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Nation wagen! Bedeutungsverlust: Der deutschen Sozialdemokratie fehlt eine
weltanschauliche Leitidee (von Karlheinz Weißmann)Ralf Dahrendorf
hat das 20. das "sozialdemokratische Jahrhundert" genannt und mit dessen
Ende auch das Ende sozialdemokratischer Politik prophezeit. Die Ursachen sah er
im Verschwinden der Arbeiterschaft als Trägergruppe, in der Erfüllung
wichtiger politischer Forderungen der Sozialdemokratie mittels staatlicher Fürsorge
und in der Übernahme sozialdemokratischer Positionen durch alle einflußreichen
Parteien. Dieser Anschauung ist ein gewisses Recht nicht zu bestreiten, wohl aber
dem Optimismus, der dem Gedanken dialektischer Aufhebung zugrunde liegt. Tatsächlich
geht der Bedeutungsverlust der SPD viel stärker darauf zurück, daß
ihr schon lange die Leitidee abhanden gekommen ist. Die Sozialdemokratie bildet
zwar einen wichtigen Teil des politischen Systems und besitzt Macht und Einfluß,
aber sie gleicht der Union spiegelbildlich in bezug auf rapiden Mitgliederverlust
und Wählerschwund, das Fehlen von Führungsreserven und Weltanschauungsschwäche.
Um ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, hatte sie Ende der fünfziger
Jahre vielem - dem Marxismus, der Planwirtschaft, der "Ohne mich"-Haltung
- abgeschworen, aber der Plan, sich als moderne linke Volkspartei neu zu erfinden,
war nur zu verwirklichen, indem man auf Deutlichkeit verzichtete. Das fiel zuerst
nicht schwer. Da durfte man auf den technokratischen und dann auf den linken Zeitgeist
vertrauen, übernahm ein bißchen Planungseuphorie hier und einiges aus
dem Reservoir der APO dort, hielt den alten Machtfaktor Gewerkschaften, baute
einen weiteren in der Administration auf und betrieb sonst die systematische Einflußnahme
auf Meinungsbildung und Sinnvermittlung. Bei den Debatten um "Neue
Ostpolitik" oder Sozialisierung, "Chancengleichheit" oder "Berufsverbote",
um Atomenergie oder Nachrüstung wurden zwar Bruchlinien in der Partei erkennbar,
aber die legendäre Troika - Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt
- hielt sie zusammen. Die oft verlangte und immer wieder diskutierte programmatische
"Erneuerung" der Sozialdemokratie brachte sie aber nicht zustande, und
die blieb auch aus nach dem Wechsel in die Opposition. Die Leerstelle wäre
vielleicht unbemerkt geblieben, wenn nicht der Zusammenbruch der Sowjetunion und
dann der Prozeß der Wiedervereinigung zu Stellungnahmen gezwungen hätten.
Für einen Moment schien da die Möglichkeit einer nationalen Linken auf.
Intellektuelle aus dem Nachrang der SPD (Brigitte Seebacher-Brandt, Tilman Fichter)
fürchteten jedenfalls, man könne sich der antipatriotischen Linie und
des Liebäugelns mit den kommunistischen Staatsparteien deutlicher erinnern
und die Methoden der Vergangenheitsbewältigung nun auf die Linke übertragen.
Vor allem aber wirkte der Zusammenhang zwischen Nation und Demokratie unbestreitbar. Das
Zeitfenster, in dem eine so gewendete Sozialdemokratie denkbar war, schloß
sich aber rasch, und alsbald fiel man in schlechte alte Gewohnheiten zurück.
So blieb als ideologischer Zusammenhalt nur ein Wiederaufguß: Egalitarismus,
"Westernisierung", Multikulturalismus, Antifaschismus. Zweifelsohne
läßt sich damit ein bestimmtes politisches Marktsegment bedienen, aber
nur solange niemand ein attraktiveres, weil weitergehendes Angebot macht. Der
Aufstieg der SED-PDS-Linken ist wesentlich darauf zurückzuführen, daß
sie die Angebotslücke erkannt hat und zu nutzen entschlossen ist. Daher das
krampfhafte Bemühen der SPD, von dieser nicht überboten zu werden, und
das rein Taktische der Abgrenzung, daher das ziellose Agieren in der Großen
Koalition, der Verschleiß an Parteivorsitzenden, die jüngste Kontroverse
zwischen Kurt Beck und Franz Müntefering, das Zähneknirschen bei der
Befürwortung von Globalisierung und bewaffnet-humanitären Maßnahmen,
die halb widerwillige, halb sehnsüchtige Erinnerung an Gerhard Schröders
"Basta!", die Skepsis gegenüber "weichen" Themen, die
Irritation über das Lumpenproletariat neuen Typs und die zweifelhafte Loyalität
der Eingebürgerten. Die SPD wird erkennbar von ihrem linken Gegner
getrieben, und ihr antifaschistischer Furor speist sich aus dem Willen, zumindest
auf dem Feld der Symbolpolitik keine Überbietung zuzulassen. In der Perspektive
der Sozialdemokratie ist die NPD zudem ein Problem der Bürgerlichen und hat
mit ihr selbst nichts zu tun. Dabei wäre zu fragen, ob nicht ein Teil der
Wählerschaft, der auf das Spiel der NPD mit den Begriffen "Nation"
und "Sozialismus" anspricht, zur natürlichen Klientel der SPD gerechnet
werden könnte, wenn diese nicht so entschlossen vaterlandslos wäre. Hier
ist die gesamtstaatliche Verantwortung der Partei berührt. Ihr erster Vorsitzender
in der Nachkriegszeit, Kurt Schumacher, hatte zu den "Jungen" der Weimarer
Jahre gehört und die Mitschuld der Sozialdemokraten am Untergang der Republik
niemals vergessen. Die war nicht einfach durch eine Verschwörung von Hitler
und Großkapital zerstört worden, sondern auch durch das Versagen der
eigenen Partei, die es versäumt hatte, den Kampf gegen Versailles mit jener
Energie zu führen, die das Volk erwarten durfte, wenn der neue Staat als
legitime nationale Ordnung erscheinen sollte. Zu den Fatalitäten der
Parteigeschichte gehörte, daß Schumacher mit solcher Einschätzung
schon alleine stand, denn die besten seiner Generation, Männer wie Julius
Leber oder Carlo Mierendorff, hatten die NS-Zeit nicht überlebt, und die
Vehemenz, mit der er die Kommunisten als "rotlackierte Nazis" angriff
und für die Wiedervereinigung eintrat, schmeckte den vielen in seiner Partei
nicht, die nach Möglichkeiten des Arrangements mit den neuen Verhältnissen
suchten. Sie verkannten indes, daß Schumachers Auffassung vom notwendigen
Ausgleich zwischen Nation und sozialer Gerechtigkeit mehr war als ein von den
Umständen der Zwischenkriegsjahre diktiertes Konzept. Dahrendorfs eingangs
erwähntes Diktum ist mit der Vorstellung verknüpft, daß auf das
"sozialdemokratische" 20. Jahrhundert ein "(neo)liberales"
21. folgt - nichts unwahrscheinlicher als das. Die Massengesellschaften werden
zukünftig wieder vor im weitesten Sinne "sozialen" Herausforderungen
stehen, bei deren Beantwortung es immer nur um das "Wie" gehen kann,
nicht um das "Ob". Der Bezug auf die Nation ist dabei so naheliegend,
daß ihn irgendwann jemand aufgreifen muß. Mit der SPD ist für
den Fall wohl nicht zu rechnen.
Junge
Freiheit vom 26. Oktober 2007
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