ist nicht der Körper, den der psychosomatische Dualismus der Seele, der Innenwelt und damit der Person selbst entgegensetzt, sondern Herd und Sitz der Regungen, die Tun und Leiden des Menschen bestimmen. In erster Linie ist er für Paulus der Schauplatz des Kampfes zwischen Geist und Fleisch. Diese beiden überpersönlichen atmosphärischen Mächte nach Paulus gleichen dem Paar Liebe-Groll des Empedokles.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 234

„Im Zeichen der psychosomatischen Anthropologie wäre kaum der eigene Leib des Menschen, sondern eher die vermeintliche seelische Innenwelt dazu ausersehen worden, den göttlichen Geist zu empfangen; dessen Tempel ist für Paulus aber jener, nicht diese.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 234-235

„In der Geschichte der abendländischen Philosophie, soweit sie mit Leib und Seele befaßt ist, bleibt die urchristliche Episode jedenfalls dadurch denkwürdig, daß hier einmal so radikal wie sonst nie mehr bis auf unsere Zeit versucht worden ist, das Rad zurückzudrehen, hinter die Innenwelthypothese und den psychosomatischen Dualismus, und dabei auch zwei vorhin analysierte Hauptmotive dieser Prägung des menschlichen Selbstverständnisses außer Kraft zu setzen, nämlich die Ermächtigung der Person gegen ihre unwillkürlichen Regungen und die Objektivierung der Außenwelt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 235

„Parmenides lebt und denkt vor der Introjektion und versteht menschliche Überzeugung daher nicht als persönlichen Vollzug, sondern als Besessenheit von Mächten, denen der Mensch folgt und die ihn steuern, namentlich von der ihrerseits der Wahrheit folgenden Überzeugung (Fragment 2 Z. 4 nach Diels-Kranz) oder von Ratlosigkeit (Fragment 6 Z. 5 nach Diels-Kranz). Diese frühe Erkenntnisanthropologie ist zunächst ohne Wirkung untergegangen. Sie taucht aber in verwandelter Gestalt bei Aristoteles wieder auf, als dieser als Erster in seiner Seelenlehre gegen den platonischen, psychosomatischen Dualismus rebelliert.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 236

„Die dramatische Geschichte des Averroismus, der dem Christentum im hohen Mittelalter als tödliche Bedrohung entgegentrat und durch das große Pariser Anathema von 1277 nur unzulänglich ausgerottet wurde, dann in Padua weiterblühte, erneut die kirchliche Reaktion und 1513 das Verdammungsurteil Leos X. in der 8. Sitzung des 5. Laterankonzils auf sich zog, ist so bekannt, daß ich darauf nicht näher einzugehen brauche. Bonaventura, einer der schärfsten Rufer im Streit, faßt seine Vorwürfe gegen den Averroismus so zusammen, daß man in ihrem Mittelpunkt die Sorge um die Verantwortlichkeit des Menschen erkennt, also auch um die Ermächtigung der Person ihren unwillkürlichen Regungen gegenüber, die nach meiner Feststellung die wichtigste Quelle des psychosomatischen Dualismus gewesen ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 238

„In unserem Jahrhundert hat der Averroismus eine unerwartbare, vermutlich dem Autor selbst nicht bewußte Wiedergeburt in der Metaphysik von Ludwig Klages erhalten, der die Seele mit einer an die aristotelische Seelendefinition erinnernden Wendung als den Sinn des Leibes ausgibt und den transzendenten, einzigen Geist von außen einbrechen läßt, nun aber nicht mehr als höchste Vollendung und Beglückung, sondern als böse, katastrophale Lebensstörung. Klages verteidigt das unwillkürlich strömende, schauend empfängliche Leben gegen die Willkür geistigen Tuns; abermals tritt in seinem Werk also der Averroismus in Gegensatz zu der seit Jahrtausenden in der abendländischen Philosophie herrschenden Strömung, die die Ermächtigung des Menschen gegen seine unwillkürlichen Regungen verlangt und dafür auch den psychosomatischen Dualismus in Kauf zu nehmen bereit ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 239

„Zum Erben der Seele wird nun das Bewußtsein; schon in Hegels Phänomenologie des Geistes tritt es wie eine selbständige Person auf, macht Erfahrungen usw.. Husserl geht so weit, für das von ihm konstruierte reine oder transzendentale Bewußtsein die Descartes’sche Definition der Seelensubstanz expressis verbis wieder in Anspruch zu nehmen. (Vgl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, § 49). Dagegen gewöhnen sich die Psychologen des 19. Jahrhunderts daran, vom Bewußtsein zu reden, als seien sie dabei im Reich gesitteter Empirie, frei von allen Schlacken des ausgebrannten Feuers der Metaphysik. Sie ahnen nicht, daß sie auf diese Weise die metaphysische und höchste problematische, sogar theoretisch unhaltbare Innenwelthypothese weiterschleppen, und sorgen sich statt dessen höchstens um die Realität der Außenwelt. Erst um 1900, im Zeichen des von Avenarius und Mach eingeleiteten Empiriokritizismus, tritt diese metaphysische Hypothese ins Licht möglicher Bedenklichkeit; 1912 veröffentlicht William James, der vorher vom Bewußtseinsstrom gefabelt hatte, eine Art Palinodie in seinem kritischen Essay: Does consciousness exist? Ich habe die Innenwelthypothese und die Introjektion nicht nur widerlegt, sondern aus dieser Widerlegung auch produktive Folgerungen gezogen, indem ich in detaillierten phänomenologischen Analysen gezeigt habe, wie sich die Züge der Welt und der menschlichen Natur in weiten Gebieten verändern, wenn die alten Vorurteile fallen gelassen werden. Vielleicht beginnt damit ein drittes Zeitalter menschlichen Selbstverständnisses, nach dem vorplatonischen und dem zweiten, das mit den besprochenen Ausnahmen von Platon bis zur Gegenwart reicht.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch, 1978, S. 240-241

„Kommunikation ist in unserer Zeit ein Modewort bis an den Rand des Erträglichen. Darin ... verrät sich eine Überschätzung der ... Einstellung der Menschen aufeinander. .... Menschen sind aber wichtig als Medien der Darbietung von etwas, das an un mit ihnen geschieht, dem sie dienen oder sich widersetzen können, nicht dadurch, daß sie sich wichtig nehmen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, System der Philosophie, 1964-1980, 3. Band: Die Aufhebung der Gegenwart, 1980

„Philosophie ist: Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990

„Wenn ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen oder tierischen Körper, den man besichtigen oder betasten kann, sondern an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein ‚Sinnesorgan‘ wie Auge oder Hand zu verfügen ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990, S. 115

„Die Physiologie ist eine wunderbare Sache, nur der Physiologismus ist mit einigen Fragezeichen zu versehen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Es ist eigentlich immer nur der Versuch, halbgebildet aus den naturwissenschaftlichen Ergebnissen Dogmen zu machen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Die Wohltaten der modernen Technik, die Wohltaten der modernen Naturwissenschaft sind ganz gewaltig und den Leuten,... die uns das erfunden haben, ist nichts anderes vorzuwerfen, als daß sie gar zu naiv und gutgläubig hinter den Philosophen hergelaufen sind, hinter den großen Philosophen, die ihrerseits die Aufgabe meines Erachtens nicht adäquat bewältigt haben.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Freges Zahlbegriff. Sitz der Zahl im Leben ist das Zählen, Frege erkannte, daß das Zählen seinem abstrakten Typ nach ein umkehrbar eindeutiges Abbilden ist, Zuordnung einer Menge zu einer Menge - es kann auch dieselbe sein -, so daß jedem Element der Ausgangsmenge genau ein solches der Zielmenge entspricht, also etwa von Münzen und Zahlworten oder dergleichen. Frege also erkannte, daß das Zählen seinem abstrakten Typ nach ein umkehrbar eindeutiges Abbilden ist, und er konstruierte über der Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung zwischen Mengen seinen Zahlbegriff.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Das Neue an der Neuen Phänomenologie beruht auf dem Durchbruch durch die Abstraktionsbasis der traditionellen europäischen Intellektualkultur. Der Reduktionismus, die Introjektion und das Innenweltdogma werden überwunden. Dadurch verliert die Subjektivität ihren traditionellen Platz: die Seele. Sie kann nicht mehr damit abgefunden werden, daß ein Stück der objektiven Welt einem Inhaber, dem Subjekt, als das Haus, in dem er Herr sein soll, und zugleich der Reduktion als Abfallgrube für das reduktionistisch Weggeschnittene reserviert wird. Vielmehr muß die Subjektivität, wodurch es zum Beispiel dazu kommt, daß gerade ich es bin, der ein gewisses Ding, Hermann Schmitz, ist, neu bestimmt werden, und zwar nicht als Eigenschaft von Subjekten, zum Beispiel von mir, sondern als Eigenart des Milieus der für jemanden subjektiven Sachverhalte, Programme und Probleme. Subjektiv sind Sachverhalte, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann, während die anderen wohl darüber sprechen, sie aber nicht aussagen können. Diese kommen zu den Objektiven, die jeder bei genügend Kenntnis und Sprachfähigkeit aussagen kann, nicht etwa ergänzend hinzu, sondern die Welt der objektiven Tatsachen ist selbst der Abfall einer Reduktion, nämlich der Abfall der Abschälung von Subjektivität, wodurch entsprechend wie die Sachverhalte und Tatsachen auch subjektive Programme und Probleme wie Wünsche und Sorgen zu ihren bloß noch objektiven Gegenstücken werden. Subjekte gibt es nur dank subjektiver Tatsachen. Keineswegs aber setzt die Subjektivität für jemanden schon diesen Jemand als Subjekt voraus. Vielmehr ist an der Wurzel, nämlich im affektiven Betroffensein die Subjektivität für mich so beschaffen, daß das Wort mich weniger als Pronomen zu verstehen ist, sondern eher als Adverb wie hier und jetzt, nicht einen Gegenstand benennend, sondern ein Milieu charakterisierend, so wie ja auch mit dem Wort hier nicht auf einen Gegenstand - das Hier - Bezug genomnmen wird, sondern auf das, was hier ist, nämlich im Milieu der nächsten Nähe. Die Subjektivität nun kommt nicht zur Welt hinzu, sondern sie entspringt mit ihr, mit der Welt, aus derselben Quelle, in die der erwachsene und besonnene Mensch eintaucht, wenn er die Fassung verliert, zum Beispiel im elementar leiblichen Betroffensein, ganz banal auch schon oder fast schon im Lachen und im Weinen. Ich bezeichne diese Quelle als die primitive Gegenwart. In ihr sinken die fünf Hauptdimensionen menschlicher Orientierung in der Welt - 1. Absoluter Ort gegen Weite; 2. Absoluter Augenblick gegen Dauer; 3. Sein gegen Nichtsein; 4. Dieses gegen chaotische Mannigfaltigkeit; 5. Ich gegen das Fremde -, in ihr, in der primitiven Gegenwart, sinken die fünf Hauptdimensionen dadurch zusammen, daß Hier, Jetzt, Sein, Dieses, Ich mit engem Horizont verschmelzen, bis sich dieser Ursprung wieder nach den fünf Richtungen entfaltet. Bloß durch solche Entfaltung wird das Dieses, die Form der Identität und Verschiedenheit, frei zu beliebiger Projektion in den Weltstoff, der erst dadurch zur Welt wird. Die Welt ist der Horizont des freien Dieses. Für den Weltstoff läßt sich phänomenologisch keine Erzeugung ermitteln, aber die Welt als Form, als Horizont des freien Dieses entspringt zusammen mit der Subjektwerdung, der Subjektivität aus der Entfaltung der Gegenwart, die nach einer Seite durch Emanzipation des Dieses die freie Verteilung von Identität und Verschiedenheit an den chaotisch mannigfaltigen Weltstoff ermöglicht und zugleich nach einer anderen Seite durch personale Emanzipation die Bildung der persönlichen Situation eines Subjektes einleitet. So hängen Subjekt und Welt von vornherein zusammen, ohne einen Brückenschlag durch die Intentionalität eines Erkennens, Strebens und Handelns oder eines dagegen auf das Subjekt gerichteten Einwirkens oder sonstigen Widerstandes zu benötigen. Zuvor gibt es allerdings schon ein Leben in primitiver Gegenwart, wie es dank leiblicher Kommunikation die Tiere nuancenreich führen und oft auch die Menschen, zum Beispiel als kleine Kinder, aber noch ohne Welt, mit beliebig fortsetzbarer Durchgliederung der Zukunft, der Vergangenheit und der Weite des Raumes, ohne Freiheit des Dieses vom Sein, wodurch gar erst durch diese Freiheit erst Phantasie, Zwecke, Wünsche, Sorgen und ein Verhältnis zum Tode möglich werden, und ohne Explikation einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme aus Situationen, worin nämlich, in dieser Explikation nämlich, der Überschuß der Leistung menschlicher Rede über die tierische besteht, die nur Situationen ansprechen, aber nicht explizieren kann. Erst mit diesen Klärungen nun ist der Standpunkt der Neuen Phänomenologie so präzisiert, daß die prinzipiellen Mängel der älteren Phänomenologie bei deren Hauptvertretern übersichtlich werden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Husserl ist ein Klassiker des Innenweltdogmas und der Introjektion. Er ahnt nichts von Subjektivität, geschweige denn etwas von deren Verwurzelung in primitiver Gegenwart und der daraus resultierenden ursprünglichen, jede Konstitution durch ein Subjekt unterlaufenden Zusammengehörigkeit von Subjekt und Welt. Keine der vier Verdrängungen mit den Titeln Leib, Gefühl, Situation und Gegenstandsbereich der Wahrnehmung, woran ich den Bedarf einer Korrektur unserer kulturspezifischen Abstraktionsbasis durch die Phänomenologie verdeutlicht habe, wird von Husserl auch nur ansatzweise behoben. - Bei Scheler ändert sich daran nicht viel. Sein Persongedanke ist ganz hohl. Sein angebliches Leibphänomen ist ein unsicherer Kompromiß monistischer und dualistischer Motive. Nur durch zwei eher beiläufige Lehrstücke arbeitet er der Neuen Phänomenologie zu: durch seinen Begriff des Milieus, eines Vorläufers des Situationsbegriffs, und durch seine Unterscheidung zwischen vitalen und sinnlichen Gefühlen, an deren Stelle ich den Unterschied zwischen ganzheitlichen und teilheitlichen leiblichen Regungen setze. - Heidegger dringt weiter vor. Sein Weltbegriff trifft zwar nicht das, was ich eben die Welt als Singularetantum genannt habe - die Welt, die nicht mehrere Welten sein kann, sondern der Horizont des freien Dieses ist -, aber dieser Weltbegriff Heideggers kommt meinem Situationsbegriff in manchen Zügen nah, wie seine Jemeinigkeit der Subjektivität in meinem Sinn. Die Polemik gegen die traditionelle Erkenntnistheorie im Zeichen des In-der-Welt-Seins ist ein Durchbruch durch das Innenweltdogma. Der Motivkomplex der Geworfenheit und Befindlichkeit spielt zwar noch undeutlich und gärend, aber doch merklich auf Gefühle als Atmosphären, affektives Betroffensein und primitive Gegenwart an. Gerade bei diesem Thema hat aber Heideggers frühe, fast allein in seinem ganzen Werk phänomenologisch fruchtbare Konzeption - denn das spätere ist so nicht mehr fruchtbar - ihre Archillisverse, während andere Mängel eher heilbar sind. Heidegger weiß nichts und will nichts wissen von Leiblichkeit, primitiver Gegenwart, elementar leiblichen Betroffenseins, leiblicher Kommunikation. Heideggers Mensch mit Jemeinigkeit, das sogenannte Dasein, ist gleich erwachsen und bleibt es, ob er nun zum Tode vorläuft, oder die Angst - und das ist bei Heidegger ein hochstufiges, personale Emanzipation voraussetzendes Entfremdungserlebnis -, diese Angst verdrängt. Seine Seinsweise ist die Subjektivität oder Jemeinigkeit in entfalteter Gegenwart. Daher fehlt bei Heidegger jedes Verständnis für den Menschen als Tier, zum Beispiel im Schreck, dessen Möglichkeit das Leiblichsein und damit das Menschsein von Grund aus bedingt. Mit dieser Verdrängung der elementaren Leiblichkeit verharrt Heidegger im Bann der diese Leiblichkeit spätestens seit Platon degradierenden europäischen Intellektualkultur und versperrt sich den Zugang zu den Grundlagen des In-der-Welt-Seins. - Die französischen Phänomenologen bleiben Dualisten wie Sartre, der Situationen in meinem Sinn nur dem Namen nach kennt, oder sie geraten wie Merleau-Ponty durch die sehnsüchtige Hoffnung, mit den Mitteln der Phänomenologie den kartesischen Dualismus loszuwerden, in eine verschwommene Zwischenstellung begrifflich ungeklärter Ambiguität.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Die Phänomenologie aller dieser Denker (der älteren Phänomenologie; HB) verharrt noch im Bann der Tradition und wird daher nicht frei für die Fruchtbarkeit, die den Ring bloß philosophischer Reflexion und Spekulation aufbrechen könnte. Dazu aber ist nun die Neue Phänomenologie berufen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Der Begriff Horizont des freien Dieses meint ja nur: die Welt ist die universale Erlaubnis an alles, daß es dieses oder jenes sein darf, ein Einzelnes sein darf.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Etwas anderes ist selbstverständlich das Zugehören eines Horizontes, den man auch Welt nennen kann, den zum Beispiel Heideger so nennt. Man hat ja gerade in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts eine Inflation des Weltbegriffs, zum Teil auf biologischer Grundlage bei Uexküll ... und eben auch in dem alten Sinn, wie es ja schon bei Goethe heißt .... Hier haben wir selbstverständlich mit der persönlichen Situation eine persönliche Welt. ... Das ist ein Begriff, den ich selbst so eingeführt und verwendet und differenziert habe: die persönliche Welt. Da hat jeder seine persönliche Welt. Nur ist das ein anderer Begriff von Welt. Den finden Sie zum Beispiel bei Heidegger .... Selbstverständlich gibt es so etwas. Aber es ist eine Äquivokation, wenn man beides Welt nennt - das kann man machen, ich tue es auch, aber dann sollte man in einem Fall einen Zusatz machen, etwa persönliche Welt oder meinetwegen Welt eines Volkes .... Das sind Situationen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Der Mund ist ein Leib im kleinen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wege zu einer volleren Realität, Tagung, 1993

„Die Neue Phänomenologie widmet sich der Aufgabe, die Abstraktionsbasis der Theorie- und Bewertungsbildung tiefer in die unwillkürliche Lebenserfahrung hineinzulegen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 11

„Unter der Abstraktionsbasis einer Kultur verstehe ich die zäh prägende Schicht vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, die zwischen der unwillkürlichen Lebenserfahrung einerseits, den Begriffen, Theorien und Bewertungen andererseits den Filter bildet. Die Abstraktionsbasis entscheidet darüber, was so wichtig genommen wird, daß es durch Worte und Begriffe Eingang in Theorien und Bewertungen findet. Deshalb sind gegensätzliche Theorien und Bewertungen auf derselben Abstraktionsbasis möglich.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 11

„Die Abstraktionsbasis einer Kultur wird teilweise durch die Suggestionskraft sprachlicher Strukturen, zum anderen Teil durch epochale geschichtliche Prägungen bestimmt. Wir stecken gleichsam in einem Urwald geschichtlicher Vorprägungen, der nicht durch den bloßen Entschluß zur Unbefangenheit in freies Feld verwandelt werden kann. Vielmehr muß man sich durch den Urwald durchschlagen, um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu durchschauen und in hinglänglichem Maß Herr der eigenen Voraussetzungen zu werden. Deswegen ist Phänomenologie nur im Zusammenhang mit kritisch-historischer Einstellung sinnvoll. Diese muß für die Zwecke der Neuen Phänomenologie hauptsächlich den für die Prägung der dominanten europäischen Intellektualkultur entscheidenden Paradigemnwechsel bei den Griechen der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ins Auge fassen. Die meisten Versuche, sich durch das Labyrinth der Verkünstelungen des Denkens und Wollens historisch zurückzutasten, berchen viel früher ab, nämlich bei den großen Barockphilosophen des 17. Jahrhunderts wie Francis Bacon, Hobbes, Galilei, Descartes und Leibniz. Diese Denker haben keine neue Abstarktionsbasis gelegt, sondern auf der ererbten weitergebaut, um durch Formulierungen des Prinzips und der Methode der Weltbemächtigung das in der längst etablierten Perspektive schlummernde Potential zu derr folgenden Explosion des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts zu befreien. Indem an sich davon mitreißen ließ, ist die Verkünstellung inzwischen so weit gediehen, daß das Denken den Spezialisten der Comutermanipulation und das Zeugnis vom Sich-Befinden und Zumutesein der Menschen dem nahezu ausgestorbenen Volk der Dichter überlassen werden muß.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 11-12

„In der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, kurz vor Platon und Aristoteles, ereignet sich im europäischen, d.h. hier griechischen, Denken ein Bruch, durch den sich an die Stelle eines archaischen Paradigmas für das menschliche Welt- und Selbstverständnis ein neues Paradigma setzt, das seither die dominante europäische Intellektualkultur bestimmt. Das alte Paradigma bezeichne ich als archaischen Dynamismus. Seine Abstraktionsbasis besteht in vielsagenden Eindrücken, die typisiert und in einem polarisierten Schema von Kräften mit leiblich gespürter Grundlage geordnet werden. In Griechenland handelt es sich dabei namentlich um das Gegensatzpaar des flink Beweglichen, Flammenhaften auf der einen und des Schwerfälligen, Sperrigen auf der anderen Seite, z.B. bei Parmenides, Empedokles und alten Pythagoreern ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 12-13

„Das menschliche Erleben ist im archaischen Paradigma weder zentralisiert noch abgegrenzt; die Person, die »ich« sagt, steht ohne Hausmacht in einem Konzert von Regungsherden - unserem Gewissen, das Stimme und Biß hat, ungefähr vergleichbar -, die meist leiblich lokalisiert sind, und ist dem Einbruch ergreifender Mächte - Erregungen wie Eros und Wut oder Göttern - ausgesetzt. Allerdings setzt schon im Herrschaftsbereich des archaischen Paradigmas eine energische und konsequente Entwicklung ein, die zur Abgrenzung und Zentralisierung des Erlebens drängt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 13

„Das neue Paradigma, das in reiner Form zuerst bei Demokrit hervortritt, ist durch Psychologismus, Reduktionismus und Introjektion im Zeichen des Innenweltdogmas charakterisiert.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 13-14

„Das Innenweltdogma kann so formuliert werden: Für jeden Bewußthaber zerfällt die Welt in seine Außenwelt und seine Innenwelt mit der Maßgabe, daß ihm ein Gegenstand seiner Außenwelt höchstens dann zu Bewußtsein kommt, wenn dieser Gegenstand in seiner Innenwelt mindestens einen Vertreter hat. “
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 14

„Der Psychologismus besteht in der Einquartierung des gesamten Erlebens eines Menschen in seine Innenwelt wie in ein Haus mit Mauern und Stockwerken, worin er als Vernunft Herr sein kann; dieses Haus führt jahrtausendelang den Namen »Seele« (»Psyche«; HB) und dient der Abgrenzung und Zentralisierung des Erlebens im Interesse des Verfügenkönnens über die eigenen unwillkürlichen Regungen. Diesem Vorteil steht ein als Nachteil dem Psychologismus anhängendes Problem gegenüber: Wie kommt man aus der eigenen Innenwelt wieder heraus, z.B. zum verläßlichen Erkennen?“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 14

„Der Reduktionismus besteht in der Abschleifung der Außenwelt schlechthin - d.h. der Außenwelt nach Abzug aller Innenwelten - bis auf wenige Klassen besonders leicht (intermomentan und intersubjektiv) identifizierbarer, manipulierbarer und quantifizierbarer Merkmale, die an der Oberfläche fester Körper abgelesen werden können und noch heute die ganze Abstraktionsbasis der Physik bilden; nach Aristoteles und Demokrit handelt es sich um Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung, Lage und Anordnung, die später sogenannten primären Sinnesquellen. Ihnen wird zur Ersatz für die Einbettung in vielsagende Eindrücke, die bei der Abschleifung zerschlagen worden sind, das Anhängen an Träger, die nach Art fester Körper vorgestellt werden, sogenannten Substanzen, gewährt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 14

„Die Introjektion ist die Ablagerung des vom Reduktionismus abgeschliffenen Abfalls in der im Dienst der Selbstbemächtigung bereitgestellten Innenwelt. Situationen - darunter die erwähnten vielsagenden Eindrücke - und Atmosphären werden zerschlagen; ihre Bedeutsamkeit, die in einer nach außen ganzheitlich abgehobenen, im Innern aber diffusen und nicht durchgängig vereinzelten Mannigfaltigkeit von Sachverhalten, Programmen und Problemen besteht, wird subjektiviert und zu Aggregaten von Gedanken, Urteilen, Entschlüssen usw. in der Seele umgedeutet; Atmosphären, die den Menschen leiblich spürbar ergreifen oder beschleichen, werden in private Gefühle umgedeutet oder - wie im Fall des Wetters - in einen psychischen Anteil und einen physikalischen Zustand der Luft, eines der Lebenserfahrung konstruktiv unterlegten Gases, zerrissen; der spürbare Leib wird ganz vergessen oder, soweit man Restbestände wie den Schmerz nicht vergessen kann, in einen Zustand des sezierbaren Körpers und eine unausgedehnte Empfindung in der Seele, die später auch andere Namen wie »das Gemüt«, »the mind« oder »das Bewußtsein« erhält, aufgelöst.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 14-15

„Meine Neue Phänomenologie soll keineswegs das archaische Paradigma wiederherstellen, wohl aber die offenkundigen Mängel und Verkünstelungen der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung der Welt beseitigen und dadurch eine Abstraktionsbasis bereitstellen, die in der Lebenserfahrung tiefer verankert ist als die seit Demokrit, Platon und Aristoteles die dominante europäische Intellektualkultur beherrschende.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 15

„Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körperschemas (d.h. des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsbildes vom eigenen Körper) zu stützen. Der Leib ist besetzt mit leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Atmung, Behagen, affektives Betroffensein von Gefühlen. Er ist unteilbar flächenlos ausgedehnt als prädimensionales (d.h. nicht bezifferbar dimensioniertes, z.B. nicht dreidimensionales) Volumen, das in Engung und Weitung Dynamik besitzt. Man macht sich das leicht am leiblich spürbaren Einatmen klar. Es wird in Gestalt einer Insel in der Brust- oder auch Bauchgegend gespürt, in der simultan Engung und Weitung konkurrieren, wobei anfangs die Weitung und später, gegen Ende des Einatmens, die Engung überwiegt; diese Insel ist voluminös, aber weder von Flächen umschlossen noch durch Flächen zerlegbar und daher auch nicht dreidimensional, da die 3 als Dimensionszahl nur im Aufsteigen von der 2 her sinnvoll eingeführt werden kann. Solch ein prädimensionales Volumen kommt auch in anderen Erfahrungsbereichen vor .... Der Leib ist fast immer - außer z.B. im heftigen Schreck - von solchen Leibesinseln besetzt, ein Gewoge verschwommener Inseln, die sich ohne stetigen Zusammenhang meist flüchtig bilden, umbilden und auflösen, in einigen Fällen aber auch mit mehr oder weniger konstanter Ausrüstung beharren, dies besonders im oralen und analen Bereich und an den Sohlen. Solche Leibesinseln kommen auch außerhalb des eigenen Körpers vor, z.B. als Phantomglieder der Amputierten. Seine Haut kann man sehen und betasten, aber nicht am eigenen Leib spüren; die Weckung von Aufmerksamkeit auf die eigene Haut in der Vorstellung anhand des perzeptiven Körperschemas kann allerdings die Sensibilität für das Spüren von Leibesinseln steigern.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 15-17

„Dynamik ..., deren Hauptsache die Dimension von Enge und Weite ist. Leiblich sein heißt, zwischen reiner Enge und reiner Weite irgendwo in der Mitte zu sein und weder von Enge noch von Weite ganz loszukommen, solange das bewußte Erleben dauert. Diese Mittellage beruht auf dem Ineinandergreifen zweier antagonistischer Tendenzen: der expandierenden Weitung und der sie hemmenden Engung. Miteinander bilden sie den vitalen Antrieb, gleichsam den Dampf, unter dem ein Mensch wie ein Kessel steht. In diesem Zusammenhang bezeichne ich die Engung als Spannung, die Weitung als Schwellung, wobei an dynamische Schwellung im Sinne des stark flektierten Partizips »geschwellt«, nicht an bloß quantitative Schwellung im Sinne des Partizips »geschwollen« zu denken ist. Der vitale Antrieb bedarf der antagonistischen Konkurrenz von Spannung und Schwellung. Wenn die Engung aus der Weitung aushakt, wie bei heftigem Schreck, ist der Antrieb weg. Ebenso erschlafft er nach der anderen Seite, wenn die Schwellung die Mauer hemmender Spannung durchbricht und die Weitung widerstandslos wird, wie bei der Ejakulation im Geschlechtsakt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 18-19

„In der leiblichen Dynamik über die Dimension von Enge und Weite hinaus eine weitere, der ersten nahestehende Dimension, die ich durch das Gegensatzpaar von protopatischer und epikritischer Tendenz abstecke. .... Ich beziehe sie auf alle leiblichen Regungen und darüber hinaus auf Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gegenständen wahrgenommen werden. Protopathisch ist das Dumpfe, Diffuse, verschwommen Ausstrahlende, epikritisch das Spitze, Scharfe. So ist z.B. das Jucken protopathisch, das Kitzeln epikritisch, der Höhepunkt des Orgasmus epikritisch, das Verströmen im geschlechtlichen Rausch protopathisch. Ein schwerer, schleppender Gang und ein dunkler Vokal haben protopathische, ein federndes Hüpfen und ein schrilles Geräusch haben epikritische Züge. Es liegt nahe, epikritisches Tendenz auf Engung und protopathische Tendenz auf Weitung zurückzuführen, aber damit kommt man nicht durch, denn es gibt auch protopathische Engung, z.B. als benommenen Kopf im Kater nach reichlichen Alkoholgenuß, und auch für epikritische Weitung ließen sich Beispiel finden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 22-23

„Gefühle sind räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 23

„Gefühle sind anspruchsvolle Atmosphären, die dank ihrer ortlosen Ergossenheit in der jeweils aktuellen Umgebung einen totalen Anspruch stellen und zum Konflikt führen, wenn konträre Atmosphären zusammenprallen ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 25

„Während die Gefühle räumlich ergossene Atmosphären sind, ist das Fühlen der Gefühle, soweit es sich nicht um Ergriffenheit von ihnen und nicht um bloßes Wahrnehmen der Atmosphäre handelt - wie wenn ein ernsthafter Beobachter in ein albernes Fest gerät -, stets ein leibliches Betroffensein von ihnen. Diese kann in teilheitlichen oder in ganzheitlichen leiblichen Regungen bestehen ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 26

Wahrnehmung als leibliche Kommunikation (leibliche Sprache; HB).  –  Im motorisierten Straßenverkehr kommt es häufig zu gefährlichen Konstellationen, in denen ein Lenker sein Fahrzeug nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen vor einem Unfall durch Zusammenstoß bewahren kann. Sein Verhalten ist dann keine routinierte Standardreaktion, sondern bedarf des intelligenten Maßnehmens an unvorhersehbaren Details. Die herrschende, von der Naturwissenschaft und der Psychologie bestimmte Auffassung zerlegt dieses Geschehen, soweit es am Lenker abläuft, in die Kaskade körperlicher und seelischer Vorgänge: Physikalisch definierte Reize treffen die peripheren Sinnesorgane, ebenso definierte Reize anderer (elektrischer und chemischer) Art wandern von dort auf vorgezeichneten Bahnen im Nervensystem und im Gehirn, bis sie als Empfindungen ins Seelenleben springen (! HB) und dort einer intelligenten Verarbeitung unterworfen werden (! HB); diese besteht in der Koordination zu einem Bild der Lage (ungefähr so wie beim Anwendungsprogramm namens Photoshop! HB), der Abschätzung der Gefahr (rein rechnerisch natürlich - in Bits ! HB) und dem Entwurf eines strategischen Plans zur Rettung (so wie man programmiersprachlich eine Programmiersprache textet; HB); dieser Plan springt dann ins Gehirn zurück (! HB) und wandert darin durch periphere Nerven in Gestalt elektrischer und chemischer Reize zu den Muskeln, wo diese Reize Zuckungen auslösen, die sich auf das Steuer und die Pedale so übertragen (! HB), daß bei erfolgreicher Ausführung des Plans (! HB) der drohende Zusammenstoß vermieden wird. Bei nüchterener Überlegung dieser Rekonstruktion des Vorgangs wird man sich sagen, daß alles vernünftig ist, solange es sich um naturwissenschaftlich analysierte Körpervorgänge handelt, aber mit dem sogenannten Seelenleben (dem sogenannten »Psychologischen«! HB) phantastische und kontrafaktische Spekulationen dazwischentreten. Phantastisch ist der zweifache Sprung vom Nervensystem ins Seelenleben und zurück, kein Mensch hat je so etwas beobachtet oder eine Ahnung davon, wie es geschehen könnte. Kontrafaktisch ist die Konstruktionb einer komplizierten Reihe intellektueller Prozesse im Seelenleben, wo doch keine Zeit zur Überlegung bleibt; man muß dafür Zuflucht zu einem großen Gebäude unbewußter Schlüsse im Sinne von Schopenhauer und Helmholtz nehmen, obwohl die Besinnung auf das Erfahrene nichts davon verrät. Das ganze Luftschloß verdankt seinen Kredit dem verkehrten Dogma des Physiologismus, wonach für jeden Menschen - gemäß dem Innenweltdogma - die Welt in in seine Außenwelt und seine Innenwelt so zerfällt, daß Informationen von seiner Außenwelt nur durch Transport und Transformation physischer Signale (physischer Sprache! HB) durch die Sinnesorgane und das Nervensystem in seine Innenwelt gelangen, motorische Reaktionen in diese Außenwelt aber nur durch umgekehrten Export über nervöse Kanäle. Die beobachtbare Grundlage dieses Dogmas besteht allein darin, daß physische Reize und nervöse Vorgänge in erheblichem Umfang sowohl notwendige als auch zureichende Bedingungen für die Wahrnehmungen und den Erfolg motorischer Absichten sind. Es verhält sich damit ähnlich, wie wenn von einer nicht abstellbaren Schallplatte die Stimme einer Sängerin zu passender Klavierbegleitung erschallt. Dann ist diese Begleitung sowohl notwendig als auch zureichend für die Stimme, aber (! HB) es gibt weder Import von der Klaviermusik in die Stimme noch Export aus dieser in jene. Solche Improt-Export-Beziehungen dichtet der Physiologismus (und, von der anderen Seite, auch der Psychologismus; HB) zu der notwendig zureichenden »Begleitmusik« hinzu, als die nach Maßgabe naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse nervöser Vorgänge in Korrelation mit Wahrnehmung und motorischem Verhalten ablaufen. Der Vergleich ist dehalb nicht genau, weil Klavier- und Stimmenschall erkenntnistheoretisch auf derselben Ebene liegen, Wahrnehmung und wahrgenommenes oder am eigenen Leib gespürtes motorisches Verhalten einerseits, Gegnstände naturwissenschaftlicher Instrumentemessung und Theoriebildung andererseits aber auf sehr verschiedenen Ebenen, weil im zweiten Fall die reduktionistische Abstraktionsbasis der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise nebst theoretischen Kostruktionen und Hypothesen, die die Ausfälle durch reduktionistische Abschleifung wettmachen sollen, vorausgesetzt werden müssen. Trotzdem ist der Vergleich lehrreich. Für das Studium des Gesangs, seiner qualitativen Eigenart und prozessualen Eigengesetzlichkeit, darf man sich nicht auf die Analyse der Klaviermusik verlassen, und ganz verkehtr wäre es, dieses Studium durch Belauern eines vetrmeintlichen Imports vom Klavier in die Stimme oder von der Stimme ins Klavier ersetzen zu wollen. Entsprechend kann die Frage, was Wahrnehmung ist, welche Struktur und welche Merkmale sie hat, nur von Phänomenologen beantwortet werden, während der Physiologe die zugehörigen Begleitvorgänge im reduktionistisch präparierten Körper des wahrnehmenden Bewußtseins untersucht. Beide Forscher können harmonisch und ergiebig zusammenarbeiten, aber Übergriffe stören und verwirren die Einsicht.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 28-30

„Durch diese Überlegungen zu unbefangener Phänomenologie ermutigt, kehre ich zur Wahrnehmung des einen Unfall gerade noch vermeidenden Autolenkers zurück. Was er vor und um sich sieht, ist nicht eine Konstellation von Sinnesdaten, sondern die Gefahr. .... Das ist eine Beispiel für Wahrnehmung als leibliche Kommunikation (leibliche Sprache; HB), und zwar vom Typ der Einleibung, dem ich einen anderen, aber wesentlich seltener hervortetenden Typ an die Seite stellen werde.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 30-31

„Ludwig Klages schreibt: »Die feinfühlige Frau aus dem Volke, die dem heimkehrenden Gatten mit einem Blick leichte Gereiztheit, dem Sohn leise Verstimmung ansieht, wäre, wenn darum befragt, völlig außerstande anzugeben, wie die Veränderung z.B. der Gesichtszüge beschaffen war, aif die sie Urteil stützte. Sie würde sagen, sie habe leichte Gereiztheit und leise Verstimmung gesehen; das aber wüßte sie nicht, welche Verschiebung beweglicher Gesichtszüge mit dem ›gesehenen‹ Gemütszuständen einherging« (Ludwig Klages, Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 1935, S. 52). So richtig das - bei großzügigem Verständnis der Rede von Gemütszuständen - auch ist, so möchte ich jetzt, wo gerade die Deutung des Sehens in Frage steht, der fingierten Frau lieber eine andere, ebenso gängige Auskunft in den Mund legen: Sie könnte auf die Frage, wie sie das gesehen habe, antworten, sie habe sich »eigentümlich berührt gefühlt«, so wie man sich von feierlicher oder unheimlicher Stille, vor einer eigenartigen Naturstimmung, von der befremdenden Kühle des Blicks und der Stimme eines Menschen, von einem fesselnden Proträt »eigentümlich berührt fühlt«. Dann handelt es sich um leibliche Kommunikation (leibliche Sprache; HB). Man spürt am eigenen Leibe, was der vielsagende Eindruck zu sagen hat. So verstehen wir in der Wahrnehmung durch Einleibung auch andere Menschen vor jeder Deutung oder Einfühlung, indem wir am eigenen Leibe etwas spüren, was ihm nicht angehört, hier den anderen, oder was dank der leiblichen Kommunikation gewissermaßen von ihm ausgeht, nicht viel anders als das Wetter, die im drohenden oder geschehenden Sturz uns niederreißende Schwere, den Wind oder den elektrischen Schlag, die gleichfalls am eigenen Leibe - in diesem Fall sogar nur an ihm, ohne Chance der Ausgrenzung und Abgrenzung - gespürt werden, aber keineswegs als etwas vom eigenen Leibe, sondern als etwas, das über ihn kommt, ihn durchzieht oder auch in sich aufnimmt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 37-38

„Einleibung kann man sich als erweiterte Gestalt des vitalen Antriebs zurechtlegen. Dieser ist durch die antagonistische Konkurrenz von Spannung und Schwellung schon am eibenen Leib im Keim dialogisch und entfaltet sich zum Dialog in den rhythmischen Ausprägungen dieser Konkurrenz, wie bei genügend starker Angst und Wollust. Eine darüner hianusgehende, beinahe schon echte, aber zwiespältige leibliche Kommunikation tritt mit dem Schmerz ein, denn dieser ist in paradoxer Spreizung sowohl eigener Zustand des Gepeinigten als auch ein auf diesen eindringenden Widersacher. Man sthet gegen seinen Schmerz, muß sich mit ihm auseinandersetzen, kann nicht in ihm aufgehen wie in panischer Angst und maßloser Wollust.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 43

„Die Raumstrukturen, die für eine phänomenologische Durchleuchtung in Betracht kommen, lassen sich auf vier Titel verteilen:
1. Der leibliche Raum. Das ist der Raum, der ganz von Strukturen der leiblichen Dynamik und leiblichen Kommunikation bestimmt wird, der elementare, ursprüngliche Raum, ohne den es keinen Zugang zu erfahrbarer Räumlichkeit in irgendeinem Sinn gibt. Er wird keineswegs nur im Spüren am eigenen Leib erfahren, sondern auch das Gehörte, das Gerochene und zu einem beträchtlichen Teil das Gesehene und das Getastete haben in ihm Platz.
2. Der Gefühsraum, in dem sich Gefühle als räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären ausdehnen. Über dieses Vermögen der Gefühle, im affektiven Betroffensein sich leiblich fühlen zu lassen, steht der Gefühlsraum in Verbindung mit dem leiblichen Raum.
3. Der dem Leib durch Fläche entfremdete Raum, der von mir so genannte Ortsraum, bestehend aus wechselhaft besetzbaren, relativen, d.h. nur durch ihr gegenseitiges Verhältnis nach Lage und Abstand bestimmten Orten, die den Raum vollstädig ausfüllen. Das ist der bereits skizzierte, die gängige Raumvorstellung leitende, der der Mathematik und Naturwissenschaft allein bekannte Raum.
4. Die Wohnung als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum. In Ihr finden sich alle drei genannten Formen der Räumlichkeit zusammen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 46-47

„Gefühle als ortlos ergossene, leinlich ergreifende Atmosphären sind nicht nur überhaupt räumlich, sondern bilden miteinander einen Raum eigentümlicher Struktur, die der Struktur des leiblichen Raumes darin parallel ist, daß sie in der Unterschicht gleichfalls ungegliederte Weite besitzt, die dann in einer zweiten Schicht von Richtungen überformt wird. Alle Gefühle bezeichne ich, sofern sie weit sind, und weil sie als Atmosphären sämtlich weit sind, als Stimmungen, als reine Stimmungen aber insofern, als sie nichts als weit (d.h. frei von Richtungen) sind. Gefühle als Atmosphären, die von Richtungen oder Vektoren durchzogen werden, nenne ich Erregungen, mit einem Fremdwort könnte man auch von »Emotionen« sprechen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 57

„Es gibt nur zwei reine Stimmungen: reines erfülltes Gefühl (Zufriedenheit) und reines leeres Gefühl (Verzweiflung).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 58

„Den reinen Stimmungen fügen die reinen Erregungen eine Gerichtetheit hinzu, die nicht strukturlos, aber diffus ist, Ihre Richtungen unterscheiden sich konträr von den leiblichen, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 59

„Die - erst durch die Modellvorstellungen der Quantenphysik überholte - Neigung, alle Körper als feste Körper und auch Flüssigkeiten und Gase als Aggregate kleiner fester Körnchen (z.B. Moleküle) vorzustellen , geht auf die phantasierte Wunschvorstellung zurück, überall - gegebenenfalls durch Schnitte - Flächen finden zu können. Dieses Verlangen nach Flächen mit der Bereitschaft, Flächen in alles Räumliche hineinzusehen und hineinzudeuten, entspringt einem tiefen Bedürfnis und einem großartigen Angebot der Fläche an den Menschen. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib und damit die Chance einer Orientierung, sich von den Verstrickungen leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation einschließlich des Ergriffenseins von Gefühlen so zu lösen und darüber hinwegzusetzen, daß alles im Raum, was die Vergegenständlichung übrig läßt, einschließlich des sich findenden Menschen selbst, hinsichtlich seiner räumlichen Anordnung gleichmäßig objektiviert und verfügbar gemacht werden kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 65-66

„Wie sehr flächenlose Räume hinter diesem Angebot zurückbleiben, kann man sich an der Räumlichkeit des Schalls klar machen. Man kann Richtungen und unumkehrbare Entfernungen vom eigenen absoluten Ort - daß etwas näher oder weiter weg ist - hören, aber nicht umkehrbare Abstände, weder der Schallquellen voneinander noch von sich zu diesen: Man hört zwar, ob etwas mehr oder weniger nah erschallt, aber man hört nicht ebenso, wie nah man selbst am Gehörten ist; das kann man sich, aus Quellen des Sehens, des Tastens und der Eigenbewegung schöpfend, höchstens überlegen, während man beim Sehen unmittelbar - auch ohne sich selbst zu sehen - mit wahrnimmt, wie nah man selbst am Gesehenen ist, wie das erörterte geschickte Wegspringen bei drohender Annäherung einer wuchtigen Masse zeigt. Eine zusammenhängende Aufgliederung des Raumes nach Lagen und Abständen ist durch bloßes Hören nicht möglich.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 66

„Schon unabhängig von der Begegnung mit Flächen können leibliche Richtungen, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen, bei einem Ziel gleichsam landen und dadurch begrenzt (terminiert) werden. So etwas geschieht z,B., wenn man auf einen durch Richtung und Entfernung bestimmten Schall horcht oder einen Feuerschein oder etwas Funkelndes erblickt. Solche Ziele, durch die Richtungen leiblicher Zuwendung begrenzt (temliniert) werden, können durch Netze paarender Verbindungen verknüpft werden, z.B. wenn man sich aus Konstellationen am klaren nächtlichen Himmel Sternbilder zurechtlegt. Das ist der Ursprung der den Zug der leiblichen Richtungen in die Tiefe querenden Breite, längst bevor eine dem Menschen frontal gegenüberstehende Ebene in Betracht kommt. Wenn es in dieser Breite keine Fläche gäbe, müßten die Netze zwischen den Termen der terminierten Richtungen immer neu geknüpft werden, sobald diese Richtungen selbst sich verändert haben, etwa durch Bewegung oder veränderte Körperhaltung. Sobald in der Breite aber Flächen auftauchen, gewinnt das Knüpfen der Netze Gelegenheit zur Konstanz seiner Resultate gegenüber solchen Variationen. Flächen sind nämlich Spielräume für Auf-, Ab- und Umbau von Netzen paarender Verbindungen zwischen Termen von Richtungen des leiblichen Richtungsraums, worin jene Terme der Abhängigkeit von den Besonderheiten und Veränderungen leiblicher Richtungen weitgehend entzogen sind; und zwar sind sie unter allen solchen Spielräumen diejenigen, die keine anderen voraussetzen. Mit der Schlußklausel nehme ich Rücksicht darauf, daß auch dreidimensionale Gebilde als solche Spielräume fungieren können, aber nur, wenn sie Wände haben, d.h. unter der Voraussetzung von Flächen. In die Flächen oder von Flächen berandete Gebiete können die Richtungsterme und ihre Verbindungen so eingetragen werden, daß sie wiedergefunden werden können, wenn die terminierten leiblichen Richtungen durch andere ersetzt werden, z.B. bei Drehung des Körpers, der den sich richtenden Leib beherbergt. Dadurch entsteht die für den Übergang vom Richtungsraum zum Ortsraum entscheidende Möglichkeit, die paarenden Verbindungen nach beiden Seiten abzulesen, d.h. die unumkehrbaren Entfernungen in umkehrbare Abstände zu überführen, womit dann auch umkehrbare Lagebeziehungen verbunden sind. Piaget hat an seinem wenig mehr als einjahr alten Töchterchen eine hübsche Beobachtung gemacht, die als Zeugnis für diesen dramatischen Fortschritt der räumlichen Orientierong gedeutet werden kann: »Jacqueline, mit 1; 1 (7), sitzt auf der Erde und hält einen Stab in den Händen. Sie schafft ihn hinter sich, indem sie ihren Arm auf den Rücken legt, und dreht sich dann, um ihn zu suchen. Während der ersten Versuche sucht sie ihn in der Richtung, in die sie ihn befördert hat. [...] Aber während der folgenden Versuche wendet sie sich in die andere Richtung: Wenn sie den Stab befördert hat, indem sie den linken Arm auf den Rücken legte, wendet sie sich nach rechts, um ihn zurückzuerlangen, und umgekehrt. - Dieses Verfahren wiederholt sich viele Male während der folgenden Wochen.« (Jean Piaget, a.a.O.).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 66-68

„Mit der Konstruktion zweiseitig ablesbarer Abstände und Lagebeziehungen zwischen Richtungstermen ist der Ortsraum noch keineswegs erreicht, denn die Abstände und Lagen in ihm betreffen nicht irgendwelche Objekte, die sich zufällig einmal als Terme für Richtungen leiblicher Zuwendung anbieten, sondern relative Orte, deren System invariant gegen den Wechsel solcher Objekte ist. Um von den Richtungstermen zu den relativen Orten überzugehen, bedarf es der mathematischen Operation der Restklassenbildung nach einer Äquivalenzrelation, d.h. einer zweistelligen, symmetrischen (d.h. mit a Rb auch l:mmer b Ra) und transitiven (d.h. mit a Rb und b R c auch immer a R c) Relation, die, wie man leicht zeigen kann, einen Gegenstandsbereich, den sie überdeckt, vollständig in elementefremde Restklassen einteilt, so daß kein Objekt des Bereichs zu mehr als einer solchen Klasse gehört. Man mag staunen, daß jedermann so abstrakte Objekte wie Restklassen sehen kann, wenn er den Ort sieht, an dem sich irgendein Objekt befindet, aber nicht anders verhält es sich mit den Zahlen, die jemand sieht, wenn er etwas abzählt, oder auch ohne Zählen auf einen Schlag sieht, daß da z.B. 2 Leute sind; denn auch Zahlen beruhen auf Restklassen nach einer Äquivalenzrelation, die in der Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung zwischen Mengen besteht. Restklassen sind Umfange von Gattungen, und das Sehen von Gattungen ist trivial, wenn auch vom grundfalschen Dogma des Nominalismus geleugnet, und sogar Voraussetzung dafür, daß irgendwelche Einzelwesen gesehen werden; nur freilich handelt es sich um vorbegriffliche Gattungen, deren explizite Darstellung Sache künstlicher Theorie ist. (Vgl. mein Buch: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, 1994, S. 40-49 und 92-96.) Ich habe die Äquivalenzrelation, die den Übergang von den zufallig wechselnden Objekten zu den konstanten relativen Orten als Beziehungsgliedern der Lage- und Abstandsbeziehungen ermöglicht, im Anschluß an Überlegungen von Leibniz in seinem 5. Schreiben an Clarke (1716) explizit angegeben; es handelt sich um die Gleichheit der Lage- und Abstandsbeziehungen zu mehreren ruhenden Objekten. (Vgl. von mir: Was ist Neue Phänomenologie?, 2003, S. 54-62: Raum [dort S. 61, Anmerkung 35 der Ortsdefinition]; Situation und Konstellation. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, 2005, S. 186-217: Der erlebte und der gedachte Raum. Die Dimensionierung des Raumes.) Ohne ruhende Sachen in Anspruch zu nehmen, läßt sich gar nicht sagen, was ein Ort des Ortsraums ist. Daraus kann man die Abkünftigkeit des Ortsraums erweisen, und zwar in dem Sinn, daß er schon rein logisch nur gleichsam als Parasit des leiblichen Richtungsraums möglich ist. Ruhe setzt die Unterscheidbarkeit von Ruhe und Bewegung voraus. Die ist aber im Ortsraum nicht gegeben, weil Bewegung in diesem Rahmen nur als Ortswechsel und dieser nur als Lage. und Abstandsänderung aufgefaßt werden kann; eine solche Änderung im Verhältnis zwischen A und B kann aber ebenso z.B. als Annäherung von A an B wie von Ban A, entsprechend für Entfernung voneinander, aufgefaßt werden, so daß es beliebig ist, ob die Ruhe bzw. Bewegung dem A oder dem B zugeschrieben wird. Diese Relativität, die schon Kant in seiner frühen Schrift Neuer Lehrbegriff der Ruhe und Bewegung herausgearbeitet und Einstein nur fortgeschrieben hat, wurzelt in Ablesbarkeit der Abstände und Lagen an umkehrbaren Verbindungsbahnen. Die Unterscheidbarkeit von Bewegung und Ruhe ist Bedingung für den Ortsraum, kann in ihm selbst aber nicht hergestellt werden und weist ihn daher auf eine tieferliegende Raumstruktur zurück. Diese ist faktisch, wie sich aus den Darlegungen zur Genese des Ortsraums ergibt, der leibliche Richtungsraum, in dem die Bewegung in der Tat unabhängig vom Ortswechsel heimisch ist, wie die dargelegte große Bedeutung der Bewegungssuggestionen für den Richtungsraum zeigt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 68-70

„Die kinderpsychologische Beobachtung von Piaget, und nicht allein sie, legt die Vermutung nahe, daß der durch das Auftauchen der Fläche ermöglichte Übergang der Orientierung vom Richtungsraum zum Ortsraum ein Reifungsschritt ist, wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit, die personale Emanzipation aus den tierhaften Anfangsstadien des Menschenlebens. Diese Vermutung läßt sich präzisieren durch Angabe von drei für die personale Emanzipation wichtigen Konsequenzen des Vorkommens von Flächen: Dieses Vorkommen
1. entlastet von leiblicher Kommunikation,
2. gewährt einen Spielraum für beliebige, auf diese Weise entlastete Kombinationen und
3. gestattet dem Wahrnehmenden, sich selbst als räumliches Objekt unter Objekten dem Ortsraum einzuordnen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 70

„Zu 1.: Leibliche Kommunikation kommt in zwei Gestalten vor, als Ausleibung und als Einleibung. Ausleibung ist leibliche Kommunikation mit prädimensionaler Tiefe, z.B. jedes Raumes, des Glanzes, der Wärme, hintergründiger Aromen usw., ein tranceartiges Ausfließen; sie wird als Zug in die Tiefe des Raumes durch die querende Fläche abgeschnitten. Einleibung spielt sich mit Bewegungssuggestionen auf dem Netz- und Fächerwerk der unumkehrbaren leiblichen Richtungen ab, namentlich als suggestiver und aggressiver Sog von Dingen und Halbdingen. Diese Dynamik wird durch die das Gefalle der leiblichen Richtungen schneidende Fläche gebremst, so daß der Bann, mit dem die Umgebung den Wahrnehmenden leiblich in Anspruch nimmt, gedämpft und gelockert wird. Ein sprechender Beleg dafür ist der von Wölfflin aufgedeckte Gegensatz zwischen dem barocken Tiefenstil, der nach meiner Auslegung (vgl. System der Philosophie, a.a.O.) einer Dramatisierung des leiblichen Befindens und der leiblichen Kommunikation in der Dimension von Engung und Weitung entspricht - als engendes Andrängen aus der Tiefe und weitender Sog in die Tiefe des Raumes -, und dem kühleren, dem Betrachter mehr Abstand und leibliche Neutralität gewährenden Flächenstil der Kunst des 16. Jahrhunderts, die den Bildraum scheibenartig durch quer sich bereitende Flächen in verschiedene Gründe zerlegt. (Vgl. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 1915, S. 91-143.)“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 70-71

„Zu 2.: Diese entlastende Wirksamkeit der Fläche wird darin fruchtbar, daß diese sich als Spielraum für beliebige Aus- und Umgestaltung von Netzen paarender Verbindung zwischen Termen leiblicher Richtung (z.B. Blick- und Greifzielen) anbietet. Flächen verbinden solche Terme pauschal, indem sie diese aus den Richtungen leibliche Kommunikation in ihr leibfremdes Element übernehmen, worin beliebig, ohne den Druck der suggestiven Einleibung, Verbindungen jener Terme geknüpft und gelöst werden können. Die Fläche wird damit zum Laboratorium der kombinatorischen Phantasie. Kinder nützen diese Chance mit ihrem frühesten Zeichnen von Kritzellinien, die den »Maccaronilinien« in paläolithisch bearbeiteten Höhlen mehr oder weniger ähneln und sich schließlich durch Konzentration auf Punkte zu bewußt gestalteten Formen entwickeln. In der Gabe, zeichnend etwas darzustellen, meldet sich die Fähigkeit, sich in der Fläche sozusagen ein leibfremdes Sondervermögen anzulegen statt durch Einleibung Sklave der Dinge und Halbdinge, überhaupt der Reize zu bleiben.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 71-72

„Zu 3.: Dazu kommt die spiegelnde Leistung der querenden Fläche, so daß der absolute Ort an der Quelle der unumkehrbaren leiblichen Regungen einen reflektierenden Partner gewinnt. Indem die Richtungsterme in dieses leibfremde Sammelbecken Fläche aufgenommen werden, treten sie dem Wahrnehmenden so gegenüber, daß die Verbindungsbahnen gleichmäßig nach beiden Seiten ablesbar werden, statt daß sich nur, wie beim Tausch der Blicke, eine unumkehrbare leibliche Regung mit einer entgegnenden anderen deckt. So erst lernt der Mensch, in einem buchstäblichen Sinn zu reflektieren, d.h. in der räumlichen Orientierung auf sich zurückzukommen und sich seinen Platz unter den Dingen, seinen relativen Ort, anzuweisen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 72

„Noch einen weiteren wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung des Ortsraums leistet die Fläche als Quelle der Dimensionierung, nämlich mit der Möglichkeit, Stufen der Ausdehnung im Raum durch Dimensionszahlen zu unterscheiden, wobei die Eindimensionalität der Linie oder der Strecke, die Zweidimensionalität der Fläche und die Dreidimensionalität dem Körper zugewiesen wird. Diese Dimensionierung ist aber auch nach Einführung der Fläche nicht selbstverständlich. Die Verbindungen zwischen den Richtungstermen in der Fläche könnten statt linear auch prädimensional wie die Flächenfarben nach' Katz sein. Ein Punkt wäre dann kein Raumgebilde nullter Dimension, sondern so etwas wie das »Pünktchen«, als das uns ein sehr ferner, am Horizont auftauchender Gegenstand erscheint, prädimensional oder dimensional unentschieden. Glatte Flächen sind ohne weiteres sinnfallig; es trifft nicht zu, daß man sich erst mit Körpern befassen rnüßte, um sie als deren Zubehör zu entdecken. Dagegen kommen Strecken und Punkte nur als Kanten an Flächen bzw. als Ecken an Kanten zum Vorschein. Ob ein Abstieg von der Fläche zu diesen niedriger-dimensionalen Gebilden gelingt, wird also davon abhängen, ob ein sinnfälliges Kennzeichen der Kanten und Ecken angegeben werden kann, das sie als Brüche im Aufbau der dimensional übergeordneten Gestalten erkennen läßt; nur dann läßt sich der Verdacht abwehren, daß es sich bei strikt ein- bzw. nulldimensionalen Strecken und Punkten um unsinnliche Idealisierungen prädimensionaler Übergänge nach Art der Flächenfarben und des Pünktchens am Horizont handle.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 72-73

„Welches Merkmal kommt für die Kanten in Frage? Ich fasse zunächst kantenlose Flächen ins Auge. Diese sind entweder eben und dann (außer bei besonderer Stellung im Raum) leiblich charakterlos oder gekrümmt und dann durch ihren leiblich charaktervollen Gestaltverlauf dem Regenschirmprinzip in irgendeiner Variante unterworfen, also auf ein in1aginäres Zentrum bezogen, das entweder stabil oder in stetigem Gleiten begriffen ist. An einer Kante verschiebt sich dagegen ruckartig der Gestaltverlauf, und zwar in1 Verhältnis zu Ebenen, indem er deren leibliche Charakterlosigkeit in die Darstellung epikritischer Tendenz umschlagen läßt, und im Verhältnis zu gekrümmten Formen, indem er eine ruckartige -nicht, wie vielfach schon bei kantenloser Krümmung, stetig sich verschiebende -Umorientierung bei Anwendung des Regenschirmprinzips erzwingt. Dieser Umstand gestattet eine phänomenologische DefInition der Strecke: Die Strecke (als Kante) ist das Gestaltmerkmal einer beschränkten Fläche, das für eine über diese hingleitende (optische oder taktile) Zuwendung eine ruckartige, plötzliche Änderung des Gestaltverlaufs der Fläche mit sich bringt. Ob dieses Gestaltmerkmal vollständig breitenlos ist, wird damit nicht präjudiziert. Strecken, die keine Kanten sind, können als phantasierte Kanten phantasierter Flächen aufgefaßt werden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 73-74

„Die Punkte als Ecken können entsprechend als Kanten zweiter Stufe eingeführt werden, die sich zu den Kanten erster Stufe verhalten, wie diese zu den Flächen. Solche Punkte haben, wenn von den Kanten erster Stufe abgesehen wird, keine eigenen Gestaltverläufe (Bewegungssuggestionen) mehr, so daß das Verfahren des Abstiegs von den Flächen durch Brüche in den Gestaltverläufen nicht mehr fortgeführt werden kann. Das ist nicht selbstverständlich. Der Abstieg könnte durch mehr als zwei Stufen möglich sein; dann wäre die Fläche mehr als zweidimensional. Nun aber kann, vom Punkt mit O beginnend, die Bezifferung so aufsteigen, daß sie mit 2 bei der Fläche und dann mit 3 beim Körper anlangt, wobei der Abstieg vom Körper zur Fläche in derselben Weise möglich ist wie derjenige von der Fläche zur Kante, von der Kante zur Ecke als dem Punkt, der wirklich Ecke oder phantasierte Ecke phantasierter Flächen eines phantasierten Körpers ist. Das prädimensionale Volumen ist damit, soweit die Fläche dazu Gelegenheit gibt, zum dimensionalen weitergebildet worden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 74

„Leiblicher Raum, Gefühlsraum und dem Leib entfremdeter Ortsraum wechseln sich im Erleben, Verhalten und Verständnis des normalen Erwachsenen ohne Ordnung ab und durchdringen einander in zufälliger Mischung. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, alle drei Gesichter des Raumes in gestalteter Integration beisammen zu finden, ist das Wohnen. Es findet zumeist in Bauten statt, die konstruktiv dem Ortsraum abgewonnen sind, und durch Bewohner, die unvermeidlich dem Weiteraum und dem leiblichen Richtungsraum angehören; das Spezifische des Wohnens besteht aber in der Weise, wie der Gefühlsraum in diesem Medium geformt wird. Wohnen ist nicht nur Leben in einem Haus; wer in Geschäften viel unterwegs ist, lebt nicht weniger unter einem Dach als ein seßhafter Familienvater, aber er wohnt nicht, solange er hastig die Quartiere wechselt. Wohnen ist Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum, wobei sich der Mensch mit den abgründigen Atmosphären, die diesen durchziehen, so arrangiert, daß er zu ihnen ein Verhältnis findet, in dem er mit einem gewissen Maß an Harmonie und Ausgeglichenheit leben kann. Zur Wohnung in diesem Sinn gehört nicht einmal die Sorge für die täglichen Verrichtungen des Essens, Schlafens, Ausscheidens usw. Diese Sorge ist spezifisch nur für die häusliche Wohnung; in noch reinerem Maß als diese sind aber die Kirche und der Garten, auch das japanische Teehaus Wohnungen im angegebenen Sinn.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 74-75

„Die Räumlichkeit der Gefühle tritt eindringlich daran hervor, daß Menschen immer wieder solcher Wohnungen statt bloßer Unterbringungen unter Dach und Fach -bedürfen, um die Gefühle in gewisser Weise einzufangen, zu verwalten und an ihnen zu gestalten. Wie das gelingen kann, ist allerdings schwer zu begreifen. Gefühle sind als Erregungen abgründig ergreifende Atmosphären, deren Abgründigkeit ebenso wie die ungegliederte Weite der ebenso ergreifenden reinen Stimmungen eine umfriedende Hegung auszuschließen scheint. Aber man braucht sich nur entspannt in einen Sessel zu setzen, dessen Rückwand und seitliche Armlehnen den Körper auf drei Seiten umgeben, die Arme aufzulegen und die Augen zu schließen, als ob ein Vorhang nach vorn fiele; dann lernt man so etwas wie ein Urphänomen des Wohnens im angegebenen Sinn kennen. Man hat sich aus dem Ortsraum zurückgezogen; dafür öffnet sich eine von diesem sonst verdeckte Weite, in die man den sogenannten Blick nach innen richten kann, der so heißen mag, obwohl die Rede vom Innern vielen irreführenden Assoziationen ausgesetzt ist. Dieses sogenannte Innere ist eine von Richtungen durchzogene Weite, in der Gefühle und leibliche Regungen freier steigen und der Sitzende ihnen offener steht als sonst, während sie ihm, vielleicht mit Erinnerungen und Erwartungen, durch den Sinn gehen. Dabei gibt ihm die Umfriedung durch Sitz und Augenschluß eine Gestaltungskraft der Besinnung, in der sich diese Impulse klären und ausgleichen können. Um solcher Gunst des Augenschlusses willen halten Beter die Hände vor die Augen, so wie die Römer mit verhülltem Haupt zu beten pflegten, sicherlich auch im Interesse der Umfriedung. Dabei handelt es sich nicht nur um ein Abschalten äußerer Reize; dem würde das Verstopfen der Gehörgänge mit den Fingern im allgemeinen besser dienen, da Geräusch den Menschen noch mit jeder Wendung seines Körpers verfolgt, während er optischen Reizen oft schon ausweichen kann, indem er sich oder auch nur den Kopf dreht. Entscheidend für die Gestaltungskraft, die dem Menschen durch den Anteil des Augenschlusses an der Umfriedung im Gefühlsraum zuwächst, ist vielmehr das Abziehen des Blicks aus der Richtung nach vorn, aus dem Gesichtsfeld, das ortsräumlich und dimensional gegliedert ist; zum Blick, dieser starken und ständigen leiblichen Regung, gibt es an den Ohren keine Entsprechung.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 75-76

„Das Experiment des Augenschlusses im entspannten, umfriedeten Sitzen zeigt, daß sich das Abg'ründige der Umfriedung fügen kann, freilich nicht so, daß es in deren Rahmen fest verschlossen wäre, aber in einem Kommen und Gehen, das verweilende Verdichtung in einem umgrenzten Raum zuläßt, in dem das menschliche Gestalten für das Verfügen an Atmosphären eine Chance hat, während jenseits der Umfriedung, im abgründigen Draußen, auf der Straße, im Wald, auf dem Wasser, die gleichsam rohen Mächte des Gefühls ihr mehr oder weniger unheimliches Wesen treiben. Jedes Wohnen sucht diese Chance zu nutzen. Wohnen ist ein Verfügen über Atmosphärisches, sofern dem Verfügen durch die Umfriedung ein Spielraum gewährt wird; daher ist die Wohnung ein geschützter Raum, in dem der Mensch dank der filternden Umfriedung in gewissem Maß Gelegenheit hat, sich mit den reinen Stimmungen und den abgründigen Erregungen zu arrangieren, indem er sie in einer Hinsicht züchtet, in einer anderen dämpft und so im günstigen Fall für ein schonendes, aber auch intensives und nuancenreiches Klima des Gefühls sorgt. Dafür gibt es Techniken, die spontan entstanden sind und mehr oder weniger unabsichtlich beherrscht werden. Zu den raffiniertesten gehört die in Deutschland ausgebildete Gemütlichkeit. Gemütlich wird eine Wohnung u.a. durch milde Wärme, mildes, weiches, schwimmendes Licht oder Halbdunkel, sonores, dunkles Hintergrundgeräusch wie Knistern und Knarren; zu einem Inbild ausgezeichneter Gemütlichkeit finden sich diese Züge am Kamin zusammen, in dem ein offenes Holzfeuer brennt. Auch schwere, massige, gefurchte Dinge mit eigenwilliger Physiognomie begünstigen die Gemütlichkeit, mit der dagegen das Frostige, Bleiche, Schrille und Grelle unverträglich sindDiese Umstände gemütlichen Wohnens sind unerläßlich für die weiche, fließende Einbettung des Menschen in einen gefühlsträchtigen Hintergrund, der etwas vom abgründigen, nicht ganz geheuren, nicht durchgeformten Draußen in die Wohnung einschleppt, aber so, daß diese durch ihre Umfriedung gegen ein massiv fremdes, unwirtliches, unheimliches Draußen abgehoben ist. Gemütlichkeit ist etwas Nordisches; sie wächst, wenn es draußen kalt und dunkel ist, wenn z.B. am Weihnachtsabend draußen Schnee liegt. Auf solche Weise kommt etwas Zwiespältiges in die Gemütlichkeit; die hintergründige Weite ist zweimal da, aber mit verschiedenen Funktionen: einmal als die abgründige Weite des Draußen, die durch die Umfriedung ausgeschlossen wird, und sodann als einbettender, bergender Hintergrund in der Wohnung, die mit dem Abgründigen gleichsam geimpft ist. Durch diesen Kunstgriff, mit der Umfriedung das Abgründige zu entzweien, gewinnt dieses eine Epiphanie, in der es vertraut und verfügbar wird, während die unheimliche, rohe Windnatur der Erregungen ins Draußen gebannt ist. Ihr aber verfällt der Mensch bei plötzlichem Verlust der Abschirmung durch die Wohnung. Ein tiefsinniges Symbol dieser Katastrophe zeichnet die isländische GrettirSage. Grettir kämpft zunächst im Haus mit dem Riesen Glam, der ihm dort nicht gewachsen ist, ihn aber beim Fall rückwärts durch die Tür mit nach draußen reißt: »In dem Augenblick nun, da Glam fiel, zog eine Wolke von dem Mond fort, und Glam stierte mit den Augen dagegen. Und so hat Grettir selbst gesagt, daß dies der einzige Augenblick war, der ihn mit Entsetzen erfüllt habe. Da wurde ihm so elend zumute, daß er aus Erschöpfung und weil er sah, wie Glam seine Augen rollen ließ, nicht vermochte, sein Schwert zu brauchen, sondern fast zwischen Leben und Sterben lag.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 76-78

„Bisher wurde nur die häusliche Wohnung in Betracht gezogen. Es gibt aber auch andere Wohnungen in meinem Sinn, also umfriedete Stätten einer Kultur der Gefühle, die nicht Seelenzustände sind, sondern abgründig ergreifende Atmosphären. Vorhin habe ich dafür schon 'die christliche Kirche und den Garten benannt. Eine angemessene WÜrdigung der anthropologischen Bedeutung des Gartens ist nur möglich, wenn er als Stätte einer Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum verstanden wird. Maßgebend für das Gelingen einer solchen Kultur ist die umfriedende Grenze; sie behält ihre Bedeutung für den Garten sogar da, wo Zaun und Mauer im englischen Landschaftsgarten des 18. und 19. Jahrhunderts entfallen, denn das wird nur möglich durch die kulturspezifische Erziehung zu einem die objektive Rahmung entbehrlich machenden rahmenden Sehen der Landschaft als Bild, wodurch in anderer Weise auch die Würdigung der ästhetischen Vorzüge des Anblicks des Hochgebirges eingeleitet wird. Statt darauf einzugehen, will ich nur noch ein Beispiel für die Gestaltung ungefllterter Atmosphären zur gefilterten Wohnung im heiligen Raum der Kirche geben: Unter den sinnlichen göttlichen Atmosphären ist vielleicht die mächtigste der Himmel, der im christlichen Sprachgebrauch zur Phrase abgeschliffen ist, während er bei den antiken Heiden, aber auch bei den tibetischen Lamas eine ungeheure numinose Eindringlichkeit besitzt, die sicherlich mit seiner stärkeren Farbigkeit und Strahlung im Süden bzw. im Gebirge zusammenhängt; es handelt sich eigentlich nicht um das in einem beträchtlichen Abstand wie der Rand einer konkaven Halbkugel gesehene blaue Gewölbe, sondern, wie ich mich ausgedrückt habe, um die »Autorität des Leuchtenden in der Weite und Tiefe des Raumes«. (Hans Sedlmayer, Die Entstehung der Kathedrale, 1950, S. 53.) Wie diese Autorität des Leuchtenden im umfriedeten Raum der Kirche der Kultur göttlicher Gefühle zugeführt wird, beschreibt Sedlmayr an den gotischen Kirchenfenstern mit bunter Glasmalerei so: »[ ...] das Licht, das die Kathedrale erhellt, scheint überhaupt nicht von außen zu kommen. Wenn man den Eindruck ganz unbefangen beschreibt, muß man sagen: das Licht geht von den Wänden aus, die Wände leuchten. Der Eindruck rührt davon her, daß die Glasscheiben zwar lichtdurchlässig, aber durch ihre starke Färbung undurchsichtig sind. Der Eindruck ist zwingend bei diffusem Außenlicht und besonders in der Dämmerung. Dann kann nicht einmal das Wissen darum, daß das Licht von außen kommt, das Erlebnis der geheimnisvoll selbsdeuchtenden Wände ändern.« (Ebd..) Die Atmosphären werden im Kirchenraum durch dieselben Brückenqualitäten kultiviert, die auch Wahrnehmung durch Einleibung vermitteln, weil sie ebenso an wahrgenommenen Gestalten aufscheinen wie am eigenen Leib gespürt und dort von den leiblich ergreifenden Gefühlen mobilisiert werden: Beim Leuchten der Glasfenster heften sich die Atmosphären, die Gefühle sind, an einen synästhetischen Charakter; welche enorme Bedeutung andererseits die Bewegungssuggestionen für die Leibverwandtschaft kirchlicher Bauformen besitzen, habe ich, nach Kunststilen differenzierend, für byzantinische, barocke, romanische und gotische Innenräume nachgewiesen, indem ich die betreffenden Bewegungssuggestionen mit der schon erläuterten Methode im Hinblick auf leibliche Dynamik analysiert habe. (Vgl. System der Philosophie, a.a.O..) Indem die Bewegungssuggestionen als Gestaltverläufe in den Kirchenräumen ausgebildet werden, stellen sie je nach ihrer leiblich dynamischen Bedeutung eine spezifische leibliche Empfanglichkeit für Gefühle dar und kultivieren damit die Gefühle im umfriedeten Raum der Kirche.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 78-80

„Das affektive Betroffensein von Gefühlen ist immer leiblich. In Gestalt leiblicher Regungen lassen sich Gefühle als ergreifende Atmosphären im Leib nieder und geben ihm mit erstaunlicher Sicherheit angemessene Gebärden ein. Das geschieht durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Diese sind Brückenqualitäten, die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gestalten wahrgenommen werden. Wo immer sie an Gestalten aufscheinen, können die Gefühle sich in diesen wie in Leibern niederlassen, und zwar als objektive, nicht gespürte Gefühle, wie der »sanfte Geist des Ernstes«, der nach Mörikes Gedicht Auf eine Lampe an der schönen Lampe im fast vergessenen Lustgemach lachend und reizend um die ganze Form ergossen ist; von da aus gehen sie durch leibliche Kommunikation, Einleibung oder auch Ausleibung, als ergreifende Mächte dem kommunizierenden Leib spürbar »unter die Haut«. Das ist der Mechanismus der unmittelbaren, nicht assoziativ geweckten Gefühlsmächtigkeit begegnender Gestalten, egal, ob sie von Natur aus oder durch Zufall oder als Kunstwerk von Menschenhand vorliegen. So werden Atmosphären des Gefühls durch Dinge und Halbdinge vermittelt, z.B. durch Gewitterwolken am Himmel, die Färbung des Sonnenuntergangs, das Mondlicht mit seiner vielbesungenen verzaubernden Kraft, ein stolz schreitendes Pferd, ein holdes oder tückisches Lächeln, einen Klang. Die Beispiele sind ubiquitär.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 84

„Alle wahrnehmbaren Gestalten, in denen sich durch Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere objektive Gefühle niedergelassen haben, bereit, durch leibliche Kommunikation in das affektive Betroffensein fühlender Wesen einzugreifen, bezeichne ich, bloß um einen Namen zu haben, als ästhetische Gebilde. Ich gebe zu, daß dieser Name etwas Irreführendes hat, weil er den Anschein nahelegen kann, daß die Brisanz dieser Gebilde bloß ästhetisch und damit mehr oder weniger unverbindlich sei, wie das freie Spiel der Gemütskräfte in der ästhetischen Urteilskraft nach Kant. Hier ist der Name motiviert durch den Zusammenhang mit Erörterungen, die traditionell in den Themenbereich der Ästhetik gehören. Der Sache nach könnte man, freilich verkehrte Assoziationen anregend, ebenso gut von ethischen Gebilden sprechen. Gefühle stellen nämlich Ansprüche, haben Autorität. Darauf wurde schon eingegangen, als ich vom sozialen Gefühlskontrast sprach, der dadurch entsteht, daß konträre Atmosphären mit ihren entgegengesetzten Ansprüchen in einer gemeinsamen Situation in Konflikt geraten. Das habe ich an der Autorität der Trauer, die Respekt gebietet, aufgewiesen. Noch energischer kann die Autorität der Scham sein, die den Beschämten (im Sinne des von Scham Ergriffenen) nötigt, der Demütigung durch die ergreifende Macht des Gefühls zuzustimmen, und als Atmosphäre auf die beim Beschämten (im Sinne des Verdichtungsbereichs der Scham) anwesenden feinfühligen Mitmenschen eventuell so ausstrahlt, daß es ihnen schon peinlich ist, dabei zu sein. Die Autorität des Zorns fordert Vergeltung und gewinnt dabei unter umständen als Empörung moralischen Rang. Die Autorität der Freude ist ein mitreißender Impuls, der alles zur Einstimmung in den gemeinsamen Aufschwung herausfordert, wie Schiller in seinem von Beethoven vertonten Hymnus rühmt. Alle Gefühle haben Autorität und stellen Ansprüche. Ästhetische Gebilde strahlen sie aus, wie heilige Innenräume, die den Eintretenden unter das Gesetz der Ehrfurcht stellen; ein geflügeltes Wort wurde die Botschaft, die Rilke aus seiner feinfühlig nachspürenden Vertiefung in einen archaischen Torso Apollos mitbrachte: »Du mußt dein Leben ändern.« Wie diese Forderung konkretisiert werden kann, verdeutlicht Adolf Heckel mit dem Schwung der Rilkezeit an der Kunstform des romanischen runden Bogens mit seinem Tragwerk: »Daß Stolz nicht Demut ausschließt, Erdentüchtigkeit nicht metaphysische Hingabe, daß Freiheit möglich ist in Gebundenheit: solche umfassende Ordnungswelt kündet uns die Ruheformel des Runden Bogens. Deutsche Jugend weiß sie zu deuten.« (Der Runde Bogen.) »Mißtrauisch gegen barocken Prunk, zweifelnd vor der Logik gotischer Konstruktionen, weiß deutsche Jugend in Paulinzella oder Alpirsbach sich daheim. Diese schmucklosen Säulen, diese Würfelkapitelle: ›So müßte man sein! So sollte man leben!‹.« (Ebd..)“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 84-86

„Solche Ansprüche ergreifender Atmosphären werden zur Irritation, wenn sie in nicht oder nur prekär ausgleichbaren Widerspruch geraten. Das haben die Griechen an ihren Göttern, die konkretisierende Figuren solcher Atmosphären sind, und an der Tragik oder Zerrissenheit von Menschen, die im Bann des Konflikts solcher Götter stehen, mehrfach in Mythos und Dichtung herausgearbeitet: Orestes zwischen Apollon und den Erinnyen, Hippolytos zwischen Aphrodite und Artemis. Um sich im Konzert der Ansprüche konkurrierender Gefühlsmächte zu behaupten, ohne die Ergriffenheit zu verleugnen - was verlogen und steril wäre -, bedarf der Mensch einer Distanz in der Ergriffenheit, die ihm in der ästhetischen Andacht geschenkt wird. Er bedient sich dabei eines Distanzierungsvermögens, das ich als personale Emanzipation durch Entfaltung der primitiven Gegenwart bezeichne. Es handelt sich um einen Begriff von Gegenwart, der nicht auf einen Zeitpunkt und nicht einmal auf einen bloß zeitlichen Sinn abzielt. Vielmehr gehe ich davon aus, daß sich das wache, besonnene Leben des Erwachsenen normalerweise in der Orientierung an fünf Dimensionen abspielt, die jeweils durch ein polares Paar abgesteckt werden: das räumliche Hier und die Weite, das zeitliche Jetzt und die gleitende Dauer des Dahinlebens und Dahinwährens, Sein und Nichtsein, Identität und Verschiedenheit, das Eigene und das Fremde. Alle Ereignisse eines plötzlichen Betroffenseins, z.B. durch Schreck, Schmerz, Erschütterung, lassen diese Entfaltung der Gegenwart nach fünf Seiten schwinden, indem die ersten Glieder der fünf Polaritäten verschmelzen: Hier, Jetzt, Sein, Identität und die Subjektivität, daß es sich um mich selbst handelt, fallen auf der Spitze des Plötzlichen zusammen, die durch den Einbruch des Neuen aus der gleitenden Dauer abgerissen wird. Diese primitive Gegenwart ist ein seltener Ausnahmezustand, übt aber als Verankerungspunkt des vitalen Antriebs ständig einen unentbehrlichen Einfluß auf die leibliche Dynamik aus, wodurch sich Tiere und Menschen aus dem bloß vegetativen Dahinleben in gleitender Dauer erheben. Sie ist nämlich die Enge des Leibes, auf die hin die Spannung im vitalen Antrieb gegen die Weitung den Leib zur Einheit zusammenhält, und ist daher auch im Latenzzustand noch spürbar oder vorgezeichnet als Verankerungspunkt der Beklommenheit, von der der Mensch, solange er bei Bewußtsein ist, nie ganz loskommt, wohl aber teilweise durch privative Weitung, die als Erleichterung, als Freiwerden im beflügelten Schwärmen, gespürt wird und gerade durch solche Privation die primitive Gegenwart als das Wovon der Abgelöstheit offenbart. Während das tierische Erleben, und das kindliche im frühen Säuglingsalter, ganz von gleitender Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation ausgefüllt wird - für die Eingeschlossenheit in diese Tetrade habe ich den Namen: Leben in primitiver Gegenwart -, entfaltet sich für den normalen Menschen etwa vom Ende des ersten Lebensjahrs an die primitive Gegenwart zu jenen fünf Dimensionen, von denen eine die Subjektivität des Eigenen ist; diese bildet sich durch Prozesse, unter denen personale Emanzipation aus primitiver Gegenwart und personale Regression auf diese hin die wichtigsten sind, zu einer persönlichen Situation - der Persönlichkeit - einer Person aus, und das spezifische Merkmal der Person ist die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, sich selbst für etwas oder etwas für sich selbst zu halten. Solange sie nicht in personaler Regression versinkt, hält sich die Person auf mindestens einem Niveau personaler Emanzipation über der primitiven Gegenwart, aber nicht stabil - wie das reine Ich nach. Husserl und die autonome Vernunft nach Kant -, sondern in labiler und ambivalenter Vielbödigkeit, zusammengefaßt durch den Entwurf auf einen Stil personaler Emanzipation.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 86-88

„Jede lebhafte Ergriffenheit erschüttert das Niveau personaler Emanzipation, auf das die Person mit ihrem Entwurf sich festgelegt hat, und führt daher zu personaler Regression. Im Fall des Ergriffenseins beim Betreten kirchlicher Innenräume, die durch Kunst zum ästhetischen Gebilde der Heiligkeit geworden sind, handelt es sich um den von Rudolf Otto beschriebenen numinosen Schauer des mysterium tremendum et fascinosum, der das Niveau personaler Emanzipation wie den Boden unter den Füßen des Personseins erschüttert. Hier wie im Bann der Ergriffenheit durch ästhetische Gebilde anderer Art gerät die Person in Gefahr, in den ergreifenden Gefühlen ganz unterzutauchen oder auch von deren unverträglichen Ansprüchen zerrissen zu werden. Zur Selbstbehauptung mit personaler Emanzipation verhilft ihr dann das Vorgefühl von einer Art schamhafter Scheu, die die Griechen aidws; nannten, ein mahnendes Vorgefühl der katastrophischen Scham, wie die Furcht im bösen Gewissen ein Vorgefühl der Atmosphäre unpersönlichen Zorns ist und wie Mitleid und Mitfreude, die Sympathiegefühle, Vorgefühle der originalen Trauer bzw. Freude sind.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 1998, S. 88-89

„Die Neue Phänomenologie, die ich konzipiert und ausführlich entwickelt habe, verfolgt die Aufgabe, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen, das heißt, nach Abräumung geschichtlich geprägter Verkünstelungen die unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung wieder zugänglich zu machen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Das Nachdenken der Menschen ist heute durch vermeintliche Selbstverständlichkeiten aus Konventionen und aus Hyopthesen, die im Dienst irgendwelcher Konstruktionen stehen, dermaßen gefesselt, daß die Freilegung der unwillkürlichen Lebenserfahrung umfangreicher Anstrengungen bedarf; sie ist aber von großer Wichtigkeit, weil sie zum Ausweg aus gefährlichen Verengungen und Verstrickungen des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, damit aber auch der Lebensführung, verhelfen kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 7

Philosophie ist Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 9

„Normale Wissenschaften fahnden nach objektiven Tatsachen zur Lösung objektiver Probleme. Philosophie fahndet nach objektiven Tatsachen zur Lösung subjektiver Probleme.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 10

„Die Definition des Phänomens im Sinne der Neuen Phänomenologie lautet ...: Phänomen für jemanden zu einer Zeit ist ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann nicht im Ernst den Glauben verweigern kann, daß es sich um eine Tatsache handelt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 12

„Manche Wissenschaften stehen unter starkem Druck der experimentellen und statistischen Methodik der Naturwissenschaft und brauchen eine phänomenologische Ergänzung ihrer Empirie, weil jene Methodik zu viel davon abstreift; andere eignen sich nicht für naturwissenschaftliche Durchdringung, bedürfen aber statt dessen einer festeren Anbindung, die die Neue Phänomenologie liefern kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 15-16

„Im Gegensatz zu anderen philosophischen Ansätzen orientiert sich die Neue Phänomenologie grundsätzlich an Erfahrung und Anwendbarkeit. “
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 17

„Die unwillkürliche Leebnserfahrung kann nur freigelegt werden, wenn ihre Vorstellungen und Verzerrungen durch geschichtliche Prägungen, die im Normalbewußtsein der heutigen Menschen zu Selbstverständlichkeiten verkrustet sind, auf- und abgearbeitet werden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 19

„Das naturwissenschaftlich-technische und singularistische Denken objektiviert und vereinzelt alles Erfahrbare, auch in der Erfahrung des Menschen von sich. Hume findet sich nur noch als ein Bündel von Perzeptionen. Ihnen ist nicht anzumerken, daß es sich um mich handelt. Wo bleibe ich in einer solchen Welt neutraler Elemente? Diese Frage stellt als Philosoph Johann Gottlieb Fichte. Er gelangt damit dicht in die Nähe der Entdeckung der subjektiven Tatsachen, versäumt sie aber und mauert das Ich in eine Tathandlung ein, die nur sich selber tut. Da er diese Isolierung nicht halten kann, opfert er sie dem Kompromiß der Einbildungskraft, die zwischen und über allen Tatsachen im Zwiespalt von Abhängigkeit und Unabhängigkeit schwebt. Daraus macht Friedrich Schlegel die romantische Ironie als das Vermögen, sich von jedem Standpunkt zurückziehen und deshalb auch jeden einnehmen zu können. Damit eröffnete er das ironistische Zeitalter, das bis heute anhält. Kehrseite der Ironie ist die Angst als Höhenschwindel des Schwebens über den eigenen Möglichkeiten (Kierkegaard). Im 19. Jahrhundert bedurfte das ironische Schweben noch aktiver Leistung; dadurch entwickelte sich der (gelebte und literarische) Typ des Dandys, verbunden mit dem Weltschmerz der Heimatlosigkeit. Der Dandy trägt Masken, unter denen er sich nicht finden läßt; er verharrt mit apathischer Starrheit und gekonnt vorgeführter Gleichgültigkeit am Randes des Treibens der Menschen, nicht mit der Festigkeit des Stoikers, sondern zur Absicherung gegen ein Verfallen, das ihn binden würde. Aus dieser Randlage stößt er in unvermittelter Provokation zu einer Stellungnahme vor, aus der er sich unberechenbar wieder zurückzieht. Diese Anstrengung des Durchhaltens der ironischen Schwebelage hat der Ironist des 20. Jahrhunderts und der Folgezeit nicht mehr nötig. Seine ironische Haltung ist passiv und volkstümlich geworden. Er ist cool. Während das Streben des Christen durch sein Glücks- und Heilsideal straff geschient war (erst recht als Kriegsdienst für Christus im Calvinismus) und diese Führung noch in der Aufklärung nachwirkte, steht der Mensch des ironistischen Zeitalters inzwischen ohne vorgezeichnete Bahn vor dem Angebot unzähliger technischer Möglichkeiten, die ihn vereinnahmen, wenn er sich auf sie einläßt. Sie sind untereinander konstellationistisch vernetzt, für sein Belieben aber isoliert und ausgestreut. Er bringt zur Steuerung durch das ausgestreute Angebot kein Rückgrat, keine Linie mit, da er ironistisch darauf eingestellt ist, sich von allem abwenden und allem zuwenden zu können. Sein Ironismus ist erschlafft zur Passivität der Selbstverstrickung in die Führung durch vernetzte Angebote mit Scheinsouveränität beliebigen Wählens aus ihnen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 26-27

„Außer der antagonistischen Einleibung gibt es die solidarische, bei der ein gemeinsamer vitaler Anrtrieb mehrere verbindet, ohne daß einer sich dem anderen zuwendet. So etwas geschieht bei stürmischem Mut und panischer Flucht einer Truppe, bei rhythmischem Rufen, Klatschen, Trommeln durch den Rhythmus als die Bewegungssuggestion, die einer Sukzession durch ihre Sukzessivität anhaftet, beim gemeinsamen Singen, Musizieren, Rudern oder Sägen, in Massenekstasen usw.. Außer der leiblichen Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs, der Einleibung, gibt es leibliche Kommunikation im Kanal der privativen Weitung; ich bezeichne diese als Ausleibung. Es handelt sich um Trancezustände, in denen die von der Engung aufrecht erhaltene Enge des Leibes in die Weite gleichsam ausläuft. Das kann durch den Blick als unumkehrbare leibliche Richtung in die Tiefe des Raumes geschehen, etwa auf eintönig geraden Straßen, wobei der Autolenker, dessen vitaler Antrieb wenig aktiviert wird, in Gefahr ist, die Kontrolle über sein Fahrzeug zu verlieren, oder gleichsam schmelzend, wie beim Dösen in der Sonne oder beim Starren in Glanz. Das ist eine Kommunikation, in der der Leib absorbiert wird, ein Rückfluß aus der Zugänglichkeit der primitiven Gegenwart in die maßlose Weite, die durch das Ereignis der primitiven Gegenwart zerrissen wird.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 40-41

„Aus der gleitenden Dauer des Dahinlebens und Dahinwährens, ungeschieden nach Dauer und Weite, weiter der sie zerreißenden primitiven Gegenwart, der leiblichen Dynamik und der leiblichen Kommunikation bildet sich eine Lebensform, auf die die Tiere, die Säuglinge und die Dementen ganz und gar angewiesen sind, so daß sie nicht darüber hinauskommen. Ich sage das mit Vorbehalt bezüglich der höheren Wirbeltiere, z. B. der Menschenaffen; allenfalls der empirische Zoologe, vielleicht nicht einmal er, kann Übergangszonen abstecken, in denen die Schwelle verschwimmt. Ich bezeichne diese Lebensform als das Leben aus primitiver Gegenwart. Diese ist nämlich die Quelle, aus der nicht nur die Subjektivität des Sichfindens ohne Identifizierung im affektiven Betroffensein, sondern auch die Identität über die Breite des unübersehbar reichen Lebens aus primitiver Gegenwart ausstrahlt. Auch wir personalen Menschen leben zum großen Teil aus primitiver Gegenwart, nämlich bei allen routinierten, unwillkürlich ablaufenden Verrichtungen, die wir zum großen Teil mit den Tieren gemein haben. Dabei sind wir im Ablauf der Bewegung vor Verwechslungen geschützt, im Gegensatz zu den Kranken, die nach einem Gehirnschaden an Apraxie leiden. An diesem Schutz zeigt sich, daß wir dabei mit Identität - hier erst mit absoluter - und Verschiedenheit vertraut sind. Noch aber fehlt die Einzelheit. Einzeln ist, was eine Anzahl um vermehrt. Identität ohne Einzelheit läßt sich am glatten Kauen fester Nahrung aufzeigen. Der Kauer, Mensch oder Tier, ist beim Kauen mit der Identität der Zunge und ihrer Verschiedenheit von der Nahrung vertraut; deswegen unterläßt er, seine Zunge zu zerbeißen. Einzeln wird ihm beim unwillkürlichen Kauen etwas aber erst, wenn sich ein Bissen als zäh erweist, und auch das wohl nur, wenn er schon eine Person ist. Die Gliederbewegung würde ihre Flüssigkeit verlieren, wenn die Abschnitte einzeln würden, statt ineinander überzugehen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 41-42

„Gleichzeitig mit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (II) entwickelt sich die griechische Geometrie, die den Raum primär als Fläche, in der sie mit Zirkel und Lineal konstruiert, zum Thema macht. Damit legt sie den Grundstein zu der bis heute üblichen Raumvorstellung, der Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes, in dem es außer Flächen Punkte, Linien (Strecken) und dreidimensionale Körper gibt. Alle diese Figuren werden an Flächen gefunden und nur von der Fläche her zugänglich: die Linie als Kante bei Berührung von Flächen oder durch Einzeichnung in Flächen, der Punkt bei Brechung oder Zusammentreffen von Linien, der dreidimensionale Körper, indem berandende Flächen aneinander gesetzt werden und der umfaßte Raum durch Schnittflächen geteilt wird. Das gilt aber nur für den Körper als dreidimensionales Gebilde; die eigentliche Körperlichkeit, die Voluminosität, wird anders (unabhängig vom Dimensionsgrad) erfahren, wie sich gleich zeigen wird. Die Dreidimensionalität kann an gesehenen und getasteten Körpern nur mit Hilfe von Punkten und Strecken bestimmt werden (*), üblicherweise durch Kreuzung dreier gerader Strecken in einem Punkt. (* Das gilt auch für die Anwendbarkeit des abstrakten topologischen Dimensionsbegriffes [von Menger] auf anschauliche Körper; vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 1, 1967, S. 373-391). Während Punkte, Linien und Dreidimensionalien von der Fläche her zugänglich werden, sind Flächen unmittelbar präsent. Zwar werden sie meist als Oberflächen an Körpern gefunden, aber das ist Zufall. Sonne und Mond sind optisch als (wenn auch nicht glatte) Flächen gegeben wie der Regenbogen, und der modernen Technik wird es nicht schwer fallen, glatte Lichtflecken als Flächen ohne Hintergrund in Körpern darzustellen. Die übliche Raumvorstellung geht also von der Fläche aus.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 71-72

„In der Fläche gibt es Stellen (z. B. Punkte), die durch umkehrbare Bahnen (z. B. Strecken) verbunden werden können. An diesen Bahnen kann man Lagen und (umkehrbare) Abstände ablesen und darüber ein System von Orten konstruieren, die sich gegenseitig durch die Lagen und Abstände an ihnen befindlicher Objekte bestimmen, d. h. identifizierbar machen. Der Raum wird verstanden als ein beliebig verdichtbares Netz solcher Orte nach dem Muster eines Koordinatensystems. Es stellt sich heraus, daß er genau dreidimensional ist, d. h. keine höherdimensionalen Gebilde als Punkte, Strecken, Flächen und Körper faßt. Bewegung wird als Wechsel des Ortes bestimmt, Ruhe als Beharren am Ort. Von der Geometrie übernehmen die Naturwissenschaft und der Alltagsverstand diese Raumvorstellung. - Sie ist aber logisch fehlerhaft, weil sie auf einem Definitionszirkel beruht. Die Orte, die durch Lagen und Abstände bestimmt sind, müssen durch Lagen und Abstände zu ruhenden Objekten bestimmt sein. Wenn diese sich nämlich bewegten, würden sich die Lagen und Abstände zu ihnen verändern. Der Ort wäre also ein anderer geworden, und die an ihm befindlichen Objekte hätten den Ort gewechselt, auch wenn sie in Ruhe geblieben wären. Da Ruhe als Beharren am Ort bestimmt wird, wären sie also in Ruhe und nicht in Ruhe gewesen. Sie hätten den Ort gewechselt, sich definitionsgemäß also bewegt, ohne sich zu bewegen. Um diese Widersprüche zu vermeiden, müssen ruhende Bezugsobjekte für die Eichung von Orten durch Lagen und Abstände zu ihnen gewählt werden. Der Ort setzt also Ruhe voraus, Ruhe aber den Ort, wenn sie als Beharren am Ort verstanden wird. Das ist ein Definitionszirkel, der die im vorigen Block skizzierte Raumvorstellung entwertet. Man kann ihn durch Definition des zu Grunde liegenden Ortsbegriffs - eine Aufgabe, die bisher merkwürdig vernachlässigt wurde - noch schärfer herausarbeiten. Ein Ort der angegebenen Art ist ein relativer, durch Beziehungen zu Bezugsobjekten bestimmter Ort. Ich spreche von relativen Orten. Ein System relativer Orte, die sich gegenseitig durch Lagen und Abstände bestimmen, bezeichne ich als einen Ortsraum. F sei die Frist, während deren ein Ortsraum besteht. Wenn es sich um einen absoluten Universalraum im Sinne von Newton und Euler handelt, ist F die Dauer des Universums; wenn der Ortsraum relativ auf ein Koordinatensystem nach Galilei oder Einstein ist, handelt es sich um die Frist, für die das Koordinatensystem festgehalten wird. Ein Objekt ist während einer Frist an einem Ort. Das wäre eine dreistellige Beziehung. Da es bequemer ist, das Amortsein als zweistellige Beziehung zu behandeln, drücke ich mich so aus, daß das geordnete Paar (g; f), bestehend aus einem Gegenstand als erstem und einer Frist als zweitem Glied, an dem Ort ist. Ich sage, daß das geordnete Paar eine Lage und einen Abstand zu einem Objekt hat, wenn sein erstes Glied sie hat. Der relative Ort des Paares (g; f), wobei feine Teilfrist von F (eventuell F selbst) ist, kann dann bestimmt werden als die Menge aller derjenigen geordneten Paare mit einem Gegenstand als erstem und einer Teilfrist von F (die gleich F sein kann) als zweitem Glied, die zu allen während der ganzen Frist F ruhenden Objekten gleiche Lage- und Abstandsbeziehungen haben wie (g; f), d.h. wie g während f. Da dies eine Äquivalenzrelation im mathematischen Sinn ist, wird durch sie dafür gesorgt, daß sich kein Objekt gleichzeitig an mehr als einem Ort befindet. (Zu Äquivalenzrelationen vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band III, Teil 1, 1967, S. 490-496) Von zwei Orten sage ich, daß sie sich in einer Lage und einem Abstand zueinander befinden, wenn dies für erste Glieder an ihnen befindlicher geordneter Paare gilt. Dann gilt für alle Orte des betreffenden Ortsraumes, daß sie sich durch die Lagen und Abstände an ihnen befindlicher Objekte gegenseitig bestimmen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 72-74

„Die übliche Raumvorstellung ist also logisch fehlerhaft. Was ist schiefgelaufen ? Offenbar muß, was Ruhe ist, bei zirkelfreier Einführung einer Raumstruktur von der Fläche aus als schon bekannt vorausgesetzt werden und läßt sich nicht erst danach als Beharren am Ort einführen. Daran zeigt sich, wie irreführend die ausschließliche Orientierung der Raumvorstellung an flächenhaltigen Räumen war. Unter diesen, gemessen an der Komplikation der Struktur, gibt es nämlich die flächenlosen Räume und in diesen eine Ruhe, die nicht von Orten abhängt. Flächenlos ist z. B. der Raum des Schalls, in dem sonore und dumpfe Klänge weit ausladen, schrille Pfiffe sich scharf und schmal zusammenziehen, Bewegungssuggestionen wie der Rhythmus und andere Schallgebärden (Aufstrahlen der Trompete u.a.) Bewegungen vorzeichnen, die mehr oder weniger auf den hörenden Leib überspringen, Höhe und Tiefe der Töne sich ebenso ereignen wie eine Entfernung ohne umkehrbaren Abstand, da man spontan zwar hört, ob ein Schall weiter weg ist als ein anderer, aber nicht wie beim Sehen unmittelbar mitbemerkt, wie weit man selbst weg von ihm ist. Flächenlos ist ebenso der Raum der feierlichen oder drückenden Stille; jene ist weiter, diese schwerer, aber beide sind dichter als die gleichfalls weite zarte Morgenstille. Flächenlos ist auch der Raum des Windes, von dem man getroffen wird, mit einer Bewegung, die frei von Ortswechsel ist, es sei denn, man deutet den erlebten Wind, ein Halbding, in bewegte Luft, ein Vollding, um. Flächenlos ist das unauffällige Rückfeld, das man bei vorwärts gerichteter Tätigkeit durch Zurücklehnen, Dehnen, Biegen unaufhörlich in Anspruch nimmt. Flächenlos ist der Raum des Wetters, den man z. B. erfährt, wenn man aus dumpfer, überfüllter Stube mit befreiendem Aufatmen ins Freie tritt, in eine Atmosphäre, in der sich der spürende Leib reicher als zuvor entfalten kann. Er vollbringt es mit frei sich entfaltender Gebärde, und deren Raum ist ebenfalls flächenlos. Flächenlos ist auch der Raum der spürbaren leiblichen Regungen, z.B. des benommenen Kopfes, des Ein- und Ausatmens; der Frische und Müdigkeit. Schließlich ist flächenlos der Raum des Wassers, wie es dem Schwimmer und Taucher begegnet, sofern er sich nicht optisch orientiert und auch nicht Vorstellungsbilder des eigenen Körpers oder anderer, etwa berandender, Festkörper in das Begegnende projiziert. Im Wasser gibt es keine Flächen, Punkte, Linien, daher auch keine dreidimensionalen Körper, wohl aber erlebtes Volumen, das dem Schwimmer mehr oder weniger Widerstand leistet, gegen den er sich durchkämpfen muß, wenn es ihn nicht sanft trägt. Wasser hat Volumen, das aber nicht dreidimensional ist, sondern dynamisch aus Spannung und Schwellung, die, wenn es sich als sanft tragendes Element darstellt, von privativer Weitung durchsetzt sind. Es ist ein Volumen derselben Art wie das beim Einatmen gespürte, mit einer dem Ausatmen vergleichbaren Chance des Ausgleitens in privative Weitung. Die Übereinstimmung beruht auf dem gemeinsamen vitalen Antrieb antagonistischer Einleibung. Dieses dynamische, nicht dreidimensionale Volumen ist die spontan erfahrene Körperlichkeit, die dem Festen wie dem Flüssigen, aber auch dem Schall und dem spürbaren Leib (z. B. in gespürter Schwere der müden Glieder) eigene Massivität, die zu den geometrischen Eigenschaften dreidimensionaler Gebilde hinzukommen muß, damit sie als vollständige Körper imponieren.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 74-75

„In flächenlosen Räumen gibt es mangels Flächen keine Punkte, Strecken und dreidimensionalen Gebilde, auch keine umkehrbaren Verbindungsbahnen, an denen Lagen und Abstände abgelesen werden könnten, wohl aber dynamisches Volumen mit Bewegungssuggestionen und Richtungen, die nicht umkehrbar sind, sich aber auf den absoluten Ort des spürbaren Leibes beziehen, indem sie von ihm ausgehen oder ihn treffen, wie z. B. die Richtungen von Blicken. Als absoluten Ort bezeichne ich einen Lebensort, sofern er nicht wie der eben difinierte relative Ort in einem Ortsraum durch gegenseitige Bestimmung mit Hilfe von Lagen und Abständen identifizierbar wird, sondern an sich selbst eindeutig als hier im Umfeld bestimmt ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 75-76

„Das Fühlen als affektives Betroffensein von einem Gefühl ist eine leibliche Ergriffenheit, beid er die Atmosphäre am vitalen Antrieb angreift.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 86

„Alle Gefühle sind Stimmungen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 89

„Gefühle haben Autorität, wie ich am feierlichen Ernst, an der Scham und an der Trauer schon belegt habe. Ebenso gebietet Zorn Vergeltung mit einer Aotorität, deren Wucht Kleist an Michael Kohlhaas herausgearbietet hat, die Achtung Zurückhaltung trotz un d mit Zuwendung, tiefes Glück eine (eventuell unadressierte) Dankbarkeit.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 92

„Die Moral unterscheidet sich vom Recht durch eine Verschärfung der Autorität der Gefühle zu unbedingtem Ernst. Der Ernst einer Autorität und dee von ihr gestifteten Verbindlichkeit von Normen bemißt sich an den Niveaus personaler Emanzipation.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 96

„Mit der Moral ist die Religion verwandt. Man kann die Moral ebenso als eine spezielle Religion auffassen wie als ein spezielles Recht.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 97

„Gott ist eine Figur immer nur in der Perspektive einer Person, für die Autorität eines Gefühls durch die Ergriffenheit davon unbedingten Ernst hat, und diese Ergriffenheit ist eine für den Betreffenden subjektive Tatsache. In diesem Sinn ist jeder Gott, wie Luther sagt, mein oder »dein Gott« (Martin Luther, Großer Katechismus, Textausgabe mit Kennzeichnung seinner Predigtgrundlagen, a.a.O., S. 39).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 98

„Nun ist noch ein Wort über die Fläche zu sagen. Die Fläche ist leibfremd. Am eigenen Leib, in Gestalt leiblicher Regungen, kann man keine Flächen spüren. Gerade deshalb leistet die Fläche wichtige Dienste für die Erhebung der Person aus dem Leben aus primitiver Gegenwart. Indem sie sich in der Breite querend dem Blick in die Tiefe des Raumes entgegenstellt, entlastet sie von der Verstrickung in leibliche Kommunikation mit dem Blick. Sie bietet diesem eine Unterlage für die Eintragung von umkehrbaren Verbindungen zwischen Blickzielen. Solche können schon ohne Flächen gezogen werden, z.B. bei der Konstruktion von Sternbildern am Nachthimmel, ohne exakt linear (breitenlos) zu sein, denn breitenlose Strecken tauchen erst zwischen Flächen (als scharfe Kanten) auf. Solange, wie z. B. am Nachthimmel, für die Netze umkehrbarer Verbindungen keine Fläche zur Verfügung steht, ändert sich deren Anordnung bei jedem Wechsel der Zuwendung; erst durch den Eintrag der Netze in eine Fläche wird sie invariant. Damit ist die Möglichkeit zur Konstruktion eines stabilen Ortsraumes gegeben. In diesen kann dann auch der Blickende sich selbst einholen, indem die Fläche durch ihr Queren der Blickbahn Gelegenheit zur Reflexion der Richtung des Blickes gibt, der als leibliche Regung unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt. Indem diese Richtung an der querenden Fläche umgekehrt wird, erreicht die umgekehrte Richtung den eigenen Leib und Körper des Blickenden, so daß dieser in das Netz der Orte des Ortsraumes einbezogen werden kann. Damit ist das perzeptive Körperschema angebahnt, sowie die Einbeziehung des eigenen Körpers und des mit diesem mehr oder weniger übereinstimmend lokalisierten eigenen Leibes in einen umfassenden Ortsraum. Die emanzipierte Person versetzt sich dann als Leib und Körper in eine neutrales System, dem sie auf ihrem emanzipierten Standpunkt gegenübertreten kann, sich selbst gleichsam mit anderen Augen ansehend; wenn sie deswegen freilich glauben sollte, das Leben aus primitiver Gegenwart verlassen zu haben, würde sie sich täuschen. Eine andere Gelegenheit zur Ausbildung des perzeptiven Körperschemas ist das Betasten der glatten Oberflächen des eigenen Körpers, z. B. mit beiden Händen zur Abwehr von Parasiten; so mögen Menschen der Vorzeit, vor Einführung zivilisatorischer Hygiene, den eigenen Körper kennen gelernt haben.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 99-100

„Nach meiner Auffassung definiere ich Philosophie immer als das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in einer Umgebung. .... Sie ist dafür gut, daß es irgend eine Kontrolle darüber gibt für den Menschen, was er gelten lassen muß. Denn das erfährt man nicht durch Informationen, die einem zukommen, mit der Behauptung, danach müßte man sich unbedingt richten. Es bleibt immer die Frage: Was soll ich denn davon halten? Und diese Frage ist die eigentlich philosophische Frage. Inwiefern ist das irgendwie für mich verbindlich, was mir zugetragen wird? Es ist also die Frage der Selbstbesinnung, die aus einer gewissen Beirrung hervorgeht, daß man das nicht als das Selbstverständliche empfindet, was auf einen zukommt, was einem zugemutet wird, daß man sich fragt: Was soll ich davon halten, und wie stehe ich dazu - sowohl in der Theorie wie auch in der Praxis?. Und diese Frage kann überhaupt nicht von einer bloß gegenstandsbezogenen, bloß objektivierenden Wissenschaft geprüft werden. Zwar sucht die Philosophie, wenn sie wissenschaftlich wird, nach objektiven Tatsachen, aber im Hinblick auf subjektive Probleme, diese subjektiven Probleme: Was soll ich damit anfangen? Wie soll ich mich dazu stellen? .... Man muß einfach erst überhaupt einen Standpunkt finden im Zurückgehen auf das, was man selbst gelten lassen muß. Man muß also anfangen bei einer durchschnittlichen Lebenserfahrung oder bei durchschnittlichen Informationen und muß sich herantasten an einen festen Standpunkt durch die Prüfung aller dieser Zumutungen an der Frage Was muß ich gelten lassen?. Und da kommt man letzten Endes auf irgendwelche eigenen Erfahrungen, die dann auch erst den Rahmen vorgeben, die der Umgebung erst einen solchen Umriß geben, daß man sagen kann: An diesen Rahmen kann ich mich halten.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/1), 6. Juni 2010

„Einzeln ist, was eine Anzahl um eins vermehrt. .... Mengen ..., besonders endliche Mengen sind notwendig Mengen der SOWIESO, und hinter SOWIESO ist eine Gattung einzusetzten. Gattung ist irgendeine Bestimmung, wovon etwas ein Fall sein kann. Also: Einzeln ist etwas nur dadurch, daß es Fall einer Bestimmung sein kann, daß es ,etwas als etwas‘, sagte Heidegger, sein kann. Diese Möglichkeit, ein Fall zu sein, eine Gattung zu haben, die kommt erst überhaupt in Sicht, wenn es gelingt, Situationen aufzubrechen. .... Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit. Binnendiffus heißt: es ist nicht alles einzeln darin, sehr oft gar nichts einzeln darin. .... Fast immer haben wir es mit Situationen zu tun. Ein Beispiel ist eine Gefahr, die man im Augenblick erfaßt haben muß, um angemessen zu reagieren, denn wenn man nicht ganz schnell reagiert, ist das Unglück schon geschehen. Da hat man also mit relevanten Sachverhalten der Gefahr, mit den Problemen, den zunächst interessierenden Problemen und vielleicht bei Reaktion hinzukommenden Problemen des Unglücks zu tun und mit Programmen möglicher Rettung. Und das muß man mit einem Schlag erfassen: die Gefahr als eine Situation, die durch diese Bedeutsamkeit zuammengehalten wird, die aber nicht in lauter Einzelbestandteile, einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme auseinandergenommen wird, denn dann wäre das Unglück längst geschehen, wenn man sich die Mühe machte. Das war aber nur eines von Millionen von Beispielen. Wir leben normalerweise immer in Situationen, meistens ganz harmlosen; wir gehen immer durch aktuelle Situationen hindurch; wir leben in zuständlichen Situationen, die nicht von Augenblick zu Augenblick wechseln und diese aktuellen durchdringen. Und diese Situationen, die Bedeutsamkeit der Situationen, die werden aufgespalten mit den Mitteln der Rede, die nicht mehr Ruf und Schrei ist wie bei Tieren, sondern fähig ist, für sich einzelne Bedeutungen herauszuholen, z.B. eine Gefahr zu analysieren, mindestens bruchstückweise, das macht man ja meistens, zur totalen Analyse reicht die Zeit nicht. Oder in anderen Situationen: sich ein Bild von der Situation zu machen, die Situation zu überholen durch andere Kombinationen der Explikate, zu planen. Alles das geht aus dem Vermögen, das dem Menschen seine explikative Rede verleiht, hervor. Dieses Vermögen, das liefert die Gattungen, das liefert die Bestimmungen als etwas, daß etwas nicht nur im Komplex einer Situation irgendwie angesprochen werden kann, wie die Tiere das machen durch Alarmrufe, Lockrufe, Klagerufe, sondern daß es einzeln, als Fall einer Gattung, die aus der Bedeutsamkeit von Situationen expliziert ist, verstanden werden kann. Und das ist grundlegend auch für die Personwerdung, denn indem jetzt die Person sich selbst als Fall auffaßt, das heißt aus den Situationen, in die sie expliziert in satzförmiger Rede, auch sich selbst mit herausholt, versteht sie sich als Fall von etwas und damit als einzeln. Der präpersonale Bewußthaber - der Säugling, das Tier - ist für sich nicht einzeln. Es fehlt ihm nämlich die Fähigkeit, sich als Fall zu verstehen. Einzeln ist nur, was ein Fall ist. Hier aber haben wir den Bewußthaber als eizelnes Subjekt. Das ist schon mal der Anfang der Personwerdung: die Vereinzelung. Dazu kommt jetzt der zweite Schritt: die Neutralisierung. Zunächst, im präpersonalen Leben ist alles subjektiv im vorhin angebenen Sinn. Alle Tatsachen sind subjektiv. Sie sind noch nicht einzelne Tatsachen. Aber im Komplex der Situationen werden sie erlebt, z.B. vom Säugling: der erlebt nicht einzeln, daß er hungrig oder durstig ist, deswegen kann er es auch nicht sagen, aber in dem Gesamtgefühl steckt sehr deutlich, wenn auch nicht explizit als einzelne, diese Tatsache darin, daß es ihm schlecht geht, und zwar in dieser bestimmten Beziehung, daß er unbedingt gerne mal wieder Nahrung bekommen möchte. Alles, was er schon hat an Bedeutungen - Bedeutungen sind Sachverhalte, Programme und Probleme -, aber noch nicht einzeln hat, das ist in diesem Zustand für ihn subjketiv. Da gibt es gar nicht diese Distanzierung durch Abfall der Subjektivität, wodurch objektive Tatsachen entstehen. Wenn viele Tatsachen einzeln sind, viele Dinge einzeln sind und man selbst für sich einzeln geworden ist, dann kann diese Subjektivität auch abfallen, und das geschieht normalerweise im Verlauf des Lebens, und dann entsteht etwas Fremdes, denn eine Sache wird fremd, wenn der Sachverhalt, daß sie existiert, die Subjektivität für mich verliert: das ist die Fremdheit durch Entfremdung, wie ich in meinem neuesten Buch geschrieben habe; es gibt auch eine Urfremdheit, von der ich jetzt nicht sprechen will. .... Dadurch, daß mir etwas fremd geworden ist, bildet sich auf der andern Seite etwas Eigenes. .... Dieses Eigene, das hat verschiedene Seiten, verschiedene Bedeutungen: einerseits ist es dieser Bereich von Bedeutungen, die subjektiv bleiben, wobei man damit rechnen muß, daß es viele Grauzonen gibt, nicht alles ganz subjektiv ist. Ganz subjektiv, so daß überhaupt keine Distanzierung, keine Neutarlsierung darin ist, ist eigentlich nur das Erleben in schweren Träumen. Es gibt sehr viele Träume, die ... außerordentlich belastend sind, obwohl es sich oft um Banalitäten handelt. Man kommt nicht weiter. Man ist in irgendeiner lächerlichen Bedrängnis mitten im Traum und findet keinen Ausweg und ist dann froh, wenn man aufwacht .... Zum Beispiel der Examenstraum: Der alterende Mensch fühlt sich plötzlich wieder als Schüler oder Student und muß ein Examen bestehen und ... kann es nicht. Das ist doch ganz schrecklich. Dann wacht er auf, und es ist ganz harmlos. In solchen Situationen kommt man von der Subjketivität der Tatsachen, die schon einzeln sind, aber nicht neutralisiert, gar nicht herunter bis zum Aufwachen. .... Die Enttäuschung ist ein wunderbares Beispiel für die Neutralisierung. Eine wichtige Rolle im Leben des reifenden Menschen spielt die Enttäuschung. Enttäuschen und überraschen können Sie auch Tiere, aber wenn das geschieht, dann reißt einfach eine Situation ab für das Tier, und es bildet sich eine neue. Der Mensch hat die ungeheure Chance, daß sich durch die Enttäuschung eine Vereinzelung und Neutralisierung einstellt: man merkt erst, wie gut man es hatte, denn man wußte es noch nicht; man lebte in einer Situation, in der eigene Wünsche erfüllt wurden; man kannte vielleicht nicht einmal die eigenen Wünsche; jetzt ist man enttäuscht; diese Situation bricht auf; man spürt, man merkt jetzt, was einem fehlt, das heißt: die entsprechenden Sachverhalte und Programme werden einzeln; neue Probleme tauchen auf, die bisher gar nicht da waren. .... Erst mal tauchen neue Sachverhalte als Tatsachen auf, mit denen man sich abfinden muß, dann tauchen neue, und zwar einzelne Programme auf, wie man sich damit arrangieren kann, und alles das ist eine Chance der Vereinzelung, aber auch der Neutralisierung, wodurch etwas fremd wird, denn mit der Enttäuschung ist ein starkes Fremdwerden verbunden: das, was einem so lieb war, wird einem gewissermaßen fremd, weil es nicht mehr ist; das, womit man jetzt neu zu tun hat, das fällt einem auf als störend und fremd, womit man sich abfinden muß. Man muß wieder nach Anknüpfungspunkten suchen, um das Eigene hineinzusäen in das, was jetzt erst einmal fremd scheint, um etwas zu resubjektivieren. Hier haben wir also das Ineinandergreifen von Vereinzelung und Neutralsierung aus Anlaß der Enttäuschung, ... wodurch die Enttäuschung viel fruchtbarer ist als für das Tier. Da haben wir also einen solchen Prozeß, ... ein Hin und Her ... zwischen ... Rückzug und Wiederkehr; der Rückzug von dem, was subjektiv war, jetzt fremd oder als Bedeutung neutral geworden ist. Und das ist personale Emanzipation, wenn man also Abstand nimmt, wenn man versachlicht und dadurch aber zugleich sich auf etwas zurückzieht, was als eigen festgehalten wird. .... Es geht ... nicht, sich in den bloßen Abstand zurückzuziehen im Sinne personaler Emanzipation - so wichtig das ist, um überhaupt etwas Eigenes abgrenzen zu können -, man muß auch wieder resubjektivieren. .... Zweierlei: 1. die personale Emanzipation in diesem Sinn, daß man Abstand nehmen kann, neutralisiern kann, vereinzeln kann, wodurch das Eigene und das Fremde auseinandertritt; 2. die personale Regression als Resubjektivierung, wodurch das wieder zusammenfließt, das Eigenen nicht mehr so gut vom Fremden abgehoben werden kann, sondern man in einem unmittelbar Betroffensein wieder stärker aufgeht. Und das beides wird ... von der Natur besonders vorgeprägt und den Menschen zugänglich gemacht durch die beiden Reaktionen des Lachens und des Weinens. (Heinz Becker: ,Also, es gibt den Wellenschlag der personalen Regression und der personalen Emanzipation, dem der lebendige Mensch nicht entweichen kann, auch wenn er das will. Nicht? Also, Sie unterstreichen lebendig den Satz ›Durch Schaden wird man klug‹.‘) Sagen wir mal: die personalen Menschen; das peronale Leben ist gebunden an dieses Zusammenwirken von Regression und Emanzipation.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/4), 6. Juni 2010

„(Christoph Demmerling: ,Sie haben die Bedeutung der satzförmigen Rede im Zusammenhang mit der Reifung der Person betont. Könnte man nicht sagen, daß grundsätzlich unser gesamtes Erleben sprachlich vermittelt ist, daß selbst die einfachsten körperlichen Eindrücke wie Schmerzen im Grunde sprachlich vermittelt sind? Zwar ist es so, daß der Schmerz als Schmerz sich im Leben eines sprachlichen Wesens nicht so sehr unterscheidet vom Schmerz im Leben eines nicht-sprachlichen Wesens. Aber bei sprachlichen Wesen ist der Schmerz immer schon eingebettet in Befragungen: Was ist das für ein Schmerz?, Muß ich zum Arzt?, Wie schlimm ist das?. Das heißt: Unsere scheinbar unwillkürlichste Regung scheint noch in ein Netz von Sprache hineingespannt zu sein. Vorsprachliche Bedeutsamkeitsbezüge scheinen immer schon auf sprachliche Bedeutungen bezogen zu sein. Ich würde hier sogar von einem apriorischen Perfekt der Artikulation sprechen. Die Rede ist nicht nur gliedernd, wie Sie es gesagt haben, sondern sie ist artikulatorisch stiftend, während Sie auch im Fall von sprachlichen Wesen noch so einen Bereich des Vorsprachlichen eingeräumt haben.‘) Diese Sprachlichkeit liegt insbesondere im personalen Verhalten in der Tat vor.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/5), 6. Juni 2010

„Jegliche personale Kommunikation beruht auf dem, was ich nenne leibliche Kommunikation. Und die leibliche Kommunikation hat die Grundform der Einleibung. Es gibt auch noch den Begriff der Ausleibung, aber der ist hier nicht wichtig. Die Einleibung besteht einfach darin, daß dieser vitale Antrieb, der normalerweise der Motor des Leibes auch schon der einzelnen Person ist, auch gemeinsam sein kann. Er kann also auf den einzelnen Leib der einzelnen Personen übergreifen und sie zusammenziehen mit anderen, nicht nur Leibern, sondern sogar mit leiblosen Gegenständen. .... Auch das Gespräch findet immer im Sinne einer solchen Einleibung statt, und zwar ist das eine andere, eine wechselseitige Einleibung mit fluktuierendem Wechsel der Dominanzrolle, immer in einem selben gemeinsamen Antrieb als Engung und Weitung. Derjenige, der die Rolle der Engung übernimmt, der fesselt gewissermaßen den andern, der ist dominant. Und daß das Gespräch auch von dieser Art ist, fast jedes Gespräch, das sieht man an der Bedeutung des Blickwechsels .... Man braucht also immer die Resonanz des anderen. Zunächst, wenn das Gespräch eingeleitet wird, wenn man was sagt, ist man in der Rolle des Unterlegenen. Es hängt nämlich vom Partner ab, ob man bei ihm ankommt, oder ob er einen kalt ablaufen läßt. Man braucht ein Signal, z.B. des Blickes oder ein sonstiges Signal, um in Führung zu gehen. Jetzt nämlich hat man dem andern etwas zu sagen. Der schnappt ein. Er hängt seinerseits an einem. Und das bleibt nicht dabei. Wenn es nicht - wie jetzt - entartet zu einem längeren Vortrag, wie ich das mache, sondern wenn es ein flüssigen Gespräch gibt, dann nimmt man immer wieder wie beim Ballspiel gegenseitig Aktion und Reaktion auf. Es entwickelt sich ein gemeinsamer Antrieb. .... Aus solchen Einleibungen, wie im Gespräch etwa, bilden sich dann gemeinsame Situationen aller Art, und zwar nicht nur solche aktuellen Situationen. Ein Gespräch ist eine aktuelle Situation antagonistischer Einleibung, wo in jedem Augenblick die Situation anders werden kann. Man kann sie von Moment zu Moment verfolgen. Darin bilden sich zuständliche Situationen. Viele zuständliche Situationen hängen in jedes Gespräch hinein: die Standpunkte der Beteiligten, die Sprache, in der man spricht, die Konventionen, die allgemeine, z.B.- politische oder wirtschaftliche oder Börsenlage und alles, was im Hintergrund steht; und es bildet sich eine auf die Beteiligten zugeschnittene zuständliche Situation. Zuständlich sind Situationen, deren Verlauf man nur über längere Fristen hin verfolgen kann. Und von dieser Art ist die zuständliche personenbezogene Situation: wie die Leute miteinander auskommen. Das wirkt sich nämlich auf das nächste Zusammensein auch wieder aus. Andererseits kann eine Unterbrechung gewaltig wirken, wenn man zwischendurch zu Abend gesessen hat und setzt sich wieder zusammen: dann ist diese personenbezogene zuständliche gemeinsame Situation, ohne daß man von Augenblick zu Augenblick ihre Veränderungen nachvollziehen könnte, insgesamt eine andere geworden. Solche zuständlichen Situationen bilden sich aus aktuellen Situationen, z.B. ist eine Sprache eine zuständliche Situation, beladen mit einer binnendiffusen Mannigfaltigkeit von unendlich vielen Programmen, wie man sprechen kann, wenn man die Sprache gut kann - das sind die Sätze, gleichsam Rezepte wie in einem Kochbuch, aber unterschieden vom Kochbuch durch das Binnendiffuse der Mannigfaltigkeit, das zur Situation gehört. Niemand mustert erst die Sätze Stück für Stück, um sie dann auszusprechen. Das ginge gar nicht. Auch nur um sie zu mustern, müßte man sie schon mindestens still und stumm für sich aussprechen. Da haben wir eine solche zuständliche Situation. Und die Menschen haben eben gegenüber den Tieren, die nur in solchen Situationen leben können, aktuellen und auch zuständlichen - die Tiere sind ja orientiert z.B. über die Rangverhältnisse in der Gruppe, das ist eine zuständliche Situation, in der das Tier lebt -, aber der Mensch kann eben auch die Situationen auflockern, er kann explizieren, und aus den Explikaten wachsen neue Situationen hervor. Und so werden also die Situationen von persönlicher Stellungnahme, die einzelnes herausgreift und so weiter, immer wieder modifiziert und auch bereichert. So kommt es zu diesen komplizierten gemeinsamen Situationen auf personalem Niveau, wo alles möglich ist, von Freundschaften, Feindschaften, Liebschaften, Diskussionsgemeinschaften, Parlamenten ... - alles das sind also mehr oder weniger aktuelle Situationen in darauf zugeschnittenen zuständlichen Situationen, die da hineinragen. Das sind also sehr viele Möglichkeiten ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/5-6), 6. Juni 2010

„(Christoph Demmerling: ,Haben wir zuerst die Einzelsubjekte und gelangen von dort aus zu den anderen? Das ist ja ein sehr klassischer Gedanke. Oder muß man nicht darüber nachdenken, ob es nicht genau umgekehrt verhält ...?‘) Ganz richtig. Tatsächlich. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Ganz richtig. Der Mensch beginnt natürlich wie das Tier. Er beginnt präpersonal. Der Säugling beginnt präpersonal in einem Wechsel aktueller Situationen, die in zuständliche Sitationen eingebttet sind. Es ist also ständig ein Milieu da - sozusagen -, das nicht von Augenblick zu Augenblick wechselt: Aber darin gibt es aktuelle Situationen. Mal ist er zufrieden, dann mal unzufrieden. Aus diesen gemeinsamen, keineswegs persönlichen Situationen wächst ja eben erst allmählich die persönliche Situation hervor durch diese Emanzipation und Regression. Dann ... bildet sich das Eigene und das Fremde. Das Wichtige ist nur, daß gerade durch diese Explikation ungeheuer Gelegenheit zur Schaffung vieler neuer Situationen gegeben ist. Die aktuellen Situationen, in denen man lebt, werden durch die zuständlichen persönlichen Situationen der Beteiligten mannigfaltig modifiziert, wobei diese zuständlichen persönlichen Situationen wieder in zuständliche überpersönliche Situationen eingebettet sind, die ihrerseits aber letzten Endes irgendwann aus aktuellen Situationen und aus der Explikation aktueller Situationen hervorwachsen. Es wachsen unter der Hand aus aktuellen Situationen, ohne daß sie besonders eingesetzt werden müssen, lauter zuständliche Situationen, z.B. Sprachen, hervor.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/6), 6. Juni 2010

„(Heinz Becker: ,Das heißt: Sie bestreiten diese Reduktion auf den Informationskanal, wie man das heutzutage sehr oft hört, daß eine menschliche Beziehung auf einen Informationskanal reduziert wird. Für Sie ist das eine gmeinsame Situation, die ungeheuer viel mehr enthält, als was man mit einem Informationskanal ausdrücken könnte. ....‘) Ja. Ein Gespräch besteht nie oder kaum je, obwohl es solche Fälle auch gibt, aber ein eingehendes Gespräch besteht nicht etwa im Austausch von Mitteilungen, sondern besteht in der gemeinsamen Arbeit an der Explikation einer gemeinsamen Situation, in der aber sehr viele Situationen drinstecken. Die gemeinsame Situation ist nicht nur eine aktuelle Situation, wo man dann nur das Aktuelle daran ein bißchen drehen müßte, damit es anders wird - das ist übrigens der Grundfehler des Neurolinguistischen Programmierens (NLP; HB): zu denken, daß man immer nur an aktuellen Situationen als solchen arbeiten könnte und damit etwas erreichte, sondern die sind immer beladen mit hintergründigen zuständlichen Situationen (Heinz Becker: ,mit der Lebensgeschichte zum Beispiel‘), zum Beispiel mit der Lebensgeschichte, zum Beispiel mit dem Thema, das gerade zur Explikation ansteht und in vielen Fällen schwer zu fassen ist. Manchmal drücken sich die Leute auch herum, manchmal aber holen sie auch zuviel heraus, oder sie legen die falschen Maßstäbe an. Ein wunderbares Beispiel ist der von Goethe parodierte Mittler in den ,Wahlverwandtschaften‘, der immer in die Situationen hereinkommt mit sehr vernünftigen, aber abstrakten Maßstäben und aus der Situation immer das herausholt, was sie vollkommen zerstört, aber regelmäßig, weil er immer seine vernünftigen Maßstäbe hat: die passen fast immer, nur nicht gerade jetzt. Dadurch richtet er immerzu Unglück an mit den besten Absichten. Also eine Paraodie der zu rationalistisch verstandenen Aufklärung. Da sind soviele Hintergründe, die man berücksichtigen muß, etwa in Goethes Romanen: was mit den Personen alles schon geschehen ist, wo die wunden Punkte liegen und dergleichen. Und das kann man nicht durch einen bloßen Informationsaustausch erreichen. Dahinter stecken also sehr viele Situationen der allgemeinen Lage, die persönliche Situation, das, was die persönliche Situation schon mit sich bringt an irgendwelchen Einbettungen und Rücksichten auf den Stand, auf die Familie, auf die sonstigen Verbindungen, es kommt also die allgemeine Lage, die Beunruhigung, zum Beispiel von der Politik oder von der Wirtschaft her. Alles das fließt ein in die Art und Weise, wie die Menschen jetzt zusammen sind und was jetzt sozusagen gesagt werden will. Daran arbeiten beide. Es war der Fehler der Psychoanalyse, diese Verklammerung, diese Verschränkung der Teilnehmer des Gesprächs auseinanderzunehmen in einen Übertragung und einer Gegenübertragung. .... Im Gegenteil: Von vornherein, wo die Menschen zusammenkommen, stecken sie schon in einer Situation, wo jeder auf den andern übertragen ist - dadurch, daß sie beide etwas Gemeinsames haben, an dem sie arbeiten müssen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/6), 6. Juni 2010

„Die Bildung des Rechts setzt ein bei der Erfahrung des Unrechts. .... Empörung ist eine besondere Form von Zorn, die energsich besteht auf der allgmeinen gültigen Berechtigung dieses Zorns und der Forderung allgemeiner Anerkennung. .... Aber eigentlich ist jeder Zorn ein Rechtsgefühl.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/6), 6. Juni 2010

„Ohne Rechtsgefühle kein Pathos des Rechts, und ohne Pathos des Rechts kein Recht. Denn wenn Sie das Pathos nicht drin haben - daß sie sagen: Dies ist Recht, und Recht muß Recht bleiben! -, wenn Sie diesen Spruch nicht mit energischer Betonung aussprechen können, dann kann alles als Recht deklariert werden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/6), 6. Juni 2010

„Das Leben wird immer programmgeleitet - bloß bei allen Tieren und auch den Säuglingen nicht von einzelnen Programmen geleitet. Weil die noch nicht vereinzeln können, haben die auch keine mögliche Stellungnahme zu den Programmen, sondern unterliegen ihnen ohne jeden Spielraum. Der Mensch hat, wenn er Person geworden ist, weil er vereinzeln kann, immer einen Spielraum.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Einführung (I/7), 6. Juni 2010

„Das Göttliche ist das Zufälligste.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Theologie, 6. Juni 2010

„Und dann gibt es eben auch den Typus der zwiespältigen oder der spältigen Mannigfaltigkeit.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Logik, 6. Juni 2010

„Jedes Einzelne tritt ein, wenn verschiedene Gegenstände um Identität um denselben Gegenstand - Gegenstand im allgmeinsten Sinne -, denselben Etwas (damit das nun ja nicht zu konkret auffaßt, daß das irgendwie handfest oder gegenständlich sein müßte), also um verschiedene Etwasse, um verschiedene Identität mit demselben Etwas konkurrieren, da widerfährt jedem Menschen in seinem Leben.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Logik, 6. Juni 2010

„Ich bin jetzt ein Greis; ich war ein Baby; ich war ein Knabe; ich war ein Jüngling; ich war ein Mann in gereiften Jahren. Wenn man jetzt fragt ,Wer ist denn dieser Hermann Schmitz eigentlich?‘, und man sagt ,Das ist einfach ein Greis und weiter nichts‘, wäre das doch ganz falsch. Es sind doch ganz verschiedene Individuen, die um Identität mit mir konkurrieren. Da ist der kleine Junge, das Hermännchen, das mit Gisela und Puhts und mit meiner Schwester Isabella gespielt hat, viel kleiner als die drei Mädchen, und dann ist jetzt der Greis daraus geworden, es sind dazwischen ganz viele Zwischenstadien, verschiedene Individuen. Wer bin ich? Diese Individuen konkurrieren um Identität mit mir. Das ist eine Mannigfaltigkeit vom spältigen, vom zwie- oder vielspältigen Typ.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Logik, 6. Juni 2010

„Man kommt ..., obwohl man eine kleine Ausnahme für den Spezialfall des ausgeschlossenen Dritten machen muß, die aber widerspruchsfrei bleibt, mit der Zweiwertigkeit der Logik aus, wenn man die Spältigkeit des Materials, worüber man spricht, anerkennt. Und das haben die Logiker nicht gemacht. Und das will Quine nicht. Denn dann kommt er nicht mit seiner glatten ,No Entity Without Identity‘, mit der Voraussetzung, daß alles einzeln ist, ... nicht mehr durch, weil es ... zwiespältige Dinge in der Natur gibt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Logik, 6. Juni 2010

„(Henning Hintze: ,Mathematik ist die Universalsprache der Wissenschaften, welche die Weltenkonstellation abbilden möchte. Die Mathematik funktioniert um so besser, je abstrakter diese Begrifflichkeit ist. Andererseits ist es so, daß sie sich damit immer weiter von der Lebenswirklichkeit und von natürlichen Erfahrungen entfernt. Sehen Sie da einen Bedarf für eine Reform oder für eine Kritik?‘) Nein. Ich sehe gar keinen Bedarf. Denn ich bin selbst ein Freund hochabstrakter Begriffsbildungen, weil die nämlich dem Denken eine Beweglichkeit verschaffen, die sonst nicht vorhanden wäre. .... Insofern bin ich vollkommen zufrieden mit der abstrakten Mathematik. Nun haben wir ja nicht nur eine abstrakte Mathematik, sondern auch eine formale Mathematik. Der Mathematiker von heute will gar nicht mehr - seit Hilbert - sagen, worüber er eigentlich spricht: das ist irgendetwas, und wenn es gewisse Bedingungen erfüllt, dann gelten auch noch andere Sätze, und die Modelle muß man nachträglich finden. Das ist auch an sich nicht zu beanstanden. Das kann eine gute Hilfe sein, die die Mathematiker den Denkern leisten, um sie als Modelle anzuwenden. Aber es ist eine Verführung, sich nur noch für die Form der Verknüpfung zu interessieren. Das ist der verführerische Konstellationismus: Wir legen uns die Welt als ein Netz zurecht, das beliebig umgenüpft werden kann. Und dann findet man nicht mehr, woraus man eigentlich das Netz schöpfen soll. Da habe ich eine gewisse Sorge: daß leichtsinniger Umgang, nicht mit der Abstraktheit, sondern mit der Formalisierbarkeit der Mathematik, leichtsinniger Umgang damit, einen naiven Optimismus des Umkonstruierens ermutigen könnte. Aber es ist nur eine Gefahr, auch kein Vorwurf gegen die formale Mathematik. Und die mathematische Abstraktion in allen Ehren: Ich bin als Phänomenologe überhaupt kein Feind der Mathematik. Man darf nur keine Ideologie, keine Weltanschauung (hier fehlt das unausgesprochen gebliebene Vollverb! HB): Mit dieser Methode können wir einfach alles machen. Dann ist man verloren.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Logik, 6. Juni 2010

„Diese totale Weltbeherrschung ist erstens eine Fiktion, und zweitens ist sie auch prinzipiell unmöglich. .... Wenn ich recht habe mit meinem inzwischen schon mehrfach formulierten Beweis dafür, daß es keine Sache gibt, von der sämtliche Bestimmungen einzeln sind. Wenn alle Bestimmungen einzeln wären, dann wäre alles unbestimmt, jede Bestimmung unmöglich.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Logik, 6. Juni 2010

„Dieses Denken der Vollendbarkeit der Digitalisierung beruht auf dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung, den Kant eingeführt hat, der besagt, daß jedem Etwas von jeder beliebigen Bestimmung entweder diese zukommen muß oder diese fehlen muß. Das ist nicht der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Denn der Satz vom ausgeschlossenen Dritten muß mit der Unentschiedenheit und mit der Spältigkeit umgehen. Man muß nur den Gegenstandsbereich weit genug fassen, dann bleibt der anwendbar, nur eben auf das Zweifelhafte, in seiner Zweifelhaftigkeit. Das kann man aber durch leichte Umformulierung erreichen. Dieser Grundsatz der durchgängigen Bestimmung, der ist falsch. Und das wäre das Axiom der durchgängigen Digitalisierbarkeit und Zersetzbarkeit der Situationen. Das wäre der Grundsatz .... Und da dieser Grundsatz falsch ist, ist die Digitalisierung nicht zur absoluten Perfektion zu bringen. Jede Sache hat Bestimmungen, die nicht einzeln sind.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Logik, 6. Juni 2010

„(Robby Jacob: ,Lieber Hermann, ich bin ja vom Beruf Arzt und Psychiater, und du hast mich aber überzeugt, daß die Psyche ein Konstrukt ist, an das wir alle sehr gut gewöhnt sind, das aber irgendwie gar nicht so günstig ist, wenn man über die Dinge nachdenkt, über die wir eigentlich nachdenken wollen. Und das hat bei mir dazu geführt, daß ich mein Fachgebiet doch jetzt etwas anders betrachte, eher als Bemühung um eine Heilkunst einer Person, die ihre Grundlag eben nicht in der Psyche, sondern eher im Leib, in der persönlichen Situation, ... auch in gemeinsamen Situationen, ... in der persönlichen Welt, vielleicht auch in der Welt überhaupt .... Ich möchte auf das Thema Forschung, vielleicht im Sinne von Evaluation oder so etwas, kommen. Und da habe ich sehr viele Fragen, weil mir da eigentlich gar nichts mehr klar ist, wenn ich wirklich jetzt phänomenologisch denke, so, wie ich es von dir lerne. Und ich möchte gerne das Gespräch nutzen, um vielleicht eine Idee zu haben, wo man anfangen kann mit dem Denken. ....‘) .... Reibungen ... gehören zur normalen Persönlichkeit und werden krankhaft nur, wenn entweder der Mensch oder seine Umgebung das als störend empfinden. Wann tritt das ein? Da gibt es kein verbindliches Maß, sondern da muß man abwarten, bis die Leute einigermaßen zufrieden sind, und dann sind sie geheilt. .... (Robby Jacob: ,Also wenn ich mir die Forschung angucke in unserem Fachgebiet, dann wird die ja mit Methdoien unternommen, die eigentlich aus der Pharmakoforschung kommen oder vielleicht auch aus der experimentellen Psychologie, und das sind ja ganz andere Wissengebiete, die sich ja eigentlich mit ganz anderen Fragestellungen beschäftigen, und man braucht ja inzwischen schon Universitätsverbünde, um überhaupt die Fallzahlen an Patienten zusammen zu bekommen, um irgendwie noch ernst genommen zu werden, das kann man ja eigentlich gar nicht tun. Wenn ich mir überlege, was ich von dir gelernt habe dazu, habe ich die Idee, daß eigentlich an einem einzigen Fall darzulegen sein müßte, daß eine Behandlung tatsächlich funktioniert und daß ein anderer so etwas auch machen sollte. Hat deiner Meinung nach so etwa wieder eine Chance?‘) Ja, sicherlich. Es ist natürlich in der Psychiatrie die gefährliche Tendenz: man will Naturwissenschaft sein; man will schematisieren; man will vergleichbare Fälle schaffen; man will alles für die Statistik tauglich machen. Und das geht deswegen nicht, weil ... man für die Satistik Merkmale einer ganz bestimmten Art braucht: die müssen bequem, intermomentan und intersubjektiv identifizierbar sein, die müssen meßbar und selektiv variierbar sein, so daß ich ein Merkmal variieren und die anderen festhalten kann und dann sehen, was bei einer Intervention herauskommt. Das ist das physikalische Verfahren, und das geht in dem Augenblick schon nicht mehr, wo man mit der Sprache arbeitet, denn die Sprache hat ihre Bedeutungen, und die Bedeutungen können nicht so standardisiert werden. Also das ist die Unmöglichkeit, die Geisteswissenschaften auf das Niveau der Naturwissenschaften zu bringen. Das beginnt mit dem Augenblick, wo sprachliche Daten berücksichtigt werden müssen. Was meint er eigentlich damit, wenn er irgendwas sagt. Da barucht man ... eine andere Methode, die abstrakte, sogar sehr abstrakte Begriffe hat, aber immer wechselseitig dem Fall angepaßt neue ,Zusatzdüsen‘ - möchte ich sagen - in Gestalt eigentümlicher, besondernder Merkmale, besonderer Differenzen da einführt, und da muß man sich an den Einzelfall herantasten. Und deswegen ist da die statistische Schematisierung sehr gefährlich (Robby Jacob: ,abwegig sogar‘). .... Man braucht Typen, an denen man sich orientiert, ... Idealtypen, reine Formen, zwischen denen man dann wählen kann, welche ,Legierung‘, wie schon Kretschmer sagte, geade vorliegt. Und das Denken in Typen wird den Leuten heute weitgehend abgewöhnt durch das Denken in Merkmalen, die statistisch gemessen werden können. .... Man braucht die Orientierung an Typen. .... Wenn man sich an solchen Typen orientiert, dann kann man den Einzelfall entsprechend ... gerecht werden ... unter allgemeinen Gesichtspunkten. Man muß hier wirklich mehr goetheanisch denken .... Goethe hatte ja auch so eine Idee, betsimmte reine Typen der Pflanzen, die Urpflanze und dergleichen, Urphänomene, und daran muß man sich orientieren, und das kann man nicht ersetzen durch leicht ablesbare Merkmalkombinationen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Psychiatrie, 6. Juni 2010

„(Robby Jacob: ,Meine Kollegen und ich sind gerade sehr damit beschäftigt zu eruieren, welche praktischen Möglichkeiten sich ergeben, wenn wir dir folgen und leibliche Erregungen und Gefühle als etwas völlig anderes betrachten - das haben wir von dir gelernt -, die Gefühle nicht als Privatangelegenheit, die jemand aus sich hervorbringt und dann hat, sondern Gefühle als Atmosphären, die einen ergreifen, als räumliche Atmosphären, die einen leiblich ergreifen, ... zu durchdenken und in der Behandlung zu beachten. Und da machen wir zur Zeit sehr interessante Erfahrungen. Wir beschäftigen uns zur Zeit exemplarisch mit dem Gefühl der Scham, das mir da sehr viel Potential zu haben scheint für therapeutische Überlegungen, da es ja die Scham mit sich bringt, daß der Richtungsraum sich umdreht und jemand tatsächlich nicht mehr unbefangen von der Enge in die Weite leben kann, sondern auf einmal alles auf ihn zukommt und er in die Enge gedrängt ist, permanent, sich nur noch irgendwie ein bißchen behaupten kann und zur Passivität gedrängt wird, sich selbst nicht mehr retten kann, auch keine Ideen mehr hat , und das erscheint uns doch ein sehr häufiges Phänomen bei unseren Patienten, teilweise über viele Jahre Hauptproblem. Und dann haben wir uns überlegt, was denn eigentlich das Gegenmittel wäre, und - das kann man bei dir auch nachlesen -, das Gefühl, das ja genau andersherum die Eigenschaften hat, wäre der Stolz zum Beispiel. Wir haben dann begonnen, darauf zu achten, bei unseren vielen Patienten, die tatsächlich in Scham gefangen sind, aktiv dafür zu sorgen, daß sie wieder Zugang zu Solzerlebnissen haben, ... und wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht .... Ich finde, wie schnell und prägnant man das sein kann in einer Behandlung, wenn man diesen Dingen folgt, undf allein berücksichtigt, daß Gefühle Atmosphären sind, die einen ergreifen, und auch heilen können, wenn man sie wieder verfügnar macht.‘) .... Sowohl Scham als auch Stolz unterscheiden sich von anderen Gefühlen dadurch, daß sie sehr stark auch zusammenhängen mit der Personalität. Man kann also sehr zweifeln, ob es auf präpersonalem Niveau schon so etwas wie Scham gibt. Stolz eher. Jedenfalls empfinden wir schon ein Pferd unter Umständen als stolz, während ein Pferd, das sich schämt, eigentlich nicht vorzustellen ist. Man hat also im Grunde keine rein vitale Scham, aber unter Umständen einen vitalen Stolz. Trotzdem sind die Rollen bei Scham und Stolz so verteilt, daß man den ganzen personalen Anteil eigentlich bei der Scham schon im voraus investieren muß. Die Scham ist also eine Reaktion auf einen personalen Mißerfolg, auf den Mißerfolg eines personalen Aufstandes gewissermaßen. Die Person hat in irgendeiner Weise, entweder durch eine Tat oder durch einen bloßen latenen Geltungsanspruch, sich bereits irgendwie groß gemacht, hat eine Herausforderung in die Welt gelassen, und weil das nun scheitert, erfolgt jetzt eine Reaktion, die eigentlich gar nicht das Personale so sehr in Anspruch nimmt, sondern die Personalität abbaut gewissermaßen. Es wird also ein Geltungsanspruch zurückgenommen, aber nicht freiwillig, nicht souverän zurückgenommen, sondern er bricht zusammen. Die Person steht daneben, muß das gelten lassen, was ihr geschieht, daß ... der Aufstand umsonst war, daß sie sich das nicht leisten konnte. Und dieser ... Zusammenbruch der Personalität in Fassungslosigkeit ...: da kann die Person auch gar nicht mehr reagieren. Und jetzt haben wir beim Stolz nun eine etwas andere Situation, daß der Stolz, wie gesagt, auch schon als rein vitaler Stolz möglich ist, als dieser Stolz des Daseins und wie großratig gelingt es doch, einfach da zu sein und sich zu entfalten, wie Aristoteles sagt, die ungehemmte Entfaltung der naturgemäßen Disposition, der naturgemäßen Anlage, der Stolz, der in der bloßen Funktionslust liegt .... Und das ist eigentlich schon etwas Präpersonales beim Stolz. Aber ... wenn wir etas mit Personen zu tun haben, mit Personen, deren Fassung und damit personale Reaktionsfähigkeit zusammengebrochen ist, weil die falsch inverstiert war: das iste eben charakteristisch für katastrophale Scham. Da ist es jetzt erst einmal wichtig, die Person überfhaupt wieder aufzubauen. Und das ist also gewissermaßen ein Aufbau sehr stark vom leiblichen her, denn der Stolz setzt bei der Leiblichkeit an. Die Frage Worauf bist du stolz?, daß man überhaupt auf etwas stolz sein kann, das geschieht, wenn man sich gewissermaßen aufrichten kann, wenn man sich entfalten kann. Die Entfaltung muß beim Leiblichen ansetzen .... Und jetzt gilt es, die Fassung aufzubauen. Fassung ist etwas sowohl Leibliches als auch Personales. Beide Faktoren geht unverfmeidlich ineienander über. Ohne diese keimende, aufschwellende Lebenskraft, dieses Gefühl, daß ich mich entfalten kann, ist Stolz unmöglich, und das ist eben eine leibliche Regung, eigentlich hängt das an dem, was ich nenne leibliche Schwellung, es muß Schwellung geben, Spannung sich durchsetzen können, dieses elemantare Triumphgefühl. Und das ist nun eine Wiederherstellung der Personalität vom Leiblichen her. Hier kann unter Umständen die Anregung Worauf sind Sie stolz, lieber Mann? helfen, aber das ist zunächst etwas rein Personales, denn der elementarte Stolz ist auf nichts stolz, sondern einfach nur stolz, selbst da zu sein. Und den jetzt wieder hereinzubringen, das ist also ein Impuls, die Fassung auch als personale Fassung, aber vom Leibblichen her wieder aufzubauen. Und bei der Scham haben wir das Personale gewissermaßen abgebaut, Reduktion auf einen rein leiblichen, präpersonalen Zustand der Fassungslosigkeit - oder nähert sich dem. Beim Stolz müssen wir umgekehrt, beim Leiblichen anfangen und versuchen, wie weit wir jetzt kommen, wobei natürlich Anregungen aller Art möglich sind, aber diese vermögen eines hinlänglich starken Antriebs und mit dominanter Schwellung gespeisten vitalen Antriebs, daß sich der Mensch überhaupt wieder etwas zutraut. Und das ist - gewissermaßen in umgekehrter Reihenfolge -, den Stolz zu stärken oder sonst etwas zu stärken. In solchen Fällen wäre der Appell an das bloß Peronale aussichtslos.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Psychiatrie, 6. Juni 2010

„(Alexander Risse: ,Ich bin in Kontakt gekommen mit Ihrem Werk ..., so daß relativ schnell klar wurde, daß man mit diesem Gefühlsraum psychiatrisch enorm was anfangen kann und die operationale Psychiatrie oder operationalisierende eigentlich nicht weiterhilft .... Meine erste Frage wäre: Wenn wir als Ärzte davon reden: ›Reiß’ dich zusammen, mach’ irgendwas‹ und postulieren, daß es einen freien Willen gibt, würden Sie sagen, daß es den überhaupt gibt?‘) .... Freiheit hat ja ganz verschiedene Perspektiven. Es ist einerseits die Frage, ob man für das Verhalten einen Spielraum hat ... oder festgelegt ist. Der perfekte Determinismus bestreitet uns jeden Spielraum. .... Dieser Determinismus mag stimmen oder nicht stimmen. Als allgemeiner Determinismus ist er sicher falsch. Aber er kann nicht im Ernst vertreten werden, obwohl er vertreten wird. .... Deterministische Überzeugung ist unverträglich mit rationalem Verhalten, weil rationales Verhalten immer auch das Wählen impliziert. .... Was ist aber das Wählen? .... Das Wählen besteht darin, in der Überzeugung von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens, angesichts einer Herausforderung sich wissentlich darauf zu beschränken, von diesen mehreren Möglichkeiten höchstens einige, meistens auch nur eine einzige zu verwirklichen. Nun kann aber nicht zugleich derselbe Mensch die Überzeugung von mehreren Möglichkeiten und nur von einer einzigen Möglichkeit, nicht mehr als einer einzigen haben - das widerspricht sich, das kann der Mensch nicht zusammenbringen in derselben Überzeugung, folglich kann er, wenn er wirklich Determinist ist, nicht nur nicht mehr glauben, wählen zu können, sondern, weil zum Wählen selbst ein Glauben gehört, auch nicht mehr wählen, er kann sich nur noch treiben lassen. .... Wir können also schon einmal unterstellen, daß wir keine Deterministen sind, und zwar im Einspruch gegen alle diese vielen Stimmen, die uns ... raten, das doch zu sein und uns trotzdem für frei zu halten. Insofern können wir uns einfach mal vorläufig zumuten, daß wir einen Spielraum für unser Verhalten haben, weil wir nämlich allesamt als vernünftige Menschen wählend agieren und uns zunächst einmal bescheinigen, daß wir das Recht haben, so zu tun und nicht von der Erde verschwinden, was zweifellos geschehen würde, wenn wir alle Deterministen würden. Insofern ist diese Frage zu beantworten. Wir setzen also voraus, daß wir für unser verhalten gewisse Spielräume haben.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - über Medizinphilosophie, 6. Juni 2010

„(Robby Jacob: ,Meine Berufsbezeichnung heißt ja ,Psychiater‘. Und ich habe von Hermann Schmitz gelernt: Die Psyche ist es gar nicht! Ich habe einen berufliche Identitätskrise, die mir aber viel Freude macht. Mir fehlt nur noch eine Sache in der Neuen Phänomenologie. Wenn ich die noch kriege von Hermann Schmitz ...: Was ist Gesundheit?‘) .... Da gibt es ... verschiedene Ideale. Der Inhalt wird immer verschieden sein; man kann nur einen sehr formalen Rahmen spannen für die Gesundheit überhaupt; das ist eine Frage der Option - genauso wie die Schönheit. .... Platons Wagenlenker-Gleichnis, und das entgegegegsetzte ist der Bamberger Reiter - wegen des Einverstandenseins von Mensch und Tier, d.h. der pereonalen und der präpersonalen Schicht. .... Es ist immer eine Labilität. Es wird immer bei einem gewissen ,Wellenreiten‘ bleiben. Die Person kann sich nicht stabil über ihre Basis erheben, sondern es ist immer ein Hin und Herr von Emanzipation und Regression nötig. Und diese Regression ist nicht abzuschätzen. Es ist also der Fehler der asiatischen Weisheitslehren, daß sie denken, die Regression in die Emanzipation einbinden zu können, so daß man zwar hinfallen kann, aber sich überhaupt nicht mehr dabei wehtut und gleich wieder aufsteht, wie das auch in den asiatischen Kampfkünsten eingeübt wird. Diese Technik ... ist dann aber keine richtige personale Regression mehr. Das Gegenbeispiel ist die attische Tragödie. Tragödie ist eigentlich nicht dafür, in eine Katastrophe zu geraten, sondern ist eine Option für eine der Mächte, und zwar im Grunde der göttlichen Mächte, in deren Bann der Mensch steht, ... und indem er sich auf diese Option nun eben festlegt, wählt er einen Weg, der - weil es nur eine von mehreren Mächten ist, eine von mehreren Perspektiven -, der ihn ins Verderben führen kann, aber nicht muß. Und er ist im Grunde optionsfähig: der tragische Mensch der Griechen. Die griechische Tragödie ist keine Katastrophendramatik, besteht nicht aus lauter Trauerspielen, sondern aus dem für den Menschen unvermeidlichen Risiko der Vereinseitigung und daß er da - im Grunde genommen - seiner eigenen glücklichen oder unglücklichen Hand überlassen ist: da gibt es personale Regression mit dem Risiko des Scheiterns. Darüber wird man nicht hinwegkommen. .... Ja, das ist natürlich auch etwas, ... aber mehr für die Menschengestaltung ..., auch da ist die Neue Phänomenologie wichtig als Besinnung - Herr Böhme hat das verstanden in Darmstadt -, das ist aber keine direkte Anwendung in den Wissenschaften.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: Hermann Schmitz im Gespräch - Zukunft der Neuen Phänomenologie, 6. Juni 2010

„Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 7

„Der Mensch kann nicht anders als unter Normen leben, weil er in Situationen lebt, in denen Programme enthalten sind, die seine Gefolgschaft herausfordern.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 7

„Eine Norm kann einzeln sein. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt oder – logisch gleichwertig* – Element einer endlichen Menge ist. *Jedes Element einer endlichen (nicht: einer unendlichen) Menge vermehrt deren Anzahl um 1, und alles, was eine Anzahl um 1 vermehrt, ist Element einer endlichen Menge, nämlich mindestens derjenigen, deren einziges Element es selber ist (der Menge dessen, was mit ihm identisch ist).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 11

„Ein Nomos ist der Gehalt einer Situation an Programmen (Normen und Wünschen).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 13

Verbindlich gilt eine Norm für jemanden, dem sie die Bereitschaft zum Gehorsam exigent abnötigt. Die Nötigung ist exigent, wenn der Genötigte dem Gehorsam zwar ausweichen kann, aber nur zwiespältig, halbherzig, befangen, unsicher, nicht in voller Übereinstimmung mit sich. Ermöglicht wird solcher Zwiespalt durch einen Typ von Mannigfaltigkeit, der sich sowohl vom numerischen Mannigfaltigen (aus lauter einzelnem, das nichts als es selbst ist) als auch vom chaotischen Mannigfaltigen (in dem es an Einzelheit, eventuell auch an Identität und Verschiedenheit fehlt), unterscheidet. Das zwiespältige Mannigfaltige – ich habe es auch »instabil«, »ambivalent«, »multivalent« genannt – besteht aus einzelnem wie das numerische, hat aber im Gegensatz zu diesem eine Schwierigkeit mit der Identität: Es steht nicht fest, womit es identisch ist, weil mehrere verschiedene Sachen (im allgemeinsten Sinn von »etwas überhaupt«) um Identität mit ihm konkurrieren; in diesem Sinne ist es mannigfaltig. Statt der etwas abseitigen Beispiele, die ich auch angegeben habe, berufe ich mich jetzt auf ein Beispiel, das jeder am eigenen Leben nachprüfen kann. Er hat jedenfalls verschiedene Lebensphasen durchlaufen. Ich bin ein Mann, der einmal ein Säugling war, dann ein Kind, ein Mann in den besten Jahren und dergleichen mehr. Jetzt bin ich ein alter Mann. Das sind viele, deutlich unterschiedene Individuen, und doch bin ich sie alle. Sie konkurrieren um Identität mit mir. Im Fall des Zwiespalts bei exigenter Nötigung konkurrieren nicht verschiedene Individuen, sondern verschiedene unvereinbare Zustände um Identität mit dem Zustand des Zwiespältigen. Das ist der Fall, wenn jemand gleichsam neben oder über sich steht, z.B. in heftigem Zorn oder anderer Erregung sich kühl kontrolliert, wenn er in der Scham, die er nicht los wird, sich selbst belächelt, humorvoll leidet, sich über sich selbst ärgert usw.. Bei einer anderen Art von Zwiespalt entfällt solche Überlegenheit, wenn nämlich jemand etwas sich vormacht, sich über sein schlechtes Gewissen oder sonstiges affektives Betroffensein hinwegzusetzen versucht, es vor sich selbst zu verbergen sucht usw.. Von dieser Art ist der zwiespältige Spielraum, der dem exigent Genötigten zum Ausweichen vor der für ihn verbindlichen Geltung einer Norm bleibt. Er kommt auf beide Weisen vor, meist aber wohl ohne das Darüberstehen. In beiden Fällen kann der Sichthaber der ihm verbindlich geltenden Norm seine Bereitschaft nicht nach Belieben verweigern.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 16-17

„Auf der Autorität der Gefühle beruht die verbindliche Geltung rechtlicher, moralischer und religiöser Normen sowie der intimen erotischen Normen in einem Liebesverhältnis von hinlänglicher Tiefe. Während die Autorität des Seins in der Evidenz für alle Menschen in deren Perspektive die verbindliche Geltung von Normen stiftet, gelten die von der Autorität der Gefühle mit verbindlicher Geltung bewaffneten Normen nicht ebenso homogen; denn die Macht der Gefühle beruht auf der Ergriffenheit von ihnen, und darin unterscheiden sich Individuen wie Kollektive.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 18

„Identität (verstanden als absolute Identität, dieses und von anderem verschieden zu sein, noch nicht als relative Identität) und Subjektivität (in meinem Fall: ich zu sein) sind nicht selbstverständlich, sondern müssen dem verschwommenen Ergossensein in Dauer und Weite, dem gleitenden Dahinleben und Dahinwähren (etwa im Dösen oder in gedankenloser Routine), durch einen Einschnitt abgewonnen werden, der im plötzlichen Einbruch des Neuen Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein (Nichtmehrsein) verabschiedet. Diese Gegenwart ist die primitive, in der die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich verschmolzen sind. Sie wird dem Betroffenen von der Engung in seinem vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung verschränkt sind, vorgehalten. Diese Verschränkung spreizt sich auf zur leiblichen Kommunikation in der Einleibung, in der mehrere Teilnehmer (darunter auch leiblose, durch leibnahe Brückenqualitäten Leibern verbundene) durch einen gemeinsamen vitalen Antrieb zusammengeschlossen sind. So entsteht ein Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere und Säuglinge sowie Personen in flüssiger Routine und in Zuständen der Fassungslosigkeit führen. Es ist von der primitiven Gegenwart her mit absoluter Identität und Verschiedenheit ausgerüstet und dadurch vor Verwechslungen geschützt. Außerdem ist es voll von Situationen, die mit Rufen und Schreien angesprochen, heraufbeschworen, modifiziert und beantwortet werden. Ein ontologisch bedeutsamer Sprung entsteht, wenn menschliche, satzförmige Rede einzelne Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen entbindet, darunter Sachverhalte, die Gattungen, und solche, die die Bestimmtheit als Fall von Gattungen sind. Dadurch entstehen einzelne Sachen, indem sich absolute Identität mit Bestimmtheit als Fall von Gattungen bereichert. Dank dieser Vereinzelung entfalten sich die fünf in der primitiven Gegenwart verschmolzenen Momente zur Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung: Das Hier der Enge, der absolute Ort, wird zum Ortsraum, wo etwas an relativen Orten mit Lagen und Abständen untergebracht sein kann; das Jetzt des Plötzlichen, der absolute Augenblick, entfaltet sich zum System relativer Augenblicke, zur modalen Lagezeit mit Fluß der Zeit; das abgerissene Sein der exponierten primitiven Gegenwart entfaltet sich zum Gegenteil des Nichtseins in dessen voller (nicht mehr auf den Abschied vom Nichtmehrseienden eingeschränkter) Breite; die absolute Identität entfaltet sich zur relativen, die eine Sache unter vielen Gesichtspunkten, in vielen Hinsichten, zu betrachten erlaubt; die Subjektivität, selbst betroffen zu sein, entfaltet sich zur Person mit Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 18-20

„Dazu kommt es in folgenden Schritten: Der erst nur absolut identische Bewußthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart wird zum einzelnen Subjekt durch Selbstzuschreibung, sich als Fall von Gattungen aufzufassen, und damit zur Person, d.h. zum Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Diese ist ein identifizierendes Sichbewußthaben, das zur Bereitstellung des Relats, womit die betreffenden Gattungsfälle identifiziert werden, eines nicht identifizierenden Sichbewußthabens bedarf, weil sonst durch fortlaufende Identifizierung nur Gattungen gehäuft würden, in denen der Bewußthaber keinen Grund zu der Annahme finden könnte, daß es sich um ihn selbst handelt. Dieses nicht identifizierende Sichbewußthaben wird bereitgestellt von den subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins, die höchstens er im eigenen Namen aussagen kann. Um sich als den, für den sie subjektiv sind, identifizierungsfrei zu finden, bedarf er des Zusammenfalls von absoluter Identität und Subjektivität im Ereignis der primitiven Gegenwart, selbst betroffen zu sein. Die primitive Gegenwart wird ihm im Leben aus primitiver Gegenwart vorgehalten durch die Engung im vitalen Antrieb. Selbstzuschreibung und Person sind also nur möglich durch Rückgang in das Leben aus primitiver Gegenwart (personale Regression). In Gegenrichtung führt die personale Emanzipation durch Neutralisierung von Bedeutungen aus dem Leben aus primitiver Gegenwart heraus. Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen für jemanden subjektiv, so daß höchstens er sie sagen (aussagen) kann. Im Zuge der Vereinzelung fällt diese Subjektivität teilweise ab. Übrig bleiben objektive oder neutrale Sachverhalte, Programme und Probleme, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Ihnen gegenüber gewinnt die Person den Spielraum zu unbefangenem Prüfen und Vergleichen, der ihr im affektiven Betroffensein von für sie subjektiven Bedeutungen versagt bleibt. Den neutralen Bedeutungen stehen die für die Person subjektiv gebliebenen mit breiten Grauzonen zur Neutralität hin gegenüber. Aus ihnen und den Sachen, die Fälle solcher subjektiv gebliebenen Bedeutungen vom Typ der Gattung sind, bildet sich eine Sphäre des Eigenen in Gestalt der zuständlichen persönlichen Situation (der Persönlichkeit) einer Person und ihrer persönlichen Eigenwelt gegenüber ihrer persönlichen Fremdwelt. Fremd wird etwas für die Person, wenn der (auch eventuell untatsächliche) Sachverhalt, daß es existiert, für sie neutral geworden ist; eigen bleibt oder wird es, sofern der betreffende Sachverhalt für sie subjektiv ist (wenn sie in Zuneigung oder Abwehr daran »hängt«). Die Grenze zwischen beiden Teilwelten der persönlichen Welt kann sich ständig verschieben und läßt breite Grauzonen zu. Die Abhebung des Eigenen der Person vom durch Neutralisierung Entfremdeten, mit mehr oder weniger breiten Grauzonen, ist personale Emanzipation. Die personale Emanzipation bildet Niveaus von verschiedener Höhe aus. Ein Niveau ist höher als ein anderes, wenn es dem Leben aus primitiver Gegenwart durch stärkere Neutralisierung und weniger Verschwimmen in den Grauzonen weiter entrückt ist. Von einem höheren Niveau aus ist ein weniger hohes ein Niveau personaler Regression auf dem Wege zum Leben aus primitiver Gegenwart ohne Scheidung des Eigenen vom Fremden. Die Person kann zugleich auf mehreren Niveaus stehen. Dann ergeben sich Zwiespälte der vorhin beschriebenen Art, wobei die Person gleichsam über und unter sich selbst steht. Ein Beispiel dafür ist die Akrasie, etwa des faulen Bettgenießers, der auf einem höheren Niveau personaler Emanzipation weiß und anerkennt, daß er jetzt aufstehen müßte, auf einen niedrigeren, mit weniger Abspaltung der Subjektivität vom Neutralen und Fremden, es aber so schön warm und wohlig findet, daß er trotzdem liegen bleibt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 20-22

„Die Perspektive, in der Normen für Personen gelten, ist relativ auf ein Niveau ihrer personalen Emanzipation; das gilt auch für die Verbindlichkeit und die diese stiftende Autorität. Eine Norm kann für eine Person auf einem Niveau verbindlich gelten, obwohl auf einem gleichzeitigen höheren Niveau die Verbindlichkeit entfällt. Ein Beispiel ist die heftige Scham, die entstehen kann, wenn man sich in Gesellschaft eine Blöße (im übertragenen Sinn) gegeben hat, so daß man einen Geltungsanspruch zurücknehmen muß, obwohl man sich auf einem höheren Niveau bewußt ist, daß es sich um eine Äußerlichkeit handelt, die man eigentlich nicht so wichtig zu nehmen brauchte. In solchen Fällen hat die verbindliche Geltung der Norm für die Person bedingten Ernst, ebenso die Autorität der konventionellen Scham, die ihr dann die verbindliche Geltung auferlegt. Im Fall von echter Gewissensscham, die z.B. im Philoktetes des Sophokles den Neoptolemos treibt, dem betrogenen Philoktetes den durch gemeine List entwendeten Bogen zurückzugeben, gibt es kein solches höheres Niveau. Die Person kann sich dann nicht auch nur teilweise von der exigenten Nötigung durch die ihr verbindliche Geltung auflegende Autorität zurückziehen. Dann hat diese und die verbindliche Geltung unbedingten Ernst für die Person. Unbedingten Ernst hat auch die Autorität des Seins in der Evidenz. Unbedingten Ernst hat die Autorität der Gefühle, auf denen die Moral, die Religion (als echte Ergriffenheit von Göttlichem) und die tiefe Liebe zu einer anderen Person beruhen. Durch die Autorität mit unbedingtem Ernst wird die Abhängigkeit der verbindlichen Geltung von der Perspektive einer Person gesteigert, weil nicht für alle Personen ein gleiches Niveau personaler Emanzipation das höchste erreichbare ist, vielmehr dessen Art und Höhe von Person zu Person schwanken kann. Auch lassen sich Personen denken, für die kein Niveau personaler Emanzipation das höchste erreichbare ist. Solche Personen leben dann im Paradies oder der Hölle vollendeter Frivolität, wo Max Stirner den Einzigen angesiedelt hat; wenn dieser allerdings die Frivolität von der Autorität der Gefühle auf die des Seins in der Evidenz ausdehnt, endet er schnell im Kranken- oder Irrenhaus.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 22

„Der Zwiespalt bei Autorität mit bedingtem Ernst entsteht durch die Möglichkeit der Steigerung personaler Emanzipation auf ein höheres Niveau. In die Gegenrichtung, nämlich auf den Verlust der Personen vorbehaltenen flexiblen Geltung an die automatische hin, führt ein Zwiespalt, der sich bei anankastischen (zwanghaften) Störungen auftut. Solche Störungen entstehen nach personaler Emanzipation, wobei sich die Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden ausgebildet hat, durch eine paradoxe Überschiebung, indem das Fremde im Eigenen auftaucht und dadurch eine unerbittliche Hartnäckigkeit gewinnt. Weil die Macht des Zwanges sich im Eigenen abspielt, hängt die Person daran mit der Subjektivität ihres affektiven Betroffenseins; sie kommt nicht davon los und kann das Zwingende auch nicht in die persönliche Fremdwelt abschieben, weil es fremd schon ist, in sich das Fremde und das Eigene vereinigend. Die anankastisch zwingende Macht haftet entweder an einer Norm oder an einem Wunsch. Im ersten Fall ergibt sich eine Zwangsneurose (z. B. Waschzwang, Zählzwang oder Zwang, häßliche Worte auszustoßen), im zweiten Fall eine Sucht. In beiden Fällen ist es schwer, zu entscheiden, ob noch ein Spielraum da ist, der zur Flexibilität der Geltung einer Norm und der Besessenheit vom Wunsch genügt, oder ob die Geltung und das, was ihr beim Wunsch entspricht, schon automatisch geworden ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 22-23

„Das menschliche Selbst- und Weltverständnis in Europa steht seit Jahrtausenden ganz überwiegend unter dem Diktat der Weltspaltung auf Grund eines Paradigmenwechsels, der sich in Griechenland in der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ereignete und im folgenden Jahrhundert von Platon und Aristoteles zu durchschlagendem Erfolg geführt wurde. Im Interesse der Selbstermächtigung des Menschen im Verhältnis zu seinen unwillkürlichen Regungen wurde jedem Bewußthaber eine private Innenwelt (Psyché) zugeteilt, in die sein gesamtes Erleben eingeschlossen wurde, damit er in dieser Domäne als Vernunft Regie führen könne. Die zwischen den Innenwelten verbleibende empirische Außenwelt wurde von allen Einflüssen, die diesem Regiment gefährlich werden konnten, durch eine Abschleifung freigemacht, die nur wenige Merkmalsorten und deren erdachte Träger übrig ließ. Diese Sorten waren (schon von Demokrit) so gut gewählt, daß sie noch heute den Datenvorrat bilden, an dem die Physik im Experiment ihre Hypothesen prüft, doch war dieser Vorteil für die Weltbemächtigung damals, als es erst um die Selbstbemächtigung ging, noch nicht aktuell. Der Abfall der Abschleifung wurde entweder absichtlich (wie die spezifischen Sinnesqualitäten) in den Innenwelten (Seelen) abgelegt oder schlicht übersehen, um dann doch, aber in entsprechend gewandelter Gestalt, in den Seelen unterzukommen. Diese psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung haben sich später, mit umgekehrter Akzentsetzung, das Christentum und die Naturwissenschaft zunutze gemacht, wobei es dem Christentum auf die Innerlichkeit (die Seele und die gottgefällige Herrschaft der Person über die unwillkürlichen Regungen in ihr) ankam, der Naturwissenschaft auf die Äußerlichkeit (die empirische Außenwelt und ihre theoretische und praktische Beherrschung im Geist des demokritischen Reduktionismus). Innerlichkeit und Äußerlichkeit trafen sich im Menschen, der einer der Weltspaltung entsprechenden Zerlegung in Seele und Körper unterworfen wurde.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären, 2014, S. 7-8

„Bei der Weltspaltung und der zugehörigen Menschspaltung wurde sehr schematisch verfahren, mit grob gezogenen Trennlinien und unklaren Grauzonen. Der Versuch, nach Maßgabe dieser Trennungslinien den Erfahrungsstoff in den vom Psychologismus und Reduktionismus vorbereiteten Auffangbecken unterzubringen, hat zu großen Verlusten wichtiger Massen normaler Lebenserfahrung im menschlichen Welt- und Selbstverständnis geführt. Geradezu grotesk ist das Schicksal, das dem Begreifen des spürbaren Leibes widerfuhr. Jeder Mensch kennt Hunger, Durst, Angst, Schmerz, Wollust, Ekel, Frische und Müdigkeit; Zorn ist schon einmal in ihm aufgestiegen, ein Schauer hat ihn überlaufen, Kummer ihn niedergedrückt. Solche Regungen sind nicht Körperteile, weilohne Flächen, aber auch nicht innerlich in der Seele, weil räumlich ausgedehnt und mehr oder weniger an Körperstellen lokalisiert. Die Menschspaltung zerlegt sie in ein Körpergeschehen und ein asylum ignorantiae (Propriozeption, Zoenästhese) in der Seele, ohne sich um die eigentümliche Struktur und Funktionsweise des spürbaren Leibes zu kümmern; dieser verschwindet zwischen Körper und Seele wie in einer Gletscherspalte. Ähnliches widerfährt den Atmosphären, im einfachsten Fall etwa dem Wetter. Die Menschen spüren es am eigenen Leibe; es liegt ihnen so nahe, daß sie zunächst mit Fremden darüber reden, um den Bann zu brechen, aber die abendländische Begriffsbildung kümmert sich so wenig um diese gespürte Atmosphäre, daß sie sie in zwei Komponenten zerlegt, von denen die eine in der Physik (Meteorologie) sorgfältig studiert wird, während die andere in der Seele ein von der Psychologie notdürftig betreutes Schattendasein führt. Wichtiger sind die Atmosphären des Gefühls, die Gefühle als Atmosphären, die von der Introjektion bei den Seelenzuständen von Lust und Unlust untergebracht werden. Mit ihnen beschäftigt sich dann die Ästhetik, z. B. die von Kant durch veranstaltung einer Seelengymnastik ( einer Art von Ballspiel der Seelenvermögen Verstand und Einbildungskraft, Analytik des Schönen) oder einer Selbstbespiegelung mit Versicherung übersinnlichen Ranges (Analytik des Erhabenen).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären, 2014, S. 8-9

„Mit meinem Versuch, die Weltspaltung zu überwinden und die von der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung der Besinnung entfremdeten Schätze normaler menschlicher Lebenserfahrung begreifend zu bergen, habe ich beim spürbaren Leib und den Gefühlen als Atmosphären angefangen. Ich habe die eigentümliche Ausdehnung und Dynamik des Leibes herausgearbeitet und diese Dynamik in die leibliche Kommunikation hinein verfolgt, die Grundform der Kontakte und der (von der dominanten Vergegenständlichung physikalisch-physiologisch bis zum Gehirn verfolgten) Wahrnehmung, ja im Grunde allen Dabeiseins bei etwas. Den Atmosphären bin ich in Gestalt der Gefühle nahegetreten, um diese aus der Introjektion zu befreien und sie mit dem leiblich-affektiven Betroffensein, als der Resonanzstelle für sie und dem Boden persönlicher Zuwendung in Preisgabe oder Widerstand an das ergreifende Gefühl, zusammenzubringen. Anfangs war ich in Gefahr, die Gefühle zu sehr zu verdinglichen, um ein Gegengewicht gegen ihre Introjektion zu markieren. Dieser Gefahr habe ich mich entzogen, indem ich die Gefühle als Halbdinge (im Gegensatz zu Dingen) bestimmte, nach Art der Stimme, des Windes oder der reißenden Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt. Eine weitere Verbesserung gelang mir für die Erfassung der Räumlichkeit der Gefühle, indem ich flächenlose und flächenhaltige Räume unterschied und ihr Verhältnis bestimmte. Bald nach dem Leib und den Atmosphären kamen in meinen Blick die Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, teils aktuelle, teils zuständliche, teils impressive (vielsagende Eindrücke), teils segmentierte. Ich lernte, daß Atmosphären gewöhnlich in Situationen eingebettet sind; das kam meiner Charakterisierung der Liebe im gleichnamigen Buch von 1993 zugute. Die Neubestimmung der Subjektivität krönte meine Auseinandersetzung mit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen vergegenständlichung. Als Heimstätte war von dieser dem Subjekt die Seele zugewiesen, ein kleines Tortenstück aus dem großen Kuchen Welt. Ich entdeckte als die Heimstätte der Subjektivität die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins im Gegensatz zu den ihnen im Inhalt gleichen, aber in der Tatsächlichkeit reduzierten objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Die Philosophen und Psychologen haben, wenn sie über Seele und Seelisches (oder über Bewußtsein und Bewußtseinsstrom, einen Epigonen der Seele) sprachen, immer nur solche objektiven Tatsachen im Auge gehabt und dadurch die Subjektivität verfehlt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären, 2014, S. 9-10

„Wenn ich nicht irre, habe ich 1969 mit meinem Buch Der Gefühlsraum die Theorie der Atmosphären in die Philosophie eingebracht. Zwei Autoren haben sich von meiner Anregung inspirieren lassen: Gernot Böhme mit einer Reihe feinsinniger, auf verschiedene Bücher verteilter Essays und Tonino Griffero (...). In anderer Blickrichtung, von mir unabhängig, veröffentlichte 1993 Georg Knodt einen Essay über Atmosphären. Das stark gewachsene Interesse an der Diskussion dieses Themas hat sich in mehreren Sammelbänden niedergeschlagen, an denen ich mitgearbeitet habe. Zwei davon enthalten Originaldrucke. hier reproduzierter Aufsätze von mir; weitere sind: Atmosphären im Alltag, ... 2007; Gefühle als Atmosphären, ... 2011 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 29). Das virulente Interesse an Atmosphären hat dazu geführt, daß ich in den letzten Jahren vielfach zu Vorträgen oder Vorlagen aus diesem Themenkreis aufgefordert wurde; die Beiträge in diesem Buch gehen darauf zurück.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären, 2014, S. 10-11

„Als ... Fortschritte meines Zugangs zu Atmosphären überhaupt, abgesehen von den Neuerungen dieser phänomenologischen Einzelananalysen, nennen ich zwei: erstens das Bemühen um genaue, ebenso scharfe wie geschmeiduge Begriffsbildung als Voraussetzung sorgfältiger Rechenschaft von den Phänomenen. .... Zweitens sichte ich nun die Atmosphären im breiteren Zusammenhang atmosphärischer Räume, über die Gefühle hinaus. Dabei achte ich ganz besonders auf den Zusammenhang der Atmosphären mit dem Leib und der leiblichen Kommunikation. Der Leib ist die Empfangsstation für Atmosphären und wirkt auf diese zurück.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären, 2014, S. 11

„Der Leib ist die Empfangsstation für Atmosphären und wirkt auf diese zurück.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede, in: Atmosphären, 2014, S. 11

„Im antiken Griechenland ereignet sich während des 5. Jahrhunderts v. Chr. eine für die gesamte Folgezeit schicksalhafte Umstellung des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses. Die Welt wird gespalten, indem jeder Bewußthaber einen Ausschnitt aus ihr als seine private Innenwelt bekommt, in der sein gesamtes Erleben enthalten und nach außen abgeschlossen ist. Ihr Name ist »Psyché«, »Seele«. Am Anfang des Jahrhunderts fehklt ihr noch, die bis dahin Leben oder Totengeist war, die Abgeschlossenheit; Heraklit sagt: »Grenzen der Seele wirst du wandernd niemals finden, wenn du auch jegliche Straße abschrittest.« (Heraklit, Fragment 45). Von Sophokles, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, ist als isolierter Vers aus den verlorenen Manteis die Formulierung überliefert: »das verschlossene Tor der Seele öffnen« (Sophokles, Fragment 360). Zwischen beiden Zeugnissen liegt die Weltspaltung. Die nach Abzug aller Innenwelten zwischen ihnen verbleibende Außenwelt wird schon damals beri Demokrit, später bei Platon und den Folgenden, bis auf wenige Merkmalsorten und deren hinzugedachte Träger abgeschliffen. Der Abfall der Abschleifung wird durch Transport in die Seelen entsorgt, entweder absichtlich wie die spezifischen Sinnesqualitäten oder unter der Hand, indem der Vorrat vergessen wird und in modifizierter Form unversehens in den Seelen unterkommt. Auf diese Weise werden der spürbare Leib und die leibliche Kommunkation, die Gefühle als Atmosphären und Atmosphären anderer Art, vielsagende Eindrücke und andere bedeutsame Situationen und weiteres aus der Aufmerksamkeit verdrängt; übrig bleiben Innenwelten zur Selbstbeherrschung und eine Außenwelt zur Weltbeherrschung, erst durch Gott, dann durch die Menschen und ihre Apparate, “
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären, 2014, S. 13

„Flächenlose Räume sind nicht bloß schattenhafte Rand- und Ausfallerscheinungen des uns vertrauten Ortsraums, sondern dessen unerläßliche Voraussetzungen .... Man kann zeigen, daß ein Ortsraum ohne Anleihe bei ortlosen, weil flächenlosen Räumen gar nicht eingeführt werden kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären, 2014, S. 15-16

„Die beiden wichtigsten Typen flächenloser Räume sind der Raum des Leibes und der Raum der Gefühle als Atmosphären.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären, 2014, S. 16

„Der Sinn des Wortes »Atmosphäre« in der allgemeinsten für die Phänomenologie der Räumlichkeit erforderlichen Bedeutung kann so formuliert werden: Eine Atmosphäre ist eine totale oder partielle, in jedem Fall aber umfassende Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erfahren wird.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären, 2014, S. 19

„Seit der Weltspaltung im fünften vorchristlichen Jahrhundert hat man sich angewöhnt, die Gefühle als passiones animae, Affekte oder Leidenschaften der Seele, der abgeschlossenen privaten Innenwelt des Bewußthabers einzulagern, anders als noch in jener Zeit des Empedokles (um 492 - um 432 - also trotz alledem schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert, als die Weltspaltung ja schon begann, jedoch noch nicht im ganzen Griechenland, wie Empedokles und andere griechische Denker dieser Zeit beweisen! HB), der sich rühmt, als erster erkannt zu haben, daß die Liebe, die man da draußen wirbeln sieht, dieselbe ist, die, den Gliedern der Sterblichen eingepflanzt, darauf hinwirkt, daß sie freundliche Gesinnungen hegen und einträchtige Werke vollbringen (vgl. Empedokles, Fragment 17, 20-26, a.a.O.). Die Introjektion der Gefühle, mit der sich die Menschheit der klassischen griechischen Philosophie um Platon und Aristoteles (d.h.: vom späten 5. bis zum späten 4. vorchristlichen Jahrhundert! HB) angeschlossen hat, ist ein Irrtum; er scheitert daran, daß es die Seele oder anders benannte abgeschlossene private Innenwelt allen Erlebens, der sie introjiziert werden, gar nicht gibt, wie sich insbesondere daran zeigt, daß das Verhältnis des Bewußthabers zu seiner Seele nicht schlüssig konstruiert werden kann. (Vgl. Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 29-45; Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 145-163.) Gefühle sind Atmosphären in einem flächenlosen Raum, der sich mit dem flächenhaltigen Ortsraum ebenso decken kann wie die flächenlosen Räume des Schalls und der Stille, aber auch darüber hinaus zu reichen vermag. Die Atmosphären des Gefühls werden entweder bloß wahrgenommen, oder sie ergreifen leiblich spürbar; in diesem Fall werden sie min affenktiven Betroffensein als die Gefühle, die man selbst hat, gefühlt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären, 2014, S. 21

„Der flächenlose Gefühlsraum ist dreischichtig Die Grundschicht bilden die reinen Stimmungen, die mit bloßer Weite, noch ohne Richtung, alle anderen Gefühle grundieren. Es gibt zwei reine Stimmungen: Zufriedenheit und Verzweiflung. .... Die zweite Schicht besteht aus den reinen Erregungen; das sind Gefühle, deren Atmosphäre von Richtungen durchzogen, aber nicht auf ein Thema zentriert ist. .... Die dritte Schicht wird von den thematisch zentrierten Gefühlen gebildet, in denen die gerichteten Erregungen um ein Thema zusmammengezogen sind.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären, 2014, S. 22

„Außer den Gefühlen als Atmosphären mit Tendenz zur totalen Ausbreitung im Raum erlebter Anwesenheit gibt es noch andere solche Atmosphären, die nicht oder nicht immer Gefühle sind. Das nächstliegende Beispiel ist das Wetter, so, wie es menschlichem Wahrnehmen und Spüren tatsächlich gegeben ist und den nächstliegenden Gesprächsstoff noch unter Fremden bildet ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären, 2014, S. 23

„In flächenlosen Räumen kann man leben und sich orientieren, ohne der Fläche zu bedürfen. Dazu genügt ein Geflecht von Richtungen verschiedener Art .... An erster Stelle stehen die leiblichen Richtungen, die unteilbar ausgedehnt sind und unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen. .... Der zweite Typ ebenso unumkehrbarer Richtungen besteht in den Bewegungssuggestionen begegnender Gestalten .... Zum vollständigen Richtungsraum, der dem flächenhaltigen Ortsraum zu Grunde liegt, gehören außer den leiblichen Richtugnen und den Bewegungssuggestionen begegnender Gestalten aber auch noch unumkehrbare Richtungen eines dritten Typs: die abgründigen Richtungen. .... Während der Ausgleitende und Stürzende sich von Anfang an sträubt, läßt der Zornige sich wenigstens in einer Anfangsphyse mitreißen und stellt seinen eigenen Impuls in den Dienst des Zorns, bis er sich in Preisgabe oder Widerstand ihm stellt und mit ihm auseiandersetzt. - Alles, was an dr menshlichen Motorik spontan, flüssig und unwillkürlich ist, einschließlich der von abgründig ergreifenden Gefühlen spontan eingegebenen, meist komplizierten und schwer lernbaren Gebärden, spielt sich im Konzert der unumkehrbaren Richtungen des Richtungsraums mit diesen drei Typen ab, den leiblichen Richtungen, den entgegenkommenden Bewegungssuggestionen und den abgründigen Richtungen der Gefühle. Unglaublich mühsam und gehemmt, bar jeder Flüssigkeit, würden alle Bewegungen werden, wenn sie im Ortsraum mit Lagen und Abständen abgemessen werden müßten. Die Tiere kommen nie über den Richtungsraum hinaus. Den Menschen gelingt es, darüber eine Raumform ganz anderer Art zu konstruieren, indem sie es vermögen, einzelne Blickziele festzuhalten, diese auf Flächen durch Strecken mit umkehrbaren Richtungen zu verbinden und an diesen Verbindungen Lagen und Abstände anzulesen, mit deren Hilfe beharrliche Orte eingeführt werden können, die zu sagen gestatten, wo sich etwas befindet, und gegebenenfalls dessen Bewegung von einem Ort zu einem anderen verfolgen lassen. Damit wird auch erst möglich, Gegenstände an Orten sukzessive zu speichern, in der Weise, daß sich dort erst jener, dann dieser Gegenstand befunden hat. Der Ortsraum mit allen diesen Errungenschaften tritt aber nicht an die Stelle des Richtungsraums, sondern überformt ihn bloß und greift ständig auf ihn zurück. Ohne fundierten Richtungsraum kein Ortsraum. Daß dies sogar logosch richtig ist, habe ich gezeigt. Andererseits wird alles, was im Richtungsraum ist, in den Ortsraum übersetzbar. Das Ergebnis der gelungenen Synthese beider Raumformen ist der optische Raum. Er kann auf das Niveau des bloßen Richtungsraums eunsinken, etwa bei der spontanen Reaktion geschickten Ausweichens vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse. Dann denkt man nicht an durch Lage und Abstand bestimmte Orte, sondern nimmt die Bewegungssuggestion, die den bevorstehenden Kurs der Masse anzeigt, über den Blick in das Körperschema auf, das die eigene Bewegung dem Ausweichbedürfnis entsprechend anpaßt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Atmosphärische Räume, in: Atmosphären, 2014, S. 24-27

„Die Neue Phänomenologie setzt sich die Aufgabe, das Denken für die unwillkürliche Lebenserfahrung begiffsfähig zu machen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Sie ist die einzige Grundlage zur Rechtfertigung von Behauptungen. Eine andere Kontrolle gegen die Willkür von Konstruktionen gibt es nicht.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 30

„Noch niemand hat einen Zorn, der in ihm aufsteigt, in seiner Seele oder seinem Bewußtsein dingfest gemacht; vielmehr wird er von ihm leiblich spürbar überfallen wie von einer reißenden Schwere, die ihn abwärts zieht, wenn er ausgleitet und entweder stürzt oder sich gerade noch fängt. Der Zorn treibt ihn eher vorwärts, aber gewichtiger ist der Unterschied, daß der Fallende sich gegen den Impuls der reißenden Schwere heftig sträubt, während der Zornige nicht anders zürnen kann als so, daß er wenigstens anfangs ein Stück weit mit dem ihn ergreifenden Gefühl mitgeht, als Komplize des Zorns, der deseen Impuls zu seinem eigenen macht. Erst danach hat der Zornige Gelegenheit zur personalen Auseinandersetzung mit seinem Zorn, indem er sich entweder noch hineinsteigert oder ihn abwehrt und abzustreifen sucht. Damit ist das gesuchte unterscheidende Merkmal der Gefühle im Verhältnis zu anderen Atmosphären im Raum erlebter Anwesenheit, die nicht Gefühle sind, gefunden. Es besteht in der Verlaufsform der Ergriffenheit von Gefühlen: Wenn die Ergriffenheit echt ist, muß der Ergriffene sich erst einmal mit dem Gefühl solidarisieren, es in seinen eigenen Antrieb übernehmen, und kann erst danach in die personale Auseinandersetzung mit dem Gefühl durch Preisgabe oder Widerstand eintreten.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 36-37

„Gefühle sind nicht Dinge, sondern Halbdinge. Ich haben den Gegenstandstyp der Halbdinge von dem der Dinge folgendermaßen unterschieden: Dinge dauern ohne Unterbrechung und wirken mittelbar als Ursache, die durch eine Einwirkung einen Effekt hervorbringt. Dagegen ist die Dauer der Halbdinge unterbrechbar und ihre Einwirkung unmittelbar, indem Ursache und Einwirkung zusammenfallen. Ein exemplarisches Halbding ist die Stimme, sei es eines Menschen oder einer Tierart. Die Schallfolge wächst, die Stimme nicht. Zwischen zwei Schallfolgen, in denen sie laut wird, ist die Stimme nicht vorhanden, und dann kehrt sie als dieselbe wieder. In der unwillkürlichen Lebenserfahrung fällt sie mit ihrer Einwirkung zusammen, obwohl diese Kausalität in der physikalischen und physiologischen Interpretation, die für die Phänomenologie belanglos ist (vgl. zu dieser Interpretation: Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 24-77: Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis; Gibt es die Welt?, 2014, S. 116-130), durch viele Zwischenglieder vermittelt wird. Ein anderes Halbding ist der chronische Schmerz ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 39

„In der phänomenologischen Theorie der Personalität wird dargelegt, daß die Person mit ihrer leiblichen Dynamik durch personale Emanzipation und personale Regression, Abstand nehmend und darauf zurückfalled, verbunden ist. Das Verhältnis und die Ausgestaltung beider Prozeßrichtungen sind von großer Bedeutung für die Empfänglichkeit der Person für Gefühle. Man kann über seine Gefühle, auch wenn sie leiblich spürbar ergreifen, hinwegleben. Man kann auch auf verschiedenen Niveaus personaler Emanzipation, eventuell gleichzeitig, verschieden betroffen werden. Die Lebensgeschichte hat einen wichtigen Einfluß darauf, ob und wie sich die Person gegen Gefühle sperrt. Die Chance für die Person, sich nach der anfänglichen Überwältigung durch das ergreifende Gefühl in Preisgabe oder Widerstand damit auseinanderzusetzen, gibt Gelegenheit zur Entwicklung einer persönlichen Kultur des Fühlens zwischen Rohheit und subtiler Verfeinerung.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 41

„Verwandt ist der feierliche Ernst mit weit ausladender Atmosphäre, ein mächtiges Gefühl, das sowohl spontan in einer weiten, öden, stillen Landschaft von großem Format als auch bei feierlichen Anlässen auftreten kann und das Besondere an sich hat, daß es gegen Lust und Leid (oder Unlust) indifferent ist; an diesem Beispiel scheitern die von Aristoteles (in: Nikomachische Ethik, 1105b21-23), bei Kant und in der Psychologie der Folgezeit zur vermeintlichen Selbstverständlichkeit gediehenen Versuche, das Gefühl auf L;ust und Unlust zu reduzieren und dadurch seine Fixierung in der Seele zu besiegeln. Freude ist ein hebendes Gefühl, das das Leben leicht macht. Diese Leichtigkeit ist nicht nur metaphorisch zu verstehen, aber auch nicht vom Körper. An der körperlichen Schwere ändert sich durch Freude nicht das Geringste. Die Leichtigkeit betrifft vielmehr den vom Körper säuberlich zu unterscheidenden spürbaren Leib. Wegen seiner Erleichterung imponiert die unveränderte physische Schwere nicht mehr wie sonst; der Freudige hüpft (»Freudensprung«) oder »schwebt« in Seligkeit. Das braucht nicht an gesteigertem Kraftgefühl zu liegen; es gibt nämlich auch eine passive Freude, in die man sich schlaff fallen läßt, z.B. bei der Erleichterung von einer schweren Sorge, und soclhe Freude hebt nicht weniger, weil man mit ihr eine levitierende, hebende Atmosphäre des Gefühls geraten ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 42

„Die Neue Phänomenologie geht mit ihrer Lehre vom Gefühl hinter die Weltspaltung zurück, die als seither weitgehend dominantes Paradigma der europäischen Intellektualkultur um 450 v. Chr. - philosophisch zuerst faßbar im trümmerhaft überlieferten Werk Demokrits - einsetzt und von Platon und Aristoteles vollendet wird. Im Interesse der Machtergreifung der Person als Vernunft über die unwillkürlichen Regungen wurde danach die erfahrbare Welt in der Weise zerlegt, daß jedem Bewußthaber eine Seele als seine private Innenwelt, in die sein gesamtes Erleben eingeschlossen wurde, zugeteilt und zwischen den Seelen nur eine reduzierte Außenwelt belassen wurde, abgeschält bis auf wenige für Statistik und Experiment geeignete Merkmalsorten, die noch heute das Datenmaterial der Physik bilden, und deren hinzugedachte Träger; der Abfall der Abschälung wurde absichtlich oder versehentlich (unter der Hand) in den Seelen abgeladen. Dieses Schicksal traf insbesondere die Gefühle. Zuerst waren diese ohne Verseelung in einer Weise verstanden worden, die ihrer Auffassung als räumliche ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte in der Neuen Phänomenologie viel näher kommt. Rudolf Otto kommentiert den altindischen (vedischen) Gott Manyu, d.h. »Zorn«, mit den Worten: »Unheimliche Zornmacht wird gefühlt« (Rudolf Otto, Das Gefühl des Überweltlichen, 1932, S. 147).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Gefühle als Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 44

„Kollektive oder gemeinsame Atmosphären sind stets an gemeinsame Situationen gebunden, während gemeinsame Situationen auch ohne gemeinsame Atmosphären vorkommen. Die Klärung des Verhältnisses von Atmosphären und Situationen ist also von zentraler Bedeutung für das Verständnis kollektiver Atmosphären. Dafür muß aber zunächst die Eigenart der Atmosphären einerseits, der Situationen andererseits herausgearbeitet werden. Ich beginne mit den Atmosphären.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 50

„Eine Atmosphäre ist eine ausgedehnte (nicht immer totale) Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich erlebter Anwesenheit, d.h. dessen, was als anwesend erlebt wird. Die Zumutung flächenloser Räume hat für die gewöhnliche Einstellung etwas Befremdliches, weil man den Raum für dreidimensional hält und dafür als zweidimensionaler Ausschnitt die Fläche nötig ist, von der man durch Hinzufügung der Dicke oder Tiefe zum Raum aufsteigt. Auch den so eingestellten Menschen sollte man aber leicht von der Existenz flächenloser Räume überzeugen können, indem man ihn an den Raum des Schalls erinnert. Räumlich ist der Schall nicht nur durch Signale für Richtung und Entfernung, sondern er füllt selbst Raum durch sein Volumen, weit ausladend als dumpfer, sonorer Klang, scharf und spitz als heller Pfiff, wieder anders als Hall und Echo, sowie durch seine Bewegungssuggestionen, die von der Musik auf tanzende Leiber überspringen oder als stechender Lärm den Belästigten einengen. Der Schall hat keine Flächen; deshalb ist sein Volumen auch nicht dreidimensional, sondern dynamisch wie das einer ausladenden Gebärde. Flächenlos sind ferner der Raum des Wetters, etwa der trüben Atmosphäre eines Regentages oder der frischen Luft, wenn man aus dumpfer Stube ins Freie tritt, der Raum der einprägsamen (feierlichen, drückenden oder zarten) Stille, des entgegenschlagenden Windes, der frei sich entfaltenden Gebärde, des unauffälligen, dauernd durch kleine Bewegungen in Anspruch genommenen Rückfeldes, des Wassers für den Schwimmer, der sich vorwärts kämpft oder ruhig tragen läßt. Die wichtigsten flächenlosen Räume sind die des spürbaren Leibes und der Gefühle. Ich will mich hier nicht dabei aufhalten, wie ich den spürbaren Leib vom sicht- und tastbaren Menschen- oder Tierkörper der Ausdehnung und Dynamik nach unterscheide und den Gefühlen eine eigenartige Räumlichkeit zusprethe; ich habe mich darüber so oft und eingehend geäußert, daß ich das Gemeinte hier als bekannt voraussetzen darf. Statt dessen will ich Atmosphären dem Typ nach differenzieren. Der Bedarf danach stellt sich z. B. beim Wetter ein. Ich meine nicht das naturwissenschaftlich konstruierte Wetter mit Luftdruck, Luftfeuchtigkeit usw. -schon die Luft ist ein Konstrukt -, sondern das unmittelbar gespürte und gesehene Wetter, das nächstliegende Gesprächsthema noch unter Fremden. Dieses Wetter ist im angegebenen Sinn eine Atmosphäre, die oft den Raum erlebter Anwesenheit ganz erfüllt und darin den Gefühlen gleicht, braucht aber kein Gefühl zu sein. Man kann sich über das Wetter ärgern, wenn es z. B. lästig wird oder Pläne durchkreuzt, ohne von dieser Atmosphäre affektiv betroffen zu werden, in dem Sinn, daß etwas von ihr in das eigene leiblichaffektive Betroffensein überginge; wenn dies aber doch der Fall sein sollte, würde man sie gleich mit einer fertigen Stellungnahme aufnehmen und ihr Eindringen kontrollieren können. Das ist anders bei den Atmosphären, die Gefühle sind. Auch sie brauchen nicht ergreifend in das leiblich-affektive Betroffensein überzugehen, aber wenn sie so eindringen, tun sie es stürmisch oder schleichend mit einem Impuls, dem gegenüber der Betroffene nicht von vorherein selbständig ist; er muß erst einmal Partei für das Gefühl nehmen und kann sich erst nach einer Anfangsphase in Preisgabe oder Widerstand selbständig dazu verhalten. Auch das Wetter kann von dieser Art sein; dann ist es ein Gefühl. Wegen dieser Verlaufsstruktur bezeichne ich das affektive Betroffensein von Gefühlen als Ergriffenheit.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 50-52

„Während dies das unterscheidende Merkmal der Gefühle von solchen Atmosphären, die zur totalen Erfüllung des Raumes erlebter Anwesenheit fähig sind, sein dürfte, unterscheiden sich Atmosphären des Gefühls von leiblichen Atmosphären durch ihren Anspruch, den Raum erlebter Anwesenheit total zu besetzen -ich würde sagen: zu erfüllen, wenn es nicht auch ein Gefühl der Leere gibt, das ich als Verzweiflung (im Gegensatz zur Dauer) beschrieben habe. Leibliche Atmosphären sind leibliche Regungen, die nicht auf einzelne Leibesinseln verteilt sind, sondern den ganzen spürbaren Leib umfassen, wie wenn man sich müde und lustlos fühlt oder gereizt, oder umgekehrt bei etwas warm wird und mit Eifer bei der Sache ist. Dann können zwar einzelne Leibesinseln beteiligt sein, aber die Regung ist so, daß man sich selbst im Ganzen so oder so betroffen weiß und nicht bloß etwas von sich hier oder dort. Solche ganzheitlichen leiblichen Regungen, wozu auch das bloß leibliche Behagen im Gegensatz zum Behagen als Gefühl der Geborgenheit gehört, strahlen nicht in den ganzen Raum erlebter Anwesenheit aus und erheben nicht den Anspruch, ihn ganz zu besetzen, wie die Gefühle, z. B. die Scham, die am Rand ihrer Ausstrahlung zur Peinlichkeit für die Anwesenden wird, oder die Trauer, die durch ihre Autorität die Fröhlichkeit des Fröhlichen, der ahnungslos an tief traurige Menschen gerät, niederschlägt oder dämpft; ich habe an diesem sozialen Gefühlskontrast, der konträre Gefühle von ihnen verwandten konträren leiblichen Regungen unterscheidet, ein spezifisches Merkmal der Gefühle abgelesen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 52

„Von den Atmosphären komme ich nun zu den Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten wird. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alles (sehr oft nichts) in ihr einzeln ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 erhöht. Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen, die gewisse Sachverhalte sind. Einzeln kann etwas daher nur als Fall von etwas, einer Gattung, sein. Wenn diese von vorherein einzeln sein müßte, wäre wieder eine Gattung nötig, deren Fall sie wäre, und so fort ad infinitum; man käme nie zu etwas einzelnem. Daher ist einzelnes nur möglich, wenn Gattungen in satzförmiger Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden und Sachen als ihre Fälle schon vereinzeln können, ehe sie selbst definitiveinzeln sind. So kann man in abstracto ableiten, daß Situationen benötigt werden, damit überhaupt etwas einzeln sein kann. Konkret sind Situationen der ursprüngliche Boden der gesamten Lebenserfahrung, schon beim Säugling, wohl schon beim Embryo. Wir gehen unablässig durch Situationen hindurch, die meist unauffällig und dann nicht einzeln sind. Alle Wahrnehmung geht auf Situationen, aus denen einzelnes nur herausgegriffen und zu Konstellationen vernetzt werden kann. Ein Grundfehler der in Europa seit der Scholastik, namentlich der nominalistischen Spätscholastik, herrschenden Denkweise war und ist der Projektionismus, zu meinen, am Anfang der Lebenserfahrung werde einzelnes aufgelesen, zusammengestellt und je nach Bedürfnissen und Interessen mit Bedeutungen behängt. Man hat sich die Voraussetzungen der Einzelheit nicht klargemacht.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 52-53

„Situationen können aktuell und zuständlich sein. Aktuell sind Situationen, deren Verlauf sich in beliebig dichten zeitlichen Querschnitten, von Augenblick zu Augenblick, verfolgen läßt, z. B. Gefahren, Gespräche, Ausübungen motorischer Kompetenzen wie Gehen, Kauen, Sprechen, ferner Träume, Phantasien, Überlegungen; es lohnt sich nicht, hier weiter aufzuzählen. Zuständlich sind Situationen, deren Verlauf, wenn sie nicht plötzlich abreißen, sich nur nach längeren Fristen sinnvoll abfragen läßt, z.B. eine Sprache, eine Persönlichkeit (d.h. zuständliche persönliche Situation), eine motorische oder intellektuelle Kompetenz, die Standpunkte, die Fassung, die Gesinnung eines Menschen, der im Wechsel des Gesichtes sich durchhaltende Charakter, an dem man ein Ding als etwas von dieser Art oder einen Menschen als diesen (mit dieser Stimme, diesem charakteristischen Gang usw.) erkennt, Lebensformen eines Lebenskreises, in denen sich etwa eine Familie, ein Dorf, eine soziale Schicht eingerichtet hat, und so weiter. Situationen können individuell oder gemeinsam sein. Eine individuelle Situation ist für jede Person ihre zuständliche persönliche Situation, die sogenannte Persönlichkeit der Person. Sie bildet sich aus den Bedeutungen, die für die Person subjektiv sind, in dem Sinn, daß höchstens sie diese Bedeutungen sagen kann. Im präpersonalen Leben-sind sie ohne Vereinzelung in Situationen versenkt. Im Zuge der Personwerdung können mit Hilfe satzförmiger Rede einzelne Bedeutungen abgerufen und neutralisiert, d. h. der Subjektivität für die Person entkleidet werden. Unter ihnen sind Sachverhalte, die Gattungen sind und viele Fälle haben können. Wenn für solche Fälle der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, daß sie existieren, für die Person neutral wird, werden ihr diese Fälle fremd- Gegenüber dem Fremden baut sich für die Person eine Sphäre des Eigenen auf, bestehend aus allem, woran sie in Zu- oder Abneigung hängt, und deren Kern ist ihre persÖnliche Situation, zur persönlichen Eigenwelt bereichert durch alle die Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, daß sie existieren, für die Person subjektiv geblieben oder geworden ist. Daraus ergeben sich unübersehbar viele individuelle Situationen der Person, aktuelle sowohl wie zuständliche. Sie sind teilweise der persönlichen Situation als partielle Situationen inkorporiert. Ebenso ist die persönliche Situation in gemeinsame Situationen eingebunden, teils so fest, daß sie nicht ohne erhebliche Rückstände und Verwundungen daraus gelöst werden kann, teils so locker, daß der Person der Wechselleicht fällt. Im ersten Fall handelt es sich um implantierende, im zweiten um inkludierende Situationen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 53-55

„Situationen, auch gemeinsame oder kollektive Situationen, brauchen nicht mit Atmosphären verbunden sein. Ein Gegenbeispiel sind flüssig gesprochene und verstandene Sprachen. Eine Sprache ist eine Situation, die ganz nur aus Programmen besteht, nämlich aus Regeln für die Formulierung von Sprüchen, die der Sprecher zur Darstellung von Sachverhalten, Programmen und / oder Problemen und zu darauf aufgebauten weiteren Zwecken benützen kann. Die Regeln sind die Sätze der Sprache. Sie werden vom Könner der Sprache in sprechendem und verstehendem Gehorsam benützt, ohne sie aus dem Ganzen der Situation, die für ihn (in den Grenzen seines Sprachschatzes) die Sprache ist, einzeln herauszuholen; nur die Erzeugnisse der Benutzung, die Sprüche, und die von ihnen dargestellten Bedeutungen werden einzeln. Eine Sprache ist eine zuständliche gemeinsame Situation, die obendrein segmentiert ist, in dem Sinn, daß ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit niemals mit einem Schlage, als vielsagender Eindruck, ganz zum Vorschein kommt. Sprachen sind gemeinsame Situationen ohne Atmosphäre.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 55

„Auf der anderen Seite kommen Atmosphären ohne Situationen vor, solange sie privat bleiben und nicht gemeinsam sind. Ein gutes Beispiel sind die Verstimmungen der Zyklothymiker, die ohne Anlaß und ohne Deutung von Hochstimmung oder Depression überfallen werden. Unübertrefflich schildert Mörike solche Ereignisse in seinem Gedicht Verborgenheit:
Laß, o Welt, o laß mich sein !
Locket nicht mit Liebesgaben,
Laßt dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein !
Was ich traure, weiß ich nicht,
Es ist unbekanntes Wehe;
Immerdar durch Tränen sehe
Ich der Sonne liebes Licht.
Oft bin ich mir kaum bewußt,
Und die helle Freude zücket
Durch die Schwere, so mich drücket
Wonniglich in meiner Brust.
Mörike sucht die Privatheit, um sich im Rückzug von der Welt dem Auf und Ab seiner Gefühle hinzugeben, die ihn undeutbar überfallen und so mächtige Atmosphären sind, daß er das Sonnenlicht nur durch Tränen sieht, in einer Atmosphäre des Gefühls, die ihm die Welt verschleiert, bis plötzlich wie aus dem Nichts, ohne bewußte Überlegung als Anlaß, Freude über ihn kommt. Ein anderes Beispiel ist der Genuß anspruchsvoller klassischer Instrumentalmusik, die starke Atmosphären des Gefühls präsentiert, während es eine unverbindliche Spielerei bleibt, Vorschläge darüber zu machen, was der Komponist sagen will, um welche Sachverhalte, Programme oder Probleme es sich handelt, außer in Sonderfällen wie Bachs Capriccio sopra ia iontananza dei suo fratello diietissimo (Ständchen über die Einsamkeit seines ältesten Bruders; HB). Auch in diesen Fällen bleibt der Genuß, selbst wenn viele wie beim Konzert gemeinsam hören, Privatsache eines jeden, und es entwickelt sich keine Situation.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 55-56

„Im Gegensatz dazu sind kollektive Atmosphären immer Atmosphären in Situationen. Das dürfte daran liegen, daß sie auf Einleibung beruhen. Einleibung ist eine der beiden Hauptformen -und die gewöhnlichere -leiblicher Kommunikation. Sie beruht auf der leiblichen Dynamik in der für den Leib wichtigsten Dimension von Enge und Weite, nämlich auf dem vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung antagonistisch verschränkt sind, einander hemmend und treibend. Der Antrieb kann im Alleinsein stattfinden, etwa bei der Atmung und Entleerung; er kann aber auch gemeinsamer Antrieb sein, und dann handelt es sich um Einleibung.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 56-57

„Als Partner kommen andere Leiber von Menschen und Tieren in Betracht, aber auch leiblose Gegenstände, sofern sie mit Bewegungssuggestionen und / oder synästhetischen Charakteren besetzt sind, leibnahen Brückenqualitäten, die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gestalten wahrgenommen werden können; in Betracht kommen ferner Halbdinge wie der Wind, die unterbrechbar dauern und hinter deren Einwirkung keine unterscheidbare Ursache steht, sogar dann, wenn solche Halbdinge am eigenen Leib begegnen wie der zudringlich wiederkehrende Schmerz oder die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt. Einleibung kann antagonistisch oder solidarisch sein. Antagonistische Einleibung gibt es nur, wenn von wenigstens einer Seite ein Beteiligter sich dem anderen zuwendet; solidarische Einleibung kommt ohne solche Zuwendung aus. Antagonistische Einleibung gibt es als einseitige und als wechselseitige. Sie ist einseitig, wenn jemand an etwas hängt, von dem er gefesselt oder fasziniert ist, so daß er in permanent abhängiger Stellung diesem maßgebenden Partner unterworfen ist. Bei wechselseitiger Einleibung, wie im Gespräch oder bei Kampfspielen, fluktuiert die Dominanzrolle, indem beide Seiten aneinander wechselweise die Initiative, und damit für den Augenblick die Dominanz, abgeben, die zu ihnen zurückkehrt, wenn sich entscheidet, ob die Initiative »landet«. Solidarische Einleibung kommt zustande, wenn Menschen oder Tiere durch einen gemeinsamen Antrieb zusammengeschlossen werden, ohne daß dieser davon abhängt, daß einer von den Beteiligten sich dem anderen zuwendet. Ein besonders deutliches Beispiel ist die Massenpanik, wenn jeder, rücksichtslos gegen die anderen, seinem Impuls »Nur weg von hier« als Treibkraft folgt, aber nur, weil es ein gemeinsamer Impuls ist, der auf alle überspringt und sie zu einer flüchtenden Masse vereinigt. Andere Beispiele sind Aufruhr, Massenekstasen, gemeinsames Singen von Volks-, Kriegs- und Kirchenliedern, politischen und sozialkämpferischen Hymnen, gemeinsames Musizieren, spontan abgestimmtes Mannschaftsspiel (auch in einem Wolfsrudel), Rufen, Klatschen und Trommeln (auch an eine Clique von Einpeitschern deligierbar). Solidarische Einleibung ist fast immer als zugleich antagonistische auf ein Thema bezogen, es gibt seltene Ausnahmen, z.B. motivloses ansteckendes Lachen, wie es als dämonisches Verhängnis in Homers Odyssee über Penelopes Freier kurz vor dem Freitod hereinbricht (vgl. Homer, Odyssee, 20, 345-349). “
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 57-58

„Einleibung ist die Heimstätte gemeinsamer Atmosphären und gemeinsamer Situationen .... An erster Stelle nenne ich leibliche Atmosphären, die unmittelbar aus dem gemeinsamen Antrieb erwachsen und keiner ergreifenden Gefühle bedürfen. .... Wichtiger als diese reinleiblichen gemeinsamen Atmosphären sind die ergreifenden Atmosphären des Gefühls, die sich ihnen auflagern und von dem gemeinsamen Antrieb der Einleibung ebenso angezogen werden wie von dem des Individuums. Alles Ergriffensein von Gefühlen ist leiblich affektiv, wenn auch zusätzlich geformt durch personale Stellungnahme in Preisgabe oder Widerstand, und sein Sitz im Leib ist der vitale Antrieb, der je nach der verfügbaren leiblichen Disposition von der ergreifenden Macht zum Schwingen aufgeregt oder durch Spalten zu privativer Weitung oder privativer Engung angeregt wird - lebhaft oder sanft, je nach der aufwühlenden oder beruhigenden Macht des Gefühls.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Kollektive Atmosphären, in: Atmosphären, 2014, S. 58-59

„In der Größenlehre unterscheidet man zwischen extensiven und intensiven Größen. Eine Größe ist extensiv, wenn sie sich durch Schnitte in Teile zerlegen und aus diesen ohne Verlust wieder zusammensetzen läßt. Das ist der Fall bei schneidbaren räumlichen Größen, Strecken, Flächen, Körpern. Der Schnitt besteht bei Strecken in Punkten, bei Flächen in Strecken, bei Körpern in Flächen. Intensiv ist eine Größe, die sich nicht so zerlegen läßt. Ein Beispiel ist die Wärme. Sie kann größer und geringer sein, aber nicht durch Zusammensetzung von Teilen geringerer Größe. In einer großen Hitze lassen sich keine Teile milder Wärme unterscheiden; sie erlaubt auch keine Zerlegung durch Schnitte. Dennoch möchte man die Größe der Wärme nach Graden staffeln. Zu diesem Zweck muß man sie in eine extensive Größe übersetzen, deren Teile bei Zusammensetzung das Ganze ausmessen. Das geschieht versuchsweise, indem man die Wärme auf eine Strecke abbildet, nämlich auf die Bahn der im Thermometer auf- und absteigenden Quecksilbersäule. Dabei muß man unterstellen, daß den gleichen Abständen der Markierungsstriche für Zerlegung der Strecke gleiche Abstände der intensiven Wärmegröße entsprechen. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Beim Ansteigen der Wärme gibt es ruckartige Übergänge vom Kalten über das Kühle, Warme und Wärmere zum Heißen; diese Sprünge haben keine Entsprechung im Thermometer. Trotz des Mißlingens begnügt man sich mit der unzulänglichen Extensivierung, um überhaupt eine Gelegenheit zur Messung“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 78

„Eine alte Rätselfrage, die schon in der mittelalterlichen Scholastik anhaltend erörtert wurde, dreht sich darum, worin die intensiven Größenunterschiede bestehen, da sie doch nicht durch Zusatz von Teilen zu Teilen zustande kommen. Ich habe diese Frage durch die Unterscheidung zwischen Verhältnissen und Beziehungen beantwortet. Beziehungen sind gerichtet, nämlich von etwas, das sich bezieht, auf etwas, worauf es sich bezieht, eventuell durch Zwischenglieder. Verhältnisse sind ungerichtet. Ein Beispiel: Zwei Dinge liegen neben einander. Das ist ein ungerichtetes Verhältnis. Um daraus Beziehungen zu gewinnen, muß ich es spalten, indem ich mich hinzunehme und dann sage, daß das erste Ding rechts, das zweite links vom anderen liegt. Alle Beziehungen beruhen auf Verhältnissen. Das ergibt sich aus ihrer trivialen Umkehrbarkeit. Der Beziehung des Vaters zum Sohn entspricht die umgekehrte Beziehung des Sohnes zum vater. Entsprechend bei beliebigen anderen Beziehungen. Diese Umkehrbarkeit gehört nicht zur Gerichtetheit als solcher. Es gibt auch unumkehrbare Richtungen, wie die Richtung des Blickes in die Tiefe des Raumes oder die Richtung von Vorgängen oder Abläufen. Inhaltlich können wir einen Prozeß zwar umkehren, aber er kehrt nie zu seinem Ausgangspunkt zurück, wie die Beziehung des Vaters zum Sohn bei Umkehrung zum Vater zurückkehrt, sondern setzt den Zeitverlauf geradlinig fort. Mit dieser Unumkehrbarkeit folgen die Prozesse dem Fluß der Zeit, in dem sich die zeitliche Gegenwart beständig verschiebt. Im Gegensatz dazu beruht die Umkehrbarkeit der Beziehungen darauf, daß sie an den ungerichteten Verhältnissen eine feste, beharrende Grundlage haben. Verhältnisse sind gewöhnlich in Beziehungen spaltbar. Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse. Ein ganz banales Beispiel ist das gemeinsame Sägen mit der zweigriffigen Baumsäge ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 78-79

Die Stimmung einer Stadt beruht auf Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren, die als leibliche Brückenqualitäten bei den Anwesenden solidarische Einleibung bewirken, auf der sich Gefühle als Atmosphären mit bedeutsamen zuständlichen Situationen niederlassen und den Anwesenden mitteilen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Die Atmosphäre einer Stadt, in: Atmosphären, 2014, S. 94

„Leipzig ist nicht sanft, eher stattlich, ein wenig verhalten in selbstbewußter Bürgerlichkeit, wie man sich vielleicht Bach, den Leipziger vorstellen kann; selbst die Erscheinung und Bewegung der Menschen der Straße hat etwas davon. Dresden aber ist sanft, mit gelassener Anmut an der Elbe hingestreckt. Es dürfte gleich schwer sein, den Genius von Leipzig weiblich wie den von Dresden männlich zu bilden. Ebenso kann es raue und grelle Städte geben, sowie Mozartstädte; vielleicht hat Wien, das ich nicht kenne, etwas davon.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Die Atmosphäre einer Stadt, in: Atmosphären, 2014, S. 100-101

„Gefühle sind meist in Situationen befangen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten wird durch einme binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und/oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle Bedeutungen in ihr einzeln sind. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Situationen sind teils aktuell, so daß ihr Verlauf nach beliebig kurzer Zeit auf Veränderungen geprüft werden kann, teils zuständlich, so daß dies erst nach längeren Fristen sinnvoll ist, wie im Fall einer Sprache, die ganz nur in einer Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sätze - Programme für Sprüche - sind, besteht. Gute Beispiele für Gefühle, die in eine zuständliche gemeinsame Situation eingebunden sind, sind die Liebe eines Liebespaares oder einer harmonischen Familie und das Rechtsgefühl eines Rechtsvolkes, das den aus Zorn und Scham stammenden Unrechtserfahrungen mit ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit einen Maßstab des Unerträglichen, des gemeinsam durch Vorbeugung oder Sanktion abgewendet werden muß, vorgibt. Von solcher Art, von Situationen durchzogen und in sie eingebettet, sind auch die Gefühle, die die Atmosphäre einer Stadt bilden, und die zuständlichen Situationen, die sich durch sie über Bewegungssuggestionen, synästhetische Charaktere“ und solidarische Einleibung den Menschen in der Stadt mitteilen.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Die Atmosphäre einer Stadt, in: Atmosphären, 2014, S. 105-106

„Landschaft wird nicht durch Zugehörigkeit zur sogenannten Natur und auch nicht durch eine spezielle ästhetisch-sentimentale Einstellungen, sondern durch eine bestimmte Weise des Wahrnehmens. Um das zu verdeutlichen, muß ich zunächst das Verständnis von Wahrnehmung revidieren. Dieses Verständnis wird heute von der Naturwissenschaft beherrscht. Demnach wäre Wahrnehmung der einzie Zugang von Informationen aus der Außenwelt zum Bewußtsein eines Bewußthabers in Gestalt von Signalen, die, als Licht- und Materialwellen (im quantenphysikalischen Sinn) von Gegenständen ausstrahlend, auf Sinnesorgane treffen und von dort nach Umwandlung in elektrische Impulse über Nervenbahnen zum Gehirn geleitet werden, wo sie sich im Kreuzfeuer der Neuronen verlieren; daß ein Weg von da weiter zum Wahrnehmen und Bewußthaben führt, wird postuliert, ist aber eine emprisch nicht nachprüfbare Spekulation (! HB). Die Unzulänglichkeit dieses Modells für Wahrnehmung ist offensichtlich (! HB). Weder das Wahrgenommene noch das Wahrnehmen kommen darin vor (! HB). Das Wahrgenommene wird ersetzt durch Quantenfelder oder ähnliche Substrukte der Naturwissenschaft, und statt beim wahrnehmenden Bewußthaber endet die Signalkette im Gehirn, das eine zweideutige Rolle spielt; einerseits als naturwissenschaftliches Substrukt aus Elektronen, Atomen, Molekülen, Zellen usw., andererseits als das wahrnehmbare Gehirn, das nicht mehr der Signalkette angehört (! HB), sondern dem, was sich aus ihr im Bewußtsein (d.h. dem Bewußtgehabten) des Bewußthabers absetzen soll. Eine besondere Schwierigkeit hat das naturwissenschaftliche Modell mit der Konservierung der Information in der Signalkette (! HB): Eine ungeheuer große Menge von Signalen, z.B. Photonen, strahlt vom Gegenstand der Wahrnehmung aus; ein relativ sehr kleiner, aber absolut immer noch riesiger Bruchteil davon trifft die Netzhäute eines sehenden Individuums; ein winziger Bruchteil kommt im Gehirn an und vermengt sich dort mit Signalen anderer Herkunft (! HB). Es ist nicht zu glauben, daß nach solchen Verlusten, Verschiebungen und Vermengungen etwas übrig bleibt, das dem Bewußthaber eine einigermaßen zuverlässige, für den Bedarf des lebendigen Umgangs genügend Auskunft darüber, womit er zu tun hat, geben könnte.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Landschaft als Wahrnehmungsweise, in: Atmosphären, 2014, S. 109-110

„Der Kontrast zwischen dieser offensichtlichen Unzulänglichkeit und der überragenden Leistungsfähigkeit des naturwissenschaftlichen Modells ist so kraß, daß sich ein Seitenblick auf die berechtigten Erwartungen an die Naturwissenschaft aufdrängt. Die Naturwissenschaft ist die Wissenschaft der schematischen Prognostizierbarkeit. Der Datenvorrat der Lebenserfahrung wird auf wenige Merkmalsorten eingeengt, die zur Bestätigung von Behauptungen mit Hilfe von Apparaten, die nach physikalischen Kriterien kostruiert sind, verwendet werden. Es handelt sich um Merkmale wie Größe, Gestalt, Lage im Raum, Bewegungszustand und Bewegungsrichtung, die zuerst von Aristoteles als mehreren Sinnen gemeinsam aufgezählten, seit Locke »primär« genannten Sinnesquellen; sie sind besonders gut intermomentan und intersubjektiv identifizierbar, meßbar und selektiv variierbar, daher für Experiment und Statistik geeignet. Auf dieser schematisch reduzierten Grundlage gelingen durch Zusatz erdachter Parameter und mathematischer Kalküle überraschend zuverlässige Prognosen im Bereich der unbelebten Natur als Leitschienen für das sich vortastende Probieren der Technik, manchmal auch für Warnungen; die Extrapolation dabei beobachteter Regelmäßigkeiten zu allgeneinen Naturgesetzen erlaubt zudem Rückschlüsse auf ein vergangenes und gegenwärtiges Umfeld. Auf diese Weise konstruiert die Naturwissenschaft zu der Welt, in der wir leben, ein Paralleluniversum (! HB), das durch ungeheure Erweiterung des menschlichen Vorblicks und lehrreiche Fütterung menschlicher Neugier im Rückblick den Horizont der Orientierung nicht nur erweitert, sondern auch durch vielfältig sich bewährende Markierungen mit festen Bestimmungen absteckt. Daß dieses Paralleluniversum mit der Welt, in der wir leben, inhaltlich gleichwohl recht wenig zu tun hat, ergibt sich aus den Überlegungen, die ich kürzlich breit ausgeführt habe (*) und jetzt simplifizierend in zwei Punkten knapp skizzieren will. (* Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 24-72: Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennens; ders., Gibt es die Welt?, 2014, S. 110-130.)
1. Die Naturwissenschaft kennt nur Seiendes; wir leben dagegen in einer modalzeitlichen Welt, in der einiges ist, anderes noch nicht und anderes nicht mehr ist. Auf diese modalzeitliche Wirklichkeit ist die Naturwissenschaft angewiesen (! HB), weil ihre Beweismethode das Experiment ist, das nur funktioniert, wenn man am Anfang noch nicht weiß, was herauskommt, so daß dann der Kenntnisstand nicht mehr der alte ist. Sie kann die modalzeitlichen Unterschiede daher nicht, ohne sich selbst aufzuheben, als illusorisch hinstellen, aber auch nicht begreifen, denn sie hat keinen Begriff von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Beweis: Sie hat keinen Zugang zu dem Vorzug, den das dritte Jahrtausend christlicher Zeitrechnung vor allen anderen Jahrtausenden dadurch besitzt, daß es die Gegenwart beherbergt, d.h. die Masse alles dessen, was ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein. Sie handelt also von einer Welt, deren Bestand sie für die Begründbarkeit ihrer Behauptungen voraussetzen muß (! HB), nämlich von unserer modalzeitlichen Erfahrungswelt, verschieden ist.
2. Die Naturwissenschaft beschäftigt sich mit einzelnem. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Anzahlen sind Eigenschaften (Eignungen [vgl. Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, 2013, S. 23-31: Zahl]) von Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen; einzeln kann daher nur sein, was Element einer Menge und Fall einer Gattung ist. Gattungen sind aber keine naturwissenschaftlichen Gegenstände (! HB), sondern etwas, das der Naturwissenschaftler zu diesen hinzudenkt (falls er denkt; denn: »Die Wissenschaft denkt nicht« [Heidegger]; HB), um sie auf Begriffe zu bringen, ohne sagen zu können, wie sie in die Natur hineinkommen. Diese Unvermögen (! HB) liegt an einem verkehrten Ansatz des Konkreten. Konkret oder zunächst gegeben sind bedeutsame Situationen, aus deren binnendiffuser Bedeutsamkeit die Menschen durch satzförmige Rede Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) und damit Gattungen herausholen (! HB). Die Naturwissenschaft geht von einzelnen, an sich bedeutungslosen Sinnesdaten (Ereignissen, Zuständen) aus, als ob solche von vornherein vorlägen und nicht erst an dritter Stelle (! HB), nach den Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit und den aus ihnen mit sprachlichen Mitteln herausgeschälten Gattungen.
Die Naturwissenschaft erreicht ihr Gedankengebäude (falls sie eines hat; denn: »Die Wissenschaft denkt nicht« [Heidegger]; HB) mit so gewaltigem Aufwand von Scharfsinn und Sorgfalt, daß man triftigen Anlaß hat, ihren Aufstellungen Glauben zu schenken und sich bei Prognosen im allgemeinen danach zu richten; nur darf man dieses hypothetisch konstruierte Gebäude nicht mit der Erfahrungswelt verwechseln, ganz besonders nicht im Bereich der Wahrnehmung, deren wichtigste Gehalte - der spürbare Leib und die leibliche Kommunikation, die bedeutsamen Situationen mit verschiedenen Typen, die Atmosphären des Gefühls, die Halbdinge mit unterbrechbarer Dauer und einer Kausalität ohne Unterschied zwischen Ursache und Einwirkung, die Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charktere (*) - schon in der antiken Philosophgie seit Demokrit, Platon und Aristoteles, erst recht aber in der Naturwissenschaft unter den Tisch gefallen sind. (* Überblick z.B. in: Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009; Was ist Neue Phänomenologie?, 2013.) Man darf nicht hoffen, die Wahrnehmung selbst mit Hilfe der Naturwissenschaft studieren zu können, sondern diese hat es nur mit obligatorischen Begleitvorgängen zu tun, sie sich zur Wahrnehmung etwa so verhalten wie die Klaviermusik zur Stimme einer Sängerin beim Erklingen einer Schallplatte. Eine um Ädaquatheit bemühte Phänomenologie muß von deren seit der Antike vergessenen Beständen ausgehen, hauptsächlich von der leiblichen Kommunikation.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Landschaft als Wahrnehmungsweise, in: Atmosphären, 2014, S. 110-113

„Die häufige Leibvergessenheit besteht darin, daß die leibliche Dynamik sich nur noch in latenter Einleibung abpielt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Landschaft als Wahrnehmungsweise, in: Atmosphären, 2014, S. 117

„Einleibung ist Ausweitung des innerlichen Dialogs von Engung und Weitung, der der vitale Antrieb ist, auf partnerschaftliche Verhältnisse. Ausleibung entsteht, wenn aus der Schwellung, die im vitalen Antrieb an Erregung gebundenen Weitung, privative Weitung abgespalten wird und die Engung in gestalt- und maßlose Weite mitzieht; man kann sie als leibliche Kommunikation mit solcher Weise charakterisieren.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Landschaft als Wahrnehmungsweise, in: Atmosphären, 2014, S. 117

„Wenn ein Autor, der einer einzigen philosophischen Konzeption seit mehr als 50 (eher schon fast 60) Jahren geradlinig, aber mit perlenschnurartig gereihten Verbesserungsversuchen gefolgt ist und den Ertrag dieses Unternehmens u. a. in mehr als 50 Büchern mit mehr als 14.000 Druckseiten öffentlich dokumentiert hat, an die Schwelle des hohen Alters kommt, wo ihn die physischen Kräfte zu verlassen drohen, hat er Anlaß, auf das Geleistete zurückzublicken und eine Art von Bilanz zu ziehen. Das ist mein Fall. Ich möchte zunächst die Konzeption, der ich so lange ohne Abweichung gefolgt bin, auf eine Formel bringen, die die beharrliche Tendenz meines philosophischen Wollens zusammenfaßt. Ich habe diese Formel erst spät gefunden und zuerst im Vorwort der 1. Auflage meines Büchleins Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (2009) aufgeschrieben, mich dann aber davon überzeugt, daß sie ausreicht, um die Leitlinie meines beharrlichen philosophischen Bestrebens seit 1958 treffend zu beschreiben: Mein Bestreben geht dahin, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen. Näher handelt es sich darum, nach Abbau geschichtlich geprägter Verkünstelungen die unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung zugänglich zu machen. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Gemäß dieser Aufgabenstellung habe ich mein schriftliches Werk auf zwei Schienen gesetzt. Die eine Schiene ist die systematische. Sie dient dazu, mit scharfen, aber geschmeidigen Begriffen wie mit weit ausgespannten Netzen der unwillkürlichen Lebenserfahrung immer näher zu kommen. Sie hat vielleicht zwei Drittel oder etwas mehr meiner Zeit und Kraft in Anspruch genommen. Deren verbleibender Rest kam der zweiten, historischen Schiene zugute. Um den Abstand und die Verbundenheit meines Bemühens der Tradition gegenüber klar und gewissenhaft herauszuheben, mußte ich mich mit dem seit den Griechen gewachsenen abendländischen Denken im Detail auseinandersetzen. Das geschah mit Hilfe vieler, seit 1985 veröffentlichter Bücher zur griechischen und neuzeitlichen Philosophie und wurde ergänzt und zusammengefaßt in meinem zweibändigen Werk: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007). Neben der philosophischen, in erster Linie von den heidnischen Griechen geprägten Überlieferung gehört aber auch das Christentum zu den zentralen Trägern und Motoren des überlieferten europäischen Denkens. Dessen kritischer Einarbeitung in den Kontext dient mein Buch Adolf Hitler in der Geschichte (1999) unter dem Titel der vier Verfehlungen des abendländischen Geistes. Gerade bei diesen Verfehlungen (ein bewußt doppelsinnig belassenes Wort) knüpft mein Versuch einer Rettung der unwillkürlichen Lebenserfahrung durch systematische Besinnung (statt durch Propheten- und Dichtertum, die ihre Autorität verloren haben) an.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 7-8

„Die Bilanz, die ich angekündigt habe, soll nun keineswegs darin bestehen, meine Errungenschaften aufzuzählen. Das wäre fast unabsehbar und allenfalls Thema eines Übersichtsartikels. Statt dessen will ich einige Fronten aufzeigen, an denen sich mein Kampf gegen die überlieferten Verkrustungen vermeintlicher Selbstverständlichkeit abspielt, um die wichtigsten Stoßrichtungen meiner Ausgrabungen zum wirklichen Leben zu markieren. Ich habe alles neu durchgearbeitet und wichtige Verbesserungen angebracht, so daß ich hoffe, daß diese Darstellung auch für Kenner meiner früheren Schriften ergiebig sein wird. Sie soll eingängig sein. Deshalb habe ich diese Vorrede breit als Einleitung angelegt. Ich bin gewohnt, rein sachlich Überlegungen und Ergebnisse mitzuteilen. Jetzt, in einer Bilanz, geht es darum, sie in meiner eigenen Perspektive vorzuführen, sie also auch ein wenig zu umkreisen und dabei hier und da auch dem Leser Brücken zum Verständnis zu bauen. Das wird mich aber nicht hindern, dort, wo der Gegenstand steilere Ansprüche stellt, in der Darstellung den nötigen Schwierigkeitsgrad festzuhalten. Wo eingehendes Nachdenken nötig ist, wird die Darstellung unklar und verworren, wenn sie sich auf Popularität und Plausibilität zurückzieht. Mich tröstet auch an solchen Stellen, daß ich stets um durchsichtige Klarheit der Gedankenführung bemüht bin, durchsichtig bis auf den Grund der Kenntnis hin, die ich jedem durchschnittlich Normalen auf Grund seiner Lebenserfahrung und Lebensführung zutraue. Daraus erwächst meine Vorliebe für Definitionen, wodurch ich mich von fast allen gegenwärtigen Fachkollegen unterscheide. Ich möchte garantieren, daß man in meinen Veröffentlichungen jeweils genau wissen kann, wovon die Rede ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 8-9

„Jeder der ausgewählten vier Hauptlinien meines Unternehmens widme ich ein Kapitel. Das erste Kapitel betrifft die Subjektivität. Sie hat im abendländischen Denken einen schwierigen Anfang. Den Griechen lag die Selbstbesinnung nicht so wie die Weltanschauung. Der griechische Denker reflektierte zwar auf sich selbst, aber nur als auf ein Stück der Welt, die vor ihm lag und der er sich eingeordnet fühlte, also auf »die Stellung des Menschen im Kosmos«, um Max Scheler zu zitieren. Das Christentum intensivierte zwar die Selbstbesinnung und Selbstsorge, hielt sich dabei aber an den griechischen Objektivismus, indem es den menschlichen Bewußthaber (das Subjekt, das seiner selbst bewußt ist) in einem separaten Stück der um eine transzendente Dimension erweiterten vorgegebenen Welt unterbrachte, in seiner jeweiligen Seele (alias Geist, Bewußtsein, mind usw.), mit der Aufgabe, als Vernunft und freier Wille Herr in diesem Haus zu sein. Er wurde in seiner privaten Innenwelt angesiedelt und im Zuge der naturwisenschaftlich-atomistischen Orientierung des neuzeitlichen Denkens geradezu in diese (in »Seelenatome«) aufgelöst (Hume, Mach). Wo man ihn bewahrte, blieb er eine Sache (Substanz) unter lauter im wesentlichen ähnlichen Sachen anderer Art, bloß durch eine für Vergewisserung oder Gegenstandskonstitution ausgezeichnete Position hervorgehoben (positionale Subjektivität, Descartes, Kant). Für das mit seiner seelischen Innenwelt vermengte Subjekt ergab sich die Rätselfrage, wie es aus ihr heraus zum Objekt kommt. Diese Nivellierung der Subjektivität auf einen bloßen Positionsunterschied (wenn nicht gar Auflösung in Atome) legte die Gegenfrage nahe: Wo bleibe ich selbst? Was kommt zu dem, was ich an mir finde, dadurch hinzu, daß ich selbst das bin (strikte Subjektivität). Diese Frage stellte sich zuerst Johann Gottlieb Fichte. (»Ich schreibe, es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich, daß mein Schreiben nicht das Schreiben eines anderen ist?« »Mein Schmerz, nicht der deinige. Wo ist der Unterschied?« ) Er fand aber nicht die richtige Lösung, sondern flüchtete sich zuerst in die Konstruktion eines absoluten Ich, das keine Tatsache ist, sondern nur die Tathandlung, sich selbst zu setzen, und dann, als diese Konstruktion wegen der Begrenzung durch das Nicht-Ich unhaltbar wurde, in das Schweben der produktiven Einbildungskraft zwischen den unvereinbaren Gegensätzen von Begrenztheit und Unbegrenztheit, aufgeschraubt zum transzendentalen Zirkel. Dieses Schweben wurde zur Dominante des abendländischen Denkens und Lebensgefühls in der Folgezeit, in mehreren Dimensionen. Eine davon ist die Angst, die Kierkegaard als den Höhenschwindel des Schwebens über den eigenen Möglichkeiten deutete; sie ist das Leitmotiv der Existenzphilosophie, die die strikte Subjektivität hochhält, aber nicht zu verorten vermag. Einen geistreichen, aber so nicht haltbaren Vorschlag zu deren ontologischer Verortung machte Heidegger (Sein und Zeit: das Dasein, das bloß seine Möglichkeiten ist und zu sein hat). Eine zweite Dimension, heute die dominante, der unbeabsichtigten Fichte-Nachfolge, ist die ironistische: die absolute Wendigkeit des Schwebens, sich jedem Standpunkt entziehen und auf jeden versetzen zu können, beginnend als romantische Ironie (Friedrich Schlegel), fortgeführt im Dandytum des 19. Jahrhunderts, heute vulgarisiert zur Coolneß und trivialisiert durch elektronische und andere Maschinen mit unzählbaren Angeboten flüchtiger Wahlmöglichkeiten. Eine dritte Dimension ist der Positivismus, der sich dem Schweben der strikten Subjektivität durch deren Verleugnung entzieht und bloß noch Natur in Gestalt vernetzter Daten im Sinne eines Physikalismus gelten läßt. Alle diese Versuche, sich mit der strikten Subjektivität, nachdem sie einmal zur Sprache gekommen ist, abzufinden, scheitern an einem Mißverständnis der Tatsächlichkeit. Man läßt nur objektive oder neutrale Tatsachen gelten, d. h. solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, und übersieht die volleren subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Wenn man sich überzeugt hat, daß es nicht nur viele Tatsachen, sondern auch viele Tatsächlichkeiten gibt und die für jemanden subjektiven Tatsachen der Sitz seiner Subjektivität sind, braucht man nicht mehr die Weltspaltung durch den scharfen Gegensatz von Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, sondern das Verhältnis gleicht eher dem elastisch (nicht automatisch) kommunizierender Röhren. Wittgenstein hat gesagt, die Welt sei alles, was der Fall ist, nämlich das Bestehen von Tatsachen. Er dachte aber nur an objektive Tatsachen. Wenn man die subjektiven hinzunimmt, ändert sich die Perspektive der Selbstbesinnung, und das Fichte’sche Ich mit allen seinen Nachfolgern (wie dem Dasein Heideggers) braucht nicht mehr zu schweben. An diesem Unterschied hängt auch die Lösung des Freiheitsproblems, woran alle Versuche seit Jahrtausenden unvermeidlich gescheitert sind, weil sie die Freiheit in objektiven Tatsachen suchten. Davon wird in diesem Zusammenhang die Rede sein.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 9-11

„Das nächste Vorurteil von grundlegender Bedeutung für die Versperrung des Zugangs der Besinnung zum wirklichen Leben ist das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit; ich widme ihm das zweite Kapitel. Die Menschen sind geneigt, alles für identisch mit sich und obendrein für einzeln zu halten; zu den Axiomen der heutigen Identitätslogik gehört »x = x«, wobei »x« für alles steht. Man muß aber absolute und relative Identität unterscheiden. Etwas ist selbst oder absolut identisch, sofern es, wenn vieles ist, von anderem verschieden ist; das ist noch keine Beziehung zu sich selbst, wie relative Identität mit sich. Etwas ist einzeln, wenn es eine Anzahl um 1 vermehrt; ich habe gezeigt, daß diese besonders einleuchtende Definition gleichwertig ist mit den beiden anderen: Einzeln ist etwas, sofern es Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, d. h. mit der Anzahl jeder nichtleeren Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist; einzeln ist, was Element irgendeiner endlichen Menge ist. Man sieht, daß diese Begriffe nicht im Umfang zusammenfallen; was absolut identisch ist, braucht nicht einzeln zu sein, und was einzeln ist, nicht unbedingt relativ (mit sich) identisch. Genaueres darüber folgt. Das übliche und den meisten Philosophen selbstverständliche Meinen ignoriert diese Unterschiede. Der Scholastiker Burlaeus (Walter Burley, ca. 1275-1345, Tractatus de universalibus) schreibt darüber: »Der Zahl nach identisch (idem numero) ist nach gewöhnlichem Verständnis jenes, das, mit einem anderen in eine Zahl gebracht, so eine Zahl bildet, daß man von jenem und dem anderen in Wahrheit sagen kann, daß die da zwei sind.« Das ist eine gute Annäherung an die Definition des Einzelnen, das eine Anzahl um 1 vermehrt, und Burley ist auch darin im Recht, daß er von numerisch Identischen spricht; denn numerisch (zahlfähig, Element einer Menge, die eine Anzahl hat) kann nur sein, was einzeln ist. Er scheint aber doch die Verschiedenheitsfähigkeit (absolute Identität) mit der Einzelheit zu vermengen, und das gehört gewiß zur gewöhnlichen Meinung, auf die er sich beruft.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 11-12

„Es gibt aber auch Mannigfaltiges anderer Art als das numerische, dessen Inhalte lauter einzelne Elemente von Mengen sind, deren jede (ob endlich oder unendlich) zählbar ist, d. h. eine Zahl (d.h. umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit gewisser Mengen auf sich) besitzt. Ich habe bewiesen, daß nicht alles einzeln sein kann. Dabei fuße ich auf der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung, der besagt, daß für jedes Etwas (d.h. alles, was etwas ist) und jede Bestimmung als etwas das Etwas die Bestimmung entweder hat oder nicht hat. Ich zeige, daß etwas, das durchgängig bestimmt ist, vielmehr gänzlich unbestimmt wäre, was nicht der Fall sein kann. Diese Widerlegung - sogar für alles Beliebige - hat wichtige Folgen; sie sperrt den allgemeinen Determinismus, den Fatalismus (daß alles vorherbestimmt sei) und den Realismus (daß alles vorläufig fertig ist). Darüber hinaus folgt aus ihr logisch, daß nicht alles einzeln sein kann, und ferner, daß der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (für jede Behauptung A ist mindestens A oder die Verneinung nicht-A von A wahr) nicht allgemeingültig ist. Dies ist eine mächtige Waffe gegen ein Überhandnehmen der Mathematik, den Panmathematismus. Mathematik ist eigentlich der Versuch, mit Hilfe des logischen Denkens die Domäne des numerischen Mannigfaltigen auf alles Mannigfaltige auszudehnen. Dieser Versuch hat großartige Erfolge gebracht, ist aber im Ganzen zum Scheitern verurteilt und auch schon an den Antinomien gescheitert. Seine wichtigste Waffe ist der indirekte Beweis, der auf dem Vertrauen in die Allgemeingültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten beruht. Der große Mathematiker Hilbert hat gesagt, man solle dem Mathematiker so wenig den indirekten Beweis nehmen wie dem Boxer seine Boxhandschuhe. Nun, er soll ihn behalten, aber sich bewußt sein, daß er ein gefährliches Spiel treibt, wenn er eine nicht markierte Grenze überschreitet.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 12-13

„Welche Typen der Mannigfaltigkeit gibt es außer dem numerischen Mannigfaltigen? Zunächst das konfuse Mannigfaltige, in dem es sogar an absoluter Identität und Verschiedenheit fehlt. Sodann das diffuse Mannigfaltige, das zwar durch absolute Identität und Verschiedenheit gegen Verwechslungen im Umgang mit ihm geschützt ist, das aber noch ohne Einzelheit seiner Inhalte auskommt. Beide Typen, den konfusen und den diffusen, habe ich unter dem Titel des chaotischen Mannigfaltigen zusammengefaßt. Dabei wird der Unterschied zwischen Beziehungen und Verhältnissen wichtig. Alle Beziehungen sind gerichtet, von etwas, das sich bezieht (Referens) auf etwas, worauf es sich bezieht (Relat), eventuell durch Zwischenglieder. Verhältnisse sind dagegen ungerichtet. Alle Beziehungen entstehen durch Spaltung von Verhältnissen. Es gibt aber auch (zu gegebener Zeit) unspaltbare Verhältnisse. Beziehungen sind nur zwischen einzelnen Etwassen möglich, Verhältnisse dagegen sowohl zwischen einzelnen Teilnehmern als auch zwischen solchen aus nichtnumerischen Mannigfaltigem. Unspaltbare Verhältnisse dieser beider Arten können einstimmig oder unstimmig sein. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Spezialform des unspaltbaren Verhältnisses, das instabile oder (wie ich jetzt der Einfachheit halber sage) zwiespältige Mannigfaltige. Es entsteht, wenn die absolute Identität der Teilnehmer gestört ist, so daß unvereinbare Etwasse um Identität mit demselben Etwas konkurrieren. Ein Muster dafür ist die Husserl'sche Puppe. Der Philosoph Husserl sah, im Wachsfigurenkabinett durch eine als Frau zurechtgemachte Puppe getäuscht, in den Augenblicken der Entlarvung eine zwiespältige Erscheinung, in der sich die Züge von Frau und Puppe verwirrend überdeckten. Das wäre ein sichtbarer Widerspruch gewesen, wenn Frau und Puppe genügend auseinandergetreten wären, um einzeln zu sein. Das war aber nicht der Fall. Wenn an die Stelle solcher sichtbaren Objekte Behauptungen treten, ergeben sich Antinomien, die Widersprüche wären, wenn die behaupteten Sachverhalte einzeln auseinanderträten, was aber bei richtigem Verständnis der Antinomien so wenig der Fall ist wie bei der Husserl’schen Puppe oder im Witz. Ich habe mich ausführlich damit beschäftigt. Das zwiespältige Mannigfaltige ist nicht auf solche Sonderfälle beschränkt, sondern durchzieht das tägliche Leben. Jeder Mensch (verglichen mit den unzähligen »Phasenmenschen«, die er im Lauf seines Lebens durchläuft) ist ein zwiespältiges Mannigfaltiges.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 13-14

„Warum ist das Durchschauen der Typen der Mannigfaltigkeit, die Brechung des Monopols des numerischen Mannigfaltigen, so wichtig für den Durchbruch der Besinnung zum wirklichen Leben? Ein weit verbreiteter, besonders von der Naturwissenschaft (außer der Quantenphysik) geförderter Irrtum ist die Voraussetzung, daß alles ohne weiteres einzeln sei (Singularismus) und die Erfahrung daher mit dem Auflesen vieler selbstverständlich vorgegebener Einzelheiten beginnen könne, um dann durch Abstraktion fortzuschreiten. Alle Bedeutungen (d. h. hier: Sachverhalte, Programme, Probleme) gelten dann als nachträglich dem Einzelnen aufgesetzte oder zugedeutete Projektionen, etwa abhängig von den Bedürfnissen oder Interessen des projizierenden Subjektes. Dieser projektionistische Singularismus ist von Grund auf verkehrt. Um den Irrtum zu durchschauen und zur unwillkürlichen Lebenserfahrung zurückzufinden, muß man die Herkunft der Einzelheit und des numerischen Mannigfaltigen analysieren. Dabei gelangt man zu der Einsicht, daß die Bedeutungen den anderen einzelnen Sachen gegenüber primär sind und selbst als einzelne, unter denen sich Gattungen für die Subsumtion einzelner Fälle befinden, durch die satzförmige Rede des Menschen aus dem konfusen oder diffusen Mannigfaltigen der Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit expliziert (entbunden) werden müssen. Nicht also sind einzelne Gegebenheiten (Sinnesdaten, physikalische Meßgrößen, Körper und dergleichen) der Grundstoff menschlicher Erfahrung, sondern bedeutsame Situationen. Erst mit dieser Einsicht gelangt man zum wirklichen Leben der unwillkürlichen Lebenserfahrung.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 14-15

„Das Thema des dritten Kapitels - Leib und Gefühl - bringt den Vorteil mit sich, an einen bestimmt datierbaren und analysierbaren geschichtlichen Großirrtum anknüpfen zu können, der seit dem 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert die europäische Intellektualkultur vollständig in die Irre geführt und zur Verdeckung der unwillkürlichen Lebenserfahrung im menschlichen Selbstverständnis entscheidend beigetragen hat. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses an der Schwelle vom archaischen zum klassischen griechischen Denken und Dichten, nämlich um die Weltspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Ihr Motiv war die Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen, die über die Person teilweise spontan kommen (wie Zorn, Eros, Phobos als panischer Fluchtdrang), teils aus göttlich-dämonischer Quelle. Zu diesem Zweck wurde die Welt zerlegt in Seelen als private Innenwelten (je eine für jeden BewußthaberPsychologismus) und eine zwischen diesen verbleibende empi rische AußenweIt. Diese wurde zwecks Reinigung von dubios ergreifenden Mächten bis auf wenige Merkmalsorten und deren hinzugedachte Träger (zunächst Atome, später Substanzen) abgeschliffen (Reduktionismus). Der Abfall der Abschleifung wurde teils absichtlich in den Seelen abgeladen (spezifische Sinnesqualitäten), zum großen Teil aber übersehen und schließlich, wenn er sich nicht verbergen ließ, in verwandelter Gestalt in den Seelen untergebracht (Introjektion). Mit der Weltspaltung verband sich die Menschspaltung in Seele und Körper, wobei dieser in eine zweideutige Stellung zwischen Innenwelt (als der Domäne des Menschen) und empirischer AußenweIt geriet. Dieses Paradigma setzte sich in der zweiten Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts durch, ablesbar in der Philosophie am Gegensatz der zeitgenössischen Antipoden Empedokles und Demokrit und in der Dichtung bei Sophokles im Gegensatz zu Aischylos sowie mit dem Aufkommen der Lust als Thema des privatisierten, affektiven Betroffenseins (z. B. Aristophanes). Allgemeinverbindlich wurde es im 4. vorchristlichen Jahrhundert durch Platon und Aristoteles.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 15-16

„Bei der Menschspaltung im 5. und 4. Jahrhundert ist man sehr schematisch verfahren und hat zwischen dem materiellen, sicht- und tastbaren Körper und der gern (besonders in der platonischen Tradition) als immateriell vorgestellten Seele zentrale Bestandteile der unwillkürlichen Lebenserfahrung unter den Tisch fallen lassen. Eines dieser Opfer ist der spürbare Leib, eigentlich jedem Menschen der Nächste. Jeder kennt aus beständiger Erfahrung mit sich Schreck, Schmerz, Angst, Hunger, Durst, Jucken, Kitzel, Ekel, Behagen, Wollust, Frische, Müdigkeit, Mattigkeit und viele andere leibliche Regungen, aber auch Gefühle werden die seinigen nur dadurch, daß er sie am eigenen Leib spürt, z. B. im Frohsinn, Traurigsein, Fürchten, Sichärgern, Sichschämen, Bestürzung usw.; er läßt seinen Blick schweifen oder konzentriert ihn, atmet ein und aus, greift, zuckt, schluckt, zittert usw. Alles das sind Ereignisse in einem flächenlosen Raum, wenn sie auch zum Teil, nämlich im Fall der Motorik, eine Entsprechung im flächenhaltigen Raum des materiellen Menschenkörpers haben. Es gibt viele flächenlose Räume, z. B. den des Schalls, der mit dem Raum des Leibes viel gemeinsam hat. Wie sich der Raum des Schalls (z. B. mit Lokalisierung der Schallquelle) mit dem flächenhaItigen Raum des Sehens und Tastens überdeckt, ohne darin aufzugehen, so der Leib mit dem Körper. Seine Ausdehnungsweise ist demnach anders und verdient eigenes Studium. Das gilt ebenso für die Dynamik des Leibes, die von der des physischen, materiellen Körpers sehr verschieden ist. Die wichtigste Dimension dieser Dynamik ist die von Enge und Weite, besetzt mit gegenläufigen Tendenzen der Engung und Weitung, die, miteinander verschränkt, den (vitalen) Antrieb bilden, sich aber auch teilweise voneinander lösen können. Der Antrieb ist ein Dialog von Engung und Weitung und dadurch befähigt, in der Einleibung als gemeinsamer Antrieb die Brücke der leiblichen Kommunikation zu schlagen, wodurch alle Kontakte (z. B. der Wahrnehmung) vermittelt werden. Die auf die mit Körpern besetzte Außenwelt der Weltspaltung fixierte Tradition weiß nichts davon und muß ersatzweise materielle oder semimaterielle Brücken schlagen, die, wenn sie auch seit dem 17. Jahrhundert von der Naturwissenschaft legitimiert sind, nicht vom Gesehenen zum Sehen (dem Blick) oder umgekehrt führen, sondern etwa von elektrischen Ereignissen in Atombündeln zum Gehirn. Es ist erstaunlich, daß es dem Paradigma der Weltspaltung gelungen ist, dem menschlichen Selbstverständnis das Nächste der unwillkürlichen Lebenserfahrung vorzuenthalten. Der Apostel Paulus war der Letzte, dem dieses Milieu selbstverständlich war, nachdem vorher die Stoiker, in deren Doktrin die sogenannten Körper vielmehr Leiber mit vitalem Antrieb sind, ihre Kenntnis leiblicher Dynamik mit der Weltspaltung vermischt hatten. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts, sogar in Frankreich (Maine de Biran), wo man die glückliche verbale Alternative »Leib/Körper« nicht hat, regt sich bei Philosophen wieder ein Sinn für die Eigenart des Leiblichen, aber dabei gelang es noch nicht, der Vermengung von Leib und Körper und damit der Menschspaltung zu entgehen. Tatsächlich sind die Unterschiede in Ausdehnung und Dynamik so groß, daß nicht von zwei Aspekten derselben Sache, sondern von verschiedenen, wenn auch lokal sich überschneidenden Gegenständen gesprochen werden sollte. Der Leib könnte aus dem Körper auswandern, wie es einzelne Leibesinseln (Phantomglieder der Amputierten) schon tun; neuerdings versuchen Neuropsychologen (z.B. in Lausanne), ihn dazu zu bringen, ohne zu wissen, was sie tun, da sie - befangen in der Menschspaltung - an Täuschungen glauben.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 16-18

„Die Aufdeckung und Analyse des spürbaren Leibes kann wesentlich zur Überwindung der Weltspaltung beitragen. Deren Dilemma besteht nicht nur in der Problematik, wie der Bewußthaber aus seiner abgeschlossenen, nur durch Sinnesorgane zugänglichen Innenwelt herauskommen soll, sondern mehr noch darin, wie er hineinkommt, wie er sich überhaupt zu ihr verhält. Daß er sich in seine Seele oder seinen Geist oder sein Bewußtsein auflöst, kann man nur glauben, wenn man ruhig am Schreibtisch sitzt; wer überwältigt wird und die Fassung verliert, wird schon merken, daß er selber leidet und nicht nur ein Bündel Hume-Mach’scher Empfindungen gewisse Modifikationen durchmacht. Der Bewußthaber ist Person nur durch die Fähigkeit der Selbstzuschreibung, sich für einen Fall mehrerer Gattungen zu halten und durch Akzentverschiebung zwischen diesen Fällen sich selbst bestimmen zu können. Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewußthaben. Es stellt sich heraus, daß dieses identifizierende Sichbewußthaben nur durch ein vorgängiges, nicht identifizierendes möglich ist. Wie kann es aber geschehen, daß jemand sich seiner ohne Identifizierung bewußt ist? Der einzige Weg führt über das affektive Betroffensein in den Leib an die Quelle des vitalen Antriebs in extremer Enge, wenn der plötzliche Andrang des Neuen Dauer zerreißt, Gegenwart aus ihr abreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein entläßt (primitive Gegenwart mit fünf in unspaltbarem Verhältnis verschmolzenen Momenten: hier, jetzt, sein, dieses, ich). Dabei entspringen absolute Identität und Subjektivität. Die Nachwirkung dieses Ereignisses in der Engungskomponente des Antriebs überträgt sie beide ins normale Bewußthaben. Der Antrieb ist in der Einleibung an Begegnendes angeschlossen. Die Person ist in ihm und damit in leiblicher Kommunikation geerdet und kommt, ohne zu verschwinden, nicht davon weg, wenn sie auch darüber hinauswächst. Damit sind die Introjektion und die Weltspaltung überwunden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 18-19

„Die abgeschlossene private Innenwelt und die Introjektion in sie sind abgeschüttelt. Es erübrigt sich, nach einer Seele oder einem Bewußtsein zu suchen, in dem Vorstellungen (perceptions), Empfindungen, intentionale Akte usw. entsprechend den intendierten Gegenständen gespeichert wären. Ein bekannter Slogan der älteren Phänomenologie lautet: »Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas.« Das an erster Stelle genannte Bewußtsein, den Speicherplatz, kann man vergessen. Das an zweiter Stelle genannte Bewußtsein (von etwas) bleibt das Bewußthaben eines Bewußthabers, der zu dem, was ihm angeboten wird, verarbeitend Stellung nimmt. Wahrnehmen z. B. ist Einleibung (oder Ausleibung, leibliche Kommunikation im Kanal privativer, aus dem vitalen Antrieb sich lösender Weitung), oft überdeckt durch persönliche Stellungnahme aus neutralisierender Distanz. Denken ist Auseinandersetzung mit Sachverhalten, Programmen oder Problemen, die aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden. Wollen ist eine vermittelnde Tatigkeit zwischen drei Instanzen: einer Herausforderung, der persönlichen Situation, der die Person eine ein stimmige Antwort darauf (eine Absicht) abgewinnen muß, und dem vitalen Antrieb, der zur Zuwendung zur Absicht gewonnen werden muß. Die leiblichen Regungen werden unmittelbar gespürt; die Person kann sich damit auseinandersetzen. Es bleiben die Gefühle. Gewöhnlich hält man sie für Inhalte, die man in der Seele oder im Bewußtsein vorfinden kann. David Hume nannte als das einzige Ergebnis der Inspektion seiner selbst in einem Atem Perzeptionen »der Wärme oder Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust«. Die Wissenschaft versteht Gefühle im Anschluß an Kant meist als Zustände von Lust und Unlust, Bestände privater Innenwelten. Die ältere Phänomenologie von Brentano über Husserl zu Scheler brachte die Auffassung der Gefühle als intentionale, auf etwas (ein Thema, einen Gegenstand) abzielende Akte hinzu. Aber vielmehr fliegen Gefühle den Betroffenen entweder nur flüchtig an oder sie ergreifen ihn und werden dadurch zu seinen eigenen Gefühlen, die er als etwas von sich selber fühlt. Gefühle sind wie bloße leibliche Regungen Weisen des affektiven Betroffenseins, das dem Betroffenen nahegeht, ihn mit sich nimmt oder gar mitreißt, keineswegs aber private Zustände, die man bei sich vorfindet und (als Lust) begrüßt oder (als Unlust) wegwünscht, und ebenso wenig Akte, mit denen man von sich aus ein Objekt aufsucht. Von den bloßen leiblichen Regungen unterscheiden sie sich durch ihre fesselnde, fast hypnotisierende Kraft, die dem Ergriffenen, den sie nicht nur flüchtig berühren, anfangs Einstimmung in ihren Impuls aufnötigen, so daß er erst nach einer Weile in Preisgabe oder Widerstand persönlich Stellung nehmen kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 19-20

„Der Platz der Gefühle muß nach ihrer Befreiung aus der Introjektion also neu gefunden werden. Ich habe vorgeschlagen, sie als Atmosphären zu verstehen, die entweder bloß wahrgenommen werden oder, wenn sie nicht bloß flüchtig berühren, den Betroffenen leiblich spürbar ergreifen und dann zu seinen eigenen werden, zu denen er in Preisgabe oder Widerstand persönlich Stellung nehmen kann. Ich habe 1969 den Begriff der Atmosphäre in die Philosophie eingeführt, nachdem ein Jahr zuvor der Psychiater Tellenbach über Geschmack und Atmosphäre geschrieben hatte. Unter einer Atmosphäre verstehe ich die ausgedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird. Nicht alle Atmosphären sind Gefühle, sondern, nur solche, die mindestens dem Anspruch nach den Raum erlebter Anwesenheit total zu erfüllen suchen, die eine Autorität haben, die bis zu verbindlicher Geltung mit unbedingtem Ernst gehen kann, und die im affektiven Betroffensein von ihnen die eben benannte fesselnde Kraft des Ergreifens besitzen, egal, ob sie stürmisch oder schleichend kommen. Gefühle sind Halbdinge (wie die Stimme), die sich von Dingen im Vollsinn durch unterbrechbare Dauer und eine unmittelbare Kausalität, in der Ursache und Einmerkung dem Effekt gegenüber zusammenfallen, unterscheiden. Sie sind meist, aber nicht immer, fester oder lockerer in Situationen eingebunden. Ich lasse diese abstrakten Angaben hier ohne Erläuterung stehen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 20-21

„Das vierte Kapitel betrifft die Umstände der Personwerdung. Die Inhalte der drei ersten Kapitel sind schon präpersonal antreffbar, im Leben der Tiere und Säuglinge. Tiere und Säuglinge sind in Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit (aus nicht einzelnen Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind) gefangen. Menschen überwinden als Personen (Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung) diese Gefangenschaft mit Hilfe ihrer satzförmigen Rede, die den Sätzen einer Sprache (Regeln für die redende Darstellung von Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen) gehorcht. In dieser Sprache, einer Situation, in der sie leben, sind die Menschen beim Reden ebenso gefangen wie die Tiere in anderen Situationen, aber sie benützen diese Gefangenschaft zur Explikation einzelner Bedeutungen aus binnendiffuser Bedeutsamkeit. Das ist die spezifische Funktion menschlicher, satzförmiger Rede, während die kommunikative Leistung menschlicher und tierischer Rede gemeinsam ist. Unter den explizierten Sachverhalten befinden sich Gattungen, die Fälle haben können. Dadurch wird es möglich, von den Bedeutungen her beliebige Sachen zu vereinzeln; denn Einzelheit ist das Zusammentreffen von absoluter Identität mit dem Fallen unter Gattungen. Was Gattung und Fall sind, wird im 2. Kapitel erklärt. Die Gattungen brauchen nicht schon vollständig explizit zu sein, um Vereinzelung zu ermöglichen. Diese bleibt dann aber sporadisch und labil. Stabil und zusammenhängend wird die Vereinzelung erst, wenn explizite einzelne Gattungen sich zu nach Übereinstimmung und Unterschied geordneten Netzen zusammenschließen. Durch solche Konstellationen kann der Mensch die Situationen rekonstruierend in den Griff nehmen und planend oder phantasierend überholen, sofern ihm noch folgende Leistungen gelingen: Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen, wobei er den Fluß der Zeit benötigt; Projektion von Einzelnem in das Nichtseiende der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist, worin die geschlossene Zukunft dessen, was noch nicht ist, bis zum Entstehen unabsehbar verschlossen ist. Dazu bedarf es der Entfaltung der fünf Momente der primitiven Gegenwart zur Welt als dem Feld aller möglichen Vereinzelung; sonst bliebe es für diese bei unvollkommenen Gehversuchen (vielleicht auf dem Niveau der Neandertaler). Das Hier der primitiven Gegenwart, das leibliche Zusammenfahren unter dem plötzlichen Andrang des Neuen, entfaltet sich zum Ortsraum mit Lagen und Abständen; das Jetzt, das Plötzliche des Andrangs, entfaltet sich zur modalen Lagezeit des Entstehens und Vergehens mit Fluß der Zeit; das Sein entfaltet sich aus dem Gegensatz zum Vorbeisein zum Gegenteil des Nichtseins in voller Breite mit Erlaubnis für die Projektion, die Schwelle zu überschreiten; das Dieses, die absolute Identität, entfaltet sich zur relativen Identität, die das Fallen unter mehrere Gattungen zusammenfaßt und dadurch Gelegenheit gibt, eine Sache vielseitig zu sehen und in mehrere Konstellationen einzuordnen; das Ich der primitiven Gegenwart, die Subjektivität des Betroffenseins vom Andrang, entfaltet sich durch Selbstzuschreibung des Bewußthabers zum einzelnen Subjekt und durch Neutralisierung subjektiver Bedeutungen zur Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Dieser Prozeß wird vom Menschen aber keineswegs gemacht oder geführt, sondern er hat ihn durch seine satzförmige Rede nur angestoßen und wird in einer der fünf Dimensionen der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Weltwerdung mitgezogen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 21-23

„Das Weltverständnis der meisten Menschen beruht auf einem naiven Realismus, nämlich der Überzeugung, daß die Welt sozusagen vorläufig fertig vorgegeben ist, nämlich durchgängig, aber jeweils veränderbar bestimmt. Dieser Einstellung wird der Boden weggezogen durch meinen Beweis, daß der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung für keinen einzigen Gegenstand zutrifft. Obendrein scheitert sie am Bedenken der Voraussetzungen der Einzelheit. Der naive Alltagsrealismus ist singularistisch, d. h., er hält die Einzelheit der Gegenstände, mit denen er befaßt ist, ohne weiteres für selbstverständlich. Damit gleicht er der Art, wie Philosophen an Einzelheit heranzugehen pflegen. Die philosophischen Systeme gleichen meist einem Brettspiel, in dem die Figuren auf die dominanten, den Sieg verheißenden Plätze und die benachteiligten Plätze hin- und hergeschoben werden, z. B. Subjekt/Objekt, Verstand/Sinnlichkeit, Geist/Materie, Spontaneität/Rezeptivität. Jede dieser Sachen oder Bedeutungen wird von vornherein als einzelnes Besitzstück einer Partei behandelt. Das ist verspielt, weil nicht auf die komplizierten Voraussetzungen des Hervorgehens von Einzelheit geachtet wird. Ich selbst bin erst seit 1994 darauf aufmerksam geworden und habe erst sehr viel später das Verhältnis von absoluter Identität, Einzelheit und relativer Identität genau bestimmt. Wenn man diesen Zusammenhang durchschaut, bemerkt man, wie labil und kontingent die Welt ist. Schon die absolute Identität versteht sich nicht von selbst, sondern verdankt sich der primitiven Gegenwart als dem Riß, dem Urakzent, ohne den nichts selbst sein könnte. Die Welt ist kein Ding an sich, sondern ein Gesicht, das eine aus Seiendem und Nichtseiendem gemischte Masse dem menschlichen Reden als Antwort auf dessen Herausforderung zeigt. Ohne diese Antwort gäbe es keine Welt und keine Einzelheit, sondern die Gefangenschaft der Bewußthaber in Situationen kehrte zurück. Hier erweist sich, daß die Rückkehr zum wirklichen Leben und zur unwillkürlichen Lebenserfahrung nicht immer eine Einkehr bei gewöhnlichen Überzeugungen ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 23-24

„Eine Blüte des naiven Realismus ist das geläufige naturwissenschaftliche Weltbild, abgesehen von den Überraschungen und Verlegenheiten der Quantenphysik. Es beruht auf der Weltspaltung. Am Ende des Kapitels wird es kritisch erörtert.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 24

„Nach den vier systematischen Kapiteln folgt als fünftes Kapitel ein historisches, das ich überschrieben habe: Rückschau auf das Abendland. Dazu ermächtigt mich eine Mischung von Enthusiasmus und Melancholie. Die abendländische, auf dem Boden des weströmischen Reiches gewachsene Kultur ist in vielen Zweigen von so glänzender Fülle der Gestaltungskraft durchzogen und mit so großen Erfolgen belohnt worden, daß der Bewunderung kein Ende sein sollte. Aber gerade ihre führenden Wegweiser, die Philosophie und die (christliche) Religion, sind trotz gleichfalls großartiger Beiträge weitgehend vergiftet durch die vier Verfehlungen des abendländischen Geistes (vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, 1999), denen die konstellationistische der Neuzeit zugerechnet werden muß. Um sie loszuwerden, wäre eine Umkehr erforderlich, zu der das Abendland dank seiner einmaligen, von den Griechen geerbten Kultur der kritischen Aufklärung, einschließlich der Selbstkritik und Selbstkorrektur, die Kraft haben könnte, wenn ihm diese nicht vom Einsickern des unerbittlich selbstsicheren Islam abgenommen wird. Möge das Erbe des Sieges bei Salamis nicht verlorengehen!“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 24

„Mit dem von der Übermacht ergreifender Gefühle geweckten Impuls auffangender philosophischer Besinnung ist es mir sonderbar ergangen. Seit etwa 1950, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist das Brausen der unkontrollierbaren, aber von Könnern manipulierbaren Affekte kollektiv und individuell - abgesehen von einigen Harmlosigkeiten wie Woodstock und andere Rockfestivals - abgeebbt wie ein gewaltiger Sturm und einer entgegengesetzten Bedrohung des affektiven Betroffenseins gewichen, einer vielleicht noch gefährlicheren, die ebenso Grund genug ist, sich als Philosoph auf deren Quellen zu besinnen. Es handelt sich um eine eigentümliche Steifigkeit, die die Menschheit (zumindest die europäische, aber überall wird Europa) heimgesucht hat und sich immer weiter ausbreitet. Bis dahin konnten die Menschen aus der Fülle ungeformter Möglichkeiten schöpfen und schöpferisch (in diesem Sinn des Wortes) neue Wege ausprobieren; es genügte, aus der Stadt aufs Land zu gehen und in die weite Welt zu wandern wie der Wandervogel in der Jugendbewegung nach 1900. Fortan ist das fruchtbare Feld ungeformter Möglichkeiten verstellt durch eine von der modernen Maschinentechnik (neuerdings besonders Elektronik) ausgereizte Perfektion von Angeboten kurzfristiger Lebensführung, gleich einem durch fortschreitende Verdichtung undurchsichtig werdenden Schienensystem, in dem der Einzelne von Station zu Station die Weichen stellen kann, scheinbar souverän in der Auswahl, aber nicht mehr in der Gestaltung, also nicht mehr schöpferisch im angegebenen Sinn. Dem kommt die Kultur der coolen Wendigkeit in dem von Friedrich Schlegel im Anschluß an Fichte eingeleiteten ironistischen Zeitalter zugute; sie bricht den Menschen das Rückgrat konsequenten eigenen Wollens und versetzt sie auf das Niveau spielender Kinder, die ihren Launen nachgehen dürfen. Die Menschen sind wie Puppen in einem Maschinenpark, in dem sie einige Hebel stellen können, durch die sie kurzfristig Herren ihres Weges werden, indem sie sich langfristig der Herrschaft der Maschinen ausliefern und den Schein augenblicklicher Souveränität mit der Unterwerfung unter den übermächtigen Betrieb der vernetzten Angebote bezahlen. Die Lebendigkeit des affektiven Betroffenseins verliert auf diese Weise den großen Schwung, den langen Atem; das Pathos, auch das unaufgeregte, wird zur Laune. Unter dem Scheinleben puppig versteifter Menschen muß ihr wirkliches Leben, ihre Ergreifbarkeit und die daraus allein sich ergebende Möglichkeit schöpferischen Gestaltens noch ungeformter Möglichkeiten, geweckt und, da Propheten unter Ironisten keine Macht mehr haben, wenigstens durch begreifende Besinnung dem Bewußtsein der Menschen wieder nahegebracht werden. Deswegen konnte ich, wenn auch mit umgekehrter Frontstellung, mit demselben Impuls meiner Absicht treu bleiben, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 26-27

„Am Anfang der Konzeption meines Werkes System der Philosophie (5 Bände in 10 Büchern) stand 1959 die zufälligen Notiz in einem Band der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, der französische Psychiater Eugène Minkowski habe den Ausdruck »moi-ici-maintenant« gebraucht, also schon drei Momente der primitiven Gegenwart zsuammengestellt, an deren Entdeckung als Anker der Konzeption schloß sich im Herbst des Jahres an schnell das Übrige. Dabei richtete sich, wie schon gesagt wurde, mein Augenmerk in erster Linie auf das affektive Betroffensein in Gestalt der Ergreifbarkeit durch Gefühle als räumlich (aber nicht in der Weise eines Koordinatensystems) ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären; daher dominieren in den ersten fünf Büchern von System der Philosophie (Band I bis Band III Teil 2) die Themen Leib, Raum, Gefühl.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 27

„Der nächste große Schub in meinem Denken begann 1967. Damals schrieb mir der Mathematiker und Philosoph Paul Lorenzen, mit dem ich noch nach seinem Weggang von Kiel nach Erlangen eifrig korrespondierte, mit Bezug auf die neue Darstellung meiner phänomenologischen Methode im ersten Paragraphen meines Buches Der leibliche Raum (System der Philosophie Band III Teil 1) am 4. September den kurzen Satzanfang: »Die Phänomene sind Sachverhalte«. Diese vier Worte haben in meinem Denken Epoche gemacht. Ich begann, über Sachverhalte nachzudenken. Das erste, bald sich einstellende Resultat war die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven oder neutralen Bedeutungen (d.h. Sachverhalten, Programmen, Problemen) und die Entdeckung der subjektiven Tatsachen. Davon berichtet, zuerst mit noch teilweise ungeschicktet Umständlichkeit, das 1. Kapitel meines Buches Der Gefühlsraum (System der Philosophie Band III Teil 2, 1969). Der andere große Ertrag des Nachdenkens über Lorenzens Anregung war meine Entdeckung der Situationen, in denen Mannigfaltiges durch eine binnendiffuse (chaotisch-mannigfaltige) Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen zusammengehalten und abgehoben wird, als der Basis aller menschlichen und tierischen Erfahrung. Sie gelang mir erst 1975 und wurde 1977 in Band III Teil 4 von System der Philosophie veröffentlicht. Seither ist der Situationsbegriff einer der Anker meiner Phänomenologie.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 29

„Ich unterscheide drei Haupttypen der Mannigfaltigkeit, den numerischen, den chaotischen und den instabilen (zwiespältigen), und innerhalb des chaotischen Mannigfaltigen den konfusen Typ (mit Mangel an Identität und Verschiedenheit) vom diffusen (dem nur Einzelheit fehlt, während er durch Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen beim Umgang mit ihm geschützt ist). Es fehlt noch die Zerlegung der Identität in absolute und relative; im diffus chaotischen Mannigfaltigen kommt nur die absolute in Betracht. Auch steht das zwiespältige Mannigfaltige ziemlich isoliert da, während das chaotische und das numerische einsichtig zusammenhängen, so daß sich eine Treppe vom konfusen Mannigfaltigen über das diffuse (durch Hinzukommen von Identität und Verschiedenheit) zum numerischen (durch Hinzutritt der Einzelheit) ergibt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 31

„Ein großer Schritt war nötig, um der Mannigfaltigkeitslehre die inzwischen errreichte, vermutlich endgültige Gestalt zu geben. Er gelang durch Entdeckung der unspaltbaren Verhältnisse. Bereits in meinem Buch Logische Untersuchungen (2008) thematisierte ich den Gegensatz zwischen ungerichteten Verhältnissen und gerichteten Beziehungen, aber mehr beiläufig, um die Unentbehrlichkeit des Flusses der Zeit für die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen aufzuzeigen. Weiter kam ich mit Hilfe eines Studenten der Philosophie an der Universität in Jena, des Herrn Sascha Pahl, der sich brieflich an mich wandte, weil er ganz aus eigenem Antrieb, ohne Ermutigung durch seine Professoren, meine Theorie der Subjektivität zum Thema der Magisterarbeit gewählt hatte. Nach sehr verständiger Korrespondenz schickte er mir das Produkt, in dem ich neben zahlreichen anderen Kritiken, auf die ich am 5. April 2009 sofort erwiderte, seinen Anstoß daran fand, daß ich schon in das schlichteste, präpersonale affektive Betroffensein eine reflexive Relation als Kreislauf von Passivität und Aktivität eingeführt hätte. Ich antwortete ihm damals: »Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse«. Mir wurde schlagartig klar, daß - zunächst im angegebenen Fall des präpersonalen, noch nicht mit persönlicher Stellungnahme verarbeiteten, affektiven Betroffenseins - gar keine refelxive Beziehung vorlag, sondern ein (zu gegebener Zeit) nicht in Beziehungen spaltbares Verhältnis. Als erste Arbeit mit dem neuen Begriff fügte ich meinem 2010 erschienenen Buch Jenseits des Naturalismus noch schnell den letzten Aufsatz Schlichtes Beisichsein an. Ausführlich behandelte ich danach das sehr ergiebig befundene Thema »Unspaltbare Verhältnisse« auf den Seiten 54-69 meines Buches Bewußtsein (2010), mit guten Beispielen u.a. aus den Ekstasen der leiblichen Kommunikation (Einleibung und Ausleibung), noch nicht ganz stimmig in allen Details. Die begriffsklare Sichtung des Potentials der unspaltbaren Verhältnisse gelang mir in mienem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik (2013). Absolute und relative Identität werden klar geschieden: jene wird als Voraussetzung für diese erwiesen; Einzelheit zwischen beide Identitäten so eingeordnet, daß sie durch das Zusammentreffen von absoluter Identität mit dem Fallen unter eine Gattung entsteht, relative Identität aber durch Fallen unter mehrere Gattungen. Besonders folgenreich ist die Einsicht, daß Beziehungen (wegen Angewiesenheit auf eine Stellen- und Telnehmerzahl) nur zwischen einzelnen Teilnehmern möglich sind, unspaltbare Verhältnisse aber auch, wenn diese sämtlich oder teilweise nicht einzeln sind. Damit war klar, wie sogar hochstufige Ordnungen auch schon ohne numerische Mannigfaltigkeit (präpersonal, vorweltlich) möglich sind, etwa bei Tieren oder für menschliche Personen in der Sprache, der sie mit ihren Sprüchen redend gehorchen, und in der flüssigen Motorik (des Mundes, der Beine usw.): Dieselben Zusammenhänge können die Gestalt unspaltbarer Verhältnisse und, nach Vereinzelung, die Gestalt von aus Verhältnissen gespaltenen Beziehungen annehmen. Damit übergreift das unspaltbare Verhältnis das diffus chaotische Mannigfaltige; dieses rückt mit dem zwiespältigen Mannigfaltigen, das aus seiner Isolierung gelöst wird, unter dem unspaltbaren Verrhältnis zusammen. Beiden Typen kann es an Einzelheit fehlen; wenn diese ergänzt ist, wird das Mannigfaltige numerisch. Unspaltbare Verhältnisse können aber auch lauter einzelne Teilnehmer verbinden, wofür schon in Bewußtsein ein Beispiel (gemeinsames Sägen) steht. Das unspaltbare Verhältnis ragt also auch in das numerische Mannigfaltige hinein.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 31-33

„Die Figur des unspaltbaren Verhälnisses gestattet viele fruchtbare Anwendungen, z.B. auf Ekstasen, das Bewußthaben, die Wahrnehmung, die Zeit. Mit dieser ist mein Buch Phänomenologie der Zeit (2014) befaßt, das ein besonders kompetenter Beurteiler für mein bisher bestes hält.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 33

„Gernot Böhme stand, seit er mein Buch »System der Philosophie, Band II, Der Leib, Teil 1« (1965) mit einer klugen Besprechung bedacht hatte, unablässig an meiner Seite und hat Wesentliches zur Förderung der Neuen Phänomenologie beigetragen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 36

„Peter Sloterdijk hat mich in Karlsruhe mit allen Ehren aufgenommen und als den bedeutensten lebenden deutschen Philosophen ausgegeben; er hat erstaunlich eingehende Kenntnis meiner Arbeiten bewiesen und sich über diese in seinen Schriften mehrfach anerkennend und verständnisvoll geäußert.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 36-37

„Wie ein Lichtblick an meinem Horizont erscheint mir ... ein Brief, aus dem ich ... zitieren möchte. Er stimmt mit manchen Zeugnissen überein, die mir von philosophisch unverbildeten Menschen zugetragen wurden. Ich erhielt ihn von einem mir persönlich unbekannten Berliner, der sich mir als Mann vorstellte, der nach einem abgebrochenen Studium der Psychologie und einem abenteuerlichen Leben eine kleine Rente beziehe. Er war von einer Ärztin und einer Juristin auf meine Bücher hingewiesen worden und schrieb mir dazu am 24. April 2014: »Seit ich Texte von Ihnen lese, werden mir einige Dinge zugänglich, der Blick, die Atmosphären und Stimmungen, Merkwürdigkeiten von Raum und Zeit. Es scheint mir, ich werde wacher für mein Leben in der Welt. Das finde ich so spannend, daß ich möglichst mehr davon begreifen möchte. Bitte sehen Sie mir auf diesem Hintergrund nach, wenn ich Ihnen lästig fallen sollte. Was ich hingegen überhaupt nicht begreifen kann, und was mich immer wieder erstaunt - daß so grundlegende und andersartige Ergebnisse Ihrer Arbeit so wenig beachtet werden. Einiges begreife ja sogar ich, ohne über eine ausreichende Vorbildung zu verfügen; es deckt sich mit meinen täglichen Erfahrungen.« Wenn ich das lese, wächst mein Mut zu der Hoffnung, daß es mir gelingen könnte, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Vorrede als Einleitung, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 36-37

„Sätze sind Regeln einer Sprache (*), denen ein Sprecher gehorcht bei der Formulierung von Sprüchen, die einzelne Sachverhalte, Programme und/oder Probleme (oft viele zugleich) darstellen und eventuell im Dienst weiterer Zwecke stehen. (* Genauer gesagt: eine Sprache besteht aus Texten/Textemen, Sätzen/Syntakten/Syntaktemen, Wörtern/Logemen/Lexemen, Morphen/Morphemen, Lauten/Phonen/Phonemen sowie all deren Bedeutungen und Regeln, und dies alles auch auf schriftlicher Ebene sowie in einem weiteren und einem weitesten Sinne auch, z.B. im Denken, Kalkulieren oder - primitiver - im Semiotischen; um Schmitz entgegenzukommen: das rein semiotische Sprachsystem ist auf der Stufe des Präpersonalen das, was auf der Stufe des Personsalen das rein linguistische Sprachsystem ist, auf dem auch alle weiteren Sprachsysteme - z.B. das rein logische Sprachsystem und das rein mathematische Sprachsystem - aufgebaut sind; HB.) Eigentlich sind nur Sprüche, die nicht der Sprache, sondern der Rede angehören (die Rede ist gesprochene Sprache und darum auch Sprache; HB), wahr oder falsch; man kann aber, da es unbequem wäre, immer nur einzelne Sprüche herauszugreifen, auch einen Satz wahr nennen, wenn jeder seiner Sprache wahr ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 41

„Aus neutralen oder objektiven Tatsachen, die einen Menschen charakterisieren, ist nichts darüber zu entnehmen, wer dieser Mensch (der jeweilge Bewußthaber) ist. Dennoch sind fast alle, namentlich die Wissenschaftler, davon überzeugt, daß die beschriebene Neutralität oder Objektivität, die prinzipielle Vertretbarkeit beim Aussagenkönnen, zum Wesen jeder Tatsache gehört. Das Pathos dieser Vertretbarkeit ist der Stolz aller exakten Wissenschaften. Das ist ein Irrtum. - Wer einer ist - z.B. ich, der mit den Eigenschaften und Beziehungen zu etwas des Hermann Schmitz behaftet ist -, ergibt sich allein aus den subjektiven Tatsachen eines affektiven Betroffenseins. Eine Tatsache ist subjektiv, wenn höchstens einer, und zwar im eigenen Namen, sie aussagen kann, obwohl die Anderen sie wie er kennzeichnen und daher darüber sprechen können, etwa, indem sie sich kontrafaktisch auf Aussagen beziehen, die er machen könnte. Daß Tatsachen des affektiven Betroffenseins immer für jemanden subjektiv sind, ergibt sich daraus, daß sie ihm nahegehen, denn das kann keine anderer sagen, weil er nicht jener ist. Wohl kann ein Mitmensch, wenn mir etwas nahegeht, sagen, daß dem Hermann Schmitz das nahegeht (z.B. erfreut oder betrübend, bestürzend oder erhebend), aber nur ohne sagen zu können, daß gerade ich derjenige bin, der der hermann Schmitz ist, dem das nahegeht. Das echte, vollständige Nahegehen kommt erst hinzu, wenn ich merke, daß ich dieser Hermann Schmitz bin, und das kann nur ich sagen. Wenn der Andere darüber spricht, ist das nur ein Schattenbild des echten Nahegehens, meines affektiven Betroffenseins. .... Es handelt sich um einen gegen alle Unterschiede zwischen Sprache und Reden invarianten Gegensatz, um die prinzipielle Unmöglichkeit, jemandem ein Bekenntnis seines affektiven Betroffenseins mit Bezug auf denselben Sachverhalt nachzusprechen; egal, wie viel einer weiß und wie gut er sprechen kann; der Andere kann es nicht.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 48-50

„Ich hätte auch ein anderer sein können als Hermann Schmitz, denn diesem steht es nicht an der Stirn geschrieben, daß ich er bin; nicht in dem, was er ist, gestattet einen Schluß darauf. Da ich nun aber tatsächlich Hermann Schmitz bin, indem alle Fälle von Gattungen, die er zusammenfaßt, auf das absolute Identische, das ich bin, zutreffen und mich dadurch zu einem Einzelnen machen, sind alle Bestimmungen des Hermann Schmitz als etwas auch meine Bestimmungen und umgekehrt. Die Bestimmungen des Hermann Schmitz, abgesehen davon, daß ich er bin, ergeben sämtlich objektive oder neutrale Tatsachen; die Bestimmungen meines affektiven Betroffenseins ergeben für mich subjektive Tatsachen, und in diesem Bereich stimmen beide Sorten von Tatsachen überein. Sie betreffen genau dieselben Ereignisse, Zustände, Neigungen meines affektiven Betroffenseins. .... Der Unterschied kann also nicht am Inhalt liegen. .... Da er nicht den Inhalt betrifft, kann er nur an der Tatsächlichkeit liegen. Die Tatsächlichkeit der objektiven Tatsachen ist der intensiveren, gleichsam blut- und lebensvolleren Tatsächlichkeit der für jemanden subjektiven Tatsachen nicht gewachsen. In ihrem Licht ist das Nahegehen blasser. Man muß also außer vielen Tatsachen, die jeder zugeben wird, auch viele Tatsächlichkeiten unterscheiden, nämlich für jeden Bewußthaber eine Tatsächlichkeit der für ihn subjektiven Tatsachen und für alle zusammen eine gemeinsame objektive oder neutrale Tatsächlichkeit, die durch Abfallen der Subjektivitäten entsteht. Von den Tatsächlichkeiten her werden die Ereignisse und Zustände mitbestimmt, in der Weise, daß sie, trotz sonst gleicher Inhalte, beim Übergang von der subjektiven Tatsächlichkeit zur bloß noch objektiven (oder neutralen) eine Abschwächung oder Abbalssung erleiden. In dieser Weise regieren die Tatsachen über Ereignisse und Zustände.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 53-54

„Noch erstaunlicher wird die Gleichläufigkeit subjektiver und objektiver Tatsachen im Gebiet des affektiven Betroffenseins, weil man aus ihr folgern muß, daß die subjektiven Tatsachen von den objektiven her unerreichbar sind, im folgenden Sinn: Durch keinen Zusatz irgendwelcher Bestimmungen von etwas als etwas, durch keinen Zug, der in die objektiven Tatsachen eingeht und in deren redender Darstellung vorkommt, kann man von den objektiven Tatsachen zu den subjektiven gelangen, indem durch einen solchen Zusatz eine objektive Tatsache zur für jemanden subjektiven würde. Wegen der besprochenen Gleichläufigkeit hat jeder Zug an der objektiven Tatsache ja seine Entsprechung an der zugehörigen subjektiven und umgekehrt, so daß die Tatsächlichkeiten sich im Inhalt nicht überschneiden können. Insbesondere eine Kausalität, mit der objektive Tatsachen subjektive Tatsachen als ihre Wirkung aus sich entließen, wird dadurch ausgeschlossen. Es gibt einen Abstieg von subjektiven Tatsachen zu bloß noch objektiven durch Versachlichung und Neutralisierung, durch Abschälung oder Abfall der Subjektivität für jemanden. Einen entsprechenden Aufbau subjektiver Tatsachen aus objektiven gibt es nicht. Wohl kann im Laufe des Lebens eine objektive Tatsache an jemanden so angeeignet werden, daß sie für ihn subjektiv wird. Sie ist dann aber auf die Ebene der Subjektivität angehoben und nicht von unten, durch einen brückenabu im Bereich objektiver tatsachen, angeschoben worden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 56

„Nun endlich kann ich mein Versprechen einlösen, aus dem affektiven Betroffensein den Beweis zu führen, daß Sachverhalte und Tatsachen Gegenstände eigener Art und nicht auf angeblich konkrete Gegenstände wie Dinge, Ereignisse oder Zustände reduzierbar sind. Dieselben Gegenstände, die angeblich konkreter und als Basis der Reduktion geeignet sind, kommen mit demselben Inhalt in verschiedenen Tatsächlichkeiten vor, aber mit verschiedener Tönung durch diese, einmal dank der dem vollen affektiven Betroffensein gewachsenen Tatsächlichkleit der subjektiven Tatsachen, das andere Mal mit der dafür nicht ganz ausreichenden abgeblaßten Tatsächlichkeit der objektiven. Dieser Unterschied der Tatsächlichkeit kann nicht vom Inhalt bestimmt werden, denn der ist ja gleich auf beiden Ebenen und umfaßt jene vermeintlich konkreteren Basen der Reduktion. Die Tatsächlichkeit der Tatsachen wird also nicht vom Inhalt bestimmt. Dann können die Tatsachen selbst nicht so etwas wie Umschreibungen oder Metaphern sein, die sich bei näherem Zusehen in jene Basen zurückübersetzen lasen. Sie sind als Gegenstäönde eigener Art legitimiert.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 56-57

„Was ich von Tatsachen gesagt habe, läßt sich auf Bedeutungen anderer Art übertragen. Mit dem Wort »Bedeutung« bezeichne ich, mangels eines besseren passenden Namens, auschließlich Tatsachen, untatsächliche Sachverhalte, Programme und Probleme. Der Unterschied von Subjektivität und Neutralität (Objektivität) läßt sich zwanglos von den Tatsachen des affektiven Betroffenseins auf die übrigen Bedeutungen übertragen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 57

„Gehirnfroscher wie Gerhard Roth und Wolf Singer plädieren für Nachsicht mit dem Straftäter, der dem Richter vorhalten könnte: »Ich habe keine Schuld, denn ich konnte nicht anders, meine Gene, meine Nerven und dgl. betsimmten mein Verhalten«. Die angemessene Antwort des Richters wäre: »Ich kann gar nicht anders, als dich zum Tode oder zur Haft usw. zu verurteieln, denn mein Gehrin oder dgl. bestimmt mich dazu«. Auf diese Reorsion sind Roth, Singer und ihresgleichen noch nicht gekommen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 59

„Ein Lichtblick in Nicolai Hartmanns sonst unzugänglicher Theorie für die Verantwortung erforderlichen Freiheit ist die dort kurzfristig aufblitzende Einsicht, daß nicht der Wille, sondern tiefer schon die Gesinnung der Sitz solcher Freiheit ist. (Vgl. Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, 3. Teil: Das Problem der Willensfreiheit. S. 622: »Man sieht hiebei freilich sogleich, daß der Ausdruck »Willensfreiheit« zu eng ist. Die sittlichen Werte haften ja keineswegs den Willensphänomenen allein an. Der Titelbegriff der Willensfreiheit, durch den ein ganzer Problemkomplex benannt ist, reicht gut zu für eine bloße Sollens- und Zweckethik. In einer solchen sind Handlung und Wille die Grundphänomene. Aber schon in der Gesinnung, noch ganz diesseits alles eigentlichen Wollens, gibt es Entscheidung und Stellungnahme.«). In der Tat gibt es sittliche Verantwortung für üble Gesinnung ohne Betätigung des Willens wie Schadenfreude, neidische Herabsetzung, Spaß, der mitfremden Elend getrieben wird, und ganz besonders bei unbewußter Fahrlässigkeit ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 60-61

„Wie unentbehrlich die Gesinnung für das affektive Betroffensein ist, zeigt sich, wenn sie einmal ausfällt. Das geschieht bei der Bälz‘schen Emotionslähmung, die zuerst Erwin Bälz von seinem Erleben eines Erdbebens in Japan beschrieben hat. In Katastrophensituationen höchster Lebensgefahr - wie Erdbeben, Flugzeugabsturz, Fallen von der Leiter, feindliches Bombardement, Anfall eines Löwen - wird das affektive Betroffensein überfordert. Seine Aktivität, die Gesinnung, ist der erlittenen Bedrängnis nicht mehr gewachsen und setzt aus. Der Mensch steht wie unbeteiligt neben dem entsetzlichen und/oder bedrohlichen Geschehen. Sein Verstand, seine Beobachtung sind noch hellwach, aber der Affekt ist erloschen. (Vgl. Hermann Schmitz, Freiheit, 2007, S. 66-69; weitere Zeugnisse: System der Philosophie, Band III, Teil 2: Der Gefühlsraum, 1969, S. 95 f., Anmerkung 155, und S. 288 [mit Anmerkung 650]). Dieser Ausfall endet nach überstandener Gefahr typischerweise in einem Anfall hemmungslosen (»metekritischen« [vgl. System der Philosophie, Band IV: Die Person, 1980, S. 120] Lachens, einer ausgleichenden Überreaktion.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 61

„Die aktive Gesinnung ist nicht etwa eine nachträgliche Reaktion auf das affektive Erleiden, sondern von vornherein in dieses verwoben; sonst käme es gar nicht zu affektivem Betroffensein. Dies gilt schon für ihre primitive, noch ganz unwillkürliche Urform, etwa die leibliche Angst der bedrohten Tiere und Menschen. Wenn in dieser Angst nicht von vornherein die Gesinnung der Abwehr enthalten wäre, der Impuls »Weg!« in irgendeiener Form (und sei es die Totstellreaktion als Abtauchen aus der Situation), käme es gar nicht zu affektivem Betroffensein von Bedrohung, sondern das Geschehen würde gelassen hingenommen. Aus dieser unlöslichen Eingewobenheit der Aktivität in das passive Betroffensein gewinnt das affektive Betroffensein einen reflexiven Zug: Mit dem passiven Betroffensein, in dieses eingewoben, kommt die eigene Aktivität dert Gesinnung dem Betroffenen nahe, berührt oder ergreift ihn, weckt seine Subjektivität, läßt ihn sich selbst spüren. .... Es gibt unspaltbare Verhältnisse. Ein unspaltbares Verhältnis besteht zwischen der aktiven und der passiven Seite des affektiven Betroffenseins. Dabei spielt die Reihenfolge der Teilnehmer keine Rolle. Nur für gerichtete Beziehungen ist sie wichtig. .... In ungerichteten Verhältnissen entfällt diese Reihenfolge. Die Teilnehmer sind mit einem Schlag zusammen. So verhält es sich im affektiven Betroffensein. Erleiden und Tun, Passivität und darauf eingehende Aktivität (Gesinnung) stehen sich nicht als zwei sich ergänzende, konverse Beziehungen gegenüber, sondern greifen in unspaltbarem Verhältnis ineinander.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 61-63

Der Mensch ist durch seine Gesinnung für seine Gesinnung sittlich verantwortlich. Das gilt aber nur für rechenschaftsfähige Personen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 72

Nicht das, was der Mensch sich vornimmt, sondern das, was er frisch im Augenblick als Gesinnung in sein affektives Betroffensein einsetzt und damit die Art, wie er als affektiv Betroffener jeweils bei der Sache ist, gibt ihm (auch beim Wählen) kausale Macht aus eigener, unabhängiger Initiative.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Subjektivität, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 73

„Unter den Zahlen hat die 1 die Sonderstellung, die einzige Zahl einer nichtleeren Menge zu sein, die sich absolut (ohne Bezugnahme auf ihre Stellung in einer Reihenfolge) charakterisieren läßt, und zwar ist 1 die Zahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Die Zahl 1 setzt darum relative Identität voraus. Relative Identität ist eine Beziehung von etwas zu etwas, die darin besteht, daß ein absolut identischer Gegenstand Fall zweier Gattungen ist, im Fall der tautologischen Identität (a = a, x = x) der beiden Gattungen Referens und Relat der Identität; das doppelte Fallsein wird durch Identität zusammengefaßt und erstreckt sich so weit, wie der Gegensatnd Attribute hat. Relative Identität setzt absolute Identität voraus. Ein Gegenstand ist absolut identisch, wenn er, sofern vieles ist, von anderem verschieden ist. Dann ist er selbst, aber deswegen nicht auch schon er selbst, d.h. mit sich identisch. Dazu ist eine weitere Voraussetzung erforderlich, die Einzelheit ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 82-83

„Einzeln kann ein Gegenstand nur als Element einer Menge sein, d.h. als Fall einer Gattung, deren Umfang die Menge ist. Daher entsteht Einzelheit, wenn zur absoluten Identität das Fallsein einer Gattung hinzukommt. Damit sit eine neue und äußerst praktikable (für den theoretischen und praktischen Umgang wichtige) Bestimmung des Einzelnen gewonnen: Einzeln sind die (und nur die) absolut identischen Fälle einer Gattung. .... Man muß die Formulierung aber differenziert genug verstehen. Es genügt nicht, um einzeln zu sein, daß etwas einerseits absolut identisch und andererseits Fall einer Gattung ist. Nachher werde ich einen Typ des diffus chaotischen Mannigfaltigen vorführen, der in seinem Inhalt einerseits absolut Identisches zuläßt, andererseits diesen Inhalt unter Gattungen stellt. Was dann aber fehlt, ist das Zutreffen von Gattungen auf etwas absolut Identisches als ihren Fall. Das zeigt sich daran, daß im diffus chaotischen Mannigfaltigen nicht wie im Einzelnen universal streuend quantifiziert werden kann (für jedes x: f (x), d.h. x hat die Bestimmung f), sondern nur summarisch (für alle x mit einer gewissen Eigenschaft; f (x)), so daß nichts davon als Einzelnes herausgegriffen werden kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 89-90

„Das Verhältnis von absoluter Identität, Einzelheit und relativer Identität kann nun klar eingesehen werden. Ohne absolute Identität würde alles in einem Meer des Mannigfaltigen in völliger Selbstlosigkeit versinken. Wenn ihm zusätzlich zur absoluten Identität eine Gattung, deren Fall es ist, geschenkt wird, erhebt sich das absolut Identische zum Einzelnen. Wenn noch mindestens eine zweite Gattung hinzukommt, so daß das Einzelne zum Fall zweiter und vieler weiterer Gattungen wird, wird es relativ identisch. Die relative Identität faßt das Fallsein unter dieser und jener Gattung zu einem einzigen Fall mehrerer Gattungen zusammen. Daran ist nichts rätselhaft oder gar widersprüchlich. Ein uralter Denkfehler entspringt daraus, daß es den Anschein hat, bei dieser Gelegenheit müßten zwei Fälle und also auch zwei Sachen auseinanderfallen. Dieser Trug wird insbesondere dem Selbstbewußtsein gefährlich, wenn dieses als Zusammenfall von Subjekt und Objekt des Bewußthabens aufgefaßt wird. Im 20. Jahrhundert erklärten Rickert und Ryle, zwei führende Philosophen aus ganz unterschiedlichen Lagern, solchen Zusammenfall, wodurch zweie zu einem werden müßten, für unmöglich, und Rehmke gab das Bewußtsein, weil es auch Selbstbewußtsein sei, als beziehungsloses Haben aus, weil er Beziehungen nur zwischen verschiedneen Partnern für möglich hielt. Dabei ist eine reflexive Beziehung, hier das Fallen einer Sache unter die Gattungen des Subjektseins für sich und des Objektseins für sich, so unproblematisch wie beim Selbstmord, einer handgreiflichen Form des Selbstbewußtseins. Jaspers schrieb: »Wenn ferner das Denken des Ich dieses als unmittelbaren Gegenstand dadurch auflöst, daß es das Sein dieser Unmittelbarkeit in der Verdoppelung des Sichaufsichselbstbeziehens aussagt, so sagt es als Wirklichkeit eines Seins etwas aus, das logisch unmöglich ist; nämlich daß ›Ich‹ eines ist, das zwei, und zwei, das eines ist« (Karl Jaspers, Philosophie, 1932, S. 306). Als wenn Selbstmord logisch unmöglich wäre! Aber schon Yajnavalkya in der Brihadaranyaka-Upanishad verkündete als Gipfel seiner altindischen Weisheit diesen Irrtum: nach dem Tode können man kein Bewußtsein mehr haben, weil dann alles zum eigenen Selbst geworden sei, während die Möglichkeit von Bewußtsein an die Zweiheit Verschiedener gebunden sei. (Von mir zitiert [nach Übersetzung von Dreussen]; Hermann Schmitz, System der Philosophie Band I: Die Gegenwart, 1964, S. 250 f.). Dabei ist Identität zwar immer auch eine Beziehung auf sich, aber in der gern als Standardfassung gewählten tautologischen Form »a = a« pathologisch verkürzt, weil die auch in diesem Fall (siehe oben) vorhandene Zweiheit der Gattungen, von denen etwas Fall ist, nicht zum Zuge kommt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 90-91

„Ich führe den Beweis, daß mit Hilfe des zuerst von Kant, aber mißverständlich, formulierten Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung, das für jedes Etwas (alles, was etwas ist) und jede Bestimmung als etwas jenes Etwas die Bestimmung entweder besitzt oder nicht besitzt. Dabei bediene ich mich der beiden unter 2.2. gewonnenen Zusatzkennzeichnungen der Einzelheit: Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element einer endlichen Menge ist. Ich widerlege den Grundsatz durch den Nachweis, daß jeder beliebige Gegenstand, wäre er durchgängig bestimmt, vielmehr gänzlich unbestimmt wäre, was nicht der Fall sein kann. Die Widerlegung hat schon für sich weitreichende Folgen, die ich angebe. Ihre Tragweite wächst noch durch den Nachweis der Äquivalenz des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung mit zwei weiteren Sätzen: erstens dem Satz, daß alles einzeln und daher alles Mannigfaltige numerisch ist, und zweitens dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Die Falschheit des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung überträgt sich damit auf diese bedien Sätze, wobei es sich im zweiten Fall aber nur darum handelt, daß dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten die unbeschränkte Allgemeingültigkeit über den Bereich des numerischen Mannigfaltigen hinaus bestritten wird. Die Gefahr von Fehlschlüssen ist dadurch aber nicht abgewendet, weil nicht sicher ist, wo der Bereich des numerischen Mannigfaltigen endet, da der Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung schon für jeden einzelnen Gegenstand falsch ist. Den Gedankengang bis hierhin schreibe ich im wesentlichen aus meinem Buch Kritische Grundlegung der Mathematik, S. 69-76, ab. Mit der Widerlegung des Satzes, daß alles Mannigfaltige numerisch ist, ist der Übergang zum nicht numerischen Mannigfaltigen erreicht. Diesem Ergebnis lasse ich einen erkenntnistheoretischen Exkurs folgen. Er bezieht sich darauf, daß meine Beweise in diesem Kapitel »aus bloßen Begriffen«, wie Kant sagen würde, und nicht aus dem, was dieser als Erfahrung anerkennt, geführt und daher in Kants Sinn als metaphysisch unzulässig sind. Ich verteidige sie in diesem Exkurs gegen die Bedenken Kants und des Wiener Kreises, der solchen abstrakten Überlegungen aus verwandten Gründen die Fähigkeit zur echten Erweiterung der Erkenntnis bestreitet. Damit ist der Gedankengang in diesem Kapitel genügend skizziert.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 91-92

Satz 1: Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung ist schon für jeden einzelnen Gegenstand falsch.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 93

„Mathematik ist eigentlich der Versuch, überall da, wo sich in irgendwelchen Ordnungsformen ein Ansatzpunkt bietet, mit allen Mitteln intellektueller Raffinesse die Domäne des numerischen Mannigfaltigen auf alles Mannigfaltige auszudehnen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 97

„Konfuses, diffuses und numerisches Mannigfaltiges passen in einer linearen Aufbauordnung zusammen. Im konfusen Mannigfaltigen fehlt es sogar an Identität und Verschiedenheit. Im diffusen Mannigfaltigen kommen absolute Identität und Verscheidenheit hinzu, aber noch fehlt die Einzelheit. Im numerischen Mannigfaltigen ergänzt sich absolut Identisches durch Fallen unter eine Gattung zum Einzelnen und gewinnt durch Fallen unter mehrere Gattungen relative Identität. Dieses einfache Bild wird kompliziert und abgerundet durch das Hinzutreten des (spaltbaren und unspaltbaren) Verhältnisses. Kompliziert, weil das Verhältnis, zusammen mit der Beziehung, unter einen anderen Einteilungsgrund als den der Mannigfaltigkeit gehört, nämlich unter den Gesichtspunkt des Zusammenhangs. Abgerundet, weil sich ein weiterer Typ des Mannigfaltigen, das zweispältige, erst als Verhältnis den übrigen Typen anschließen läßt und manches an diesen (im Bereich des diffusen Manigfaltigen) erst als Verhältnis verständlich wird. Deswegen ist es unerläßlich, das Verhältnis in das Tableau des Mannigfaltigen aufzunehmen, auch wenn man dabei Überschneidungen in Kauf nehmen muß.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 107

„Die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen wird aber erst möglich, wenn die Einzelheit und das numerische Mannigfaltige erericht sind. Das liegt daran, daß eine Beziehung ohne Zahl nicht auskommt, sowohl die Zahl ihrer Stellen als auch die ihrer Teilnehmer. Die Tötung seiner selbst hat die Stellenzahl 2 und die Teilnehmerzahl 1, die Tötung eines Feindes die Stellen- und Teilnehmerzahl 2, die Anstiftung zur Tötung seiner selbst die Stellenzahl 3 und die Teilnehmerzahl (mindestens) 2. Beziehungen bedürfen der Zahl, um Ausgangs und Zielpunkt ihrer Richtung, die Rollen von Referens und Relat (selbst wenn beides dieselbe Sache als Fall zweier Gattungen ist), zu unterscheiden. Ungerichtete Verhältnisse haben dieses Bedürfnis nicht. Sie kommen auch ohne Einzelheit der Teilnehmer aus. Diese kann ganz oder teilweise fehlen. Dann ist das Verhältnis aber unspaltbar, d.h. zu der gegebenen Zeit nicht in Beziehungen spaltbar.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 108-109

„Besonders reichlich häufen sich sie unspaltbaren Verhältnisse, in denen alle oder einige Teilnehmer nicht einzeln sind, so daß das Verhältnis dann ins chaotische Mannigfaltige hineinragt. Besonders illustrativ sind die Ekstasen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 110-111

Satz 1: Die Bewußthabe disjunkter Beziehungen ist ein unspaltbares Verhältnis.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 115

„Der vorstehende Einblick in die Ausbreitung des unspaltbaren Verhältnisses auch unterhalb der Schwelle des numerischen Mannigfaltigen gibt mir Gelegenheit, ein schon mehrfach angesprochenes Rätsel am diffus chaotischen Mannigfaltigen aufzulösen. Daß der Umgang mit diesem durch absolute Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen geschützt ist, läßt sich verstehen, nicht ebenso aber die reichhaltige Ordnung, die dabei respektiert wird. Bloße Verschiedenheit ist ein zu grobes Instrument zum Ordnen. Tatsächlich ist aber die Sprache, der der kompetente Sprecher in flüssiger Rede bei seinem Sprachgebrauch gehorcht, mit fast unübersehbarer Feinheit durchgeordnet; die Sprachwissenschaft bemüht sich, dieser Ordnung beizukommen. Auch die Tiere, die der Einzelheit und numerischen Mannigfaltigkeit noch nicht teilhaftig sind, leben von Natur in wohlbestimmten Ordnungen. Sogar im konfusen Mannigfaltigen, bar der absoluten Identität, herrscht Ordnung, wie an der gerichteten Bewegung auf und ab bei Intensitätsschwankungen und an den homogenen Kontinuen zu erkennen ist, von deren Ordnungen, z. B. Dimensionszahl, die Mathematik zu berichten weiß. Diese Ordnungsfähigkeit schon im konfusen, erst recht aber im diffusen chaotischen Mannigfaltigen wird verständlich, wenn man einsieht, daß dieselben Zusammenhänge in zwei Formen vorkommen können: als numerisches Mannigfaltiges durch Beziehungen, die aus Verhältnissen abgespalten sind, und als unspaltbare Verhältnisse, die der Einzelheit ihrer Teilnehmer nicht bedürfen. Im Umgang der Tiere mit den Situationen, in denen sie leben, und der menschlichen Sprecher mit der Sprache, die sie in flüssiger Rede gebrauchen, werden dieselben Ordnungen ganzheitlich respektiert, die als Netze von Beziehungen von der nachkommenden Sprachwissenschaft oder Tiersoziologie mehr oder weniger erfolgreich rekonstruiert werden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 117

„Immer nur auf einer einzigen Stufe der Iteraion über der Grundstufe ohne Unentschiedenheit kann Unentschiedenheit bestehen. Daraus ergibt sich, daß auch mit endlichfacher Iteration der Unentscheidenheit des radikalen Antinomien nicht beizukommen ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 125-126

„Nach dem Überblick über Typen der Mannigfaltigkeit bleibt mir die Aufgabe der Zusammenfassung. Die Mannigfaltigkeitslehre, wie ich sie jetzt (nach Jahrzehnten der Reifung) verstehe, wird kompliziert durch die Durchdringung zweier Gesichtspunkte der Einteilung. Der erste davon ist die Mannigfaltigkeit selbst. Es gibt numerische Mannigfaltigkeit, chaotische Mannigfaltigkeit mit den beiden Subtypen der konfusen und der diffusen Mannigfaltigkeit, und zwiespältige Mannigfaltigkeit. Verklammert werden diese Typen durch den zweiten Gesichtspunkt, das unspaltbare (d. h. zur gegebenen Zeit nicht in gerichtete Beziehungen spaltbare) Verhältnis. Dieses ist eine Art von Zusammenhang. Zusammenhänge gibt es durch Beziehungen oder durch Verhältnisse. Alle Beziehungen beruhen auf der Spaltung von Verhältnissen. Von den Verhältnissen sind einige spaltbar, andere unspaltbar. Der Zusammenhang durch unspaltbare Verhältnisse gestattet weitgehend gleiche oder ähnliche Ordnungen wie der Zusammenhang durch Beziehungen. Beide Formen des Zusammenhangs gibt es im numerischen Mannigfaltigen. In den übrigen Typen der Mannigfaltigkeit gibt es dagegen Zusammenhang nur durch unspaltbare Verhältnisse. Beim chaotischen Mannigfaltigen liegt das daran, daß Beziehungen nur zwischen einzelnen Teilnehmern möglich sind. Solche fehlen im absolut chaotischen Mannigfaltigen. Daß auch in diesem komplizierte Ordnungen möglich sind, wird den unspaltbaren Verhältnissen verdankt, die nicht auf Einzelheit der Teilnehmer angewiesen sind. Dieser Umstand kommt besonders dem diffusen Mannigfaltigen zugute, dem Milieu, in dem Tiere und Säuglinge immer leben und menschliche Personen in allen unwillkürlich gelingenden Verrichtungen, z. B. dem Sprachgebrauch und dem Mundgebrauch beim Sprechen. Die hoch komplizierten Ordnungen, mit denen das diffuse Mannigfaltige zusätzlich zu dem Schutz vor Verwechslungen ausgestattet ist, verdankt es den unspaltbaren Verhältnissen. Das zwiespältige Mannigfaltige gelangt nicht zu Beziehungen in sich wegen der Störung seiner absoluten Identität durch die dynamische Konkurrenz um diese, in der die Teilnehmer gleichsam verhakt sind, so daß sie nicht gerichtete Beziehungen zueinander aufnehmen können während sie an sich, abgesehen von dieser Konkurrenz, die sie zusammenschließt, einzeln sind.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 127-128

„Die Milieus der Mannigfaltigkeit sind also sämtlich auch Milieus des unspaltbaren Verhältnisses, das sich aber im numerischen Mannigfaltigen mit der Beziehung in die Zusammenhänge teilen muß. Im chaotischen (konfusen oder diffusen) Mannigfaltigen ist es, von Mischungen mit dem numerischen Mannigfaltigen abgesehen, die einzige Form des Zusammenhangs und ermöglicht im diffusen Mannigfaltigen komplizierte Ordnungen. Das zwiespältige Mannigfaltige ist eine Spezialform des unspaltbaren Verhältnisses, das sich durch Unstimmigkeit (Störung der absoluten Identität) ohne Widerspruch zu ihm spezialisiert. Durch das unspaltbare Verhältnis hängt das zwiespältige Mannigfaltige mit den anderen Typen der Mannigfaltigkeit zusammen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 128-129

„Bis hierhin mag der Leser des Kapitels sich fragen, was die umständlichen Ausführungen über Typen der Mannigfaltigkeit mit dem Begreiflichmachen des wirklichen Lebens der Menschen zu tun haben. Ganz fern liegt eine Antwort nicht. Die Einschränkung der Domäne des numerischen Mannigfaltigen im Mannigfaltigen überhaupt schiebt der Hypertrophie des pythagoreischen Gedankens, alles gleiche der Zahl oder sei nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet, und damit dem immer stärker sich im Leben vordrängenden Versuch, der Zahl die Herrschaft über das Denken zu verschaffen - gipfelnd im Schrei nach Digitalisierung - einen Riegel vor, der das Nachdenken auf die Grundlagen der Mannigfaltigkeit zurückverweisen kann; auch das Eindringen in die präpersonale Grundschicht des Personseins wird auf diese Weise vorbereitet. Aber diese Überlegungen betreffen nicht die Denkweise der Menschen im Alltag und die Richtung, in die sie durch die einseitige Einstellung auf Einzelheit und numerische Mannigfaltigkeit gelenkt wird. Das wird anders, sobald die Abhängigkeit des numerischen Mannigfaltigen vom chaotischen unter dem neuen Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Situationen und Explikation in Konstellationen in den Blick kommt. Dann wird es möglich, den Singularismus und den daraus sich ergebenden Projektionismus grundsätzlich anzugreifen. Singularismus ist die Überzeugung, daß alles ohne weiteres einzeln ist. Projektionismus ist die Meinung, daß alle Bedeutungen, durch die etwas wichtig wird, einem neutral gegebenen Stoff von sozusagen nackten Einzelwesen durch individual- oder artspezifische Bedürfnisse und Interessen aufgeprägt werden. Der erste Philosoph, dem der Singularismus so selbstverständlich war, daß er gar keine Alternative - auch abwehrend - in Erwägung zog, war Kant (*), ein extremer Projektionist Nietzsche (**). (* Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäoschen Philosophie, 2007, Band II, S. 323-326; ** vgl. Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie - Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, 1995, S. 340-345). Eine Weltanschauung, die durch Kombination beider Irrtümer entsteht, zeichnet sich in dem Bekenntnis ab, das im 6. Buch von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre die sogenannte schöne Seele, eine Pietistin, ihrem hochverehrten Onkel in den Mund legt: »Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles in uns, aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die des zu schaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise, dargestellt haben.« (Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Band 8, S. 343 f.). Ganz im Sinne der seit Demokrit und Platon herrschenden abendländischen Tradition des Psychologismus und der Introjektion spaltet der Oheim die Welt in Außen und Innen und vertraut dieses der Selbstgestaltung im Dienst einer höheren Ordnung an, indem er beides, Außen und Innen, zum bloßen Element - d. h. für Goethe: zu einem gleichgültigen oder gar feindseligen Stoff (vgl. z.B. Faust, Vers 11507-11509 [der Teufel spricht]) - herabsetzt, dem eine schöpferische Kraft im Inneren aufprägen soll, »was sein soll«. Die Formulierung läßt offen, ob an eine verbindlich dem Belieben auferlegte Norm oder die Eigenmacht des Schöpfers, der sich selbst das Gesetz gibt, zu denken ist. Im zweiten Fall, den Nietzsche ausgeschlachtet hat, wird die Maxime des Oheims zum Freibrief für das Verfügen des Täters und Machers; im ersten Fall stellt sie sich in den Dienst des Diktats oft fragwürdiger Ideologien. Goethes Figur des Oheims der schönen Seele verkörpert die abendländische Tradition auf der Kippe zur gnadenlosen Technik.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 129-131

„Dem Singularismus und Projektionismus stelle ich die Situationen und ihre Explikation mit Vernetzung der Explikate zu Konstellationen entgegen. Wenn man sich klar gemacht hat, daß Menschen an Einzelnes und dessen Vernetzung nur dadurch herankommen, daß sie aus Situationen mit binnendiffuser (chaotischer) Mannigfaltigkeit schöpfen und daß solche Situationen über die Weltspaltung hinweggehen, gewinnt die Rede des Oheims von einer schöpferischen Kraft einen neuen Sinn: Sie lehnt sich nicht mehr an das Schöpfertum Gottes und dessen vermeintlichen Ebenbildes Mensch an, sondern an die Gebärde des Schöpfens eines Gutes aus dem Wasser des Bemühens, eine vorgegebene Bedeutsamkeit zu bergen und durch Vereinzelung und Vernetzung umzugestalten. Die Bedeutsamkeit ist primär, nicht nachträglich durch Projektionen einem Stoff aufgeprägt, aber sie liegt nicht am Tag wie Kants kategorischer Imperativ, eine deutliche Norm, »was sein soll«, sondern muß gehoben, interpretiert, verwandelt, angeeignet werden. Wir sind, auch ohne eine uns reservierte Privatsphäre »in uns« (unserer Seele, unserem Bewußtsein) zu besitzen, verstrickt mit dem, was uns begegnet, in gemeinsame Situationen und können diese erst mehr oder weniger durchschauen, wenn wir uns mit dem, was vorgegeben und nicht »in« uns gesetzt ist, auseinandergesetzt haben. Das ist die Lehre, die ich im Folgenden zur Evidenz bringen will.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 131

„Unter 2.2 wurde gezeigt, daß Einzelheit aus dem Zusammentreffen des Fallens unter eine Gattung mit absoluter Identität von etwas entsteht. Gattungen sind Sachverhalte (2.1). Damit ist der Singularismus auch schon widerlegt. Nichts ist ohne weiteres, von sich aus, einzeln, sondern etwas ist einzeln nur durch Vermittlung einer Gattung, deren Umfang, in dem alle ihre Fälle und nur sie Platz haben, eine Menge ist, d. h. ein umfang, der eine Zahl hat. Ferner gilt:
Satz 1: Jeder Umfang, der keine Zahl hat, hat nicht nur einzelne Elemente.
Jedes Einzelwesen ist Element einer endlichen Menge (2.2, Satz 3). Dazu ist auch jedes Einzelwesen Element einer Menge mit einer der Zahlen 1 oder 2, die sich durch Paarung (eventuell mit sich selbst) ergibt. Das folgt aus dem Beweis von Satz 1 in 2.2, wenn die minimale Vermehrung in minimale Verminderung umgesetzt wird. Mit der Paarbarkeit, die jedem einzelnen Element zukommt, ist aber auch die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit des Umfangs gesichert, d. h., daß er eine Zahl hat. Wenn ein Umfang keine Zahl hat, können seine Elemente daher auch nicht alle einzeln sein.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 131-132

„Gattungen sind Sachverhalte (2.1). Im Hinblick auf die gleich zu besprechenden Situationen empfiehlt es sich, sie mit den Programmen und den Problemen zur größeren Klasse der Bedeutungen zusammenzufassen. Das Verhältnis zwischen Sachverhalten und Problemen ist leicht zu bestimmen: Sachverhalte sind die Fraglichmacher, wodurch Problemträchtigkeit in das Seiende kommt (1.1). Ein Sachverhalt wird zum Problem, wenn sich diese Problemträchtigkeit bemerkbar macht. Dazu bedarf es keiner das Problem formulierenden Frage. Schon Tiere können stutzen und unsicher werden. Oft spürt man, daß etwas nicht stimmt, nicht in Ordnung ist, ohne den Schaden präzisieren zu können; die Wahnstimmung bei beginnender Schizophrenie ist ein generalisierter Dauerzustand dieser Art. Bei erwachsenen Personen sind unfürmulierbare Probleme etwa die verdeckten Konflikte der Neurotiker, die Psychotherapeuten (wie Psychoanalytiker) ins Bewußtsein zu heben versuchen (das es Psyche und Bewußtseiun nicht gibt, müssen diese Leute andere Bezeichnungen bekommen! HB). Ein Programm ist entweder eine Norm (Programm für möglichen Gehorsam, daß etwas sein oder nicht sein soll) oder ein Wunsch, daß etwas sein möge, Verpfändung des affektiven Betroffenseins an einen Sachverhalt in dem Sinn, daß dessen Realisierung zur Tatsache dem Betroffenen lustvoll nah geht, Ausbleiben der Realisierung dagegen leidvoll. (Vgl. Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 11; zu Lust und Leid: Ders., Bewußtsein, 2010, S. 111 f.). Aus den objektiven (neutralen) Sachverhalten sind die Programme weggewischt, dagegen gehören sie integral zu den subjektiven Sachverhalten des affektiven Betroffenseins, z.B. zum Bedrohenden das Abwehrprogramm (das nicht immer gelten muß; ein Programm für möglichen Gehorsam ist nicht auch gleich Programm für wirklichen Gehorsam).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 132-133

„Die Sachverhalte, eventuell zusammen mit Programmen und Problemen, müssen ... als Gattungen vorhanden sein, damit etwas als Fall dieser Gattungen einzeln werden kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 133

„Der Mutterboden, aus dem die Gattungen wie alle anderen Bedeutugen hervorwachsen und hervorwachsen müssen, wenn nicht das Bewußthaben der Einzelheit vor die unmögliche Aufgabe des Durchlaufens unendlich vieler Gattungen gestellt werden soll, sind die Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges irgendwelcher Art, das ganzheitlich (d.h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger abgehoben) zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse (d.h. im Inhalt chaotisch mannigfaltige) Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und/oder Probleme sind. Im poräpersonalen Bereich ist die Bedeutsamkeit sogar absolut chaotisch, d.h. ohne Beimischung von einzelnem, im Personalen dagegen meist mit solcher Beimischung (relativ chaotisch). Ich gebe ein Beispiel für den ersten Fall. Der Säugling, der nach Nahrung dürstet oder unter Nässe leidet, spürt die relevanten Sachverhalte seiner Situation als Probleme zusammen mit dem, von seinem Geschrei verratenen, Programm einer Abwendung dieser Probleme, aber keine von diesen Bedeutungen wird ihm einzeln. Situationen können ganz nur aus Bedeutungen bestehen, wie ein Sprache nur aus Sätzen besteht, d.h. aus Regeln - das sind Normen, die beliebig häufigen Gehorsam zulassen - zur Formulierung von Sprüchen. (Genauer gesagt: eine Sprache besteht aus Texten/Textemen, Sätzen/Syntakten/Syntaktemen, Wörtern/Logemen/Lexemen, Morphen/Morphemen, Lauten/Phonen/Phonemen sowie all deren Bedeutungen und Regeln, und dies alles auch auf schriftlicher Ebene sowie in einem weiteren und einem weitesten Sinne auch, z.B. im Denken, Kalkulieren oder - primitiver - im Semiotischen; um Schmitz entgegenzukommen: das rein semiotische Sprachsystem ist auf der Stufe des Präpersonalen das, was auf der Stufe des Personsalen das rein linguistische Sprachsystem ist, auf dem auch alle weiteren Sprachsysteme - z.B. das rein logische Sprachsystem und das rein mathematische Sprachsystem - aufgebaut sind; HB.)“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 136-137

„Tiere sind in Situationen gefangen. Ihr Verhalten hängt von deren Gehalt an Programmen und Problemen ab. Menschen vermögen kraft ihrer satzförmigen, d.h. den Sätzen einer Sprache gehorchenden, Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen einzelne Sachverhalte, einzelne Programme, einzelne Probleme, meist viele einzelne zusammen, zu entbinden. Das ist, wie sich gezeigt hat, jeweils kein schlagartiges Ereignis, sondern ein Reifungsprozeß. Wenn dieser abgeschlossen ist, stehen die Explikate, sprachlich durch Namen gefaßt, als einzelne zur Kombination in Netzen (als Konstellationen) zur Verfügung. Sie lassen sich nach Übereinstimmungen und Unterschieden - Dihairesis nach Platon und Aristoteles - ordnen, und relative Identität macht es möglich, eine Sache in verschiedene solche Netze einzuordnen, diese an ihr auszuprobieren, die Sache von dieser oder jener Seite in den Blick zu nehmen. Anders als mit sprachlicher, satzförmiger Rede - im Gegensatz zu den nur auf ganze Situationen bezogenen Rufen und Schreien der Tiere - lassen sich einzelne Bedeutungen nicht identifizieren. Das liegt aber nicht daran, daß sie als Erfindungen eines sprachgeleiteten Denkens von den Menschen auf die Dinge oder andere ihnen gegebenen Vorräte - das, was der Oheim in Goethes Lehrjahren »Element« nennt - aufgesetzt würden, sondern die sprachliche Rede wirft dem Menschen zu, was beim Austritt aus der Gefangenschaft in Situationen für ihn abfällt. Indem er noch einige weitere Geschenke sich zu eigen macht - insbesondere die Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen und die Fähigkeit zur Projektion des Einzelnen ins Nichtseiende durch Erwartung und Phantasie -, kann er Situationen auf das hin, worauf es ihm ankommt, rekonstruierend in den Blick nehmen und planend überholen; so wird er den Tieren überlegen. Erst durch die Ausreifung der Vereinzelung gewinnt das Einzelne festen Halt in stabilen und zugleich flexiblen Netzen; vorher konnte es nur labil und sporadisch zustande kommen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 139-140

„Obwohl der Mensch die Gefangenschaft in Situationen sprengen kann, vermag er sich nie aus diesen zu befreien. Woher sollte er sonst die Gattungen nehmen, die zur Vereinzelung nötig sind? Ursprünglich werden sie aus dem präpersonalen Leben geschöpft, das menschliche Personen in ihren unwillkürlich gelingenden Verrichtungen mit den Tieren teilen, in gewisser Weise sogar noch bei ihrem sprechenden Umgang mit der Sprache, das allerdings mit dem Unterschied, daß Mehrsprachler die Sprache, in der sie sprechend jeweils gefangen sind, wechseln können, was den Tieren versagt bleibt. Sind die Bedeutungen, besonders die (als Gattungen verwendeten) Sachverhalte ausreichend explizit, können sie in neuen Gattungen kombiniert werden, ausdrücklich mit Hilfe von Definitionen. Dabei kommen die Menschen aber nicht umhin, aus den Situationen zu schöpfen, denen sie die Bausteine der Konstellationen entnehmen, und sich mit diesen Situationen auseinanderzusetzen, von denen sie präpersonal und im affektiven Betroffensein nicht losgelassen werden. Aus den Konstellationen, die sie errichten, wachsen wieder Situationen zusammen, die wieder expliziert werden, so daß neue Konstellationen entstehen, in die sich die Menschen abermals so einleben, daß daraus Situationen werden, in denen sie schwimmen wie der Fisch im Wasser. Dieser Wechsel von Situationen und Konstellationen ist der Grundrhythmus der Geschichte (vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, 2014, S. 200-208: Der Gang der Geschichte) in allen ihren Gestalten - von der Lebensgeschichte des Individuums bis zur Fach- und Völkergeschichte - angesichts von Herausforderungen, die das Entstehen mit sich bringt: Erst im Entstehen, also nachträglich, löst sich aus der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist, die geschlossene Zukunft, dessen ab, was vorher noch nicht war, aber künftig sein würde (ebd., S. 149-163; vgl. Hermann Schmitz, Gibt es die Welt?, 2014, S. 121) ); dieses partielle Schließen der Zukunft verlangt beständige Anpassung in aktuellen Situationen. Die Situationen, aus denen das Explizieren und Kombinieren schöpft, werden nicht gemacht, sondern der Mensch taucht aus ihnen auf oder gleitet in ihn hinein; sie gehen ihm jeweils als Herausforderungen zur Explikation voran, die allerdings nicht ganz eindeutig vorgeschrieben, also immer auch Interpretation ist. Diese kann aber nicht aus einer vermeintlich allgemeinen Vernunft schöpfen, die inhaltsvolle Gesetze der Lebenserfahrung lieferte, wie Kant glaubte und seine Epigonen noch heute glauben, sondern nur aus konkreten Situationen, in die die Menschen, wie Heidegger sagt, »geworfen« sind. Der Universalismus eines Vernunftglaubens ist erst die halbe Aufklärung, die Stufe, auf der noch Kant stand; die deutsche Historische Schule der Spätromantik war, trotz aller ihrer Mängel, in der Aufklärung schon weiter.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 141-142

„Alle die Gegner der Gattungen, Tatsachen und Bedeutungen, die das als abstrakte Objekte verwerfen und sich lieber an konkrete, mehr handgreifliche Gegenstände halten, seien dies nur Körper, Dinge, Sinnesdaten oder sonst etwas, mögen sich erinnern lassen, daß die Inhalte dieser Gegenstände zwar sehr konkret und massiv sein mögen - etwa feste Gegenstände, auf die man prallen und sich dabei Knochen brechen kann -, daß aber die Form der Einzelheit, ohne die sie sich diese konkreten Gegenstände nicht denken könnten, gar nicht so konkret ist, sondern abstrakter als gewisse Bedeutungen, nämlich vermittelt durch diese. Die Frage nach dem Ding an sich hinter den Situationen ist demnach falsch gestellt. Es ist die Frage, was in Wahrheit die Dinge seien, die in wechselnden Situationen dem einen Menschen so, dem anderen anders vorkommen. Diese Frage unterstellt einzelne Dinge - oder auch ein einziges einzelnes Ding, wie Spinozas Substanz -, die von den Situationen nur bekleidet und gefärbt würden, wie durch Kleider verschiedener Farbe, die man bei entsprechendem Vermögen wegziehen könnte, um am Grund des Wirklichen die Wahrheit zu finden, an der sich der Erkenntniswille beruhigen könnte. Es ist aber umgekehrt: Nicht einzelnen Dingen, die an sich sind, werden Situationen angehängt oder übergelegt, sondern einzelne Dinge gibt es nur durch Situationen, weil sie ihre Einzelheit den Bedeutungen (Sachverhalten, Gattungen) verdanken, die mit dem Werkzeug satzförmiger Rede aus Situationen hervorgeholt werden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Mannigfaltigkeit, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 142

„In diesem Milieu nachhaltigen Bemühens um die personale Selbstermächtigung gegenüber den unwillkürlichen Regungen fand das Problem seine Lösung mit der Erfindung eines für die Folgezeit bis heute maßgebenden Paradigmas des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses: der Weltspaltung und der Menschspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Man bediente sich dabei der Psyché, die dem (weit über diese Wende hinaus prägenden) Wortsinn nach das Leben im qualitativen Sinn (die Lebendigkeit) ist und nach Homer und dem Volksglauben im Tode als gespenstischer Totengeist die Glieder verläßt, nie aber als Regungsherd aufgefaßt wird. Die Psyché wurde zur Seele als privater Innenwelt jedes Bewußthabers, in der dessen gesamtes Erleben eingeschlossen wurde, mit Zugang von außen nur durch die Sinneskanäle; so gewann die Person ein Haus, in dem sie Herr über die unwillkürlichen Regungen sein konnte. Zwischen den Innenwelten dieses Psychologismus beließ man die empirische AußenweIt, die aber von Oemokrit (oder schon seinem Lehrer Leukipp) und später von Platon (Timaios) bis auf wenige Merkmalsorten - die unspezifischen, geometrisch charakterisierten Sinnesqualitäten, die seit 1600, an die antiken Vorbilder anknüpfend, zum Datenvorrat wurden, an dem die Physik die Ergebnisse ihrer Experimente prüft, weil sie gut intermomentan und intersubjektiv beständig, meßbar und selektiv variierbar sind - und deren erdachte Träger (bei Demokrit und Platon Atome, später Substanzen) ausgeräumt wurde, um sie von ergreifenden, die menschliche Selbstbestimmung wie Demokrits Tyche durchkreuzenden Mächten zu reinigen. Diesem Reduktionismus folgte die Introjektion: Der Abfall der Ausräumung mußte anderswo untergebracht werden. Man warf ihn, ohne viel darauf zu achten, in die Seelen, und bedachte dabei ausdrücklich die spezifischen Sinnesqualitäten; das Meiste - darunter Atmosphären, Situationen, flächenlose Räume, und was noch zu erwähnen sein wird: Halbdinge, Bewegungssuggestionen, synästhetische Charaktere - wurde übersehen und landete dann doch, wenn es sich nicht wegschaffen ließ, in verwandelter Gestalt in der Seele. Diese Introjektion vollendete das neue Weltverständnis, die Weltspaltung in eine ausgeräumte Außenwelt und überladene Innenwelten. Ihr korrespondierte die Menschspaltung, indem die Seele dem Körper als der anderen, inferioren und halbwegs in die Außenwelt verwiesenen Hälfte des Menschen gegenübergestellt wurde. Kurz vor 350 schreibt der Platongegner Isokrates: »Man stimmt überein, daß unsere Natur aus dem Körper und der Seele zusammengesetzt ist, und niemand wird leugnen, daß von diesen beiden die Seele zur Herrschaft berufener und mehr wert ist« (Isokrates, Antielosis, § 180). Aber schon bald nach 432 v. Chr. heißt es in der Grabschrift der Athener für die Gefallenen der Schlacht von Poteidaia: »Die Seelen nahm der Äther auf, die Körper aber die Erde« (Werner Peeck, Griechische Grobgeschichte, 1960, S. 50).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 152-154

„Die frühen Philosophen vor dem Paradigmenwechsel sehen das Weltganze dynamisch, als Wirken polar ineinander greifender Kräfte, die (nach Heraklit) in gegenspänniger Fügung wie bei Bogen und Leier ein Ganzes ergeben, das auseinanderstrebend mit sich selbst übereinstimmt. Diese Dynamik verflacht danach zur Kinetik, wie das von Platon überlieferte Mißverständnis zeigt, Heraklit habe gelehrt, daß alles fließt. Dieser hemmungslosen Bewegung werden starre Fixpunkte gegenübergestellt: Demokrits Atome (die er »Ideen« nannte), die Ideen bei Platon und (nicht weniger starr, obwohl dem Werdenden immanent) bei Aristoteles. Das Denkmodell von Form und Stoff setzt sich bei Demokrit, Platon und Aristoteles durch, bei jenem für uns nur schwach erkennbar, bei diesen deutlicher; es weist auf das Handwerk und zeigt damit schon die Technik-Affinität des neuen Paradigmas an, wie die Maxime des Oheims in Wilhelm Meisters Lehrjahre. (Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Band 8, S. 343 f.; vgl. auch oben: S. 130). Wie der Handwerker zu seinem Werkzeug, verhält sich nach Aristoteles die Seele zum Körper. (Vgl. Werner Peeck, Griechische Grobgeschichte, 1960, S. 50).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 154

„Die Wasserscheide zwischen dem alten und dem neuen Paradigma liegt bei den Denkern zwischen den Zeitgenossen Empedokles und Demokrit (*), bei den Dichtern zwischen Aischylos und seinem jüngeren Zeitgenossen Sophokles (**) und trennt damit Archaik von Klassik. (* Vgl. Hermann Schmitz, Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, 1988, S. 299-351 (zu Empedokles), S. 351-375 (zu Demokrit), S. 388-396 (zusammenfassende Würdigung und Vergleich); ** vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II Teil 1, 1965, S. 457-345, Band III Teil 2, 1969, S. 424-430). Zu klassischem Ansehen gelangt das neue Paradigma in der Nachwelt aber erst durch die beherrschende Ausstrahlung der Philosophie von Platon und Aristoteles. Dabei ist Platon, was die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung angeht, Epigone Demokrits. (Vgl. Hermann Schmitz, Platon als Demokritiker, in: Was ist Neue Phänomenologie?, 2003, S. 348-363, wieder abgedruckt in: Platon im metaphysischen Zeitalter, hg. v. Gregor Schliemann, Dieter Mersch und Gernot Böhme, 2006, S. 27-38). Originell ist aber die Kompensation, die er dem Verlust ergreifender Mächte durch den der Außenwelt angetanen Reduktionismus und die Degradation des introjizierten Restes auf der Registrierung passiv dargebotene Seelenzustände durch Verlagerung der Ideale in die Transzendenz des Ideenreiches, die mit dem Nimbus des Prächtigen und Ersehnten ausgestattet wird, verschaffte; Platon ist so Urheber des Auswegs (soll man sagen: der Flucht?) aus der Ernüchterung in die Transzendenz. Der spürbare Leib ist jedoch in der Menschspaltung zwischen Körper und Seele wie in einer Gletscherspalte verschwunden. Es ist schwer zu sagen, in welchem Umfang und mit welcher Selbstverständlichkeit er vorher schon bekannt war. Etwas darüber kann man den erhaltenen Resten der Lehrschrift des eleatischen Philosophen Melissos entnehmen, der 450 v. Chr. die samische Flotte gegen die Athener kommandiert haben soll. Nach Melissos ist das Seiende ein Einziges, unübertrefflich stark, unendlich ausgedehnt, überall gleichmäßig, kein Körper, aber gesund und frei von Schmerzen. (Vgl. Hermann Schmitz, Der Leib, 2011, S. 147 f.). Das hat nur Sinn, wenn Melissos das Seiende als spürbaren Leib mit unzerlegbarer Ausdehnung (s.o.) verstand und vom Körper unterschied. Daß die Autoren des neuen Paradigmas damit nichts anfangen konnten, verwundert nicht. Der Leib ist der Herd des affektiven Betroffenseins, und ihnen ging es nicht ums Betroffensein, sondern um das Gegenteil, um Selbstbestimmung und Selbstkontrolle.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 154-156

„Die Autorität und der übermächtige Einfluß von Platon und Aristoteles hat ausgereicht, das Denken über den Leib über Jahrtausende fast zu unterbinden, abgesehen von metaphysischen und theologischen Projektionen, z. B. in der Kabbala, bei Jakob Böhme, Oetinger und Schelling. (Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II Teil 1, 1965, S. 534-554, 578-586). In der Antike taucht das Thema noch zweimal auf, bei den Stoikern und bei Paulus. Schon Seneca hat sich darüber gewundert, was alles die Stoiker für Körper halten, nicht nur die Stimme, das Gehen, das Tanzen, sondern auch die Tugenden, die Wahrheit, die Monate und Jahreszeiten. Ich habe gezeigt, daß die vermeintlichen Körper der Stoiker vielmehr Leiber sind, mit dem Tonos als vitalem Antrieb aus Engung und Weitung, also leiblicher Dynamik (3.2). Die Stoiker waren also im Gegensatz zur herrschenden Meinung, keine Materialisten wie ihre Antipoden, die Epikureer. Sie haben aber ihre Leibphilosophie verdunkelt, weil sie diese in die Seelenlehre einbauten, mit der sie der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung und vom mittleren Stoizismus an auch weitgehend dem Platonismus verfielen. Ganz ohne solche Konzessionen kommt im Urchristentum Paulus aus. Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II Teil 1, 1965, S. 507-528; Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie, 2007, Band II: Nachantike Philosophie, S. 23-32; Hermann Schmitz, Der Leib, 2011, S. 151 f.). Die Menschspaltung ist ihm fremd; die Weltspaltung kommt gar nicht in seinen Horizont. Der Christ des Paulus steht als Leib (soma) im Bann der Mächte Geist und Fleisch, die ihn heimsuchen wie das Fieber und bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem kosmischen Paar Liebe - Streit (Groll) des Empedokles aufweisen, er lebt zwar in Erwartung der Erlösung im Geist, aber zwiespältig, da er vom Fleisch nicht loskommt. Man kann sich fragen, ob ich »soma« richtig mit »Leib« übersetze, oder ob vielleicht der physische Körper gemeint ist. Gegen die zweite Seite der Alternative scheint mir die von Paulus ausgerufene Verschmelzung aller Gläubigen zu einem Leib mit Christus als Haupt zu sprechen. (Vgl. Römerbrief, 12, 4-6; 1. Korinther; 12, 12-31). Ein einziger physischer Körper aller kommt nicht in Frage, wohl aber solidarische Einleibung (3.3), wodurch Menschen in aktuellen Situationen (Aufruhr, Empörung, stürmischer Mut usw.) und Insekten (Bienen, Ameisen) in zuständlichen Situationen leiblich verschmelzen. Daß Paulus die Glieder des physischen Körpers zum Vergleich heranzieht, entspricht seinem protreptisch-rhetorischen Zweck, zumal phänomenologische Verfeinerung ihm unzugänglich ist.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 156-157

„Nach jahrtausendelanger Vergessenheit des Leibes im philosophischen Denken wird dieses etwa ab 1800 für leibliche Erfahrungen wieder sensibel und offen, zuerst bei dem Franzosen Maine de Biran, der sich zwar in Anschauung und Sprache ganz am physischen Körper orientiert, aber mit der dadurch bedingten Umständlichkeit den Leib zum Thema macht und wichtig nimmt. Den fünf äußeren Sinnen, die sein Vorgänger Condillac allein als Erfahrungsquellen gelten ließ, fügt er einen inneren Sinn hinzu, der im Gewahrwerden des eigenen Selbst durch eine gegen die Trägheit des eigenen Körpers kraftvoll ausgeübte Anstrengung bestehen soll; das sei die Quelle des Selbstbewußtseins und der Kategorien von Substanz und Kraft. Es handelt sich um einen gegen eine Hemmung sich durchsetzenden und an ihr wachsenden Impuls, der nicht an äußeren Widerständen, sondern im eigenleiblichen Spüren festgestellt wird, in meiner Ausdrucksweise (3.2): um gegen spannende Engung sich durchsetzende schwellende Weitung, eine Grundform des vitalen Antriebs, der der leiblichen Dynamik das Gepräge gibt. Diese Auseinandersetzung vollzieht sich in einer räumlichen Ausdehnung, die Maine de Biran von dem Nebeneinander der Dinge unterscheidet und im Anschluß an Leibniz als einfache Stetigkeit des Widerstandes zu erfassen sucht; womit der erste Schritt zur Entdeckung flächenloser Räume getan zu sein scheint. Maine de Biran tastet sich an Erfahrungen heran, die der Sprache des Denkens seiner Zeit und Umgebung fern lagen. Wir Deutschen haben das Glück, mit den beiden Wörtern »Leib« und »Körper« einen Unterschied markieren zu können, an den sich alle anderen Kultursprachen, obwohl er ebenso in der Erfahrung wie in der Begriffsbildung scharf zu fassen ist, mit mühsamen Verrenkungen herantasten müssen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 157-158

„Während Maine de Biran nüchtern bleibt, stellt etwa gleichzeitig Schopenhauer in einer hochmetaphysischen, mit Leidenschaft vorgetragenen Konstruktion den Leib heraus. Er hält den sogenannten Willen, einen blinden und ziellosen, aber höchst gestaltungskräftigen Drang, für das Weltprinzip, das in erster Linie im Leib zur Erscheinung komme: Als die »philosophische Wahrheit« schlechthin verkündet er: »Mein Leib und mein Wille sind eines - oder was ich als anschauliche Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, wenn ich desselben auf eine ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichende Weise mir bewußt bin, meinen Willen -« (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, Band I, § 18). Zum Willen in diesem Sinn rechnet er in einer breiten Aufzählung an anderer Stelle alle leiblichen Regungen des affektiven Betroffenseins, z. B. »alles Begehren, Streben, Wünschen, Verlangen, Hoffen, Lieben, Freuen, Jubeln u. dgl.« ebenso wie Schmerzen, Lust und Unlust. (Vgl. ebd.). Der Leib in seiner Ausdrucksweise ist zwar der physische Körper, aber auf der anderen Seite, als Wille, das leiblich-affektive Betroffensein, das als Körper ausbreche und objektivierbar werde. Diese Identifizierung ist zwar voreilig und unhaltbar, aber das Neue und Bahnbrechende daran ist die Ablösung vom dualistischen Körper-Seele-Schema der Weltspaltung: Die Seele kommt nicht mehr vor, die leiblichen Regungen manifestieren oder objektivieren sich ohne ihr Zutun am Körper.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 158-159

„Von Schopenhauer hat Nietzsche das Thema übernommen und zu einem eindrucksvollen Aufruf gegen die christliche Leibverachtung ausgebaut. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Von den Verächtern des Leibes, in: Also sprach Zarathustra). Dem dualistischen Glauben, Leib und Seele zu sein, hält er entgegen: »Leib bin ich ganz und gar und nichts außerdem.« (Von den Verächtern des Leibes, in: Also sprach Zarathustra). Damit schießt er über das berechtigte Ziel hinaus. Zur Phänomenologie des Leibes trägt er nichts bei, denn er versteht den Leib nur anatomisch und physiologisch als Körper im Sinn der Naturwissenschaft, als Zellenstaat gemäß der Zellularpathologie Virchows. Nach Nietzsche ging das Thema ab 1900 zu den Phänomenologen über und wurde dabei mehr oder weniger zum Modethema. So wenig wie bei Nietzsche darf man aber dem Wort »Leib« trauen, als werde damit etwas Neues gesagt. Das gilt vor allem für die Ausführungen Husserls über den Leib. Sie halten sich im Rahmen der dualistischen Menschspaltung. Für Husserl ist der Leib ein beseelter Körper, an sich nur tote Materie, die zum lebendigen Leib wird, wenn die Seele darin waltet, teils durch Empfindungen (er sagt »Empfindnisse«), teils durch Willkürbewegungen, mit denen sie den Körper als Werkzeug (Organ) gebraucht, ganz wie in der Vorstellungsweise der Platoniker. Dieses Walten der Seele nutzt Husserl zu einer der Tradition noch unbekannten Potenzierung des Dualismus: Die Seele ist gar nicht räumlich im Körper, sondern nimmt waltend nur indirekt am Raum (wohl auch an der Zeit) teil. Mit Husserl ist keine Milderung der Welt- und Menschspaltung zu hoffen. “
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 159

„Im Deutschen nennt man den lebendigen Körper (im Gegensatz zur Leiche) »Leib« ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 160

„Insgesamt ergibt sich, daß die Vergessenheit des Leibes, ausgelöst oder beseigelt durch die Welt- und Menschspaltung, vor meinen Bemühungen noch nicht überwunden war, so daß der Versuch, sie abermals in Erinnerung zu rufen, nicht unangebracht sein dürfte. “
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 162

„Wenn die Programme einzeln sind, werden sie Themen; sonst führen sie, wie bei den Tieren, unthematisch, instinktiv. Eine normal entwickelte Reizempfänglichkeit ist von der (aktuelle und zuständlichen) Situation hinreichend mit Programmen für die Zuwendung des Antriebs versehen; wenn dieser nicht zu locker an ein Programm gebunden ist, wird er in dieser Beziehung zum Trieb. Triebe sind also nichts Ursprüngliches, sondern Produkte der Bindung des Antriebs in der Reizempfänglichkeit am Programme einer leitenden Situation und keineswegs die einzige Form solcher Bindung. Wenn diese nicht die nötige Prägnanz gewinnt, um Reize für die Zuwendung zu markieren, terten Störungen der Steuerung des Verhaltens ein, die den Eindruck der Verrücktheit machen können ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 164

„Angst ist eine einfachere, primitivere Regung als Schmerz, tritt wohl auch in der Stammesgeschichte der tierischen Evolution früher auf.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 166

„Die leibliche Dynamik ist in der Dimension von Enge und Weite von vornherein kommunikativ (sprachlich; HB). Das leigt zunächst an der Struktur des vitalen Antriebs, der als antagonistische Konkurrenz gegenläufiger Impulse eine Art von Dialog (Sprache; HB) ist. Sodann ist der vitale Antrieb selbst ein affektives Betroffensein, und affektives Betroffensein ist kommunkativ (sprachlich; HB), nämlich angewiesen auf das Zusammenwirken des passiven Betroffenseins von etwas, das betroffen macht, mit aktivem Eingehen darauf. Affektives Betroffensein ist der vitale Antrieb durch die engende Spannung, die die Weitung zügelt und zurückhält, so daß diese entweder unterliegt oder sich als Schwellung überwiegend durchsetzt oder gar als private Weitung der Hemmung entkommt; die Durchsetzung und das Entkommen ziehen affektives Betroffensein (Stolz, Triumph bzw. Befreiung, Erlösung) nach. Alle leiblichen Regungen, die im vitalen Antrieb und seinen Abspaltungen (private Engung und private Weitung) Platz finden sind affektives Betroffensein, manche von ihnen auch als Vermittler der Ergriffenheit von Gefühlen. Auf diese Weise ist die leibliche Dynamik in der Dimension von Enge und Weite immer eine Auseinandersetzung, ein Zutunhaben mit etwas und insofern kommunikativ (sprachlich; HB). Diese Kommunikation (Sprache; HB) ist nicht auf den Rahmen des eigenen Leibes eines Individuums beschränkt. Sie gehört nicht in eine private Innenwelt. Der Innenwelt-Außenwelt-Dualismus der Weltspaltung ist dem Leib fremd. Er paßt zur leiblichen Dynamik so wenig wie zu den Situationen. Zwar ist jeder Bewußthaber er selbst nur durch für ihn subjektive Tatsachen, und jede Person hat ihre Persönlichkeit als ihre zuständliche persönliche Situation, aber solche Besonderheiten werden überholt durch gemeinsame Situationen mit nicht auf einzelne Individuen beschränkter binnendiffuser Bedeutsamkeit und an der Bildung gemeinsamer Situationen hat die leibliche Kommunikation (Sprache; HB) entscheidenden Anteil.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 183-184

„Unerschöpfliches Material zum Studium der Bewegungssuggestion bietet die Musik.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 193

„Man kann sogar die Personalstile der Musik großer Komponisten mit Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren bestimmen, wobie die dazu von Becking 1928 entwickelte Methode intuitiv die hier phänomenologisch entwickelten Zusammenhänge vorwegnimmt. (Vgl. Gustav Becking, Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, 1928). Mozarts Musik ist epikritisch und geprägt von Spannung und privater Weitung, die durch leibliche Richtung vermittelt werden. Im synästhetischen Charakter entspricht sie der Farbe Gelb und dem Vokal i, während Beethovens Musik mit protopathischer Schwellung im starken vitalen Antrieb ener dem Rot verwandt ist. Bewegungsuggestionen können auch die Atmosphäre einer Stadt bestimmen. (Vgl. Hermann Schmitz, Atmosphären, 2014, S. 92-108: Die Atmosphäre einer Stadt).“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 200

„Identität ist geschichtlich. Das ist ein Schlag ins Gesicht der herrschenden Meinung. Identität gilt als Angelegenheit der Logik in einem Bereich zeitloser Notwendigkeit. Dieses Vorurteil beruht auf dem Irrglauben des Singularismus, daß alles mit zeitloser Notwendigkeit einzeln sei und Identität dazu gehöre. Das gilt nach herrschender Meinung sogar für relative Identität von etwas mit sich selbst. Daß relative Identität geschichtlich ist, dem Entstehen und wohl auch dem Vergehen unterworfen, dürfte klar geworden sein. Sie ist das Fallen einer absolut identischen Sache unter mehrere Gattungen, setzt also numerische Mannigfaltigkeit einzelner Gattungen voraus und damit deren Explikation aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen durch satzfärmige Rede, die wir nur bei Menschen kennen. Satzförmige Rede ist sicherlich einmal entstanden und wird vermutlich einmal vergehen. Mithin ist relative Identität ein geschichtliches, wahrscheinlich von Zufällen abhängiges Ergebnis. Auch in unserer gewöhnlichen Lebenserfahrung kommt unablässig vieles vor, das mit nichts (also auch nicht mit sich selbst) identisch ist, nämlich bei jedem Umgang mit chaotischem Mannigfaltigen, z.B. im Sprach- und Mundgebrauch beim Sprechen. Wissenschaften wie Phonetik und Linguistik (die Phonetik gehört zur Linguistik! HB) tun mit beachtlichem Erfolg ihr möglichstes, um das chaotische Mannigfaltige in Konstellationen mit numerischer Mannigfaltigkeit umzuschöpfen, aber damit versetzen sie das wirkliche Geschehen in ein anderes Milieu, wodruch es vernünftig analysierbar wird. - Viel radikaler, an die Wurzel unserer Überzeugungen, ja unserer Lebenssicherheit gehend, ist die Frage, ob auch absolute Identitä geschichtlich ist. Mir scheint, daß man sie nich nie gestellt hat. Wenn sogar absolute Identität und mit ihr die Verschiedenheitsfähigkeit entfällt, bleibt höchstens noch das absolut konfus chaotische Mannigfaltige (2.4.1). Es kommt in unserer gewöhnlichen Umgebung unablässig vor. mindestens in Gestalt der intensiven Schwankungen, wenn etwas lauter oder leiser, heller oder dunkler, wärmer oder kälter, schneller oder langsamer, stärker oder schwächer wird. Dann nimmt etwas zu oder ab, so daß vieles hinzukommt oder wegfällt, aber nichts von dem Vielen ist vereinzelbar wie bei extensiven Größen und nicht einmal verschiedenheitsfähig wie beim Umgang mit der Sprache und mit Körperteilen bei flüssiger Eigenbewegung, z.B. Sprechen, Gehen, Kauen, wobei wir auch ohne Vereinzelung durch absolute Identität und Verschiedenheit im Gegebenen vor Verwechslungen geschützt sind. Gegenüber dem Vielen in einem intensiven Quantum hat die Frage, ob man etwas darin verwechselt oder vor Verwechslungen geschützt ist, keinen Sinn, weil es darin vollständig an Identität und Verschiedenheit fehlt. Intensive Schankungen ohne Anhalten auf einer Stufe bilden ein Kontinuum. Jedes ungegliederte Kontinuum ist absolut konfus mannigfaltig, z.B. durchdöste Frist, wie Hersilie sie beschreibt: »Ich saß denkend und wüßte nicht zu sagen, was ich dachte. Ein denkendes Nichtdenken wandelt mich aber manchmal an, es ist eine Art von empfundener Gleichgültigkeit.« (Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1821-1829, 3. Buch, 17. Kapitel, Hersilie an Wilhelm). Konfuises Mannigfaltiges kommt auch noch in einigen anderen Formen vor, die Einzelnes schon voraussetzen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 210-212

„In der primitiven Gegenwart ist nichts zählbar. Gelegenheiten, bei denen primitive Gegenwart auftaucht, sind etwa ein Schreck, ein hefiger Ruck oder Windstoß, ein plötzlich aufziehender überwältigender Schmerz, ein Schlag vor den Kopf, der die Besinnung raubt, ein Erstickungsanfall, ein Tritt ins Leere, der den Boden unter den Füßen wegnimmt. Man hat mir einen Widerspruch vorgehalten, weil ich einerseits das Bewußthaben an den vitalen Antrieb bände, andererseits die Erfahrung primitiver Gegenwart eine so totale privative Engung erfordere, daß dadurch der vitale Antrieb zerrissen würde, so daß die primitive Gegenwart nicht zu Bewußtsein kommen könne. Es ist nicht sicher, daß eine Voraussetzung dieses Arguments stimmt, nämlich, daß der vitale Antrieb vollständig aufgelöst werden müsse; gesetzt aber auch, daß dies der Fall ist, leidet der Vorwurf an demselben Fehler wie der Aphorismus Wittgensteins in seiner logisch-philosophischen Abhandlung Nr. 5.631. Wittgenstein wollte als vorfindbar nur gelten lassen, was sich passiv dem Beobachter darbietet und so registrieren läßt, und leugnete daher »in einem wichtigen Sinne« das Subjekt; er übersah das ebenso vorfindbare affektive Betroffensein, das den Beobachter aktiv bedrängt. Solche Bedrängnis genügt schon zur Konfrontation und zur Präsenz, auch wenn die Ankunft noch nicht registrierbar vollzogen ist. In einem schweren Erstickungsanfall ist der Betroffene mit dem Tod schon konfrontiert, auch wenn er noch nicht tot ist, nicht nur wie jeder durch die Erwartung ds Todes, sondern durch dessen drohende Anwesenheit in nöchster Nähe. So könnte auch die primitive Gegenwart als Aussicht in noch nicht vollendeter privativer Engung zugegen sein, ohne sich zur bloßen Idee, zum Gedankending zu verdünnen. - Die primitive Gegenwart erweist sich damit als Ursprung der absoluten Identität. Auch diese ist also kontingent, dem Entstehen und Vergehen ausgesetzt wie die relative Identität. Ihre Geschichtlichkeit greift noch tiefer als bei dieser die Sicherheit der Lebensgrundlagen an; denn wennn mit der Fähigkeit zur satzförmigen Rede die konsolidierte Einzelheit entfiele, wäre immer noch ein Leben in der Gefangenschaft geschlossener Situationen möglich, wie die Tiere es führen, ohne Ausgesetztheit in primitive Gegenwart aber nicht einmal dieses. Obendrein ist mit der primitiven Gegenwart erst ein Lichtpunkt des Selbstseins gesetzt; wie er auf das Seiende ausstrahlt, so daß um ihn herum alles absolut identisch wird, ist noch unklar. Die Aufklärung darüber ist aber einfach. Das Austragen der absoluten Identität über die primitive Gegenwart hinaus übernimmt der vitale Antrieb in leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation. Er schließt an die privative Engung an, die eine Abspaltung aus ihm ist, und hält durch seine engende Spannung die Perspektive auf sie offen, gleichsam als Nachhall oder Andeutung. Alles, was die Einleibung erreicht, wird dadurch mit absoluter Identität belehnt. Solche Ergänzung ist nun möglich, da die Einleibung ihre Teilnehmer für absolute Identität zugänglich macht. Diese Art der Übertragung reicht nicht so weit wie die, die in der Welt als entfalteter Gegenwart möglich wird, aber sie genügt für das Leben mit diffus chaotischer Mannigfaltigkeit. Der Leib ist also durch den vitalen Antrieb und dessen Abspaltung zur Enge hin Ursprung und Überträger absoluter Identität. Diese Zusammenhänge sind natürlich vor der Vereinzelung unspaltbarer Verhältnisse und nicht Beziehungen. Daher erübrigen sich Prioritätsfragen wie diese, ob zuerst die primitive Gegenwart da ist oder der vitale Antrieb mit seiner Abspaltung zur Enge hin, in gleicher Weise, wie es für die aktive Seite des affektiven Betroffenseins unter 1.2. gezeigt wurde.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 213-215

„Eine Person ist ein Bewußthaber mit der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Kleine Kinder vor dem Erwachsenwerden, das etwa 9 Monate nach der Geburt einzusetzen pflegt, und hochgradig Schwachsinnige (sogenannte Idioten), die das Vermögen entweder nie erlangt oder wieder verloren haben, sind demnach keine Personen, woraus ber keineswegs folgt, daß man sie geringschätzig behandeln sollte.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 216

„Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Selbstbewußtsein (besser: Selbstbewußthaben). (Wegen der Äquivokation des Wortes »Bewußtsein« ersetze ich den Ausdruck »Selbstbewußtsein« gern durch »Sichbewußthaben« und verstehe »Bewußtsein« nur noch als »Bewußtgehabtwerden durch einen Bewußthaber«. Statt »Bewußthaber« sagt man gewöhlich »Subjekt«, aber dieses Wort ist ebenfalls störend äquvok.) Genau besehen überkreuzen sich dabei zwei Typen von Identifierungen, erstens für die Gattungen a, b, c usw. die Identifizierung eines Falles von a mit einem Fall von b, einem Fall von c usw., zeitens die Identifizierung dieses Bündels von zu einem einzigen Fall vieler Gattungen identifizierten Gattungsfällen durch den Bewußthaber mit sich selbst. Jenes nenne ich die horizontale, dieses die vertikale Identifizierung. Aus allen horizontalen Identifizierungen, einzeln und gemeinsam, ist keine vertikale Identifizierung abzuleiten, wenn diese nicht schon in den horizontalen Identifizierungen enthalten ist, in der Weise, daß es dabei dem Bewußthaber schon bekannt ist, daß es sich um ihn selber handelt; das aber ist ihm bekannt nur durch die subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins. Soviel wurde schon unter 1.1. eingesehen. Schon die bloße Tatsächlichkeit der dem Sichbewußthaben vorschwebenden Tatsachen, noch unabhängig von deren Inhalt, muß dem Bewußthaber zu verstehen geben, daß es sich um ihn selbst handelt. Das ist bei objektiven (neutralen) Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er geung weiß und gut genug sprechen und schreiben kann, nicht der Fall; deshalb bedarf es der subjektiven Tatsachen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 216

„Man muß erst einmal richtig traurig oder richtig froh sein, mit den mehr zur Engung bzw, zur Weitung tendierenden Impulsen, um zur eigenen Trauer oder Freude Stellung nehmen zu können. Wer wirklich zürnt, muß erst einmal in Zorn geraten sein, eher er in der Auseinandersetzung etwas damit anfangen kann.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 223

„Die anfängliche Fesselung des Ergriffenen durch das ihn ergreifende Gefühl geht ontologisch (im Sinne meiner Mannigfalitigkeitslehre) darauf zurück, daß das Ergreifen anfangs ein unspaltbares Verhältnis ist, das dem Ergriffenen keine Gelegenheit läßt, eine Beziehung zu dem, was ihn ergreift, aufzunehmen. Dieses Verhältnis widerlegt nachdrücklich die emanzipatorische Tendenz, die bei der Weltspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung Pate stand. Es ging darum, der Person ein ihr gesamtes Erleben umfassendes abgeschlossenes Inneres (ihre Seele), in dem sie Herr im Haus sein konnte, zu verschaffen und den von außen ergreifenden Mächten, die sie dabei irritieren könnten, nicht nur den Zutritt zu verwehren, sondern solche sogar zu verbannen, wofür die Außenwelt ausgeräumt wurde (Reduktionismus). Nun stellt sich heraus, daß die Gefühle als ergreifende Mächte diese Schranke und diesen Bann unterlaufen, indem sie sich zwar nicht an eine innreliche Seele wenden - ein Fiktion, von der im Fühlen nicht zu sprüen ist -, aber an den Bewußthaber selbst, den sie ergreifen, betroffen machen, in Bann ziehen, bis er in personaler Emanzipation so viel Selbstbestimmung zurückgewinnt, daß er sich in Preisgabe oder Widerstand mit der ergreifenden Macht auseinandersetzen kann. Das affektive Betroffensein durch Gefühle ist also unverträglich mit der Einbettung des Betreffenden (d.h. betroffen Machenden) in eine privative seelische Innenwelt .... Gefühle sind also keine Seelenzustände; sie fügen sich nicht in das Schema der Weltspaltung. Die Introjektion der Gefühle, die im Sinne dieses Paradigmas zuerst von Platon (schon früh) formuliert wurde (vgl. Platon, Gorgias, 513c), scheitert an der kausalen Überlegenheit der Gefühle, die den affektiv von ihnen Betroffenen ohne Rücksicht auf eine diesen schützende Schale der Privatheit seiner Innenwelt direkt angreifen und in Bann ziehen. - Damit ist ein jahrtausendealtes Mißverständnis der Gefühle über wunden.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 224-225

„Gefühle sind also weder persönliche Stellungnahmen noch Seelenzustände (moderener ausgedrückt: Bewußtseinsinhalte). Was sie sind bedarf einer grundsätzlichen Neubestimmung. ich schlage vor: Gefühle sind räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte. Am Gefühl sind also Raum und Leib beteiligt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 226

„Einen Überblick über die Gefühle gewinnt man durch deren Schichtung, die, bezogen auf ihre Räumlichkeit als Atmosphären, die Struktur des Gefühlsraumes ist. Die Grundschicht wird von Zufreidenheit und Verzweiflung gebildet, Gefühlen, die nur erfüllte oder leere Weite sind, ohne in die Weite eingetragene Richtungen. Jedes Gefühl, unabhängig von seinem Typ, ist auch ein Gefühl von Zufriedenheit oder Verzweiflung. Auf diese Grundlage sind die gerichteten Gefühle eingetragen, die aber zunächst noch nicht thematisch gerichtete sind. Ein Thema im hier gemeinten Sinn ist ein von einer direkten Zuwendung angezielter einzelner Gegenstand. Die Richtunge der Gefühle aus der zweiten Schicht sind aber diffus, Zuwendungen ohne Ziel. Das Zentrum ist in beiden Fällen der Betroffene, aber er ist dabei nicht thematisches Zentrum, sondern in einseitiger Einleibung so fixiert an das dominante Gefühl, daß er sich selbst nur indirekt, durch dieses vermittelt, zuwendet, obwohl er sich eindringlich spürt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 236

„Wegen ihrer Weite als Atmosphären bezeichne ich alle Gefühle als Stimmungen, weil sie noch keine Richtung haben. Gerichtete Gefühle bezeichne ich als Erregungen (das naheliegende Fremdwort »Emotion«, das insbesondere Aufwallungen bezeichnet und z.B. für Sehnsucht nicht paßt, ist mit zu vieldeutig). .... Ein Gefühl ist thematisch zentriert, wenn es dem affektiv Betroffenen ein Thema (oder Themen) für seine Zuwendung anbietet. Die Richtungen der Gefühle haben“ mit den leiblichen Richtungen die Unumkehrbarkeit gemein, aber sie führen nicht wie diese aus der enge in der Weite, sondern kommen aus der Weite hervor, aber ohne Quellee ihres usprungs, und gleichen damit dem Wind und der reißenden Schwere.
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 237-238

„Der Fall der Leibe .... In meiner Analyse der Liebe und ihrer Geschichte (vgl. Hermann Schmitz, Die Liebe, 1993) habe ich den Wendepunkt beschrieben, der im hohen oder späten Mittelalter - genauer: seit Gottfried von Straßburgs Tristan - dadurch eintritt, daß der Verdichtungsbereich den Verankerungspunkt abwirft. Bis dahin wurde nach dem herrschenden Vesrändnis um eines Verankerungspultes willen - des Guten (Platon), Gottes (Augustinus), der Schönheit, der Tugend, des Anstandes der geliebten Frau (Minnesänger) halber - geliebt, was zuerst Gottfried nachdrücklich verwirft; seither wird das geliebte Wesen um seiner selbst willen geleibt, ohne Stütze in einem Verankerungspunkt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 239

„Ob es Gefühle gibt die niemand fühlt, können wir nicht wissen, so wenig, wir wir entscheiden können, ob es Farben gibt, die neimand sieht.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 241

„Die Gefühle greifen in erster Linie leiblich beim vitalen Antrieb an. Sie haben es leicht, wenn dieser formbar isz, entweder durch Rhythmus des Schwingens vom Übergewicht der Engung oder Weitung oder durch deren Abspaltbarkeit nach beiden Seiten.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 242

„Die Gefühle können aber auch am gemeinsamen vitalen Antrieb solidarischer Einleibung angreifen, manchmal mehr als direkt am eigenen Leib eines Individuums. Panische Flucht, stürmischer Mut und gemeinsame Begeisterung geben davon ebenso Zeugnis wie das gemeinsame Singen, das zunächst eine ganzheitliche leibliche Atmosphäre solidarischer Einleibung um die Singenden ausbreitet, die aber wie von selbst von Gefühlen befallen wird und dann wie eine Stimmungsglocke den Chor umhüllt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 243

„Die dritte Komponente, nach der Wahrnehmung des Gefühls und nach der Ergriffenheit, ist die persönliche Stellungnahme, die einsetzen kann, wenn die Anfangsphase mit unspaltbarem Verhältnis von Mensch und ergreifendem Gefühl verflogen ist und die Person durch Spaltung des Verhältnisses eine Beziehung zu dem Gefühl aufnehmen kann. Dann kann sich aus Preisgabe und Widerstand sowie deren Mischung ein mehr oder weniger kultivierter, auch von der Kultur und Gesellschaft, in der das Individuum lebt, mitgeformter Stil des Umgangs mit Gefühlen bilden, ein persönlicher Stil des Fühlens. Damit hängen die großen Unterschiede der Empfindlichkeit für Gefühle zwischen Menschen hauptsächlich zusammen. Einzelne Episoden der Lebensgeschichte, in der persönlichen Situation auch über das Einwachsen durch Vergessen (d.h. Entkleidung von der Form der Einzelheit und numerischen Mannigfaltigkeit) hinweg fortwirkend, können bei einem Menschen Gefühle wecken, die bei dem anderen mangels solcher Erfahrungen stumm bleiben.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Leib und Gefühl, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 243

„So geradlinig konnte mein Weg auch deshalb nur sein, weil ich mich nicht familiär gebunden habe. Daher war er auch mit großen Verlusten verbunden, denn es wäre schön gewesen, eine Familie zu haben. Es hat sich aber erwiesen, daß ich die Einsamkeit brauche zum Denken.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, in: „Gefühle sind keine Privatsache“ - Gespräch mit Hermann Schmitz, in: Philosophie Magazin, Heft 2, 2017, S. 70–75

„Das affektive Betroffensein beschert dem Bewußthaber schon im präpersonalen Erleben so viel Selbstständigkeit, daß höchstens er in der Lage ist, die Sachverhalte seines affektiven Betroffenseins auszusagen (wenn er will, zu bekennen), obwohl die anderen ebenso wie er in der Lage sind, darüber zu sprechen. Wie weit diese frühe Subjektfähigkeit reicht, zeigt sich daran, daß auch die Person nur im affektiven Betroffensein sich selbst finden kann. Das affektive Betroffensein ist immer leiblich ....“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019, S. 9

„Die Zeit paßt in diesen Zusammenhang aus zwei Gründen. Erstens bohrt die vergehende Dauer in das Gleichmaß des Kontinuums ein Loch oder einen Spalt, die dafür ausreichen, daß etwas in hinlänglicher Anschauung sich als sich selbst abheben kann. Zweitens aber ist die Zeit in der sonst glatten Oberfläche der Welt und ihrer Dauer in der geschichteten Lagezeit gleichsam die Wunde, die bis zum Grund der primitiven Gegenwart als der Wurzel der Individuation durchsehen läßt. Der junge Schopenhauer hat sich, wie er berichtet, oft gefragt: »Warum ist dieses Jetzt gerade jetzt?« Er meint das Paradox, daß zwar jedes Datum der Lagezeit seine Gegenwart hat, die das mit ihm Gegenwärtige zu einer Schicht zusammenfaßt, daß aber zusätzlich die eigentliche Gegenwart dessen, was ist, als nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr Seiendes unvermittelt auf ein Datum der Lagezeit fällt. Diese und andere Merkwürdigkeiten zeigen, daß unter der geregelten Folge der Gegenwarten in der Lagezeit die primitive Gegenwart hindurchwirkt. So bezeugt die Zeit die Geschichte der Selbstwerdung.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019, S. 10

„Ein weiterer Anlaß zur Freude besteht darin, daß Guido Rappe, ein früherer Schüler von mir, jetzt Professor an einer Universität in Osaka, ein Buch unter dem Titel Einführung in die moderne Phänomenologie (2018) veröffentlicht hat, in dem er meine Philosophie in gebührender Stellung in die Entwicklung der Phänomenologie einordnet und dabei die Gesamttendenz meiner philosophischen Bestrebungen treffend zusammenfaßt. Er stellt dabei den Leib in den Vordergrund. Wenn es sich dabei nur um eine Analyse der Ausdehnung und Dynamik des spürbaren Leibes handeln sollte, wäre damit zwar ein wichtiges, aber nicht das ausschlaggebende Thema meiner Bemühungen getroffen. Wenn aber an die Perspektiven gedacht wird, die durch die Entdeckung des Leibes zwischen Seele und Körper geöffnet werden, gebe ich ihm Recht. Es war immer mein Bemühen, dem Versuch der Philosophie, einschließlich des von ihr weitgehend dominierten Christentums, entgegenzutreten, das Interesse an Macht schon über die eigenen unwillkürlichen Regungen (Platon) und später über die Natur (Descartes) in den Vordergrund zu stellen und ein entsprechendes Weltbild den Menschen einzuschärfen. Mein Interesse ist es dagegen, diese Verdeckung zu beseitigen und aus der unwillkürlichen Lebenserfahrung die Reserven der Empfänglichkeit wieder freizulegen, wozu die leibliche Kommunikation, die Empfänglichkeit für Gefühle als Atmosphären, das Gestoßenwerden auf sich im affektiven Betroffensein, das Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum und anderes mehr gehören. Es ist paradox, daß ich fast bis zum 90. Geburtstag auf eine solche Würdigung warten mußte.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019, S. 11

„Affektives Betroffensein findet statt, wenn jemand von etwas heimgesucht wird, wenn ihm etwas nahegeht, so daß er davon getroffen, berührt, gepackt wird oder wie man es ausdrücken will. Alle diese Umschreibungen sind noch zu verschwommen. Eine präzise Begriffsbestimmung ist diese: Jemand ist affektiv betroffen von etwas, wenn er davon so betroffen wird, daß er nicht umhin kann, dabei sich selbst zu spüren und in diesem Sinne auf sich selbst aufmerksam zu werden, selbst wenn er darüber gar nicht nachdenkt, gar nicht reflektiert, sondern wie ein Tier oder ein Säugling ganz naiv ist. Diese Definition beinhaltet also eine gewisse Notwendigkeit, daß nämlich im affektiven Betroffensein immer der mitgegeben ist, dem es nahegeht, denn man kann nicht betroffen sein, ohne sich als den so Betroffenen zu spüren. Das ist natürlich anders als bei einem Betroffensein, das nicht affektiv ist, wenn man zum Beispiel nur in seinem Vermögensstand oder juristisch betroffen ist, das sind Äußerlichkeiten, von denen kann man sich distanzieren. Ganz anders ist es beim affektiven Betroffensein, wenn einem etwas nahegeht. Hierdurch unterscheiden sich die Tatsachen des affektiven Betroffenseins von allen Tatsachen, die ich objektiv nenne, und zwar sind objektiv solche Tatsachen, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und genug sprechen kann. Alles das, was zu einem Menschen gehört, abgesehen von den Tatsachen des affektiven Betroffenseins, ist in dieser Weise eine objektive Tatsache, zum Beispiel alles das, was in seiner Biographie aufgezeichnet werden kann, was zu seinen Lebensumständen und seiner Herkunft gehört, sofern es sich um solche objektiven Tatsachen handelt, denen aber das affektive Betroffensein fehlt, denn das kann nicht so distanziert werden. Man erkennt diese Zufälligkeit aller objektiven Tatsachen für jemanden daran, daß jede solche objektive Tatsache auch einem andern eigen sein könnte, sei es eine Eigenschaft oder eine Relation. Dadurch, daß ich in Leipzig 1928 geboren bin, wird nicht ausgeschlossen, daß es auch anderen so geht. Ebenso ist es für alle die einzelnen Tatsachen des Lebens, und nicht nur die einzelnen Tatsachen sind mir in diesem Sinne zufällig, daß zu ihnen nicht gehört, daß gerade ich es bin, um den es sich handelt.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019, S. 13-14

„Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Zu denen gehört notwendig, daß sie tatsächlich die seinen sind. Hieraus nun ergibt sich sofort eine weitere und sehr wichtige Bestimmung des affektiven Betroffenseins. Das affektive Betroffensein ist nämlich von der Art, daß jeweils nur einer im eigenen Namen es aussagen kann von sich, obwohl die anderen sehr wohl in der Lage sein können, darüber zu sprechen, so gut wie er, indem sie nämlich Kennzeichnungen und Namen gebrauchen, die darauf passen und sich damit auf dieses sein affektives Betroffensein beziehen. Aber in Satzform aussprechen können sie dieses sein affektives Betroffensein nicht, denn zu diesem affektiven Betroffensein gehört ja, daß er er selbst ist, auf den sich diese Tatsachen beziehen. Das ist ein Bestandteil der Tatsachen selbst und nicht etwas nur zufällig Hinzugesetztes. Daß er er selbst ist, kann tatsächlich nur er selbst sagen. Wenn ein anderer das sagt, dann spricht er von etwas anderem, denn er ist ja nicht der Andere selbst, wenn er sagt »Ich bin traurig« oder »derjenige, der ich bin, der ist traurig«, dann ist das eben nicht für den Anderen gesagt, sondern für sich selbst gesagt. Also die Tatsachen des affektiven Betroffenseins kann jeweils nur einer im eigenen Namen aussagen, und dadurch unterscheiden sich diese Tatsachen von allen objektiven Tatsachen. Diese Tatsachen sind nicht objektive Tatsachen, sondern subjektive Tatsachen, wie ich sie nenne, solche, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Diese subjektiven Tatsachen bestehen nun aber nicht etwa darin, daß der Mensch sich in seine Subjektivität irgendwie zurückzöge und daß er eine private Innenwelt aufbaute, wie die Tradition das wohl meint, wenn sie von Subjektivität spricht, Subjektivität als einer Privatsache des Einzelnen. Darum geht es jetzt nicht, sondern im Gegenteil sind diese subjektiven Tatsachen diejenigen, in denen man tatsächlich auf die Wirklichkeit gestoßen wird, denn sie enthalten dieses, daß einem etwas nahegeht, tatsächlich mich persönlich trifft und mir nicht bloß vorschwebt, so daß hier unmittelbar der Kontakt mit dem Wirklichen stattfindet, während dieser Kontakt von den objektiven Tatsachen nur gespiegelt wird. .... Die Subjektivität von einer Tatsache für mich ist also keineswegs eine Absperrung gegenüber der Welt oder gegenüber allem in meiner Umgebung oder gegenüber dem, was es sonst noch gibt. Sondern es ist gerade der Zugang zu dem Getroffenwerden von ihr im Gegensatz zu dem Draußenstehen eines bloßen Beobachters. Was übrig bleibt, wenn man von den subjektiven Tatsachen die Subjektivität abschält, ist nur noch die Objektivität objektiver Tatsachen. Die subjektiven Tatsachen sind also in vieler Hinsicht reicher als die objektiven Tatsachen.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019, S. 15-16

„Hieraus ergibt sich auch noch eine weitere wichtige Folgerung, nämlich diejenige, daß die subjektiven Tatsachen in keiner Weise aus objektiven Tatsachen aufgebaut werden können durch irgendeinen Zusatz zu ihnen. Das ergibt sich aus der inhaltlichen Übereinstimmung der subjektiven Tatsachen mit den entsprechenden objektiven, also im Bereich des affektiven Betroffenseins. Der subjektiven Tatsache, daß ich glücklich oder traurig bin, entspricht natürlich die objektive, daß Hermann Schmitz glücklich oder traurig ist oder sonst irgendetwas. Das ist eine Tatsache, die inhaltlich ja völlig übereinstimmt mit der Tatsache, daß ich selbst dieser Mensch bin, wie es mir mein unmittelbares affektives Betroffensein zeigt. Aus dieser inhaltlichen Übereinstimmung ergibt sich, daß durch keinen Zusatz zu dem Inhalt der objektiven Tatsachen eine subjektive Tatsache erreicht werden kann. Denn die subjektive Tatsache hat ja genau denselben Inhalt, es kann also keinen Übergang geben, um von den objektiven Tatsachen die subjektiven zu erreichen. Der Unterschied ist bei völlig gleichem Inhalt an Eigenschaften und Relationen und so weiter nur dieser, daß es sich um Tatsachen ganz verschiedener Art handelt. Tatsachen ganz verschiedener Art, subjektive und objektive Tatsachen unterscheiden sich durch ihre Milieus als Tatsachen, aber nicht durch ihren Inhalt, der kann sogar völlig übereinstimmen. Daher ist es zum Beispiel auch unmöglich, durch Zusatz einer Kausalfunktion zu den objektiven Tatsachen die subjektiven Tatsachen zu erreichen. Hier ist ein absoluter Sprung in ein anderes Milieu, und nicht eine Veränderung, ein Zusatz an Inhalten, an Relationen oder Eigenschaften. Während also die subjektiven Tatsachen von den objektiven Tatsachen aus unerreichbar sind, ist es umgekehrt natürlich durchaus möglich, von den subjektiven Tatsachen aus die objektiven zu erreichen. Denn diese objektiven stecken ja in den subjektiven drin, man braucht nur die Subjektivität abzuschälen. Man braucht also nur von mir selbst, mit alledem, was ich als affektiv Betroffener bin, überzugehen zu Hermann Schmitz. Es bleibt derselbe Inhalt, nun aber in Form von objektiven Tatsachen übrig. Dieser Abstieg von den subjektiven zu den objektiven Tatsachen ist ein vollkommen unentbehrliches Merkmal der Reifung der Lebenserfahrung, wodurch der erwachsene Mensch über seine Kindlichkeit hinauswächst. Der erwachsene Mensch braucht diesen Abstand, er braucht die Neutralisierung subjektiver Tatsachen, damit er sich ein gut begründetes Urteil bilden kann, um etwa als Richter zwischen entgegengesetzten Meinungen und Parteien unabhängig zu sein und gerecht sein zu können. Er braucht ebenso, um sich im Leben zurechtzufinden, zunächst ein neutrales, objektives Bild der Umwelt, das sich mit Hilfe objektiver Tatsachen gewinnen läßt. Dieser Übergang ist in der Tat unerläßlich für die Reifung des Menschen, aber er ist eben zwiespältig. Es fällt die ursprüngliche Fülle der subjektiven Tatsachen ihm zum Teil zum Opfer.“
Hermann Franz-Heinrich Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 2019, S. 17-18

„Philosophie ist die Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung.“
Hermann Schmitz

 

 

 

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