Sammelt euren Zorn. Peter Sloterdijk hält ein Plädoyer
für politische Empörung auf Weltniveau.
Von Hans-Jürgen Heinrichs.
»Ich empöre mich, also sind wir« welch ein Pathos
individueller Auflehnung in Albert Camus »Der Mensch in der
Revolte«! Und nicht nur das: Die Empörung zieht ein existenzielles
Zusammengehörigkeitsgefühl nach sich. Solch ein Glaube gehört
einer anderen Epoche an. Wie ist es dazu gekommen, daß Empörung,
Erregung und Zorn keinen gesellschaftlich wirksamen Zusammenhalt mehr
für sich in Anspruch nehmen können?
Dieser Fragenkomplex liegt Peter Sloterdijks neuer Studie »Zorn
und Zeit« zugrunde. So dringt er in diesem groß angelegten
»politisch-psychologischen Versuch« in die Tiefen der Affekte
und deren gesellschaftliche Bedeutung ein. Vehement
attackiert der Philosoph die Psychoanalyse, die ihm immer schon als Vergleichsfolie
diente, gegen deren Begrifflichkeit er ein fließendes, nicht kategorial
festgezerrtes Denken durchzusetzen versucht. Allerdings mit ausgeprägt
rebellischem Gestus. Jacques Derridas Dekonstruktionsprinzip Systeme
an ihren Schwachstellen stark zu machen kommt ihm unterwürfig
vor. Wie in allen seinen Schriften tritt er auch hier kämpferisch
auf und kritisiert die herablassende Art, in der die Psychoanalyse Racheenergien
auf einen Nebenschauplatz verschoben hat.
Im
Rückgang auf Homers »Ilias« möchte Sloterdijk dem Zorn, dem
»unheimlichsten und menschlichsten der Affekte«, wieder einen geistigen
Raum eröffnen. So soll gesellschaftliches und politisches Handeln nicht nur
in seiner zerstörerischen Dynamik wahrgenommen werden. Der Ansatz ist ähnlich
wie in seiner »Sphärologie«: von menschlichen Intimformen auszugehen,
um den vermeintlich harten Kern des Wirklichen zu entlarven. Dagegen
entwickelte er das Bild einer von ihm so genannten »Schaumzellengesellschaft«,
einer fragilen, dünnwandigen, gewebeartigen Formation, vergleichbar den Vorstellungen
der modernen Biologie und Quantenphysik. Die ontologische Kategorie des Seins
in Martin Heideggers »Sein und Zeit« wird gegen einen psychologisch
relevanten Begriff ausgetauscht. Und Zeit ist gleichbedeutend mit Geschichte.
So stellen die »Sphärologie« und »Zorn und Zeit« dynamisierte
Ontologien dar, in denen auch von Affekten, von sogenannten »thymotischen
Kraftzentren« und von Revolutionen die Rede ist.Das erste zentrale,
sprachgewaltige Kapitel des Buches ist mit »Zorngeschäfte im allgemeinen«
überschrieben. Hier wird der Übergang von der diffusen intimen Emotion
zu organisierten politischen Programmen der »Zornwirtschaft«, der »Zornbanken«
erörtert: Der Zorn auf der Explosionsstufe entlädt sich eruptiv
etwa im aktuellen Beispiel der Pariser Banlieue-Unruhen. Wird der Zorn aber nicht
mehr nur verschwendet, sondern gleichsam angelegt und verwertet, können daraus
investierbare Kapitale entstehen. Im Klima des Hasses und der Rachevorhaben zwischen
dem Westen und dem Islamismus nimmt der Zorn die Form eines übergreifenden
Projekts an und geht (als eine »Bankform«) weit über das szenisch-theatralische
Ausagieren von Gruppen oder Einzelnen hinaus.Der in der biblischen Genesis
dargestellte Brudermord sowie die Fluchpsalmen und Feindvernichtungsgebete aus
dem Psalter des Alten Testaments haben als Zornakkumulationen für Sloterdijk
große Bedeutung. Da es sich nicht um eine spontane Eruption von Affekten
handelt, prägen sie das Zorngedächtnis. Die heftigen Psalmwendungen
seien darauf angelegt gewesen, die »psychopolitische Unwahrscheinlichkeit
des Überlebens Israels in einer Zeit der Niederlagen zu kompensieren.«
Es wäre natürlich von besonderem Interesse, diese frühen verbalen
Kraftakte und »religiösen Fluchsprachspiele«, diese kämpferisch-zornigen
Botschaften in Gebetsform in Beziehung zu der heutigen Kriegsführung Israels
zu setzen. Drohgebärden haben begrenzte historische Laufzeiten: Der von der
katholischen Kirche angedrohte Zorn Gottes oder der vom Kommunismus instrumentalisierte
Zorn auf den Kapitalismus waren der Dynamik der Moderne nicht gewachsen. Als der
Kommunismus seine Drohkapazität für den Umsturz bestehender Verhältnisse
verlor, war damit auch diese irdische Agentur des christlichen Weltgerichts erledigt.
Die Islamisten besetzen in der postkommunistischen Konstellation die freigewordene
Stelle einer Bankform des Zorns, allerdings mit nur geringer Aussicht, die Rolle
einer Weltoppositionsbewegung zu spielen.Die Empörung habe, so Sloterdijk,
keine Weltidee mehr vorzuweisen. Die Erniedrigten, Beleidigten und an den Rand
Gedrängten besitzen in den Parteien und Reformbewegungen nur noch schlappe
Organe, die sie repräsentieren könnten. Das »Zeitalter der Extreme«
scheint zu Ende zu sein. Sogar die Erwartung einer weltweiten Naturkatastrophe
sei außerstande, einen übergreifenden Horizont verbindlicher Aufbrüche
zu stiften: »Es könnte zum Stigma des 21. Jahrhunderts werden, die Ausbildung
des Sinns für gemeinsame Situationen von unten nicht rechtzeitig zu schaffen.«Wir
müßten, so Sloterdijk, das Gericht in die Gegenwart verlegen. Und einen
neuen Träger des Zorns und des Zornwissens ausfindig machen? Die europäische
Linke die zum Teil lange Zeit die kaltblütige Realpolitik des stalinistischen
und maoistischen Zornmanagements und Selbstzerstörungswahns verkannte
suchte unermüdlich nach Möglichkeiten, dem Zorn der Benachteiligten
eine angemessene Sprache und Handlungsfähigkeit zu verleihen.
Die Linksparteien als Hoffnungsträger verharren in der bloßen
Geste scharfer Reden, oder sie haben sich als »modernisierte
Sozialdemokratien à la New Labour« definitiv vom Image
einer Zornrepräsentanz abgelöst und die Wende zu einer Art kapitalistischer
Erotik vollzogen: einem Kapitalismus, der mit seinem Verschwendungs- und
Überschußpotential fortan jedem offenstehen soll.
An diesem Punkt wird für Sloterdijk der Begriff
der Gier als Korrelat zum heimatlos gewordenen Zorn von zentraler
Bedeutung. Am Beispiel Rumäniens und Albaniens gelingen ihm polit-ökonomische
Analysen von einer Dichte und Sprachmächtigkeit, die man seit Georges Batailles
fulminanten Schriften zur Ökonomie und Erotik so nicht mehr vernommen hat.
Sloterdijk erprobt eine der Dramatik, Vitalität und Erotik des Kapitalismus
adäquate Sprache, die uns nachfühlen läßt, was ein gier-dynamisches
System par excellence mit den Menschen anzustellen vermag. Das diesem
System eigene und sich in die Menschen unwiderstehlich einschleichende Moment
des Haben- und Erreichenwollens, um die tiefen Gefühle des Mangels für
immer auszulöschen, wird durch einen Begriff wie »Konsumgesellschaft«
nur noch sehr ungenügend beschrieben. Immer riskantere »Gieraktivitäten«
und »kreditbasierte Genußbeschleunigungsspiele« sind grundlegend
für dieses System.
»Zorn und Zeit«, das Buch eines der letzten Visionäre
des Weltgeschehens auf philosophischer Bühne, wird Fragen aufwerfen.
Zum Beispiel danach, ob sich in Zukunft nicht Zornsammelstellen von megaglobalen
Ausmaßen und Schrecklichkeit herausbilden könnten. Eine der
schlimmsten wäre die Atombombe in den Händen der unberechenbaren
Mächte in Iran, Pakistan und Nordkorea. Oder wird der Mensch ganz
im Gegenteil in Zukunft transformatorische Kräfte ausbilden, die
den Zorn umwandeln in eine konstruktive Kraft?
Wenn ganze Kulturen sich beleidigt fühlen.
Rezension
zu »Zorn und Zeit« von Peter Sloterdijk.Von Julia Encke.Vor
den neuen Zornkollektiven der Beleidigten, die sich gerade in den islamischen
Ländern formieren, beschützt uns keine Kälte. Wir selbst müssen
einen gerechten Zorn entwickeln - so Peter Sloterdijk in seiner neuen, gewaltig
erzählten Zeitanalyse.Der Zorn hat keinen guten Ruf. Grundsätzlich
sind wir, im produktiven Sinn, gar nicht mehr zornig, sondern beleidigt. Wir kennen
nur noch die ressentimentbeladene Variante eines »gerechten Zorns«,
der auf Vergeltung sinnt, es dem anderen heimzahlen will. Für Peter Sloterdijk,
der in seinem sehr eindrucksvollen Buch eine Weltgeschichte des Zorns geschrieben
hat, ist diese Austreibung des produktiven Zorns aus der Kultur lähmend.
Anstatt aufwallende Energien kollektiv und domestiziert zu nutzen - er versteht
Zorn im Sinne des antiken »thymos« als in der Polis zivilisierte Form
des Furors homerischer Helden -, zerstreuen wir unsere Kräfte wirkungslos.
Die Empörung hat keine Weltidee vorzuweisen. Also habe mit großer Folgerichtigkeit
»die Mitte, das formloseste der Monstren«, das Gesetz der Stunde erkannt:
Gefragt seien belastbare Langweiler, von denen erwartet wird, an großen
runden Tischen die Weltformeln des Ausgleichs zu finden.Schlechte Zorngeschäfte»Zorn
und Zeit« ruft nach der Rehabilitierung dessen, was Sloterdijk die »thymotischen
Energien« nennt. Das ist kein leichtes und kein selbstverständliches
Projekt, hat der Zorn als politische Energie im zwanzigsten Jahrhundert doch Verheerendes
angerichtet. Blickt man auf das vergangene Jahrhundert zurück, schreibt Sloterdijk,
so drängt sich der Eindruck auf, daß in ihm die von Platon geforderte,
von Aristoteles gelobte und von den Pädagogen des bürgerlichen Zeitalters
praktisch versuchte Zivilisierung der Zorn-Energien in den Nationalstaaten gescheitert
sei. Die starken Regungen der Menge für einen »Fortschritt« zu
nutzen schlug katastrophal fehl - egal ob die Manager der Zornpolitik rote oder
braune Kittel trugen. Verheerend mußte diese Zornwirtschaft sein, weil sie
eine Kriegswirtschaft des Ressentiments war. In großen, vom Furor seiner
Metaphernwirtschaft zuweilen hinweggetragenen Kapiteln (Sloterdijk gefällt
seine Allegorie von den verwaltenden »Weltbanken des Zorns« so sehr,
daß er das Vokabular, von der »Veruntreuung der Zornkapitale«
über »Thymosmonopole« bis hin zu »thymotischen Renditen«,
ausreizt) führt er diese These historisch aus. Zorngeschäfte
wurden unter verhängnisvollen Vorzeichen durch die Jahrhunderte gemacht,
wobei die Revolutionäre des neunzehnten Jahrhunderts das Versprechen endgültiger
Gerechtigkeit, das die Kirche auf das Jenseits verschob, in die irdische »Geschichte«
verlegten. Lenin, Stalin und Mao sind für Sloterdijk »Weltgeistliche
des Hasses« mit »makelloser Rücksichtslosigkeit«.
Uns steht noch einiges bevor.
Die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts
gehen für ihn auf das Konto der modernen Radikalismen, »die dem kollektiven
Zorn, unter idealistischen wie materialistischen Vorwänden, nie betretene
Wege zur Befriedigung weisen wollten - Wege, die vorbei an moderierenden Instanzen
wie den Parlamenten, den Gerichten, den öffentlichen Debatten, auf gewaltige
Freisetzungen von ungefilterten Racheenergien, Ressentiments und Ausrottungswünschen
zuliefen«. Betrachtet man die gegenwärtig freiwerdenden Rachenergien
des Islamismus, wird deutlich, wie sehr das Ressentiment eine treibende Kraft
ist. Uns steht noch einiges bevor. Es hieße Peter Sloterdijk aber mißverstehen,
wenn man glaubte, es ginge ihm in »Zorn und Zeit« nur deshalb um die
Analyse der Zornwirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts, um düstere Szenarien
für die Zukunft zu entwerfen. Die nahe Zukunft sieht tatsächlich düster
aus. Es steht für ihn außer Frage, daß in Tausenden von Koranschulen,
die überall dort aus dem Boden schießen, wo es Jungmännerüberschüsse
gibt, weiterhin Märtyrer auf Heiligen Krieg getrimmt werden. Ein kleiner
Teil werde zu terroristischen Zwecken eingesetzt, der größere in Bürgerkriege
auf arabischen Territorium investiert werden - Kriege, von denen das iranisch-irakische
Massaker von 1980 bis 1988 einen Vorgeschmack gegeben hat. Es steht für
ihn auch außer Frage, daß Israel weitere Bewährungsproben vor
sich hat, also ohne eine weitsichtige Politik der Abschottung gar nicht wird überstehen
können. »Selbst Kenner der Lage«, so lautet die Diagnose, »besitzen
heute nicht die geringste Vorstellung davon, wie der machtvoll anrollende muslimische
Youth Bulge, die umfangreichste Welle an genozidschwangeren Jungmännerüberschüssen
in der Geschichte der Menschheit, mit friedlichen Mitteln einzudämmen wäre.«
Die Einschüchterung funktioniert.
Doch liegt es nicht im
Interesse Sloterdijks, bloß die Rolle des düsteren Propheten zu spielen.
Was ihn umtreibt, ist die Frage, woraus der politische Islam seine Drohgewalt
bezieht und ob er das Potential hat, sich zu einer »Weltbank des Zorns«
zu entfalten, also den Kommunismus als Weltdogma abzulösen. Die Antwort fällt
negativ aus: Für Sloterdijk stellt der radikale Islamismus eine allein auf
Rache gegründete Ideologie dar, die strafen kann, die aber nichts hervorbringt.
Die Anschläge vom 11. September 2001 machen dies deutlich: Sie seien keine
Demonstration islamistischer Stärke gewesen, sondern das Symbol einer hämischen
Mittellosigkeit, zu deren Kompensation nichts als die religiös maskierte
Opferung von Menschenleben aufzubieten war. Sicher wird der Traum der Aktivisten
von einem islamischen Großimperium viele gewaltbereite Mitträumer inspirieren.
Die politischen Voraussetzungen für ein solches Imperium aber fehlen. Aus
regionalen Reichsbildungen islamischer Staaten könnten sich bestenfalls konventionelle
Mittelmächte entwickeln. Grundsätzlich, schreibt Sloterdijk, hat der
Islam wenig vorzuweisen, was ihn befähigte, die technologischen, ökonomischen
und wissenschaftlichen Existenzbedingungen für die Menschheit des einundzwanzigsten
Jahrhunderts fortzubilden.Die Einschüchterung funktioniert, und
sie kommt den angegriffenen westlichen Mächten auf eine bitter-ironische
Weise gelegen: Trotz wachsender sozialer Ungleichheiten können wieder nationale
Solidargemeinschaften beschworen werden, »Überlebenseinheiten«,
in denen der Imperativ der Sicherheit regiert. Sich aus den mittlerweile wohlbekannten
nahöstlichen Quellen bedroht fühlen bedeutet jetzt: Gründe sehen,
warum man eventuell bereit sein könnte, sich in der westlichen politischen
Kultur von demokratischen Zuständen zu verabschieden. Doppelt bitter
daran ist, »Zorn und Zeit« zufolge, daß der Islamismus über
den Rang eines Randphänomens, das er vor kurzem noch war, tatsächlich
nie so rasend schnell gekommen wäre, wenn die westlichen Gesellschaften ihn
nicht so bereitwillig für ihre innerpolitischen Zwecke genutzt hätten
und weiterhin nutzen.
Gesucht: der ressentimentfreie Zorn.
Gibt
es eine Chance für einen ressentimentfreien Zorn heute? Für einen Zorn,
der anderes hervorbringt als Vergeltungsdrang? Als treibende politische Kraft,
das muß Sloterdijk einräumen, hat der Zorn nicht gerade seine besten
Zeiten hinter sich. Eher im Gegenteil. Doch gibt es Nietzsche, und in gewisser
Weise muß man sich Sloterdijk als demokratisch denkenden Nietzsche-Leser
vorstellen. Was er in seinen mit »Jenseits des Ressentiments« überschriebenen
Schlußfolgerungen in Aussicht stellt, ist eine mit Nietzsche gedachte Ablösung
der »rachsüchtigen Demut« durch eine Intelligenz, die sich ihres
produktiven Zorns neu vergewissert. Sloterdijk zufolge konnte das Verlangen nach
Gerechtigkeit für die Welt - sei es jenseits des irdischen Lebens, sei es
in der geschehenden Geschichte - zur Theologie des Gotteszornes und zum Kommunismus
nur so lange Zuflucht nehmen, wie die Verbindung von Geist und Ressentiment stabil
war.
Das religiös und politisch überhöhte Vergeltungsdenken
ist seiner Ansicht nach an sein Ende gekommen. Es sei Zeit für die
Befreiung der Weltkultur vom Geist des Ressentiments. Sloterdijks gewaltig
erzählte Analyse der Zornkollektive liefert die historischen Voraussetzungen
für das, was er als eine ressentimentfreie politische Theorie des
Zorns erst noch zu entwerfen verspricht. Sie ist ein erster Schritt. Daß
man sich auf eine solche Theorie in einer Welt, in der ganze Kulturen
sich beleidigt fühlen und damit beschäftigt sind, diese Beleidigtheit
in negative Energie umzuwandeln, nur freuen kann, ist klar. Sie wäre
eine echte Option.
Wie werden wir die nächsten hundert Jahre
überleben?
Terror, Kriege, Viren: Der Physiker Stephen Hawking fragt, ob die Menschheit
dabei ist, sich selbst zu zerstören. Zehn deutsche Wissenschaftler
antworten.
Sechs Wochen ist es her, daß der Physiker Stephen Hawking eine
Debatte eröffnete mit einer Frage in einem Internet-Forum von Yahoo:
»In einer Welt, die politisch, sozial und ökologisch im Chaos
ist: Wie kann die Menschheit die nächsten 100 Jahre überleben?«
Es antworteten 25395 Menschen, bis sich Stephen Hawking wieder meldete:
Er sagte, er habe die Frage gestellt, weil er selbst die Antwort darauf
nicht wisse. Jedoch: »Langfristig wird das Überleben der Menschheit
nur sicher sein, wenn wir in das Weltall ausschwärmen und dann zu
anderen Sternen.« Außerdem hoffe er darauf, daß die
Menschen durch einen Eingriff in ihr genetisches Material weiser werden
und weniger aggressiv. Wir setzen die Debatte fort und haben zehn deutsche
Wissenschaftler um ihre Antwort gebeten. ....
Peter Sloterdijk (Philosoph):
Stephen Hawking ist einer der Gelehrten, die sich Sorgen ums große
Ganze machen. Er steht in einer noblen Tradition von Physikern des 20.
Jahrhunderts, die die Gesellschaft vor der Gesellschaft warnen und naturgemäß
auch vor den Physikern. Beide Warnungen gefallen mir, sie zeigen den Realitätssinn
der großen Naturwissenschaftler.
Ich teile Hawkings Besorgnisse völlig. Mit seiner Frage bekennt
er sich zu der Beobachtung, daß es manifeste Selbstzerstörungstendenzen
in der Welt gibt. Er reagiert mit seinen Mitteln auf einen Befund, der
manche seiner Kollegen seit Hiroshima umtreibt. Er tut dies nicht moralisierend
wie seinerzeit Existenzphilosophen, die behaupteten, der Mensch stehe
nur vor einem echten Problem, dem Selbstmord. Er wählt einen juristischen
und ökologischen Ansatz, indem er den Begriff »Nebenfolgen«
ernst nimmt. Er scheint sich zu fragen: Wie kann man bei unternehmerischen
Menschen den Gedanken der Produkthaftung populär machen? Bei Herstellern
von Waschmaschinen und anderen Gütern, die länger halten sollen,
ist das ja nicht mehr ganz ungewöhnlich. Nur wenn es ums Ganze geht,
hat sich der Haftungsgedanke unter den Aktiven noch nicht durchgesetzt.
Im Zusammenhang mit der Ausrottung der Indianer in Nordamerika habe
ich einmal notiert: Die einzige tröstliche Vorstellung dabei ist,
daß die Weltgeschichte ein Verbrechen ist, das man nur einmal begehen
kann. Heute sind wir alle Indianer vor der Ausrottung die absehbare
Geschichte unseres Verschwindens birgt wenig Trost. Hawking hält
uns für eine gefährdete Art, seine Empfehlungen fallen drastisch
aus. Sie sind von einer technophilen Grundstimmung geprägt, wenn
er sagt: Wir müssen auf andere Sterne auswandern.
Seltsam, man darf nicht den Israelis empfehlen, Israel aufzugeben, aber
der Menschheit darf man nahe legen, sich einen anderen Planeten zu suchen.
Niemand fühlt sich durch einen solchen Vorschlag provoziert, als
ob die Menschheit kein beleidigungsfähiges Kollektiv wäre. Der
Rat zum Auswandern drückt die Überzeugung aus, unsere Probleme
seien am Boden unlösbar. Hier sind Prozesse in Gang gesetzt worden,
die nach der Ansicht des Gelehrten nicht mehr durch Maßnahmen höherer
Ordnung zu korrigieren sind.
Wären unsere Schwierigkeiten allein durch moralische oder kulturelle
Haltungsänderungen zu bewältigen, könnte man den Standort
Erde verteidigen, doch nach Hawking sollen wir darauf gefaßt sein,
die Erde demnächst aufzugeben das sagt einiges über seine
Meinung bezüglich der menschlichen Lernfähigkeit. Hielten wir
auf der Erde durch, hätten wir nur als genetisch veränderte
Menschen eine Chance, uns »weiser und weniger aggressiv« zu
verhalten.
Ich meine, in aller Bescheidenheit, bevor man die Eugenik und den Exodus
ins All bemüht, sollten die bekannten irdischen Alternativen ausgeschöpft
werden. Man könnte unter anderem auf die klassische Vorstellung zurückgreifen,
daß Politik ein Mechanismus sei, Intelligenz in die Steuerung sozialer
Systeme zu implantieren. Im Augenblick hat man nicht das Gefühl,
dieser Forderung werde Genüge getan, denn die Akteure von heute spielen
ein gefährliches Spiel mit dem menschlichen Zeitgefühl. Man
läßt es auf die Katastrophe ankommen, weil man überzeugt
ist, nur sie hätte die Autorität, eine Kehre zu bewirken.
Wie bekannt, rasen wir mit Höchstgeschwindigkeit frontal auf eine
Betonmauer zu, doch weil der Moment des Aufpralls eine Weile entfernt
ist, bleibt man auf dem Gaspedal. Unsere größte Gefahr steckt
in der Unfähigkeit, dreißig, fünfzig, hundert Jahre konkret
vorauszufühlen. Darum verbraucht die Gesellschaft der letzten Menschen
ihre Zukunftschancen mit dem besten Gewissen. Man tut es in der Annahme,
die Lösungen wüchsen so schnell wie die Probleme. Um ein anderes
Bild zu verwenden: Wir verhalten uns, als seien wir aus dem hundertsten
Stock eines Hochhauses gesprungen und postulieren, man werde dort unten
bis zum Aufschlag schon etwas erfinden.
Manche halten das für realistischen Optimismus man könnte
es aber auch offene Meisterschaften im Selbstbetrug nennen.
Was passiert zum Beispiel mit den fossilen Energien? Die gefährliche
Massenfrivolität im Kapitalismus ist ja unverkennbar ein Nebeneffekt
der fossilenergetischen Technik. Eine ernsthafte Wende müßte
den leichtsinnigen Habitus der Verbraucher korrigieren. In einer Philosophen-Republik
würde das Verbrennen fossiler Energieträger einfach verboten
Philosophen sind ja, wenn nötig, rigoros. Nun werden wir die
Philosophenherrschaft nicht erleben.
Was weiter? Man könnte den Chinesen nahelegen, ihren Kohle- und
Ölverbrauch zu drosseln. Das Ergebnis läßt sich vorhersehen.
Man hat in China förmlich erklärt, eine große Nation habe
ein Recht auf Umweltverschmutzung eine bemerkenswerte Äußerung,
durch die auch das Verhalten des Westens explizit gemacht wird. Wer etwas
gilt, lebt nach dem Motto: Wir sind zu bedeutend, um keinen Müll
zu hinterlassen.
Am realistischen Ende der Skala werden die Vorschläge pragmatischer.
Irgendwann sind wir so weit, daß wir eine unverbindliche Empfehlung
aussprechen, die CO2-Emissionen zu reduzieren, Kyoto-Protokoll
und Co. Das kann man unterschreiben oder nicht. Und hat man unterschrieben,
kann man sich dran halten oder nicht.
Von hier an kennen wir die Szene. Wir finden uns wieder in unserem fahrerlosen
Bus, der mit steigender Geschwindigkeit auf die Wand zurast. Dabei kommt
eine letzte erbauliche Vorstellung auf: Die Verzweiflung, die man braucht,
um sich ins Weltall abzusetzen, sollte auch dazu ausreichen, den Bus zu
bremsen.
Peter Sloterdijk ist Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung
in Karlsruhe.
© ZEIT online, 17.08.2006.
Nur der Stolz bringt echte Helden hervor. Philosoph
Peter Sloterdijk spricht bei der Tafelrunde Sanssouci über sich,
sein neues Buch »Zorn und Zeit« sowie dilettantische Terroristen.
Ein Bericht von Wolf
Grombacher.Philosophie hat Tradition in Sanssouci. Schon Friedrich II.
(der Große) hielt sich mit Voltaire seinen privaten Chefideologen am Hof.
Darauf verwies am Montagabend auch Kulturministerin Johanna Wanka in ihrem Grußwort
zur Tafelrunde Sanssouci, wo mit Peter Sloterdijk dieses Mal ein großer
Geist der Gegenwart zu Gast war. Nicht geladen wie einst durch den König,
sondern zeitgemäß durch das Brandenburgische Literaturbüro, die
Zeitschrift Cicero und die MAZ. Was Sloterdijks These zu belegen scheint, wonach
die wichtigste Entdeckung der Vergangenheit nicht war, daß »die Erde
um die Sonne läuft«, sondern mehr noch »das Geld um die Erde«.
Sind es doch heute Sponsoren, die Kulturschaffende bei Laune halten.Wie
ein Planet - in kreisenden Bewegungen - näherte sich auch Cicero-Chefredakteur
Wolfram Weimer seinem Gesprächspartner. Entlockte ihm zunächst profane
Dinge. Etwa, daß Sloterdijk aus »Vor-Opportunismus« heraus gedient
habe, weil es besser gewesen sei, »freiwillig zum Bund zu gehen, als gezwungen
zu werden«. Oder, daß seine Eltern von ihm früher gesagt hätten,
er sei »ungezogen und jähzornig gewesen«. Über das
neue Buch mit dem Titel »Zorn und Zeit« gelangte Weimer dann in das
Zentrum des Sloterdijkschen Gedankenkosmos und ließ dem Philosophen genug
Raum, in seiner unnachahmlichen Art über die revolutionären Bewegungen
als Verwalter einer »Weltbank des Zorns« zu sprechen, und über
Gottes »heiligen Zorn«, der den Gläubigen einen ersten Begriff
von Gerechtigkeit verschafft habe. Sloterdijk leitet den Begriff des »Zorns«
dabei aus der »Ilias« her und will ihn »thymotisch« verstanden
wissen, also mit Affekten beladen, die heute den Begriffen Stolz, Ambition, Gerechtigkeitsempfinden,
Geltungsbedürfnis und Ressentiment nahestehen.
Konkreter wurde es, als Sloterdijk auf den Terrorismus - die Philosophie
der Bombe - zu sprechen kam. Durchaus sehe er den »guten bösen
Willen« im Sinne Nietzsches, »alles aufzulösen«. Nebenbei
habe Nietzsche allein durch seinen Ausspruch 1888 »Ich bin kein Mensch,
ich bin Dynamit!« schon den Nobelpreis verdient. Doch der Terrorismus
als »politische Strategie der reinen Destruktionsbewegung« habe
keine Lösungsvorschläge parat. Darüber hinaus seien zu
viele »Dilettanten auf diesem Feld« wirksam geworden. Auch über
gehörige Zweifel Weimers hinweg behauptete Sloterdijk, er sehe keine
wirkliche Gefahr für die westliche Welt durch islamistische Terroristen.
(Halt! Hier Liegt ein Denkfehler vor, weil
es sehr fragwürdig ist, ob in der Zukunft diese »westliche
Welt« überhaupt noch existieren wird, denn mittlerweile verliert
der Westen und in ihm insbesondere der europäische Westen seine eigene
Bevölkerung, während seine Überfremdung durch diejenige
nichtwestliche Bevölkerung, die die Integration strikt ablehnt, ziemlich
rasch zunimmt. HB.). Revolutionäre hätten nur eine Chance,
wenn die Verteidiger der Demokratie zu schwach seien. Dagegen spreche
das »Lernen der Institutionen« im Westen.
Allerdings
müßten die Industriestaaten im Nahen und Mittleren Osten einen »zivilisierenden
Konflikt« suchen, wie Peter Sloterdijk meinte. »Man kann dieser Kultur
nur helfen, indem man sie von ihrem Konsumenten- in einen Produzentenstatus überführt.«
Ihr so den nötigen Stolz gibt, das heimtückische Morden sein zu lassen.
Denn nur der Stolz bringe echte Helden hervor.
Märkische Allgemeine vom 27.September 2006.
Grundkraft im Ökosystem der Affekte.
Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Von Peter Sloterdijk.
Kurzrezension von Felix Müller.
Mit diesem Großessay verhilft Peter Sloterdijk einer »Grundkraft
im Ökosystem der Affekte« zu Aufmerksamkeit und Anerkennung:
dem Zorn. Ausgehend von der Wut des Achilles zum Auftakt der Homerschen
»Ilias« beschreibt er die westliche Kulturgeschichte als Historie
der Einhegung, Umdeutung und drastischen Pervertierung einer natürlichen
menschlichen Regung. Das geht einher mit einer glänzenden Kritik
psychoanalytischer Irrwege und einer Deutung kommunistischer wie nationalsozialistischer
Bewegungen als »Zornsparkassen« breiter Bevölkerungsteile.
Das Buch beweist ein weiteres Mal Sloterdijks Fähigkeit, mit zündender
Assoziationskraft und höchster begrifflicher Anstrengung neue Perspektiven
auf vertraut geglaubte Gegenstände zu öffnen.
Islamistische Bedrohungen.
Der Philosoph Peter Sloterdijk, der Gespür hat für allgemeine
mentale, für kollektivseelische Verschiebungen, gibt uns mit seinem
aufregenden Buch über »Zorn und Zeit« ein neues Vokabular
an die Hand, mit dem wir unsere Gegenwart besser in den Griff kriegen
sollen.
Zornkollektive
heißt sein rasantes Stichwort zur rasenden Zeit - gefaßt vor dem düsteren
Hintergrund der islamistischen Bedrohungen der westlichen Kultur, vor der wir
nicht in falscher Ruhe und eingebildeter Ausgeglichenheit, vor der wir nicht in
Starre verharren dürfen.
FAZ, 29.09.2006.
Peter Sloterdijk über Terrorismus.
Interview zwischen
Michael Kerbler und Peter Sloterdijk werden die Ursachen gesellschaftlichen Zorns
- etwa Korruption in Politik und Wirtschaft oder Ohnmacht gegenüber struktureller
Gewalt - thematisiert. Es wird eine »Weltbank des Zorns« phantasiert,
in die Bürger ihren Zorn »einzahlen« können. (Ausschnitt)
Im Hinblick auf die aktuelle Situation in Deutschland, wo in vier Landtagen
die NPD vertreten ist, stellt der Philosoph die Frage, mittels welcher Mechanismen
die Mitglieder einer Gesellschaft ihren Zorn an geeignet erscheinende machtvolle
Akteure delegieren.
Peter Sloterdijk: Wir haben jetzt also vier solche Parteien, die diese
Kloakenfunktion ganz deutlich wahrnehmen. Was sehr gut ist, daß
es jetzt endlich im parlamentarischen Raum stattfindet und nicht mehr
nur in der Kanalisation. Das ist mir persönlich lieber. Es gibt andere
Intellektuelle, die sagen, es ist besser, man hält diese Dinge unter
der Decke. Ich glaube das nicht. Die Leute haben jetzt die Aufgabe, diese
Klärwerkfunktionen unter Beobachtung der Öffentlichkeit durchzuführen.
Die Wählerschichten wissen, warum sie die gewählt haben. Das
heißt, es gibt diese Masse an Zorn, Unzufriedenheit und Protest
in der Bevölkerung. Und es wäre einem demokratischen System
nicht angemessen, wenn dieser Druck ganz ohne echte Repräsentation
da wäre. Aber die Politiker dürfen nicht ... - und daran werden
sie sich messen lassen müssen: Sie müssen die Klärwerkfunktion
wahrnehmen, das heißt sie müssen aus diesem Zorn, aus dem dunklen
Material ein höherwertiges politisches Produkt erzeugen. Das heißt
sie müssen in die Rechtsfindung eingreifen, im produktiven Sinn.
Sie müssen eine Art politischer Wertschöpfung betreiben. Und
das ist etwas anderes als Agitation! Daran werden sie sich messen lassen
müssen.
Michael Kerbler: Sie
schreiben in Ihrem Buch, »belastbare Langeweiler werden uns nicht aus der
Misere führen«. Da haben Sie ja sicher an jemanden gedacht, aber jedenfalls
die Problemlösung scheint offenbar - wenn ich Sie richtig interpretiere -
zu sein: Die Politik muß wieder radikaler werden. Im ursprünglichen
Wortsinn. Man muß Ausbeutung »Ausbeutung«, Unrecht »Unrecht«
und Klassengesellschaft »Klassengesellschaft« nennen dürfen. Auch
wenn »Klassengesellschaft« heute vielleicht eher durch unterschiedliche
Bildungszugänge definiert ist als durch Einkommensunterschiede.
Peter Sloterdijk: Das ist richtig. Man muß für eine erhöhte
Sprachhygiene sorgen. Es ist in der Tat so, daß wir im Moment in
politischen Dingen unter einer erschreckenden Ausdrucksarmut leiden und
einer ebenso bedenklichen Unfähigkeit, die Dinge beim Namen zu nennen.
Aber wir müssen uns zugleich hüten, die historischen Namen mechanisch
weiter zu benutzen, um das von Ihnen gegebene Beispiel der Klassenanalyse
zu bemühen. Ich selber habe in dem Buch zum Ausdruck gebracht, warum
ich vor einer Wiederaufnahme der marxistisch definierten Klassenterminologie
warne, weil diese Ausdrücke eben mit völkermörderischen
Implikationen beladen sind. Wer unter marxistischen Vorzeichen von »Klasse«
spricht, konstituiert ja sozusagen ein Täterkollektiv oder, genauer
gesagt, ein Opferkollektiv, das zum Täterkollektiv werden will und
das dem vorherigen Kollektiv der Wohlhabenden an die Kehle geht. Die historischen
Beispiele sind zu erschreckend, als daß man diese Terminologie unbesehen
wiederverwenden dürfte.
Aber alles, worauf Sie sonst hinweisen, ist völlig richtig. Man
muß natürlich die Fragen nach der ... Gerechtigkeit wieder
hoch- und großschreiben und dann in einem permanenten Klärungsvorgang
die Differenz zwischen dem Verlangen nach Gerechtigkeit und ihrem Ressentiment
ausdiskutieren. Das ist die psychopolitische Arbeit, die das 21. Jahrhundert
leisten muß. Denn wenn dieser Vorgang nicht gelingt, wenn wir nicht
Ressentimentanalyse auf höherer Stufe weitertreiben können,
dann schwemmt uns diese neue Wutwelle, die sich bereits artikuliert, die
gesamte Zivilisation davon.
»Väter weg von Puff und Kneipe«.
Parteien?
Nur noch Dienstleister auf dem politischen Illusionenmarkt. Die Linke? Nur noch
entwaffnet und ratlos. Die Grünen? Nur noch Gierpartei und Teil der totalen
Mitte. Warum Peter Sloterdijk dann doch ganz optimistisch ist.Interview
von Jan Feddersen und Susanne Lang; TAZ vom 23.12.2006TAZ: Herr Sloterdijk,
was hat in diesem Jahr Ihren Zorn geweckt? Peter Sloterdijk:
Ich weiß nicht recht, ich bin nicht leicht zu provozieren. Am ehesten denke
ich, es waren die Studentenproteste in Frankreich gegen die Einführung des
neuen Erstbeschäftigungsvertrags. Sein Zweck bestand darin, den Arbeitgebern
Spielräume einzuräumen, um ihnen die Hemmungen vor der Einstellung neuer
Mitarbeiter zu nehmen. Absurderweise wurde das von den Betroffenen als Angriff
auf ein vermeintliches Grundrecht auf Lebenszeitbeschäftigung vom ersten
Arbeitstag an gewertet. Ihr Widerstand war völlig illusorisch, als wollte
man Spitzenjobs für alle fordern.Idealismus zeichnet eine Studentenbewegung
doch aus? Man sollte Illusionismus und Idealismus unterscheiden.
Die Haltung der Jüngeren hat sich verändert. Ich selber komme aus einer
Generation, die unter ganz anderen Vorzeichen angetreten war: Als ich 1966 Abitur
machte, wollte man überhaupt nie einen Kompromiß mit der Welt der Festanstellungen
eingehen. Unser Motto lautete: »Meine Arbeitskraft kriegt ihr nie.«Aber
das galt doch nur für die linken Kader, nicht für ihre Schutzbefohlenen,
die Arbeiter.Es stimmt, daß in den frühen 1970ern, zur
Zeit der sogenannten Vollbeschäftigung, eine studentische Boheme entstehen
konnte. Diese 68er Boheme hat einen politischen Überschuß erzeugt,
der fantastische Öffnungen bewirkte. Von denen leben wir bis heute. Die Proteste
in Frankreich haben dagegen eine geradezu überwältigende Verspießerung
der Jugend sichtbar gemacht.Weil die Jugend arbeiten statt revolutionieren
will? Weil sie ihre Wünsche von der Logik der Arbeitswelt
strukturieren läßt. In früheren Lebensläufen spielte Jugend
die Rolle eines psychosozialen Moratoriums, in dem der Mensch im Zustand der Unentschiedenheit,
sogar der Desorientierung geduldet und geschützt blieb. Die Voraussetzung
war ja immer, daß dies im Dienst einer späteren optimalen beruflichen
Anwendung geschieht. Heute gehen 18-Jährige zu Hunderttausenden auf die Straße
und klagen die Lebenszeitanstellung ein! In Frankreich gingen auch
Jugendliche in den Banlieues auf die Straße und zündeten Autos an.
Sind sie die eigentlich Zornigen dieser Gesellschaft? Nein,
beide Proteste sind vor allem mimetische Bewegungen, die einen Zorn nachahmen,
den die Akteure selbst gar nicht nicht immer haben. Frankreich schöpft aus
einer reichen Empörungsfolklore.Die beherrschen wir in Deutschland
auch ganz gut, oder? Ja, aber sie ist schwächer ausgeprägt.
In Frankreich herrscht eine viel immobilere Atmosphäre, und die hat eine
Dialektik von Stillstand und Explosion zur Folge. Bei uns sind die Dinge mehr
im Fluß, deswegen hat der Protest keine so breite Basis mehr wie noch in
den 1980ern.
Als vor allem die Grünen sehr laut zu hören waren?
Wer die Grünen verstehen will, muß wissen,
daß Deutschland nach 1945 bei der Hervorbringung von Verliererverhaltensweisen
Außerordentliches geleistet hat. Bei uns ist die thymotische Kultur, die
über Selbstaffirmation und Stolz läuft, bis auf den Stumpf abgetragen
worden. Der Rest an selbstaffirmativem Verhalten mußte sich seither über
Moralismus ausdrücken. Da waren die Grünen federführend, sie waren
teilweise richtige Jakobiner.Demnach gaben die Grünen als Partei
eine gute Zornbank ab, wie Sie es in Ihrem neuen Essay »Zorn und Zeit«
ausführen. Sind sie das noch? Die Funktion der Institution
Partei, nicht nur der Grünen, hat sich heute grundsätzlich geändert.
Historisch gesehen waren Parteien nie nur Organe für Interessenausdruck,
sondern mehr noch Affektsammelstellen. Es war ihre Aufgabe, Hoffnungs-, Illusions-,
Wunsch- und Zornsammlung zu betreiben. Aufgrund verschiedener Mischungen haben
sie jeweils verschiedene Publikumssegmente angesprochen: Diejenigen, die ihre
Satisfaktion über nationale Symbole gesucht haben, artikulierten sich im
rechten Flügel. Die anderen, die sich mit Symbolen des materiellen Fortschritts,
des Ausbaus der Gerechtigkeit und des Sozialstaates identifizieren konnten, sammelten
sich am linken Flügel. Bei den Liberalen schließlich haben sich die
getroffen, die sich vom Fortschritt der Freiheiten im modernen Staat das meiste
versprachen. Interessant ist jedenfalls, daß die bürgerlichen Parteien
als Sammelstellen für militante Zufriedenheit fungierten.Worin
besteht die?Das Bürgertum ist die Klasse, die aus ihrer Zufriedenheit
selbst einen Trotz macht. Wie kann man das erklären? Die moderne Gesellschaft
popularisiert die Möglichkeiten des Vergleichs. Deswegen gibt es ein asymmetrisches
Wachstum zwischen den Gründen, zufrieden zu sein, und den Gründen, unzufrieden
zu sein. Sobald die Befriedigungsmittel weiter gestreut sind, wachsen auch die
Vergleichsmittel. Jeder vergleicht sich mit jedem, mit dem Ergebnis, daß
man ringsum Leute sieht, die zu Unrecht vor dir liegen. Auf diese Weise werden
zahllose Leute, die objektiv gesehen Modernisierungs- und Fortschrittsgewinner
sind, subjektiv zu Protestierenden.
Deshalb leben wir in einer deutschen Welt (Jan
Feddersen und Susanne Lang haben immer noch nichts begriffen! HB).
Luxusunzufriedenheit führt zu Abstiegsängsten?
Diese
Frage bringt die Paradoxie dieser vergeudeten Unzufriedenheit sehr schön
auf den Begriff. Luxusunzufriedenheit deutet darauf hin, daß Menschen kein
Organ haben, um Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Wir sind einerseits orientiert
an Tatsachen, andererseits an Hoffnungen und Erwartungen. Aber ein Organ für
das Wahrscheinliche gibt es nicht. Deswegen können wir die unvorstellbare
Unwahrscheinlichkeit unserer eigenen Lebensform nicht evaluieren. Das könnten
nur Leute, die von außen kommen, oder solche, die zwischen einer Armutskultur
und einer Reichtumskultur pendeln.Übertragen auf die Parteien,
bedeutet dies, daß sie heute Anwälte des Unwahrscheinlichen sind?
Ich sehe sie als Dienstleister auf dem politischen Illusionenmarkt. Ihr
Pakt mit der Unwahrscheinlichkeit ist schicksalhaft und zwanghaft. Gewählt
wird ja, wer den Wählererwartungen am meisten entgegenkommt. Aber alle Erwartungen
dieser Art laufen auf steigende Unwahrscheinlichkeit hinaus. Das Generalprodukt,
das die Parteien heute ausnahmslos anbieten müssen, ist der plausible Schein,
daß durch die Politik dieser Partei die Lebensformen ihrer Klientel optimiert
werden.Die meisten Politiker signalisieren doch gar keine Optimierung
mehr, sondern versprechen den Status quo. Und dies sehr alarmistisch.In
einem ausgeleerten Liberalismus gilt auch die Garantie des Status quo sehr viel.
Wo die meisten Ideologen längst wieder mit Verschlechterungsdrohungen arbeiten,
sind Bestandsgarantien schon nahezu Evangelien. Man muß sich klarmachen,
daß auf der politischen Bühne schon immer die Drohkräfte mit den
versprechenden Kräften gerungen haben. Gegenwärtig sind die Drohkräfte
obenauf, deswegen werden die suggestivsten Drohthemen, internationale Konkurrenz
und Terrorismus, bei uns so stark besetzt. Eigentlich würden die Menschen
lieber schöne Versprechen hören, inzwischen sind sie schon froh, wenn
man ihnen nicht allzu offen droht. Und dieselben Leute haben vor kurzem noch offensive
Forderungen gestellt! Der Mythos vom Generalstreik kann also gar nicht
mehr tragen? In Deutschland noch weniger als in anderen Ländern.
Die Linke war mächtig, solange sie selber glaubhaft drohen konnte. Damals,
als der Kommunismus wie die real existierende Alternative auftrat, mußten
die westlichen Arbeitnehmerparteien nicht sehr viel tun, um der Arbeitgeberseite
klarzumachen, daß der soziale Frieden auch bei uns seinen Preis hat. Vergangene
Zeiten. Die Linke ist jetzt bedroht, nicht drohend. Bei den Strategen definiert
man die Drohung als bewaffneten Ratschlag. Links ist man heute entwaffnet und
ratlos.Wenn die Linke also ein Blatt ohne Trümpfe auf der Hand
hat, dann ist sie doch überflüssig?Im letzten Drittel des
20. Jahrhunderts ist in der westlichen Welt die gesamte Politik in die Mitte implodiert.
Gleichzeitig implodierte im Osten der kommunistische Apparat. Das Ressentiment
wird seither immer diffuser. Das ist das Merkmal der postkommunistischen Lage:
Die Linke hat aufgehört, als Zornsammelstelle zu funktionieren. Womit soll
sie jetzt noch werben? Ich denke, sie muß ihren Fokus verschieben, weg von
Rachefeldzügen, hin zu Zivilisationskampagnen. Vom Kämpfen zum Lernen.Bei
»Rachefeldzügen« fällt uns sofort einiges ein, aber wie sollten
linke Zivilisationsprojekte aussehen?Man könnte sich zum Beispiel
einschalten in die Differenzen der Religionen. Warum ist der Islam in der postkommunistischen
Situation so in den Vordergrund gekommen? Weil seine Aktivisten ihn als drohfähige
Größe durchgesetzt haben. Ich habe in meinem Buch die Frage erörtert,
ob es dem Islam gelingt, nach Katholizismus und Kommunismus die dritte Sammlung
des Weltzorns zu organisieren, und ich sage: Nein.Weshalb gelingt
ihm das nicht?Seine Voraussetzungen sind zu regional. Sie können
den Unmut deutscher oder polnischer Arbeitsloser nicht islamisch sammeln. Natürlich,
man kann sich gegenmodern in den Islam zurückziehen und sich in ihm stabilisieren,
aber er läßt sich nicht zu einer Bewegung ausbauen, die aus der Mitte
der Modernisierung kommt. Er kann keine bessere Moderne versprechen. Das war dem
Kommunismus zeitweilig gelungen.Inwiefern sind aber die Differenzen
der Religionen ein Projekt der Linken?Wenn es heute einen Weltkrieg
gibt, dann hat er die Form eines Clashs der Monotheismen. Diese Antagonismen müssen
zivilisiert werden.Das klingt nicht wirklich neu. Wie diese Zivilisierung
aussehen sollte, kann aber kaum jemand formulieren. Was wäre Ihr Vorschlag?Zum
Beispiel die zivilisierende Überformung der Religion durch die Kunst. Thomas
Mann hat in seiner Romantetralogie »Joseph und seine Brüder« vorgemacht,
wie so etwas geht. In dem Buch wird gezeigt, wie es zugehen könnte, wenn
die exklusive und eifernde Form des Monotheismus sich dank der Begegnung mit einer
Fremdreligion in eine inklusive Kunstreligion verwandelt.Dies könnte
die Linke übernehmen?Nicht direkt. Von dieser Lektion sind zunächst
einmal die Konfliktparteien betroffen, die Dogmen- und Positionsbesitzer, die
einen Wahrheitsfundus verwalten. Aber gleich danach könnte die postkommunistische
Linke ins Spiel kommen, sofern sie noch einen Sinn für die Produktivität
von Kämpfen, Reibungen und Konfrontationen hat. Auch heute sind die Kämpfe
die maßgeblichen Lernsituationen. Man darf sich keinen Illusionen hingeben.
Die Menschheit ist noch mehr als zu Hegels Zeiten zur Autodidaktik auf Leben und
Tod verurteilt. Der Krieg ist die primäre Schule, und wer nicht kämpft,
lernt auch nicht. Neutrale Lehrer stehen nicht zur Verfügung. Aus dem Kampf
selbst müssen die Regeln generiert werden, die über den Kampf hinausführen.Also
Klassenkampf?Nun ja, der gute alte Klassenkampf baute auf einer prekären
Siegesphantasie auf: Das Proletariat müßte die völlige Kontrolle
über den Produktionsprozeß gewinnen, so wäre der Antagonismus
mit dem Kapital beendet. Die russische Revolution hat gezeigt, wohin das führt:
zum Völkermord an der Bourgeoisie, begangen durch die noblen Henker, die
Berufsrevolutionäre, die als Anwälte des Proletariats auftreten. Heute
sind wir von einer solchen Anwaltschaft abgerückt und bevorzugen die Idee
der Selbstorganisation an der Basis. In Zeiten des Massenelends konnte das Anwalts-
oder Tribunenmodell vielleicht noch plausibel sein. Heute arbeiten wir mit Vernetzungsfiguren
und gehen von selbstorganisierten Einheiten aus.Sind Sie sicher, daß
das für alle Strömungen innerhalb der Linken gilt?Es gilt
mit Sicherheit für die alternative Regenbogenkultur. Kann sein, das Paläostalinisten
und alte ML-Kader sich in dieser bunten Szene nicht wiederfinden, aber was soll's.
Negri hat in »Empire« probiert, paläolinke Motive mit den neolinken
Ansätzen zu kombinieren, ohne überzeugendes Ergebnis. Er hat nur die
Masse in die Menge umbenannt und einen neuen Fetisch geschaffen. Den Regenbogen
als alternatives Proletariat.Multitude als Formel der Ausrede?
Ich würde es anders bewerten. Negri tut zunächst nur, was
Linksradikale chronisch tun, er setzt die Suche nach dem Subjekt der Revolution
fort. Dabei kommen ihm zwei Einsichten in die Quere: Das Subjekt ist nicht
eines, sondern viele. Damit kann er fürs erste leben. Zusätzlich
stellt sich heraus, daß Revolution ein überholter Begriff ist,
weil der Kapitalprozeß und das Empire immer schon revolutionärer
sind als ihre Gegner. Auch hier tut Negri so, als könne er mit dieser
Erkenntnis leben, doch in Wahrheit annulliert er seine Position. Er muß
sich mit dem Schein der Zeitgemäßheit begnügen, indem
er den Hymnus von Marx auf die umwälzende Macht der bürgerlichen
Klasse auf den heutigen Stand bringt.
Der kleine
Haken: Die Bourgeoisie wollte und will nicht revolutionieren.Doch,
da es zwei Typen von Revolution gibt, die erotische Revolution des Bürgertums,
die giergetrieben ist, und die thymotische Revolution der Armen, die nur funktioniert,
wenn sie stolzgetrieben bleibt. Marx hat die Gierrevolution der Bourgeoisie nicht
umsonst so lebhaft gefeiert und zugleich behauptet, daß sie nicht genügt.
Denn die linke Revolution macht man nicht im Namen der Gier, sondern des Stolzes
und seiner beiden moralischen Derivate, des Zorns und der Empörung. Ziel
solcher Revolutionen war es, die Erniedrigten und Beleidigten mit Subjektwürde
auszustatten. Das sind Ermächtigungsbewegungen, durch die der rote Faden
des proletarischen Thymos läuft: Würde durch Arbeit! Würde durch
Kampf! Sobald die Linke aber ihrerseits Gierpartei wird, wie bei uns überall,
implodiert sie und wird Teil der totalen Mitte.Wobei wir wieder bei
den Studentenprotesten und den brennenden Autos in den Banlieues wären. Dann
geht es doch um Zukunftschancen, um Verlangen nach Arbeit?Da bin
ich nicht so sicher. Wenn man die Beschreibungen der Protagonisten zugrunde legt,
ging es in den Banlieues größtenteils um eine Form von Spaßrandale
vor dem Hintergrund einer fürchterlichen sozialen Aussichtslosigkeit. Durch
die Fernsehbilder wurde dank mimetischer Infektion eine Welle von Gewaltspielen
ausgelöst - Autoanzünden mit Hilfe einer Volksausgabe von Molotovcocktails,
1500 Brandstellen in einer Nacht.Also ging es um Aufmerksamkeit der
Beleidigten?Ja, aber nicht im Sinn des Verlangens nach Würde,
denn das ergäbe ein Projekt, das einen langen Atem verlangt. Es ging mehr
um eine Sofortgratifikation für ein wandalisches Spektakel. Da findet man
die modernen Medien in einem schuldhaften Bündnis mit den schlimmsten Tendenzen.
Die Aufmerksamkeitsprämien sind immer am höchsten, wenn die Handlungen
am scheußlichsten sind.Womit sollte eine zivilisierende Linke
dieses Anreizsystem ändern?Die einzige Lösung des Problems
würde darin bestehen, daß man die Marginalisierten in eine sinnvolle
eigentumswirtschaftliche Dynamik einbezieht.Also doch Arbeit für
alle?Ja, aber nicht im Sinne einer Festanstellung auf Lebenszeit.
Man muß aus Kämpfern Unternehmer machen, es ist dieselbe Energie. Befriedigungseffekte
treten auf, wo es entweder Positionen in der Arbeitswelt gibt oder sich die Leute
selber Positionen auf einer Ehrgeizleiter schaffen.Die Kinder müssen
von der Straße?Natürlich, Kinder von der Straße
und Väter weg von Puff und Kneipe. Dies gelingt am besten durch breit angelegte
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, und die beste Arbeitsbeschaffung läuft
nach wie vor über Ökonomie des Eigentums.Wie wollen Sie
das den Verlierern dieser Gesellschaft denn vermitteln? Fördern und fordern
etwa?Sehen Sie, wir haben doch strukturell nur drei Existenzformen:
Unternehmer, Arbeitnehmer, Arbeitslose. Einen Unterschied, der einen Unterschied
macht, gibt es nur bei den Arbeitslosen: Die einen werden passiv, die anderen
zu Kriegern. Wenn sich Ressentiment und Kampfeslust treffen, rutschen die Aktivisten
leicht in die faschistoide Position. Auch der Bürgerkrieg schafft Positionen.
Es hat ja nicht nur der Krieg noch jeden Mann versorgt, um ein Diktum von Thomas
Hobbes zu zitieren, sondern auch der Bürgerkrieg. Will man diese Variante
ausschalten, bleibt nur die unternehmerische Alternative.Sie setzen
einiges voraus: souveräne, eigenverantwortliche Subjekte.Die
Hauptvoraussetzung ist, daß man die Arbeitslosigkeit neutral betrachtet.
Sie ist zunächst ja nur der Ausdruck von zwei sehr wünschenswerten Entwicklungen,
erstens daß Lohnarbeit nicht mehr für alle den wichtigsten Lebensinhalt
ausmacht, zweitens daß Menschen von Tätigkeiten befreit werden, die
besser von Maschinen ausgeführt werden. In diesem Sinn ist es eine gute Nachricht,
daß die Arbeit weniger wird. Die zivilisierende Aufgabe der Linken hätte
darin bestanden, diese Sicht zu kultivieren. Die Ersetzung von Menschen durch
Maschinen ist absolut bejahbar, ebenso wie das Absinken der Lebensarbeitszeit
innerhalb von 200 Jahren auf ein Drittel, das heißt rund 1700 Jahresstunden,
bejahbar bleibt. Was wir brauchten, ist ein starkes Kultur- und Bildungskonzept
für die Freigesetzten, verbunden mit Modellen freier Gemeinschaftsbildung,
in denen sich Menschen auch außerhalb der Arbeitswelt gegenseitig stimulieren
und bereichern.Sie glauben also, daß geldwerter Wohlstand nicht
zu sozialem Frieden führt?Er befriedet nur die, die ihn haben.
Der Kapitalismus geht von der Prämisse aus, daß Friede auf der Erde
entsteht, wenn alle Menschen in Konsumenten umgewandelt sind. Das ist bestenfalls
eine gefährliche Halbwahrheit. Zum Zivilisierungsprojekt gehört, daß
man Menschen nicht nur als Geschöpfe am Futtertrog sieht, sondern als Wesen
mit Würdeverlangen.Womit gerade Religionen wieder zum Zuge kämen?Die
Religionen sind bis auf weiteres eher Teil des Problems als der Lösung. Gäbe
es den Weltgeist, würde er jetzt wohl statuieren: Der zivilisatorische Weg
ist allein noch offen. Tatsächlich stehen sich auf der großen Bühne
zwei Komplexe gegenüber, die in sich total unausbalanciert sind: ein übererotisierter,
von der Gier verwüsteter Westen, andererseits ein überthymotisierter,
vom Ressentiment verwüsteter Naher und Mittlerer Osten. Ohne Rebalancierung
ist nach beiden Seiten die globale Selbstzerstörung programmiert.Wirklich
besorgt klingen Sie aber nicht. Sie sind da guter Hoffnung?Eigentlich
ja. Meine Hoffnung ist allerdings auf dem zweiten Bildungsweg erlernt, gegen meine
anfängliche Stimmung. Doch wenn man ziemlich viel Glück hatte, kann
man nicht auf pessimistischen Positionen herumreiten. Es gibt aber auch intellektuelle
Gründe für gemäßigten Optimismus.Was veranlaßt
Sie dazu?Man kann gewisse Denkfiguren Herders, Hegels und Whiteheads
so umformulieren, daß ein belastbarer Prozeßoptimismus entsteht. In
einer dichten Welt - und Dichte ist das Hauptmerkmal unserer Weltform - steigt
die autodidaktische Spannung. Man erlebt, wie uns die Nebenwirkungen des Handelns
immer rascher einholen. Wo Fatum war, wird Feedback werden. Die Menschheit ist
eine verdammte Selbsterfahrungsgruppe, deren Teilnehmer sich gegenseitig so sehr
unter Druck setzen, daß sie wohl noch im laufenden Jahrhundert einen halbwegs
lebbaren Kodex erarbeiten könnten.Was in Ihrer Lesart das Gegenteil
von einem Warten auf einen neuen Revolutionsführer wäre?
Revolution und Führer sind kompromittierte Konzepte. Bei dem Prozeßmodell,
das mir vorschwebt, hat man es eher mit einer Neuauflage des von Adam
Smith eingeführten Arguments der unsichtbaren Hand zu tun. Scheinbar
sehr naiv, bietet es in Wahrheit einen komplexen Gedanken im Vorfeld der
Kybernetik und der Chaostheorie. Wenn man Chaostheoretiker und Kybernetiker
auf die soziale Evolution ansetzt, werden sie nach Durchrechnung aller
erreichbaren Variablen zu dem Schluß kommen, daß man unter
allen Umständen etwas Besseres als den Super-GAU erwarten darf. Optimismus
als Minimalismus. Mit dieser Auskunft kann man weiterarbeiten.

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