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Prägnant und möglichst knapp formulierte Gedanken

von

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900)

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„Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, daß die Fortentwickelung der Kunst an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20

„An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis, daß in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen nebeneinander her, zumeist im offnen Zwiespalt miteinander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort »Kunst« nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen »Willens«, miteinander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20

„Um uns jene beiden Triebe näherzubringen, denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender Gegensatz wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lukretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der große Bildner den entzückenden Gliederbau übermenschlicher Wesen, und der hellenische Dichter, um die Geheimnisse der poetischen Zeugung befragt, würde ebenfalls an den Traum erinnert und eine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans Sachs in den Meistersingern gibt:
»Mein Freund, das grad ist Dichters Werk,
daß er sein Träumen deut' und merk'.
Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn
wird ihm im Traume aufgetan:
all Dichtkunst und Poeterei
ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.«
Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir genießen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es gibt nichts Gleichgültiges und Unnötiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugnis und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Der philosophische Mensch hat sogar das Vorgefühl, daß auch unter dieser Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege, daß also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabe, daß einem zuzeiten die Menschen und alle Dinge als bloße Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20-21

„Und so möchte von Apollo in einem exzentrischen Sinne das gelten, was Schopenhauer von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen sagt, Die Welt als Wille und Vorstellung 1, § 63, S. 368-369: »Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis.« Ja es wäre von Apollo zu sagen, daß in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des »Scheines« samt seiner Schönheit, zu uns spräche. An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgendeiner seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 22-23

„Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Mißtrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, jener Geier des großen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckenslos des weisen Ödipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, samt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermütigen Etrurier zugrunde gegangen sind – wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend von neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 30

„Um leben zu können, mußten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nötigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, daß aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Übergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 30-31

„Derselbe Trieb, der die Kunst ins Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt entstehen, in der sich der hellenische »Wille« einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodizee! Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerte empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so daß man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, »das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben.« Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des größten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der »Wille« nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische Mensch mit ihm, daß selbst die Klage zu seinem Preisliede wird.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 31

„Hier muß nun ausgesprochen werden, daß diese von den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort »naiv« in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Kultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen müßten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseaus sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. Wo uns das »Naive« in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Kultur zu erkennen: welche immer erst ein Titanenreich zu stürzen und Ungetüme zu töten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muß.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 31-32

„Vielleicht gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle, daß sich der Satyr, das fingierte Naturwesen, zu dem Kulturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Zivilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, daß sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 50

„Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, ebenso wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 51

„Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige Ödipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrtum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die sittliche Welt zugrunde gehen, eben durch dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der umgestürzten alten gründen.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 60

„Es ist eine unanfechtbare Überlieferung, daß die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte, und daß der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, daß niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern daß alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne, Prometheus, Ödipus usw. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Daß hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische »Idealität« jener berühmten Figuren. Es hat -ich weiß nicht wer - behauptet, daß alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre, daß die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne nicht ertragen konnten. In der Tat scheinen sie so empfunden zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Wertabschätzung der »Idee« im Gegensatze zum »Idol«, zum Abbild, tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie Platos zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und daß er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleichnisartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, daß diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, daß wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen Tränen die Menschen entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung gibt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal gebären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterie nlehre der Tragödie zusammen: die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 66-67

„»Wenn ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen mit Tränen; ist aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann stehen die Haare meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und mein Herz klopft.« Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen Verlorensein im Scheine, von der affektlosen Kühle des wahren Schauspielers, der, gerade in seiner höchsten Tätigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt; es ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen, während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst gelöst hat und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe, des apollinischen und des dionysischen, liegen können. Diese Erregungsmittel sind kühle paradoxe Gedanken – an Stelle der apollinischen Anschauungen – und feurige Affekte – an Stelle der dionysischen Entzückungen – und zwar höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Äther der Kunst getauchte Gedanken und Affekte.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 79

„Haben wir demnach so viel erkannt, daß es Euripides überhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, daß sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ästhetischen Sokratismus schon näher treten dürfen, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: »Alles muß verständig sein, um schön zu sein«; als Parallelsatz zu dem sokratischen »nur der Wissende ist tugendhaft«.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 79

„Das, was Sophokles von Äschylus gesagt hat, er tue das Rechte, obschon unbewußt, war gewiß nicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur soviel hätte gelten lassen, daß Äschylus, weil er unbewußt schaffe, das Unrechte schaffe. .... Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegenstück des »unverständigen« Dichters der Welt zu zeigen, sein ästhetischer Grundsatz »alles muß bewußt sein, um schön zu sein«, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen »alles muß bewußt sein, um gut zu sein«. Demgemäß darf uns Euripides als der Dichter des ästhetischen Sokratismus gelten.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 82

„Daß Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, entging dem gleichzeitigen Altertume nicht; und der beredteste Ausdruck für diesen glücklichen Spürsinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen. Beide Namen wurden von den Anhängern der »guten alten Zeit« in einem Atem genannt, wenn es galt, die Volksverführer der Gegenwart aufzuzählen: von deren Einflusse es herrühre, daß die alte marathonische vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung der leiblichen und seelischen Kräfte, zum Opfer falle. .... m berühmtesten ist aber die nahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnete, zugleich aber das Urteil abgab, daß dem Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 83

„Während doch bei allen produktiven Menschen der Instinkt gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewußtsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein zum Schöpfer – eine wahre Monstrosität per defectum!
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 85

„Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des Romans: der als die unendlich gesteigerte äsopische Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 88

„Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in betreff des Chors – ein wichtiges Zeichen, daß schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptanteil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt sein Bereich dermaßen ein, daß er jetzt fast den Schauspielern koordiniert erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die Szene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch seine Praxis und, der Überlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit aufeinanderfolgen. Die optimistische Dialektik treibt mit der Geißel ihrer Syllogismen die Musik aus der Tragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisierung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretieren läßt.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 89-90

„Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört großartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 90

„Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört großartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute ....“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 90

„An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klarzumachen gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik ebenso gewiß zugrunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 97

„Im Gegensatz zu allen denen, welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen Prinzip, als dem notwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks, abzuleiten, halte ich den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98

„Apollo steht vor mir als der verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge offenliegt.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98

„Dieser ungeheure Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend auftut, ist einem einzigen der großen Denker in dem Maße offenbar geworden, daß er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, I, S. 310.) Auf diese wichtigste Erkenntnis aller Ästhetik, mit der, in einem ernsteren Sinne genommen, die Ästhetik erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit seinen Stempel gedrückt, wenn er im »Beethoven« feststellt, daß die Musik nach ganz anderen ästhetischen Prinzipien als alle bildenden Künste und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei ....“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98

„Es gibt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sklavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 112

„Das ist ja das Merkmal jenes »Bruches«, von dem jedermann als von dem Urleiden der modernen Kultur zu reden pflegt, daß der theoretische Mensch vor seinen Konsequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt, sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 114

„Genug, wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunstform in der Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Bedürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen: welches Prinzip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der sozialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören können. Der »gute Urmensch« will seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten!“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 117

„Der kunstohnmächtige Mensch erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch, daß er der unkünstlerische Mensch an sich ist.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 118

„Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Übermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122

„Vor der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler in acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Kultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des großen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen: alles, was wir jetzt Kultur, Bildung, Zivilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122-123

„Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in Begriffe gefaßte dionysische Weisheit bezeichnen können: wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können?“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 123

„Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122

„Die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 133

„Das Drama ... erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen liegt. In der Gesamtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Übergewicht; sie schließt mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluß das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige Verhältnis des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisieren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 134-135

„Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 140

„Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – wert, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewußte innerliche Überzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegenteil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewußten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen Konsequenzen, verbunden ist.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 143

„Wir halten so viel von dem reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, daß wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente zu erwarten wagen und es für möglich erachten, daß der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird mancher meinen, jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen: wozu er eine äußerliche Vorbereitung und Ermutigung in der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges erkennen dürfte, die innerliche Nötigung aber in dem Wetteifer suchen muß, der erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, Luthers ebensowohl als unserer großen Künstler und Dichter, stets wert zu sein. Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein »Wiederbringen« aller deutschen Dinge, kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt – so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 144

„Kultur ist, vor allem, die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes.“
Ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872

„In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt.“
Ders., Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1872, in: Werke in drei Bänden, 3. Band, S. 3

„Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.“
Ders., Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1872, S. 4

„Zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf. “
Ders., Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1872, S. 11

„»Wenn ein Handwerker gewiß wäre, jede Nacht zu träumen, volle zwölf Stunden hindurch, daß er König sei, so glaube ich«, sagt Pascal, »daß er ebenso glücklich wäre als ein König, welcher alle Nächte während zwölf Stunden träumte, er sei Handwerker.« Der wache Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der älteren Griechen, ist durch das fortwährend wirkende Wunder, wie es der Mythus annimmt, in der Tat dem Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers. Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter der Hülle eines Stieres ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene selbst plötzlich gesehn wird, wie sie mit einem schönen Gespann in der Begleitung des Pisistratus durch die Märkte Athens fährt – und das glaubte der ehrliche Athener –, so ist in jedem Augenblicke wie im Traume alles möglich, und die ganze Natur umschwärmt den Menschen, als ob sie nur die Maskerade der Götter wäre, die sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den Menschen zu täuschen.“
Ders., Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1872, S. 14

„»Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dies sind Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Wert und den Unwert der Historie beginnen mag. In derselben soll nämlich dargestellt werden, warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei dem die Tätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntnis-Überfluß und Luxus uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhaßt sein muß - deshalb, weil es uns noch am Notwendigsten fehlt, und weil das überflüssige der Feind des Notwendigen ist.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 154

„Gewiß, wir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutslosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt ebenso notwendig ist, als es schmerzlich sein mag.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 154

„Es ist wahr: erst dadurch, daß der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschließend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch, daß innerhalb jener umschließenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, - also erst durch die Kraft, das Vergangne zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaße vom Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jede Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen. “
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S.. 160-161

„Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch immer wissenlos, so vergißt das Meiste, um Eins zu tun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt, und kennt nur Ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 162

„Sie wissen gar nicht, wie unhistorisch sie trotz aller ihrer Historie denken und handeln, und wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der reinen Erkenntnis, sondern des Lebens steht.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 163

„Mag unsere Schätzung des Historischen nur ein okzidentales Vorurteil sein; wenn wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurteile fortschreiten und nicht stillestehen! Wenn wir nur diese gerade immer besser lernen, Historue zum Zwecke des Lebens zu treiben! Dann wollen wir den Überhistorischen gerne zugestehen, daß sie mehr Weisheit besitzen als wir; falls wir nämlich nur sicher sein dürfen, mehr Leben als sie zu besitzen: denn so wird jedenfalls unsre Unweisheit mehr Zukunft haben als ihre Weisheit.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 164-165

„Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluß und Abrech nung für die Menschheit. Die historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Kultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zu kunfts-Verheißendes, also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird und nicht selber herrscht und führt.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 165

„Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen. Die Frage aber, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten Fragen und Sorgen in betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur. Denn bei einem gewissen Übermaß derselben zerbröckelt und entartet das Leben, und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie. “
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 165

„Daß das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muß ebenso deutlich begriffen werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird - daß ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schade.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166

„In dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt ist, eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie zu unterscheiden.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166

„Die Geschichte gehört vor Allem dem Tätigen und Mächtigen, dem, der einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag. So gehörte sie Schillern: denn unsre Zeit ist so schlecht, sagte Goethe, daß dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166

„Mit der Rücksicht auf den Tätigen nennt zum Beispiel Polybius die politische Historie die rechte Vorbereitung zur Regierung eines Staates und die vorzüglichste Lehrmeisterin, als welche durch die Erinnerung an die Unfälle Anderer uns ermahne, die Abwechslungen des Glückes standhaft zu ertragen. Wer hierin den Sinn der Historie zu erkennen gelernt hat, den muß es verdrießen, neugierige Reisende oder peinliche Mikrologen auf den Pyramiden großer Vergangenheiten herumklettern zu sehen; dort, wo er die Anreizungen zum Nachahmen und Bessermachen findet, wünscht er nicht dem Müßiggänger zu begegnen, der, begierig nach Zerstreuung oder Sensation, wie unter den gehäuften Bilderschätzen einer Galerie herumstreicht.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 166

„Aber Eines wird leben, das Monogramm ihres eigensten Wesens, ein Werk, eine Tat eine seltene Erleuchtung, eine Schöpfung: es wird leben, weil keine Nachwelt es entbehren kann. In dieser verklärtesten Form ist der Ruhm doch etwas mehr als der köstliche Bissen unsrer Eigenliebe, wie ihn Schopnehauer genannt hat, es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Kontinuität des Großen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und doe Vergänglichkeit.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 168

„Im Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Male als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer recht hätten zu glauben, daß bei gleicher Konstellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis aufs Einzelne und Kleine, sich wiederholen müsse: so daß immer wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zueinander haben, ein Stoiker sich mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer wieder bei einem anderen Stande Kolumbus Amerika entdecken wird. Nur wenn die Erde ihr Theaterstück jedesmal nach dem fünften Akt von neuem anfinge, wenn es feststünde, daß dieselbe Verknotung von Motiven, derselbe Deus ex machina, dieselbe Katastrophe in bestimmten Zwischenräumen wiederkehrten, dürfte der Mächtige die monumentale Historie in voller ikonischer Wahrhaftigkeit, das heißt jedes Faktum in seiner genau geschilderten Eigentümlichkeit und Einzigkeit begehren: wahrscheinlich also nicht eher, als bis die Astronomen wieder zu Astrologen geworden sind. Bis dahin wird die monumentale Historie jene volle Wahrhaftigkeit nicht brauchen können: immer wird sie das Ungleiche annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 169

„Jede der drei Arten von Historie, die es gibt, ist nur gerade auf Einem Boden und unter Einem Klina in ihrem Rechte: auf jedem anderen wächst sie zum verwüstenden Unkraut heran. Wenn der Mensch, der Großes schaffen will, überhaupt die Vergangenheit braucht, so bemächtigt er sich ihrer vermittelst der monumentalischen Historie; wer dagegen im Gewohnten und Altverehrten beharren mag, pflegt das Vergangne als antiquarischer Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige Not die Brust beklemmt, und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will, hat ein Bedürfnis zur kritischen, das heißt richtenden und verurteilenden Historie.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 172

„Wie könnte die Historie dem Leben besser dienen, als dadurch, daß sie auch die minder begünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat und Heimatsitte anknüpft, seßhaft macht und sie abhält, nach dem Besseren in der Fremde herumzuschweifen und um dasselbe wetteifernd zu kämpfen?“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 174

„Hier wird es deutlich, wie notwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat, die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muß die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt; jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden, denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 177

„»Denn Alles, was entlsteht, ist wert, daß es zugrunde geht. Drum besser wär's, daß nichts entstünde.« Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben zu können und zu vergessen, inwiefern leben und ungerecht sein Eins ist. Luther selbst hat einmal gemeint, daß die Welt nur durch eine Vergeßlichkeit Gottes entstanden sei; wenn Gott nämlich an das »schwere Geschütz« gedacht hätte, er würde die Welt nicht geschaffen haben. Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgendeines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel, ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 177-178

„Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg. Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozeß: und Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, daß sie eine Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und gefährdete Menschen und Zeiten. Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, daß wir aus ihnen herstammen.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 178

„Wir bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite der ererbten, angestammten Natur und unsrer Erkenntnis, auch wohl zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen das von alters her Anerzogne und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinkt, eine zweite Natur an, so daß die erste Natur abdorrt. Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt: immer ein gefährlicher Versuch, weil es so schwer ist, eine Grenze im Verneinen des Vergangnen zu finden, und weil die zweiten Naturen meistens schwächlicher als die ersten sind. Es bleibt zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne es zu tun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es tun zu können. Aber hier und da gelingt der Sieg doch, und es gibt sogar für die Kämpfenden, für die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen, einen merkwürdigen Trost: nämlich zu wissen, daß auch jene erste Natur irgendwann einmal eine zweite Natur war und daß jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 178

„Dies sind die Dienste, welche die Historie dem Leben zu leisten vermag; jeder Mensch und jedes Volk braucht je nach seinen Zielen, Kräften und Nöten eine gewisse Kenntnis der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine Schar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige, durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntnis das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Lebens.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179

„Daß dies die natürliche Beziehung einer Zeit, einer Kultur, eines Volkes zur Historie ist - hervorgerufen durch Hunger, reguliert durch den Grad des Bedürfnisses, in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft - daß die Kenntnis der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft: das Alles ist einfach, wie die Wahrheit einfach ist, und überzeugt sofort auch den, der dafür nicht erst den historischen Beweis sich führen läßt.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179

„Und nun schnell einen Blick auf unsre Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig flutet jetzt dies Problem vor unsren Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden? Oder hat sich wirklich die Konstellation von Leben und Historie verändert, dadurch daß ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten ist? Mögen Andere zeigen, daß wir falsch gesehen haben: wir wollen sagen, was wir zu sehen meinen. Es ist allerdings ein solches Gestirn, ein leuchtendes und herrliches Gestirn dazwischengetreten, die Konstellation ist wirklich verändert - durch die Wissenschaft, durch die Fordernng, daß die Historie Wissenschaft sein soll. Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind, umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven verschoben. Ein solche unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Wissens, die Historie, zeigt: freilich aber zeigt sie es mit der gefährlichen Kühnheit ihre wahlspruches: fiat veritas pereat vita.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 179-180

„Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln“, wie es im Märchen heißt.
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 180

„Der moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 187

„Der Wahrheit dienen Wenige in Wahrheit, weil nur Wenige den reinen Willen haben, gerecht zu sein, und selbst von diesen wieder die Wenigsten die Kraft, gerecht sein zu können.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 195

„Wie unwahrscheinlich ist ... die Häufigkeit des historischen Talentes!“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 197

„Glaubt einer Geschichtsschreibung nicht, wenn sie nicht aus dem Haupte der seltensten Geister herausspringt ....“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 202

„Wer nicht Einiges größer und höher erlebt hat als Alle, wird auch nichts Großes und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 202

„Fragt nicht bei der Geschichte an, daß sie euch das Wie? das Wohin? zeige. Wenn ihr euch dagegen in die Geschichte großer Männer hineinlebt, so werdet ihr aus ihr ein oberstes Gebot lernen, reif zu werden, und jenem lähmenden Erziehungsbanne der Zeit zu entfliehen, die ihren Nutzen darin sieht, euch nicht reif werden zu lassen, um euch, die Unreifen, zu beherrschen und auszubeuten.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 203

„Die historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie wirklich und in reiner Gesiinung geübt wird, ist ... eine schreckliche Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt und zu Falle bringt: ihr Richten ist immer ein Vernichten.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 203

„Eine Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der reinen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 204

„Was man am Christentum lernen kann, daß es unter der Wirkung einer historisierenden Behandlung blasiert und unnatürlich geworden ist, bis endlich eine vollkommen historische ... Behandlung es in reines Wissen um das Christentum auflöst und dadurch vernichtet, das kann man an allem, was Leben hat, studieren; daß es aufhört zu leben, wenn es zu Ende seziert ist und schmerzlich und krabkhaft lebt, wenn man anfängt, an ihm die historische Sezierübungen zu machen.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 205

„Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-Werden nicht mehr wundern. So ist es nun einmal bei allen großen Dingen, »die nie ohn' ein'gen Wahn gelingen«, wie Hans Sachs in den Meistersingern sagt.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 206

„Aber selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht einen solchen umhüllenden Wahn, eine solche umschützende und umschleiernde Wolke; jetzt aber haßt man das Reifwerden überhaupt, weil man die Historie mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphiert darüber, daß jetzt »die Wissenschaft anfange über das Leben zu herrschen«: möglich, daß man das erreicht; aber gewiß ist ein derartige beherrschtes Leben nicht viel wert, weil es viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige Wahnbilder beherrschte Leben.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 206

„So ..., wie der junge Mensch durch die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern, so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies gefühl der Befremdung immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen zu lassen - das nennt man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 207

„Die gediegene Mittelmäßigkeit wird immer mittelmäßiger, die Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 208-209

„Schafft euch den Begriff eines »Volkes«; den könnt ihr nie edel und hoch genug denken. Dächtet ihr groß vom Volke, so wäret ihr auch barmherzig gegen dasselbe und hütetet euch wohl, euer historisches Scheidewasser ihm als Lebens- und Labetrank anzubieten. Aber ihr denkt im tiefsten Grunde von ihm gering, weil ihr vor seiner Zukunft keine wahre und sicher gegründete Achtung haben dürft, und ihr handelt als praktische Pessimisten, ich meine als Menschen, die die Ahnung eines Unterganges leietet und die dadurch gegen das fremde, ja gegen das eigne Wohl gleichgültig und läßlich werden. Wenn uns nur die Scholle noch trägt! Und wenn sie uns nicht mehr trägt, dann soll es auch recht sein: - so empfinden sie und leben eine ironische Existenz.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 210

„Uns ziemt jede Ungereimtheit, jener Aberglaube ..., uns, den Spätgekommenen, den abgeblaßten letzten Sprossen mächtiger und frohmütiger Geschlechter, und, auf die Hesiods Prophezeiung zu deuten ist, daß die Menschen einst sogleich graubehaart geboren würden, und das Zeus dies Geschlecht vertilgen werde, sobald jenes zeichen an ihm sichtbar geworden sei. Die historische Bildung ist auch wirklich eine Art angeborner Grauhaarigkeit ....“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 211

„Steckt nicht ... in diesem lähmenden Glauben an eine bereits abwelkende Menschheit das Mißverständnis einer, vom Mittelalter her vererbten, christlich theologischen Vorstellung, der Gedanke an das nahe Weltende, an das bänglich erwartete Gericht?“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 212

„Das Christentum ... erreicht ... doch ebenfalls sein Ziel, wenn es sich mit der historischen Bildung, meistens sogar ohne deren Mitwissen, verbündet und nun, aus ihr heraus redend, alles Werdende achselzuckend ablehnt und darüber das Gefühl des gar zu Überspäten und Epigonenhaften, kurz der angebornen Grauhaarigkeit ausbreitet. Die herbe und tiefsinnig ernste Betrachtung über den Unwert alles Geschenen, über das Zum-Gericht-Reifsein der Welt, hat sich zu dem skeptischen Bewußtsein verflüchtigt, daß es jedenfalls gut sei, alles Geschehene zu wissen, weil es zu spät dafür sei, etwas Besseres zu tun. So macht der historische Sinn seine Diener passiv und retrospektiv ....“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 213

„Ich glaube, daß es keine gefährliche Schwankung oder Wendung der deutschen Bildung in diesem Jahrhundert gegeben hat, die nicht durch die ungeheure, bis diesen Augenblick fortströmende Einwirkung dieser Philosophie, der Hegelischen, gefährlicher geworden ist. Wahrhaftig, lähmend und verstimmend ist der Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein: furchtbar und zerstörend muß es aber erscheinen, wenn ein solcher Glaube eines Tages mit kecker Umstülpung diesen Spätling als den wahren Sinn und Zweck alles früher Geschehenen vergöttert, wenn sein wissendes Elend einer Vollendung der Weltgeschichte gleichgesetzt wird. Eine solche Betrachtungsart hat die Deutschen daran gewöhnt, vom »Weltprozeß« zu reden und die eigne Zeit als das notwendige Resultat dieses Weltprozesses zu rechtfertigen; eine solche Betrachtungsart hat die Geschichte an Stelle der andern geistigen Mächte, Kunst und Religion, als einzig souverän gesetzt, insofern sie »der sich selbst realisierende Begriff«, insofern sie »die Dialektik der Völkergeister« und das »Weltgericht« ist.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 216

„Man hat diese Hegelisch verstandene Geschichte mit Hohn das Wandeln Gottes auf der Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird. Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so daß für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eignen Berliner Existenz zusammenfielen. Ja er hätte sagen müssen, daß alle nach ihm kommenden Dinge eigentlich nur als eine musikalische Coda des weltgeschichtlichen Rondos, noch eigentlicher, als überflüssig zu schätzen seien. Das hat er nicht gesagt: dafür hat er in die von ihm durchsäuerten Generationen jene Bewunderung vor der »Macht der Geschichte« gepflanzt, die praktisch alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste des Tatsächlichen führt: für welchen Dienst man sich jetzt die sehr mythologische und außerdem recht gut deutsche Wendung »den Tatsachen Rechnung tragen« allgemein eingeübt hat.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 216-217

„Wer aber erst gelernt hat, vor der »Macht der Geschichte« den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein »Ja« zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte, in dem irgendeine »Macht« am Faden zieht. “
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217

„Enthält jeder Erfolg in sich eine vernünftige Notwendigkeit, ist jedes Ereignis der Sieg des Logischen oder der »Idee« - dann nur hurtig nieder auf die Knie und nun die ganze Stufenleiter der »Erfolge« abgekniet!“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217

„Was, es gäbe keine herrschenden Mythologien mehr?  Was, die Religionen wären im Aussterben?  Seht euch nur die Religion der historischen Macht an, gebt acht auf die Priester der Ideen-Mythologie und ihre zerschundenen Knie! Sind nicht sogar alle Tugenden im Gefolge dieses neuen Glaubens? Oder ist es nicht Selbstlosigkeit, wenn der historische Mensch sich zum objektiven Spiegelglas ausblasen läßt? Ist es nicht Großmut, auf alle Gewalt im Himmel und auf Erden zu verzichten, dadurch, daß man in jeder Gewalt die Gewalt an sich anbetet? Ist es nicht Gerechtigkeit, immer Waagschalen in den Händen zu haben und fein zuzusehen, welche als die stärkere und schwerere sich neigt? Und welche Schule der Wohlanständigkeit ist eine solche Betrachtung der Geschichte!“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 217

„So wird die Geschichte zu einem Kompendium der tatsächlichen Unmoral. Wie schwer würde sich der irren, der die Geschichte zugleich als Richterin dieser tatsächlichen Unmoral ansähe! Es beleidigt zum Beispiel die Moral, daß ein Raffael sechsunddreißig Jahr alt sterben mußte: solch ein Wesen sollte nicht sterben. Wollt ihr nun der Geschichte zu Hilfe kommen, als Apologeten des Tatsächlichen, so werdet ihr sagen: er hat alles, was in ihm lag, ausgesprochen, er hätte, bei längerem Leben, immer nur das Schöne als gleiches Schönes, nicht als neues Schönes schaffen können, und dergleichen. So seid ihr die Advokaten des Teufels, und zwar dadurch, daß ihr den Erfolg, das Faktum zu eurem Götzen macht: während das Faktum immer dumm ist und zu allen Zeiten einem Kalbe ähnlicher gesehen hat als einem Gotte. Als Apologeten der Geschichte souffliert euch überdies die Ignoranz: denn nur weil ihr nicht wißt, was eine solche natura naturans, wie Raffael, ist, macht es euch nicht heiß, zu vernehmen, daß sie war und nicht mehr sein wird.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 218

„Über Goethe hat uns neuerdings jemand belehren wollen, daß er mit seinen 82 Jahren sich ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des »ausgelebten« Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufe einhandeln, um noch einen Anteil an solchen Gesprächen zu haben, wie sie Goethe mit Eckermann führte, und um auf diese Weise vor allen zeitgemäßen Belehrungen durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben. Wie wenige Lebende haben überhaupt, solchen Toten gegenüber, ein Recht zu leben! Daß die Vielen leben und jene Wenigen nicht mehr leben, ist nichts als eine brutale Wahrheit, das heißt eine unverbesserliche Dummheit, ein plumpes »es ist einmal so« gegenüber der Moral »es sollte nicht so sein«. Ja, gegenüber der Moral!“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 218

„Dicht neben dem Stolze des modernen Menschen steht seine Ironie über sich selbst, sein Bewußtsein, daß er in einer historisierenden und gleichsam abendlichen Stimmung leben muß ....“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 219

„Hier und da geht man noch weiter, ins Zynische, und rechtfertigt den Gang der Geschichte, ja der gesamten Weltentwicklung ganz eigentlich für den Handgebrauch des modernen Menschen, nach dem zynischen Kanon: gerade so mußte es kommen, wie es gerade jetzt geht, so und nicht anders mußte der Mensch werden, wie jetzt die Menschen sind, gegen dieses Muß darf sich keiner auflehnen.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220

„In das Wohlgefühl eines derartigen Zynismus flüchtet sich der, welcher es nicht in der Ironie aushalten kann; ihm bietet überdies das letzte Jahrzehnt eine seiner schönsten Erfindungen zum Geschenke an, eine gerundete und volle Phrase für jenen Zynismus: sie nennt seine Art, zeitgemäß und ganz und gar unbedenklich zu leben, »die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß«.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220

„Die Persönlichkeit und der Weltprozeß! Der Weltprozeß und die Persönlichkeit des Erdflohs! Wenn man nur nicht ewig die Hyperbel aller Hyperbeln, das Wort: Welt, Welt, Welt hören müßte, da doch Jeder, ehrlicherweise, nur von Mensch, Mensch, Mensch reden sollte! Erben der Griechen und Römer? des Christentums? Das scheint Alles jenen Zynikern nichts; aber Erben des Weltprozesses! Spitzen und Zielscheiben des Weltprozesses! Sinn und Lösung aller Werde-Rätsel überhaupt, ausgedrückt im modernen Menschen, der reifsten Frucht am Baume der Erkenntnis! - das nenne ich ein schwellendes Hochgefühl; an diesem Wahrzeichen sind die Erstlinge aller Zeiten zu erkennen, ob sie auch gleich zuletzt gekommen sind.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220

„So weit flog die Geschichtsbetrachtung noch nie, selbst nicht, wenn sie träumte; denn jetzt ist die Menschengeschichte nur die Fortsetzung der Tier- und Pflanzengeschichte; ja in den untersten Tiefen des Meeres findet der historische Universalist noch die Spuren seiner selbst, als lebenden Schleim; den ungeheuren Weg, den der Mensch bereits durchlaufen hat, wie ein Wunder anstaunend, schwindelt dem Blicke vor dem noch erstaunlicheren Wunder, vor dem modernen Menschen selbst, der diesen Weg zu übersehen vermag. Er steht hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses: indem er oben darauf den Schlußstein seiner Erkenntnis legt, scheint er der horchenden Natur rings umher zuzurufen: »wir sind am Ziele, wir sind das Ziel, wir sind die vollendete Natur.«“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 220-221

„Überstolzer Europäer des 19. Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tötet nur deine eigne. Miß nur einmal deine Höhe als Wissender an deiner Tiefe als Könnender. Freilich kletterst du an den Sonnenstrahlen des Wissens aufwärts zum Himmel, aber auch abwärts zum Chaos. Deine Art zu gehen, nämlich als Wissender zu klettern, ist dein Verhängnis; Grund und Boden weicht ins Ungewisse für dich zurück; für dein Leben gibt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefäden, die jeder neue Griff deiner Erkenntnis auseinanderreißt. - Doch darüber kein ernstes Wort mehr, da es möglich ist, ein heiteres zu sagen.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221

„Das rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung in ein immer fließendes und zerfließendes Werden, das unermüdliche Zerspinnen und Historisieren alles Gewordenen durch den modernen Menschen, die große Kreuzspinne im Knoten des Weltall-Netzes - das mag den Moralisten, den Künstler, den Frommen, auch wohl den Staatsmann beschäftigen und bekümmern; uns soll es heute einmal erheitern, dadurch, daß wir dies alles im glänzenden Zauberspiegel eines philosophischen Parodisten sehen, in dessen Kopfe die Zeit über sich selbst zum ironischen Bewußtsein, und zwar deutlich »bis zur Verruchtheit« (um Goethisch zu reden), gekommen ist.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221

„Hegel hat uns einmal gelehrt, »wenn der Geist einen Ruck macht, da sind wir Philosophen auch dabei«: unsre Zeit machte einen Ruck, zur Selbstironie, und siehe! da war auch E. von Hartmann dabei und hatte seine berühmte Philosophie des Unbewußten - oder um deutlicher zu reden - seine Philosophie der unbewußten Ironie geschrieben. Selten haben wir eine lustigere Erfindung und eine mehr philosophische Schelmerei gelesen als die Hartmanns; wer durch ihn nicht über das Werden aufgeklärt, ja innerlich aufgeräumt wird, ist wirklich reif zum Gewesensein.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221

„Anfang und Ziel des Weltprozesses, vom ersten Stutzen des Bewußtseins bis zum Zurückgeschleudert-Werden ins Nichts, samt der genau bestimmten Aufgabe unsrer Generation für den Weltprozeß, alles dargestellt aus dem so witzig erfundenen Inspirations-Borne des Unbewußten und im apokalyptischen Lichte leuchtend, alles so täuschend und zu so biederem Ernste nachgemacht, als ob es wirkliche Ernst-Philosophie und nicht nur Spaß-Philosophie wäre.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 221-222

„Ein solches Ganze stellt seinen Schöpfer als einen der ersten philosophischen Parodisten aller Zeiten hin: opfern wir also auf seinem Altar, opfern wir ihm, dem Erfmder einer wahren Universal-Medizin, eine Locke - um einen Schleiermacherischen Bewunderungs-Ausdruck zu stehlen. Denn welche Medizin wäre heilsamer gegen das Übermaß historischer Bildung als Hartmanns Parodie aller Welthistorie ?“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222

„Wollte man recht trocken heraussagen, was Hartmann von dem umrauchten Dreifuße der unbewußten Ironie her uns verkündet, so wäre zu sagen: er verkündet uns, daß unsre Zeit nur gerade so sein müsse, wie sie ist, wenn die Menschheit dieses Dasein einmal ernstlich satt bekommen soll: was wir von Herzen glauben. Jene erschreckende Verknöcherung der Zeit, jenes unruhige Klappern mit den Knochen - wie es uns David Strauß naiv als schönste Tatsächlichkeit geschildert hat - wird bei Hartmann nicht nur von hinten, ex causis efficientibus, sondern sogar von vorne, ex causa finali, gerechtfertigt; von dem jüngsten Tage her läßt der Schalk das Licht über unsre Zeit strahlen, und da findet sich, daß sie sehr gut ist, nämlich für den, der möglichst stark an Unverdaulichkeit des Lebens leiden will und jenen jüngsten Tag nicht rasch genug heranwünschen kann.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222

„Zwar nennt Hartmann das Lebensalter, dem die Menschheit sich jetzt nähert, das »Mannesalter«: das ist aber, nach seiner Schilderung, der beglückte Zustand, wo es nur noch »gediegene Mittelmäßigkeit« gibt und die Kunst das ist, was »dem Berliner Börsenmanne etwa abends die Posse« ist, wo »die Genies kein Bedürfnis der Zeit mehr sind, weil es hieße, die Perlen vor die Säue werfen, oder auch weil die Zeit über das Stadium, welchem Genies gebührten, zu einem wichtigeren fortgeschritten ist«, zu jenem Stadium der sozialen Entwicklung nämlich, in dem jeder Arbeiter »bei einer Arbeitszeit, die ihm für seine intellektuelle Ausbildung genügende Muße läßt, ein komfortables Dasein führe«.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 222-223

„Schalk aller Schalke, du sprichst das Sehnen der jetzigen Menschheit aus: du weißt aber gleichfalls, was für ein Gespenst am Ende dieses Mannesalters der Menschheit, als Resultat jener intellektuellen Ausbildung zur gediegenen Mittelmäßigkeit, stehen wird - der Ekel.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223

„Sichtbar steht es ganz erbärmlich, es wird aber noch viel erbärmlicher kommen, »sichtbar greift der Antichrist weiter und weiter um sich« - aber es muß so stehen, es muß so kommen, denn mit dem Allen sind wir auf dem besten Wege - zum Ekel an allem Daseienden. »Darum rüstig vorwärts im Weltprozeß als Arbeiter im Weinberge des Herrn, denn der Prozeß allein ist es, der zur Erlösung führen kann!«“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223

„Der Weinberg des Herrn! Der Prozeß! Zur Erlösung! Wer sieht und hört hier nicht die historische Bildung, die nur das Wort »werden« kennt, wie sie sich zur parodischen Mißgestalt absichtlich vermummt, wie sie durch die vorgehaltne groteske Fratze die mutwilligsten Dinge über sich selbst sagt! Denn was verlangt eigentlich dieser letzte schalkische Anruf der Arbeiter im Weinberge von diesen? In welcher Arbeit sollen sie rüstig vorwärtsstreben? Oder um anders zu fragen: was hat der historisch Gebildete, der im Flusse des Werdens schwimmende und ertrunkene moderne Fanatiker des Prozesses noch übrig zu tun, um einmal jenen Ekel, die köstliche Traube jenes Weinberges, einzuernten? -Er hat nichts zu tun als fortzuleben, wie er gelebt hat, fortzulieben, was er geliebt hat, fortzuhassen, was er gehaßt hat und die Zeitungen fortzulesen, die er gelesen hat; für ihn gibt es nur Eine Sünde - anders zu leben, als er gelebt hat.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 223

„Es oll dem Verfasser der Philosophie des Unbewußten stets zum Lobe nachgesagt werden, daß es ihm zuerst gelungen ist, das Lächerliche in der Vorstellung des »Weltprozesses« scharf zu empfinden und durch den sonderlichen Ernst seiner Darstellung noch schärfer nachempfinden zu lassen.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 227-228

„Wie, die Statistik bewiese, daß es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze? Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung der Schwerkräfte Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen? Nun, wir wollen es zugeben, aber damit steht dann auch der Satz fest: soweit es Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte nichts wert. Gerade diejenige Art der Historie ist aber jetzt allgemein in Schätzung, welche die großen Massenbetriebe als das Wichtige und Hauptsächliche in der Geschichte nimmt und alle großen Männer nur als den deutlichsten Ausdruck, gleichsam als die sichtbar werdenden Bläschen auf der Wasserflut betrachtet. Da soll die Masse aus sich heraus das Große, das Chaos also aus sich heraus die Ordnung gebären; am Ende wird dann natürlich der Hymnus auf die gebärende Masse angestimmt. »Groß« wird dann alles das genannt, was eine längere Zeit eine solche Masse bewegt hat und, wie man sagt, »eine historische Macht« gewesen ist. Heißt das aber nicht recht absichtlich Quantität und Qualität verwechseln?“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 228

„Wenn die plumpe Masse irgendeinen Gedanken, zum Beispiel einen Religionsgedanken, recht adäquat gefunden hat, ihn zäh verteidigt und durch Jahrhunderte fortschleppt: so soll dann, und gerade dann erst, der Finder und Gründer jenes Gedankens groß sein. Warum doch! Das Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf die Massen; der historische Erfolg des Christentums, seine historische Macht, Zähigkeit und Zeitdauer, alles das beweist glücklicherweise nichts in betreff der Größe seines Gründers, da es im Grunde gegen ihn beweisen würde: aber zwischen ihm und jenem historischen Erfolge liegt eine sehr irdische und dunkle Schicht von Leidenschaft, Irrtum, Gier nach Macht und Ehre, von fortwirkenden Kräften des imperium romanum, eine Schicht, aus der das Christentum jenen Erdgeschmack und Erdenrest bekommen hat, der ihm die Fortdauer in dieser Welt ermöglichte und gleichsam seine Haltbarkeit gab.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 228-229

„Die reinsten und wahrhaftigsten Anhänger des Christentums haben seinen weltlichen Erfolg, seine sogenannte »historische Macht« immer eher in Frage gestellt und gehemmt; denn sie pflegen sich außerhalb »der Welt« zu stellen ....“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 229

„Ich vertraue der Jugend, daß sie mich recht geführt hat, wenn sie mich jetzt zu einem Proteste gegen die historische Jugenderziehung des modernen Menschen nötigt, und wenn der Protestierende fordert, daß der Mensch vor allem zu leben lerne und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche. Man muß jung sein, um diesen Protest zu verstehen, ja man kann, bei der zeitigen Grauhaarigkeit unsrer jetzigen Jugend, kaum jung genug sein, um noch zu spüren, wogegen hier eigentlich protestiert wird.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 232-233

„Ja als ob man so als flüchtiger Spaziergänger in der Historie den Vergangenheiten ihre Griffe und Künste, ihren eigentlichen Lebensertrag absehen könnte! Ja also ob das Leben selbst nicht ein Handwerk wäre, das aus dem grunde und stätig gelernt und ohne Schonung geübt werden muß, wenn es nicht Stümper und Schwätzer auskriechen lassen soll!“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 235

„Das Übermaß von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 237

„Die Gegenmittel gegen das Historische heißen - das Unhistorische und das Überhistorische.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 237

„Soll nun das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herrschen? Welche von beiden ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welche das Leben vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 238

„Und wie kommen wir zu jenem Ziele? werdet ihr fragen. Der Delphische Gott ruft euch, gleich am Anfang eurer Wanderung nach jenem Ziele, seinen Spruch entgegen: »Erkenne dich selbst.« Es sit ein schwerer Spruch: denn jener Gott »verbirgt nicht und verkündet nicht, sondern zeigt nur hin«, wie Heraklit gesagt hat. Worauf weist er euch hin?“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 240-241

„Es gab Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden, in der wir uns befmden, nämlich an der Überschwemmung durch das Fremde und Vergangne, an der »Historie« zugrunde zu gehen. Niemals haben sie in stolzer Unberührbarkeit gelebt: ihre »Bildung« war vielmehr lange Zeit ein Chaos von ausländischen, semitischen, babylonischen, lydischen, ägyptischen Formen und Begriffen, und ihre Religion ein wahrer Götterkampf des ganzen Orients: ähnlich etwa wie jetzt die »deutsche Bildung« und Religion ein in sich kämpfendes Chaos des gesamten Auslandes, der gesamten Vorzeit ist. Und trotzdem wurde die hellenische Kultur kein Aggregat, dank jenem apollinischen Spruche.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241

„Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisieren, dadurch, daß sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heißt auf ihre ächten Bedürfnisse zurückbesannen und die Schein-Bedürfnisse absterben ließen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz; sie blieben nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen Orients; sie wurden selbst, nach beschwerlichem Kampfe mit sich selbst, durch die praktische Auslegung jenes Spruches, die glücklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Kulturvölker.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241

„Dies ist ein Gleichnis für jeden Einzelnen von uns: er muß das Chaos in sich organisieren, dadurch, daß er sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt. Seine Ehrlichkeit, sein tüchtiger und wahrhaftiger Charakter muß sich irgendwann einmal dagegen sträuben, daß inmmer nur nachgesprochen, nachgelernt, nachgeahmt werde; er beginnt dann zu begreifen, daß Kultur noch etwas Anderes sein kann als Dekoration des Lebens, das heißt im Grunde doch immer nur Verstellung und Verhüllung; denn aller Schmuck versteckt das Geschmückte.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241

„So entschleiert sich ihm der griechische Begriff der Kultur -im Gegensatze zu dem romanischen - der Begriff der Kultur als einer neuen und verbesserten Physis, ohne innen und außen, ohne Verstellung und Konvention, der Kultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen. So lernt er aus seiner eignen Erfahrung, daß es die höhere Kraft der sittlichen Natur war, durch die den Griechen der Sieg über alle andren Kulturen gelungen ist, und daß jede Vermehrung der Wahrhaftigkeit auch eine vorbereitende Förderung der wahren Bildung sein muß; mag diese Wahrhaftigkeit auch gelegentlich der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit ernstlich schaden, mag sie selbst einer ganzen dekorativen Kultur zum Falle verhelfen können.“
Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 241-242

„Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: »sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst.«“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6

„Es gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach rückwärts und überallhin schielt. Man darf einen solchen Menschen zuletzt gar nicht mehr angreifen, denn er ist ganz Außenseite ohne Kern, ein anbrüchiges, gemaltes, aufgebauschtes Gewand, ein verbrämtes Gespenst, das nicht einmal Furcht und gewiß auch kein Mitleiden erregen kann. Und wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er töte die Zeit, so muß man von einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heißt auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen, daß eine solche Zeit wirklich einmal getötet wird: ich meine, daß sie aus der Geschichte der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6-7

„Wie groß muß der Widerwille späterer Geschlechter sein, sich mit der Hinterlassenschaft jener Periode zu befassen, in welcher nicht die lebendigen Menschen, sondern öffentlich meinende Scheinmenschen regierten; weshalb vielleicht unser Zeitalter für irgendeine ferne Nachwelt der dunkelste und unbekannteste, weil unmenschlichste Abschnitt der Geschichte sein mag.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 7

„Ich gehe durch die neuen Straßen unserer Städte und denke, wie von allen diesen greulichen Häusern, welche das Geschlecht der öffentlich Meinenden sich erbaut hat, in einem Jahrhundert nichts mehr steht, und wie dann auch wohl die Meinungen dieser Häuserbauer umgefallen sein werden. Wie hoffnungsvoll dürfen dagegen alle die sein, welche sich nicht als Bürger dieser Zeit fühlen; denn wären sie dies, so würden sie mit dazu dienen, ihre Zeit zu töten und samt ihrer Zeit unterzugehen, – während sie die Zeit vielmehr zum Leben erwecken wollen, um in diesem Leben selber fortzuleben.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 7

„Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen werden und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 16-17

„Mein Vertrauen zu Schopenhauer war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun Jahren. Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 17

„Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk-und Rechenmaschine.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 28

„Denn so stehe es: die Gründung des neuen Deutschen Reiches sei der entscheidende und vernichtende Schlag gegen alles »pessimistische« Philosophieren – davon lasse sich nichts abdingen.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 40

„Es ist nötig, daß wir einmal recht böse werden, damit es besser wird.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49

Der Schopenhauersche Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich, und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertöten und jene völlige Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche Sinn des Lebens ist.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49

„Es gibt eine Art zu verneinen und zu zerstören, welche gerade der Ausfluß jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist, als deren erster philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich verweltlichte Menschen trat.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 49-50

„So blind und toll am Leben zu hängen, um keinen höhern Preis, ferne davon zu wissen, daß und warum man so gestraft wird, sondern gerade nach dieser Strafe wie nach einem Glücke mit der Dummheit einer entsetzlichen Begierde zu lechzen – das heißt Tier sein; und wenn die gesamte Natur sich zum Menschen hindrängt, so gibt sie dadurch zu verstehen, daß er zu ihrer Erlösung vom Fluche des Tierlebens nötig ist und daß endlich in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch überlege man wohl: wo hört das Tier auf, wo fängt der Mensch an? Jener Mensch, an dem allein der Natur gelegen ist! Solange jemand nach dem Leben wie nach einem Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Tieres hinausgehoben, nur daß er mit mehr Bewußtsein will, was das Tier im blinden Drange sucht. Aber so geht es uns allen, den größten Teil des Lebens hindurch: wir kommen für gewöhnlich aus der Tierheit nicht heraus, wir selbst sind die Tiere, die sinnlos zu leiden scheinen.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 57-58

„Jeder kennt den sonderbaren Zustand, wenn sich plötzlich unangenehme Erinnerungen aufdrängen, und wir dann durch heftige Gebärden und Laute bemüht sind, sie uns aus dem Sinne zu schlagen: aber die Gebärden und Laute des allgemeinen Lebens lassen erraten, daß wir uns alle und immerdar in einem solchen Zustande befinden, in Furcht vor der Erinnerung und Verinnerlichung.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 59

„Erst wenn wir, in der jetzigen oder einer kommenden Geburt, selber in jenen erhabensten Orden der Philosophen, der Künstler und der Heiligen aufgenommen sind, wird uns auch ein neues Ziel unserer Liebe und unseres Hasses gesteckt sein – einstweilen haben wir unsre Aufgabe und unsern Kreis von Pflichten, unsern Haß und unsre Liebe. Denn wir wissen, was die Kultur ist. Sie will, um die Nutzanwendung auf den Schopenhauerschen Menschen zu machen, daß wir seine immer neue Erzeugung vorbereiten und fördern, indem wir das ihr Feindselige kennenlernen und aus dem Wege räumen – kurz, daß wir gegen alles unermüdlich ankämpfen, was uns um die höchste Erfüllung unsrer Existenz brachte, indem es uns hinderte, solche Schopenhauersche Menschen selber zu werden.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 64-65

„Mitunter ist es schwerer, eine Sache zuzugeben als sie einzusehen; und so gerade mag es den meisten ergehen, wenn sie den Satz überlegen: »die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne große Menschen zu erzeugen – und dies und nichts anderes sonst ist ihre Aufgabe.« Wie gerne möchte man eine Belehrung auf die Gesellschaft und ihre Zwecke anwenden, welche man aus der Betrachtung einer jeden Art des Tier- und Pflanzenreichs gewinnen kann, daß es bei ihr allein auf das einzelne höhere Exemplar ankommt, auf das ungewöhnlichere, mächtigere, kompliziertere, fruchtbarere – wie gerne, wenn nicht anerzogne Einbildungen über den Zweck der Gesellschaft zähen Widerstand leisteten!“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 65

„Eigentlich ist es leicht zu begreifen, daß dort, wo eine Art an ihre Grenze und an ihren Übergang in eine höhere Art gelangt, das Ziel ihrer Entwicklung liegt, nicht aber in der Masse der Exemplare und deren Wohlbefinden, oder gar in den Exemplaren, welche der Zeit nach die allerletzten sind, vielmehr gerade in den scheinbar zerstreuten und zufälligen Existenzen, welche hier und da einmal unter günstigen Bedingungen zustande kommen; und ebenso leicht sollte doch wohl die Forderung zu begreifen sein, daß die Menschheit, weil sie zum Bewußtsein über ihren Zweck kommen kann, jene günstigen Bedingungen aufzusuchen und herzustellen hat, unter denen jene großen erlösenden Menschen entstehen können. Aber es widerstrebt ich weiß nicht was alles: da soll jener letzte Zweck in dem Glück aller oder der meisten, da soll er in der Entfaltung großer Gemeinwesen gefunden werden; und so schnell sich einer entschließt, sein Leben etwa einem Staate zu opfern, so langsam und bedenklich würde er sich benehmen, wenn nicht ein Staat, sondern ein einzelner dies Opfer forderte.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 65-66

„Es scheint eine Ungereimtheit, daß der Mensch eines andern Menschen wegen da sein sollte; »vielmehr aller andern wegen, oder wenigstens möglichst vieler!« O Biedermann, als ob das gereimter wäre, die Zahl entscheiden zu lassen, wo es sich um Wert und Bedeutung handelt! Denn die Frage lautet doch so: wie erhält dein, des einzelnen Leben den höchsten Wert, die tiefste Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet? Gewiß nur dadurch, daß du zum Vorteile der seltensten und wertvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum Vorteile der meisten, das heißt der, einzeln genommen, wertlosesten Exemplare. Und gerade diese Gesinnung sollte in einem jungen Menschen gepflanzt und angebaut werden, daß er sich selbst gleichsam als ein mißlungenes Werk der Natur versteht, aber zugleich als ein Zeugnis der größten und wunderbarsten Absichten dieser Künstlerin: es geriet ihr schlecht, soll er sich sagen; aber ich will ihre große Absicht dadurch ehren, daß ich ihr zu Diensten bin, damit es ihr einmal besser gelinge.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 66

„Ganz beglückte Zeiten brauchten den Gelehrten nicht und kannten ihn nicht, ganz erkrankte und verdrossene Zeiten schätzten ihn als den höchsten und würdigsten Menschen und gaben ihm den ersten Rang.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 86

„Und so hoffe ich auch, daß es einige gebe, welche verstehen, was ich mit der Vorführung von Schopenhauers Schicksal sagen will und wozu, nach meiner Vorstellung, Schopenhauer als Erzieher eigentlich erziehen soll.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 91

„Was müßte man einem werdenden Philosophen gegenwärtig wünschen und nötigenfalls verschaffen, damit er überhaupt Atem schöpfen könne und es im günstigsten Falle zu der, gewiß nicht leichten, aber wenigstens möglichen Existenz Schopenhauers bringe? Was wäre außerdem zu erfinden, um seiner Einwirkung auf die Zeitgenossen mehr Wahrscheinlichkeit zu geben? Und welche Hindernisse müßten weggeräumt werden, damit vor allem sein Vorbild zur vollen Wirkung komme, damit der Philosoph wieder Philosophen erziehe? “
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 91

„Die Natur wirtschaftet nicht klug, ihre Ausgaben sind viel größer als der Ertrag, den sie erzielt; sie muß sich bei all ihrem Reichtum irgendwann einmal zugrunde richten. Vernünftiger hätte sie es eingerichtet, wenn ihre Hausregel wäre: wenig Kosten und hundertfältiger Ertrag, wenn es zum Beispiel nur wenige Künstler und diese von schwächeren Kräften gäbe, dafür aber zahlreiche Aufnehmende und Empfangende und gerade diese von stärkerer und gewaltigerer Art, als die Art der Künstler selber ist: so daß die Wirkung des Kunstwerks im Verhältnis zur Ursache ein hundertfach verstärkter Widerhall wäre. Oder sollte man nicht mindestens erwarten, daß Ursache und Wirkung gleich stark wären; aber wie weit bleibt die Natur hinter dieser Erwartung zurück! Es sieht oft so aus, als ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in seiner Zeit sei, als Einsiedler oder als versprengter und zurückgebliebener Wanderer. Man fühle nur einmal recht herzlich nach, wie groß, durch und durch und in allem, Schopenhauer ist – und wie klein, wie absurd seine Wirkung!“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 93-94

„Nichts kann gerade für einen ehrlichen Menschen dieser Zeit beschämender sein als einzusehen, wie zufällig sich Schopenhauer in ihr ausnimmt und an welchen Mächten und Unmächten es bisher gehangen hat, daß seine Wirkung so verkümmert wurde. Zuerst und lange war ihm der Mangel an Lesern feindlich ...; sodann als die Leser kamen, die Ungemäßheit seiner ersten öffentlichen Zeugen: noch mehr freilich, wie mir scheint, die Abstumpfung aller modernen Menschen gegen Bücher, welche sie eben durchaus nicht mehr ernst nehmen wollen; allmählich ist noch eine neue Gefahr hinzugekommen, entsprungen aus den mannigfachen Versuchen, Schopenhauer der schwächlichen Zeit anzupassen oder gar ihn als befremdliche und reizvolle Würze, gleichsam als eine Art metaphysischen Pfeffers einzureiben. So ist er zwar allmählich bekannt und berühmt geworden ...: und trotzdem ist er noch ein Einsiedler, trotzdem blieb bis jetzt die Wirkung aus! Am wenigsten haben die eigentlichen literarischen Gegner und Widerbeller die Ehre, diese bisher verhindert zu haben, erstens weil es wenige Menschen gibt, welche es aushalten sie zu lesen, und zweitens weil sie den, welcher dies aushält, unmittelbar zu Schopenhauer hinführen; denn wer läßt sich wohl von einem Eseltreiber abhalten, ein schönes Pferd zu besteigen, wenn jener auch noch so sehr seinen Esel auf Unkosten des Pferdes herausstreicht?“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 94-95

„Ziel dahin bestimmen ..., die Wiedererzeugung Schopenhauers, das heißt des philosophischen Genius, vorzubereiten.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 95

„Schopenhauer ... hatte das unbeschreibliche Glück, nicht nur in sich den Genius aus der Nähe zu sehen, sondern auch außer sich, in Goethe: durch diese doppelte Spiegelung war er über alle gelehrtenhaften Ziele und Kulturen von Grund aus belehrt und weise geworden. Vermöge dieser Erfahrung wußte er, wie der freie und starke Mensch beschaffen sein muß, zu dem sich jede künstlerische Kultur hinsehnt; konnte er, nach diesem Blicke, wohl noch viel Lust übrig haben, sich mit der sogenannten »Kunst« in der gelehrten oder hypokritischen Manier des modernen Menschen zu befassen? Hatte er doch sogar noch etwas Höheres gesehn: eine furchtbare überweltliche Szene des Gerichts, in der alles Leben, auch das höchste und vollendete, gewogen und zu leicht befunden wurde: er hatte den Heiligen als Richter des Daseins gesehn.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 99

„Es ist gar nicht zu bestimmen, wie frühzeitig Schopenhauer dieses Bild des Lebens geschaut haben muß, und zwar gerade so, wie er es später in allen seinen Schriften nachzumalen versuchte; man kann beweisen, daß der Jüngling, und möchte glauben, daß das Kind schon diese ungeheure Vision gesehn hat. Alles, was er später aus Leben und Büchern, aus allen Reichen der Wissenschaft sich aneignete, war ihm beinahe nur Farbe und Mittel des Ausdrucks; selbst die Kantische Philosophie wurde von ihm vor allem als ein außerordentliches rhetorisches Instrument hinzugezogen, mit dem er sich noch deutlicher über jenes Bild auszusprechen glaubte: wie ihm zu gleichem Zwecke auch gelegentlich die buddhistische und christliche Mythologie diente.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 99-100

„Damit sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische Genius in unserer Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens entstehen kann: freie Männlichkeit des Charakters, frühzeitige Menschenkenntnis, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine Beziehung zum Staate – kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe wunderbare und gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen aufwachsen durften.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 101

„Plato hielt aus eben den Gründen die Aufrichtung eines ganz neuen Staates für notwendig, um die Entstehung des Philosophen nicht von der Unvernunft der Väter abhängig zu machen. Beinahe sieht es nun so aus, als ob Plato wirklich etwas erreicht habe. Denn der moderne Staat rechnet jetzt die Förderung der Philosophie zu seinen Aufgaben und sucht zu jeder Zeit eine Anzahl Menschen mit jener »Freiheit« zu beglücken, unter der wir die wesentlichste Bedingung zur Genesis des Philosophen verstehen. Nun hat Plato ein wunderliches Unglück in der Geschichte gehabt: sobald einmal ein Gebilde entstand, welches seinen Vorschlägen im wesentlichen entsprach, war es immer bei genauerem Zusehen das untergeschobene Kind eines Kobolds, ein häßlicher Wechselbalg; etwa wie der mittelalterliche Priesterstaat es war, verglichen mit der von ihm geträumten Herrschaft der »Göttersöhne«. Der moderne Staat ist nun zwar davon am weitesten entfernt, gerade die Philosophen zu Herrschern zu machen – Gottlob! wird jeder Christ hinzufügen –: aber selbst jene Förderung der Philosophie, wie er sie versteht, müßte doch einmal darauf hin angesehn werden, ob er sie platonisch versteht, ich meine: so ernst und aufrichtig, als ob es seine höchste Absicht dabei wäre, neue Platone zu erzeugen. Wenn für gewöhnlich der Philosoph in seiner Zeit als zufällig erscheint – stellt sich wirklich der Staat jetzt die Aufgabe, diese Zufälligkeit mit Bewußtsein in eine Notwendigkeit zu übersetzen und der Natur auch hier nachzuhelfen?“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 102-103

„Die Erfahrung belehrt uns leider eines Bessern – oder Schlimmern: sie sagt, daß in Hinsicht auf die großen Philosophen von Natur nichts ihrer Erzeugung und Fortpflanzung so im Wege steht als die schlechten Philosophen von Staats wegen. Ein peinlicher Gegenstand, nicht wahr? – bekanntlich derselbe, auf den Schopenhauer in seiner berühmten Abhandlung über Universitätsphilosophie zuerst die Augen gerichtet hat. .... Genauer zugesehen ist jene »Freiheit«, mit welcher der Staat jetzt, wie ich sagte, einige Menschen zugunsten der Philosophie beglückt, schon gar keine Freiheit, sondern ein Amt, das seinen Mann nährt. Die Förderung der Philosophie besteht also nur darin, daß es heutzutage wenigstens einer Anzahl Menschen durch den Staat ermöglicht wird, von ihrer Philosophie zu leben, dadurch, daß sie aus ihr einen Broterwerb machen können: während die alten Weisen Griechenlands von seiten des Staates nicht besoldet, sondern höchstens einmal, wie Zeno, durch eine goldene Krone und ein Grabmal auf dem Kerameikos geehrt wurden.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 103-104

„Weil jeder Staat sie fürchtet und immer nur Philosophen begünstigen wird, vor denen er sich nicht fürchtet. Es kommt nämlich vor, daß der Staat vor der Philosophie überhaupt Furcht hat, und gerade, wenn dies der Fall ist, wird er um so mehr Philosophen an sich heranzuziehn suchen, welche ihm den Anschein geben, als ob er die Philosophie auf seiner Seite habe – weil er diese Menschen auf seiner Seite hat, welche ihren Namen führen und doch so gar nicht furchteinflößend sind. .... Sollte wohl je ein Universitätsphilosoph sich den ganzen Umfang seiner Verpflichtung und Beschränkung klargemacht haben? Ich weiß es nicht; hat es einer getan und bleibt doch Staatsbeamter, so war er jedenfalls ein schlechter Freund der Wahrheit; hat er es nie getan – nun, ich sollte meinen, auch dann wäre er kein Freund der Wahrheit.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 105-106

„Die gelehrte Historie des Vergangnen war nie das Geschäft eines wahren Philosophen, weder in Indien noch in Griechenland; und ein Philosophieprofessor muß es sich, wenn er sich mit solcherlei Arbeit befaßt, gefallen lassen, daß man von ihm, bestenfalls, sagt: er ist ein tüchtiger Philolog, Antiquar, Sprachkenner, Historiker – aber nie: er ist ein Philosoph. Jenes auch nur bestenfalls, wie bemerkt: denn bei den meisten gelehrten Arbeiten, welche Universitätsphilosophen machen, hat ein Philolog das Gefühl, daß sie schlecht gemacht sind, ohne wissenschaftliche Strenge und meistens mit einer hassenswürdigen Langweiligkeit.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 107-108

„Wie, wenn dieser Stoßseufzer eben die Absicht des Staates wäre und die »Erziehung zur Philosophie« nur eine Abziehung von der Philosophie? Man frage sich. – Sollte es aber so stehen, so ist nur eins zu fürchten: daß endlich einmal die Jugend dahinterkommt, wozu hier eigentlich die Philosophie gemißbraucht wird. Das Höchste, die Erzeugung des philosophischen Genius, nichts als ein Vorwand? Das Ziel vielleicht gerade, dessen Erzeugung zu verhindern? Der Sinn in den Gegensinn umgedreht? Nun dann – wehe dem ganzen Komplex von Staats- und Professoren-Klugheit!“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 109

„Solange das staatlich anerkannte Afterdenkertum bestehen bleibt, wird jede großartige Wirkung einer wahren Philosophie vereitelt oder mindestens gehemmt, und zwar durch nichts als durch den Fluch des Lächerlichen, den die Vertreter jener großen Sache sich zugezogen haben, der aber die Sache selber trifft. Deshalb nenne ich es eine Forderung der Kultur, der Philosophie jede staatliche und akademische Anerkennung zu entziehn und überhaupt Staat und Akademie der für sie unlösbaren Aufgabe zu entheben, zwischen wahrer und scheinbarer Philosophie zu unterscheiden. Laßt die Philosophen immerhin wild wachsen, versagt ihnen jede Aussicht auf Anstellung und Einordnung in die bürgerlichen Berufsarten, kitzelt sie nicht mehr durch Besoldungen, ja noch mehr: verfolgt sie, seht ungnädig auf sie – ihr sollt Wunderdinge erleben!“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 114

„Dem Staat ist es nie an der Wahrheit gelegen, sondern immer nur an der ihm nützlichen Wahrheit, noch genauer gesagt, überhaupt an allem ihm Nützlichen, sei dies nun Wahrheit, Halbwahrheit oder Irrtum. Ein Bündnis von Staat und Philosophie hat also nur dann einen Sinn, wenn die Philosophie versprechen kann, dem Staat unbedingt nützlich zu sein, das heißt den Staatsnutzen höher zu stellen als die Wahrheit.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 115

„Da scheint es mir von höchstem Werte, wenn außerhalb der Universitäten ein höheres Tribunal entsteht, welches auch diese Anstalten in Hinsicht auf die Bildung, die sie fördern, überwache und richte; und sobald die Philosophie aus den Universitäten ausscheidet und sich damit von allen unwürdigen Rücksichten und Verdunkelungen reinigt, wird sie gar nichts anderes sein können als ein solches Tribunal: ohne staatliche Macht, ohne Besoldung und Ehren, wird sie ihren Dienst zu tun wissen, frei vom Zeitgeist sowohl als von der Furcht vor diesem Geiste – kurz gesagt, so wie Schopenhauer lebte, als der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur. Dergestalt vermag der Philosoph auch der Universität zu nützen, wenn er sich nicht mit ihr verquickt, sondern sie vielmehr aus einer gewissen würdevollen Weite übersieht.“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 118-119

„Schicksal ich folge dir freiwillig, denn täte ich es nicht, müßte ich es ja doch unter Tränen tun!“
Ders., Schopenhauer als Erzieher, 1874

„Sei ein Mann und folge mir nicht nach – sondern dir! Sondern dir!« Auch unser Leben soll vor uns selber recht behalten! Auch wir sollen frei und furchtlos, in unschuldiger Selbstigkeit aus uns selber wachsen und blühen! Und so klingen mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch heute noch, wie ehedem, diese Sätze ans Ohr: »daß Leidenschaft besser ist als Stoizismus und Heuchelei, daß Ehrlichsein, selbst im Bösen, besser ist, als sich selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, daß der freie Mensch sowohl gut als böse sein kann, daß aber der unfreie Mensch eine Schande der Natur ist und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Anteil hat; endlich, daß jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muß, und daß niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schoß fällt.“
Ders., Richard Wagner in Bayreuth, 1875-1876, I, 431

„Es ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt –), auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine »gesünder« zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 15

„»Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen lernen – die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in bezug auf entgegengesetzte Werte und die ganze intellektuelle Einbuße, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die notwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. Du solltest vor allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am größten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maß der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zuliebe das Höhere, Größere, Reichere heimlich und kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, – du solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn, und wie Macht und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive miteinander in die Höhe wachsen. Du solltest« – genug, der freie Geist weiß nunmehr, welchem »du sollst« er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst – darf ....“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, Vorrede (Band 1), S. 15-16

„Dergestalt gibt der freie Geist in bezug auf jenes Rätsel von Loslösung sich Antwort und endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Erlebnis also zu entscheiden. »Wie es mir erging«, sagt er sich, »muß es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe leibhaft werden und ›zur Welt kommen‹ will.«“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, Vorrede (Band 1), S. 16

„Der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrtum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existieren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrtum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrtümern des Menschen handelt – doch so, als wären es Grundwahrheiten.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 35

Die Zahl. – Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nichts Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe (aber es gibt kein »Ding«). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, daß es etwas gebe, was vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt. – Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, konsequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Größen: aber weil diese Größen wenigstens konstant sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange miteinander; man kann auf ihnen fortbauen – bis an jenes letzte Ende, wo die irrtümliche Grundannahme, jene konstanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines »Dinges« oder stofflichen »Substrats«, das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Prozedur aber die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von altersher verknotet ist. – Wenn Kant sagt »der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor«, so ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genötigt sind mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heißt als Irrtum), welcher aber die Aufsummierung einer Menge von Irrtümern des Verstandes ist. – Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 35-36

Mutmaßlicher Sieg der Skepsis. – Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunkt gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Dies kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn dir Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich, daß die Menschen einmal in dieser Beziehung im ganzen und allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluß einer solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgendeiner metaphysischen Welt schon so schwierig, daß die Menschheit ein Mißtrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Mißtrauen hat, so gibt es im ganzen und großen dieselben Folgen, wie wenn sie direkt widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben dürfte. Die historische Frage in betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen dieselbe.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 37

„Die alte Kultur hat ihre Größe und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt einen, zuzugestehen, daß sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nötig, um dies zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewußtsein beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewußt und zu fällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegeneinander abwägen und einsetzen. Diese neue bewußte Kultur tötet die alte, welche als Ganzes angeschaut ein unbewußtes Tier- und Pflanzenleben geführt hat ....“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 39-40

Privat- und Weltmoral. – Seitdem der Glaube aufgehört hat, daß ein Gott die Schicksale der Welt im großen leite und trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kants, verlangt vom einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein jeder ohne weiteres wüßte, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswert seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, daß die allgemeine Harmonie sich nach eingebornen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht läßt es ein zukünftiger Überblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenwert erscheinen, daß alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit spezielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. – Jedenfalls muß, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewußte Gesamtregierung zugrunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Kultur, als wissenschaftlicher Maßstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der großen Geister des nächsten Jahrhunderts.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 40-41

Das Unlogische notwendig. – Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweiflung bringen können, gehört die Erkenntnis, daß das Unlogische für den Menschen nötig ist, und daß aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in allem, was dem Leben Wert verleiht, daß man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, daß die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen.
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 45

Ungerechtsein notwendig.
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 45

„Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen und können dies erkennen: dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 46

Der Irrtum über das Leben zum Leben notwendig.
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 46

„Die Menschheit hat im ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufs, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweiflung.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 47

„Weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 56

Der unveränderliche Charakter. – Daß der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heißt dieser beliebte Satz nur soviel, daß während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so daß eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrtümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 57

„Es gibt keine ewgie Gerechtigkeit.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 65

„In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 68

„Einen Rachegedanken haben und ausführen, heißt einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Mut ihn auszuführen, heißt ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 69

„Aus sich eine ganze Person machen und in allem, was man tut, deren höchstes Wohl ins Auge zu fassen – das bringt weiter als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zugunsten an derer. Wir alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet – gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hilfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müßte. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vorteil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vorteil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 82

Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. – Alle »bösen« Handlungen sind motiviert durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeiden der Unlust des Individuums; als solchermaßen motiviert aber nicht böse. .... Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empören, beruhen auf dem Irrtume, daß der andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also daß es in seinem Belieben gelegen habe, uns dies Schlimme nicht anzutun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Haß, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Tiere viel weniger zürnen, weil wir dies als unverantwortlich betrachten. Leid tun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung – ist Folge eines falschen Urteils und deshalb ebenfalls unschuldig. Der einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staat liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicherzustellen. So handelt der Gewalttätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es gibt kein Recht, welches dies hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurechtgemacht werden, wenn ein größeres Individuum oder ein Kollektiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeitlang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinkt: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft – und heißt nun Tugend.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 85-86

Scham. – Die Scham existiert überall, wo es ein »Mysterium« gibt; dies ist aber ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der menschlichen Kultur einen großen Umfang hatte. Überall gab es umgrenzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte, außer unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fuße der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe diese Schauder und Angst empfanden. Dies Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der Jugend, zu deren Vorteil, entzogen werden sollten: Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter tätig und im ehelichen Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heißt deshalb dies Gemach Harem, »Heiligtum«, wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So ist das Königtum als ein Zentrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustände, die sogenannte »Seele«, auch jetzt noch für alle Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeiten hindurch, als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 87

„Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der einzelne diesen Kampf so kämpft, daß die Menschen ihn gut, oder so, daß sie ihn böse nennen, darüber entscheidet das Maß und die Beschaffenheit seines Intellekts.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 91

„Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht, daß man jedem das Seine gibt.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 91-92

„Der chemische Prozeß und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste als jene Seelenkämpfe und Notzustände, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet – wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus denselben Wurzeln gewachsen, in denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und bösen Handlungen gibt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens des Grades. Gute Handlungen sind sublimierte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuß (samt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er kann, das heißt wie er muß: sei es in Taten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Taten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntnis.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 93-94

„Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, alles ist im Flusse, es ist wahr; – aber alles ist auch im Strome: nach einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrtümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluß der wachsenden Erkenntnis wird sie schwächer werden: eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Überschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf demselben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuldbewußten) Menschen ebenso regelmäßig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewußten Menschen – das heißt die notwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem – hervorbringt.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 95

„Der consensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit gelten. Dagegen gibt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goethesche Vers spricht: Alle die Weisesten aller der Zeiten // Lächeln und winken und stimmen mit ein: // Töricht, auf Bessrung der Toren zu harren! // Kinder der Klugheit, o habet die Narren // Eben zum Narren auch, wie sichs gehört! // Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der consensus sapientium besteht darin, daß der consensus gentium einer Narrheit gilt.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 95

Das Ungriechische im Christentum. – Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eignen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt sich miteinander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter gibt, und stellt sich in ein Verhältnis, wie das des niedrigeren Adels zum höheren ist; während die italischen Völker eine recht Bauern-Religion haben, mit fortwährender Ängstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurücktraten, da war auch das griechische Leben düsterer und ängstlicher. – Das Christentum dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Verworfenheit ließ es dann mit einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten, so daß der Überraschte, durch Gnade Betäubte, einen Schrei des Entzückens ausstieß und für einen Augenblick den ganzen Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Exzeß des Gefühls, auf die dazu nötige tiefe Kopf- und Herz-Korruption wirken alle psychologischen Empfindungen des Christentums hin: es will vernichten, zerbrechen betäuben, berauschen, es will nur eins nicht: das Maß, und deshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S.106-107

Nie hat ein Mensch etwas getan, das allein für andere und ohne jeden persönlichen Beweggrund getan wäre; ja wie sollte er etwas tun können, das ohne Bezug zu ihm wäre ....“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 115

„Sollte aber ein Mensch wünschen, ganz wie jener Gott Liebe zu sein, alles für andere, nichts für sich zu tun, zu wollen, so ist letzteres schon deshalb unmöglich, weil er sehr viel für sich tun muß, um überhaupt anderen etwas zuliebe tun zu können. Sodann setzt es voraus, daß der andre Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer wieder anzunehmen: so daß die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben, und die höchste Moralität, um bestehn zu können, förmlich die Existenz der Unmoralität erzwingen müßte (wodurch sie sich freilich selber aufheben würde).“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 115-116

„In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 119

„Wie in der antiken Welt eine unermeßliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Kulte zu mehren: so ist in der Zeit des Christentums ebenfalls unermeßlich viel Geist einem anderen Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich sündhaft fühlen ....“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 124

„Ebenfalls habe ich abgesehn von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntnis, die Wissenschaft – soweit es eine solche gab –, die Erhebung über die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert, wie dieselben Eigenschaften in der christlichen Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 128

Antithese. – Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrtum zur Wahrheit schleicht.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 150

„Und sagt im Grunde Goethes gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau dasselbe? – jene Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen gewann, daß man im großen ganzen behaupten kann, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was alles indirekt durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hilfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandlung und Bekehrung so viel: sie bedeutet, daß er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wiederzugewinnen und den stehengebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft des Arms sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nötig waren. So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hilfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen, daß sie einmal erfüllt gewesen sind und daß auch wir noch an dieser Erfüllung teilnehmen können. Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Lokalfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinn wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so wie sie die Griechen ... übten.
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 169-170

Was von der Kunst übrigbleibt. – Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel größeren Wert, zum Beispiel wenn der Glaube gilt, daß der Charakter unveränderlich sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwährend ausspreche: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des ewig Beharrenden, während für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch im ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist. – Ebenso steht es bei einer andern metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, daß unsere sichtbare Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so käme die Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen der Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe es dann gar zuviel Ähnliches; und die übrigbleibende Verschiedenheit stellte sogar die Bedeutung der Kunst höher als die Bedeutung der Natur, weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur darstellte. – Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntnis jetzt noch der Kunst? Vor allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu bringen, daß wir endlich rufen: »wie es auch sei, das Leben, es ist gut!« Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmäßiger Entwicklung anzusehen, – diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfnis des Erkennens wieder ans Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde aber damit nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüßen: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüts-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maßstab des durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichtums ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 170-171

Abendröte der Kunst. – Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnisfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältnis einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht daß niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfaßt wurde wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmut und Tränen darüber, daß immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphiere; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein herrliches Überbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hing, Ehren erweisen, wie wir sie nicht gleich unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 171

Veredelung durch Entartung. – Aus der Geschichte ist zu lernen, daß der Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in dem die meisten Menschen lebendigen Gemeinsinn infolge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiskutierbaren Grundsätze, also infolge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundeneren, viel unsichereren und moralisch-schwächeren Individuen, an denen das geistige Fortschreiten in solchen Gemeinwesen hängt: es sind die Menschen, die Neues und überhaupt vielerlei versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zugrunde; aber im allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesamten Wesen etwas Neues gleichsam inokuliert; seine Kraft im ganzen muß aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimilieren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im großen muß eine teilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden. – Etwas Ähnliches ergibt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche oder sittliche Einbuße ohne einen Vorteil auf einer andern Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer ins Innere schauen und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf ums Dasein nicht der einzige Gesichtspunkt zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muß zweierlei zusammenkommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister im Glauben und Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch, daß entartende Naturen und, infolge derselben, teilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwächere Natur, als die zartere und feinere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und schwach wird, aber im ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infektion des Neuen aufzunehmen und sich zum Vorteil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, daß er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfnis entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inokuliert werden. Seine gesamte Natur wird es in sich hineinnehmen und später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. – Was den Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, daß »die Form der Regierungen von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das große Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles andere aufwiegt, indem sie weit wertvoller ist als Freiheit.« Nur bei sicher begründeter und verbürgter größter Dauer ist stetige Entwicklung und veredelnde Inokulation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich die gefährliche Genossin aller Dauer, die Autorität, sich dagegen wehren“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 172-174

Freigeist ein relativer Begriff. – Man nennt den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor, daß seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder in der Sucht aufzufallen haben, oder gar auf freie Handlungen, das heißt auf solche, welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schließen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und Überspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn das Zeugnis für die größere Güte und Schärfe seines Intellekts ist dem Freigeist gewöhnlich ins Gesicht geschrieben, so lesbar, daß es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in der Tat entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder die andere Art. Deshalb könnten aber die Sätze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein als die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntnis der Wahrheit kommt es darauf an, daß man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antriebe man sie gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister recht, so haben die gebundenen Geister unrecht, gleichgültig, ob die ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus Moralität bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. – Übrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, daß er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, daß er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Mißerfolg. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die anderen Glauben.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 174-175

Herkunft des Glaubens. – Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christentum und das Engländertum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe zugunsten seiner Gewöhnung ausfindig gemacht; man mag diese Gründe umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man nötige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 175

Aus den Folgen auf Grund und Ungrund zurückgeschlossen. – Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht, alles dies hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie – also in der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fühlen wohl, daß es ein pudendum ist. Das Christentum, das sehr unschuldig in seinen intellektuellen Einfällen war, merkte von diesem pudendum nichts, forderte Glauben und nichts als Glauben und wies das Verlangen nach Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin: ihr werdet den Vorteil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. Tatsächlich verfährt der Staat ebenso, und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte dies nur für wahr, sagt er, du wirst spüren, wie gut dies tut. Dies bedeutet aber, daß aus dem persönlichen Nutzen, den eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen werden soll, die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellektuelle Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist dies so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht spräche: mein Verteidiger sagt die ganze Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. – Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so vermuten sie auch beim Freigeist, daß er mit seinen Ansichten ebenfalls seinen Nutzen suche und nur das für wahr halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen nützt, so nehmen diese an, daß seine Grundsätze ihnen gefährlich sind; sie sagen oder fühlen: er darf nicht recht haben, denn er ist uns schädlich.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 175-176

Der starke, gute Charakter. – Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinkt geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke nennt. Wenn jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine große Energie; stehen diese Handlungen im Einklange mit den Grundsätzen der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in dem, der sie tut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen das aus, was man Charakterstärke nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntnis der vielen Möglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellekt ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muß er jetzt, gemäß seiner ganzen Natur, mit Notwendigkeit wählen, und er tut dies leicht und schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie ihm die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 176-177

Maß der Dinge bei den gebundenen Geistern. – Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche uns Vorteil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel, weshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald erst Opfer gebracht sind. – Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, daß es immer Freigeister gegeben hat, also daß die Freigeisterei Dauer hat, sodann, daß sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, daß sie den gebundenen Geistern im ganzen Vorteil bringen; aber weil sie von diesem letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt es ihnen nichts, den ersten und zweiten Punkt bewiesen zu haben.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 177-178

„Verglichen mit dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspunkte und hat deshalb eine unsichere, ungeübte Hand. Welche Mittel gibt es nun, um ihn doch verhältnismäßig stark zu machen, so daß er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zugrunde geht? Wie entsteht der starke Geist)? Es ist dies in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntnis der Welt zu erwerben trachtet?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 178

„Es wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr großgezüchtet werden. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher als am Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben ....“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 180

Genius und idealer Staat in Widerspruch. – Die Sozialisten begehren für möglichst viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde Heimat dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der große Intellekt und überhaupt das mächtige Individuum wächst, zerstört sein: ich meine die starke Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch erzeugen zu können. Müßte man somit nicht wünschen, daß das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und daß immer von neuem wieder wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden? Nun will das warme, mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen und wilden Charakters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heißt doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das Urteil spricht, stellt sich auch über die Güte und betrachtet diese nur als etwas, das bei der Gesamtrechnung des Lebens mit abzuschätzen ist. Der Weise muß jenen ausschweifenden Wünschen der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus und an dem endlichen Entstehen des höchsten Intellektes gelegen ist; mindestens wird er der Begründung des »vollkommenen Staates« nicht förderlich sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen, förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt die Erzeugung des größten Intellektes auf: und dies war konsequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise – dies darf man wohl vorhersagen – wird ebenso notwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein. – Der Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegeneinander: übertreibt man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt, ja aufgelöst – also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründlichsten vereitelt.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 181-182

Zukunft der Wissenschaft. – Die Wissenschaft gibt dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen, dem, welcher ihre Ergebnisse lernt, sehr wenig. Da allmählich aber alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft alltäglich und gemein werden müssen, so hört auch dieses wenige Vergnügen auf: so wie wir beim Lernen des so bewundernswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen. Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik, Religion und Kunst, nimmt: so verarmt jene größte Quelle der Lust, welcher die Menschheit fast ihr gesamtes Menschentum verdankt. Deshalb muß eine höhere Kultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: nebeneinander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muß geheizt werden, mit Hilfe der erkennenden Wissenschaft muß den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überheizung vorgebeugt werden. – Wird dieser Forderung der höheren Kultur nicht genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwicklung fast mit Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger es Lust gewährt; die Illusion, der Irrtum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge; von neuem muß die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür, daß sie immer wieder die Kraft dazu findet?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 192-193

Die Lust am Erkennen. – Weshalb ist das Erkennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit Lust verknüpft? Erstens und vor allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewußt wird, also aus demselben Grunde, aus dem gymnastische Übungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntnis, über ältere Vorstellungen und deren Vertreter hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so kleine neue Erkenntnis über alle erhaben und uns als die einzigen fühlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gründe zur Lust sind die wichtigsten, doch gibt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele Nebengründe. – Ein nicht unbeträchtliches Verzeichnis von solchen gibt, an einer Stelle, wo man es nicht suchen würde, meine paränetische Schrift über Schopenhauer: mit deren Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntnis zufrieden geben kann, sei es auch, daß er den ironischen Anflug, der auf jenen Seiten zu liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn es wahr ist, daß zum Entstehen des Gelehrten »eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden muß«, daß der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und »aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht«: so gilt doch dasselbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des Künstlers, Philosophen, moralischen Genies – und wie die in jener Schrift glorifizierten großen Namen lauten. Alles Menschliche verdient in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrachtung: deshalb ist die Ironie in der Welt so überflüssig.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 193-194

Das Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geübt. – Der Wert davon, daß man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhältnis zum Meere des Wissenswerten, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergibt einen Zuwachs an Energie, an Schlußvermögen, an Zähigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen Zweck zweckmäßig zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf alles, was man später treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 195-196

Ein Ausschnitt unseres Selbst als künstlerisches Objekt. – Es ist ein Zeichen überlegener Kultur, gewisse Phasen der Entwicklung, welche die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewußtsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu entwerfen: denn dies ist die höhere Gattung der Malerkunst, welche nur wenige verstehen. Dazu wird es nötig, jene Phasen künstlich zu isolieren. Die historischen Studien bilden die Befähigung zu diesem Malertum aus, denn sie fordern uns fortwährend auf, bei Anlaß eines Stückes Geschichte, eines Volkes – oder Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, daß man solche Gedanken- und Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen schnell rekonstruieren kann, wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehengebliebenen Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das nächste Ergebnis desselben ist, daß wir unsere Mitmenschen als ganz bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Kulturen verstehen, das heißt als notwendig, aber als veränderlich. Und wiederum: daß wir in unserer eigenen Entwicklung Stücke heraustrennen und selbständig hinstellen können.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 209

Zyniker und Epikureer. – Der Zyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren Schmerzen des höher kultivierten Menschen und der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, daß die Menge von Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebensosehr reiche Genuß–, aber auch Unlustquellen entspringen lassen mußten. Gemäß dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele dieser Meinungen aufgibt und sich gewissen Anforderungen der Kultur entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit und der Kräftigung, und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich macht, hat er in der Tat seltnere und schwächere Unlustempfindungen als die kultivierten Menschen und nähert sich dem Haustier an; überdies empfindet er alles im Reiz des Kontrastes und – schimpfen kann er ebenfalls nach Herzenslust: so daß er dadurch wieder hoch über die Empfindungswelt des Tieres hinauskommt. – Der Epikureer hat denselben Gesichtspunkt wie der Zyniker; zwischen ihm und jenem ist gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Kultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während der Zyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunklen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verraten, wie heftig bewegt da draußen die Welt ist. Der Zyniker dagegen geht gleichsam nackt draußen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 209-210

Mikrokosmus und Makrokosmus der Kultur. – Die besten Entdeckungen über die Kultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe einer ebensosehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik, als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so großes Gebäude der Kultur aus sich zu gestalten, daß jene beiden Mächte, wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können, während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender Kraft, um nötigenfalls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Gebäude der Kultur im einzelnen Individuum wird aber die größte Ähnlichkeit mit dem Kulturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung über denselben abgeben. Denn überall, wo sich die große Architektur der Kultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammlung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie des halb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 210-211

Von der Erleichterung des Lebens. – Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisieren aller Vorgänge desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisieren heißt. Der Maler verlangt, daß der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte; er ist genötigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muß sogar ein ebenso bestimmtes Maß von Schärfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen! in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisieren will, muß es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 212

Erschwerung als Erleichterung und umgekehrt. – Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere Erschwerungen des Lebens kennengelernt haben. Ebenso kommt das Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich seine Last und Not abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die Lüfte steige.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 212-213

Hauptmangel der tätigen Menschen. – Den Tätigen fehlt gewöhnlich die höhere Tätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heißt als Gattungswesen tätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. – Es ist das Unglück der Tätigen, daß ihre Tätigkeit fast immer ein wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Bankier nach dem Zweck seiner rastlosen Tätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 214

Zugunsten der Müßigen. – Zum Zeichen dafür, daß die Schätzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den tätigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so daß sie also diese Art, zu genießen, höherzuschätzen scheinen als die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der Tat viel mehr Genuß ist. Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Muße und Müßiggehen. – Wenn Müßiggang wirklich der Anfang aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden; der müßige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch als der tätige. – Ihr meint doch nicht, daß ich mit Muße und Müßiggehen auf euch ziele, ihr Faultiere?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 214-215

„Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muß, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken. Doch hat schon jeder einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu glauben, daß er nicht nur ein gutes Temperament, sondern eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 215

Inwiefern der Tätige faul ist. – Ich glaube, daß jeder über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben muß, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Tätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. – Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemeingültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nötig hat, ist für ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 215-216

Vorsicht der freien Geister. – Freigesinnte, der Erkenntnis allein lebende Menschen werden ihr äußerliches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich einrichten, so zu leben, daß eine große Verwandlung der äußeren Güter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam mit einem langen Atem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen. – Von einem Ereignis wird ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in diese verwickeln. – Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muß ihm ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten – Es ist wahrscheinlich, daß selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig und etwas kurzatmig sein wird, denn er will sich nur, soweit es zum Zweck der Erkenntnis nötig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muß darauf vertrauen, daß der Genius der Gerechtigkeit etwas für seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen sollten. – Es gibt in seiner Lebens- und Denkweise einen verfeinerten Heroismus, welcher es verschmäht, sich der großen Massen-Verehrung, wie sein gröberer Bruder es tut, anzubieten, und still durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequält hat – kommt er ans Licht, so geht er hell, leicht und fast geräuschlos seinen Gang und läßt den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 217-218

Kopien. – Nicht selten begegnet man Kopien bedeutender Menschen; und den meisten gefallen, wie bei Gemälden so auch hier, die Kopien besser als die Originale.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 220

Doppelte Art der Gleichheit. – Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äußern, daß man entweder alle anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern, Sekretieren, Beinstellen) oder sich mit allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen).“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 221

Die gefährlichsten Ärzte. – Die gefährlichsten Ärzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 222

Die Mitleidigen. – Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hilfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der anderen haben sie nichts zu tun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Überlegenheit und zeigen deshalb leicht Mißvergnügen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 224

Undank vorauszusehen. – Der, welcher etwas Großes schenkt, findet keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zuviel Last.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 225

In geistloser Gesellschaft. – Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist, Geist zu zeigen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 225

Der Parasit. – Es bezeichnet einen völligen Mangel an vornehmer Gesinnung, wenn jemand lieber in Abhängigkeit, auf anderer Kosten leben will, um nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer heimlichen Erbitterung gegen die, von denen er abhängt. – Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen Gründen).“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 232-233

Kultur und Kaste. – Eine höhere Kultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft gibt: die der Arbeitenden und die der Müßigen, zu wahrer Muße Befähigten; oder mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit. Der Gesichtspunkt der Verteilung des Glücks ist nicht wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer höheren Kultur handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der Müßigen die leidensfähigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre Aufgabe größer. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt, so, daß die stumpferen, ungeistigeren Familien und einzelnen aus der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur höheren erlangen: so ist ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht. – So redet die verklingende Stimme der alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren, sie zu hören?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 262-263

Gerechtigkeit als Parteien-Lockruf. – Wohl können edle (wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle) Vertreter der herrschenden Klasse sich geloben: wir wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche Rechte zugestehen. Insofern ist eine sozialistische Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, möglich; aber wie gesagt nur innerhalb der herrschenden Klasse, welche in diesem Falle die Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen übt. Dagegen Gleichheit der Rechte fordern, wie es die Sozialisten der unterworfenen Kaste tun, ist nimmermehr der Ausfluß der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. – Wenn man der Bestie blutige Fleischstücke aus der Nähe zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich brüllt: meint ihr, daß dies Gebrüll Gerechtigkeit bedeute?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 268

Besitz und Gerechtigkeit. – Wenn die Sozialisten nachweisen, daß die Eigentums-Verteilung in der gegenwärtigen Menschheit die Konsequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die Verpflichtung gegen etwas so unrecht Begründetes ablehnen: so sehen sie nur etwas einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Kultur ist auf Gewalt, Sklaverei, Betrug, Irrtum aufgebaut; wir können aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die Konkreszenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdekretieren und dürfen nicht ein einzelnes Stück herausziehn wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgendwann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue Verteilungen sondern allmähliche Umschaffungen des Sinnes tun not, die Gerechtigkeit muß in allen größer werden, der gewalttätige Instinkt schwächer.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 269

Politischer Wert der Vaterschaft. – Wenn der Mensch keine Söhne hat, so hat er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen Staatswesens mitzureden. Man muß selber mit den anderen sein Liebstes daran gewagt haben: das erst bindet an den Staat fest; man muß das Glück seiner Nachkommen ins Auge fassen, also vor allem Nachkommen haben, um an allen Institutionen und deren Veränderung rechten, natürlichen Anteil zu nehmen. Die Entwicklung der höheren Moral hängt daran, daß einer Söhne hat; dies stimmt ihn unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach und läßt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge hinaus mit Ernst verfolgen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 270-271

Ahnenstolz. – Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater herauf darf man mit Recht stolz sein – nicht aber auf die Reihe; denn diese hat jeder. Die Herkunft von guten Ahnen macht den echten Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener Kette, ein böser Vorfahr also, hebt den Geburtsadel auf. Man soll jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewalttätigen, habsüchtigen, ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter deinen Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein antworten, so bewerbe man sich um seine Freundschaft.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 271

Fürst und Gott. – Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwächer geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen überhaupt. Der Kultus des Genius ist ein Nachklang dieser Götter-Fürsten-Verehrung. Überall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Übermenschliche hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 273

Meine Utopie. – In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Not des Lebens dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfsten, und so schrittweise aufwärts bis zu dem, welcher für die höchsten sublimiertesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten ist und deshalb selbst noch bei der größten Erleichterung des Lebens leidet.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 274

Ein Wahn in der Lehre vom Umsturz. – Es gibt politische und soziale Phantasten, welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auffordern, in dem Glauben, daß dann sofort das stolzeste Tempelhaus schönen Menschentums gleichsam von selbst sich erheben werde. In diesen gefährlichen Träumen klingt noch der Aberglaube Rousseaus nach, welcher an eine wundergleiche ursprüngliche, aber gleichsam verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Kultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimißt. Leider weiß man aus historischen Erfahrungen, daß jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst begrabenen Furchtbarkeiten und Maßlosigkeiten fernster Zeitalter von neuem zur Auferstehung bringt: daß also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer matt gewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur. – Nicht Voltaires maßvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zugeneigte Natur, sondern Rousseaus leidenschaftliche Torheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: »Écrasez l'infâme!« Durch ihn ist der Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwicklung auf lange verscheucht worden: sehen wir zu – ein jeder bei sich selber – ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen!“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 274

„Die Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschäfte in sich hinein: selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens übrigbleibt (jene Tätigkeit zum Beispiel, welche die Privaten gegen die Privaten sicherstellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden. Die Mißachtung, der Verfall und der Tod des Staates, die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen: des Individuums) ist die Konsequenz des demokratischen Staatsbegriffs; hier liegt seine Mission. Hat er seine Aufgabe erfüllt – die wie alles Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im Schoße trägt –, sind alle Rückfälle der alten Krankheit überwunden, so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen wird.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 280

„Um das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlichen Regierung und das Interesse der Religion gehen miteinander Hand in Hand, so daß, wenn letztere abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschüttert wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet die Religion, so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in der Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne Demokratie ist die historische Form vom Verfall des Staates.
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 280-281

„Die Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergibt, ist aber nicht in jedem Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmäßigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen. Wie manche organisierende Gewalt hat die Menschheit schon absterben sehen: – zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mächtiger war als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit wie römisches Wesen reichte, die Herrschaft besaß immer blasser und ohnmächtiger werden. So wird ein späteres Geschlecht auch den Staat in einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden sehen – eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken können. An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu arbeiten, ist freilich ein ander Ding: man muß sehr anmaßend von seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb verstehen, um schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, – während noch niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Vertrauen wir also »der Klugheit und dem Eigennutz der Menschen«, daß jetzt noch der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden!“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 281

Der Sozialismus in Hinsicht auf seine Mittel. – Der Sozialismus ist der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande reaktionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmäßiges Organ des Gemeinwesens umgebessert werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der Nähe aller exzessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Sozialist Plato am Hofe des sizilischen Tyrannen; er wünscht (und befördert unter Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber selbst diese Erbschaft würde für seine Zwecke nicht ausreichen, er braucht die alleruntertänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staat, wie niemals etwas Gleiches existiert hat; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät gegen den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkürlich fortwährend arbeiten muß – nämlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden Staaten arbeitet –, so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äußersten Terrorismus, hier und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. Deshalb bereitet er sich im stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt den halbgebildeten Massen das Wort »Gerechtigkeit« wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen für das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu schaffen. – Der Sozialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren und insofern vor dem Staate selbst Mißtrauen einzuflößen. Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei: »so viel Staat wie möglich« einfällt, so wird dieses zunächst dadurch lärmender als je: aber bald dringt auch das entgegengesetzte mit um so größerer Kraft hervor: »so wenig Staat wie möglich«.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 281-282

Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen. – Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Kultur, das schnelle Wechseln von Haus und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer – diese Umstände bringen notwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so daß aus ihnen allen, infolge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muß.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 283-284

Gerecht sein wollen und Richter sein wollen. – Schopenhauer, dessen große Kennerschaft für Menschliches und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher Tatsachen-Sinn nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik beeinträchtigt worden ist (welches man ihm erst abziehen muß, um ein wirkliches Moralisten-Genie darunter zu entdecken) – Schopenhauer macht jene treffliche Unterscheidung, mit der er viel mehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen durfte: »die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Grenzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den andern scheidet.« Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten offen stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurteil entgegen, welches er mit den moralischen Menschen (nicht mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos und gläubig so ausspricht: »der letzte und wahre Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muß notwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns« – was eben durchaus nicht »notwendig« ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengen Notwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heißt der unbedingten Willens-Unfreiheit und – Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von den andern durch den Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden: und das dürfte eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit die so beklagte Kluft zwischen »Gebildet« und »Ungebildet«, wie sie jetzt existiert, kaum einen Begriff gibt. Freilich muß noch manche Hintertür, welche sich die »philosophischen Köpfe«, gleich Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden: keine führt ins Freie, in die Luft des freien Willens; jede, durch welche man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer des Fatums: wir sind im Gefängnis, frei können wir uns nur träumen, nicht machen. Daß dieser Erkenntnis nicht lange mehr widerstrebt werden kann, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen. – So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu: »also kein Mensch verantwortlich? Und alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer muß doch der Sünder sein: ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den einzelnen, die arme Welle im notwendigen Wellenspiele des Werdens anzuklagen und zu richten – nun denn: so sei das Wellenspiel selbst, das Wer den, der Sünder: hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurteilt, gebüßt und gesühnt werden: so sei Gott der Sünder und der Mensch sein Erlöser: so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurteilung und Selbstmord; so werde der Missetäter zum eigenen Richter, der Richter zum eigenen Henker.« – Dieses auf den Kopf gestellte Christentum – was ist es denn sonst? – ist der letzte Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten Moralität mit der von der unbedingten Unfreiheit – ein schauerliches Ding, wenn es mehr wäre als eine logische Grimasse, mehr als eine häßliche Gebärde des unterliegenden Gedankens – etwa der Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen Herzens, dem der Wahnsinn zuflüstert: »Siehe, du bist das Lamm, das Gottes Sünde trägt.« – Der Irrtum steckt nicht nur im Gefühle »ich bin verantwortlich«, sondern ebenso in jenem Gegensatze »ich bin es nicht, aber irgendwer muß es doch sein«. – Dies ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, »richtet nicht!«, und der letzte Unterschied zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, daß die ersten gerecht sein wollen, die andern Richter sein wollen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 359-361

Macht ohne Siege. – Die stärkste Erkenntnis (die von der völligen Unfreiheit des menschlichen Willens) ist doch die ärmste an Erfolgen: denn sie hat immer den stärksten Gegner, die menschliche Eitelkeit.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 365

Äußerstes Herostratentum. – Es könnte Herostrate geben, welche den eignen Tempel anzündeten, in dem ihre Bilder verehrt werden.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 369

Aus dem Traume deuten. – Was man mitunter im Wachen nicht genau weiß und fühlt – ob man gegen eine Person ein gutes oder ein schlechtes Gewissen habe – darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 372

Die Sitte und ihr Opfer. – Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurück: »die Gemeinde ist mehr wert als der einzelne« und »der dauernde Vorteil ist dem flüchtigen vorzuziehen«; woraus sich der Schluß ergibt, daß der dauernde Vorteil der Gemeinde unbedingt dem Vorteile des einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden Vorteile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der einzelne von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkümmre, ihretwegen zugrunde gehe – die Sitte muß erhalten, das Opfer gebracht werden. Eine solche Gesinnung entsteht aber nur in denen, welche nicht das Opfer sind – denn dieses macht in seinem Falle geltend, daß der einzelne mehr wert sein könne als viele, ebenso daß der gegenwärtige Genuß, der Augenblick im Paradiese vielleicht höher anzuschlagen sei als eine matte Fortdauer von leidlosen oder wohlhäbigen Zuständen. Die Philosophie des Opfertiers wird aber immer zu spät laut: und so bleibt es bei der Sitte und der Sittlichkeit: als welche eben nur die Empfindung für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter denen man lebt und erzogen wurde – und zwar erzogen nicht als einzelner, sondern als Glied eines Ganzen, als Ziffer einer Majorität. – So kommt es fortwährend vor, daß der einzelne sich selbst, vermittelst seiner Sittlichkeit, majorisiert.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 374-375

Von der Zukunft des Christentums. – Über das Verschwinden des Christentums und darüber, in welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann man sich eine Vermutung gestatten, wenn man erwägt, aus welchen Gründen und wo der Protestantismus so ungestüm um sich griff. Er verhieß bekanntlich alles dasselbe weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Üppigkeit; er verbreitete sich namentlich bei den nördlichen Nationen, welche nicht so tief in der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt waren als die des Südens: bei diesen lebte ja im Christentum das viel mächtigere religiöse Heidentum fort, während im Norden das Christentum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und deshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig von Anfang an war, eben deshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und trotziger. Gelingt es, vom Gedanken aus das Christentum zu entwurzeln, so liegt auf der Hand, wo es anfangen wird, zu verschwinden: also gerade dort, wo es auch am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert werden, aber wieder Blätter ansetzen – weil dort die Sinne und nicht die Gedanken für dasselbe Partei genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch den Glauben unterhalten, daß mit allem Kostenaufwand der Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirtschaftet werde als mit den strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn: denn welches Preises hält man die Muße (oder die halbe Faulheit) für wert, wenn man sich erst an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden gegen eine entchristlichte Welt ein, daß in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der Ertrag an Muße zu klein sei: sie nehmen die Partei der Magie, das heißt – sie lassen lieber Gott für sich arbeiten (oremus nos, deus laboret!).“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 378-379

Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ungläubigen. – Es gibt kein Buch, welches das, was jedem Menschen gelegentlich wohltut, – schwärmerische, opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und Schauen seiner »Wahrheit« – so reichlich enthielte, so treuherzig ausdrückte als das Buch, welches von Christus redet: aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, alles als gefunden, nichts als kommend und ungewiß hinzustellen. Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei und um die hier leuchtende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftig sichtbare Gestirn drehen müsse. – Muß also nicht aus demselben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes rein wissenschaftliche Buch wirkungsarm sein? Ist es nicht verurteilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältnis zu dem, was die Religiösen von ihrem »Wissen«, von ihrem »heiligen« Geiste verkünden, nicht alle Redlichen der Wissenschaft »arm im Geiste«? Kann irgendeine Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen aus sich hinausziehen als die Wissenschaft? – – So und ähnlich und jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen wir reden, wenn wir uns vor den Gläubigen zu verteidigen haben; denn es ist kaum möglich, eine Verteidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. Unter uns aber muß die Sprache ehrlicher sein: wir bedienen uns da einer Freiheit, welche jene nicht einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der Kapuze der Entsagung! der Miene der Demut! Viel mehr und viel besser: so klingt unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der Erkenntnis, an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntnis hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleißige Ich, sehr viel in der Republik der Wissenschafts-Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden, Freude solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen Ruhm und eine mäßige Unsterblichkeit der Person ist der erreichbare Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die meisten den Gesetzen jener Republik und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören pflegen. Wenn wir nicht in irgendeinem Maße unwissenschaftliche Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen! Alles in allem genommen und rund glatt und voll ausgesprochen: für ein rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig. – Von den Frommen und Gläubigen unterscheidet uns nicht die Qualität, sondern die Quantität Glaubens und Frommseins; wir sind mit wenigerem zufrieden. Aber, werden jene uns zurufen – so seid auch zufrieden und gebt euch auch als zufrieden! – worauf wir leicht antworten dürften: »In der Tat, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten. Ihr aber, wenn euer Glaube euch selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem Glauben schädlicher gewesen als unsere Gründe! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch ins Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Werke, eure Handlungen sollten die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie des Christentums ihre Wurzel in eurem Unchristentum; mit eurer Verteidigung schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet ihr aber wünschen, aus diesem eurem Ungenügen am Christentum herauszukommen, so bringt euch doch die Erfahrung von zwei Jahrtausenden zur Erwägung: welche, in bescheidene Frageform gekleidet, so klingt: »wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht mißlungen sein?«“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 4379-381

Der Dichter als Wegzeiger für die Zukunft. – So viel noch überschüssige dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Abzug, einem Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft: – und dies nicht in dem Verstande, als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne große Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid, die Zukunft schaffen hilft. Dichtungen solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, daß sie gegen die Luft und Glut der Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt erschienen: der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisierende Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maß in den Personen und deren Handlungen: ein geebneter Boden, welcher dem Fuße Ruhe und Lust gibt: ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaßung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend: – dies alles wäre das Umschließende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt erst die zarten Unterschiede der verkörperten Ideale das eigentliche Gemälde – das der immer wachsenden menschlichen Hoheit – machen würden. – Von Goethe aus führt mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft: aber es bedarf guter Pfadfinder und vor allem einer weit größern Macht, als die jetzigen Dichter, das heißt die unbedenklichen Darsteller des Halbtiers und der mit Kraft und Natur verwechselten Unreife und Unregelmäßigkeit, besitzen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 381-382

Stil der Überladung. – Der überladene Stil in der Kunst ist die Folge einer Verarmung der organisierenden Kraft bei verschwenderischem Vorhandensein von Mitteln und Absichten. – In den Anfängen der Kunst findet sich mitunter das gerade Gegenstück dazu.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 389

Wie nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll. – Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als »unendliche Melodie« bezeichnet wird, kann man sich dadurch klarmachen, daß man ins Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergibt: man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik mußte man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wider, Schneller und Langsamer, tanzen: wobei das hierzu nötige Maß, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges, welcher von der Besonnenheit herkam, und des durchwärmten Atems musikalischer Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik. – Richard Wagner wollte eine andere Art Bewegung der Seele, welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht ist dies das Wesentlichste seiner Neuerungen. Sein berühmtes Kunstmittel, diesem Wollen entsprungen und angepaßt – die »unendliche Melodie« – bestrebt sich, alle mathematische Zeit- und Kraft-Ebenmäßigkeit zu brechen, mitunter selbst zu verhöhnen; und er ist überreich in der Erfindung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Kristallisation, den Übergang der Musik in das Architektonische – und so stellt er dem zweitaktigen Rhythmus einen dreitaktigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und Siebentakt ein, wiederholt dieselbe Phrase sofort, aber mit einer Dehnung, daß sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer bequemen Nachahmung solcher Kunst kann eine große Gefahr für die Musik entstehen: immer hat neben der Überreife des rhythmischen Gefühls die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr groß wird zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt, welche in sich kein Maß hat und dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem allzuweiblichen Wesen der Musik, auch kein Maß mitzuteilen vermag.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 395-396

Vom Barockstile. – Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik und Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren oder erzogen weiß, wird unwillkürlich nach dem Rhetorischen und Dramatischen greifen: denn zuletzt kommt es ihm darauf an, sich verständlich zu machen und dadurch Gewalt zu gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade zu sich leitet oder unversehens überfällt – als Hirt oder als Räuber. Dies gilt auch in den bildenden wie musischen Künsten; wo das Gefühl mangelnder Dialektik oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit einem überreichen, drängen den Formentriebe, jene Gattung des Stiles zutage fördert, welche man Barockstil nennt. – Nur die Schlechtunterrichteten und Anmaßenden werden übrigens bei diesem Wort sogleich eine abschätzige Empfindung haben. Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder großen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des klassischen Ausdrucks allzu groß geworden sind, als ein Natur-Ereignis, dem man wohl mit Schwermut – weil es der Nacht voranläuft – zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigentümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung. Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und Vorwürfen höchster dramatischer Spannung, bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel und Hölle der Empfindung allzu nah sind: dann die Beredsamkeit der starken Affekte und Gebärden, des Häßlich-Erhabenen, der großen Massen, überhaupt der Quantität an sich – wie dies sich schon bei Michelangelo, dem Vater oder Großvater der italienischen Barockkünstler ankündigt –: die Dämmerungs–, Verklärungs- oder Feuersbrunstlichter auf so starkgebildeten Formen: dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten, vom Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen, während der Laie wähnen muß, das beständige unfreiwillige Überströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst zu sehen: diese Eigenschaften alle, in denen jener Stil seine Größe hat, sind in den früheren, vorklassischen und klassischen Epochen einer Kunstart nicht möglich, nicht erlaubt: solche Köstlichkeiten hängen lange als verbotene Früchte am Baume. – Gerade jetzt, wo die Musik in diese letzte Epoche übergeht, kann man das Phänomen des Barockstils in einer besondern Pracht kennenlernen und vieles durch Vergleichung daraus für frühere Zeiten lernen: denn es hat von den griechischen Zeiten ab schon oftmals einen Barockstil gegeben, in der Poesie, Beredsamkeit, im Prosastile, in der Skulptur ebensowohl als bekanntermaßen in der Architektur – und jedesmal hat dieser Stil, ob es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen, unbewußten, sieghaften Vollkommenheit gebricht, auch vielen von den Besten und Ernstesten seiner Zeit wohlgetan: – weshalb es, wie gesagt, anmaßend ist, ohne weiteres ihn abschätzig zu beurteilen; so sehr sich jeder glücklich preisen darf, dessen Empfindung durch ihn nicht für den reineren und größeren Stil unempfänglich gemacht wird.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 398-399

Schärfste Kritik. – Man kritisiert einen Menschen, ein Buch am schärfsten, wenn man das Ideal desselben hinzeichnet.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 403

Zugunsten der Kritiker. – Die Insekten stechen, nicht aus Bosheit, sondern weil sie auch leben wollen: ebenso unsere Kritiker; sie wollen unser Blut, nicht unseren Schmerz.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 405

„Die Musik ist eben nicht eine allgemeine überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls–, Wärme- und Zeitmaß, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Kultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik Palestrinas würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum – was würde Palestrina bei der Musik Rossinis hören? – Vielleicht, daß auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Kultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reaktions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholizismus des Gefühls wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Urwesen zur Blüte kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoß: welche beide Richtungen des Empfindens, in größter Stärke erfaßt und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerschen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagners Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden – welche eigentlich souveräne Raubtiere sind, mit Anwandlungen von Tiefsinn, Großherzigkeit und Lebensüberdruß –, die Neubeseelung dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab, dieses ganze Wagnerische Nehmen und Geben in Hinsicht auf Stoffe, Seelen, Gestalten und Worte spricht deutlich auch den Geist seiner Musik aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich selber nicht völlig unzweideutig zu reden vermöchte: dieser Geist führt den allerletzten Kriegs- und Reaktionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, ebenso gegen die übernationalen Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft. – Ist es aber nicht ersichtlich, daß die hier – bei Wagner selbst und seinem Anhange – noch zurückgedrängt erscheinenden Gedanken- und Empfindungskreise längst von neuem wieder Gewalt bekommen haben, und daß jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören? so daß eines Tages jene wunderbare und hohe Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und sich Spinnweben und Vergessenheit über sie legen könnten. – Man darf sich über diese Sachlage nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als Reaktion innerhalb der Reaktion, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellenbergs inmitten der gesamten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrzehnt der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums und der sozialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie verhelfen – ohne ihr damit die Bürgschaft dafür zu geben, daß sie »Zukunft habe«, oder gar, daß sie die Zukunft habe. – Es liegt im Wesen der Musik, daß die Früchte ihrer großen Kultur-Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben als die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntnis gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich Gedanken das Dauerhafteste und Haltbarste.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 410-411

Vor- und Rückblick. – Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe ausströmt, als Überschuß einer weisen und harmonischen Lebensführung – das ist das Rechte, nach dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden sind: nicht jene barbarische, wenngleich noch so entzückende Aussprudelung hitziger und bunter Dinge aus einer ungebändigten, chaotischen Seele, welche wir früher als Jünglinge unter Kunst verstanden. Es begreift sich aber aus sich selber, daß für gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Überspannung, der Erregung, des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige, Einfache, Logische ein notwendiges Bedürfnis ist, welchem Künstler entsprechen müssen, damit die Seele solcher Lebenszeiten sich nicht auf anderem Weg, durch allerlei Unfug und Unart, entlade. So bedürfen die Jünglinge, wie sie meistens sind, voll, gärend, von nichts mehr als von der Langeweile gepeinigt, – so bedürfen Frauen, denen eine gute, die Seele füllende Arbeit fehlt, jener Kunst der entzückenden Unordnung. Um so heftiger noch entflammt sich ihre Sehnsucht nach einem Genügen ohne Wechsel, einem Glück ohne Betäubung und Rausch.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 412

Kunst und Restauration. – Die rückläufigen Bewegungen in der Geschichte, die sogenannten Restaurationszeiten, welche einem geistigen und gesellschaftlichen Zustand, der vor dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben zu geben suchen und denen eine kurze Toten-Erweckung auch wirklich zu gelingen scheint, haben den Reiz gemütvoller Erinnerung, sehnsüchtigen Verlangens nach fast Verlorenem, hastigen Umarmens von minutenlangem Glücke. Wegen dieser seltsamen Vertiefung der Stimmung finden gerade in solchen flüchtigen, fast traumhaften Zeiten Kunst und Dichtung einen natürlichen Boden: wie an steil absinkenden Bergeshängen die zartesten und seltensten Pflanzen wachsen. – So treibt es manchen guten Künstler unvermerkt zu einer Restaurations-Denkwei se in Politik und Gesellschaft, für welche er sich, auf eigene Faust, ein stilles Winkelchen und Gärtchen zurechtmacht: wo er dann die menschlichen Überreste jener ihn anheimelnden Geschichtsepoche um sich sammelt und vor lauter Toten, Halbtoten und Sterbensmüden sein Saitenspiel ertönen läßt, vielleicht mit dem erwähnten Erfolge einer kurzen Toten-Erweckung.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 415-416

Glück der Zeit. – In zwei Beziehungen ist unsere Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht auf die Vergangenheit genießen wir alle Kulturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten, wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoße jene geboren wurden, nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen zu können: während frühere Kulturen nur sich selber zu genießen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten Glocke überspannt waren, aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurchdrang. In Hinsicht auf die Zukunft erschließt sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlich-öku menischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewußt, diese neue Aufgabe ohne Anmaßung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben, jedenfalls gibt es niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will. – Es gibt freilich sonderbare Menschen-Bienen, welche aus dem Kelche aller Dinge immer nur das Bitterste und Ärgerlichste zu saugen verstehen; – und in der Tat, alle Dinge enthalten etwas von diesem Nicht-Honig in sich. Diese mögen über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in ihrer Art empfinden und an ihrem Bienen-Korb des Mißbehagens weiterbauen“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 416

Eine Vision. – Lehr- und Betrachtungsstunden für Erwachsene, Reife und Reifste, und diese täglich, ohne Zwang, aber nach dem Gebot der Sitte von jedermann besucht: die Kirchen als die würdigsten und erinnerungsreichsten Stätten dazu: gleichsam alltägliche Festfeiern der erreichten und erreichbaren menschlichen Vernunftwürde: ein neueres und volleres Auf-und Ausblühen des Lehrer-Ideals, in welches der Geistliche, der Künstler und der Arzt, der Wissende und der Weise hineinverschmelzen, wie deren Einzel-Tugenden als Gesamt-Tugend auch in der Lehre selber, in ihrem Vortrag, ihrer Methode zum Vorschein kommen müßten, – dies ist meine Vision, die mir immer wiederkehrt und von der ich fest glaube, daß sie einen Zipfel des Zukunfts-Schleiers gehoben hat.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 417

Die alte Welt und die Freude. – Die Menschen der alten Welt wußten sich besser zu freuen: wir, uns weniger zu betrüben; jene machten immerfort neue Anlässe, sich wohl zu fühlen und Feste zu feiern, ausfindig, mit allem ihrem Reichtum von Scharfsinn und Nachdenken: während wir unsern Geist auf Lösung von Aufgaben verwenden, welche mehr die Schmerzlosigkeit, die Beseitigung von Unlustquellen im Auge haben. In betreff des leidenden Daseins suchten die Alten zu vergessen oder die Empfindung ins Angenehme irgendwie umzubiegen: so daß sie hierin palliativisch zu helfen suchten, während wir den Ursachen des Leidens zu Leibe gehen und im ganzen lieber prophylaktisch wirken. – Vielleicht bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere Menschen auch wieder den Tempel der Freude errichten.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 420

Drei Denker gleich einer Spinne. – In jeder philosophischen Sekte folgen drei Denker in diesem Verhältnisse aufeinander: der erste erzeugt aus sich den Saft und Samen, der zweite zieht ihn zu Fäden aus und spinnt ein künstliches Netz, der dritte lauert in diesem Netz auf Opfer, die sich hier verfangen – und sucht von der Philosophie zu leben.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 422

Freizügige Geister. – Wer von uns würde sich einen freien Geist zu nennen wagen, wenn er nicht auf seine Art jenen Männern, denen man diesen Namen als Schimpf anhängt, eine Huldigung darbringen möchte, indem er etwas von jener Last der öffentlichen Mißgunst und Beschimpfung auf seine Schultern ladet? Wohl aber dürften wir uns »freizügige Geister« in allem Ernste (und ohne diesen hoch- oder großmütigen Trotz) nennen, weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen und im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellekten unser Ideal fast in einem geistigen Nomadentum sehen – um einen bescheidenen und fast abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 426-427

„Die Gefahr eines Rückfalls ins Asiatische schwebte immer über den Griechen, und wirklich kam es von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit und Finsternis.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 430

Das eigentlich Heidnische. – Vielleicht gibt es nichts Befremdenderes für den, welcher sich die griechische Welt ansieht, als zu entdecken, daß die Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staats wegen einrichteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christentume aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das Härteste bekämpft und verachtet. – Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Kultus zu geben: ja alles, was im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaßregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluß geben zu können. Dies ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit des Altertums. Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Tierisch-Rückständigen ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mäßige Entladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung. Das ganze System solcher Ordnungen umfaßte der Staat, der nicht auf einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften hin konstruiert war. In seinem Bau zeigen die Griechen jenen wunderbaren Sinn für das Typisch-Tatsächliche, der sie später befähigte, Naturforscher, Historiker, Geographen und Philosophen zu werden. Es war nicht ein beschränktes priesterliches oder kastenmäßiges Sittengesetz, welches bei der Verfassung des Staates und Staats-Kultus zu entscheiden hatte: sondern die umfänglichste Rücksicht auf die Wirklichkeit alles Menschlichen. – Woher haben die Griechen diese Freiheit, diesen Sinn für das Wirkliche? Vielleicht von Homer und den Dichtern vor ihm; denn gerade die Dichter, deren Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein pflegt, besitzen dafür jene Lust am Wirklichen, Wirkenden jeder Art und wollen selbst das Böse nicht völlig verneinen: es genügt ihnen, daß es sich mäßige und nicht alles totschlage oder innerlich giftig mache – das heißt, sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner und sind deren Lehrmeister und Wegebahner gewesen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 430-431

Ausnahme-Griechen. – In Griechenland waren die tiefen, gründlichen, ernsten Geister die Ausnahme: der Instinkt des Volkes ging vielmehr dahin, das Ernste und Gründliche als eine Art von Verzerrung zu empfinden. Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen, aber zum schönsten Schein umbilden – das ist griechisch: nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zur künstlerischen Täuschung, über den aufgezwungenen Ernst immer wieder Herr werden, ordnen, verschönern, verflachen – so geht es fort von Homer bis zu den Sophisten des dritten und vierten Jahrhunderts der neuen Zeitrechnung, welche ganz Außenseite, pomphaftes Wort, begeisterte Gebärde sind und sich an lauter ausgehöhlte schein–, klang-und effekt-lüsterne Seelen wenden. – Und nun würdige man die Größe jener Ausnahme-Griechen, welche die Wissenschaft schufen! Wer von ihnen erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen Geistes!“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 431-432

Das Einfache nicht das erste, noch das letzte der Zeit nach. – In die Geschichte der religiösen Vorstellungen wird viel falsche Entwicklung und Allmählichkeit hineingedichtet, bei Dingen, die in Wahrheit nicht aus- und hintereinander, sondern nebeneinander und getrennt aufgewachsen sind; namentlich ist das Einfache viel zu sehr noch im Rufe, das Älteste und Anfänglichste zu sein. Nicht wenig Menschliches entsteht durch Subtraktion und Division und gerade nicht durch Verdopplung, Zusatz, Zusammenbildung. – Man glaubt zum Beispiel immer noch an eine allmähliche Entwicklung der Götterdarstellung von jenen ungefügen Holzklötzen und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf: und doch steht es gerade so, daß, solange die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine, Tiere hineinverlegt und empfunden wurde, man sich vor einer Anmenschlichung ihrer Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute. Erst die Dichter haben, abseits vom Kultus und dem Banne der religiösen Scham, die innere Phantasie der Menschen daran gewöhnen, dafür willig machen müssen: überwogen aber wieder frömmere Stimmungen und Augenblicke, so trat dieser befreiende Einfluß der Dichter wieder zurück und die Heiligkeit verblieb nach wie vor auf seiten des Ungetümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich Unmenschlichen. Selbst aber vieles von dem, was die innere Phantasie sich zu bilden wagt, würde doch noch, in äußere leibhafte Darstellung übersetzt, peinlich wirken: das innere Auge ist um vieles kühner und weniger schamhaft als das äußere (woraus sich die bekannte Schwierigkeit und teilweise Unmöglichkeit ergibt, epische Stoffe in dramatische umzuwandeln). Die religiöse Phantasie will lange Zeit durchaus nicht an die Identität des Gottes mit einem Bilde glauben: das Bild soll das numen der Gottheit in irgendeiner geheimnisvollen, nicht völlig auszudenkenden Weise hier als tätig, als örtlich gebannt erscheinen lassen. Das älteste Götterbild soll den Gott bergen und zugleich verbergen – ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein Grieche hat je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros als Steinklumpen angeschaut; es waren Symbole, welche gerade Angst vor der Veranschaulichung machen sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern, denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Überzahl, angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo vier Hände und vier Ohren hatte. In dem Unvollständigen, Andeutenden oder Übervollständigen liegt eine grausenhafte Heiligkeit, welche abwehren soll, an Menschliches, Menschenartiges zu denken. Es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, in der man so etwas bildet: als ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht hätte deutlicher reden, sinnfälliger darstellen können. Vielmehr scheut man gerade eines: das direkte Heraussagen. Wie die Cella das Allerheiligste, das eigentliche numen der Gottheit birgt und in geheimnisvolles Halbdunkel versteckt, doch nicht ganz; wie wiederum der peripterische Tempel die Cella birgt, gleichsam mit einem Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt, aber nicht ganz: so ist das Bild die Gottheit und zugleich Versteck der Gottheit. – Erst als außerhalb des Kultus, in der profanen Welt des Wettkampfes, die Freude an dem Sieger im Kampfe so hoch gestiegen war, daß die hier erregten Wellen in den See der religiösen Empfindung hinüberschlugen, erst als das Standbild des Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und der fromme Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig sein Auge wie seine Seele an diesen unumgänglichen Anblick menschlicher Schönheit und Überkraft gewöhnen mußte, so daß, bei der räumlichen und seelischen Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung ineinander überklangen: da erst verliert sich auch die Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des Götterbildes, und der große Tummelplatz für die große Plastik wird aufgetan: auch jetzt noch mit der Beschränkung, daß überall, wo angebetet werden soll, die uralte Form und Häßlichkeit bewahrt und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der weihende und schenkende Hellene darf seiner Lust, Gott Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit nachhängen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 432-434

Wohin man reisen muß. – Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht lange nicht aus, um sich kennenzulernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja nichts als das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluß unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklits Satz: man steigt nicht zweimal in denselben Fluß. – Das ist eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden, aber trotzdem ebenso kräftig und wahrhaft geblieben ist, wie sie es je war: ebenso wie jene, daß, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Überreste geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse – daß man reisen müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen – diese sind ja nur festgewordene ältere Kulturstufen, auf die man sich stellen kann –, zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften, namentlich dorthin, wo der Mensch das Kleid Europas ausgezogen oder noch nicht angezogen hat. Nun gibt es aber noch eine feinere Kunst und Absicht des Reisens, welche es nicht immer nötig macht, von Ort zu Ort und über Tausende von Meilen hin den Fuß zu setzen. Es leben sehr wahrscheinlich die letzten drei Jahrhunderte in allen ihren Kulturfärbungen und -strahlenbrechungen auch in unsrer Nähe noch fort: sie wollen nur entdeckt werden. In manchen Familien, ja in einzelnen Menschen liegen die Schichten schön und übersichtlich noch übereinander: anderswo gibt es schwieriger zu verstehende Verwerfungen des Gesteins. Gewiß hat sich in abgelegenen Gegenden, in weniger bekannten Gebirgstälern, umschlossenern Gemeinwesen ein ehrwürdiges Musterstück sehr viel älterer Empfindung leichter erhalten können und muß hier aufgespürt werden: während es zum Beispiel unwahrscheinlich ist, in Berlin, wo der Mensch ausgelaugt und abgebrüht zur Welt kommt, solche Entdeckungen zu machen. Wer, nach langer Übung in dieser Kunst des Reisens, zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird seine Jo – ich meine sein ego – endlich überall hinbegleiten und in Ägypten und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der wandernden oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge die Reise-Abenteuer dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken. – So wird Selbst-Erkenntnis zur All-Erkenntnis in Hinsicht auf alles Vergangene: wie, nach einer anderen, hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung und Selbsterziehung in den freiesten und weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung, in Hinsicht auf alles zukünftige Menschentum, werden könnte.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 434-435

Balsam und Gift. – Man kann es nicht gründlich genug erwägen: das Christentum ist die Religion des altgewordenen Altertums, seine Voraussetzung sind entartete alte Kulturvölker; auf diese vermochte und vermag es wie ein Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo die Ohren und Augen »voller Schlamm« sind, so daß sie die Stimme der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen, die leibhaft wandelnde Weisheit, trage sie nun den Namen Epiktet oder Epikur, nicht mehr zu sehen vermögen: da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz und die »Posaune des jüngsten Gerichts« wirken, um solche Völker noch zu einem anständigen Ausleben zu bewegen. Man denke an das Rom Juvenals, an diese Giftkröte mit den Augen der Venus: – da lernt man, was es heißt, ein Kreuz vor der »Welt« schlagen, da verehrt man die stille christliche Gemeinde und ist dankbar für ihr Überwuchern des griechisch-römischen Erdreichs. Wenn die meisten Menschen damals gleich mit der Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden: welche Wohltat, jenen Wesen zu begegnen, die mehr Seelen als Leiber waren und welche die griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen schienen: scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das »bessere Leben« und dadurch so anspruchslos, so still-verachtend, so stolz-geduldig geworden! – Dies Christentum als Abendläuten des guten Altertums, mit zersprungener, müder und doch wohltönender Glocke, ist selbst noch für den, welcher jetzt jene Jahrhunderte nur historisch durchwandert, ein Ohrenbalsam: was muß es für jene Menschen selber gewesen sein! – Dagegen ist das Christentum für junge, frische Barbarenvölker Gift; in die Helden–, Kinder- und Tierseele des alten Deutschen zum Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammnis hineinpflanzen, heißt nichts anderes als sie vergiften; eine ganz ungeheuerliche chemische Gärung und Zersetzung, ein Durcheinander von Gefühlen und Urteilen, ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten mußte die Folge sein und also, im weiteren Verlaufe, eine gründliche Schwächung solcher Barbarenvölker. – Freilich: was hätten wir, ohne diese Schwächung, noch von der griechischen Kultur! was von der ganzen Kultur-Vergangenheit des Menschengeschlechts! – denn die vom Christentume unangetasteten Barbaren verstanden gründlich mit alten Kulturen aufzuräumen: wie es zum Beispiel die heidnischen Eroberer des romanisierten Britannien (erst keltisch [also: heidnisch], dann romanisiert [also: römisch-»zivilisiert«], dann germanisch [also: heidnisch]; HB) mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen haben. Das Christentum hat wider seinen Willen helfen müssen, die antike »Welt« unsterblich zu machen. – Nun bleibt auch hier wieder eine Gegenfrage und die Möglichkeit einer Gegenrechnung übrig: wäre vielleicht, ohne jene Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder die andere jener frischen Völkerschaften, etwa die deutsche, imstande gewesen, allmählich von selber eine höhere Kultur zu finden, eine eigene, neue? (JA, MÖGLCHERWEISE [!]; HB) – von welcher somit der Menschheit selbst der entfernteste Begriff verlorengegangen wäre? – So steht es auch hier wie überall: man weiß nicht, christlich zu reden, ob Gott dem Teufel oder der Teufel Gott mehr Dank dafür schuldig ist, daß alles so gekommen ist, wie es ist.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 435-437

Glaube macht selig und verdammt. – Ein Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge gerät, könnte sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich nötig, daß es einen Gott, nebst einem stellvertretenden Sündenlamme, wirklich gibt, wenn schon der Glaube an das Dasein dieser Wesen ausreicht, um die gleichen Wirkungen hervorzubringen? Sind es nicht überflüssige Wesen, falls sie doch existieren sollten? Denn alles Wohltuende, Tröstliche, Versittlichende, ebenso wie alles Verdüsternde und Zermalmende, welches die christliche Religion der menschlichen Seele gibt, geht von jenem Glauben aus und nicht von den Gegenständen jenes Glaubens. Es steht hier nicht anders als bei dem bekannten Falle: zwar hat es keine Hexen gegeben, aber die furchtbaren Wirkungen des Hexenglaubens sind dieselben gewesen, wie wenn es wirklich Hexen gegeben hätte. Für alle jene Gelegenheiten, wo der Christ das unmittelbare Eingreifen eines Gottes erwartet, aber umsonst erwartet – weil es keinen Gott gibt, ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten und Gründen zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion. – Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, obschon dies - ich weiß nicht wer - behauptet hat; aber er vermag Berge dorthin zu setzen, wo keine sind.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 437

Tragikomödie von Regensburg. – Hier und da kann man mit einer schreckenden Deutlichkeit das Possenspiel der Fortuna sehen, wie sie an wenig Tage, an einen Ort, an die Zustände und Meinungen eines Kopfes das Seil der nächsten Jahrhunderte anknüpft, an dem sie diese tanzen lassen will. So liegt das Verhängnis der neueren deutschen Geschichte in den Tagen jener Disputation von Regensburg: der friedliche Ausgang der kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege, Gegenreformation, schien gewährleistet, ebenso die Einheit der deutschen Nation; der tiefe milde Sinn des Contarini schwebte einen Augenblick über dem theologischen Gezänk, siegreich, als Vertreter der reiferen italienischen Frömmigkeit, welche die Morgenröte der geistigen Freiheit auf ihren Schwingen widerstrahlte. Aber der knöcherne Kopf Luthers, voller Verdächtigungen und unheimlicher Ängste, sträubte sich: weil die Rechtfertigung durch die Gnade ihm als sein größter Fund und Wahlspruch erschien, glaubte er diesem Satze nicht im Munde von Italienern: während diese ihn, wie es bekannt ist, schon viel früher gefunden und durch ganz Italien in tiefer Stille verbreitet hatten. Luther sah in dieser scheinbaren Übereinstimmung die Tücken des Teufels und verhinderte das Friedenswerk, so gut er konnte: wodurch er die Absichten der Feinde des Reiches ein gutes Stück vorwärts brachte. – Und nun nehme man, um den Eindruck des schauerlich Possenhaften noch mehr zu haben, hinzu, daß keiner der Sätze, über welche man sich damals in Regensburg stritt, weder der von der Erbsünde, noch der von der Erlösung durch Stellvertretung, noch der von der Rechtfertigung im Glauben, irgendwie wahr ist, oder auch nur mit der Wahrheit zu tun hat, daß sie alle jetzt als undiskutierbar erkannt sind: – und doch wurde darüber die Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten entsprechen; während in betreff von rein philologischen Fragen, zum Beispiel nach der Erklärung der Einsetzungs-Worte des Abendmahls, doch wenigstens ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden kann. Aber wo nichts ist, da hat auch die Wahrheit ihr Recht verloren. – Zuletzt bleibt nichts übrig zu sagen, als daß damals allerdings Kraftquellen entsprungen sind, so mächtig, daß ohne sie alle Mühlen der modernen Welt nicht mit gleicher Stärke getrieben würden. Und erst kommt es auf Kraft an, dann erst auf Wahrheit, oder auch dann noch lange nicht – nicht wahr, meine lieben Zeitgemäßen?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 438-439

Goethes Irrungen. – Goethe ist darin die große Ausnahme unter den großen Künstlern, daß er nicht in der Borniertheit seines wirklichen Vermögens lebte, als ob dasselbe an ihm selber und für alle Welt das Wesentliche und Auszeichnende, das Unbedingte und Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas Höheres zu besitzen, als er wirklich besaß – und irrte sich, in der zweiten Hälfte seines Lebens, wo er ganz durchdrungen von der Überzeugung erscheint, einer der größten wissenschaftlichen Entdecker und Lichtbringer zu sein. Und ebenso schon in der ersten Hälfte seines Lebens: er wollte von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst ihm schien – und irrte sich schon darin. Die Natur habe aus ihm einen bildenden Künstler machen wollen – das war sein innerlich glühendes und versengendes Geheimnis, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er sich in diesem Wahne noch recht austobe und ihm jedes Opfer bringe. Endlich entdeckte er, der Besonnene, allem Wahnschaffnen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer Kobold von Begierde ihn zum Glauben an diesen Beruf gereizt habe, wie er von der größten Leidenschaft seines Wollens sich losbinden und Abschied nehmen müsse. Die schmerzlich schneidende und wühlende Überzeugung, es sei nötig, Abschied zu nehmen, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen: über ihm, dem »gesteigerten Werther«, liegt das Vorgefühl von Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich einer sagt: »nun ist es aus – nach diesem Abschiede; wie soll man weiterleben, ohne wahnsinnig zu werden!« – Diese beiden Grundirrtümer seines Lebens gaben Goethe angesichts einer rein literarischen Stellung zur Poesie, wie damals die Welt allein sie kannte, eine so unbefangene und fast willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehen von der Zeit, wo Schiller – der arme Schiller, der keine Zeit hatte und keine Zeit ließ – ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der Furcht vor allem literarischen Wesen und Handwerk heraustrieb, erscheint Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es nicht eine Göttin sei, der er keinen rechten Namen zu geben wisse. Allem seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der Plastik und der Natur an: die Züge dieser ihm vorschwebenden Gestalten – und er meinte vielleicht immer nur den Verwandlungen einer Göttin auf der Spur zu sein – wurden ohne Willen und Wissen die Züge sämtlicher Kinder seiner Kunst. Ohne die Umschweife des Irrtums wäre er nicht Goethe geworden: das heißt, der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet ist – weil er ebensowenig Schriftsteller als Deutscher von Beruf sein wollte.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 439-440

Die Tiefen. – Tiefdenkende Menschen kommen sich im Verkehr mit anderen als Komödianten vor, weil sie sich da, um verstanden zu werden, immer erst eine Oberfläche anheucheln müssen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 441

Umsturzgeister und Besitzgeister. – Das einzige Mittel gegen den Sozialismus, das noch in eurer Macht steht, ist: ihn nicht herauszufordern, das heißt selber mäßig und genügsam leben, die Schaustellung jeder Üppigkeit nach Kräften verhindern und dem Staate zu Hilfe kommen, wenn er alles Überflüssige und Luxus-Ähnliche empfindlich mit Steuern belegt. Ihr wollt dies Mittel nicht? Dann, ihr reichen Bürgerlichen, die ihr euch »liberal« nennt, gesteht es euch nur zu, eure eigne Herzensgesinnung ist es, welche ihr in den Sozialisten so furchtbar und bedrohlich findet, in euch selber aber als unvermeidlich gelten laßt, wie als ob sie dort etwas anderes wäre. Hättet ihr, so wie ihr seid, euer Vermögen und die Sorge um dessen Erhaltung nicht, diese eure Gesinnung würde euch zu Sozialisten machen: nur der Besitz unterscheidet zwischen euch und ihnen. Euch müßt ihr zuerst besiegen, wenn ihr irgendwie über die Gegner eures Wohlstandes siegen wollt. – Und wäre jener Wohlstand nur wirklich Wohlbefinden! Er wäre nicht so äußerlich und neidherausfordernd, er wäre mitteilender, wohlwollender, ausgleichender, nachhelfender. Aber das Unechte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche mehr im Gefühl des Gegensatzes (daß andere sie nicht haben und euch beneiden) als im Gefühle der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung liegen – eure Wohnungen, Kleider, Wagen, Schauläden, Gaumen-und Tafel-Erfordernisse, eure lärmende Opern- und Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber aus unedlem Metall, vergoldet aber ohne Goldklang, als Schaustücke von euch gewählt, als Schaustücke sich selber gebend; – das sind die giftträgerischen Verbreiter jener Volkskrankheit, welche als sozialistische Herzenskrätze sich jetzt immer schneller der Masse mitteilt, aber in euch ihren ersten sitz und Brüteherd hat. Und wer hielte diese Pest jetzt noch auf?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 457-458

Gefahr im Reichtum. – Nur wer Geist hat, sollte Besitz haben: sonst ist der Besitz gemeingefährlich. Der Besitzende nämlich, der von der freien Zeit, welche der Besitz ihm gewähren könnte, keinen Gebrauch zu machen versteht, wird immer fortfahren, nach Besitz zu streben: dieses Streben wird seine Unterhaltung, seine Kriegslist im Kampf mit der Langeweile sein. So entsteht zuletzt, aus mäßigem Besitz, welcher dem Geistigen genügen würde, der eigentliche Reichtum: und zwar als das gleißende Ergebnis geistiger Unselbständigkeit und Armut. Nur erscheint er eben ganz anders, als seine armselige Abkunft erwarten läßt, weil er sich mit Bildung und Kunst maskieren kann: er kann eben die Maske kaufen. Dadurch erweckt er Neid bei den Ärmeren und Ungebildeten – welche im Grunde immer die Bildung beneiden und in der Maske nicht die Maske sehen – und bereitet allmählich eine soziale Umwälzung vor: denn vergoldete Roheit und schauspielerisches Sich-Blähen im angeblichen »Genusse der Kultur« gibt jenen den Gedanken ein »es liegt nur am Gelde«, – während allerdings etwas am Gelde liegt, aber viel mehr am Geiste.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 460

Partei-Sitte. – Eine jede Partei versucht, das Bedeutende, das außer ihr gewachsen ist, als unbedeutend darzustellen; gelingt es ihr aber nicht, so feindet sie es um so bitterer an, je vortrefflicher es ist.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 461

Von der Herrschaft der Wissenden. – Es ist leicht, zum Spotten leicht, das Muster zur Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft aufzustellen. Zuerst hätten die Redlichen und Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin Meister und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung und Anerkennung: aus ihnen wiederum müßten sich, in engerer Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges auswählen, gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müßten endlich, für jeden einzelnen Fall, nur die Stimmen und Urteile der speziellsten Sachverständigen entscheiden und die Ehrenhaftigkeit aller übrigen groß genug und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die Abstimmung dabei auch nur jenen zu überlassen: so daß im strengsten Sinne das Gesetz aus dem Verstande der Verständigsten hervorginge. – Jetzt stimmen Parteien ab: und bei jeder Abstimmung muß es hunderte von beschämten Gewissen geben – die der Schlecht-Unterrichteten, Urteils-Unfähigen, die der Nachsprechenden, Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die Würde jedes neuen Gesetzes so, als dieses anklebende Schamrot der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten leicht, so etwas aufzustellen: keine Macht der Welt ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen, – es sei denn, daß der Glaube an die höchste Nützlichkeit der Wissenschaft und der Wissenden endlich auch dem Böswilligsten einleuchte und dem jetzt herrschenden Glauben an die Zahl vorgezogen werde. Im Sinne dieser Zukunft sei unsere Losung: »Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden! Und nieder mit allen Parteien!«“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 462

Meinungen. – Die meisten Menschen sind nichts und gelten nichts, bis sie sich in allgemeine Überzeugungen und öffentliche Meinungen eingekleidet haben – nach der Schneider-Philosophie: Kleider machen Leute. Von den Ausnahme-Menschen aber muß es heißen: erst der Träger macht die Tracht; hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas anderes als Masken, Putz und Verkleidung.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 468

Nie umsonst. – Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen höher steigen zu können.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 475

„»Wolle ein Selbst.« – Die tätigen, erfolgreichen Naturen handeln nicht nach dem Spruche »kenne dich selbst«, sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte: wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst. – Das Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu haben; während die Untätigen und Beschaulichen darüber nachsinnen, wie sie jenes eine Mal, beim Eintritt ins Leben, gewählt haben.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 477

Gegen-Sätze. – Das Greisenhafteste, was je über den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berühmten Satze »das Ich ist immer hassenswert«; das Kindlichste in dem noch berühmteren »liebe deinen Nächsten, wie dich selbst«. – Bei dem einen hat die Menschenkenntnis aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 480

Anzeichen der vornehmen Seele. – Eine vornehme Seele ist die nicht, welche der höchsten Aufschwünge fähig ist, sondern jene, welche sich wenig erhebt und wenig fällt, aber immer in einer freieren durchleuchteten Luft und Höhe wohnt.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 483

Wie die Pflicht Glanz bekommt. – Das Mittel, um deine eherne Pflicht im Auge von jedermann in Gold zu verwandeln, heißt: halte immer etwas mehr als du versprichst.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 484

Gebet zu Menschen. – »Vergib uns unsere Tugenden« – so soll man zu Menschen beten.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 484

Schaffende und Genießende. – Jeder Genießende meint, dem Baume habe es an der Frucht gelegen; aber ihm lag am Samen. – Hierin besteht der Unterschied zwischen allen Schaffenden und Genießenden.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 484

Der Ruhm aller Großen. – Was ist am Genie gelegen, wenn es nicht seinem Betrachter und Verehrer solche Freiheit und Höhe des Gefühls mitteilt, daß er des Genies nicht mehr bedarf! – Sich überflüssig machen – das ist der Ruhm aller Großen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 485

Die Hadesfahrt. – Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Toten reden zu können, sondern des eignen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muß ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage, beschließe, für mich und andere ausdenke: auf jene acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. – Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn sie mir mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen und verdrießlich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben: während jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, nach dem Tode, nimmermehr lebensmüde werden könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an: was ist am »ewigen Leben« und überhaupt am Leben gelegen!“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 485

Vom Baume der Erkenntnis. – Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, – diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntnis nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 489

Die Vernunft der Welt. – Daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, läßt sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen – ich meine unsre menschliche Vernunft –, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn sie nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluß a minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 489

Wo die Lehre von der Freiheit des Willens entstanden ist. – Über dem einen steht die Notwendigkeit in der Gestalt seiner Leidenschaften, über dem andern als Gewohnheit zu hören und zu gehorchen, über dem dritten als logisches Gewissen, über dem vierten als Laune und mutwilliges Behagen an Seitensprüngen. Von diesen vieren wird aber gerade da die Freiheit ihres Willens gesucht, wo jeder von ihnen am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte. Woher kommt dies? Ersichtlich daher, daß jeder sich dort am meisten für frei hält, wo sein Lebensgefühl am größten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntnis, bald im Mutwillen. Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit und Stumpfsinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl als notwendige Paare zusammen. – Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen: dort ist der starke Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl von Freud und Leid, Höhe des Hoffens, Kühnheit des Begehrens, Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen, während der Unterworfene, der Sklave, gedrückt und stumpf lebt. – Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung herrschender Stände.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 493-494

Keine neuen Ketten fühlen. – Solange wir nicht fühlen, daß wir irgendwovon abhängen, halten wir uns für unabhängig: ein Fehlschluß, welcher zeigt, wie stolz und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er nimmt hier an, daß er unter allen Umständen die Abhängigkeit, sobald er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter der Voraussetzung, daß er in der Unabhängigkeit für gewöhnlich lebe und sofort, wenn er sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der Empfindung spüren werde. – Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre: daß er immer in vielfacher Abhängigkeit lebt, sich aber für frei hält, wo er den Druck der Kette aus langer Gewohnheit nicht mehr spürt? Nur an den neuen Ketten leidet er noch; – »Freiheit des Willens« heißt eigentlich nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 494

Die Freiheit des Willens und die Isolation der Fakta. – Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als eins und nennt sie ein Faktum: zwischen ihm und einem andern Faktum denkt sie sich einen leeren Raum hinzu, sie isoliert jedes Faktum. In Wahrheit aber ist all unser Handeln und Erkennen keine Folge von Fakten und leeren Zwischenräumen, sondern ein beständiger Fluß. Nun ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungeteilten, unteilbaren Fließens unverträglich: er setzt voraus, daß jede einzelne Handlung isoliert und unteilbar ist; er ist eine Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens. – Gerade so wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den Fakten: wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Fakten: beide gibt es nicht. Nun loben und tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, daß es gleiche Fakta gebe, daß eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Fakten vorhanden sei, welcher eine abgestufte Wertordnung entspreche: also wir isolieren nicht nur das einzelne Faktum, sondern auch wiederum die Gruppen von angeblich gleichen Fakten (gute, böse, mitleidige, neidische Handlungen usw.) – beide Male irrtümlich. – Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste Grund, weshalb wir an diese Isolation von Handlungen- Gruppen glauben: mit ihnen bezeichnen wir nicht nur die Dinge, wir meinen ursprünglich durch sie das Wahre derselben zu erfassen. Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt voneinander, unteilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens, das heißt der gleichen Fakten und der isolierten Fakten, – hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 494-495

Die Grundirrtümer. – Damit der Mensch irgendeine seelische Lust oder Unlust empfinde, muß er von einer dieser beiden Illusionen beherrscht sein: entweder glaubt er an die Gleichheit gewisser Fakta, gewisser Empfindungen: dann hat er durch die Vergleichung jetziger Zustände mit früheren und durch Gleich- oder Ungleichsetzung derselben (wie sie bei aller Erinnerung stattfindet) eine seelische Lust oder Unlust; oder er glaubt an die Willens-Freiheit, etwa wenn er denkt »dies hätte ich nicht tun müssen«, »dies hätte anders auslaufen können«, und gewinnt daraus ebenfalls Lust oder Unlust. Ohne die Irrtümer welche bei jeder seelischen Lust und Unlust tätig sind, würde niemals ein Menschentum entstanden sein – dessen Grundempfindung ist und bleibt, daß der Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wundertäter, sei es, daß er gut oder böse handelt, die erstaunliche Ausnahme, das Übertier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des kosmischen Rätsels, der große Herrscher über die Natur und Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte Weltgeschichte nennt!Vanitas vanitatum homo.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 495-496

Der Mensch als der Messende. – Vielleicht hat alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie das Maß und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das Wort »Mensch« bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner größten Entdeckung benennen wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmeßbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein schienen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 502

Prinzip des Gleichgewichts. – Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur daß der zweite seinen Vorteil anders als der erste erreicht: nämlich durch regelmäßige Abgaben, welche die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche Verhältnis wie zwischen Handelsmann und Seeräuber, welche lange Zeit ein und dieselbe Person sind: wo ihr die eine Funktion nicht rätlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Verklügerung der Seeräuber-Moral: so wohlfeil wie möglich kaufen – womöglich für nichts als die Unternehmungskosten –, so teuer wie möglich verkaufen.) Das Wesentliche ist: jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber Gleichgewicht zu halten; darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit zu leben. Denn entweder müssen sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammentun oder sich einem Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten). Dem letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde zwei gefährliche Wesen in Schach hält: das erste durch das zweite und das zweite durch den Gesichtspunkt des Vorteils; letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon, die Unterworfenen gnädig oder leidlich zu behandeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher ernähren können. Tatsächlich kann es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der früher immer möglichen völligen Vernichtung atmen die Menschen schon in diesem Zustande auf. – Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Mächten. Eine Organisation zum Übergewicht wäre rätlicher, wenn man dabei so stark würde, um die Gegenmacht auf einmal zu vernichten: und handelt es sich um einen einzelnen mächtigen Schadentuer, so wird dies gewiß versucht. Ist aber der eine ein Stammhaupt oder hat er großen Anhang, so ist die schnelle entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange Fehde zu gewärtigen: diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nötigen Regelmäßigkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Deshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Verteidigung und Angriff genau auf die Höhe zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und ihm zu verstehen zu geben, daß in ihrer Wagschale jetzt gleich viel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund miteinander sein? – Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung erhalten: so daß, wenn jetzt der eine sich gegen den andern vergeht, der andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermöge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse wiederhergestellt: denn ein Auge, ein Arm mehr ist in solchen Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewicht mehr. – Innerhalb einer Gemeinde, in der alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heißt gegen Durchbrechungen des Prinzips des Gleichgewichts Schande und Strafe da: Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden einzelnen, der durch den Übergriff sich Vorteile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachteile erfährt, die den früheren Vorteil aufheben und überwiegen. Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Übergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel größeres Gegengewicht auf, gegen Gewalttat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevler erinnert, daß er mit seiner Handlung aus der Gemeinde und deren Moral-Vorteilen ausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, außer ihr Stehenden; deshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern hat ein Mehr, ein Etwas von der Härte des Naturzustandes; an diesen will sie eben erinnern.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 502-504

Ob die Anhänger der Lehre vom freien Willen strafen dürfen? – Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Übeltäter überhaupt für seine Tat verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden konnte, ob er aus Gründen handelte und nicht unbewußt oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, daß er die schlechteren Gründe den besseren vorzog: welche er also gekannt haben muß. Wo diese Kenntnis fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, daß seine Unkenntnis, zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung des Erlernens ist; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen und muß jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büßen. Wenn er dagegen die besseren Gründe nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf-und Blödsinn, so pflegt man nicht zu strafen: es hat ihm, wie man sagt, die Wahl gefehlt, er handelte als Tier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen macht. Wie kann aber jemand absichtlich unvernünftiger sein, als er sein muß? Woher die Entscheidung, wenn die Wagschalen mit guten und schlechten Motiven belastet sind? Also nicht vom Irrtum, von der Blindheit her, nicht von einem äußeren, auch von keinem inneren Zwange her? (Man erwäge übrigens, daß jeder sogenannte »äußere Zwang« nichts weiter ist, als der innere Zwang der Furcht und des Schmerzes.) Woher? fragt man immer wieder. Die Vernunft soll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe entscheiden könnte? Hier nun ruft man den »freien Willen« zu Hilfe: es soll das vollendete Belieben entscheiden, ein Moment eintreten, wo kein Motiv wirkt, wo die Tat als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man straft diese angebliche Beliebigkeit, in einem Falle, wo kein Belieben herrschen sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt, hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom »freien Willen« Gebrauch macht, das heißt weil er ohne Grund gehandelt hat, wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aber warum tat er dies? Dies eben darf nicht einmal mehr gefragt werden: es war eine Tat ohne »darum«, ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. – Eine solche Tat dürfte man aber, nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung aller Strafbarkeit, auch nicht strafen! Auch jene Art der Strafbarkeit darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier etwas nicht getan, etwas unterlassen, von der Vernunft nicht Gebrauch gemacht sei: denn unter allen Umständen geschah die Unterlassung ohne Absicht! und nur die absichtliche Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, aber ohne Grund und Absicht: er hat zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht, um sie nicht anzuwenden. Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen macht, daß er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, – gerade sie ist bei der Annahme des »freien Willens« aufgehoben. Ihr dürft nicht strafen, ihr Anhänger der Lehre vom »freien Willen«, nach euern eigenen Grundsätzen nicht! – Diese sind aber im Grunde nichts, als eine sehr wunderliche Begriffs-Mythologie; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 504-506

Zur Beurteilung des Verbrechers und seines Richters. – Der Verbrecher der den ganzen Fluß der Umstände kennt, findet seine Tat nicht so außer der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler; seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grad von Erstaunen zugemessen, welches jene beim Anblick der Tat als einer Unbegreiflichkeit befällt. – Wenn die Kenntnis, welche der Verteidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht so müssen die sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher: der Verteidiger wird schrittweise jenes verurteilende und Strafe zumessende Erstaunen mildern und zuletzt ganz aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständnis nötigt: »er mußte so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Notwendigkeit bestrafen.« – Den Grad der Strafe abmessen nach dem Grad der Kenntnis, welchen man von der Historie eines Verbrechens hat oder überhaupt gewinnen kann, – streitet dies nicht wider alle Billigkeit?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 506-507

Der Tausch und die Billigkeit. – Bei einem Tausche würde es nur dann ehrlich und rechtlich zugehen, wenn jeder der beiden Tauschenden so viel verlangte, als ihm seine Sache wert scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit, die aufgewendete Zeit usw. in Anschlag gebracht, nebst dem Affektionswerte. Sobald er den Preis in Hinsicht auf das Bedürfnis des andern macht, ist er ein feinerer Räuber und Erpresser. – Ist Geld das eine Tauschobjekt, so ist zu erwägen, daß ein Frankentaler in der Hand eines reichen Erben, eines Tagelöhners, eines Kaufmannes, eines Studenten ganz verschiedene Dinge sind: jeder wird, je nachdem er fast nichts oder viel tat, ihn zu erwerben, wenig oder viel dafür empfangen dürfen – so wäre es billig: in Wahrheit steht es bekanntlich umgekehrt. In der großen Geldwelt ist der Taler des faulsten Reichen gewinnbringender als der des Armen und Arbeitsamen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 507

Rechtszustände als Mittel. – Recht, auf Verträgen zwischen Gleichen beruhend, besteht, solange die Macht derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der nutzlosen Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser aber ist ebenso endgültig ein Ende gemacht, wenn der eine Teil entschieden schwächer als der andere geworden ist: dann tritt Unterwerfung ein, und das Recht hört auf, aber der Erfolg ist derselbe wie der, welcher bisher durch das Recht erreicht wurde. Denn jetzt ist es die Klugheit des Überwiegenden, welche die Kraft des Unterworfenen zu schonen und nicht nutzlos zu vergeuden anrät: und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des Gleichgestellten war. – Rechtszustände sind also zeitweilige Mittel, welche die Klugheit anrät, keine Ziele.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 507-508

Das Willkürliche im Zumessen der Strafen. – Die meisten Verbrecher kommen zu ihren Strafen wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn- und hundertmal dasselbe getan, ohne üble Folgen zu spüren: plötzlich kommt eine Entdeckung und hinter ihr die Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der Tat, derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen: es ist ja ein Hang entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmäßigen Verbrechens vorliegt, härter gestraft; die Gewohnheit wird als Grund gegen alle Milderung geltend gemacht. Eine vorherige musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen um so fürchterlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen lassen! Aber sie pflegt die Strafe zu mildern. So wird alles nicht nach dem Verbrecher bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren Schaden und Gefahr: frühere Nützlichkeit eines Menschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten addiert, und demnach die Strafe am höchsten zugemessen. Wenn man aber dergestalt die Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt (dies im ersten Fall, wo das Weniger-Strafen ein Belohnen ist), so sollte man noch weiter zurückgehn und die Ursache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und belohnen, ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft usw.: in vielen Fällen wird man dann die Richter irgendwie bei der Schuld beteiligt finden. Es ist willkürlich, beim Verbrecher stehenzubleiben, wenn man die Vergangenheit straft: man sollte, falls man die absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehnbleiben und nicht weiter zurückblicken: also die Schuld isolieren und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung bringen, – sonst wird man zum Sünder gegen die Logik. Zieht vielmehr, ihr Willens-Freien, den notwendigen Schluß aus eurer Lehre von der »Freiheit des Willens« und dekretiert kühnlich: »keine Tat hat eine Vergangenheit.«“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 508-509

Der Neid und sein edlerer Bruder. – Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd begründet ist, entsteht jener, im ganzen als unmoralisch geltende Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre: der Neid. Der Neidische fühlt jedes Hervorragendes anderen über das gemeinsame Maß und will ihn bis dahin herabdrücken – oder sich bis dorthin erheben: woraus sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse und die gute Eris bezeichnet hat. Ebenso entsteht im Zustande der Gleichheit die Indignation darüber, daß es einem anderen unter seiner Würde und Gleichheit schlecht ergeht, einem zweiten über seiner Gleichheit gut: es sind dies Affekte edlerer Naturen. Sie vermissen in den Dingen, welche von der Willkür des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und Billigkeit, das heißt: sie verlangen, daß jene Gleichheit, die der Mensch anerkennt, nun auch von der Natur und dem Zufall anerkannt werde, sie zürnen darüber, daß es den Gleichen nicht gleich ergeht.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 509-510

Türkenfatalismus. – Der Türkenfatalismus hat den Grundfehler, daß er den Menschen und das Fatum als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt: der Mensch, sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schließlich behalte es immer den Sieg; weshalb das Vernünftigste sei, zu resignieren oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück Fatum; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben darin auch das Fatum; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation in das Fatum; alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen. – Die Angst, welche die meisten vor der Lehre der Unfreiheit des Willens haben, ist die Angst vor dem Türkenfatalismus: sie meinen, der Mensch werde schwächlich, resigniert und mit gefalteten Händen vor der Zukunft stehen, weil er an ihr nichts zu ändern vermöge: oder aber, er werde seiner vollen Launenhaftigkeit die Zügel schießen lassen, weil auch durch diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer werden könne. Die Torheiten des Menschen sind ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten: auch jene Angst vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber, armer Ängstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für alles, was da kommt; du bist der Segen oder Fluch und jedenfalls die Fessel, in welcher der Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt vorherbestimmt, es hilft dir nichts, wenn dir vor dir selber graut.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 526

Die weltliche Gerechtigkeit. – Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben – mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld jedermannes: und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung jedermannes. Der Stifter des Christentums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld als »Sünde«, das heißt als Frevel an Gott und nicht als Frevel an der Welt; andererseits hielt er jedermann im größten Maßstabe und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresgleichen sein: so urteilte seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurteilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm so heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies sah er auf die Motive der Handlungen und nicht auf den Erfolg, und hielt für die Beurteilung der Motive nur einen einzigen für scharfsichtig genug: sich selber (oder wie er sich ausdrückte: Gott).“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 534

Der Verfolger Gottes. – Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, daß Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammnis zuerkannt ist und daß dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare; Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein, – um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen! Welch grausame und unersättliche Eitelkeit muß in der Seele dessen geflackert haben, der so etwas sich zuerst oder zu zweit ausdachte! – Paulus ist also doch Paulus geblieben – der Verfolger Gottes. “
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 536

Ausweichen. – Man weiß nicht eher, worin bei ausgezeichneten Geistern das Feine ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches Wort jeder mittelmäßige Schriftsteller beim Ausdrücken derselben Sache unvermeidlich geraten sein würde. Alle großen Artisten zeigen sich beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum Entgleisen geneigt – doch nicht zum Umfallen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 540

Dichter-Gedanken. – Die wirklichen Gedanken gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert einher, wie die Ägypterinnen: nur das tiefe Auge des Gedankens blickt frei über den Schleier hinweg. – Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt nicht so viel wert, als sie gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene Neugierde mit.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 542-543

Schreibstil und Sprechstil. – Die Kunst zu schreiben verlangt vor allem Ersatzmittel für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden, Akzente, Töne, Blicke. Deshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres: – er will mit wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders als wir sie lesen: er hat sie zum Gelesenwerden erst überarbeitet. – Ciceros Reden sollten, zum gleichen Zwecke, erst demosthenisiert werden: jetzt ist viel mehr römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 544

Vorsicht im Zitieren. – Die jungen Autoren wissen nicht, daß der gute Ausdruck, der gute Gedanke sich nur unter seinesgleichen gut ausnimmt, daß ein vorzügliches Zitat ganze Seiten, ja das ganze Buch vernichten kann, indem es den Leser warnt und ihm zuzurufen scheint: »Gib acht, ich bin der Edelstein und rings um mich ist Blei, bleiches, schmähliches Blei!« Jedes Wort, jeder Gedanke will nur in seiner Gesellschaft leben: das ist die Moral des gewählten Stils“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 544

Faust-Idee. – Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein großer Gelehrter aller vier Fakultäten ist der Übeltäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiß nicht! Ohne die Beihilfe des leibhaftigen Teufels hätte es der große Gelehrte nicht zustande gebracht. – Sollte dies wirklich der größte deutsche »tragische Gedanke« sein, wie man unter Deutschen sagen hört? – Für Goethe war aber auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich; sein mildes Herz konnte nicht umhin, die kleine Nähterin, »die gute Seele, die nur einmal sich vergessen«, nach ihrem unfreiwilligen Tode in die Nähe der Heiligen zu versetzen; ja selbst den großen Gelehrten brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel im entscheidenden Augenblick gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel, ihn, »den guten Menschen« mit dem »dunklen Drange«: – dort im Himmel finden sich die Liebenden wieder. – Goethe sagt einmal, für das eigentlich Tragische sei seine Natur zu konziliant gewesen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 550

„Goethe ... gehört in eine höhere Gattung von Literaturen ...: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. .... Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur .... Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt: in den Klassikern.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 551-552

Gegen die Sprach-Neuerer. – In der Sprache neuern oder altertümeln, das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichtum des Wortschatzes statt auf Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine edele Armut, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollen weniger haben, als das Volk hat – denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem – aber sie wollen dies Wenige besser haben. Man ist schnell mit dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein gutes Auge hat.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 552

Den Gedanken verbessern. – Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern, und gar nichts weiter! – Wer dies nicht sofort zugibt, ist auch nie davon zu überzeugen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 553

Der Stil der Unsterblichkeit. – Thukydides sowohl wie Tacitus – beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht: dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus ihrem Stile zu erraten sein. Der eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der andre durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 556

Gegen Bilder und Gleichnisse. – Mit Bildern und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Überzeugende, das Glaublich-Machende nicht und fordert vielmehr das kälteste Mißtrauen auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das Mißtrauen der Prüfstein für das Gold der Gewißheit ist.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 557

Die Angestellten der Wissenschaft und die anderen. – Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesamt als »Angestellte« bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr Gedächtnis gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können; späterhin, nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie not tun. Diese Naturen allesamt sind um der Wissenschaft willen da: aber es gibt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, »um derentwillen die Wissenschaft da ist« – wenigstens scheint es ihnen selber so –: oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte, und auch nicht Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe: gleichsam als ob jene einer niedrigern Gattung von Wesen angehörten. Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese anderen sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein ist ihnen eine Beschränktheit eigentümlich, die jenen fehlt, um derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen nützliche Werkzeuge zu sehen, – sie können nur in ihrer eigenen Luft, auf eigenem Boden leben. Diese Beschränktheit gibt ihnen ein, was alles von einer Wissenschaft »zu ihnen gehöre«, das heißt, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können; sie wähnen immer ihr zerstreutes »Eigentum« zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zugrunde; Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der Wissenschaft in der Art jener anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen nötigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die Wissenschaft, im ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt ihnen jede unpersönliche Teilnahme an einem Problem der Erkenntnis; wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Teile voneinander abhängen, ineinander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat. – Solche Naturen bringen, mit diesen ihren personenhaften Erkenntnis-Gebilden, jene Täuschung hervor, daß eine Wissenschaft (oder gar die ganze Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das Leben in ihrem Gebilde übt diesen Zauber aus: als welcher zuzeiten sehr verhängnisvoll für die Wissenschaft und irreführend für jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche einer kühlen, erquicklichen Raststätte gewirkt hat. – Gewöhnlich nennt man solche Menschen Philosophen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 567-568

Eitelkeit als die große Nützlichkeit. – Ursprünglich behandelt der starke einzelne nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die schwächeren einzelnen als Gegenstand des Raub-Baues: er nützt sie aus, so viel er kann, und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen Hunger und Überfluß, so tötet er mehr Tiere, als er verzehren kann, und plündert und mißhandelt die Menschen mehr, als nötig wäre. Seine Machtäußerung ist eine Racheäußerung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann will er für mächtiger gelten, als er ist, und mißbraucht deshalb die Gelegenheiten: der Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, daß nicht das, was er ist, sondern das, was er gilt, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der Ursprung der Eitelkeit. Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung des Glaubens an seine Macht. – Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und ihm dienen, wissen wiederum, daß sie genau so viel wert sind, als sie ihm gelten: weshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nicht auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten Formen, in ihren Sublimierungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben: ursprünglich ist sie die große Nützlichkeit, das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird die Eitelkeit um so größer sein, je klüger der einzelne ist: weil die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht selber, aber nur für den, der Geist hat -oder, wie es für Urzustände heißen muß, der listig und hinterhältig ist“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 571-572

Krieg als Heilmittel. – Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel anzuraten sein, falls sie nämlich durchaus noch fortleben wollen: denn es gibt für die Völker-Schwindsucht auch eine Brutalitäts-Kur. Das ewige Leben-wollen und Nicht-sterben-Können ist aber selber schon ein Zeichen von Greisenhaftigkeit der Empfindung: je voller und tüchtiger man lebt, um so schneller ist man bereit, das Leben für eine einzige gute Empfindung dahinzugeben. Ein Volk, das so lebt und empfindet, hat die Kriege nicht nötig.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 575

Geistige und leibliche Verpflanzung als Heilmittel. – Die verschiedenen Kulturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist. Die Historie im ganzen, als das Wissen um die verschiedenen Kulturen, ist die Heilmittellehre, nicht aber die Wissenschaft der Heilkunst selber. Der Arzt ist erst recht noch nötig, der sich dieser Heilmittellehre bedient, um jeden in sein ihm gerade ersprießliches Klima zu senden – zeitweilig oder auf immer. In der Gegenwart leben, innerhalb einer einzigen Kultur, genügt nicht als allgemeines Rezept, dabei würden zu viele höchst nützliche Arten von Menschen aussterben, die in ihr nicht gesund atmen können. Mit der Historie muß man ihnen Luft machen und sie zu erhalten suchen; auch die Menschen zurückgebliebener Kulturen haben ihren Wert. – Dieser Kur der Geister steht zur Seite, daß die Menschheit in leiblicher Beziehung darnach streben muß, durch eine medizinische Geographie dahinterzukommen, zu welchen Entartungen und Krankheiten jede Gegend der Erde Anlaß gibt, und umgekehrt welche Heilfaktoren sie bietet: und dann müssen allmählich Völker, Familien und einzelne so lange und so anhaltend verpflanzt werden, bis man über die angeerbten physischen Gebrechen Herr geworden ist. Die ganze Erde wird endlich eine Summe von Gesundheits-Stationen sein.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 575-576

Der Baum der Menschheit und die Vernunft. – Das, was ihr als Übervölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, gibt dem Hoffnungsvolleren eben die große Aufgabe in die Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüten, die alle nebeneinander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. Daß der jetzige noch kleine Ansatz dazu an Saft und Kraft zunehme, daß in unzähligen Kanälen der Saft zur Ernährung des Ganzen und des Einzelnen umströme – aus diesen und ähnlichen Aufgaben ist der Maßstab zu entnehmen, ob ein jetziger Mensch nützlich oder unnütz ist. Die Aufgabe ist unsäglich groß und kühn: wir alle wollen dazu tun, daß der Baum nicht vor der Zeit verfaule! Dem historischen Kopfe gelingt es wohl, das menschliche Wesen und Treiben sich im ganzen der Zeit so vor die Augen zu stellen, wie uns allen das Ameisen-Wesen mit seinen kunstvoll getürmten Haufen vor Augen steht. Oberflächlich beurteilt, würde auch das gesamte Menschentum gleich dem Ameisentum von »Instinkt« reden lassen. Bei strengerer Prüfung nehmen wir wahr, wie ganze Völker, ganze Jahrhunderte sich abmühen, neue Mittel ausfindig zu machen und auszuprobieren, womit man einem großen menschlichen Ganzen und zuletzt dem großen Gesamt-Fruchtbaume der Menschheit wohltun könne; und was auch immer bei diesem Ausprobieren die einzelnen, die Völker und die Zeiten für Schaden leiden, durch diesen Schaden sind jedesmal einzelne klug geworden, und von ihnen aus strömt die Klugheit langsam auf die Maßregeln ganzer Völker, ganzer Zeiten über. Auch die Ameisen irren und vergreifen sich; die Menschheit kann recht wohl durch Torheit der Mittel verderben und verdorren, vor der Zeit, es gibt weder für jene, noch für diese einen sicher führenden Instinkt. Wir müssen vielmehr der großen Aufgabe ins Gesicht sehen, die Erde für ein Gewächs der größten und freudigsten Fruchtbarkeit vorzubereiten, – einer Aufgabe der Vernunft für die Vernunft!“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 576-577

Das Lob des Uneigennützigen und sein Ursprung. – Zwischen zwei nachbarlichen Häuptlingen war seit Jahren Hader: man verwüstete einander die Saaten, führte Herden weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen Erfolge im ganzen, weil ihre Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch die abgeschlossene Lage seines Besitztums von diesen Fehden sich fernhalten konnte, aber doch Grund hatte, den Tag zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen Nachbarn entscheidend zum Übergewicht kommen würde, trat endlich zwischen die Streitenden, mit Wohlwollen und Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem einzeln zu verstehen gab, fürderhin gegen den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit dem andern gemeinsame Sache zu machen. Man kam vor ihm zusammen, man legte zögernd in seine Hand die Hände, welche bisher die Werkzeuge und allzuoft die Ursache des Hasses gewesen waren, – und wirklich, man versuchte es ernstlich mit dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie plötzlich sein Wohlstand, sein Behagen wuchs, wie man jetzt am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler, anstatt eines tückischen oder offen höhnenden Übeltäters, hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Notfällen, man sich gegenseitig aus der Not ziehen konnte, anstatt, wie es bisher geschehen, diese Not des Nachbars auszunutzen und aufs höchste zu steigern; ja es schien, als ob der Menschenschlag in beiden Gegenden sich seitdem verschönert hätte: denn die Augen hatten sich erhellt, die Stirnen sich entrunzelt, allen war das Vertrauen zur Zukunft zu eigen geworden, – und nichts ist den Seelen und Leibern der Menschen förderlicher, als dies Vertrauen. Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses wieder, die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang: und zwar vor dem Angesicht des Mittlers, dessen Handlungsweise man, je größer der Nutzen war, den man ihr verdankte immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte sie uneigennützig – man hatte den Blick viel zu fest auf den eigenen, seither eingeernteten Nutzen gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr zu sehen, als daß sein Zustand infolge derselben sich nicht so verändert habe wie der eigene: er war vielmehr derselbe geblieben, und so schien es, daß jener den Nutzen nicht im Auge gehabt habe. Zum ersten Male sagte man sich, daß die Uneigennützigkeit eine Tugend sei: gewiß mochten im kleinen und privaten sich oftmals bei ihnen ähnliche Dinge ereignet haben, aber man hatte das Augenmerk für diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in ganz großer Schrift, lesbar für die ganze Gemeinde, an die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung anempfohlen sind die moralischen Eigenschaften erst von dem Augenblicke an, da sie sichtbar über Glück und Verhängnis ganzer Gesellschaften entschieden haben: dann ist nämlich die Höhe der Empfindung und die Erregung der inneren schöpferischen Kräfte bei vielen so groß, daß man dieser Eigenschaft Geschenke bringt, vom Besten, was jeder hat: der Ernste legt ihr seinen Ernst zu Füßen, der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde, die Jünglinge alles Hoffnungs- und Zukunftsreiche ihres Wesens; der Dichter leiht ihr Worte und Namen, reiht sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, gibt ihr einen Stammbaum und betet zuletzt, wie es Künstler tun, das Gebilde seiner Phantasie als neue Gottheit an – er lehrt sie anbeten. So wird eine Tugend, weil die Liebe und die Dankbarkeit aller an ihr arbeitet, wie an einer Bildsäule, zuletzt eine Ansammlung des Guten und Verehrungswürdigen, eine Art Tempel und göttlicher Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzelne Tugend da, als ein Wesen für sich, was sie bis dahin nicht war, und übt die Rechte und die Macht einer geheiligten Übermenschlichkeit aus. – Im späteren Griechenland standen die Städte voll von solchen vergottmenschlichten Abstractis (man verzeihe das absonderliche Wort um des absonderlichen Begriffs willen); das Volk hatte sich auf seine Art einen platonischen »Ideenhimmel« inmitten seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, daß dessen Inwohner weniger lebendig empfunden wurden, als irgendeine althomerische Gottheit.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 577-579

Spitzen und Spitzchen. – Die geringe Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die geschlechtliche Kühle der höchsten und kultiviertesten Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Klassen, ist wesentlich in der Ökonomie der Menschheit: die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, daß bei einem äußersten Punkte der geistigen Entwickelung die Gefahr einer nervösen Nachkommenschaft sehr groß ist: solche Menschen sind Spitzen der Menschheit – sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 581

Sonnenbahn der Idee. – Wenn eine Idee am Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und am heißesten ist diese (das heißt sie tut ihre größten Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im sinken ist.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 583

Der Fanatiker des Mißtrauens und seine Bürgschaft.Der Alte: Du willst das Ungeheure wagen und die Menschen im großen belehren? Wo ist deine Bürgschaft? – Pyrrhon: Hier ist sie: ich will die Menschen vor mir selber warnen, ich will alle Fehler meiner Natur öffentlich bekennen und meine Übereilungen, Widersprüche und Dummheit vor aller Augen bloßstellen. Hört nicht auf mich, will ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch geringer bin, als er; sträubt euch gegen die Wahrheit, so lange ihr nur könnt, aus Ekel vor dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und Würde an mir wahrnehmt. – Der Alte: Du versprichst zu viel, du kannst diese Last nicht tragen. – Pyrrhon: So will ich auch dies den Menschen sagen, daß ich zu schwach bin und nicht halten kann, was ich verspreche. Je größer meine Unwürdigkeit, um so mehr werden sie der Wahrheit mißtrauen, wenn sie durch meinen Mund geht. – Der Alte: Willst du denn der Lehrer des Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? – Pyrrhon: Des Mißtrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Mißtrauens gegen alles und jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem linken nicht trauen, und Licht wird eine Zeitlang Finsternis heißen müssen: dies ist der Weg, den ihr gehen müßt. Glaubt nicht, daß er euch zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden, – das sind die Wahrheiten: Jahrzehnte lang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu sterben, ob ihr schon wisset, daß es Lügen sind. Jene Körner aber werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht gibt es einmal einen Tag der Ernte: Niemand darf ihn versprechen, er sei denn ein Fanatiker. – Der Alte: Freund! Freund! Auch deine Worte sind die des Fanatikers! – Pyrrhon: Du hast recht! ich will gegen alle Worte mißtrauisch sein. – Der Alte: Dann wirst du schweigen müssen. – Pyrrhon: Ich werde den Menschen sagen, daß ich schweigen muß und daß sie meinem Schweigen mißtrauen sollen. – Der Alte: Du trittst also von deinem Unternehmen zurück? – Pyrrhon: Vielmehr – du hast mir eben das Tor gezeigt, durch welches ich gehen muß. – Der Alte: Ich weiß nicht –: verstehen wir uns jetzt noch völlig? – Pyrrhon: Wahrscheinlich nicht. – Der Alte: Wenn du dich nur selber völlig verstehst! – Pyrrhon dreht sich um und lacht. – Der Alte: Ach Freund! Schweigen und Lachen – ist das jetzt deine ganze Philosophie? – Pyrrhon: Es wäre nicht die schlechteste.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 586-587

Die Gefährlichkeit der Aufklärung. – Alles das Halbverrückte, Schauspielerische, Tierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale und Sich-selbst-Berauschende, was zusammen die eigentlich revolutionäre Substanz ausmacht und in Rousseau, vor der Revolution, Fleisch und Geist geworden war, – dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch die Aufklärung auf das fanatische Haupt, welches durch diese selber wie in einer verklärenden Glorie zu leuchten begann: die Aufklärung, die im Grunde jenem Wesen so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die einzelnen umzubilden: so daß sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich. Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast größer geworden als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die große Revolutions-Bewegung kam. Wer dies begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, an sich selber, das Werk der Aufklärung fortzusetzen und die Revolution nachträglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 594

Große Werke und großer Glaube. – Jener hatte die großen Werke, sein Genosse aber hatte den großen Glauben an diese Werke. Sie waren unzertrennlich: aber ersichtlich hing der erstere völlig vom zweiten ab.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 598

Der Gesellige. – »Ich bekomme mir nicht gut« sagte jemand, um seinen Hang zur Gesellschaft zu erklären. »Der Magen der Gesellschaft ist stärker als der meinige, er verträgt mich.«“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 598

Warum die Bettler noch leben. – Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären die Bettler allesamt verhungert.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 599

Zurückerstatten. – Hesiod rät an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maße und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmütigkeit trägt ihm Zinsen ein; aber auch der, welcher zurückgibt, hat seine Freude, insofern er die kleine einstmalige Demütigung, sich aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Übergewicht, als Schenkender, zurückkauft.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 603

Feiner als nötig. – Unser Beobachtungssinn dafür, ob andere unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn für die Schwächen anderer: woraus sich also ergibt, daß er feiner ist, als nötig wäre.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 603

Sich nicht rächen? – Es gibt so viele feine Arten der Rache, daß einer, der Anlaß hätte sich zu rächen, im Grunde tun oder lassen kann, was er will: alle Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen sein, daß er sich gerächt habe. Sich nicht zu rächen steht also kaum im Belieben eines Menschen: daß er es nicht wolle, darf er nicht einmal aussprechen, weil die Verachtung der Rache als eine sublime, sehr empfindliche Rache gedeutet und empfunden wird. – Woraus sich ergibt, daß man nichts Überflüssiges tun soll.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 603

Brief. – Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Überfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen haben und danach ein Bad nehmen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 604

Weg zur Gleichheit. – Einige Stunden Bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit – und die Freiheit wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 605

„Verleumdungen sind Krankheiten anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, daß die Gesellschaft ein (moralischer) Körper ist, so daß du an dir die Kur vornehmen kannst, die den anderen nützen soll.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 605

Ob der Besitz mit der Gerechtigkeit ausgeglichen werden kann. – Wird die Ungerechtigkeit des Besitzes stark empfunden – der Zeiger der großen Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle –, so nennt man zwei Mittel, derselben abzuhelfen: einmal eine gleiche Verteilung und sodann die Aufhebung des Eigentums und den Zurückfall des Besitzes an die Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist namentlich nach dem Herzen unserer Sozialisten, welche jenem altertümlichen Juden darüber gram sind, daß er sagte: du sollst nicht stehlen. Nach ihnen soll das siebente Gebot vielmehr lauten: du sollst nicht besitzen. – Die Versuche nach dem ersten Rezepte sind im Altertum oft gemacht worden, zwar immer nur in kleinem Maßstabe, aber doch mit einem Mißerfolg, der auch uns noch Lehrer sein kann. »Gleiche Ackerlose« ist leicht gesagt; aber wieviel Bitterkeit erzeugt sich durch die dabei nötig werdende Trennung und Scheidung, durch den Verlust von alt verehrtem Besitz, wie viel Pietät wird verletzt und geopfert! Man gräbt die Moralität um, wenn man die Grenzsteine umgräbt. Und wieder, wieviel neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, wie viel Eifersucht und Scheelsehen, da es zwei wirklich gleiche Ackerlose nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe, der menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit glauben würde. Und wie lange dauerte diese schon in der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit! In wenigen Geschlechtern war durch Erbschaft hier das eine Los auf fünf Köpfe, dort waren fünf Lose auf einen Kopf gekommen: und im Falle man durch harte Erbschafts-Gesetze solchen Mißständen vorbeugte, gab es zwar noch die gleichen Ackerlose, aber dazwischen Dürftige und Unzufriedene, welche nichts besaßen, außer der Mißgunst auf die Anverwandten und Nachbarn und dem Verlangen nach dem Umsturz aller Dinge. – Will man aber nach dem zweiten Rezepte das Eigentum der Gemeinde zurückgeben und den einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter machen, so zerstört man das Ackerland. Denn der Mensch ist gegen alles, was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als liederlicher Verschwender. Wenn Plato meint, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung des Besitzes aufgehoben, so ist ihm zu antworten, daß, nach Abzug der Selbst sucht, vom Menschen jedenfalls nicht die vier Kardinaltugenden übrigbleiben werden, – wie man sagen muß: die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. Ohne Eitelkeit und Selbstsucht – was sind denn die menschlichen Tugenden? Womit nicht von ferne gesagt sein soll, daß es nur Namen und Masken von jenen seien. Platos utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Sozialisten fortgesungen wird, beruht auf einer mangelhaften Kenntnis des Menschen: ihm fehlte die Historie der moralischen Empfindungen, die Einsicht in den Ursprung der guten nützlichen Eigenschaften der menschlichen Seele. Er glaubte, wie das ganze Altertum, an Gut und Böse wie an Weiß und Schwarz: also an eine radikale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften. – Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflöße und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung großer Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften – und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 617-619

Wert der Arbeit. – Wollte man den Wert der Arbeit darnach bestimmen, wie viel Zeit, Fleiß, guter oder schlechter Wille, Zwang, Erfindsamkeit oder Faulheit, Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet ist, so kann der Wert niemals gerecht sein; denn die ganze Person müßte auf die Waagschale gesetzt werden können, was unmöglich ist. Hier heißt es »richtet nicht!« Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den wir jetzt von denen hören, welche mit der Abschätzung der Arbeit unzufrieden sind. Denkt man weiter, so findet man jede Persönlichkeit unverantwortlich für ihr Produkt, die Arbeit: ein Verdienst ist also niemals daraus abzuleiten, jede Arbeit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der und der notwendigen Konstellation von Kräften und Schwächen, Kenntnissen und Begehrungen sein muß. Es steht nicht im Belieben des Arbeiters, ob er arbeitet; auch nicht, wie er arbeitet. Nur die Gesichtspunkte des Nutzens, engere und weitere, haben Wertschätzung der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit nennen, ist auf diesem Felde sehr wohl am Platz als eine höchst verfeinerte Nützlichkeit, welche nicht auf den Moment nur Rücksicht nimmt und die Gelegenheit ausbeutet, sondern auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt und deshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit ins Auge faßt, – damit er und seine Nachkommen gut auch für unsere Nachkommen arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben ist, hinaus zuverlässig werde. Die Ausbeutung des Arbeiters war, wie man jetzt begreift, eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft. Jetzt hat man fast schon den Krieg: und jedenfalls werden die Kosten, um den Frieden zu erhalten, um Verträge zu schließen und Vertrauen zu erlangen, nunmehr sehr groß sein, weil die Torheit der Ausbeutenden sehr groß und langdauernd war.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 619-620

Der gefährlichste Anhänger. – Der gefährlichste Anhänger ist der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde: also der beste Anhänger.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 621

Sieg der Demokratie. – Es versuchen jetzt alle politischen Mächte, die Angst vor dem Sozialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat doch allein die Demokratie den Vorteil davon: denn alle Parteien sind jetzt genötigt, dem »Volke« zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk ist vom Sozialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigentumerwerbes, am entferntesten: und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die großen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstentum an den Leib gehen und in der Tat langsam einen Mittelstand schaffen, der den Sozialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf. – Das praktische Ergebnis dieser um sich greifenden Demokratisierung wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmäßigkeiten abgegrenzt, die Stellung eines Kantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden, weil der pietätvolle Sinn für dieselben unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Prinzips allmählich von Grund aus entwurzelt wird. Die Korrekturen der Grenzen, welche dabei sich nötig zeigen, werden so ausgeführt, daß sie dem Nutzen der großen Kantone und zugleich dem des Gesamtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgendwelcher vergrauten Vergangenheit. Die Gesichtspunkte für diese Korrekturen zu finden wird die Aufgabe der zukünftigen Diplomaten sein, die zugleich Kulturforscher, Landwirte, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern Gründe und Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die äußere Politik mit der inneren unzertrennbar verknüpft: während jetzt immer noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrigbleiben.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 621-622

Ziel und Mittel der Demokratie. – Die Demokratie will möglichst vielen Unabhängigkeit schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs. Dazu hat sie nötig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten Menschenklassen, an deren Beseitigung sie stetig arbeiten muß, weil diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage stellen. Ebenso muß sie alles verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei großen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien. – Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem. Das, was schon jetzt so heißt, unterscheidet sich von den älteren Regierungsformen allein dadurch, daß es mit neuen Pferden fährt: die Straßen sind noch die alten, und die Räder sind auch noch die alten. – Ist die Gefahr bei diesen Fuhrwerken des Völkerwohls wirklich geringer geworden?“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 623

Aus der Praxis des Weisen. – Um Weise zu werden, muß man gewisse Erlebnisse erleben wollen, also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist dies freilich; mancher »Weise« wurde dabei aufgefressen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 625

»Eins ist not.« – Wenn man klug ist, ist einem allein darum zu tun, daß man Freude im Herzen habe. – Ach, setzte jemand hinzu, wenn man klug ist, tut man am besten, weise zu sein.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 625

Ein Zeugnis der Liebe. – Jemand sagte: »Über zwei Personen habe ich nie gründlich nachgedacht: es ist das Zeugnis meiner Liebe zu ihnen.«“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 625

Wie man siegen muß. – Man soll nicht siegen wollen, wenn man nur die Aussicht hat, um eines Haares Breite seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg muß den Besiegten freudig stimmen, er muß etwas Göttliches haben, welches die Beschämung erspart.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 636

Forderung der Reinlichkeit. – Daß man seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, daß man seine Kleider wechselt: für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer Eitelkeit.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 637

Die goldene Losung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Tier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Tiere sind. Nun aber leidet er noch daran, daß er so lange seine Ketten trug, daß es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrtümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste große Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Tieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen, und haben dabei die höchste Vorsicht nötig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, daß er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für einzelne gedenkt er eines alten großen und rührenden Wortes, welches allen galt, und das über der gesamten Menschheit stehengeblieben ist, als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem jeder zugrunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christentum zugrunde ging. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, daß es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen aneinander.« – Immer noch ist es die Zeit der einzelnen.“
Ders., Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 637-638

Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt zu einer gewissen Männlichkeit des Geschmacks; der Mann ist nämlich, mit Verlaub, "das unfruchtbare Tier.“
Ders., 1880, in: Nachgelassene Fragmente

„Wer sehr abweichend denkt und empfindet, geht zugrunde, er kann sich nicht fortpflanzen. Somit könnte es für den Grad der Individuation eine Grenze geben. In Zeiten, wo sie peinlich empfunden wird, wie in unserer (und wie in aller bisherigen moralischen Geschichte der Menschheit), vererbt sich der Trieb dazu schlecht. In Zeiten, wo sie lustvoll empfunden wird, übertreibt sie sich leicht und macht die äußerste Isolation (und verhindert dadurch die allgemeine Fruchtbarkeit der Menschheit). Je ähnlicher, desto mehr nimmt die Fruchtbarkeit zu, jeder trifft auf ein genügendes Weibchen: also Übervölkerung im Gefolge der Moral. Je unähnlicher, desto –“
Ders., 1880, in: Nachgelassene Fragmente

„Das vollkommene Weib begeht Literatur, wie es eine kleine Sünde begeht: zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblickend, ob es Jemand bemerkt und daß es Jemand bemerkt ....“
Ders., 1880, in: Nachgelassene Fragmente

„»Es gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben.« (Rigveda).“
Ders., Morgenröte, 1881, Leitspruch

„In diesem Buche findet man einen »Unterirdischen« an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, daß man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat –, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne daß die Not sich allzusehr verriete, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint es nicht, daß irgendein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt? Daß er vielleicht seine eigne lange Finsternis haben will, sein Unverständliches, Verborgenes, Rätselhaftes, weil er weiß, was er auch haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Morgenröte? Gewiß, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will, er wird es euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische, wenn er erst wieder »Mensch geworden« ist. Man verlernt gründlich das Schweigen, wenn man so lange, wie er, Maulwurf war, allein war.“
Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 5

„Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefährliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben, wie angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird – gehorcht! So lang die Welt steht, war noch keine Autorität willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisieren, die Moral als Problem, als problematisch nehmen: wie? war das nicht – ist das nicht – unmoralisch?“
Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 6-7

„Aber die Moral gebietet nicht nur über jede Art von Schreckmitteln, um sich kritische Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten: ihre Sicherheit liegt noch mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht, – sie weiß zu »begeistern«. Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulocken, ja es gibt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiß: so daß er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht.“
Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 7

„Die Moral versteht sich eben von alters her auf jede Teufelei von Überredungskunst: es gibt keinen Redner, auch heute noch, der sie nicht um ihre Hilfe anginge (man höre zum Beispiel selbst unsere Anarchisten reden: wie moralisch reden sie, um zu überreden! Zuletzt heißen sie sich selbst noch gar »die Guten und Gerechten«.) Die Moral hat sich eben von jeher, so lange auf Erden geredet und überredet worden ist, als die größte Meisterin der Verführung bewiesen – und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche Circe der Philosophen.“
Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 7

„Woran liegt es doch, daß von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben? Daß alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und ernsthaft für aere perennius hielten? Oh wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt noch auf diese Frage bereithält, »weil von ihnen allen die Voraussetzung versäumt war, die Prüfung des Fundamentes, eine Kritik der gesamten Vernunft« – jene verhängnisvolle Antwort Kants, der damit uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger trüglichen Boden gelockt hat! (– und nachträglich gefragt, war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, daß ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisieren solle? daß der Intellekt selbst seinen Wert, seine Kraft, seine Grenzen »erkennen« solle? war es nicht sogar ein wenig widersinnig? –) Die richtige Antwort wäre vielmehr gewesen, daß alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben, auch Kant –, daß ihre Absicht scheinbar auf Gewißheit, auf »Wahrheit«, eigentlich aber auf »majestätische sittliche Gebäude« ausging: um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kants zu bedienen, der es als seine eigne »nicht so glänzende, aber doch auch nicht verdienstlose« Aufgabe und Arbeit bezeichnet, »den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen« (Kritik der reinen Vernunft, II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht gelungen, im Gegenteil! – wie man heute sagen muß. Kant war mit einer solchen schwärmerischen Absicht eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andre das Jahrhundert der Schwärmerei genannt werden darf: wie er es, glücklicherweise, auch in bezug auf dessen wertvollere Seiten geblieben ist (zum Beispiel mit jenem guten Stück Sensualismus, den er in seine Erkenntnistheorie hinübernahm). Auch ihn hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseaus fühlte und bekannte, nämlich Robespierre (vgl. Rede vom 7. Juni 1794). Andrerseits konnte man es ... nicht tiefer, gründlicher, deutscher treiben ..., als es Kant getrieben hat: um Raum für sein »moralisches Reich« zu schaffen, sah er sich genötigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches »Jenseits«, – dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nötig! Anders ausgedrückt: er hätte sie nicht nötig gehabt, wenn ihm nicht eins wichtiger als alles gewesen wäre, das »moralische Reich« unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen, – er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von seiten der Vernunft zu stark! Denn angesichts von Natur und Geschichte, angesichts der gründlichen Unmoralität von Natur und Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von alters her, Pessimist; er glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern trotzdem daß ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird. Man darf sich vielleicht, um dies »trotzdem daß« zu verstehen, an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern großen Pessimisten, der es einmal mit der ganzen lutherischen Verwegenheit seinen Freunden zu Gemüte führte: »wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glauben?« Nichts nämlich hat von jeher einen tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, nichts hat sie mehr »versucht«, als diese gefährlichste aller Schlußfolgerungen, welche jedem rechten Romanen eine Sünde wider den Geist ist: credo quia absurdum est: – mit ihr tritt die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogmas auf: aber auch heute noch, ein Jahrtausend später, wittern wir Deutschen von heute, späte Deutsche in jedem Betrachte – etwas von Wahrheit, von Möglichkeit der Wahrheit hinter dem berühmten realdialektischen Grund-Satze, mit welchem Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf – »Der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend« –: wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten.“
Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 7-8

„Aber nicht die logischen Werturteile sind die untersten und gründlichsten, zu denen die Tapferkeit unsres Argwohns hinunterkann: das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gültigkeit dieser Urteile steht und fällt, ist, als Vertrauen, ein moralisches Phänomen .... Vielleicht hat der deutsche Pessimismus seinen letzten Schritt noch zu tun? Vielleicht muß er noch einmal auf eine furchtbare Weise sein credo und sein absurdum nebeneinanderstellen? Und wenn dies Buch bis in die Moral hinein, bis über das Vertrauen zur Moral hinweg pessimistisch ist, – sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein? Denn es stellt in der Tat einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt – warum doch? Aus Moralität! Oder wie sollen wirs heißen, was sich in ihm – in uns – begibt? denn wir würden unsrem Geschmacke nach bescheidenere Worte vorziehn. Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein »du sollst«, auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze über uns, – und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu leben wissen, hier, wenn irgendworin, sind auch wir noch Menschen des Gewissens: daß wir nämlich nicht wieder zurückwollen in das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas »Unglaubwürdiges«, heiße es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe; daß wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; daß wir von Grund aus allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte; feind jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb-und Halben aller Romantik und Vaterländerei; feind auch der Artisten-Genüßlichkeit, Artisten-Gewissenlosigkeit, welche uns überreden möchte, da anzubeten, wo wir nicht mehr glauben – denn wir sind Artisten –; feind, kurzum, dem ganzen europäischen Feminismus (oder Idealismus, wenn man's lieber hört), der ewig »hinanzieht« und ewig gerade damit »herunter bringt«: – allein als Menschen dieses Gewissens fühlen wir uns noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden, wenn auch als deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstande, als deren Erben, als Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt, der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit Lust verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt daß ihr eine Formel wollt, – die Selbstaufhebung der Moral. “
Ders., Morgenröte, 1881, Vorrede, S. 9-10

Nachträgliche Vernünftigkeit. – Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich so mit Vernunft durchtränkt, daß ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft? Widerspricht der gute Historiker im Grunde nicht fortwährend?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 12

Vorurteil der Gelehrten. – Es ist ein richtiges Urteil der Gelehrten, daß die Menschen aller Zeiten zu wissen glaubten, was gut und böse, lobens- und tadelnswert sei. Aber es ist ein Vorurteil der Gelehrten, daß wir es jetzt besser wüßten als irgendeine Zeit.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 12

Alles hat seine Zeit. – Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: – den ungeheuren Umfang dieses Irrtums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht noch nicht ganz eingestanden. – Ebenso hat der Mensch allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebensoviel und nicht mehr Wert haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit der Sonne hat.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 12

Gegen die erträumte Disharmonie der Sphären. – Wir müssen die viele falsche Großartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle Dinge vor uns Anspruch haben! Und dazu tut not, die Welt nicht disharmonischer sehen zu wollen, als sie ist!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 10

Umlernen des Raumgefühls. – Haben die wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück beigetragen? Gewiß ist, daß die Weite des Raumes zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück erst mit Hilfe der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist. Diese Art von Raumgefühl wird folglich, unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert: so wie wir von ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem als Punkt zu empfinden“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 13-14

Zur neuen Erziehung des Menschengeschlechts. – Helft, ihr Hilfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen! Es gibt kein böseres Unkraut! Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn gelegt – und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon dies, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen! – aber man hat mehr getan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des Straf-Begriffs. Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber als Strafe empfinden zu heißen, – es ist, als ob die Phantasterei von Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet hätte!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 18-19

„Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nötig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von »Weltgeschichte«, von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet; und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lärm um die letzten Neuigkeiten ist, gibt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als die uralte Tragödie von den Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten. Nichts ist teurer erkauft als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, welches jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der »Sittlichkeit der Sitte« zu empfinden, welche der »Weltgeschichte« vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wißbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung war! – Ihr meint, es habe sich alles dies geändert, und die Menschheit müsse somit ihren Charakter vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 24-25

„Sittlichkeit und Verdummung. – Die Sitte repräsentiert die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche, – aber das Gefühl für die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiskutabilität der Sitte. Und damit wirkt dies Gefühl dem entgegen, daß man neue Erfahrungen macht und die Sitten korrigiert: das heißt, die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 25

Freitäter und Freidenker. – Die Freitäter sind im Nachteil gegen die Freidenker, weil die Menschen sichtbarer an den Folgen von Taten als von Gedanken leiden. Bedenkt man aber, daß diese wie jene ihre Befriedigung suchen, und daß den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung gibt, so ist in Ansehung der Motive alles eins: und in Ansehung der Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, daß man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit – das heißt: nicht wie alle Welt urteilt. Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurückzunehmen, mit der die Menschen alle jene bedacht haben, welche durch die Tat den Bann einer Sitte durchbrachen, – im allgemeinen heißen sie Verbrecher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als schlechter Mensch gegolten: aber wenn man, wie es vorkam, hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zufrieden gab, so veränderte sich das Prädikat allmählich; – die Geschichte handelt fast nur von diesen schlechten Menschen, welche später gutgesprochen worden sind!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 25-26

Werke und Glaube. – Immer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener Grundirrtum fortgepflanzt: daß es nur auf den Glauben ankomme, und daß aus dem Glauben die Werke notwendig folgen müssen. Dies ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verführerisch, daß es schon andere Intelligenzen als die Luthers (nämlich die des Sokrates und Plato) betört hat: obwohl der Augenschein aller Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur Tat, noch die Gewandtheit zur Tat geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vielteiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muß, damit irgend etwas aus einer Vorstellung sich in Aktion verwandeln könne. Vor allem und zuerst die Werke! Das heißt Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige »Glaube« wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 27

Sitte und Schönheit. – Zugunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, daß bei jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeging an unterwirft, die Angriffs- und Verteidigungsorgane – die körperlichen und geistigen – verkümmern: das heißt, er wird zunehmend schöner! Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es, welche häßlich erhält und häßlicher macht. Der alte Pavian ist darum häßlicher als der junge, und der weibliche junge Pavian ist dem Menschen am ähnlichsten: also am schönsten. – Hiernach mache man einen Schluß auf den Ursprung der Schönheit der Weiber!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 29

Die Tiere und die Moral. – Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen, des Anmaßenden, das Zurückstellen seiner Tugenden sowohl wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleichgeben, Sich-einordnen, Sich-verringern, – dies alles als die gesellschaftliche Moral ist im groben überall bis in die tiefste Tierwelt hinab zu finden, – und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein. Deshalb lernen die Tiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, daß manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermöge der sogenannten »chromatischen Funktion«), daß sie sich tot stellen oder die Formen und Farben eines anderen Tieres oder von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen annehmen (das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). So verbirgt sich der einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes »Mensch« oder unter der Gesellschaft, oder paßt sich an Fürsten, Stände, Parteien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an: und zu allen den feinen Arten, uns glücklich, dankbar, mächtig, verliebt zu stellen, wird man leicht das tierische Gleichnis finden. Auch jenen Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam: man will sich nicht täuschen lassen, sich nicht durch sich selber irreführen lassen, man hört dem Zureden der eigenen Leidenschaften mißtrauisch zu, man bezwingt sich, und bleibt gegen sich auf der Lauer; dies alles versteht das Tier gleich dem Menschen, auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Tiere ausübt, es lernt von dort aus auf sich zurückblicken, sich »objektiv« nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntnis. Das Tier beurteilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigentümlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen einzelne einer bestimmten Gattung gibt es ein für allemal den Kampf auf und ebenso errät es in der Annäherung mancher Arten von Tieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit, – kurz alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist tierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, daß auch der höchste Mensch sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriff dessen, was ihm alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als tierhaft zu bezeichnen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 29-30

Der Stolz auf den Geist. – Der Stolz des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Tieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die große Kluft legt, – dieser Stolz hat seinen Grund in einem Vorurteil über das, was Geist ist: und dieses Vorurteil ist verhältnismäßig jung. In der großen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegenteil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Tieren oder Bäumen abzustammen (die vornehmen Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der Bescheidenheit, – und ebenfalls infolge eines Vorurteils.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 34

Die Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit. – Jene bösen Zufälle, welche eine Gemeinde treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, daß Verstöße gegen die Sitte begangen sind oder daß neue Gebräuche erfunden werden müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen. Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellekts: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso grundsätzlich den wahren natürlichen Folgen einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fliehen, sondern das vermeintliche Mißfallen der Götter an der Versäumnis eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hält dies zuletzt, nur insofern es Symbol sein kann, noch für wertvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit, und spinnt alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an: die sogenannte höhere Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel. Es ist traurig: aber einstweilen müssen dem wissenschaftlichen Menschen alle höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt. Nicht daß sie es an sich oder für immer sein müßten: aber gewiß wird von allen allmählichen Reinigungen, welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle eine der allmählichsten sein.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 35-36

Triebe durch die moralischen Urteile umgestaltet. – Derselbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefühl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der Demut, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich ans Herz gelegt und gut geheißen hat. Das heißt: es hängt sich ihm entweder ein gutes oder ein böses Gewissen an! An sich hat er, wie jeder Trieb, weder dies noch überhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust: er erwirbt dies alles erst, als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf Gut und Böse getauften Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon moralisch festgestellt und abgeschätzt sind. – So haben die älteren Griechen anders über den Neid empfunden als wir; Hesiod zählt ihn unter den Wirkungen der guten, wohltätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstößiges, den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zustande der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut festgestellt und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschätzung der Hoffnung: man empfand sie als blind und tückisch; Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes, daß kein neuerer Erklärer es verstanden hat, – denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christentum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen dagegen, welchen der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gänzlich verschlossen schien, und denen in zahllosen Fällen eine Anfrage um die Zukunft zur religiösen Pflicht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoffnung begnügen, mußte wohl, dank allen Orakeln und Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradiert werden und ins Böse und Gefährliche hinabsinken. – Die Juden haben den Zorn anders empfunden als wir und ihn heilig gesprochen: dafür haben sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein Europäer nicht vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen Jehova nach ihren zornigen heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die großen Zürner unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 38-39

Das Vorurteil vom »reinen Geiste«. – Überall, wo die Lehre von der reinen Geistigkeit geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstört: sie lehrte den Körper geringschätzen, vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen; sie gab verdüsterte, gespannte, gedrückte Seelen, – welche noch überdies glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie vielleicht heben zu können! »Im Körper muß sie liegen! er blüht immer noch zu sehr!« – so schlossen sie, während tatsächlich derselbe gegen seine fortwährende Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache über Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Übernervosität war endlich das Los jener tugendhaften Reingeistigen: die Lust lernten sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns kennen – und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das Höheziel des Lebens und als den verurteilenden Maßstab für alles Irdische nahm.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 40

Zur Wertbestimmung der vita contemplativa . – Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist, – kurz, welche Gegenrechnung die vita activa uns zu machen hat, wenn wir allzu stolz mit unseren Wohltaten uns vor ihr brüsten. Erstens: die sogenannten religiösen Naturen, welche der Zahl nach unter den Kontemplativen überwiegen und folglich ihre gemeinste Spezies abgeben, haben zu allen Zeiten dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerten, die tätige Hand lähmen, – das haben sie verstanden, ebenso wie sie für elende Zeiten und Empfindungen ihre Tröstungen, Almosen, Handreichungen und Segenssprüche gehabt haben. Zweitens: die Künstler, etwas seltener als die Religiösen, aber doch immer noch eine häufige Art von Menschen der vita contemplativa , sind als Personen zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen: diese Wirkung ist von den erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer Werke in Abzug zu bringen. Drittens: die Philosophen, eine Gattung, in der sich religiöse und künstlerische Kräfte beisammen vorfinden, doch so, daß etwas Drittes, das Dialektische, die Lust am Demonstrieren, noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Übeln nach der Weise der Religiösen und der Künstler gewesen und haben noch dazu durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht; doch war ihre Zahl immer sehr klein. Viertens: die Denker und die wissenschaftlichen Arbeiter; sie waren selten auf Wirkungen aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslöcher. So haben sie wenig Verdruß und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand des Spottes und Gelächters sogar, ohne es zu wollen, den Menschen der vita activa das Leben erleichtert. Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nützliches für alle geworden: wenn dieses Nutzens halber jetzt sehr viele zur vita activa Vorherbestimmte sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen, im Schweiße ihres Angesichts und nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwünschungen, so trägt doch an solchem Ungemach die Schar der Denker und wissenschaftlichen Arbeiter keine Schuld; es ist »selbstgeschaffene Pein«.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 41-42

»Erkenne dich selbst« ist die ganze Wissenschaft. – Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 47

Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit. – Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe, nebst anderem greulichen Getier, und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des letzten Menschen und Totengräbers (mit der Aufschrift »nihil humani a me alienum puto«). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer als am Anfang stehen! – es gibt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer »Erdenbahn« zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgendein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 47-48

Wo sind die neuen Ärzte der Seele? – Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die größte Krankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntnis hielt man die augenblicklich wirkenden, betäubenden und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, für die eigentlichen Heilkräfte, ja man merkte es nicht einmal, daß man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens bezahlte, daß die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später an der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesamtgefühl von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, – dafür sorgten die Ärzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. – Man sagt Schopenhauer nach, und mit Recht, daß er die Leiden der Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe: wo ist der, welcher endlich auch einmal die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 49-50

Mißbrauch der Gewissenhaften. – Die Gewissenhaften und nicht die Gewissenlosen waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Bußpredigten und Höllenängsten zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist gerade denen das Leben am meisten verdüstert worden, welche Heiterkeit und anmutige Bilder nötig hatten – nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinübernehme. Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit und Tierquälerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben! Und von den Menschen, welche durch sie den höchsten Genuß ihrer Macht haben wollten!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 50

Gedanken über die Krankheit! – Die Phantasie des Kranken beruhigen, daß er wenigstens nicht, wie bisher, mehr von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat als von der Krankheit selber, – ich denke, das ist etwas! Und es ist nicht wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 50-51

Die Verzweifelnden. – Das Christentum hat den Instinkt des Jägers für alle die, welche irgendwodurch überhaupt zur Verzweiflung zu bringen sind, – nur eine Auswahl der Menschheit ist deren fähig. Hinter ihnen ist es immer her, ihnen lauert es auf. Pascal machte den Versuch, ob nicht mit Hilfe der schneidendsten Erkenntnis jedermann zur Verzweiflung gebracht werden könnte; – der Versuch mißlang, zu seiner zweiten Verzweiflung.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 57

Brahmanen- und Christentum. – Es gibt Rezepte zum Gefühle der Macht, einmal für solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind; sodann für solche, welchen gerade dies fehlt. Für Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanentum Sorge getragen, für Menschen der zweiten Gattung das Christentum.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 57

Preis der Gläubigen. – Wer solchen Wert darauf legt, daß an ihn geglaubt werde, daß er den Himmel für diesen Glauben gewährleistet, und jedermann, sei es selbst ein Schächer am Kreuze, – der muß an einem furchtbaren Zweifel gelitten und jede Art von Kreuzigung kennen gelernt haben: er würde sonst seine Gläubigen nicht so teuer kaufen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 58

Der erste Christ. – Alle Welt glaubt noch immer an die Schriftstellerei des »heiligen Geistes« oder steht unter der Nachwirkung dieses Glaubens: wenn man die Bibel aufmacht, so geschieht es, um sich zu »erbauen«, um in seiner eigenen, persönlichen großen oder kleinen Not einen Fingerzeig des Trostes zu finden, – kurz, man liest sich hinein und sich heraus. Daß in ihr auch die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläubischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht, die Geschichte des Apostels Paulus, – wer weiß das, einige Gelehrte abgerechnet? Ohne diese merkwürdige Geschichte aber, ohne die Verwirrungen und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe es keine Christenheit; kaum würden wir von einer kleinen jüdischen Sekte erfahren haben, deren Meister am Kreuze starb. Freilich: hätte man eben diese Geschichte zur rechten Zeit begriffen, hätte man die Schriften des Paulus nicht als die Offenbarungen des »heiligen Geistes«, sondern mit einem redlichen und freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persönliche Not dabei zu denken, gelesen, wirklich gelesen – es gab anderthalb Jahrtausend keinen solchen Leser –, so würde es auch mit dem Christentum längst vorbei sein: so sehr legen diese Blätter des jüdischen Pascal den Ursprung des Christentums bloß, wie die Blätter des französischen Pascal sein Schicksal und das, woran es zugrunde gehen wird, bloßlegen. Daß das Schiff des Christentums einen guten Teil des jüdischen Ballastes über Bord warf, daß es unter die Heiden ging und gehen konnte, – das hängt an der Geschichte dieses einen Menschen, eines sehr gequälten, sehr bemitleidenswerten, sehr unangenehmen und sich selber unangenehmen Menschen. Er litt an einer fixen Idee, oder deutlicher: an einer fixen, stets gegenwärtigen, nie zur Ruhe kommenden Frage: welche Bewandtnis es mit dem jüdischen Gesetze habe? und zwar mit der Erfüllung dieses Gesetzes? In seiner Jugend hatte er ihm selber genugtun wollen, heißhungrig nach dieser höchsten Auszeichnung, welche die Juden zu denken vermochten, – dieses Volk, welches die Phantasie der sittlichen Erhabenheit höher als irgendein anderes Volk getrieben hat und welchem allein die Schöpfung eines heiligen Gottes, nebst dem Gedanken der Sünde als eines Vergehens an dieser Heiligkeit, gelungen ist. Paulus war zugleich der fanatische Verteidiger und Ehrenwächter dieses Gottes und seines Gesetzes geworden und fortwährend im Kampfe und auf der Lauer gegen die Übertreter und Anzweifler desselben, hart und böse gegen sie und zum äußersten der Strafen geneigt. Und nun erfuhr er an sich, daß er – hitzig, sinnlich, melancholisch, bösartig im Haß, wie er war – das Gesetz selber nicht erfüllen konnte, ja, was ihm das Seltsamste schien: daß seine ausschweifende Herrschsucht fortwährend gereizt wurde, es zu übertreten, und daß er diesem Stachel nachgeben mußte. Ist es wirklich die »Fleischlichkeit«, welche ihn immer wieder zum Übertreter macht? Und nicht vielmehr, wie er später argwöhnte, hinter ihr das Gesetz selber, welches sich fortwährend als unerfüllbar beweisen muß und mit unwiderstehlichem Zauber zur Übertretung lockt? Aber damals hatte er diesen Ausweg noch nicht. Vielerlei lag ihm auf dem Gewissen – er deutet hin auf Feindschaft, Mord, Zauberei, Bilderdienst, Unzucht, Trunkenheit und Lust an ausschweifenden Gelagen – und wie sehr er auch diesem Gewissen, und noch mehr seiner Herrschsucht, durch den äußersten Fanatismus der Gesetzes-Verehrung und -Verteidigung wieder Luft zu machen suchte: es kamen Augenblicke, wo er sich sagte: »Es ist alles umsonst! die Marter des unerfüllten Gesetzes ist nicht zu überwinden.« Ähnlich mag Luther empfunden haben, als er der vollkommene Mensch des geistlichen Ideals in seinem Kloster werden wollte: und ähnlich wie Luther, der eines Tages das geistliche Ideal und den Papst und die Heiligen und die ganze Klerisei zu hassen begann, mit einem wahren tödlichen Haß, je weniger er ihn sich eingestehen durfte, – ähnlich erging es Paulus. Das Gesetz war das Kreuz, an welches er sich geschlagen fühlte: wie haßte er es! wie trug er es ihm nach! wie suchte er herum, um ein Mittel zu finden, es zu vernichten, – nicht mehr es für seine Person zu erfüllen! Und endlich leuchtete ihm der rettende Gedanke auf, zugleich mit einer Vision, wie es bei diesem Epileptiker nicht anders zugehen konnte: ihm, dem wütenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen totmüde war, erschien auf einsamer Straße jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte, und Paulus hörte die Worte: »warum verfolgst du mich?« Das Wesentliche, was da geschah, ist aber dies: sein Kopf war auf einmal hell geworden; »es ist unvernünftig,« hatte er sich gesagt, »gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja der Ausweg, hier ist ja die vollkommene Rache, hier und nirgends sonst habe und halte ich ja den Vernichter des Gesetzes!« Der Kranke des gequältesten Hochmutes fühlt sich mit einem Schlage wieder hergestellt, die moralische Verzweiflung ist wie fortgeblasen, denn die Moral ist fortgeblasen, vernichtet, – nämlich erfüllt, dort am Kreuze! Bisher hatte ihm jener schmähliche Tod als Hauptargument gegen die »Messianität«, von der die Anhänger der neuen Lehre sprachen, gegolten: wie aber, wenn er nötig war, um das Gesetz abzutun! – Die ungeheuren Folgen dieses Einfalls, dieser Rätsellösung wirbeln vor seinem Blicke, er wird mit einem Male der glücklichste Mensch, – das Schicksal der Juden, nein, aller Menschen scheint ihm an diesen Einfall, an diese Sekunde seines plötzlichen Aufleuchtens gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlüssel der Schlüssel, das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich fürderhin die Geschichte! Denn er ist von jetzt ab der Lehrer der Vernichtung des Gesetzes! Dem Bösen absterben – das heißt, auch dem Gesetz absterben; im Fleische sein – das heißt, auch im Gesetze sein! Mit Christus eins geworden – das heißt, auch mit ihm der Vernichter des Gesetzes geworden; mit ihm gestorben – das heißt, auch dem Gesetze abgestorben! Selbst wenn es noch möglich wäre, zu sündigen, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, »ich bin außerhalb desselben«. »Wenn ich jetzt das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so würde ich Christus zum Mithelfer der Sünde machen«; denn das Gesetz war dazu da, daß gesündigt werde, es trieb die Sünde immer hervor, wie ein scharfer Saft die Krankheit; Gott hätte den Tod Christi nie beschließen können, wenn überhaupt ohne diesen Tod eine Erfüllung des Gesetzes möglich gewesen wäre; jetzt ist nicht nur alle Schuld abgetragen, sondern die Schuld an sich vernichtet; jetzt ist das Gesetz tot, jetzt ist die Fleischlichkeit, in der es wohnt, tot – oder wenigstens in fortwährendem Absterben, gleichsam verwesend. Noch kurze Zeit inmitten dieser Verwesung! – das ist das Los des Christen, bevor er, eins geworden mit Christus, aufersteht mit Christus, an der göttlichen Herrlichkeit teilnimmt mit Christus und »Sohn Gottes« wird, gleich Christus. – Damit ist der Rausch des Paulus auf seinem Gipfel, und ebenfalls die Zudringlichkeit seiner Seele, – mit dem Gedanken des Einswerdens ist jede Scham, jede Unterordnung, jede Schranke von ihr genommen, und der unbändige Wille der Herrschsucht offenbart sich als ein vorwegnehmendes Schwelgen in göttlichen Herrlichkeiten. – Dies ist der erste Christ, der Erfinder der Christlichkeit! Bis dahin gab es nur einige jüdische Sektierer.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 58-62

Unnachahmlich. – Es gibt eine ungeheure Spannung und Spannweite zwischen Neid und Freundschaft, zwischen Selbstverachtung und Stolz: in der ersten lebte der Grieche, in der zweiten der Christ.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 62

Wozu ein grober Intellekt nütze ist. – Die christliche Kirche ist eine Enzyklopädie von vorzeitlichen Kulten und Anschauungen der verschiedensten Abkunft und deshalb so missionsfähig: sie mochte ehemals, sie mag jetzt kommen, wohin sie will, sie fand und findet etwas Ähnliches vor, dem sie sich anpassen und dem sie allmählich ihren Sinn unterschieben kann. Nicht das Christliche an ihr, sondern das Universal-Heidnische ihrer Gebräuche ist der Grund für die Ausbreitung dieser Weltreligion; ihre Gedanken, die zugleich im Jüdischen und im Hellenischen wurzeln, haben von Anbeginn an über die nationalen und rassemäßigen Absonderungen und Feinheiten, gleich als über Vorurteile, sich zu erheben gewußt. Man mag diese Kraft, das Verschiedenste ineinander wachsen zu lassen, immerhin bewundern: nur vergesse man auch die verächtliche Eigenschaft dieser Kraft nicht, – die erstaunliche Grobheit und Genügsamkeit ihres Intellekts in der Zeit der Kirchenbildung, um dergestalt mit jeder Kost fürlieb zu nehmen und Gegensätze wie Kieselsteine zu verdauen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 63-63

Die christliche Rache an Rom. – Nichts ermüdet vielleicht so sehr als der Anblick eines beständigen Siegers, – man hatte Rom zweihundert Jahre lang ein Volk nach dem andern sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt, alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet – ja, wenn das Reich baute, so baute man mit dem Hintergedanken des »aere perennius«; – wir, die wir nur die »Melancholie der Ruinen« kennen, können kaum jene ganz andersartige Melancholie der ewigen Bauten verstehen, gegen welche man sich zu retten suchen mußte, wie es gehen wollte, – zum Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens. Andere suchten andere Trostmittel gegen die an Verzweiflung grenzende Müdigkeit, gegen das tötende Bewußtsein, daß alle Gedanken- und Herzensgänge nunmehr ohne Hoffnung seien, daß überall die große Spinne sitze, daß sie unerbittlich alles Blut trinken werde, wo es auch noch quelle. – Dieser jahrhundertalte wortlose Haß der ermüdeten Zuschauer gegen Rom, so weit nur Rom herrschte, entlud sich endlich im Christentum, indem es Rom, die »Welt« und die »Sünde« in eine Empfindung zusammenfaßte: man rächte sich an ihm, indem man den plötzlichen Untergang der Welt sich in der Nähe dachte; man rächte sich an ihm, indem man wieder eine Zukunft vor sich stellte – Rom hatte alles zu seiner Vorgeschichte und Gegenwart zu machen gewußt – und eine Zukunft, in Vergleich zu welcher Rom nicht mehr als das Wichtigste erschien; man rächte sich an ihm, indem man vom letzten Gericht träumte, – und der gekreuzigte Jude als Symbol des Heils war der tiefste Spott auf die prachtvollen römischen Prätoren in der Provinz, denn nun erschienen sie als die Symbole des Unheils und der zum Untergange reifen »Welt«.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 90

Das »Nach-dem-Tode«. – Das Christentum fand die Vorstellung von Höllenstrafen im ganzen römischen Reiche vor: über ihr haben die zahlreichen geheimen Kulte mit besonderem Wohlgefallen gebrütet, als über dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht. Epikur hatte für seinesgleichen nichts Größeres zu tun geglaubt, als die Wurzeln dieses Glaubens auszureißen: sein Triumph, der am schönsten im Munde des düsteren und doch hellgewordenen Jüngers seiner Lehre, des Römers Lukretius, ausklingt, kam zu früh, – das Christentum nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen Schrecknisse in seinen besonderen Schutz, und tat klug daran! Wie hätte es ohne diesen kühnen Griff ins volle Heidentum den Sieg über die Popularität der Mithras- und Isiskulte davontragen können! So brachte es die Furchtsamen auf seine Seite, – die stärksten Anhänger eines neuen Glaubens! Die Juden, als ein Volk, welches am Leben hing und hängt, gleich den Griechen und mehr als die Griechen, hatten jene Vorstellungen wenig angebaut: der endgültige Tod als die Strafe des Sünders, und niemals wieder auferstehen als äußerste Drohung, – das wirkte schon stark genug auf diese sonderbaren Menschen, welche ihren Leib nicht loswerden wollten, sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Ägyptizismus, in alle Ewigkeit zu retten hofften. (Ein jüdischer Märtyrer, von dem im zweiten Buche der Makkabäer zu lesen ist, denkt nicht daran, auf seine herausgerissenen Eingeweide Verzicht zu leisten: bei der Auferstehung will er sie haben, – so ist es jüdisch!) Den ersten Christen lag der Gedanke an ewige Qualen ganz fern, sie dachten »vom Tode« erlöst zu sein und erwarteten von Tag zu Tag eine Verwandlung, und nicht mehr ein Sterben. (Wie seltsam muß der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben! Wie mischten sich da Verwunderung, Frohlocken, Zweifel, Scham, Inbrunst! – wahrlich ein Vorwurf für große Künstler!) Paulus wußte nichts Besseres seinem Erlöser nachzusagen, als daß er den Zugang zur Unsterblichkeit für jedermann eröffnet habe, – er glaubt noch nicht an die Auferstehung der Unerlösten, ja infolge seiner Lehre vom unerfüllbaren Gesetze und vom Tode als Folge der Sünde argwöhnt er, im Grunde sei bisher niemand (oder sehr wenige, und dann aus Gnade und ohne Verdienst) unsterblich geworden; jetzt erst beginne die Unsterblichkeit ihre Tore aufzutun, – und zuletzt seien auch für sie sehr wenige auserwählt: wie der Hochmut des Auserwählten nicht unterlassen kann hinzuzufügen. – Anderwärts, wo der Trieb nach Leben nicht gleich groß war, wie unter Juden und Judenchristen, und die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht ohne weiteres wertvoller erschien als die Aussicht auf einen endgültigen Tod, wurde jener heidnische und doch auch nicht ganz unjüdische Zusatz von der Hölle ein erwünschtes Werkzeug in der Hand der Missionäre: es erhob sich die neue Lehre, daß auch der Sünder und Unerlöste unsterblich sei, die Lehre vom Ewig-Verdammten, und sie war mächtiger als der nunmehr ganz verbleichende Gedanke vom endgültigen Tode. Erst die Wissenschaft hat ihn sich wieder zurückerobern müssen, und zwar indem sie zugleich jede andere Vorstellung vom Tode und jedes jenseitige Leben ablehnte. Wir sind um ein Interesse ärmer geworden: das »Nach-dem-Tode« geht uns nichts mehr an! – eine unsägliche Wohltat, welche nur noch zu jung ist, um als solche weit- und breithin empfunden zu werden. – Und von neuem triumphiert Epikur!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 64-66

Nicht europäisch und nicht vornehm. – Es ist etwas Orientalisches und etwas Weibliches im Christentum: das verrät sich in dem Gedanken »wen Gott lieb hat, den züchtigt er«; denn die Frauen im Orient betrachten Züchtigungen und strenge Abschließung ihrer Person gegen die Welt als ein Zeichen der Liebe ihres Mannes und beschweren sich, wenn diese Zeichen ausbleiben.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 67

Böse denken heißt böse machen. – Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite – großen idealfähigen Mächten – höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ. Ist es nicht schrecklich, notwendige und regelmäßige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend bei jedem Menschen notwendig und regelmäßig machen zu wollen! Noch dazu bleibt es ein geheimgehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend: denn nicht alle haben den Mut Shakespeares, ihre christliche Verdüsterung in diesem Punkte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten getan hat. – Muß denn etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse heißen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, daß hier der eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohltut, – man trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur! Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben! Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern! – Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen: der »Teufel« Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, dank der Munkelei und Geheimtuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, – in einer dem Altertum unbegreiflichen Übertreibung, der später einmal auch noch das Gelächter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei, vom Größten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet: vielleicht daß ihrethalben die Nachwelt urteilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Kultur liege etwas Kleinliches und Verrücktes.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 67-68

Die strafende Gerechtigkeit. – Unglück und Schuld, – diese beiden Dinge sind durch das Christentum auf eine Waage gesetzt worden: so daß, wenn das Unglück groß ist, das auf eine Schuld folgt, jetzt immer noch unwillkürlich die Größe der Schuld selber danach zurückbemessen wird. Dies aber ist nicht antik, und deshalb gehört die griechische Tragödie, in der so reichlich und doch in so anderem Sinne von Unglück und Schuld die Rede ist, zu den großen Befreierinnen des Gemüts, in einem Maße, wie es die Alten selber nicht empfinden konnten. Sie waren so harmlos geblieben, zwischen Schuld und Unglück keine »adäquate Relation« anzusetzen. Die Schuld ihrer tragischen Heroen ist wohl der kleine Stein, über welchen diese stolpern und deswegen sie wohl den Arm brechen oder sich ein Auge ausschlagen: die antike Empfindung sagte dazu: »Ja, er hätte etwas bedachtsamer und weniger übermütig seinen Weg machen sollen!« Aber erst dem Christentum war es vorbehalten, zu sagen: »Hier ist ein schweres Unglück und hinter ihm muß eine schwere, gleichschwere Schuld verborgen liegen, ob wir sie schon nicht deutlich sehen! Empfindest du Unglücklicher nicht so, so bist du verstockt, – du wirst noch Schlimmeres zu erleben haben!« – Sodann gab es im Altertum wirklich noch Unglück, reines, unschuldiges Unglück; erst im Christentum wird alles Strafe, wohlverdiente Strafe: es macht die Phantasie des Leidenden auch noch leidend, so daß er bei allem Übel-ergehen sich moralisch verwerflich und verworfen fühlt. Arme Menschheit! – Die Griechen haben ein eigenes Wort für die Empörung über das Unglück des andern: dieser Affekt war unter christlichen Völkern unstatthaft und hat sich wenig entwickelt, und so fehlt ihnen auch der Name für diesen männlicheren Bruder des Mitleidens.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 71

»In hoc signo vinces.« – So vorgeschritten Europa auch sonst sein mag: in religiösen Dingen hat es noch nicht die freisinnige Naivität der alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, daß in Indien vor vier Jahrtausenden mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, daß die Priester mächtiger seien als die Götter, und zweitens, daß die Bräuche es seien, worin die Macht der Priester begriffen liege: weshalb ihre Dichter nicht müde wurden, die Bräuche (Gebete, Zeremonien, Opfer, Lieder, Metren) als die eigentlichen Geber alles Guten zu preisen. Wie viel Dichterei und Aberglaube hier auch immer dazwischengelaufen sein mag: die Sätze sind wahr! Einen Schritt weiter: und man warf die Götter beiseite, – was Europa auch einmal tun muß! Noch einen Schritt weiter: und man hatte auch die Priester und Vermittler nicht mehr nötig, und der Lehrer der Religion der Selbsterlösung, Buddha, trat auf: – wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Kultur! Wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die Macht der Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also die Moral im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt – ja was kommt dann? Doch raten wir nicht herum, sondern sehen wir zunächst zu, daß Europa nachholt, was in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden als Gebot des Denkens getan wurde! Es gibt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europas, welche nicht mehr »an Gott glauben«, – ist es zu viel gefordert, daß sie einander ein Zeichen geben? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch zu erkennen geben, – sie werden sofort eine Macht in Europa sein und, glücklicherweise, eine Macht zwischen den Völkern! Zwischen den Ständen! Zwischen Arm und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und den ruhigsten, beruhigendsten Menschen!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 81-82

Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. – »Die Sittlichkeit leugnen« – das kann einmal heißen: leugnen, daß die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, – es ist also die Behauptung, daß die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. Sodann kann es heißen: leugnen, daß die sittlichen Urteile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, daß sie Motive des Handelns wirklich sind, daß aber auf diese Weise Irrtümer, als Grund alles sittlichen Urteilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Dies ist mein Gesichtspunkt: doch möchte ich am wenigsten verkennen, daß in sehr vielen Fällen ein feines Mißtrauen nach Art des ersten Gesichtspunktes, also im Geiste des Larochefoucauld, auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. – Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchimie leugne, das heißt ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, daß es Alchimisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. – Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, daß zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern daß es einen Grund in der Wahrheit gibt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht – vorausgesetzt, daß ich kein Narr bin –, daß viele Handlungen, welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, daß viele, die sittlich heißen, zu tun und zu fördern sind – aber ich meine: das eine wie das andere aus anderen Gründen als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 85-86

Unsere Wertschätzungen. – Alle Handlungen gehen auf Wertschätzungen zurück, alle Wertschätzungen sind entweder eigene oder angenommene, – letztere bei weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht, – das heißt: wir halten es für ratsamer, uns so zu stellen, als ob sie auch die unsrigen wären – und gewöhnen uns an diese Verstellung, so daß sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Wertschätzung: das will besagen, eine Sache in bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem anderen Lust oder Unlust macht, – etwas äußerst Seltenes! – Aber wenigstens muß doch unsre Wertschätzung des anderen, in der das Motiv dafür liegt, daß wir uns in den meisten Fällen seiner Wertschätzung bedienen, von uns ausgehen, unsere eigene Bestimmung sein? Ja, aber als Kinder machen wir sie und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urteile in der Art, wie wir über unsre Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit) urteilen und es nötig finden, vor ihren Wertschätzungen zu huldigen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 86

Der Schein-Egoismus. – Die allermeisten, was sie auch immer von ihrem »Egoismus« denken und sagen mögen, tun trotzdem ihr Leben lang nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgeteilt hat; – infolgedessen leben sie alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Wertschätzungen, einer immer im Kopfe des andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen: eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen Anschein zu geben weiß! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt; in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urteile über »den Menschen«, – alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstraktum »Mensch«, das heißt an eine Fiktion; und jede Veränderung, die mit diesem Abstraktum vorgenommen wird, durch die Urteile einzelner Mächtiger (wie Fürsten und Philosophen), wirkt außerordentlich und in unvernünftigem Maße auf die große Mehrzahl, – alles aus dem Grunde, daß jeder einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiktion entgegenzustellen und sie damit zu vernichten vermag.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 86-87

Gegen die Definitionen der moralischen Ziele. – Man hört allerwärts jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt: es sei die Erhaltung und Förderung der Menschheit; aber das heißt eine Formel haben wollen, und weiter nichts. Erhaltung, worin? muß man sofort dagegen fragen, Förderung, wohin? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin? und Wohin? in der Formel ausgelassen? Was läßt sich also mit ihr für die Pflichtenlehre festsetzen, was nicht schon, stillschweigend und gedankenlos, jetzt als festgesetzt gilt! Kann man aus ihr genügend absehen, ob man eine möglichst lange Existenz der Menschheit ins Auge zu fassen habe? Oder die möglichste Enttierung der Menschheit? Wie verschieden würden in beiden Fällen die Mittel, das heißt die praktische Moral, sein müssen! Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit geben: dies hieße gewiß nicht ihr die höchste ihr mögliche Dauer verbürgen! Oder gesetzt, man dächte an ihr »höchstes Glück« als das Wohin und Worin: meint man dann den höchsten Grad, den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten? Oder eine, übrigens gar nicht zu berechnende, letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit aller? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin? Ist nicht durch sie, im großen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen aufgetan worden, daß man eher urteilen könnte, mit jeder Verfeinerung der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und mit seinem Lose des Daseins unzufriedener geworden? Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit?
Ders., Morgenröte, 1881, S. 87-88

„Es ist nicht wahr, daß die Moralität, wie das Vorurteil will, der Entwicklung der Vernunft günstiger sei als die Unmoralität. – Es ist nicht wahr, daß das unbewußte Ziel in der Entwicklung jedes bewußten Wesens (Tier, Mensch, Menschheit usw.) sein »höchstes Glück« sei: vielmehr gibt es auf allen Stufen der Entwicklung ein besonderes und unvergleichbares, weder höheres noch niederes, sondern eben eigentümliches Glück zu erlangen. Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwicklung und weiter nichts. – Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel hätte, könnte man vorschlagen »so und so soll gehandelt werden«: einstweilen gibt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral nicht in Beziehung zur Menschheit setzen, es ist dies Unvernunft und Spielerei. – Der Menschheit ein Ziel anempfehlen ist etwas ganz anderes: dann ist das Ziel als etwas gedacht, das in unserem Belieben ist; gesetzt, es beliebte der Menschheit so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich darauf hin auch ein Moralgesetz geben, ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher sollte das Moralgesetz über dem Belieben stehen: man wollte dies Gesetz sich nicht eigentlich geben, sondern es irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden oder irgendwoher es sich befehlen lassen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 120

„Sokrates und Plato, in diesem Stücke große Zweifler und bewunderungswürdige Neuerer, waren doch harmlos gläubig in betreff jenes verhängnisvollsten Vorurteils, jenes tiefsten Irrtums, daß »der richtigen Erkenntnis die richtige Handlung folgen müsse«, – sie waren in diesem Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dünkels: daß es ein Wissen um das Wesen einer Handlung gebe. »Es wäre ja schrecklich, wenn der Einsicht in das Wesen der rechten Tat nicht die rechte Tat folgte«, – dies ist die einzige Art, wie jene Großen diesen Gedanken zu beweisen für nötig hielten, das Gegenteil schien ihnen undenkbar und toll – und doch ist dies Gegenteil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und stündlich bewiesene Wirklichkeit! Ist es nicht gerade die »schreckliche« Wahrheit: daß, was man von einer Tat überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu tun, daß die Brücke von der Erkenntnis zur Tat in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind niemals das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, daß die äußeren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, – nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 102-103

Was ist denn der Nächste! – Was begreifen wir denn von unserm Nächsten als seine Grenzen, ich meine das, womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt ? Wir begreifen nichts von ihm als die Veränderungen an uns, deren Ursache er ist, – unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen geformten Raume. Wir legen ihm die Empfindungen bei, die seine Handlungen in uns hervorrufen, und geben ihm so eine falsche, umgekehrte Positivität. Wir bilden ihn nach unsrer Kenntnis von uns, zu einem Satelliten unsres eigenen Systems: und wenn er uns leuchtet oder sich verfinstert, und wir von beidem die letzte Ursache sind, – so glauben wir doch das Gegenteil! Welt der Phantome, in der wir leben! Verkehrte, umgestülpte, leere, und doch voll und gerade geträumte Welt!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 105

»Ursache und Wirkung!« – Auf diesem Spiegel – und unser Intellekt ist ein Spiegel – geht etwas vor, das Regelmäßigkeit zeigt, ein bestimmtes Ding folgt jedesmal wieder auf ein anderes bestimmtes Ding – das nennen wir, wenn wir es wahrnehmen und nennen wollen, Ursache und Wirkung, wir Toren! Als ob wir da irgend etwas begriffen hätten und begreifen könnten! Wir haben ja nichts gesehen als die Bilder von »Ursachen und Wirkungen«! Und eben diese Bildlichkeit macht ja die Einsicht in eine wesentlichere Verbindung, als die der Aufeinanderfolge ist, unmöglich!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 109

Die Zwecke in der Natur. – Wer, als unbefangener Forscher, der Geschichte des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muß zu dem großen Ergebnis kommen: daß das Sehen nicht die Absicht bei der Entstehung des Auges gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als der Zufall den Apparat zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel: und die »Zwecke« fallen uns wie Schuppen von den Augen!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 110

Vernunft. – Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist? Wie billig auf eine unvernünftige Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn erraten müssen wie ein Rätsel.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 110

Was ist Wollen! – Wir lachen über den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: »ich will, daß die Sonne aufgehe«; und über den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: »ich will, daß es rolle«; und über den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: »hier liege ich, aber ich will hier liegen!« Aber, trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders als einer von diesen dreien, wenn wir das Wort gebrauchen: »ich will«?
Ders., Morgenröte, 1881, S. 110

Vom »Reiche der Freiheit«. – Wir können viel, viel mehr Dinge denken, als tun und erleben, – das heißt unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja es merkt sie nicht. Wäre unser Intellekt streng nach dem Maße unserer Kraft und unserer Übung der Kraft entwickelt, so würden wir den Grundsatz zu oberst in unserem Denken haben, daß wir nur begreifen können, was wir tun können, – wenn es überhaupt ein Begreifen gibt. Der Durstige entbehrt des Wassers, aber seine Gedankenbilder führen ihm unaufhörlich das Wasser vor die Augen, wie als ob nichts leichter zu beschaffen wäre, – die oberflächliche und leicht zufriedengestellte Art des Intellektes kann das eigentliche notleidende Bedürfnis nicht fassen und fühlt sich dabei überlegen: er ist stolz darauf, mehr zu können, schneller zu laufen, im Augenblick fast am Ziele zu sein, – und so erscheint das Reich der Gedanken im Vergleich mit dem Reiche des Tuns, Wollens und Erlebens als ein Reich der Freiheit: während es, wie gesagt, nur ein Reich der Oberfläche und der Genügsamkeit ist.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 110-111

Vergessen. – Daß es ein Vergessen gibt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, daß die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorläufig haben wir in diese Lücke unserer Macht jenes Wort »Vergessen« gesetzt: gleich als ob es ein Vermögen mehr im Register sei. Aber was steht zuletzt in unserer Macht! – Wenn jenes Wort in einer Lücke unserer Macht steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lücke unseres Wissens um unsere Macht stehen?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 111

Nach Zwecken. – Von allen Handlungen werden wohl am wenigsten die nach Zwecken verstanden, weil sie immer als die verständlichsten gegolten haben und für unser Bewußtsein das Alltäglichste sind. Die großen Probleme liegen auf der Gasse.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 111

Der Traum und die Verantwortlichkeit. – In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer – in diesen Komödien seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können, was wir träumen! Ich schließe daraus: daß die große Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume bewußt sein muß. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den Hochmut des Menschen ausgebeutet haben! – Muß ich hinzufügen, daß der weise Ödipus recht hatte, daß wir wirklich nicht für unsere Träume – aber ebensowenig für unser Wachen verantwortlich sind, und daß die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage dies vielleicht zu oft: aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrtum.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 112

Die moralischen Moden. – Wie sich die moralischen Gesamt-Urteile verschoben haben! Diese größten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wußten nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens an andere, des Lebens für andere; man würde sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften für ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht daß sie uns antworten würden: »habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder häßlichen Gegenstand, so denkt doch ja an andere mehr als an euch! Ihr tut gut daran!«“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 120

„Aus dem allen folgt, daß, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Überlegenheit-Gebendes liegt; was beide Empfindungen auf ewig voneinander trennt.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 125

Angeblich höher! – Ihr sagt, die Moral des Mitleidens ist eine höhere Moral als die des Stoizismus? Beweist es! aber bemerkt, daß über »höher« und »niedriger« in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen abzumessen ist: denn es gibt keine absolute Moral. Nehmt also die Maßstäbe anderswo her und – nun seht euch vor!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 126

Wehe, wenn dieser Trieb erst wütet! – Gesetzt, der Trieb der Anhänglichkeit und Fürsorge für andere (die »sympathische Affektion«) wäre doppelt so stark, als er ist, so wäre es gar nicht auf der Erde auszuhalten. Man bedenke doch nur, was jeder aus Anhänglichkeit und Fürsorge für sich selber an Torheiten begeht, täglich und stündlich, und wie unausstehlich er dabei anzusehn ist: wie wäre es, wenn wir für andere das Objekt dieser Torheiten und Zudringlichkeiten wür den, mit denen sie sich bisher nur selber heimgesucht haben! Würde man dann nicht blindlings flüchten, sobald ein »Nächster« uns nahe käme? Und die sympathische Affektion mit ebenso bösen Worten belegen, mit denen wir jetzt den Egoismus belegen?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 130

»Unegoistisch!« – Jener ist hohl und will voll werden, dieser ist überfüllt und will sich ausleeren, – beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt man beidemal mit einem Worte: Liebe, – wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 131

„Dürfen wir unsern Nächsten nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 132

„Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuopfern?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 132

„Warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? so daß ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nötig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für alle machen solle?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 132

„Endlich: wir teilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er sich als Opfer fühlen kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch über unser Mitleid hinweg gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist dies nicht eine höhere und freiere Haltung und Stimmung als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten wohl oder wehe tut? Wir dagegen würden doch durch das Opfer – in welchem wir und die Nächsten einbegriffen sind – das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht stärken und höher heben, gesetzt auch, daß wir nicht mehr erreichten. Aber schon dies wäre eine positive Vermehrung des Glücks. – Zuletzt, wenn dies sogar – – doch hier kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 132-133

Ausblick in die Ferne. – Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl definiert hat, welche um des anderen willen und nur um seinetwillen getan werden, so gibt es keine moralischen Handlungen! Sind nur die Handlungen moralisch – wie eine andere Definition lautet –, welche in Freiheit des Willens getan werden, so gibt es ebenfalls keine moralischen Handlungen! – Und was ist also das, was man so nennt und das doch jedenfalls existiert und erklärt sein will? Es sind die Wirkungen einiger intellektuellen Fehlgriffe. – Und gesetzt, man machte sich von diesen Irrtümern frei, was würde aus den »moralischen Handlungen«? – Vermöge dieser Irrtümer teilten wir bisher einigen Handlungen einen höheren Wert zu, als sie haben: wir trennten sie von den »egoistischen« und den »unfreien« Handlungen ab. Wenn wir sie jetzt diesen wieder zuordnen, wie wir tun müssen, so verringern wir gewiß ihren Wert (ihr Wertgefühl), und zwar unter das billige Maß hinab, weil die »egoistischen« und »unfreien« Handlungen bisher zu niedrig geschätzt wurden, auf Grund jener angeblichen tiefsten und innerlichsten Verschiedenheit. – So werden gerade sie von jetzt ab weniger oft getan werden, weil sie von nun an weniger geschätzt werden? – Unvermeidlich! Wenigstens für eine gute Zeit, solange die Waage des Wertgefühls unter der Reaktion früherer Fehler steht! Aber unsere Gegenrechnung ist die, daß wir den Menschen den guten Mut zu den als egoistisch verschrienen Handlungen zurückgeben und den Wert derselben wiederherstellen, – wir rauben diesen das böse Gewissen! Und da diese bisher weit die häufigsten waren und in alle Zukunft es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde der Handlungen und des Lebens seinen bösen Anschein! Dies ist ein sehr hohes Ergebnis! Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf, es zu sein!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 133-134

Kleine abweichende Handlungen tun not! – In den Angelegenheiten der Sitte auch einmal wider seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie alle und damit allen eine Artigkeit und Wohltat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für das Abweichende unserer Meinungen: – das gilt bei vielen leidlich freigesinnten Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als »honett«, »human«, »tolerant«, »nicht pedantisch«, und wie die schönen Worte lauten mögen, mit denen das intellektuelle Gewissen in Schlaf gesungen wird: und so bringt dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei Atheist, und jener tut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhaß verdammt, und ein dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne sich zu schämen. »Es ist nicht wesentlich, wenn unsereiner auch tut, was alle immerdar tun und getan haben« – so klingt das grobe Vorurteil! Der grobe Irrtum! Denn es gibt nichts Wesentlicheres, als wenn das bereits Mächtige, Altherkömm liche und vernunftlos Anerkannte durch die Handlung eines anerkannt Vernünftigen noch einmal bestätigt wird: damit erhält es in den Augen aller die davon hören, die Sanktion der Vernunft selber! Alle Achtung vor euren Meinungen! Aber kleine abweichende Handlungen sind mehr wert!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 135

Der Zufall der Ehen. – Wäre ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott, so würden mich die Ehen der Menschen mehr als alles andere ungeduldig machen. Weit, weit kann ein einzelner vorwärts kommen, in seinen siebenzig, ja in seinen dreißig Jahren – es ist zum Erstaunen, selbst für Götter! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermächtnis dieses Ringens und Siegens, den Lorbeer seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort aufhängt, wo ihn ein Weiblein zerpflückt: sieht man, wie gut er zu erringen, wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, daß er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten könne: so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich »es kann aus der Menschheit auf die Dauer nichts werden, die einzelnen werden verschwendet, der Zufall der Ehen macht alle Vernunft eines großen Ganges der Menschheit unmöglich – hören wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels ohne Ziel zu sein!« – In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Götter Epikurs in ihre göttliche Stille und Seligkeit zurück: sie waren der Menschen und ihrer Liebeshändel müde.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 135-136

Hier sind neue Ideale zu erfinden. – Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande der Verliebtheit einen Entschluß über sein Leben zu fassen und einer heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein für allemal festzusetzen: man sollte die Schwüre der Liebenden öffentlich für ungültig erklären und ihnen die Ehe verweigern: – und zwar, weil man die Ehe unsäglich wichtiger nehmen sollte! so daß sie in solchen Fällen, wo sie bisher zustande kam, für gewöhnlich gerade nicht zustande käme! Sind nicht die meisten Ehen der Art, daß man keinen dritten als Zeugen wünscht? Und gerade dieser dritte fehlt fast nie – das Kind – und ist mehr als ein Zeuge, nämlich der Sündenbock!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 136

Eidformel. – »Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch mehr, und jeder soll es mir ins Gesicht sagen dürfen.« – Diese Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der üblichen Anrufung Gottes dabei: sie ist stärker. Auch der Fromme hat keinen Grund, sich ihr zu widersetzen: sobald nämlich der bisherige Eid nicht mehr hinreichend nützt, muß der Fromme auf seinen Katechismus hören, welcher vorschreibt »du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht unnützlich führen!«“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 137

Ein Unzufriedener. – Das ist einer jener alten Tapferen: er ärgert sich über die Zivilisation, weil er meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge, Ehren, Schätze, schöne Weiber – auch den Feigen zugänglich zu machen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 137

Trost der Gefährdeten. – Die Griechen, in einem Leben, welches großen Gefahren und Umstürzen sehr nahe stand, suchten im Nachdenken und Erkennen eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes refugium. Wir, in einem unvergleichlich sichreren Zustande, haben die Gefährlichkeit ins Nachdenken und Erkennen getragen und erholen und beruhigen uns von ihr am Leben.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 138

Erloschene Skepsis. – Kühne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener als in der alten und mittelalterlichen – wahrscheinlich deshalb, weil die neue Zeit nicht mehr den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das heißt: wir sind dazu unfähig geworden, an eine uns bestimmte Zukunft zu glauben, so wie die Alten glaubten, welche – anders als wir – in Beziehung auf das, was kommt, viel weniger Skeptiker waren als in Beziehung auf das, was da ist.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 138

Aus Übermut böse. – »Daß wir uns nur nicht zu wohl fühlen!« – das war die heimliche Herzensangst der Griechen in der guten Zeit. Deshalb predigten sie sich das Maß. Und wir!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 138

Kultus der »Naturlaute«. – Wohin weist es, daß unsre Kultur gegen die Äußerungen des Schmerzes, gegen Tränen, Klagen, Vorwürfe, Gebärden der Wut oder der Demütigung, nicht nur geduldig ist, daß sie dieselben gut heißt und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet? – während der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah und ihnen durchaus keine Notwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie Plato – das heißt: keiner von den unmenschlichsten Philosophen – von dem Philoktet der tragischen Bühne redet. Sollte unsrer modernen Kultur vielleicht »die Philosophie« fehlen? Sollten wir, nach der Abschätzung jener alten Philosophen, vielleicht samt und sonders zum »Pöbel« gehören?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 138

Klima des Schmeichlers. – Die hündischen Schmeichler muß man jetzt nicht mehr in der Nähe der Fürsten suchen – diese haben alle den militärischen Geschmack, und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der Nähe der Bankiers und Künstler wächst jene Blume auch jetzt noch.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 139

Die Totenerwecker. – Eitle Menschen schätzen ein Stück Vergangenheit von dem Augenblick an höher, von dem an sie es nachzuempfinden vermögen (zumal wenn dies schwierig ist), ja sie wollen es womöglich jetzt wieder von den Toten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der Tat nicht gering: es wird zu viel Kraft an alle möglichen Toten-Erweckungen weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten aus diesem Gesichtspunkte.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 139

Eitel, begehrlich und wenig weise. – Eure Begierden sind größer als euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch größer als eure Begierden – solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus recht viel christliche Praxis und dazu ein wenig Schopenhauersche Theorie anzuraten!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 139

Schönheit gemäß dem Zeitalter. – Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so müssen sie die Schönheit gedunsen, riesenhaft und nervös bilden: so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maßes, die Schönheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich häßlich nennen! Aber die albernen »Klassizisten« haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 150

Die Ironie der Gegenwärtigen. – Augenblicklich ist es Europäer-Art, alle großen Interessen mit Ironie zu behandeln, weil man vor Geschäftigkeit in ihrem Dienste keine Zeit hat, sie ernst zu nehmen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 150

Gegen Rousseau. – Wenn es wahr ist, daß unsre Zivilisation etwas Erbärmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschließen »diese erbärmliche Zivilisation ist Schuld an unsrer schlechten Moralität«, oder gegen Rousseau zurückzuschließen »unsere gute Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Zivilisation. Unsere schwachen, unmännlichen, gesellschaftlichen Begriffe von Gut und Böse und die ungeheure Überherrschaft derselben über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer starken Zivilisation, zerbrochen: wo man der schlechten Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser Pfeiler.« So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von beiden? Man prüfe.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 150-141

Vielleicht verfrüht. – Gegenwärtig scheint es so, daß unter allerhand falschen, irreführenden Namen und zumeist in großer Unklarheit, von seiten derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisieren und damit sich ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrien, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend lebten. Dies sollte man im ganzen und großen billig und gut finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und jedem das Gewehr um die Schulter hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, daß es keine allein-moralisch-machende Moral gibt und daß jede ausschließlich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tötet und der Menschheit zu teuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Taten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheure Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden – diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 141

Welche Moral nicht langweilt. – Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich immer wieder lehren und vorpredigen läßt, stehen in Beziehung zu seinen Hauptfehlern, und deshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen die Mäßigung, der kalte Mut, der gerechte Sinn und überhaupt die Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier sokratischen Tugenden – denn man hatte sie so nötig und doch gerade für sie so wenig Talent!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 142

Scheidewege. – Pfui! Ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muß, voll und ganz, oder unter die Räder gerät! Wo es sich von selber versteht, daß jeder das ist, wozu er von oben her gemacht wird! Wo das Suchen nach »Konnexion« zu den natürlichen Pflichten gehört! Wo keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam gemacht wird »er kann Ihnen einmal nützen«! Wo man sich nicht schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten! Wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferware der Natur bezeichnet hat, welche andre verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür verantwortlich zu fühlen; gleich als ob man sagte: »an solcher Art, wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstände!«“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 150

Die unbedingten Huldigungen. – Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehörtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke: so muß ich mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der unbedingten Gefühle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen großen Männern. Es gibt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen: jedesmal einen Strom, in seinem eignen, selbstgegrabenen Strombette, und so mächtig bewegt, daß es öfter scheinen könnte, als wollte er den Berg hinaufströmen. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben möge: wer möchte nicht gern andrer Meinung sein als Schopenhauer, im ganzen und großen! – Und wer könnte jetzt einer Meinung mit Richard Wagner sein, im ganzen und im kleinen? so wahr es auch sein mag, was jemand gesagt hat, daß überall, wo er Anstoß nimmt und wo er Anstoß gibt, ein Problem vergraben liegt, – genug, er selber bringt es nicht an das Licht. – Und endlich, wie viele möchten von ganzem Herzen mit Bismarck einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es fürderhin zu sein! Zwar: ohne Grundsätze, aber mit Grundtrieben, ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben deshalb ohne Grundsätze – das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben, vielmehr als das Rechte und Naturgemäße gelten; aber leider war es bisher so durchaus nicht deutsch! ebenso wenig als Lärm um Musik und Mißklang und Mißmut um den Musiker, ebenso wenig als die neue und außerordentliche Stellung, welche Schopenhauer wählte: nämlich weder über den Dingen, noch auf den Knien vor den Dingen – beides hätte noch deutsch heißen können –, sondern gegen die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich in eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guter Letzt gar als der Gegner seiner selber! – was kann der unbedingte Verehrer mit einem solchen Vorbilde anfangen! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern, die untereinander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagners, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarcks, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu tun! Wohin sich mit seinem Durste nach der »Huldigung in Bausch und Bogen« flüchten! Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Takte guter Musik auslesen, die sich einem ans Herz legen und denen man sich gern ans Herz legt, weil sie ein Herz haben, – könnte man mit diesem kleinen Raub beiseite gehen und den ganzen Rest – vergessen! Und ein eben solches Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen – auslesen, sich ans Herz legen und namentlich den Rest vergessen! Ja, wenn nur das Vergessen nicht so schwer wäre! Da gab es einen sehr stolzen Menschen, der durchaus nur von sich selber etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als er aber das Vergessen nötig hatte, konnte er es sich selber nicht geben, sondern mußte dreimal die Geister beschwören; sie kamen, sie hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie: »nur dies gerade steht nicht in unserer Macht!« Sollten die Deutschen sich die Erfahrung Manfreds nicht zunutze machen? Warum erst noch die Geister beschwören! Es ist unnütz, man vergißt nicht, wenn man vergessen will.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 142-144

Ein Vorbild. – Was liebe ich an Thukydides, was macht, daß ich ihn höher ehre als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, daß zu jedem Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu entdecken. Er hat eine größere praktische Gerechtigkeit als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe getan haben. Im Gegenteil: er sieht etwas Großes in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht; was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen, was nicht typisch wäre! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene Kultur der unbefangensten Weltkenntnis zu einem letzten herrlichen Ausblühen, welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Kultur, welche auf den Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, getauft zu werden verdient und leider von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blaß und unfaßbar zu werden beginnt, – denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr unsittliche Kultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen Schulen kämpfte! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, daß es Widerwillen macht, sie aufzudröseln: so laufe der alte Irrtum (error veritate simplicior) seinen alten Weg!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 145

Das Griechische uns sehr fremd. – Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europäisch: im Verhältnis zum Griechischen ist diesem allen die Massenhaftigkeit und der Genuß an der großen Quantität als der Sprache des Erhabenen zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und Athen und vor der ganzen griechischen Architektur so erstaunt darüber wird, mit wie kleinen Massen die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen lieben. – Ebenfalls: wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber in ihrer Vorstellung! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntnis! Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsre Vorstellungen von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) – so müßte das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende Musik läßt es schon erraten! (In der Musik nämlich lassen sich die Menschen gehen, weil sie wähnen, es sei niemand da, der sie selber unter ihrer Musik zu sehen vermöge.)“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 146

Andere Perspektive des Gefühls. – Was ist unser Geschwätz von den Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele – die Leidenschaft für die männliche nackte Schönheit ist! Erst von da aus empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine völlig andere Perspektive als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 146

Tragödie und Musik. – Männer in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemüts, wie zum Beispiel die Griechen in der Zeit des Äschylus, sind schwer zu rühren, und wenn das Mitleiden einmal über ihre Härte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer »dämonischen Gewalt«, – sie fühlen sich dann unfrei und von einem religiösen Schauder erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand; solange sie in ihm sind, genießen sie das Entzücken des Außer-sich-seins und des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermut des Leidens: es ist das so recht ein Getränk für Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und Bittersüßes, das einem nicht leicht zuteil wird. – An Seelen, die so das Mitleiden empfinden, wendet sich die Tragödie, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nütze ist, von Zeit zu Zeit erweicht zu werden: aber was soll die Tragödie denen, welche den »sympathischen Affektionen« offenstehen wie die Segel den Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer geworden waren, zur Zeit Platos – ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit unserer Groß-und Kleinstädter! – aber doch klagten schon die Philosophen über die Schädlichkeit der Tragödie. Ein Zeitalter voller Gefahren wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit im Preise steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen wieder so hart machen, daß tragische Dichter ihnen not tun: einstweilen aber waren diese ein wenig überflüssig, – um das mildeste Wort zu gebrauchen. – So kommt vielleicht auch für die Musik noch einmal das bessere Zeitalter (gewiß wird es das bösere sein!) dann, wenn die Künstler sich mit ihr an streng persönliche, in sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden haben: aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersönlichen, neugierigen und nach allem lüsternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 147-148

Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. – Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode: »moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für andere« sehe ich einen sozialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellektuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, daß dem Leben alle Gefährlichkeit genommen werde, welche es früher hatte, und daß daran jeder und mit allen Kräften helfen solle: deshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädikat »gut« bekommen! – Wie wenig Freude müssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden Notstand, für jedes Leiden anderwärts Luchsaugen zu haben! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen Affektionen? – Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem andern mehr nützt, indem man ihm unmittelbar fortwährend beispringt und hilft – was doch nur sehr oberflächlich geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen Übergreifen und Umbilden wird – oder indem man aus sich selber etwas formt, was der andre mit Genuß sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstraßen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 149-150

Grundgedanke einer Kultur der Handeltreibenden. – Man sieht jetzt mehrfach die Kultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebensosehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die ältern Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht alles zu taxieren, ohne es zu machen, und zwar zu taxieren nach dem Bedürfnisse der Konsumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse; »wer und wie viele konsumieren dies?« ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinktiv und immerwährend an: auf alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter: er fragt bei allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, um für sich den Wert einer Sache festzusetzen. Dies zum Charakter einer ganzen Kultur gemacht, bis ins Unbegrenzte und Feinste durchgedacht und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden Klasse Recht haben dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben an diese Propheten. Credat Judaeus Apella – mit Horaz zu reden.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 150

„Unser Zeitalter, soviel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 153

Regieren. – Die einen regieren, aus Lust am Regieren; die andern, um nicht regiert zu werden: – diesen ist es nur das geringere von zwei Übeln.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 153

Die sogenannte klassische Erziehung. – Zu entdecken, daß unser Leben der Erkenntnis geweiht ist; daß wir es wegwerfen würden, nein! daß wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorspreche gibt:
»Schicksal, ich folge dir! Und wollt ich nicht,
ich müßt' es doch und unter Seufzen tun!«“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 163

„Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als daß alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich, ja kaum zugänglich ist, und daß die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. “
Ders., Morgenröte, 1881, S. 165

„Bei manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der Tat als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgendeines dämonischen Wesens, welches sich ihm infolge einer Schuld einverleibt hat, – da heißt es: jeder Kranke ist ein Schuldiger! Und wir – sollten wir noch nicht reif für die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dürfen: jeder »Schuldige« ist ein Kranker? – Nein, die Stunde dafür ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor allem die Ärzte, für welche das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst und Heilwissenschaft umgewandelt haben muß; noch fehlt allgemein jenes hungrige Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird; noch sind die Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen und höheren Schulen; noch gibt es keine stillen Vereine solcher, welche sich untereinander verpflichtet haben, auf die Hilfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Übeltätern zu verzichten; noch hat kein Denker den Mut gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer, welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte: »willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneußt dein der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, – es geneußt dein alle Kreatur.«“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 173-174

Gewissensfrage. – »Und in summa: was wollt ihr eigentlich neues?« – Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sündern und die Folgen zu Henkern machen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 185

Die Nützlichkeit der strengsten Theorien. – Man sieht einem Menschen viele Schwächen der Moralität nach und handhabt dabei ein grobes Sieb, vorausgesetzt, daß er sich immer zur strengsten Theorie der Moral bekennt! Dagegen hat man das Leben der freigeistischen Moralisten immer unter das Mikroskop gestellt: mit dem Hintergedanken, daß ein Fehltritt des Lebens das sicherste Argument gegen eine unwillkommene Erkenntnis sei.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 185

Moral der Opfertiere. – »Sich begeistert hingeben«, »sich selber zum Opfer bringen« – das sind die Stichworte eurer Moral, und ich glaube es gerne, daß ihr, wie ihr sagt, »es damit ehrlich meint«: nur kenne ich euch besser, als ihr euch kennt, wenn eure »Ehrlichkeit« mit einer solchen Moral Arm in Arm zu gehen vermag. Ihr seht von der Höhe derselben herab auf jene andere nüchterne Moral, welche Selbstbeherrschung, Strenge, Gehorsam fordert, ihr nennt sie wohl gar egoistisch, und gewiß! – ihr seid ehrlich gegen euch, wenn sie euch mißfällt, – sie muß euch mißfallen! Denn indem ihr euch begeistert hingebt und aus euch ein Opfer macht, genießt ihr jenen Rausch des Gedankens nunmehr eins zu sein mit dem Mächtigen, sei es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr euch weiht: ihr schwelgt in dem Gefühle seiner Macht die eben wieder durch ein Opfer bezeugt ist. In Wahrheit scheint ihr euch nur zu opfern, ihr wandelt euch vielmehr in Gedanken zu Göttern um und genießt euch als solche. Von diesem Genusse aus gerechnet – wie schwach und arm dünkt euch jene »egoistische« Moral des Gehorsams, der Pflicht, der Vernünftigkeit: sie mißfällt euch, weil hier wirklich geopfert und hingegeben werden muß, ohne daß der Opferer sich in einen Gott verwandelt wähnt, wie ihr wähnt. Kurz, ihr wollt den Rausch und das Übermaß, und jene von euch verachtete Moral hebt den Finger auf gegen Rausch und Übermaß – ich glaube euch wohl, daß sie euch Mißbehagen macht!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 188

Das »Erhebende« am Unglück des Nächsten. – Er ist im Unglück, und nun kommen die »Mitleidigen« und malen ihm sein Unglück aus – endlich gehen sie befriedigt und erhoben fort: sie haben sich an dem Entsetzen des Unglücklichen wie an dem eignen Entsetzen geweidet und sich einen guten Nachmittag gemacht.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 192

Kettenträger. – Vorsicht vor allen Geistern, die an Ketten liegen! Zum Beispiel vor den klugen Frauen, welche ihr Schicksal in eine kleine, dumpfe Umgebung gebannt hat, und die darin alt werden. Zwar liegen sie scheinbar träge und halb blind in der Sonne da: aber bei jedem fremden Tritt, bei allem Unvermuteten fahren sie auf, um zu beißen, sie nehmen an allem Rache, was ihrer Hundehütte entkommen ist.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 170

Das Theater hat seine Zeit. – Wenn die Phantasie eines Volkes nachläßt, entsteht der Hang in ihm, seine Sagen sich auf der Bühne vorführen zu lassen, jetzt erträgt es die groben Ersatzstücke der Phantasie – aber für jenes Zeitalter, dem der epische Rhapsode zugehört, ist das Theater und der als Held verkleidete Schauspieler ein Hemmschuh anstatt ein Flügel der Phantasie: zu nah, zu bestimmt, zu schwer, zu wenig Traum und Vogelflug.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 208

Zwei Freunde. – Es waren Freunde, aber sie haben aufgehört, es zu sein, und sie knüpften von beiden Seiten zugleich ihre Freundschaft los, der eine, weil er sich zu sehr verkannt glaubte, der andere, weil er sich zu sehr erkannt glaubte, – und beide haben sich dabei getäuscht! – denn jeder von ihnen kannte sich selber nicht genug.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 216

Griechisches Ideal. – Was bewunderten die Griechen an Odysseus? Vor allem die Fähigkeit zur Lüge und zur listigen und furchtbaren Wiedervergeltung; den Umständen gewachsen sein; wenn es gilt, edler erscheinen als der Edelste; sein können, was man will; heldenhafte Beharrlichkeit; sich alle Mittel zu Gebote stellen; Geist haben – sein Geist ist die Bewunderung der Götter, sie lächeln, wenn sie daran denken –: dies alles ist griechisches Ideal! Das Merkwürdigste daran ist, daß hier der Gegensatz von Scheinen und Sein gar nicht gefühlt und also auch nicht sittlich angerechnet wird. Gab es je so gründliche Schauspieler!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 223

Furcht und Liebe. – Die Furcht hat die allgemeine Einsicht über den Menschen mehr gefördert als die Liebe, denn die Furcht will erraten, wer der andre ist, was er kann, was er will: sich hierin zu täuschen wäre Gefahr und Nachteil. Umgekehrt hat die Liebe einen geheimen Impuls, in dem andern so viel Schönes als möglich zu sehen oder ihn sich so hoch als möglich zu heben: sich dabei zu täuschen, wäre für sie eine Lust und ein Vorteil – und so tut sie es.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 224

Die Gutmütigen. – Die Gutmütigen haben ihr Wesen durch die beständige Furcht erlangt, welche ihre Voreltern vor fremden Übergriffen gehabt haben, – sie milderten, beschwichtigten, baten ab, beugten vor, zerstreuten, schmeichelten, duckten sich, verbargen den Schmerz, den Verdruß, glätteten sofort wieder ihre Züge – und zuletzt vererbten sie diesen ganzen zarten und wohlgespielten Mechanismus auf ihre Kinder und Enkel. Diesen gab ein günstigeres Geschick keinen Anlaß zu jener beständigen Furcht: nichtsdestoweniger spielen sie beständig auf ihrem Instrumente“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 224-225

Schwache Sekten. – Die Sekten, welche fühlen, daß sie schwach bleiben werden, machen Jagd auf einzelne intelligente Anhänger und wollen durch Qualität ersetzen, was ihnen an Quantität abgeht. Hierin liegt keine geringe Gefahr für die Intelligenten.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 226

Das Urteil des Abends. – Wer über sein Tages- und Lebenswerk nachdenkt, wenn er am Ende und müde ist, kommt gewöhnlich zu einer melancholischen Betrachtung: das liegt aber nicht am Tage und am Leben, sondern an der Müdigkeit. – Mitten im Schaffen nehmen wir uns gewöhnlich keine Zeit zu urteilen über das Leben und das Dasein, und mitten im Genießen auch nicht: kommt es aber einmal doch dazu, so geben wir dem nicht mehr recht, welcher auf den siebenten Tag und die Ruhe wartete, um alles, was da ist, sehr schön zu finden, – er hatte den besseren Augenblick verpaßt.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 227

Gastfreundschaft. – Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist: das Feindliche im Fremden zu lähmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind empfindet, nimmt die Gastfreundschaft ab; sie blüht, so lange ihre böse Voraussetzung blüht“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 227

Womöglich ohne Arzt leben. – Es will mir scheinen, als ob ein Kranker leichtsinniger sei, wenn er einen Arzt hat, als wenn er selber seine Gesundheit besorgt. Im ersten Falle genügt es ihm, streng in bezug auf alles Vorgeschriebene zu sein; im andern Falle fassen wir das, worauf jene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit, mit mehr Gewissen ins Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbieten uns viel mehr, als auf Veranlassung des Arztes geschehen würde. – Alle Regeln haben diese Wirkung: vom Zwecke hinter der Regel abzuziehen und leichtsinniger zu machen. – Und wie würde der Leichtsinn der Menschheit ins Unbändige und Zerstörerische gestiegen sein, wenn sie jemals vollkommen ehrlich der Gottheit als ihrem Arzte alles überlassen hätte, nach dem Worte »wie Gott will«!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 229

Der Wohltätige. – Der Wohltätige befriedigt ein Bedürfnis seines Gemüts, wenn er wohltut. Je stärker dieses Bedürfnis ist, um so weniger denkt er sich in den andern hinein, der ihm dient, sein Bedürfnis zu stillen, er wird unzart und beleidigt unter Umständen. (Dies sagt man der jüdischen Wohltätigkeit und Barmherzigkeit nach: welche bekanntlich etwas hitziger ist als die andrer Völker.)“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 234

Redefreiheit. – »Die Wahrheit muß gesagt werden, und wenn die Welt in Stücke gehen sollte!« – so ruft, mit großem Munde, der große Fichte! – Ja! Ja! Aber man müßte sie auch haben! – Aber er meint, jeder solle seine Meinung sagen, und wenn alles drunter und drüber ginge. Darüber ließe sich mit ihm noch rechten.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 240

Keine Utilitarier. – »Die Macht, der viel Böses angetan und angedacht wird, ist mehr wert als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfährt«, – so empfanden die Griechen. Das heißt: das Gefühl der Macht wurde von ihnen höher geschätzt als irgendein Nutzen oder guter Ruf.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 242

Gefährliche Tugenden. – »Er vergißt nichts, aber er vergibt alles.« – Dann wird er doppelt gehaßt, denn er beschämt doppelt, mit seinem Gedächtnis und mit seiner Großmut“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 252

Die Ängstlichen. – Gerade die ungeschickten ängstlichen Wesen werden leicht zu Totschlägern: sie verstehen die kleine zweckentsprechende Verteidigung oder Rache nicht, ihr Haß weiß aus Mangel an Geist und Geistesgegenwart keinen andern Ausweg als die Vernichtung.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 256

Ohne Haß. – Du willst von deiner Leidenschaft Abschied nehmen? Tue es, aber ohne Haß gegen sie! Sonst hast du eine zweite Leidenschaft. – Die Seele des Christen, die sich von der Sünde freigemacht hat, wird gewöhnlich hinterher durch den Haß gegen die Sünde ruiniert. Sieh die Gesichter der großen Christen an! Es sind die Gesichter von großen Hassern“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 256

Remedium amoris. – Immer noch hilft gegen die Liebe in den meisten Fällen jenes alte Radikalmittel: die Gegenliebe.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 257

Grenze aller Demut. – Zu der Demut, welche spricht: credo quia absurdum est, und ihre Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl schon mancher: aber keiner, so viel ich weiß, bis zu jener Demut, die doch nur einen Schritt davon entfernt ist und welche spricht: credo quia absurdus sum.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 258

Für wen die Wahrheit da ist. – Bis jetzt sind die Irrtümer die trostreichen Mächte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten dieselbe Wirkung und wartet ein wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade dies – zu trösten – nicht zu leisten vermöchten? – Wäre dies denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zuständen leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, daß sie gerade ihnen nützlich sein müßten? Es ist doch kein Beweis gegen die Wahrheit einer Pflanze, wenn festgestellt wird, daß sie zur Genesung kranker Menschen nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, daß man ohne weiteres annahm, es könne auch durch die Erkenntnis nichts aufgedeckt werden, was nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es könne, es dürfe gar keine anderen Dinge geben. – Vielleicht folgt aus alledem der Satz, daß die Wahrheit als Ganzes und Zusammenhängendes nur für die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedenvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur imstande sein werden, sie zu suchen: denn die anderen suchen Heilmittel für sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellekt und dessen Freiheit denken, – sie suchen nicht die Wahrheit. Daher kommt es, daß diese anderen so wenig echte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist dies das Urteil der Kranken über die Spiele der Gesunden. – Auch die griechischen Götter verstanden nicht zu trösten; als endlich auch die griechischen Menschen allesamt krank wurden, war dies ein Grund zum Untergang solcher Götter.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 261-262

Farbenblindheit der Denker. – Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen, wie man sich eingestehen muß, das Auge für Blau und Grün blind war, und sie statt des ersteren ein tieferes Braun, statt des zweiten ein Gelb sahen (wenn sie also mit gleichem Worte zum Beispiel die Farbe des dunklen Haares, die der Kornblume und die des südländischen Meeres bezeichneten, und wiederum mit gleichem Worte die Farbe der grünsten Gewächse und der menschlichen Haut, des Honigs und der gelben Harze: so daß ihre größten Maler bezeugtermaßen ihre Welt nur mit Schwarz, Weiß, Rot und Gelb wiedergegeben haben), – wie anders und wie viel näher an den Menschen gerückt mußte ihnen die Natur erscheinen, weil in ihrem Auge die Farben des Menschen auch in der Natur überwogen, und diese gleichsam in dem Farbenäther der Menschheit schwamm! (Blau und Grün entmenschlichen die Natur mehr, als alles andere.) Auf diesem Mangel ist die spielende Leichtigkeit, welche die Griechen auszeichnet, Naturvorgänge als Götter und Halbgötter, das heißt als menschartige Gestalten zu sehen, großgewachsen. – Dies sei aber nur das Gleichnis für eine weitere Vermutung. Jeder Denker malt seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, als es gibt, und ist gegen einzelne Farben blind. Dies ist nicht nur ein Mangel. Er sieht vermöge dieser Annäherung und Vereinfachung Harmonien der Farben in die Dinge hinein, welche einen großen Reiz haben und eine Bereicherung der Natur ausmachen können. Vielleicht ist dies sogar der Weg gewesen, auf dem die Menschheit den Genuß im Anblick des Daseins erst gelernt hat: dadurch, daß ihr dieses Dasein zunächst in einem oder zwei Farbtönen und dadurch harmonisiert vorgeführt wurde: sie übte sich gleichsam auf diese wenigen Töne ein, bevor sie zu mehreren übergehen konnte. Und noch jetzt arbeitet sich mancher einzelne aus einer teilweisen Farbenblindheit in ein reicheres Sehen und Unterscheiden hinaus: wobei er aber nicht nur neue Genüsse findet, sondern immer auch einige der früheren aufgeben und verlieren muß.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 262-263

Die Verschönerung der Wissenschaft. – Wie die Rokoko-Gartenkunst entstand, aus dem Gefühl »die Natur ist häßlich, wild, langweilig – auf! wir wollen sie verschönern!«, – so entsteht aus dem Gefühl »die Wissenschaft ist häßlich, trocken, trostlos, schwierig, langwierig – auf! laßt uns sie verschönern!« immer wieder etwas, das sich die Philosophie nennt. Sie will, was alle Künste und Dichtungen wollen, – vor allem unterhalten: sie will dies aber, gemäß ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und höheren Art, vor einer Auswahl von Geistern. Für diese eine Gartenkunst zu schaffen, deren Hauptreiz wie bei jener »gemeineren« die Täuschung der Augen ist (durch Tempel, Fernblicke, Grotten, Irrpfade, Wasserfälle, um im Gleichnisse zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei wunderbaren und plötzlichen Beleuchtungen vorzuführen und so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, daß man in ihr »wie in der wilden Natur« und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne, – das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, träumt sogar davon, auf diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat. – Dies geht nun seinen Gang und erreicht eines Tages seine hohe Flut: jetzt schon beginnen die Gegenstimmen gegen die Philosophie laut zu werden, welche rufen »Rückkehr zur Wissenschaft! Zur Natur und Natürlichkeit der Wissenschaft!« – womit vielleicht ein Zeitalter anhebt, das die mächtigste Schönheit gerade in den »wilden, häßlichen« Teilen der Wissenschaft entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 263-264

Die neue Leidenschaft. – Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei? – Weil sie die Menschen unglücklicher machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten mehr Glück: täuschen wir uns nicht! – Sondern unser Trieb zur Erkenntnis ist zu stark, als daß wir noch das Glück ohne Erkenntnis oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des Entdeckens und Erratens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; – ja vielleicht sind wir auch unglücklich Liebende! Die Erkenntnis hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde nichts fürchtet, als ihr eignes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, daß die gesamte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müßte als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden hat. Vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntnis zu grunde geht! – auch dieser Gedanke vermag nichts über uns! Hat sich denn das Christentum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei – wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit als den Rückgang der Erkenntnis! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zugrunde geht, so wird sie an einer Schwäche zugrunde gehen: was will man lieber? Dies ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 265-266

Mit neuen Augen sehen. – Gesetzt daß unter Schönheit in der Kunst immer die Nachbildung des Glücklichen zu verstehen ist – und so halte ich es für die Wahrheit –, je nachdem eine Zeit, ein Volk, ein großes in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen vorstellt: was gibt dann der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu genießen wissen. Folglich muß man wohl glauben, das jetzige uns eigene Glück liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität? So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, daß die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen »Seligkeiten« an sich geworden sind!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 267

Nicht unvermerkt zugrunde gehen. – Nicht einmal, sondern fortwährend bröckelt es an unserer Tüchtigkeit und Größe; die kleine Vegetation, welche zwischen allem hineinwächst und sich überall anzuklammern versteht, diese ruiniert das, was groß an uns ist, – die alltägliche, stündliche übersehene Erbärmlichkeit unsrer Umgebung, die tausend Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmütigen Empfindung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unsrer Geselligkeit, unsrer Tageseinteilung herauswächst. Lassen wir dies kleine Unkraut unbemerkt, so gehn wir an ihm unbemerkt zugrunde! – Und wollt ihr durchaus zugrunde gehn, so tut es lieber auf einmal und plötzlich: dann bleiben vielleicht von euch erhabene Trümmer übrig! Und nicht, wie jetzt zu befürchten steht, Maulwurfshügel! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen, bescheiden wie vordem und zu erbärmlich selbst zum Triumphieren!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 268

Kasuistisch. – Es gibt eine bitterböse Alternative, der nicht jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist: als Passagier eines Schiffes zu entdecken, daß Kapitän und Steuermann gefährliche Fehler machen und daß man ihnen in nautischem Wissen überlegen sei, – und nun sich zu fragen: Wie! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie beide gefangen nehmen ließest? Verpflichtet dich deine Überlegenheit nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsams untergräbst? – Dies ist ein Gleichnis für höhere und bösere Lagen: wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere Überlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fällen gewährleistet. Der Erfolg? Aber da muß man eben schon das Ding tun, welches alle Gefahren in sich trägt – und nicht nur Gefahren für uns, sondern für das Schiff.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 268-269

Vorrechte. – Wer sich selber wirklich besitzt, das heißt, wer sich endgültig erobert hat, betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht dies niemandem zuzugestehen, er kann es aber auch einem andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde zum Beispiel, – aber er weiß, daß er damit ein Recht verleiht und daß man nur aus dem Besitze der Macht heraus Rechte verleihen kann.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 269

Mensch und Dinge. – Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die Dinge.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 269

Die Regel. – »Die Regel ist mir immer interessanter als die Ausnahme« – wer so empfindet, der ist in der Erkenntnis weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 270

Zur Erziehung. – Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: niemand lernt, niemand strebt darnach, niemand lehrt – die Einsamkeit ertragen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 271

Rangordnung. – Es gibt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker – solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen –, drittens gründliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen – was sehr viel mehr wert ist als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! –, endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit sein sollte! Es sind die lieben Untergründlichen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 271-272

Meister und Schüler. – Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 272

Die Wirklichkeit ehren. – Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Tränen und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres Jubels und würden noch immer so denken, wenn wir ihn nicht erlebt hätten! Wozu können uns also die Erlebnisse fortreißen! Was sind unsere Meinungen! Man muß, um sich nicht zu verlieren, um seine Vernunft nicht zu verlieren, vor den Erlebnissen flüchten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen; er war voller Empfindung und wußte, wie leicht die Wellen der Empfindung über seiner Vernunft zusammenschlugen. – So hätte sich demnach der Weise zu sagen: »ich will die Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, weil ich sie kenne und fürchte«? – er müßte es machen wie afrikanische Völkerschaften vor ihren Fürsten: welche ihnen nur rückwärts nahen und ihre Verehrung zu gleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 272

Die Lockung der Erkenntnis. – Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Blick durch das Tor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber; und vermutlich werden sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern: so heftig ist ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle Sinne – dieser Ton der süßen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und im hundert-ersten und schönsten: »Laß den Wahn schwinden! Dann ist auch das ›Wehe mir!‹ verschwunden; und mit dem "Wehe mir!" ist auch das Wehe dahin.« (Mark Aurel.)“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 274

Wem ein Hofnarr nötig ist. – Die sehr Schönen, die sehr Guten, die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend etwas die volle und gemeine Wahrheit – denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich ein wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemäß das, was man an Wahrheit mitteilen könnte, in der Form einer Anpassung vorbringt (also Farben und Grade des Tatsächlichen fälscht Einzelheiten wegläßt oder hinzutut und das, was sich gar nicht anpassen lassen will, hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren halten – ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen zu können.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 274

Moralisches Interregnum. – Wer wäre jetzt schon imstande, das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urteile ablösen wird! – so sicher man auch einzusehen vermag, daß diese in allen Fundamenten irrtümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit muß von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen – zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medizin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und tun am besten, in diesem Interregnum so sehr als nur möglich, unsre eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 275

Die erste Natur. – So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustoßen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den meisten vertrocknet der Keim davon.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 276

Seine gefährlichen Stunden ausnützen. – Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt: wie zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innre des Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewußt haben muß, als dem weisesten Historiker es auch nur möglich wäre. Nun leben wir alle vergleichungsweise in einer viel zu großen Sicherheit, als daß wir gute Menschenkenner werden könnten: der eine erkennt aus Liebhaberei, der andere aus Langerweile, der dritte aus Gewohnheit; niemals heißt es: »erkenne, oder geh zugrunde!« Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern ins Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie: sie scheinen uns immer noch den »gefiederten Träumen« zu ähnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben könnten – als ob etwas an ihnen in unserm Belieben stünde, als ob wir auch von diesen unsern Wahrheiten erwachen könnten!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 278

Zweimal Geduld. – »Damit machst du vielen Menschen Schmerz.« – Ich weiß es; und weiß auch dies, daß ich doppelt dafür leiden muß, einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache, die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem ist es nicht weniger nötig, so zu tun, wie ich tue.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 281

Das Reich der Schönheit ist größer. – Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die allem eigene Schönheit zu entdecken und gleichsam auf der Tat zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch machen, jenes Stück Küste mit Felsen, Meerbuchten, Ölbäumen und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt: so sollten wir auch unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher, Gutes und Böses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sich offenbare, welche bei diesem sonnenhaft, bei jenem gewitterhaft und bei einem dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den bösen Menschen als eine wilde Landschaft zu genießen, die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn derselbe Mensch, so lange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Karikatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? -Ja, es ist verboten: bisher war es nur erlaubt, im Moralisch-Guten nach Schönheit zu suchen, – Grund genug, daß man so wenig gefunden und sich so viel nach imaginären Schönheiten ohne Knochen hat umtun müssen! -So gewiß es hundert Arten von Glück bei den Bösen gibt, von denen die Tugendhaften nichts ahnen, so gibt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit: und viele sind noch nicht entdeckt.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 282

Die Unmenschlichkeit des Weisen. – Bei dem schweren, alles zermalmenden Gange des Weisen, welcher, nach dem buddhistischen Liede, »einsam wandelt wie das Rhinozeros«, – bedarf es von Zeit zu Zeit der Zeichen einer versöhnlichen und gemilderten Menschlichkeit: und zwar nicht nur jener schnelleren Schritte, jener artigen und geselligen Wendungen des Geistes, nicht nur des Witzes und einer gewissen Selbstverspottung, sondern selbst der Widersprüche, der gelegentlichen Rückfälle in die herrschende Ungereimtheit. Damit er nicht der Walze gleiche, welche wie das Verhängnis daherrollt, muß der Weise, der lehren will, seine Fehler zu seiner Beschönigung gebrauchen, und indem er sagt »verachtet mich!« – bittet er um die Gunst, der Fürsprecher einer anmaßlichen Wahrheit zu sein. Er will euch ins Gebirge führen, er wird euer Leben vielleicht in Gefahr bringen: dafür überläßt er es euch willig, vorher und nachher, an einem solchen Führer Rache zu nehmen – es ist der Preis, um den er sich selber den Genuß macht voranzugehen. – Gedenkt ihr dessen, was euch durch den Sinn ging als er euch einmal durch eine finstere Höhle auf schlüpfrigen Wegen geleitete? Wie euer Herz, klopfend und mißmutig, sich sagte: »dieser Führer da könnte Besseres tun als hier herumzukriechen! Er gehört zu einer neugierigen Art von Müßiggängern; – ist es nicht schon zu viel Ehre für ihn, daß wir ihm überhaupt einen Wert zuzuerkennen scheinen, indem wir ihm folgen?«“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 282-283

Sich nicht rechtfertigen. – A: Aber warum willst du dich nicht rechtfertigen? – B: Ich könnte es, hierin und in hundert Dingen, aber ich verachte das Vergnügen, das in der Rechtfertigung liegt: denn diese Dinge sind für mich nicht groß genug, und lieber will ich Flecken an mir tragen, als jenen Kleinlichen zu ihrer hämischen Freude zu verhelfen, daß sie sagen könnten: »er nimmt diese Dinge doch sehr wichtig!« Dies ist eben nicht wahr! Vielleicht müßte mir noch mehr an mir selber gelegen sein, um eine Pflicht zu haben, fehlerhafte Vorstellungen über mich zu berichtigen, – ich bin zu gleichgültig und träge gegen mich und so auch gegen das, was durch mich gewirkt wird.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 284

Wo man sein Haus bauen soll. – Wenn du in der Einsamkeit dich groß und fruchtbar fühlst, so wird dich die Geselligkeit verkleinern und veröden: und umgekehrt. Machtvolle Milde, wie die eines Vaters: – wo diese Stimmung dich ergreift, da gründe dein Haus, sei es nun im Gewühl oder in der Stille. Ubi pater sum, ibi patria.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 285

Schwer werden. – Ihr kennt ihn nicht: er kann viel Gewichte an sich hängen, er nimmt sie doch alle mit in die Höhe. Und ihr schließt, nach eurem kleinen Flügelschlage, er wolle unten bleiben, weil er diese Gewichte an sich hänge!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 285

Am Erntefeste des Geistes. – Das häuft sich von Tag zu Tage und quillt auf, Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken über sie und Träume über diese Gedanken – ein unermeßlicher, entzückender Reichtum! Sein Anblick macht schwindeln; ich begreife nicht mehr, wie man die Geistig-Armen selig preisen kann! – Aber ich beneide sie mitunter dann, wenn ich müde bin: denn die Verwaltung eines solchen Reichtums ist eine schwere Sache, und ihre Schwere erdrückt nicht selten alles Glück. – Ja, wenn es genügte, ihn nur anzublicken! Wenn man nur der Geizhals seiner Erkenntnisse wäre!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 285-286

Von der Skepsis erlöst. – A: Andre kommen mißlaunig und schwach, zernagt, wurmstichig, ja halb zerfressen aus einer allgemeinen moralischen Skepsis heraus – ich aber mutiger und gesünder als je, mit wiedererworbenen Instinkten. Wo scharfer Wind weht, die See hoch geht und keine kleine Gefahr zu bestehen ist, da wird mir wohl. Zum Wurm bin ich nicht geworden, ob ich gleich oftmals wie ein Wurm habe arbeiten und graben müssen. – B: Du hast eben aufgehört, Skeptiker zu sein! Denn du verneinst! – A: Und damit habe ich wieder Ja-sagen gelernt.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 286

Liebe und Wahrhaftigkeit. – Wir sind aus Liebe arge Verbrecher an der Wahrheit und gewohnte Hehler und Stehler, welche mehr wahr sein lassen, als uns wahr scheint, – deshalb muß der Denker immer wieder von Zeit zu Zeit die Personen, welche er liebt (es werden nicht gerade die sein, welche ihn lieben), in die Flucht jagen, damit sie ihren Stachel und ihre Bosheit zeigen und aufhören, ihn zu verführen. Demnach wird die Güte des Denkers ihren ab- und zunehmenden Mond haben.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 287

Auch deshalb Einsamkeit! – A: So willst du wieder in deine Wüste zurück? – B: Ich bin nicht schnell, ich muß auf mich warten – es wird spät, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst ans Licht kommt, und oft muß ich länger Durst leiden, als ich Geduld habe. Deshalb gehe ich in die Einsamkeit – um nicht aus den Zisternen für jedermann zu trinken. Unter vielen lebe ich wie viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben – und ich werde böse auf jedermann und fürchte jedermann. Die Wüste tut mir dann not, um wieder gut zu werden.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 292

Das böse Prinzip. – Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muß: denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als »das böse Prinzip«. Wir dürfen hieraus erraten, wie die ziemlich freisinnige und neuerungssüchtige Stadt Athen dem Rufe Platos bei seinen Lebzeiten mitgespielt hat: was Wunders, daß er – der, wie er selber sagt, den »politischen Trieb« im Leibe hatte – dreimal einen Versuch in Sizilien gemacht hat, wo sich damals gerade ein gesamtgriechischer Mittelmeer-Staat vorzubereiten schien? In ihm und mit seiner Hilfe gedachte Plato für alle Griechen das zu tun, was Mohammed später für seine Araber tat: die großen und kleinen Bräuche und namentlich die tägliche Lebensweise von jedermann festzusetzen. Möglich waren seine Gedanken so gewiß die des Mohammed möglich waren: sind doch viel unglaublichere die des Christentums, als möglich bewiesen worden! Ein paar Zufälle weniger und ein paar andere Zufälle mehr – und die Welt hätte die Platonisierung des europäischen Südens erlebt; und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so würde mutmaßlich in Plato das »gute Prinzip« von uns verehrt werden. Aber der Erfolg fehlte ihm: und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten – die härteren Namen sind mit dem alten Athen zugrunde gegangen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 294

Das reinmachende Auge. – Von »Genius« wäre am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe, an den Charakter und das Temperament nur lose angeknüpft erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit über sie erheben kann. Dagegen haben gerade solche am lebhaftesten von ihrem »Genius« gesprochen, welche von ihrem Temperament nie loskamen und ihm den geistigsten, größten, allgemeinsten, ja unter Umständen kosmischen Ausdruck zu geben wußten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese Genies konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich vorzufinden, wiederzufinden, wohin sie auch nur flogen, – das ist ihre »Größe«, und kann Größe sein! – Die anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das reine, reinmachende Auge, das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit einem Male geschenkt: es gibt eine Übung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 295

Nicht fordern! – Ihr kennt ihn nicht! Ja, er unterwirft sich leicht und frei den Menschen und den Dingen und ist gütig gegen beide; seine einzige Bitte ist, in Ruhe gelassen zu werden, – aber nur solange Menschen und Dinge nicht Unterwerfung fordern. Alles Fordern macht ihn stolz, scheu und kriegerisch.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 295

Sterbliche Seelen! – In betreff der Erkenntnis ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft: daß der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nötig, sich zu überstürzen und halbgeprüfte Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem mußte. Denn damals hing das Heil der armen »ewigen Seele« von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens ab, sie mußte sich von heut zu morgen entscheiden – die »Erkenntnis« hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben den guten Mut zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert – es ist alles nicht so wichtig! – und gerade deshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Großartigkeit ins Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentieren! Ja die Menschheit darf es mit sich! Die größten Opfer sind der Erkenntnis noch nicht gebracht worden – ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserm Tun jetzt voranlaufen.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 297

Freundschaft. – Jener Einwand gegen das philosophische Leben, daß man mit ihm seinen Freunden unnützlich werde, wäre nie einem Modernen gekommen: er ist antik. Das Altertum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht und fast mit sich ins Grab gelegt. Dies ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben wir die idealisierte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle großen Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, daß Mann neben Mann stand, und daß nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste, Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, – wie die Passion zu empfinden lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Efeus und der Weinreben daran.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 298

Die Praktischen. – Wir Denker haben den Wohlgeschmack aller Dinge erst festzustellen und nötigenfalls ihn zu dekretieren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich groß und das lächerlichste Schauspiel der Welt, so wenig sie um dieselbe wissen und so stolz sie über uns Unpraktische hinwegzureden lieben: ja sie würden ihr praktisches Leben geringschätzen, wenn wir es geringschätzen wollten: – wozu uns hier und da ein kleines Rachegelüst reizen könnte.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 298-299

Nicht pathetisch nehmen. – Das, was wir tun, um uns zu nützen soll uns keinen moralischen Lobspruch eintragen, weder von andern, noch von uns selber; ebensowenig das, was wir tun, um uns an uns zu freuen. In solchen Fällen das Pathetisch-nehmen abweisen und sich selber alles Pathetischen enthalten ist der gute Ton bei allen höheren Menschen: und wer sich an ihn gewöhnt hat, dem ist die Naivität wiedergeschenkt.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 300

Die Versucherin. – Die Ehrlichkeit ist die große Versucherin aller Fanatiker. Was sich Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schönen Weibes zu nahen schien und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war wohl die Ehrlichkeit und vielleicht, in seltneren Fällen, sogar die Wahrheit.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 301

An die Stärkeren. – Ihr stärkeren und hochmütigen Geister, nur um eins seid gebeten: legt uns anderen keine neue Last auf, sondern nehmt etwas von unserer Last auf euch, da ihr ja die Stärkeren seid! Aber ihr macht es so gerne umgekehrt: denn ihr wollt fliegen, und deshalb sollen wir auch noch eure Last zu unsrer tragen: das heißt wir sollen kriechen!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 301-302

Zur Liebe verführen. – Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verführen!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 302

Die kleinen Dosen. – Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin! Was ist Großes auf einmal zu schaffen? So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Wertschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten zu vertauschen, – nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben – bis wir, sehr spät vermutlich, inne werden, daß die neue Wertschätzung in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und daß die kleinen Dosen derselben, an die wir uns von jetzt abgewöhnen müssen, eine neue Natur in uns gelegt haben. – Man fängt ja an, auch dies einzusehen, daß der letzte Versuch einer großen Veränderung der Wertschätzungen, und zwar in bezug auf die politischen Dinge – die »große Revolution« –, nicht mehr war als eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoffnung auf plötzliche Genesung beizubringen wußte – und damit alle politischen Kranken bis auf diesen Augenblick ungeduldig und gefährlich gemacht hat.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 309

Wie man versteinern soll. – Langsam, langsam hart werden wie ein Edelstein – und zuletzt still und zur Freude der Ewigkeit liegen bleiben.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 313

„Bis zum Haß gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es! Ihr müßt die Geschichte fälschen, damit sie für euch zeugt, ihr müßt Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgötter und Ideale nicht in Schatten stellen!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 317

„Das Christentum war für eine andere Gattung antiker Sklaven gemacht, für die willens- und vernunftschwachen, also für die große Masse der Sklaven.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 320

Der Wahn der sittlichen Weltordnung.Es gibt gar keine ewige Notwendigkeit, welche forderte, daß jede Schuld gebüßt und bezahlt werde – es war ein schrecklicher, zum kleinsten Teile nützlicher Wahn, daß es eine solche gäbe –: ebenso wie es ein Wahn ist, daß alles eine Schuld ist, was als solche gefühlt wird. Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über Dinge, die es gar nicht gibt, haben den Menschen so verstört!“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 331-332

Dichter und Vogel. – Der Vogel Phönix zeigte dem Dichter eine glühende und verkohlende Rolle. »Erschrick nicht!« sagte er, »es ist dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit und noch weniger den Geist derer, die gegen die Zeit sind: folglich muß es verbrannt werden. Aber dies ist ein gutes Zeichen. Es gibt manche Arten von Morgenröten.«“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 333-334

Feld-Apotheke der Seele. – Welches ist das stärkste Heilmittel? – Der Sieg.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 334

Das Leben soll uns beruhigen. – Wenn man, wie der Denker, für gewöhnlich in dem großen Strome des Gedankens und Gefühls lebt, und selbst unsere Träume in der Nacht diesem Strome folgen: so begehrt man vom Leben Beruhigung und Stille, – während andre gerade vom Leben ausruhen wollen, wenn sie sich der Meditation übergeben.“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 334

Wir Luft-Schiffahrer des Geistes! – Alle diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste hinausfliegen – gewiß! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken – und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schließen, daß es vor ihnen keine ungeheure freie Bahn mehr gebe, daß sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere großen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmutigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andre Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Scharen viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir strebten, und wo alles noch Meer, Meer, Meer ist! – Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer ? Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, daß auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, – daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder?“
Ders., Morgenröte, 1881, S. 335-336

„Ich wohne in meinem eignen Haus, // Hab niemandem nie nichts nachgemacht // Und – lachte noch jeden Meister aus, // Der nicht sich selber ausgelacht.
Über meiner Haustür“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, Leitspruch

„Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob eben das Unerwartetste geschehn sei, die Dankbarkeit eines Genesenden – denn die Genesung war dieses Unerwartetste. »Fröhliche Wissenschaft«: das bedeutet die Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat – geduldig, streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne Hoffnung – und der jetzt mit einem Male von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesundheit, von der Trunkenheit der Genesung.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 7

„Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, daß Herr Nietzsche wieder gesund wurde? .... Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältnis von Gesundheit und Philosophie, und für den Fall, daß er selber krank wird, bringt er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine Krankheit. Man hat nämlich, vorausgesetzt, daß man eine Person ist, notwendig auch die Philosophie seiner Person: doch gibt es da einen erheblichen Unterschied. Bei dem einen sind es seine Mängel, welche philosophieren, bei dem andren seine Reichtümer und Kräfte.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 8

„Wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben. Leben – das heißt für uns alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln; auch alles, was uns trifft, wir können gar nicht anders. Und was die Krankheit angeht: würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist? Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des großen Verdachtes, der aus jedem U ein X macht, ein echtes rechtes X, das heißt den vorletzten Buchstaben vor dem letzten .... Erst der große Schmerz, jener lange langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmütige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu tun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz »verbessert«-; aber ich weiß, daß er uns vertieft. Sei es nun, daß wir ihm unsern Stolz, unsern Hohn, unsre Willenskraft entgegenstellen lernen und es dem Indianer gleichtun, der, wie schlimm auch gepeinigt, sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge schadlos hält; sei es, daß wir uns vor dem Schmerz in jenes orientalische Nichts zurückziehen – man heißt es Nirwana –, in das stumme, starre, taube Sich-Ergeben, Sich-Vergessen, Sich-Auslöschen: man kommt aus solchen langen gefährlichen Übungen der Herrschaft über sich als ein andrer Mensch heraus, mit einigen Fragezeichen mehr, vor allem mit dem Willen, fürderhin mehr, tiefer, strenger, härter, böser, stiller zu fragen, als man bis dahin gefragt hatte. Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum Problem. – Möge man ja nicht glauben, daß einer damit notwendig zum Düsterling geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben ist noch möglich – nur liebt man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht .... Der Reiz alles Problematischen, die Freude am X ist aber bei solchen geistigeren, vergeistigteren Menschen zu groß, als daß diese Freude nicht immer wieder wie eine helle Glut über alle Not des Problematischen, über alle Gefahr der Unsicherheit, selbst über die Eifersucht des Liebenden zusammenschlüge. Wir kennen ein neues Glück.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 11-12

„Zuletzt, daß das Wesentlichste nicht ungesagt bleibe: man kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren Siechtum, auch aus dem Siechtum des schweren Verdachts, neugeboren zurück, gehäutet, kitzliger, boshafter, mit einem feineren Geschmacke für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude, kindlicher zugleich und hundertmal raffinierter, als man jemals vorher gewesen war.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 12

„Wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andre Kunst – eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler! Wir verstehn uns hinterdrein besser auf das, was dazu zuerst nottut, die Heiterkeit, jede Heiterkeit, meine Freunde! auch als Künstler –: ich möchte es beweisen. Wir wissen einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut nicht-zu-wissen, als Künstler!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 13

„»Ist es wahr, daß der liebe Gott überall zugegen ist?« fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: »aber ich finde das unanständig« – ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rätsel und bunte Ungewißheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 14

Zwiegespräch. – A. War ich krank? Bin ich genesen? Und wer ist mein Arzt gewesen? Wie vergaß ich alles das! B. Jetzt erst glaub ich dich genesen: Denn gesund ist, wer vergaß.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 16

Bei der dritten Häutung. – Schon krümmt und bricht sich mir die Haut, // Schon giert mit neuem Drange, // So viel sie Erde schon verdaut, // Nach Erd in mir die Schlange. // Schon kriech ich zwischen Stein und Gras // Hungrig auf krummer Fährte, // Zu essen das, was stets ich aß, // Dich, Schlangenkost, dich, Erde!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 17

Mann und Weib. – »Raub dir das Weib, für das dein Herze fühlt!« – So denkt der Mann; das Weib raubt nicht, es stiehlt.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 20

Bitte. – Ich kenne mancher Menschen Sinn // Und weiß nicht, wer ich selber bin! // Mein Auge ist mir viel zu nah – // Ich bin nicht, was ich seh und sah. // Ich wollte mir schon besser nützen, // Könnt ich mir selber ferner sitzen. // Zwar nicht so ferne wie mein Feind! // Zu fern sitzt schon der nächste Freund – // Doch zwischen dem und mir die Mitte! // Erratet ihr, um was ich bitte?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 20

Jugendschriften. – Meiner Weisheit A und O // Klang mir hier: was hört ich doch! // Jetzo klingt mirs nicht mehr so, // Nur das ewge Ah! und Oh! // Meiner Jugend hör ich noch.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 24

Der Fromme spricht. – Gott liebt uns, weil er uns erschuf! – // »Der Mensch schuf Gott!« – sagt drauf ihr Feinen. // Und soll nicht lieben, was er schuf? // Solls gar, weil er es schuf, verneinen? // Das hinkt, das trägt des Teufels Huf.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 24

Heraklitismus. – Alles Glück auf Erden, // Freunde, gibt der Kampf! // Ja, um Freund zu werden, // Braucht es Pulverdampf! // Eins in Drein sind Freunde: //Brüder vor der Not, // Gleiche vor dem Feinde, // Freie – vor dem Tod!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 25

Zuspruch. – Auf Ruhm hast du den Sinn gericht? // Dann acht der Lehre: // Beizeiten leiste frei Verzicht // Auf Ehre!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 25

Der Weise spricht. – Dem Volke fremd und nützlich doch dem Volke, // Zieh ich des Weges, Sonne bald, bald Wolke – // Und immer über diesem Volke!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 27

Den Kopf verloren. Sie hat jetzt Geist – wie kams, daß sie ihn fand? // Ein Mann verlor durch sie jüngst den Verstand. // Sein Kopf war reich vor diesem Zeitvertreibe: // Zum Teufel ging sein Kopf – nein! nein! zum Weibe!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 27

Fromme Wünsche. »Mögen alle Schlüssel doch // Flugs verloren gehen, // Und in jedem Schlüsselloch // Sich der Dietrich drehen!« // Also denkt zu jeder Frist // Jeder, der – ein Dietrich ist.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 27

Höhere Menschen. Der steigt empor – ihn soll man loben! // Doch jener kommt allzeit von oben! // Der lebt dem Lobe selbst enthoben, // Der ist von droben!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 30

Ecce homo. Ja! Ich weiß, woher ich stamme! // Ungesättigt gleich der Flamme // Glühe und verzehr ich mich. // Licht wird alles, was ich fasse, // Kohle alles, was ich lasse: // Flamme bin ich sicherlich.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 30

Sternen-Moral. Vorausbestimmt zur Sternenbahn, //Was geht dich, Stern, das Dunkel an? // Roll selig hin durch diese Zeit! // Ihr Elend sei dir fremd und weit! // Der fernsten Welt gehört dein Schein: // Mitleid soll Sünde für dich sein! // Nur ein Gebot gilt dir: sei rein!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 31

„Der Haß, die Schadenfreude, die Raub- und Herrschsucht und was alles sonst böse genannt wird: es gehört zu der erstaunlichen Ökonomie der Arterhaltung, freilich zu einer kostspieligen, verschwenderischen und im ganzen höchst törichten Ökonomie – welche aber bewiesenermaßen unser Geschlecht bisher erhalten hat.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, in: Werke in drei Bänden, 2. Band, S. 33

Das Arterhaltende. – Die stärksten und bösesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vorwärts gebracht: sie entzündeten immer wieder die einschlafenden Leidenschaften – alle geordnete Gesellschaft schläfert die Leidenschaften ein –, sie weckten immer wieder den Sinn der Vergleichung, des Widerspruchs, der Lust am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen die Menschen, Meinungen gegen Meinungen, Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, mit Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der Pietäten zumeist: aber auch durch neue Religionen und Moralen! Dieselbe »Bosheit« ist in jedem Lehrer und Prediger des Neuen, welche einen Eroberer verrufen macht, – wenn sie auch sich feiner äußert, nicht sogleich die Muskeln in Bewegung setzt und eben deshalb auch nicht so verrufen macht! Das Neue ist aber unter allen Umständen das Böse, als das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will; und nur das Alte ist das Gute! Die guten Menschen jeder Zeit sind die, welche die alten Gedanken in die Tiefe graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer des Geistes. Aber jenes Land wird endlich ausgenützt, und immer wieder muß die Pflugschar des Bösen kommen. – Es gibt jetzt eine gründliche Irrlehre der Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird: nach ihr sind die Urteile »gut« und »böse« die Aufsammlung der Erfahrungen über »zweckmäßig« und »unzweckmäßig«; nach ihr ist das »gut« Genannte das Arterhaltende, das »bös« Genannte aber das der Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in ebenso hohem Grade zweckmäßig, arterhaltend und unentbehrlich wie die guten: – nur ist ihre Funktion eine verschiedene.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 40

Etwas für Arbeitsame. – Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, eröffnet sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen müssen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Völker, große und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft und alle ihre Wertschätzungen und Beleuchtungen der Dinge sollen ans Licht hinaus! Bisher hat alles das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte: oder wo gäbe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät, der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollständig. Hat man schon die verschiedene Einteilung des Tages, die Folgen einer regelmäßigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Gibt es eine Philosophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarismus beweist schon, daß es noch keine solche Philosophie gibt!) Sind die Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Künstler, Handwerker – haben sie schon ihre Denker gebunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre »Existenz-Bedingungen« betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglaube an dieser Betrachtung – ist dies schon zu Ende erforscht? Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachstums welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben könnten, gibt schon zu viel der Arbeit für den Arbeitsamsten; es bedarf ganzer Geschlechter und planmäßig zusammenarbeitender Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspunkte und das Material zu erschöpfen. Dasselbe gilt von der Nachweisung der Gründe für die Verschiedenheit des moralischen Klimas (»weshalb leuchtet hier diese Sonne eines moralischen Grundurteils und Hauptwertmessers – und dort jene?«). Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrtümlichkeit aller dieser Gründe und das ganze Wesen des bisherigen moralischen Urteils feststellt. Gesetzt, alle diese Arbeiten seien getan, so träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund: ob die Wissenschaft imstande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, daß sie solche nehmen und vernichten kann, – und dann würde ein Experimentieren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein jahrhundertelanges Experimentieren, welches alle großen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Zyklopen-Bauten noch nicht gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 42-43

Vom Ziele der Wissenschaft. – Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, daß, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muß – daß, wer das »Himmelhoch-Jauchzen« lernen will, sich auch für das »Zum-Tode-betrübt« bereit halten muß? Und so steht es vielleicht! Die Stoiker glaubten wenigstens, daß es so stehe, und waren konsequent, als sie nach möglichst wenig Lust begehrten, um möglichst wenig Unlust vom Leben zu haben. (Wenn man den Spruch im Munde führte: »Der Tugendhafte ist der Glücklichste«, so hatte man in ihm sowohl ein Aushängeschild der Schule für die große Masse, als auch eine kasuistische Feinheit für die Feinen.) Auch heute noch habt ihr die Wahl: entweder möglichst wenig Unlust, kurz Schmerzlosigkeit – und im Grunde dürften Sozialisten und Politiker aller Parteien ihren Leuten ehrlicherweise nicht mehr verheißen – oder möglichst viel Unlust als Preis für das Wachstum einer Fülle von feinen und bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden! Entschließt ihr euch für das erstere, wollt ihr also die Schmerzhaftigkeit der Menschen herabdrücken und vermindern, nun, so müßt ihr auch ihre Fähigkeit zur Freude herabdrücken und vermindern. In der Tat kann man mit der Wissenschaft das eine wie das andre Ziel fördern! Vielleicht ist sie jetzt noch bekannter wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu bringen und ihn kälter, statuenhafter, stoischer zu machen. Aber sie könnte auch noch als die große Schmerzbringerin entdeckt werden – und dann würde vielleicht zugleich ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures Vermögen, neue Sternenwelten der Freude aufleuchten zu lassen!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 47-48

Antiker Stolz. – Die antike Färbung der Vornehmheit fehlt uns, weil unserm Gefühle der antike Sklave fehlt. Ein Grieche edler Abkunft fand zwischen seiner Höhe und jener letzten Niedrigkeit solche ungeheure Zwischen-Stufen und eine solche Ferne, daß er den Sklaven kaum noch deutlich sehen konnte: selbst Plato hat ihn nicht ganz mehr gesehen. Anders wir, gewöhnt wie wir sind an die Lehre von der Gleichheit der Menschen, wenn auch nicht an die Gleichheit selber. Ein Wesen, das nicht über sich selber verfügen kann und dem die Muße fehlt – das gilt unserm Auge noch keineswegs als etwas Verächtliches; es ist von derlei Sklavenhaftem vielleicht zu viel an jedem von uns, nach den Bedingungen unserer gesellschaftlichen Ordnung und Tätigkeit, welche grundverschieden von denen der Alten sind. – Der griechische Philosoph ging durch das Leben mit dem geheimen Gefühle, daß es viel mehr Sklaven gebe, als man vermeine – nämlich daß jedermann Sklave sei, der nicht Philosoph sei; sein Stolz schwoll über, wenn er erwog, daß auch die Mächtigsten der Erde unter diesen seinen Sklaven seien. Auch dieser Stolz ist uns fremd und unmöglich: nicht einmal im Gleichnis hat das Wort »Sklave« für uns seine volle Kraft.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 53

Das Böse. – Prüfet das Leben der besten und fruchtbarsten Menschen und Völker und fragt euch, ob ein Baum, der stolz in die Höhe wachsen soll, des schlechten Wetters und der Stürme entbehren könne: ob Ungunst und Widerstand von außen, ob irgendwelche Arten von Haß, Eifersucht, Eigensinn, Mißtrauen, Härte, Habgier und Gewaltsamkeit nicht zu den begünstigenden Umständen gehören, ohne welche ein großes Wachstum selbst in der Tugend kaum möglich ist? Das Gift, an dem die schwächere Natur zugrunde geht, ist für den Starken Stärkung – und er nennt es auch nicht Gift.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 53-54

Würde der Torheit. – Einige Jahrtausende weiter auf der Bahn des letzten Jahrhunderts! – und in allem, was der Mensch tut, wird die höchste Klugheit sichtbar sein: aber eben damit wird die Klugheit alle ihre Würde verloren haben. Es ist dann zwar notwendig, klug zu sein, aber auch so gewöhnlich und so gemein, daß ein edlerer Geschmack diese Notwendigkeit als eine Gemeinheit empfinden wird. Und ebenso wie eine Tyrannei der Wahrheit und Wissenschaft imstande wäre, die Lüge hoch im Preise steigen zu machen, so könnte eine Tyrannei der Klugheit eine neue Gattung von Edelsinn hervortreiben. Edel sein – das hieße dann vielleicht: Torheiten im Kopfe haben.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 54

An die Lehrer der Selbstlosigkeit. – Man nennt die Tugenden eines Menschen gut, nicht in Hinsicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn selber haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von ihnen für uns und die Gesellschaft voraussetzen – man ist von jeher im Lobe der Tugenden sehr wenig »selbstlos«, sehr wenig »unegoistisch« gewesen! Sonst nämlich hätte man sehen müssen, daß die Tugenden (wie Fleiß, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern meistens schädlich sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu den andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend!) – so bist du ihr Opfer! Aber der Nachbar lobt eben deshalb deine Tugend! Man lobt den Fleißigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit und Frische seines Geistes mit diesem Fleiße schädigt: man ehrt und bedauert den Jüngling, welcher sich »zuschanden gearbeitet hat«, weil man urteilt: »Für das ganze Große der Gesellschaft ist auch der Verlust des besten einzelnen nur ein kleines Opfer! Schlimm, daß das Opfer nottut! Viel schlimmer freilich, wenn der einzelne anders denken und seine Erhaltung und Entwicklung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste der Gesellschaft!« Und so bedauert man diesen Jüngling, nicht um seiner selbst willen, sondern weil ein ergebenes und gegen sich rücksichtsloses Werkzeug – ein sogenannter »braver Mensch« – durch diesen Tod der Gesellschaft verlorengegangen ist. Vielleicht erwägt man noch, ob es im Interesse der Gesellschaft nützlicher gewesen sein würde, wenn er minder rücksichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger erhalten hätte – ja man gesteht sich wohl einen Vorteil davon zu, schlägt aber jenen andern Vorteil, daß ein Opfer gebracht ist und die Gesinnung des Opfertiers sich wieder einmal augenscheinlich bestätigt hat, für höher und nachhaltiger an. Es ist also einmal die Werkzeug-Natur in den Tugenden, die eigentlich gelobt wird, wenn die Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde in jeder Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesamt-Vorteil des Individuums sich nicht in Schranken halten läßt, kurz: die Unvernunft in der Tugend, vermöge deren das Einzelwesen sich zur Funktion des Ganzen umwandeln läßt. Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem – das Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten Obhut über sich selber nehmen. – Freilich: zur Erziehung und zur Einverleibung tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von Wirkungen der Tugend heraus, welche Tugend und Privat-Vorteil als verschwistert erscheinen lassen – und es gibt in der Tat eine solche Geschwisterschaft! Der blind wütende Fleiß zum Beispiel, diese typische Tugend eines Werkzeugs, wird dargestellt als der Weg zu Reichtum und Ehre und als das heilsamste Gift gegen die Langeweile und die Leidenschaften: aber man verschweigt seine Gefahr, seine höchste Gefährlichkeit. Die Erziehung verfährt durchweg so: sie sucht den einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vorteilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, wider seinen letzten Vorteil, aber »zum allgemeinen Besten« in ihm und über ihn herrscht. Wie oft sehe ich es, daß der blind wütende Fleiß zwar Reichtümer und Ehre schafft, aber zugleich den Organen die Feinheit nimmt, vermöge deren es einen Genuß an Reichtum und Ehren geben könnte, ebenso, daß jenes Hauptmittel gegen die Langeweile und die Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist widerspenstig gegen neue Reize macht. (Das fleißigste aller Zeitalter – unser Zeitalter – weiß aus seinem vielen Fleiße und Gelde nichts zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiß: es gehört eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu erwerben! – Nun, wir werden unsre »Enkel« haben!) Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des einzelnen eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachteil im Sinne des höchsten privaten Zieles, – wahrscheinlich irgendeine geistig-sinnliche Verkümmerung oder gar der frühzeitige Untergang: man erwäge der Reihe nach von diesem Gesichtspunkte aus die Tugend des Gehorsams, der Keuschheit, der Pietät, der Gerechtigkeit. Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften – also desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwicklung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt – dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der »Nächste« lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vorteile hat! Dächte der Nächste selber »selbstlos«, so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, daß er dieselbe nicht gut nennte! – Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Prinzip! Das, womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sie aus ihrem Kriterium des Moralischen! Der Satz »du sollst dir selber entsagen und dich zum Opfer bringen« dürfte, um seiner eignen Moral nicht zuwiderzugehen, nur von einem Wesen dekretiert werden, welches damit selber seinem Vorteil entsagte und vielleicht in der verlangten Aufopferung der einzelnen seinen eigenen Untergang herbeiführte. Sobald aber der Nächste (oder die Gesellschaft) den Altruismus um des Nutzens willen anempfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz, »du sollst den Vorteil, auch auf Unkosten alles anderen, suchen«, zur Anwendung gebracht, also in einem Atem ein »Du sollst« und »Du sollst nicht« gepredigt!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 54-57

Die Anzeichen der Korruption. – Man beachte an jenen von Zeit zu Zeit notwendigen Zuständen der Gesellschaft, welche mit dem Wort »Korruption« bezeichnet werden, folgende Anzeichen. Sobald irgendwo die Korruption eintritt, nimmt ein bunter Aberglaube überhand, und der bisherige Gesamtglaube eines Volkes wird blaß und ohnmächtig dagegen: der Aberglaube ist nämlich die Freigeisterei zweiten Ranges – wer sich ihm ergibt, wählt gewisse ihm zusagende Formen und Formeln aus und erlaubt sich ein Recht der Wahl. Der Abergläubische ist, im Vergleich mit dem Religiösen, immer viel mehr »Person« als dieser, und eine abergläubische Gesellschaft wird eine solche sein, in der es schon viele Individuen und Lust am Individuellen gibt. Von diesem Standpunkte aus gesehen, erscheint der Aberglaube immer als ein Fortschritt gegen den Glauben und als Zeichen dafür, daß der Intellekt unabhängiger wird und sein Recht haben will. Über Korruption klagen dann die Verehrer der alten Religion und Religiosität – sie haben bisher auch den Sprachgebrauch bestimmt und dem Aberglauben eine üble Nachrede selbst bei den freiesten Geistern gemacht. Lernen wir, daß er ein Symptom der Aufklärung ist. – Zweitens beschuldigt man eine Gesellschaft, in der die Korruption Platz greift, der Erschlaffung: und ersichtlich nimmt in ihr die Schätzung des Krieges und die Lust am Kriege ab, und die Bequemlichkeiten des Lebens werden jetzt ebenso heiß erstrebt wie ehedem die kriegerischen und gymnastischen Ehren. Aber man pflegt zu übersehen, daß jene alte Volks-Energie und Volks-Leidenschaft, welche durch den Krieg und die Kampfspiele eine prachtvolle Sichtbarkeit bekam, jetzt sich in unzählige Privat-Leidenschaften umgesetzt hat und nur weniger sichtbar geworden ist; ja wahrscheinlich ist in Zuständen der Korruption die Macht und Gewalt der jetzt verbrauchten Energie eines Volkes größer als je, und das Individuum gibt so verschwenderisch davon aus, wie es ehedem nicht konnte – es war damals noch nicht reich genug dazu! Und so sind es gerade die Zeiten der »Erschlaffung«, wo die Tragödie durch die Häuser und Gassen läuft, wo die große Liebe und der große Haß geboren werden und die Flamme der Erkenntnis lichterloh zum Himmel aufschlägt. – Drittens pflegt man, gleichsam zur Entschädigung für den Tadel des Aberglaubens und der Erschlaffung, solchen Zeiten der Korruption nachzusagen, daß sie milder seien und daß jetzt die Grausamkeit, gegen die ältere gläubigere und stärkere Zeit gerechnet, sehr in Abnahme komme. Aber auch dem Lobe kann ich nicht beipflichten, ebensowenig als jenem Tadel: nur so viel gebe ich zu, daß jetzt die Grausamkeit sich verfeinert, und daß ihre älteren Formen von nun an wider den Geschmack gehen; aber die Verwundung und Folterung durch Wort und Blick erreicht in Zeiten der Korruption ihre höchste Ausbildung – jetzt erst wird die Bosheit geschaffen und die Lust an der Bosheit. Die Menschen der Korruption sind witzig und verleumderisch; sie wissen, daß es noch andere Arten des Mordes gibt als durch Dolch und Überfall – sie wissen auch, daß alles Gutgesagte geglaubt wird. – Viertens: wenn »die Sitten verfallen«, so tauchen zuerst jene Wesen auf, welche man Tyrannen nennt: es sind die Vorläufer und gleichsam die frühreifen Erstlinge der Individuen . Noch eine kleine Weile: und diese Frucht der Früchte hängt reif und gelb am Baume eines Volkes – und nur um dieser Früchte willen gab es diesen Baum! Ist der Verfall auf seine Höhe gekommen und der Kampf aller Art Tyrannen ebenfalls, so kommt dann immer der Cäsar, der Schluß-Tyrann, der dem ermüdeten Ringen um Alleinherrschaft ein Ende macht, indem er die Müdigkeit für sich arbeiten läßt. Zu seiner Zeit ist gewöhnlich das Individuum am reifsten und folglich die »Kultur« am höchsten und fruchtbarsten – aber nicht um seinetwillen und nicht durch ihn: obwohl die höchsten Kultur-Menschen ihrem Cäsar damit zu schmeicheln lieben, daß sie sich als sein Werk ausgeben. Die Wahrheit aber ist, daß sie Ruhe von außen nötig haben, weil sie ihre Unruhe und Arbeit in sich haben. In diesen Zeiten ist die Bestechlichkeit und der Verrat am größten: denn die Liebe zu dem eben erst entdeckten ego ist jetzt viel mächtiger als die Liebe zum alten, verbrauchten, totgeredeten »Vaterlande«; und das Bedürfnis, sich irgendwie gegen die furchtbaren Schwankungen des Glücks sicherzustellen, öffnet auch edlere Hände, sobald ein Mächtiger und Reicher sich bereit zeigt, Gold in sie zu schütten. Es gibt jetzt so wenig sichere Zukunft: da lebt man für heute: ein Zustand der Seele, bei dem alle Verführer ein leichtes Spiel spielen – man läßt sich nämlich auch nur »für heute« verführen und bestechen und behält sich die Zukunft und die Tugend vor! Die Individuen, diese wahren An- und Für-sichs, sorgen, wie bekannt, mehr für den Augenblick als ihre Gegensätze, die Herden-Menschen, weil sie sich selber für ebenso unberechenbar halten wie die Zukunft; ebenso knüpfen sie sich gerne an Gewaltmenschen an, weil sie sich Handlungen und Auskünfte zutrauen, die bei der Menge weder auf Verständnis noch auf Gnade rechnen können – aber der Tyrann oder Cäsar versteht das Recht des Individuums auch in seiner Ausschreitung und hat ein Interesse daran, einer kühneren Privatmoral das Wort zu reden und selbst die Hand zu bieten. Denn er denkt von sich und will über sich gedacht haben, was Napoleon einmal in seiner klassischen Art und Weise ausgesprochen hat: »Ich habe das Recht, auf alles, worüber man gegen mich Klage führt, durch ein ewiges ›Das-bin-ich!‹ zu antworten. Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme von niemandem Bedingungen an. Ich will, daß man sich auch meinen Phantasien unterwerfe und es ganz einfach finde, wenn ich mich diesen oder jenen Zerstreuungen hingebe.« So sprach Napoleon einmal zu seiner Gemahlin, als diese Gründe hatte, die eheliche Treue ihres Gatten in Frage zu ziehen. – Die Zeiten der Korruption sind die, in welchen die Äpfel vom Baume fallen: ich meine die Individuen, die Samenträger der Zukunft, die Urheber der geistigen Kolonisation und Neubildung von Staats- und Gesellschaftsverbänden. Korruption ist nur ein Schimpfwort für die Herbstzeiten eines Volkes.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 59-62

Verschiedene Unzufriedenheit. – Die schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriednen sind die Erfindsamen für die Verschönerung und Vertiefung des Lebens; die starken Unzufriednen – die Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu bleiben – für Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die ersteren zeigen darin ihre Schwäche und Weiberart, daß sie sich gerne zeitweilig täuschen lassen und wohl schon mit ein wenig Rausch und Schwärmerei einmal fürlieb nehmen, aber im ganzen nie zu befriedigen sind und an der Unheilbarkeit ihrer Unzufriedenheit leiden; überdies sind sie die Förderer aller derer, welche opiatische und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und eben darum jenen gram, die den Arzt höher als den Priester schätzen – dadurch unterhalten sie die Fortdauer der wirklichen Notstände! Hätte es nicht seit den Zeiten des Mittelalters eine Überzahl von Unzufriedenen dieser Art in Europa gegeben, so würde vielleicht die berühmte europäische Fähigkeit zur beständigen Verwandlung gar nicht entstanden sein: denn die Ansprüche der starken Unzufriedenen sind zu grob und im Grunde zu anspruchslos, um nicht endlich einmal zur Ruhe gebracht werden zu können. China ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im großen und die Fähigkeit der Verwandlung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben ist; und die Sozialisten und Staats-Götzendiener Europas könnten es mit ihren Maßregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht zu chinesischen Zuständen und einem chinesischen »Glücke« bringen, vorausgesetzt, daß sie hier zuerst jene kränklichere, zartere, weiblichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und Romantik ausrotten könnten. Europa ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit und ewigen Verwandlung seines Leidens den höchsten Dank schuldig ist: diese beständigen neuen Lagen, diese ebenso beständigen neuen Gefahren, Schmerzen und Auskunftsmittel haben zuletzt eine intellektuale Reizbarkeit erzeugt, welche beinahe so viel als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genies ist.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 62-63

Nicht zur Erkenntnis vorausbestimmt. – Es gibt eine gar nicht seltene blöde Demütigkeit, mit der behaftet man ein für allemal nicht zum Jünger der Erkenntnis taugt. Nämlich: in dem Augenblick, wo ein Mensch dieser Art etwas Auffälliges wahrnimmt, dreht er sich gleichsam auf dem Fuße um und sagt sich: »du hast dich getäuscht! Wo hast du deine Sinne gehabt! Dies darf nicht die Wahrheit sein!« – und nun, statt noch einmal schärfer hinzusehen und hinzuhören, läuft er wie eingeschüchtert dem auffälligen Dinge aus dem Wege und sucht es sich so schnell wie möglich aus dem Kopfe zu schlagen. Sein innerlicher Kanon nämlich lautet: »ich will nichts sehen, was der üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin ich dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdecken? Es gibt schon der alten zu viele.«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 63

Was heißt Leben? – Leben – das heißt: fortwährend etwas von sich abstoßen, das sterben will; Leben – das heißt: grausam und unerbittlich gegen alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heißt also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses gesagt: »Du sollst nicht töten!«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 63

Der Entsagende. – Was tut der Entsagende? Er strebt nach einer höheren Welt, er will weiter und ferner und höher fliegen als alle Menschen der Bejahung – er wirft vieles weg, was seinen Flug beschweren würde, und manches darunter, was ihm nicht unwert, nicht unliebsam ist: er opfert es seiner Begierde zur Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen ist nun gerade das, was allein sichtbar an ihm wird: danach gibt man ihm den Namen des Entsagenden, und als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine Kapuze und wie die Seele eines härenen Hemdes. Mit diesem Effekte, den er auf uns macht, ist er aber wohl zufrieden: er will vor uns seine Begierde, seinen Stolz, seine Absicht, über uns hinauszufliegen, verborgen halten. – Ja! Er ist klüger, als wir dachten, und so höflich gegen uns – dieser Bejahende! Denn das ist er gleich uns, auch indem er entsagt.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 64

Handel und Adel. – Kaufen und verkaufen gilt jetzt als gemein wie die Kunst des Lesens und Schreibens; jeder ist jetzt darin eingeübt, selbst wenn er kein Handelsmann ist, und übt sich noch an jedem Tage in dieser Technik: ganz wie ehemals, im Zeitalter der wilderen Menschheit, jedermann Jäger war und sich Tag für Tag in der Technik der Jagd übte. Damals war die Jagd gemein: aber wie diese endlich ein Privilegium der Mächtigen und Vornehmen wurde und damit den Charakter der Alltäglichkeit und Gemeinheit verlor – dadurch, daß sie aufhörte notwendig zu sein und eine Sache der Laune und des Luxus wurde –: so könnte es irgendwann einmal mit dem Kaufen und Verkaufen werden. Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar, wo nicht verkauft und gekauft wird, und wo die Notwendigkeit dieser Technik allmählich ganz verlorengeht: vielleicht, daß dann einzelne, welche dem Gesetze des allgemeinen Zustandes weniger unterworfen sind, sich dann das Kaufen und Verkaufen wie einen Luxus der Empfindung erlauben. Dann erst bekäme der Handel Vornehmheit, und die Adeligen würden sich dann vielleicht ebensogern mit dem Handel abgeben, wie bisher mit dem Kriege und der Politik: während umgekehrt die Schätzung der Politik sich dann völlig geändert haben könnte. Schon jetzt hört sie auf, das Handwerk des Edelmanns zu sein: und es wäre möglich, daß man sie eines Tages so gemein fände, um sie, gleich aller Partei- und Tagesliteratur, unter die Rubrik »Prostitution des Geistes« zu bringen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 66-67

Ketzerei und Hexerei. – Anders denken, als Sitte ist – das ist lange nicht so sehr die Wirkung eines besseren Intellektes als die Wirkung starker, böser Neigungen, loslösender, isolierender, trotziger, schadenfroher, hämischer Neigungen. Die Ketzerei ist das Seitenstück zur Hexerei, und gewiß ebenso wenig als diese etwas Harmloses oder gar an sich selber Verehrungswürdiges. Die Ketzer und die Hexen sind zwei Gattungen böser Menschen: gemeinsam ist ihnen, daß sie sich auch als böse fühlen, daß aber ihre unbezwingliche Lust ist, an dem, was herrscht (Menschen oder Meinungen), sich schädigend auszulassen. Die Reformation, eine Art Verdoppelung des mittelalterlichen Geistes, zu einer Zeit, als er bereits das gute Gewissen nicht mehr bei sich hatte, brachte sie beide in größter Fülle hervor.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 68

Letzte Worte. – Man wird sich erinnern, daß der Kaiser Augustus, jener fürchterliche Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schweigen konnte wie irgendein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte indiskret gegen sich selber wurde: er ließ zum ersten Male seine Maske fallen, als er zu verstehen gab, daß er eine Maske getragen und eine Komödie gespielt habe, er hatte den Vater des Vaterlandes und die Weisheit auf dem Throne gespielt, gut bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita est! (applaudiert, Freunde, die Komödie ist zu Ende! HB) – Der Gedanke des sterbenden Nero: qualis artifex pereo! (welch ein Künstler geht in mir zugrunde! HB) war auch der Gedanke des sterbenden Augustus: Histrionen-Eitelkeit! Histrionen-Schwatzhaftigkeit! Und recht das Gegenstück zum sterbenden Sokrates! – Aber Tiberius starb schweigsam, dieser gequälteste aller Selbstquäler – der war echt und kein Schauspieler! Was mag dem wohl zuletzt durch den Kopf gegangen sein! Vielleicht dies: »Das Leben – das ist ein langer Tod. Ich Narr, der ich so vielen das Leben verkürzte! War ich dazu gemacht, ein Wohltäter zu sein? Ich hätte ihnen das ewige Leben geben sollen: so hätte ich sie ewig sterben sehen können. Dafür hatte ich ja so gute Augen: qualis spectator pereo!« Als er nach einem langen Todeskampfe doch wieder zu Kräften zu kommen schien, hielt man es für ratsam, ihn mit Bettkissen zu ersticken – er starb eines doppelten Todes.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 69

Die Explosiven. – Erwägt man, wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte – nicht die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich deshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 70

Vom Mangel der vornehmen Form. – Soldaten und Führer haben immer noch ein viel höheres Verhalten zueinander als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens steht alle militärisch begründete Kultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Kultur: letztere in ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Not: man will leben und muß sich verkaufen, aber man verachtet den, der diese Not ausnützt und sich den Arbeiter kauft. Es ist seltsam, daß die Unterwerfung unter mächtige, furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei weitem nicht so peinlich empfunden wird als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante Personen, wie es alle Größen der Industrie sind: in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden, auf alle Not spekulierenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabrikanten und Groß-Unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Sozialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sklaverei jeder Art, vorausgesetzt daß der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimiert – durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt, daß die Vornehmheit nicht zu improvisieren ist und daß er in ihr die Frucht langer Zeiten zu ehren hat – aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte Fabrikanten-Vulgarität mit roten feisten Händen bringen ihn auf den Gedanken, daß nur Zufall und Glück hier den einen über den andern erhoben habe: wohlan, so schließt er bei sich, versuchen wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! – und der Sozialismus beginnt.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 71-72

Arbeit und Langeweile. – Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen – darin sind sich in den Ländern der Zivilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; weshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt daß sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun gibt es seltnere Menschen, welche lieber zugrunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Kontemplativen aller Art, aber auch schon jene Müßiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Not, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muß. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, daß Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr als die Arbeit ohne Lust: ja sie haben viel Langeweile nötig, wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme »Windstille« der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muß sie ertragen, muß ihre Wirkung bei sich abwarten – das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, daß sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig sind als diese; selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 72-73

Kenntnis der Not. – Vielleicht werden die Menschen und Zeiten durch nichts so sehr voneinander geschieden als durch den verschiednen Grad von Kenntnis der Not, den sie haben: Not der Seele wie des Leibes. In bezug auf letztere sind wir Jetzigen vielleicht allesamt, trotz unsrer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher Selbst-Erfahrung Stümper und Phantasten zugleich: im Vergleich zu einem Zeitalter der Furcht – dem längsten aller Zeitalter –, wo der einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein mußte. Damals machte ein Mann seine reiche Schule körperlicher Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Übung des Schmerzes, ein ihm notwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art über andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl als das der eigenen Sicherheit. Was die Not der Seele aber betrifft, so sehe ich mir jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung kennt; ob er diese Kenntnis zu heucheln doch noch für nötig hält, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder ob er überhaupt an große Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht wie bei Nennung großer körperlicher Erduldungen: wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei den meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeübtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden ergibt sich nun eine wichtige Folge: man haßt jetzt den Schmerz viel mehr als frühere Menschen und redet ihm viel übler nach als je, ja man findet schon das Vorhandensein des Schmerzes als eines Gedankens kaum erträglich und macht dem gesamten Dasein eine Gewissenssache und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer Philosophien ist durchaus nicht das Merkmal großer furchtbarer Notstände; sondern diese Fragezeichen am Werte alles Lebens werden in Zeiten gemacht, wo die Verfeinerung und Erleichterung des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele und des Leibes als gar zu blutig und bösartig befindet und in der Armut an wirklichen Schmerz-Erfahrungen am liebsten schon quälende allgemeine Vorstellungen als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen möchte. – Es gäbe schon ein Rezept gegen pessimistische Philosophien und die übergroße Empfindlichkeit, welche mir die eigentliche »Not der Gegenwart« zu sein scheint –: aber vielleicht klingt dies Rezept schon zu grausam und würde selber unter die Anzeichen gerechnet werden, auf Grund deren hin man jetzt urteilt: »das Dasein ist etwas Böses«. Nun! Das Rezept gegen »die Not« lautet: Not.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 77-78

Wahrheitssinn. – Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten: »Versuchen wir's!« Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, nichts mehr hören. Dies ist die Grenze meines »Wahrheitssinnes«: denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 80

Was andere von uns wissen. – Das, was wir von uns selber wissen und im Gedächtnis haben, ist für das Glück unsres Lebens nicht so entscheidend, wie man glaubt. Eines Tages stürzt das, was andre von uns wissen (oder zu wissen meinen) über uns her – und jetzt erkennen wir, daß es das Mächtigere ist. Man wird mit seinem schlechten Gewissen leichter fertig als mit seinem schlechten Rufe.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 80

Das Bewußtsein vom Scheine. – Wie wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch fühle ich mich mit meiner Erkenntnis zum gesamten Dasein gestellt! Ich habe für mich entdeckt, daß die alte Mensch- und Tierheit, ja die gesamte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthaßt, fortschließt – ich bin plötzlich mitten in diesem Traum erwacht, aber nur zum Bewußtsein, daß ich eben träume und daß ich weiterträumen muß, um nicht zugrunde zu gehn: wie der Nachtwandler weiterträumen muß, um nicht hinabzustürzen. Was ist mir jetzt »Schein«! Wahrlich nicht der Gegensatz irgendeines Wesens – was weiß ich von irgendwelchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädikate seines Scheins! Wahrlich nicht eine tote Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das so weit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, daß hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts mehr ist – daß unter allen diesen Träumenden auch ich, der »Erkennende«, meinen Tanz tanze, daß der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehn, und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und daß die erhabene Konsequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit aller dieser Träumenden untereinander und eben damit die Dauer des Traumes aufrechtzuerhalten.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 81

Der letzte Edelsinn. – Was macht denn »edel«? Gewiß nicht, daß man Opfer bringt; auch der rasend Wollüstige bringt Opfer. Gewiß nicht, daß man überhaupt einer Leidenschaft folgt; es gibt verächtliche Leidenschaften. Gewiß nicht, daß man für andere etwas tut und ohne Selbstsucht: vielleicht ist die Konsequenz der Selbstsucht gerade bei dem Edelsten am größten. – Sondern daß die Leidenschaft, die den Edlen befällt, eine Sonderheit ist, ohne daß er um diese Sonderheit weiß: der Gebrauch eines seltenen und singulären Maßstabes und beinahe eine Verrücktheit: das Gefühl der Hitze in Dingen, welche sich für alle andern kalt anfühlen: ein Erraten von Werten, für die die Waage noch nicht erfunden ist: ein Opferbringen auf Altären, die einem unbekannten Gotte geweiht sind: eine Tapferkeit ohne den Willen zur Ehre: eine Selbstgenügsamkeit, welche Überfluß hat und an Menschen und Dinge mitteilt. Bisher war es also das Seltene und die Unwissenheit um dies Seltensein, was edel machte. Dabei erwäge man aber, daß durch diese Richtschnur alles Gewöhnte, Nächste und Unentbehrliche, kurz das am meisten Arterhaltende, und überhaupt die Regel in der bisherigen Menschheit, unbillig beurteilt und im ganzen verleumdet worden ist, zugunsten der Ausnahmen. Der Anwalt der Regel werden – das könnte vielleicht die letzte Form und Feinheit sein, in welcher der Edelsinn auf Erden sich offenbart.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 81-82

Die Begierde nach Leiden. – Denke ich an die Begierde, etwas zu tun, wie sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können, – so begreife ich, daß in ihnen eine Begierde etwas zu leiden sein muß, um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Tun, zur Tat herzunehmen. Not ist nötig! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen »Notstände« aller möglichen Klassen und die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, von außen her solle – nicht etwa das Glück – sondern das Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese Notsüchtigen in sich die Kraft, von innen her sich selber wohlzutun, sich selber etwas anzutun, so würden sie auch verstehen, von innen her sich eine eigene, selbsteigene Not zu schaffen. Ihre Erfindungen könnten dann feiner sein, und ihre Befriedigungen könnten wie gute Musik klingen: während sie jetzt die Welt mit ihrem Notgeschrei und folglich gar zu oft erst mit dem Notgefühle anfüllen! Sie verstehen mit sich nichts anzufangen – und so malen sie das Unglück anderer an die Wand: sie haben immer andere nötig! Und immer wieder andere andere! – Verzeihung, meine Freunde, ich habe gewagt, mein Glück an die Wand zu malen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 82-83

„Richard Wagner hat sich bis in die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen lassen; er tat dasselbe noch einmal, als er später Schopenhauers Lehre aus seinen Gestalten herauslas und mit »Wille«, »Genie« und »Mitleid« sich selber zu formulieren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauers als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wagners – ich meine, die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die große Leidenschaft als an das Gute an sich, mit einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. »Das alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir« – würde vielleicht Schopenhauer sagen. So gute Gründe also Wagner hätte, sich gerade nach anderen Philosophen umzusehen als nach Schopenhauer: die Bezauberung, der er in betreff dieses Denkers unterlegen ist, hat ihn nicht nur gegen alle andern Philosophen, sondern sogar gegen die Wissenschaft selber blind gemacht; immer mehr will seine ganze Kunst sich als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerischen Philosophie geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den höheren Ehrgeiz, Seitenstück und Ergänzung der menschlichen Erkenntnis und Wissenschaft zu werden.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 118-119

„Schopenhauerisch ist zum Beispiel Wagners Ereiferung über die Verderbnis der deutschen Sprache; und wenn man hierin die Nachahmung gutheißen sollte, so darf doch auch nicht verschwiegen werden, daß Wagners Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauer so wütend machte, und daß in Hinsicht auf die deutsch schreibenden Wagnerianer die Wagnerei sich so gefährlich zu erweisen beginnt, als nur irgendeine Hegelei sich erwiesen hat. Schopenhauerisch ist Wagners Haß gegen die Juden, denen er selbst in ihrer größten Tat nicht gerecht zu werden vermag: die Juden sind ja die Erfinder des Christentums! Schopenhauerisch ist der Versuch Wagners, das Christentum als ein verwehtes Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger Annäherung an katholisch-christliche Formeln und Empfindungen, ein buddhistisches Zeitalter vorzubereiten. Schopenhauerisch ist Wagners Predigt zugunsten der Barmherzigkeit im Verkehre mit Tieren .... Wenigstens ist Wagners Haß gegen die Wissenschaft, der aus seiner Predigt spricht, gewiß nicht vom Geiste der Mildherzigkeit und Güte eingegeben – noch auch, wie es sich von selber versteht, vom Geiste überhaupt.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 119

„Bleiben wir Wagner in dem treu, was an ihm wahr und ursprünglich ist – und namentlich dadurch, daß wir, seine Jünger, uns selber in dem treu bleiben, was an uns wahr und ursprünglich ist.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 120

„Es wäre ein Rückfall für uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlichkeit ganz in die Moral zu geraten und um der überstrengen Anforderungen willen, die wir hierin an uns stellen, gar noch selber zu tugendhaften Ungeheuern und Vogelscheuchen zu werden. Wir sollen auch über der Moral stehen können: und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 128

Neue Kämpfe. – Nachdem Buddha tot war, zeigte man noch jahrhundertelang seinen Schatten in einer Höhle – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch jahrtausendelang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 129^

Hüten wir uns! – Hüten wir uns, zu denken, daß die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene tun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, daß das All eine Maschine sei; es ist gewiß nicht auf ein Ziel konstruiert, wir tun ihm mit dem Wort »Maschine« eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns, etwas so Formvolles, wie die zyklischen Bewegungen unserer Nachbarsterne überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstraße läßt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen gibt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht: die Bildung des Organischen. Der Gesamtcharakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen. Von unserer Vernunft aus geurteilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heißen darf, – und zuletzt ist selbst das Wort »verunglückter Wurf« schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schließt. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht danach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urteile getroffen! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze in der Natur gebe. Es gibt nur Notwendigkeiten: da ist keiner, der befiehlt, keiner, der gehorcht, keiner, der übertritt. Wenn ihr wißt, daß es keine Zwecke gibt, so wißt ihr auch, daß es keinen Zufall gibt: denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort »Zufall« einen Sinn. Hüten wir uns, zu sagen, daß Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art. – Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es gibt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein ebensolcher Irrtum wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 129-130

Ursprung der Erkenntnis. – Der Intellekt hat ungeheure Zeitstrecken hindurch nichts als Irrtümer erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: wer auf sie stieß oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf für sich und seinen Nachwuchs mit größerem Glücke. Solche irrtümliche Glaubenssätze, die immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand wurden, sind zum Beispiel diese: daß es dauernde Dinge gebe, daß es gleiche Dinge gebe, daß es Dinge, Stoffe, Körper gebe, daß ein Ding das sei, als was es erscheine, daß unser Wollen frei sei, daß was für mich gut ist, auch an und für sich gut sei. Sehr spät erst traten die Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf – sehr spät erst trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der Erkenntnis. Es schien, daß man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; alle seine höheren Funktionen, die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten Grundirrtümern. Mehr noch: jene Sätze wurden selbst innerhalb der Erkenntnis zu den Normen, nach denen man »wahr« und »unwahr« bemaß – bis hinein in die entlegensten Gegenden der reinen Logik. Also: die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung. Wo Leben und Erkennen in Widerspruch zu kommen schienen, ist nie ernstlich gekämpft worden; da galt Leugnung und Zweifel als Tollheit. Jene Ausnahme-Denker, wie die Eleaten, welche trotzdem die Gegensätze der natürlichen Irrtümer aufstellten und festhielten, glaubten daran, daß es möglich sei, dieses Gegenteil auch zu leben: sie erfanden den Weisen als den Menschen der Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität der Anschauung, als eins und alles zugleich, mit einem eigenen Vermögen für jene umgekehrte Erkenntnis; sie waren des Glaubens, daß ihre Erkenntnis zugleich das Prinzip des Lebens sei. Um dies alles aber behaupten zu können, mußten sie sich über ihren eignen Zustand täuschen: sie mußten sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen und überhaupt die Vernunft als völlig freie, sich selbst entsprungene Aktivität fassen; sie hielten sich die Augen dafür zu, daß auch sie im Widersprechen gegen das Gültige, oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen gekommen waren. Die feinere Entwicklung der Redlichkeit und der Skepsis machte endlich auch diese Menschen unmöglich; auch ihr Leben und Urteilen ergab sich als unabhängig von uralten Trieben und Grundirrtümern alles empfindenden Daseins. – Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben anwendbar erschienen, weil sich beide mit den Grundirrtümern vertrugen, wo also über den höheren oder geringeren Grad des Nutzens für das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Äußerungen eines intellektuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele. Allmählich füllte sich das menschliche Gehirn mit solchen Urteilen und Überzeugungen, es entstand in diesem Knäuel Gärung, Kampf und Machtgelüst. Nützlichkeit und Lust nicht nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei in dem Kampfe um die »Wahrheiten«; der intellektuelle Kampf wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde –: das Erkennen und das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfnis in die anderen Bedürfnisse ein. Von da an war nicht nur der Glaube und die Überzeugung, sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Mißtrauen, der Widerspruch eine Macht, alle »bösen« Instinkte waren der Erkenntnis untergeordnet und in ihren Dienst gestellt und bekamen den Glanz des Erlaubten, Geehrten, Nützlichen und zuletzt das Auge und die Unschuld des Guten. Die Erkenntnis wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht: bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrtümer aufeinander stießen, beide als Leben, beide als Macht, beide in demselben Menschen. Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat. Im Verhältnis zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 131-133

Herkunft des Logischen. – Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiß aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schließen, gingen zugrunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer zum Beispiel das »Gleiche« nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang – denn es gibt an sich nichts Gleiches –, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso mußte, damit der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, – lange Zeit das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein; die nicht genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche alles »im Flusse« sahen. An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urteilen als gerecht zu sein – außerordentlich stark angezüchtet worden wäre. – Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirn entspricht einem Prozesse und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 133-134

Ursache und Wirkung. – »Erklärung« nennen wir's: aber »Beschreibung« ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser – wir erklären ebensowenig wie alle Früheren. Wir haben da ein vielfaches Nacheinander aufgedeckt, wo der naive Mensch und Forscher älterer Kulturen nur zweierlei sah, »Ursache« und »Wirkung«, wie die Rede lautete; wir haben das Bild des Werdens vervollkommnet, aber sind über das Bild, hinter das Bild nicht hinausgekommen. Die Reihe der »Ursachen« steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns, wir schließen: dies und das muß erst vorangehen, damit jenes folge – aber begriffen haben wir damit nichts. Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden, erscheint nach wie vor als ein »Wunder«, ebenso jede Fortbewegung; niemand hat den Stoß »erklärt«. Wie könnten wir auch erklären! Wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht gibt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren Räumen –, wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde! Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben. Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie – in Wahrheit steht ein Kontinuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolierte Punkte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschließen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es gibt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Sekunde der Plötzlichkeit, die uns entgehen. Ein Intellekt, der Ursache und Wirkung als Kontinuum, nicht nach unserer Art als willkürliches Zerteilt- und Zerstückt-sein, sähe, der den Fluß des Geschehens sähe – würde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 134-135

Zur Lehre von den Giften. – Es gehört so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken entstehe: und alle diese nötigen Kräfte haben einzeln erfunden, geübt, gepflegt werden müssen! In ihrer Vereinzelung haben sie aber sehr häufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschränken und in Zucht halten – sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb. Viele Hekatomben von Menschen sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese Triebe lernten, ihr Nebeneinander zu begreifen und sich miteinander als Funktionen einer organisierenden Gewalt in einem Menschen zu fühlen! Und wie ferne sind wir noch davon, daß zum wissenschaftlichen Denken sich auch noch die künstlerischen Kräfte und die praktische Weisheit des Lebens hinzufinden, daß ein höheres organisches System sich bildet, in bezug auf welches der Gelehrte, der Arzt, der Künstler und der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese kennen, als dürftige Altertümer erscheinen müßten!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 135-136

Die vier Irrtümer. – Der Mensch ist durch seine Irrtümer erzogen worden: er sah sich erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung zu Tier und Natur, viertens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie eine Zeitlang als ewig und unbedingt, so daß bald dieser bald jener menschliche Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und infolge dieser Schätzung veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrtümer weg, so hat man auch Humanität, Menschlichkeit und »Menschenwürde« hinweggerechnet.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 136

Herden-Instinkt. – Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschätzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen und Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Herde: das, was ihr am ersten frommt – und am zweiten und dritten –, das ist auch der oberste Maßstab für den Wert aller einzelnen. Mit der Moral wird der einzelne angeleitet, Funktion der Herde zu sein und nur als Funktion sich Wert zuzuschreiben. Da die Bedingungen der Erhaltung einer Gemeinde sehr verschieden von denen einer andern Gemeinde gewesen sind, so gab es sehr verschiedene Moralen; und in Hinsicht auf noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen der Herden und Gemeinden, Staaten und Gesellschaften kann man prophezeien, daß es noch sehr abweichende Moralen geben wird. Moralität ist Herden-Instinkt im Einzelnen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 136-137

Herden-Gewissensbiß. – In den längsten und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz andern Gewissensbiß als heutzutage. Heute fühlt man sich nur verantwortlich für das, was man will und tut, und hat in sich selber seinen Stolz: alle unsere Rechtslehrer gehen von diesem Selbst- und Lustgefühle des einzelnen aus, wie als ob hier von jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die längste Zeit der Menschheit hindurch gab es nichts Fürcherlicheres, als sich einzeln zu fühlen. Allein sein, einzeln empfinden, weder gehorchen noch herrschen, ein Individuum bedeuten – das war damals keine Lust, sondern eine Strafe; man wurde verurteilt »zum Individuum«. Gedankenfreiheit galt als das Unbehagen selber. Während wir Gesetz und Einordnung als Zwang und Einbuße empfinden, empfand man ehedem den Egoismus als eine peinliche Sache, als eine eigentliche Not. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maß und Gewicht schätzen – das ging damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu würde als Wahnsinn empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein war jedes Elend und jede Furcht verknüpft. Damals hatte der »freie Wille« das böse Gewissen in seiner nächsten Nachbarschaft: und je unfreier man handelte, je mehr der Herden-Instinkt und nicht der persönliche Sinn aus der Handlung sprach, um so moralischer schätzte man sich. Alles, was der Herde Schaden tat, sei es, daß der einzelne es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte damals dem einzelnen Gewissensbisse – und seinem Nachbar noch dazu, ja der ganzen Herde! – Darin haben wir am allermeisten umgelernt“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 137-138

Wohlwollen. – Ist es tugendhaft, wenn eine Zelle sich in die Funktion einer stärkeren Zelle verwandelt? Sie muß es. Und ist es böse, wenn die stärkere jene assimiliert? Sie muß es ebenfalls; so ist es für sie notwendig, denn sie strebt nach überreichlichem Ersatz und will sich regenerieren. Demnach hat man im Wohlwollen zu unterscheiden: den Aneignungstrieb und den Unterwerfungstrieb, je nachdem der Stärkere oder der Schwächere Wohlwollen empfindet. Freude und Begehren sind bei dem Stärkeren, der etwas zu seiner Funktion umbilden will, beisammen: Freude und Begehrtwerdenwollen bei dem Schwächeren, der Funktion werden möchte. – Mitleid ist wesentlich das erstere, eine angenehme Regung des Aneignungstriebes, beim Anblick des Schwächeren: wobei noch zu bedenken ist, daß »stark« und »schwach« relative Begriffe sind.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 138

Im Horizont des Unendlichen. – Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich vor! Neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, daß er unendlich ist und daß es nichts Furchtbareres gibt als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stößt! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre – und es gibt kein »Land« mehr!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 142

Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?« rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!« – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 143-144

Die Bedingungen Gottes. – »Gott selber kann nicht ohne weise Menschen bestehen« – hat Luther gesagt und mit gutem Rechte; aber »Gott kann noch weniger ohne unweise Menschen bestehen« – das hat der gute Luther nicht gesagt!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 147

Ein gefährlicher Entschluß. – Der christliche Entschluß, die Welt häßlich und schlecht zu finden, hat die Welt häßlich und schlecht gemacht.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 147

Christentum und Selbstmord. – Das Christentum hat das zur Zeit seiner Entstehung ungeheure Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht gemacht: es ließ nur zwei Formen des Selbstmordes übrig, umkleidete sie mit der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen und verbot alle anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die langsame Selbstentleibung des Asketen waren erlaubt.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 147-148

Herkunft der Sünde. – Sünde, so wie sie jetzt überall empfunden wird, wo das Christentum herrscht oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der Tat das Christentum darauf aus, die ganze Welt zu »verjüdeln«. Bis zu welchem Grade ihm dies in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem Grade von Fremdheit, den das griechische Altertum – eine Welt ohne Sündengefühle – immer noch für unsre Empfindung hat, trotz allem guten Willen zur Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete einzelne nicht haben fehlen lassen. »Nur wenn du bereuest, ist Gott dir gnädig« – das ist einem Griechen ein Gelächter und ein Ärgernis: er würde sagen »so mögen Sklaven empfinden«. Hier ist ein Mächtiger, Übermächtiger und doch Rachelustiger vorausgesetzt: seine Macht ist so groß, daß ihm ein Schaden überhaupt nicht zugefügt werden kann außer in dem Punkte der Ehre. Jede Sünde ist eine Respekts-Verletzung, ein crimen laesae majestatis divinae – und nichts weiter! Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen – das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft: Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes, wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit faßt und würgt – das läßt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert: Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit! – wem er seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde. Gott und Menschheit sind hier so getrennt, so entgegengesetzt gedacht, daß im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt werden kann – jede Tat soll nur auf ihre übernatürlichen Folgen hin angesehen werden, nicht auf ihre natürlichen: so will es das jüdische Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist. Den Griechen dagegen lag der Gedanke näher, daß auch der Frevel Würde haben könne – selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Abschlachtung von Vieh als Äußerung eines wahnsinnigen Neides, wie bei Ajax: sie haben in ihrem Bedürfnis, dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben, die Tragödie erfunden – eine Kunst und eine Lust, die dem Juden trotz aller seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabnen im tiefsten Wesen fremd geblieben ist.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 149-150

Farbe der Leidenschaften. – Solche Naturen, wie die des Apostels Paulus, haben für die Leidenschaften einen »bösen Blick«; sie lernen von ihnen nur das Schmutzige, Entstellende und Herzbrechende kennen – ihr idealer Drang geht daher auf Vernichtung der Leidenschaften aus: im Göttlichen sehen sie die völlige Reinheit davon. Ganz anders als Paulus und die Juden haben die Griechen ihren idealen Drang gerade auf die Leidenschaften gewendet und diese geliebt, gehoben, vergoldet und vergöttlicht; offenbar fühlten sie sich in der Leidenschaft nicht nur glücklicher, sondern auch reiner und göttlicher als sonst. – Und nun die Christen? Wollten sie hierin zu Juden werden? Sind sie es vielleicht geworden?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 151-152

Räucherwerk. – Buddha sagt: »Schmeichle deinem Wohltäter nicht!« Man spreche diesen Spruch nach in einer christlichen Kirche – er reinigt sofort die Luft von allem Christlichen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 152

„Der Monotheismus ... war vielleicht die größte Gefahr der bisherigen Menschheit .... Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigne Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: so daß es für den Menschen allein unter allen Tieren keine ewigen Horizonte und Perspektiven gibt.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 153-154

Religionskriege. – Der größte Fortschritt der Massen war bis jetzt der Religionskrieg: denn er beweist, daß die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehrfurcht zu behandeln. Religionskriege entstehen erst, wenn durch die feineren Streitigkeiten der Sekten die allgemeine Vernunft verfeinert ist: so daß selbst der Pöbel spitzfindig wird und Kleinigkeiten wichtig nimmt, ja es für möglich hält, daß das »ewige Heil der Seele« an den kleinen Unterschieden der Begriffe hänge.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 154

Deutsche Hoffnungen. – Vergessen wir doch nicht, daß die Völkernamen gewöhnlich Schimpfnamen sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen nach »die Hunde«: so wurden sie von den Chinesen getauft. Die »Deutschen«: das bedeutet ursprünglich die »Heiden«; so nannten die Goten nach ihrer Bekehrung die große Masse ihrer ungetauften Stammverwandten, nach Anleitung ihrer Übersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen »die Völker« bedeutet: man sehe Ulfilas. – Es wäre immer noch möglich, daß die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen machten, indem sie das erste unchristliche Volk Europas würden: wozu in hohem Maße angelegt zu sein, Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete. So käme das Werk Luthers zur Vollendung, der sie gelehrt hat, unrömisch zu sein und zu sprechen: »hier stehe ich! Ich kann nicht anders!«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 155

Wo die Reformationen entstehen. – Zur Zeit der großen Kirchen-Verderbnis war in Deutschland die Kirche am wenigsten verdorben: deshalb entstand hier die Reformation, als das Zeichen, daß schon die Anfänge der Verderbnis unerträglich empfunden wurden. Verhältnismäßig war nämlich kein Volk jemals christlicher, als die Deutschen zur Zeit Luthers: ihre christliche Kultur war eben bereit, zu einer hundertfältigen Pracht der Blüte auszuschlagen – es fehlte nur noch eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, der allem ein Ende machte.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 155-156

Mißlingen der Reformationen. – Es spricht für die höhere Kultur der Griechen selbst in ziemlich frühen Zeiten, daß mehrere Male die Versuche, neue griechische Religionen zu gründen, gescheitert sind; es spricht dafür, daß es schon früh eine Menge verschiedenartiger Individuen in Griechenland gegeben haben muß, deren verschiedenartige Not nicht mit einem einzigen Rezepte des Glaubens und Hoffens abzutun war. Pythagoras und Plato, vielleicht auch Empedokles, und bereits viel früher die orphischen Schwarmgeister, waren darauf aus, neue Religionen zu gründen; und die beiden Erstgenannten hatten so echte Religionsstifter-Seelen und –Talente, daß man sich über ihr Mißlingen nicht genug verwundern kann: sie brachten es aber nur zu Sekten. Jedesmal, wo die Reformation eines ganzen Volkes mißlingt und nur Sekten ihr Haupt emporheben, darf man schließen, daß das Volk schon sehr vielartig in sich ist und sich von den groben Herdeninstinkten und der Sittlichkeit der Sitte loszulösen beginnt: ein bedeutungsvoller Schwebezustand, den man als Sittenverfall und Korruption zu verunglimpfen gewohnt ist: während er das Reifwerden des Eies und das nahe Zerbrechen der Eierschale ankündigt. Daß Luthers Reformation im Norden gelang, ist ein Zeichen dafür, daß der Norden gegen den Süden Europas zurückgeblieben war und noch ziemlich einartige und einfarbige Bedürfnisse kannte; und es hätte überhaupt keine Verchristlichung Europas gegeben, wenn nicht die Kultur der alten Welt des Südens allmählich durch eine übermäßige Hinzumischung von germanischem Barbarenblut barbarisiert und ihres Kultur-Übergewichtes verlustig gegangen wäre. Je allgemeiner und unbedingter ein einzelner oder der Gedanke eines einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und um so niedriger muß die Masse sein, auf die da gewirkt wird; während Gegenbestrebungen innere Gegenbedürfnisse verraten, welche auch sich befriedigen und durchsetzen wollen. Umgekehrt darf man immer auf eine wirkliche Höhe der Kultur schließen, wenn mächtige und herrschsüchtige Naturen es nur zu einer geringen und sektiererischen Wirkung bringen: dies gilt auch für die einzelnen Künste und die Gebiete der Erkenntnis. Wo geherrscht wird, da gibt es Massen: wo Massen sind, da gibt es ein Bedürfnis nach Sklaverei. Wo es Sklaverei gibt, da sind der Individuen nur wenige, und diese haben die Herdeninstinkte und das Gewissen gegen sich.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 156-157

Vom Ursprunge der Religion. – Das metaphysische Bedürfnis ist nicht der Ursprung der Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschößling derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung einer »anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt« gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung der religiösen Gedanken eine unbehagliche Leere und Entbehrung – und nun wächst aus diesem Gefühle wieder eine »andere Welt« heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer »andern Welt« überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürfnis, sondern ein Irrtum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellekts.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 157-158

Was uns fehlt. – Wir lieben die große Natur und haben sie entdeckt: das kommt daher, daß in unserem Kopfe die großen Menschen fehlen. Umgekehrt die Griechen: ihr Naturgefühl ist ein anderes als das unsrige.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 159

An die Liebhaber der Zeit. – Der entlaufene Priester und der entlassene Sträfling machen fortwährend Gesichter: was sie wollen, ist ein Gesicht ohne Vergangenheit. – Habt ihr aber schon Menschen gesehn, welche wissen, daß die Zukunft in ihrem Gesichte sich spiegelt, und welche so höflich gegen euch, ihr Liebhaber der »Zeit«, sind, daß sie ein Gesicht ohne Zukunft machen?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 161

Von einem Kranken. – »Es steht schlecht um ihn!« – Woran fehlt es? – »Er leidet an der Begierde, gelobt zu werden, und findet keine Nahrung für sie.« – Unbegreiflich! Alle Welt feiert ihn, und man trägt ihn nicht nur auf den Händen, sondern auch auf den Lippen! – »Ja, aber er hat ein schlechtes Gehör für das Lob. Lobt ihn ein Freund, so klingt es ihm, als ob dieser sich selber lobe; lobt ihn ein Feind, so klingt es ihm, als ob dieser dafür gelobt werden wolle; lobt ihn endlich einer der übrigen – es sind gar nicht so viele übrig, so berühmt ist er! –, so beleidigt es ihn, daß man ihn nicht zum Freund oder Feind haben wolle; er pflegt zu sagen: ›Was liegt mir an einem, der gar noch gegen mich den Gerechten zu spielen vermag!‹«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 162-163

Die gute Zeit der freien Geister. – Die freien Geister nehmen sich auch vor der Wissenschaft noch ihre Freiheiten – und einstweilen gibt man sie ihnen auch –, solange die Kirche noch steht! Insofern haben sie jetzt ihre gute Zeit.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 165-166

Justiz. – Lieber sich bestehlen lassen, als Vogelscheuchen um sich haben – das ist mein Geschmack. Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmacks – und nicht mehr!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 166

Arm. – Er ist heute arm: aber nicht weil man ihm alles genommen, sondern weil er alles weggeworfen hat – was macht es ihm? Er ist daran gewöhnt, zu finden. – Die Armen sind es, welche seine freiwillige Armut mißverstehen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 167

Schlechtes Gewissen. – Alles, was er jetzt tut, ist brav und ordentlich – und doch hat er ein schlechtes Gewissen dabei. Denn das Außerordentliche ist seine Aufgabe.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 167

„Der Denker. – Er ist ein Denker: das heißt er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 167

Gegen die Lobenden. – A: »Man wird nur von seinesgleichen gelobt!« B: »Ja! Und wer dich lobt, sagt zu dir: du bist meinesgleichen!«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 168

Gegen manche Verteidigung. – Die perfideste Art einer Sache zu schaden ist, sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen verteidigen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 168

Kants Witz. – Kant wollte auf eine »alle Welt« vor den Kopf stoßende Art beweisen, daß »alle Welt« recht habe – das war der heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zugunsten des Volks-Vorurteils, aber für Gelehrte und nicht für das Volk.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 168

Bedürfnis. – Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 171

Ursache und Wirkung. – Vor der Wirkung glaubt man an andere Ursachen als nach der Wirkung.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 173

Zweck der Strafe. – Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft, – das ist die letzte Zuflucht für die Verteidiger der Strafe.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 174

Opfer. – Über Opfer und Aufopferung denken die Opfertiere anders als die Zuschauer: aber man hat sie von jeher nicht zu Worte kommen lassen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 174

Schonung. – Väter und Söhne schonen sich viel mehr untereinander als Mütter und Töchter.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 174

Kritik der Tiere. – Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat, – als das wahnwitzige Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 175

Die Natürlichen. – »Das Böse hat immer den großen Effekt für sich gehabt! Und die Natur ist böse! Seien wir also natürlich!« – so schließen im geheimen die großen Effekthascher der Menschheit, welche man gar zu oft unter die großen Menschen gerechnet hat.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 175

Gegen die Vermittelnden. – Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmäßig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 176

Mangel an Schweigsamkeit. – Sein ganzes Wesen überredet nicht – das kommt daher, daß er nie eine gute Handlung die er tat, verschwiegen hat.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 176

Um die Menge zu bewegen. – Muß nicht der, welcher die Menge bewegen will, der Schauspieler seiner selber sein? Muß er nicht sich selber erst ins Grotesk-Deutliche übersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser Vergröberung und Vereinfachung vortragen?
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 178

Gedanken und Worte. – Man kann auch seine Gedanken nicht ganz in Worten wiedergeben.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 179

Mathematik. – Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, so weit dies nur irgend möglich ist; nicht im Glauben, daß wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntnis.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 180

Schuld. – Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selber von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem nicht vorhanden. So steht es mit aller Schuld.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 180

Verkannte Leidende. – Die großartigen Naturen leiden anders, als ihre Verehrer sich einbilden: sie leiden am härtesten durch die unedlen, kleinlichen Wallungen mancher bösen Augenblicke, kurz durch ihren Zweifel an der eigenen Großartigkeit – nicht aber durch die Opfer und Martyrien, welche ihre Aufgabe von ihnen verlangt. Solange Prometheus Mitleid mit den Menschen hat und sich ihnen opfert, ist er glücklich und groß in sich; aber wenn er neidisch auf Zeus und die Huldigungen wird, welche jenem die Sterblichen bringen – da leidet er!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 181

Nachahmer. – A: »Wie? Du willst keine Nachahmer?« B: »Ich will nicht, daß man mir etwas nachmache; ich will, daß jeder sich etwas vormache: dasselbe, was ich tue.« A: »Also –?«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 182

Aus der Erfahrung. – Mancher weiß nicht, wie reich er ist, bis er erfährt, was für reiche Menschen an ihm noch zu Dieben werden.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 182

Die Leugner des Zufalls. – Kein Sieger glaubt an den Zufall.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183

Aus dem Paradiese. – »Gut und Böse sind die Vorurteile Gottes« – sagte die Schlange. “
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183

Einmaleins. – Einer hat immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit. – Einer kann sich nicht beweisen: aber zweie kann man bereits nicht widerlegen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183

Sub, specie aeterni. – A: »Du entfernst dich immer schneller von den Lebenden: bald werden sie dich aus ihren Listen streichen!« – B: »Es ist das einzige Mittel, um an dem Vorrecht der Toten teilzuhaben.« – A: »An welchem Vorrecht?« – B: »Nicht mehr zu sterben.«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183

Ohne Eitelkeit. – Wenn wir lieben, so wollen wir, daß unsere Mängel verborgen bleiben – nicht aus Eitelkeit, sondern weil das geliebte Wesen nicht leiden soll. Ja, der Liebende möchte ein Gott scheinen – und auch dies nicht aus Eitelkeit.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 184

Was wir tun. – Was wir tun, wird nie verstanden, sondern immer nur gelobt und getadelt.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 184

Was macht heroisch? – Zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehn.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185

Woran glaubst du? – Daran: daß die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185

Was sagt dein Gewissen? – »Du sollst der werden, der du bist.«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185

Wo liegen deine größten Gefahren? – Im Mitleiden.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185

Was liebst du an anderen? – Meine Hoffnungen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185

Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 185

Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 186

Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? – Sich nicht mehr vor sich selber schämen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 186

„Der du mit dem Flammenspeere // Meiner Seele Eis zerteilt, // Daß sie brausend nun zum Meere // Ihrer höchsten Hoffnung eilt: // Heller stets und stets gesunder, // Frei im liebevollsten Muß: – // Also preist sie deine Wunder, // Schönster Januarius!
Genua, im Januar 1882“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 187

Zum neuen Jahre. – Noch lebe ich, noch denke ich: ich muß noch leben, denn ich muß noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich jedermann, seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief – welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen – so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Häßliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, alles in allem und großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Jasagender sein!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 187

Vorbereitende Menschen. – Ich begrüße alle Anzeichen dafür, daß ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nötig haben wird – jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es für jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus dem Nichts entspringen können – und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen Zivilisation und Großstadt-Bildung: Menschen, welche es verstehen, schweigend, einsam, entschlossen, in unsichtbarer Tätigkeit zufrieden und beständig zu sein: Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen, was an ihnen zu überwinden ist: Menschen, denen Heiterkeit, Geduld, Schlichtheit und Verachtung der großen Eitelkeiten ebenso zu eigen ist, als Großmut im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten: Menschen mit einem scharfen und freien Urteil über alle Sieger und über den Anteil des Zufalls an jedem Siege und Ruhme: Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, ge wohnt und sicher im Befehlen und gleich bereit, wo es gilt, zu gehorchen, im einen wie im andern gleich stolz, gleich ihrer eigenen Sache dienend: gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen! Denn, glaubt es mir! – das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuß vom Dasein einzuernten, heißt: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit euresgleichen und mit euch selber! Seid Räuber und Eroberer, solange ihr nicht Herrscher und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei, wo es euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt zu leben! Endlich wird die Erkenntnis die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt – sie wird herrschen und besitzen wollen, und ihr mit ihr!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 192

Auf die Schiffe! – Erwägt man, wie auf jeden einzelnen eine philosophische Gesamt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt – nämlich gleich einer wärmenden, sengenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig an Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden bringt und das kleine und große Unkraut des Grams und der Verdrießlichkeit gar nicht aufkommen läßt – so ruft man zuletzt verlangend aus: Oh daß doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben! Nicht Mitleiden mit ihnen tut not! – diesen Einfall des Hochmuts müssen wir verlernen, solange auch bisher die Menschheit gerade an ihm gelernt und geübt hat – keine Beichtiger, Seelenbeschwörer und Sündenvergeber haben wir für sie aufzustellen! Sondern eine neue Gerechtigkeit tut not! Und eine neue Losung! Und neue Philosophen! Auch die moralische Erde ist rund! Auch die moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch die Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 195-196

An die Moral-Prediger. – Ich will keine Moral machen, aber denen, welche es tun, gebe ich diesen Rat: wollt ihr die besten Dinge und Zustände zuletzt um alle Ehre und Wert bringen, so fahrt fort, sie in den Mund zu nehmen wie bisher! Stellt sie an die Spitze eurer Moral und redet von früh bis abend von dem Glück der Tugend, von der Ruhe der Seele, von der Gerechtigkeit und der immanenten Vergeltung: so wie ihr es treibt, bekommen alle diese guten Dinge dadurch endlich eine Popularität und ein Geschrei der Gasse für sich; aber dann wird auch alles Gold daran abgegriffen sein und mehr noch: alles Gold darin wird sich in Blei verwandelt haben. Wahrlich, ihr versteht euch auf die umgekehrte Kunst der Alchimie, auf die Entwertung des Wertvollsten! Greift einmal zum Versuche nach einem anderen Rezepte, um nicht wie bisher das Gegenteil von dem, was ihr sucht, zu erreichen: leugnet jene guten Dinge, entzieht ihnen den Pöbel-Beifall und den leichten Umlauf, macht sie wieder zu verborgenen Schamhaftigkeiten einsamer Seelen, sagt, Moral sei etwas Verbotenes! Vielleicht gewinnt ihr so die Art von Menschen für diese Dinge, auf welche einzig etwas ankommt, ich meine die Heroischen. Aber dann muß etwas zum Fürchten daran sein und nicht, wie bisher, zum Ekeln! Möchte man nicht heute in Hinsicht der Moral sagen, wie Meister Eckardt: »ich bitte Gott, daß er mich quitt mache Gottes!«“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 199

Unsere Luft. – Wir wissen es wohl: wer nur wie im Spazierengehen einmal einen Blick nach der Wissenschaft hin tut, nach Art der Frauen und leider auch vieler Künstler: für den hat die Strenge ihres Dienstes, diese Unerbittlichkeit im kleinen wie im großen, diese Schnelligkeit im Wägen, Urteilen, Verurteilen etwas Schwindel- und Furchteinflößendes. Namentlich erschreckt ihn, wie hier das Schwerste gefordert, das Beste getan wird, ohne daß dafür Lob und Auszeichnungen da sind, vielmehr, wie unter Soldaten, fast nur Tadel und scharfe Verweise laut werden – denn das Gutmachen gilt als die Regel, das Verfehlte als die Ausnahme; die Regel aber hat hier wie überall einen schweigsamen Mund. Mit dieser »Strenge der Wissenschaft« steht es nun wie mit der Form und Höflichkeit der allerbesten Gesellschaft – sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer aber an sie gewöhnt ist, mag gar nicht anderswo leben als in dieser hellen, durchsichtigen, kräftigen, stark elektrischen Luft, in dieser männlichen Luft. Überall sonst ist es ihm nicht reinlich und luftig genug: er argwöhnt, daß dort seine beste Kunst niemandem recht von Nutzen und ihm selber nicht zur Freude sein werde, daß unter Mißverständnissen ihm sein halbes Leben durch die Finger schlüpfe, daß fortwährend viel Vorsicht, viel Verbergen und Ansichhalten not tue – lauter große und unnütze Einbußen an Kraft! In diesem strengen und klaren Elemente aber hat er seine Kraft ganz: hier kann er fliegen! Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen und waten muß und seine Flügel mißfarbig macht! – Nein! Da ist es zu schwer für uns zu leben: was können wir dafür, daß wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls, und daß wir am liebsten auf Ätherstäubchen gleich ihm reiten würden, und nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne hin! Das aber können wir nicht – so wollen wir denn tun, was wir einzig können: der Erde Licht bringen, »das Licht der Erde« sein! Und dazu haben wir unsere Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, um dessenthalben sind wir männlich und selbst schrecklich, gleich dem Feuer. Mögen die uns fürchten, welche sich nicht an uns zu wärmen und zu erhellen verstehen!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 200-201

Gegen die Verleumder der Natur. – Das sind mir unangenehme Menschen, bei denen jeder natürliche Hang sofort zur Krankheit wird, zu etwas Entstellendem oder gar Schmählichem – diese haben uns zu der Meinung verführt, die Hänge und Triebe des Menschen seien böse; sie sind die Ursache unserer großen Ungerechtigkeit gegen unsere Natur, gegen alle Natur! Es gibt genug Menschen, die sich ihren Trieben mit Anmut und Sorglosigkeit überlassen dürfen: aber sie tun es nicht, aus Angst vor jenem eingebildeten »bösen Wesen« der Natur! Daher ist es gekommen, daß so wenig Vornehmheit unter den Menschen zu finden ist: deren Kennzeichen es immer sein wird, vor sich keine Furcht zu haben, von sich nichts Schmähliches zu erwarten, ohne Bedenken zu fliegen, wohin es uns treibt – uns freigeborene Vögel! Wohin wir auch nur kommen, immer wird es frei und sonnenlicht um uns sein.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 201

Widersprechen können. – Jeder weiß jetzt, daß Widerspruch-vertragen-können ein hohes Zeichen von Kultur ist. Einige wissen sogar, daß der höhere Mensch den Widerspruch gegen sich wünscht und hervorruft, um einen Fingerzeig über seine ihm bisher unbekannte Ungerechtigkeit zu bekommen. Aber das Widersprechen-Können, das erlangte gute Gewissen bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Überlieferte, Geheiligte – das ist mehr als jenes Beides und das eigentlich Große, Neue, Erstaunliche unserer Kultur, der Schritt aller Schritte des befreiten Geistes: wer weiß das?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 204

Was man den Künstlern ablernen soll. – Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, anziehend, begehrenswert zu machen, wenn sie es nicht sind? – und ich meine, sie sind es an sich niemals! Hier haben wir von den Ärzten etwas zu lernen, wenn sie zum Beispiel das Bittere verdünnen oder Wein und Zucker in den Mischkrug tun; aber noch mehr von den Künstlern, welche eigentlich fortwährend darauf aus sind, solche Erfindungen und Kunststücke zu machen. Sich von den Dingen entfernen, bis man vieles von ihnen nicht mehr sieht und vieles hinzusehn muß, um sie noch zu sehen – oder die Dinge um die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen – oder sie so stellen, daß sie sich teilweise verstellen und nur perspektivische Durchblicke gestatten – oder sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröte anschauen – oder ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle Transparenz hat: das alles sollen wir den Künstlern ablernen und im übrigen weiser sein als sie. Denn bei ihnen hört gewöhnlich diese ihre feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört und das Leben beginnt; wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 204-205

Vorspiele der Wissenschaft. – Glaubt ihr denn, daß die Wissenschaften entstanden und groß geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchimisten, Astrologen und Hexen vorangelaufen wären als die, welche mit ihren Verheißungen und Vorspiegelungen erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und verbotenen Mächten schaffen mußten? Ja, daß unendlich mehr hat verheißen werden müssen, als je erfüllt werden kann, damit überhaupt etwas im Reiche der Erkenntnis sich erfülle? – Vielleicht erscheint in gleicher Weise, wie uns sich hier Vorspiele und Vorübungen der Wissenschaft darstellen, die durchaus nicht als solche geübt und empfunden wurden, auch irgendeinem fernen Zeitalter die gesamte Religion als Übung und Vorspiel: vielleicht könnte sie das seltsame Mittel dazu gewesen sein, daß einmal einzelne Menschen die ganze Selbstgenügsamkeit eines Gottes und alle seine Kraft der Selbsterlösung genießen können. Ja! – darf man fragen – würde denn der Mensch überhaupt ohne jene religiöse Schule und Vorgeschichte es gelernt haben, nach sich Hunger und Durst zu spüren und aus sich Sattheit und Fülle zu nehmen? Mußte Prometheus erst wähnen, das Licht gestohlen zu haben und dafür büßen – um endlich zu entdecken, daß er das Licht geschaffen habe, indem er nach dem Lichte begehrte, und daß nicht nur der Mensch, sondern auch der Gott das Werk seiner Hände und Ton in seinen Händen gewesen sei? Alles nur Bilder des Bildners? – ebenso wie der Wahn, der Diebstahl, der Kaukasus, der Geier und die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 205-206

„Was nur Wert hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach – die Natur ist immer wertlos –: sondern dem hat man einen Wert einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 207

Stoiker und Epikureer. – Der Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und selbst die Ereignisse aus, welche zu seiner äußerst reizbaren intellektuellen Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das übrige – das heißt das allermeiste –, weil es eine zu starke und schwere Kost für ihn sein würde. Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpione zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet – er erinnert an jene arabische Sekte der Assaua, die man in Algier kennenlernt; und gleich diesen Unempfindlichen hat er auch gerne ein eingeladenes Publikum bei der Schaustellung seiner Unempfindlichkeit, dessen gerade der Epikureer gerne enträt – der hat ja seinen »Garten«! Für Menschen, mit denen das Schicksal improvisiert, für solche, die in gewaltsamen Zeiten und abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben, mag der Stoizismus sehr ratsam sein. Wer aber einigermaßen absieht, daß das Schicksal ihm einen langen Faden zu spinnen erlaubt, tut wohl, sich epikureisch einzurichten; alle Menschen der geistigen Arbeit haben es bisher getan! Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüßen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 210-211

Zugunsten der Kritik. – Jetzt erscheint dir etwas als Irrtum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stößt es von dir ab und wähnst, daß deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrtum damals, als du noch ein andrer warst – du bist immer ein andrer –, dir ebenso notwendig wie alle deine jetzigen »Wahrheiten«, gleichsam als eine Haut, die dir vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getötet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr ans Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches – es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, daß lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstoßen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil etwas in uns leben und sich bejahen will, etwas das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! – Dies zugunsten der Kritik.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 211

Neue Haustiere. – Ich will meinen Löwen und meinen Adler um mich haben, damit ich allezeit Winke und Vorbedeutungen habe, zu wissen, wie groß oder wie gering meine Stärke ist. Muß ich heute zu ihnen hinabblicken und mich vor ihnen fürchten? Und wird die Stunde wiederkommen, wo sie zu mir hinauf blicken, und in Furcht?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 215

Vom letzten Stündlein. – Stürme sind meine Gefahr: werde ich meinen Sturm haben, an dem ich zugrunde gehe, wie Oliver Cromwell an seinem Sturme zugrunde ging? Oder werde ich verlöschen wie ein Licht, das nicht erst der Wind ausbläst, sondern das seiner selber müde und satt wurde – ein ausgebranntes Licht? Oder endlich: werde ich mich ausblasen, um nicht auszubrennen?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 215

Neue Vorsicht. – Laßt uns nicht mehr so viel an Strafen, Tadeln und Bessern denken! Einen einzelnen werden wir selten verändern; und wenn es uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch etwas mitgelungen: wir sind durch ihn verändert worden! Sehen wir viel mehr zu, daß unser eigener Einfluß auf alles Kommende seinen Einfluß aufwiegt und überwiegt! Ringen wir nicht im direkten Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserem Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir den andern durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber dunkler werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber beiseite! Sehen wir weg!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 218-219

In media vita! – Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerter und geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier über mich kam, jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe – und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängnis, nicht eine Betrügerei! – Und die Erkenntnis selber: mag sie für andere etwas anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müßiggang – für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. »Das Leben ein Mittel der Erkenntnis« – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 219-220

Der Dummheit Schaden tun. – Gewiß hat der so hartnäckig und überzeugt gepredigte Glaube von der Verwerflichkeit des Egoismus im ganzen dem Egoismus Schaden getan (zugunsten, wie ich hundertmal wiederholen werde, der Herden-lnstinkte!) namentlich dadurch, daß er ihm das gute Gewissen nahm und in ihm die eigentliche Quelle alles Unglücks suchen hieß. »Deine Selbstsucht ist das Unheil deines Lebens« – so klang die Predigt jahrtausendelang: es tat, wie gesagt, der Selbstsucht Schaden und nahm ihr viel Geist, viel Heiterkeit, viel Erfindsamkeit, viel Schönheit; es verdummte und verhäßlichte und vergiftete die Selbstsucht! – Das philosophische Altertum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von Sokrates an wurden die Denker nicht müde zu predigen: »eure Gedankenlosigkeit und Dummheit, euer Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars ist der Grund, weshalb ihr es so selten zum Glücke bringt – wir Denker sind als Denker die Glücklichsten.« Entscheiden wir hier nicht, ob diese Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe für sich hatte als jene Predigt gegen die Selbstsucht; gewiß aber ist dies, daß sie der Dummheit das gute Gewissen nahm – diese Philosophen haben der Dummheit Schaden getan!
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 222-223

„Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas »versäumen könnte«. »Lieber irgend etwas tun als nichts« – auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast der Arbeitenden zugrundegehn: so geht auch das Gefühl für die Form selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zugrunde. Der Beweis dafür liegt in der jetzt überall geforderten plumpen Deutlichkeit, in allen den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und Fürsten – man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonien, für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles Otium. Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und so gibt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur »gehen lassen«, sondern lang und breit und plump sich hinstrecken. Gemäß diesem Hange schreibt man jetzt seine Briefe: deren Stil und Geist das eigentliche »Zeichen der Zeit« sein werden. Gibt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müde gearbeitete Sklaven sich zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der »Freude« bei unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über diese zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits »Bedürfnis der Erholung« und fängt an sich vor sich selber zu schämen. »Man ist es seiner Gesundheit schuldig« – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja es könnte bald so weit kommen, daß man einem Hange zur vita contemplativa (das heißt zum spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe. – Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, daß er etwas Verächtliches tue – das »Tun« selber war etwas Verächtliches. »Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei otium und bellum«: so klang die Stimme des antiken Vorurteils!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 223-224

„Auch die Liebe muß man lernen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 227

Hoch die Physik! – Wie viel Menschen verstehen denn zu beobachten! Und unter den wenigen, die es verstehen – wie viele beobachten sich selber! »Jeder ist sich selber der Fernste« – das wissen alle Nierenprüfer, zu ihrem Unbehagen; und der Spruch »erkenne dich selbst!« ist, im Munde eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit. .... Und nun rede mir nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund! – dies Wort kitzelt mein Ohr und ich muß lachen, trotz deiner so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, daß er »das Ding an sich« – auch eine sehr lächerliche Sache! – sich erschlichen hatte, vom »kategorischen Imperativ« beschlichen wurde und mit ihm im Herzen sich wieder zu »Gott«, »Seele«, »Freiheit« und »Unsterblichkeit« zurückverirrte, einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt – und seine Kraft und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen hatte! – Wie? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir? Diese »Festigkeit« deines sogenannten moralischen Urteils? Diese »Unbedingtheit« des Gefühls »so wie ich, müssen hierin alle urteilen«? Bewundere vielmehr deine Selbstsucht darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist es, sein Urteil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht hinwiederum, weil sie verrät, daß du dich selber noch nicht entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast – dies nämlich könnte niemals das eines anderen sein, geschweige denn aller, aller! – – Wer noch urteilt »so müßte in diesem Falle jeder handeln«, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntnis gegangen: sonst würde er wissen, daß es weder gleiche Handlungen gibt, noch geben kann – daß jede Handlung, die getan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiderbringliche Art getan wurde, und daß es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung stehen wird, daß alle Vorschriften des Handelns sich nur auf die gröbliche Außenseite beziehen (und selbst die innerlichsten und feinsten Vorschriften aller bisherigen Moralen) – daß mit ihnen wohl ein Schein der Gleichheit, aber eben nur ein Schein erreicht werden kann – daß jede Handlung, beim Hinblick oder Rückblick auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt – daß unsere Meinungen von »gut«, »edel«, »groß« durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist – daß sicherlich unsere Meinungen, Wertschätzungen und Gütertafeln zu den mächtigsten Hebeln im Räderwerk unserer Handlungen gehören, daß aber für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar ist. Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Wertschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln – über den »moralischen Wert unserer Handlungen« aber wollen wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der einen über die andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen, soll uns wider den Geschmack gehen! Überlassen wir dies Geschwätz und diesen üblen Geschmack denen, welche nicht mehr zu tun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen, und welche selber niemals Gegenwart sind – den vielen also, den allermeisten! Wir aber wollen die werden, die wir sind – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Ge setzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Notwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um in jenem Sinne Schöpfer sein zu können – während bisher alle Wertschätzungen und Ideale auf Unkenntnis der Physik oder im Widerspruche mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt – unsere Redlichkeit!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 227-231

Geiz der Natur. – Warum ist die Natur so kärglich gegen den Menschen gewesen, daß sie ihn nicht leuchten ließ, diesen mehr, jenen weniger, je nach seiner innern Lichtfülle? Warum haben große Menschen nicht eine so schöne Sichtbarkeit in ihrem Aufgange und Niedergange wie die Sonne? Wie viel unzweideutiger wäre alles Leben unter Menschen!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 231

Der Wille zum Leiden und die Mitleidigen. – Ist es euch selber zuträglich, vor allem mitleidige Menschen zu sein? Und ist es den Leidenden zuträglich, wenn ihr es seid? Doch lassen wir die erste Frage für einen Augenblick ohne Antwort. – Das, woran wir am tiefsten und persönlichsten leiden, ist fast allen anderen unverständlich und unzugänglich: darin sind wir dem Nächsten verborgen, und wenn er mit uns aus einem Topfe ißt. Überall aber, wo wir als Leidende bemerkt werden, wird unser Leiden flach ausgelegt; es gehört zum Wesen der mitleidigen Affektion, daß sie das fremde Leid des eigentlich Persönlichen entkleidet – unsre »Wohltäter« sind mehr als unsre Feinde die Verkleinerer unsres Wertes und Willens. Bei den meisten Wohltaten, die Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes in der intellektuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige das Schicksal spielt: er weiß nichts von der ganzen inneren Folge und Verflechtung, welche Unglück für mich oder für dich heißt! Die gesamte Ökonomie meiner Seele und deren Ausgleichung durch das »Unglück«, das Aufbrechen neuer Quellen und Bedürfnisse, das Zuwachsen alter Wunden, das Abstoßen ganzer Vergangenheiten – das alles, was mit dem Unglück verbunden sein kann, kümmert den lieben Mitleidigen nicht: er will helfen und denkt nicht daran, daß es eine persönliche Notwendigkeit des Unglücks gibt, daß mir und dir Schrecken, Entbehrungen, Verarmungen, Mitternächte, Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nötig sind wie ihr Gegenteil, ja daß, um mich mystisch auszudrücken, der Pfad zum eigenen Himmel immer durch die Wollust der eigenen Hölle geht. Nein, davon weiß er nichts: die »Religion des Mitleidens« (oder »das Herz«) gebietet zu helfen, und man glaubt am besten geholfen zu haben, wenn man am schnellsten geholfen hat! Wenn ihr Anhänger dieser Religion dieselbe Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen habt, auch wirklich gegen euch selber habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswert, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: nun, dann habt ihr, außer eurer Religion des Mitleidens, auch noch eine andere Religion im Herzen, und diese ist vielleicht die Mutter von jener – die Religion der Behaglichkeit. Ach, wie wenig wißt ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmütigen! denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die miteinander großwachsen oder, wie bei euch, miteinander – klein bleiben!
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 233-234

Der sterbende Sokrates. – Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in allem, was er tat, sagte – und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermütigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso groß im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens schweigsam gewesen – vielleicht gehörte er dann in eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit – irgend etwas löste ihm in jenem Augenblicke die Zunge und er sagte: »O Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig.« Dieses lächerliche und furchtbare »letzte Wort« heißt für den, der Ohren hat: »O Kriton, das Leben ist eine Krankheit!« Ist es möglich! Ein Mann wie er, der heiter und vor aller Augen wie ein Soldat gelebt hat – war Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urteil, sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten! Und er hat noch seine Rache dafür genommen – mit jenem verhüllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte! Mußte ein Sokrates sich auch noch rächen? War ein Gran Großmut zu wenig in seiner überreichen Tugend? – Ach Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 236-237

Das größte Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: »du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!« Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: »willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?« würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 237

Incipit tragoedia. – Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See Urmi und ging in das Gebirge. Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz – und eines Morgens stand er mit der Morgenröte auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: »Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange; aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluß ab und segneten dich dafür. Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind. Dazu muß ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends tust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn! – ich muß, gleich dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will. So segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein allzugroßes Glück sehen kann! Segne den Becher, welcher überfließen will, daß das Wasser golden aus ihm fließe und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage! Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.« – Also begann Zarathustras Untergang.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 238

Was es mit unsrer Heiterkeit auf sich hat. – Das größte neuere Ereignis – daß »Gott tot ist«, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgendeine Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsre alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, »älter« scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen; das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte; geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat? .... Selbst wir geborenen Rätselrater, die wir gleichsam auf den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten: woran liegt es doch, daß selbst wir ohne rechte Teilnahme für diese Verdüsterung, vor allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehn? Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den nächsten Folgen dieses Ereignisses – und diese nächsten Folgen, seine Folgen für uns sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröte .... In der Tat, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, daß der »alte Gott tot« ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so »offnes Meer«.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 239-240

Inwiefern auch wir noch fromm sind. – In der Wissenschaft haben die Überzeugungen kein Bürgerrecht, so sagt man mit gutem Grunde: erst wenn sie sich entschließen, zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen, darf ihnen der Zutritt und sogar ein gewisser Wert innerhalb des Reichs der Erkenntnis zugestanden werden – immerhin mit der Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu bleiben, unter die Polizei des Mißtrauens. – Heißt das aber nicht, genauer besehen: erst wenn die Überzeugung aufhört, Überzeugung zu sein, darf sie Eintritt in die Wissenschaft erlangen? Finge nicht die Zucht des wissenschaftlichen Geistes damit an, sich keine Überzeugungen mehr zu gestatten? .... So steht es wahrscheinlich: nur bleibt übrig zu fragen, ob nicht, damit diese Zucht anfangen könne, schon eine Überzeugung da sein müsse, und zwar eine so gebieterische und bedingungslose, daß sie alle andern Überzeugungen sich zum Opfer bringt. Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem Glauben, es gibt gar keine »voraussetzungslose« Wissenschaft. Die Frage, ob Wahrheit not tue, muß nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem Grade bejaht sein, daß der Satz, der Glaube, die Überzeugung darin zum Ausdruck kommt, »es tut nichts mehr not als Wahrheit, und im Verhältnis zu ihr hat alles Übrige nur einen Wert zweiten Rangs«. – Dieser unbedingte Wille zur Wahrheit: was ist er? Ist es der Wille, sich nicht täuschen zu lassen? Ist es der Wille, nicht zu täuschen? Nämlich auch auf diese letzte Weise könnte der Wille zur Wahrheit interpretiert werden: vorausgesetzt, daß man unter der Verallgemeinerung »ich will nicht täuschen« auch den einzelnen Fall »ich will mich nicht täuschen« einbegreift. Aber warum nicht täuschen? Aber warum nicht sich täuschen lassen? – Man bemerke, daß die Gründe für das erstere auf einem ganz andern Bereiche liegen als die für das zweite: man will sich nicht täuschen lassen, unter der Annahme, daß es schädlich, gefährlich, verhängnisvoll ist, getäuscht zu werden – in diesem Sinne wäre Wissenschaft eine lange Klugheit, eine Vorsicht, eine Nützlichkeit, gegen die man aber billigerweise einwenden dürfte: wie? ist wirklich das Sich-nicht-täuschen-lassen-wollen weniger schädlich, weniger gefährlich, weniger verhängnisvoll? Was wißt ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu können, ob der größere Vorteil auf Seiten des Unbedingt-Mißtrauischen oder des Unbedingt-Zutraulichen ist? Falls aber beides nötig sein sollte, viel Zutrauen und viel Mißtrauen: woher dürfte dann die Wissenschaft ihren unbedingten Glauben, ihre Überzeugung nehmen, auf dem sie ruht, daß Wahrheit wichtiger sei als irgendein andres Ding, auch als jede andre Überzeugung? Eben diese Überzeugung könnte nicht entstanden sein, wenn Wahrheit und Unwahrheit sich beide fortwährend als nützlich bezeigten, wie es der Fall ist. Also – kann der Glaube an die Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar da ist, nicht aus einem solchen Nützlichkeits-Kalkül seinen Ursprung genommen haben, sondern vielmehr trotzdem, daß ihm die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des »Willens zur Wahrheit«, der »Wahrheit um jeden Preis« fortwährend bewiesen wird. »Um jeden Preis«: oh wir verstehen das gut genug, wenn wir erst einen Glauben nach dem andern auf diesem Altare dargebracht und abgeschlachtet haben! – Folglich bedeutet »Wille zur Wahrheit« nicht »ich will mich nicht täuschen lassen«, sondern – es bleibt keine Wahl – »ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht«; – und hiermit sind wir auf dem Boden der Moral. Denn man frage sich nur gründlich: »warum willst du nicht täuschen?« namentlich wenn es den Anschein haben sollte – und es hat den Anschein! – als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrtum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wäre, und wenn andrerseits tatsächlich die große Form des Lebens sich immer auf der Seite der unbedenklichsten polytropoi gezeigt hat. Es könnte ein solcher Vorsatz vielleicht, mild ausgelegt, eine Don-Quixoterie, ein kleiner schwärmerischer Aberwitz sein; er könnte aber auch noch etwas Schlimmeres sein, nämlich ein lebensfeindliches zerstörerisches Prinzip . .... »Wille zur Wahrheit« – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein. – Dergestalt führt die Frage: warum Wissenschaft? zurück auf das moralische Problem: wozu überhaupt Moral, wenn Leben, Natur, Geschichte »unmoralisch« sind? Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese »andre Welt« bejaht, wie? muß er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen? .... Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht – daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist .... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 240-243

Moral als Problem. – Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr – sie taugt am wenigsten zur Philosophie. Die »Selbstlosigkeit« hat keinen Wert im Himmel und auf Erden; die großen Probleme verlangen alle die große Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen. Es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so daß er in ihnen sein Schicksal, seine Not und auch sein bestes Glück hat, oder aber »unpersönlich«: nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des kalten, neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt nichts dabei heraus, so viel läßt sich versprechen: denn die großen Probleme, gesetzt selbst, daß sie sich fassen lassen, lassen sich von Fröschen und Schwächlingen nicht halten, das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit – ein Geschmack übrigens, den sie mit allen wackeren Weiblein teilen. – Wie kommt es nun, daß ich noch niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur Moral in dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem und dies Problem als seine persönliche Not, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr das gerade, worin man, nach allem Mißtrauen, Zwiespalt, Widerspruch, miteinander überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufatmeten, auflebten. Ich sehe niemanden, der eine Kritik der moralischen Werturteile gewagt hätte; ich vermisse hierfür selbst die Versuche der wissenschaftlichen Neugierde, der verwöhnten versucherischen Psychologen- und Historiker-Einbildungskraft, welche leicht ein Problem vorwegnimmt und im Fluge erhascht, ohne recht zu wissen, was da erhascht ist. Kaum daß ich einige spärliche Ansätze ausfindig gemacht habe, es zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle und Wertschätzungen zu bringen (was etwas anderes ist als eine Kritik derselben und noch einmal etwas anderes als die Geschichte der ethischen Systeme): in einem einzelnen Falle habe ich alles getan, um eine Neigung und Begabung für diese Art Historie zu ermutigen – umsonst, wie mir heute scheinen will. Mit diesen Moral-Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf sich: sie stehen gewöhnlich selbst noch arglos unter dem Kommando einer bestimmten Moral und geben, ohne es zu wissen, deren Schildträger und Gefolge ab; etwa mit jenem noch immer so treuherzig nachgeredeten Volks-Aberglauben des christlichen Europa, daß das Charakteristikum der moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich-Selbst-Opfernden, oder im Mitgefühle, im Mitleiden gelegen sei. Ihr gewöhnlicher Fehler in der Voraussetzung ist, daß sie irgendeinen consensus der Völker, mindestens der zahmen Völker über gewisse Sätze der Moral behaupten und daraus deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für dich und mich, schließen; oder daß sie umgekehrt, nachdem ihnen die Wahrheit aufgegangen ist, daß bei verschiedenen Völkern die moralischen Schätzungen notwendig verschieden sind, einen Schluß auf Unverbindlichkeit aller Moral machen: was beides gleich große Kindereien sind. Der Fehler der Feineren unter ihnen ist, daß sie die vielleicht törichten Meinungen eines Volks über seine Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral aufdecken und kritisieren, also über deren Herkunft, religiöse Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und ebendamit vermeinen, diese Moral selbst kritisiert zu haben. Aber der Wert einer Vorschrift »du sollst« ist noch gründlich verschieden und unabhängig von solcherlei Meinungen über dieselbe und von dem Unkraut des Irrtums, mit dem sie vielleicht überwachsen ist: so gewiß der Wert eines Medikaments für den Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine Moral könnte selbst aus einem Irrtume gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres Wertes noch nicht einmal berührt. – Niemand also hat bisher den Wert jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu zuallererst gehört, daß man ihn einmal – in Frage stellt. Wohlan! Dies eben ist unser Werk.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 243-245

Unser Fragezeichen. – Aber ihr versteht das nicht? In der Tat, man wird Mühe haben, uns zu verstehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach Ohren. Wer sind wir doch? Wollten wir uns einfach mit einem älteren Ausdruck Gottlose oder Ungläubige oder auch Immoralisten nennen, wir würden uns damit noch lange nicht bezeichnet glauben: wir sind alles dreies in einem zu späten Stadium, als daß man begriffe, als daß ihr begreifen könntet, meine Herren Neugierigen, wie es einem dabei zumute ist. Nein! nicht mehr mit der Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen, der sich aus seinem Unglauben noch einen Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurechtmachen muß! Wir sind abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart geworden, daß es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach menschlichem Maße vernünftig, barmherzig oder gerecht: wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist ungöttlich, unmoralisch, »unmenschlich« – wir haben sie uns allzulange falsch und lügnerisch, aber nach Wunsch und Willen unsrer Verehrung, das heißt nach einem Bedürfnisse ausgelegt. Denn der Mensch ist ein verehrendes Tier! Aber er ist auch ein mißtrauisches: und daß die Welt nicht das wert ist, was wir geglaubt haben, das ist ungefähr das sicherste, dessen unser Mißtrauen endlich habhaft geworden ist. So viel Mißtrauen, so viel Philosophie. Wir hüten uns wohl zu sagen, daß sie weniger wert ist: es erscheint uns heute selbst zum Lachen, wenn der Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werte zu erfinden, welche den Wert der wirklichen Welt überragen sollten – gerade davon sind wir zurückgekommen als von einer ausschweifenden Verirrung der menschlichen Eitelkeit und Unvernunft, die lange nicht als solche erkannt worden ist. Sie hat ihren letzten Ausdruck im modernen Pessimismus gehabt, einen älteren, stärkeren in der Lehre des Buddha; aber auch das Christentum enthält sie, zweifelhafter freilich und zweideutiger, aber darum nicht weniger verführerisch. Die ganze Attitüde »Mensch gegen Welt«, der Mensch als »Welt-verneinendes« Prinzip, der Mensch als Wertmaß der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Waagschalen legt und zu leicht befindet – die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewußtsein gekommen und verleidet – wir lachen schon, wenn wir »Mensch und Welt« nebeneinandergestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaßung des Wörtchens »und«! Wie aber? Haben wir nicht eben damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht? Und also auch im Pessimismus, in der Verachtung des uns erkennbaren Daseins? Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren – um deren willen wir vielleicht zu leben aushielten –, und einer andren Welt, die wir selber sind: einem unerbittlichen, gründlichen, untersten Argwohn über uns selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen könnte: »entweder schafft eure Verehrungen ab oder – euch selbst!« Das letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht auch das erstere – der Nihilismus? – Dies ist unser Fragezeichen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 245-247

Die Gläubigen und ihr Bedürfnis nach Glauben. – Wieviel einer Glauben nötig hat, um zu gedeihen, wieviel »Festes«, an dem er nicht gerüttelt haben will, weil er sich daran hält – ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder deutlicher geredet, seiner Schwäche). Christentum haben, wie mir scheint, im alten Europa auch heute noch die meisten nötig: deshalb findet es auch immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein – gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn auch immer wieder für »wahr« halten, – gemäß jenem berühmten »Beweise der Kraft«, von dem die Bibel redet. Metaphysik haben einige noch nötig; aber auch jenes ungestüme Verlangen nach Gewißheit, welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wollen (während man es wegen der Hitze dieses Verlangens mir der Begründung der Sicherheit leichter und läßlicher nimmt): auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz jener Instinkt der Schwäche, welcher Religionen, Metaphysiken, Überzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber – konserviert. In der Tat dampft um alle diese positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen Verdüsterung, etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht vor neuer Enttäuschung – oder aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte Laune, Entrüstungs-Anarchismus und was es alles für Symptome oder Maskeraden des Schwächegefühls gibt. Selbst die Heftigkeit, mit der sich unsre gescheitesten Zeitgenossen in ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel in die Vaterländerei (so heiße ich das, was man in Frankreich chauvinisme, in Deutschland »deutsch« nennt) oder in ästhetische Winkel-Bekenntnisse nach Art des Pariser naturalisme (der von der Natur nur den Teil hervorzieht und entblößt, welcher Ekel zugleich und Erstaunen macht – man heißt diesen Teil heute gern la vérité vraie –) oder in Nihilismus nach Petersburger Muster (das heißt in den Glauben an den Unglauben, bis zum Martyrium dafür), zeigt immer vorerst das Bedürfnis nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt .... Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dringlichsten nötig, wo es an Willen fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das heißt, je weniger einer zu befehlen weiß, um so dringlicher begehrt er nach einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen. Woraus vielleicht abzunehmen wäre, daß die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christentum, ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches Um-sich-greifen zumal, in einer ungeheuren Erkrankung des Willens gehabt haben möchten. Und so ist es in Wahrheit gewesen: beide Religionen fanden ein durch Willens-Erkrankung ins Unsinnige aufgetürmtes, bis zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem »du sollst« vor, beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten der Willens-Erschlaffung und boten damit Unzähligen einen Halt, eine neue Möglichkeit zu wollen, einen Genuß am Wollen. Der Fanatismus ist nämlich die einzige »Willensstärke«, zu der auch die Schwachen und Unsichern gebracht werden können, als eine Art Hypnotisierung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zugunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie) eines einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes, der nunmehr dominiert – der Christ heißt ihn seinen Glauben. Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, daß ihm befohlen werden muß, wird er »gläubig«; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben jedem Wunsch nach Gewißheit den Abschied gibt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 251-252

„Mein Gedanke ist, wie man sieht: daß das Bewußtsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts-und Herden-Natur ist; daß es, wie daraus folgt, auch nur in bezug auf Gemeinschafts- und Herden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und daß folglich jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, »sich selbst zu kennen«, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewußtsein bringen wird, sein »Durchschnittliches«, – daß unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewußtseins – durch den in ihm gebietenden »Genius der Gattung« – gleichsam majorisiert und in die Herden-Perspektive zurück-übersetzt wird. Unsre Handlungen sind im Grunde allesamt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie ins Bewußtsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr .... Dies ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des tierischen Bewußtseins bringt es mit sich, daß die Welt, deren wir bewußt werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt – daß alles, was bewußt wird, eben damit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Herden-Merkzeichen wird, daß mit allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende Bewußtsein eine Gefahr; und wer unter den bewußtesten Europäern lebt, weiß sogar, daß es eine Krankheit ist. Es ist, wie man errät, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnistheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängengeblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von »Ding an sich« und Erscheinung: denn wir »erkennen« bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die »Wahrheit«: wir »wissen« (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier »Nützlichkeit« genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zugrunde gehn.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 258-259

Der Ursprung unsres Begriffs »Erkenntnis«. – Ich nehme diese Erklärung von der Gasse; ich hörte jemanden aus dem Volke sagen »er hat mich erkannt« –: dabei fragte ich mich: was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntnis? was will es, wenn es »Erkenntnis« will? Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt werden. Und wir Philosophen – haben wir unter Erkenntnis eigentlich mehr verstanden? Das Bekannte, das heißt: das woran wir gewöhnt sind, so daß wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgendeine Regel, in der wir stecken, alles und jedes, in dem wir uns zu Hause wissen – wie? ist unser Bedürfnis nach Erkennen nicht eben dies Bedürfnis nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heißt? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wiedererlangten Sicherheitsgefühls sein? .... Dieser Philosoph wähnte die Welt »erkannt«, als er sie auf die »Idee« zurückgeführt hatte: ach, war es nicht deshalb, weil ihm die »Idee« so bekannt, so gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der »Idee« fürchtete? – Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man sehe sich doch ihre Prinzipien und Welträtsel-Lösungen darauf an! Wenn sie etwas an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden, das uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins oder unsre Logik oder unser Wollen und Begehren, wie glücklich sind sie sofort! Denn »was bekannt ist, ist erkannt«: darin stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen, zum mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der »inneren Welt«, von den »Tatsachen des Bewußtseins« auszugehen, weil sie die uns bekanntere Welt sei! Irrtum der Irrtümer! Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu »erkennen«, das heißt als Problem zu sehen, das heißt als fremd, als fern, als »außer uns« zu sehn .... Die große Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältnis zur Psychologie und Kritik der Bewußtseins-Elemente – unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte – ruht gerade darauf, daß sie das Fremde als Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Frem de überhaupt als Objekt nehmen zu wollen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 259-261

Inwiefern es in Europa immer »künstlerischer« zugehn wird. – Die Lebens-Fürsorge zwingt auch heute noch – in unsrer Übergangszeit, wo so vieles aufhört zu zwingen – fast allen männlichen Europäern eine bestimmte Rolle auf, ihren sogenannten Beruf; einigen bleibt dabei die Freiheit, eine anscheinende Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den meisten wird sie gewählt. Das Ergebnis ist seltsam genug: fast alle Europäer verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit ihrer Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres »guten Spiels«, sie selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als sich ihr »Beruf« entschied – und wie viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen können: denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst Natur. Es gab Zeitalter, in denen man mit steifer Zuversichtlichkeit, ja mit Frömmigkeit an seine Vorherbestimmung für gerade dies Geschäft, gerade diesen Broterwerb glaubte und den Zufall darin, die Rolle, das Willkürliche schlechterdings nicht anerkennen wollte: Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte haben mit Hilfe dieses Glaubens es zustande gebracht, jene Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Türmen aufzurichten, welche das Mittelalter auszeichnen und denen jedenfalls eins nachzurühmen bleibt: Dauerfähigkeit (– und Dauer ist auf Erden ein Wert ersten Ranges!). Aber es gibt umgekehrte Zeitalter, die eigentlich demokratischen, wo man diesen Glauben mehr und mehr verlernt und ein gewisser kecker Glaube und Gesichtspunkt des Gegenteils in den Vordergrund tritt, jener Athener-Glaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkt wird, jener Amerikaner-Glaube von heute, der immer mehr auch Europäer-Glaube werden will: wo der einzelne überzeugt ist, ungefähr alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo jeder mit sich versucht, improvisiert, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird .... Die Griechen, erst in diesen Rollen-Glauben – einen Artisten-Glauben, wenn man will – eingetreten, machten, wie bekannt, Schritt für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem Betracht nachahmenswerte Verwandlung durch: sie wurden wirklich Schauspieler; als solche bezauberten sie, überwanden sie alle Welt und zuletzt selbst die »Weltüberwinderin« (denn der Graeculus histrio hat Rom besiegt, und nicht, wie die Unschuldigen zu sagen pflegen, die griechische Kultur ...). Aber was ich fürchte, was man heute schon mit Händen greift, falls man Lust hätte, danach zu greifen, wir modernen Menschen sind ganz schon auf dem gleichen Wege; und jedesmal, wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler .... Damit kommt dann eine neue Flora und Fauna von Menschen herauf, die in festeren, beschränkteren Zeitaltern nicht wachsen können – oder »unten« gelassen werden, unter dem Banne und Verdachte der Ehrlosigkeit –, es kommen damit jedesmal die interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte herauf, in denen die »Schauspieler«, alle Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren sind. Eben dadurch wird eine andre Gattung Mensch immer tiefer benachteiligt, endlich unmöglich gemacht, vor allem die großen »Baumeister«; jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Mut, auf lange Fernen hin Pläne zu machen, wird entmutigt; die organisatorischen Genies fangen an zu fehlen – wer wagt es nunmehr noch, Werke zu unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende rechnen müßte? Es stirbt eben jener Grundglaube aus, auf welchen hin einer dergestalt rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, seinem Plane zum Opfer bringen kann, daß nämlich der Mensch nur insofern Wert hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem großen Baue ist: wozu er zuallererst fest sein muß, »Stein« sein muß .... Vor allem nicht – Schauspieler! Kurz gesagt – ach, es wird lang genug noch verschwiegen werden! – was von nun an nicht mehr gebaut wird, nicht mehr gebaut werden kann, das ist – eine Gesellschaft im alten Versrande des Wortes; um diesen Bau zu bauen, fehlt alles, voran das Material. Wir alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist! Es dünkt mich gleichgültig, daß einstweilen noch die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art Mensch, die es heute gibt, unsre Herrn Sozialisten, ungefähr das Gegenteil glaubt, hofft, träumt, vor allem schreit und schreibt; man liest ja ihr Zukunftswort »freie Gesellschaft« bereits auf allen Tischen und Wänden. Freie Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr wißt doch, ihr Herren, woraus man die baut? Aus hölzernem Eisen! Aus dem berühmten hölzernen Eisen! Und noch nicht einmal aus hölzernem.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 261-263

„Ich erinnere an drei Fälle. Zuerst an Leibniz' unvergleichliche Einsicht, mit der er nicht nur gegen Descartes, sondern gegen alles, was bis zu ihm philosophiert hatte, Recht bekam – daß die Bewußtheit nur ein accidens der Vorstellung ist, nicht deren notwendiges und wesentliches Attribut, daß also das, was wir Bewußtsein nennen, nur einen Zustand unsrer geistigen und seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand) und bei weitem nicht sie selbst .... Erinnern wir uns zweitens an Kants ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff »Kausalität« schrieb – nicht daß er wie Hume dessen Recht überhaupt bezweifelt hätte: er begann vielmehr vorsichtig das Reich abzugrenzen, innerhalb dessen dieser Begriff überhaupt Sinn hat (man ist auch jetzt noch nicht mit dieser Grenzabsteckung fertig geworden). Nehmen wir drittens den erstaunlichen Griff Hegels, der damit durch alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen durchgriff, als er zu lehren wagte, daß die Artbegriffe sich auseinander entwickeln: mit welchem Satze die Geister in Europa zur letzten großen wissenschaftlichen Bewegung präformiert wurden, zum Darwinismus – denn ohne Hegel kein Darwin.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 264

„In allen drei Fällen fühlen wir etwas von uns selbst »aufgedeckt« und erraten und sind dankbar dafür und überrascht zugleich, jeder dieser drei Sätze ist ein nachdenkliches Stück deutscher Selbsterkenntnis, Selbsterfahrung, Selbsterfassung. »Unsre innre Welt ist viel reicher, umfänglicher, verborgener«, so empfinden wir mit Leibniz; als Deutsche zweifeln wir mit Kant an der Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und überhaupt an allem, was sich causaliter erkennen läßt: das Erkennbare scheint uns als solches schon geringeren Wertes. Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Wert zumessen als dem, was »ist« – wir glauben kaum an die Berechtigung des Begriffs »Sein« –; ebenfalls insofern wir unsrer menschlichen Logik nicht geneigt sind einzuräumen, daß sie die Logik an sich, die einzige Art Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden, daß sie nur ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der wunderlichsten und dümmsten –).“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 264-265

„Das Ereignis, nach welchem dies Problem mit Sicherheit zu erwarten stand, so daß ein Astronom der Seele Tag und Stunde dafür hätte ausrechnen können, der Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott, der Sieg des wissenschaftlichen Atheismus, ist ein gesamteuropäisches Ereignis, an dem alle Rassen ihren Anteil von Verdienst und Ehre haben sollen. Umgekehrt wäre gerade den Deutschen zuzurechnen – jenen Deutschen, mit welchen Schopenhauer gleichzeitig lebte –, diesen Sieg des Atheismus am längsten und gefährlichsten verzögert zu haben; Hegel namentlich war sein Verzögerer par excellence, gemäß dem grandiosen Versuche, den er machte, uns zur Göttlichkeit des Daseins zu allerletzt noch mit Hilfe unsres sechsten Sinnes, des »historischen Sinnes«, zu überreden. Schopenhauer war als Philosoph der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben: seine Feindschaft gegen Hegel hatte hier ihren Hintergrund. Die Ungöttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes, Greifliches, Undiskutierbares; er verlor jedesmal seine Philosophen-Besonnenheit und geriet in Entrüstung, wenn er jemanden hier zögern und Umschweife machen sah. An dieser Stelle liegt seine ganze Rechtschaffenheit: der unbedingte redliche Atheismus ist eben die Voraussetzung seiner Problemstellung, als ein endlich und schwer errungener Sieg des europäischen Gewissens, als der folgenreichste Akt einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet ....“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 265-266

„Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zuliebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit – mit dieser Strenge, wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 266

„Indem wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stoßen und ihren »Sinn« wie eine Falschmünzerei verurteilen, kommt nun auf eine furchtbare Weise die Schopenhauerische Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? – jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden. Was Schopenhauer selbst auf diese Frage geantwortet hat, war – man vergebe es mir – etwas Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, der Glaube gekündigt war …. Aber er hat die Frage gestellt ....“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 266-267

„Die Deutschen von heute sind keine Pessimisten!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 268

Der Bauernaufstand des Geistes. – Wir Europäer befinden uns im Anblick einer ungeheuren Trümmerwelt, wo einiges noch hoch ragt, wo vieles morsch und unheimlich dasteht, das meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug – wo gab es je schönere Ruinen? – und überwachsen mit großem und kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir sehen die religiöse Gesellschaft des Christentums bis in die untersten Fundamente erschüttert – der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-asketische Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und gründlich gebautes Werk wie das Christentum – es war der letzte Römerbau! – konnte freilich nicht mit einem Male zerstört werden; alle Art Erdbeben hat da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt, feuchtet, hat da helfen müssen. Aber was das Wunderlichste ist: die, welche sich am meisten darum bemüht haben, das Christentum zu halten, zu erhalten, sind gerade seine besten Zerstörer geworden – die Deutschen. Es scheint, die Deutschen verstehen das Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig genug? nicht mißtrauisch genug? Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer südländischen Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist – er ruht auf einer ganz andren Kenntnis des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat. Die Luthersche Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas »Vielfältiges«, um vorsichtig zu reden, ein grobes, biederes Mißverständnis, an dem viel zu verzeihen ist – man begriff den Ausdruck einer siegreichen Kirche nicht und sah nur Korruption, man mißverstand die vornehme Skepsis, jenen Luxus von Skepsis und Toleranz, welchen sich jede siegreiche, selbstgewisse Macht gestattet .... Man übersieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnisvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig angelegt war, vor allem als Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abging: so daß sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes Römer-Werks, ohne daß er es wollte und wußte, nur der Anfang eines Zerstörungswerkes wurde. Er dröselte auf, er riß zusammen, mit ehrlichem Ingrimme, wo die alte Spinne am sorgsamsten und längsten gewoben hatte. Er lieferte die heiligen Bücher an jedermann aus – damit gerieten sie endlich in die Hände der Philologen, das heißt der Vernichter jeden Glaubens, der auf Büchern ruht. Er zerstörte den Begriff»Kirche«, indem er den Glauben an die Inspiration der Konzilien wegwarf: denn nur unter der Voraussetzung, daß der inspirierende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff »Kirche« Kraft. Er gab dem Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurück: aber drei Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor allem das Weib aus dem Volke fähig ist, ruht auf dem Glauben, daß ein Ausnahme-Mensch in diesem Punkte auch in andren Punkten eine Ausnahme sein wird – hier gerade hat der Volksglaube an etwas Übermenschliches im Menschen, an das Wunder, an den erlösenden Gott im Menschen, seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther mußte dem Priester, nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte nehmen, das war psychologisch richtig; aber damit war im Grunde der christliche Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein. »Jedermann sein eigner Priester« – hinter solchen Formeln und ihrer bäuerischen Verschlagenheit versteckte sich bei Luther der abgründliche Haß auf den »höheren Menschen« und die Herrschaft des »höheren Menschen«, wie ihn die Kirche konzipiert hatte – er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen wußte, während er die Entartung dieses Ideals zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. Tatsächlich stieß er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi von sich; er machte also gerade das selber innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte – einen »Bauernaufstand«. – Was hinterdrein alles aus seiner Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute ungefähr überrechnet werden kann – wer wäre wohl naiv genug, Luther um dieser Folgen willen einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist an allem unschuldig, er wußte nicht was er tat. Die Verflachung des europäischen Geistes, namentlich im Norden, seine Vergutmütigung, wenn mans lieber mit einem moralischen Worte bezeichnet hört, tat mit der Lutherschen Reformation einen tüchtigen Schritt vorwärts, es ist kein Zweifel; und ebenso wuchs durch sie die Beweglichkeit und Unruhe des Geistes, sein Durst nach Unabhängigkeit, sein Glaube an ein Recht auf Freiheit, seine »Natürlichkeit«. Will man ihr in letzterer Hinsicht den Wert zugestehn, das vorbereitet und begünstigt zu haben, was wir heute als »moderne Wissenschaft« verehren, so muß man freilich hinzufügen, daß sie auch an der Entartung des modernen Gelehrten mitschuldig ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht, Scham und Tiefe, an der ganzen naiven Treuherzigkeit und Biedermännerei in Dingen der Erkenntnis, kurz an jenem Plebejismus des Geistes, der den letzten beiden Jahrhunderten eigentümlich ist und von dem uns auch der bisherige Pessimismus noch keineswegs erlöst hat, – auch die »modernen Ideen« gehören noch zu diesem Bauernaufstand des Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, mißtrauischeren Geist des Südens, der sich in der christlichen Kirche sein größtes Denkmal gebaut hat. Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine Kirche ist, und zwar im Gegensatz zu jedem »Staate«: eine Kirche ist vor allem ein Herrschafts-Gebilde, das den geistigeren Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit soweit glaubt, um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten – damit allein ist die Kirche unter allen Umständen eine vornehmere Institution als der Staat.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 268-271

Die Rache am Geist und andre Hintergründe der Moral. – Die Moral – wo glaubt ihr wohl, daß sie ihre gefährlichsten und tückischsten Anwälte hat? .... Da ist ein mißratener Mensch, der nicht genug Geist besitzt, um sich dessen freuen zu können, und gerade Bildung genug, um das zu wissen; gelangweilt, überdrüssig, ein Selbstverächter; durch etwas ererbtes Vermögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den »Segen der Arbeit«, die Selbstvergessenheit im »Tagewerk«; ein solcher, der sich seines Daseins im Grunde schämt – vielleicht herbergt er dazu ein paar kleine Laster – und andrerseits nicht umhin kann, durch Bücher, auf die er kein Recht hat, oder geistigere Gesellschaft, als er verdauen kann, sich immer schlimmer zu verwöhnen und eitel-reizbar zu machen: ein solcher durch und durch vergifteter Mensch – denn Geist wird Gift, Bildung wird Gift, Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt Mißratenen –, gerät schließlich in einen habituellen Zustand der Rache, des Willens zur Rache ..., was glaubt ihr wohl, daß er nötig, unbedingt nötig hat, um sich bei sich selbst den Anschein von Überlegenheit über geistigere Menschen, um sich die Lust der vollzogenen Rache, wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen? Immer die Moralität, darauf darf man wetten, immer die großen Moral-Worte, immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer den Stoizismus der Gebärde ( – wie gut versteckt der Stoizismus, was einer nicht hat! ...), immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der Milde, und wie alle die Idealisten-Mäntel heißen, unter denen die unheilbaren Selbstverächter, auch die unheilbar Eitlen, herumgehn. Man verstehe mich nicht falsch: aus solchen geborenen Feinden des Geistes entsteht mitunter jenes seltene Stück Menschtum, das vom Volke unter dem Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen kommen jene Untiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte machen – der heilige Augustin gehört zu ihnen. Die Furcht vor dem Geist, die Rache am Geist – oh wie oft wurden diese triebkräftigen Laster schon zur Wurzel von Tugenden! Ja zur Tugend! – Und, unter uns gefragt, selbst jener Philosophen-Anspruch auf Weisheit, der hier und da einmal auf Erden gemacht worden ist, der tollste und unbescheidenste aller Ansprüche – war er nicht immer bisher, in Indien wie in Griechenland, vor allem ein Versteck? Mitunter vielleicht im Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen heiligt, als zarte Rücksicht auf Werdende, Wachsende, auf Jünger, welche oft durch den Glauben an die Person (durch einen Irrtum) gegen sich selbst verteidigt werden müssen .... In den häufigeren Fällen aber ein Versteck des Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung, Alter, Erkaltung, Verhärtung rettet, als Gefühl vom nahen Ende, als Klugheit jenes Instinkts, den die Tiere vor dem Tode haben – sie gehen beiseite, werden still, wählen die Einsamkeit, verkriechen sich in Höhlen, werden weise ...., Wie? Weisheit ein Versteck des Philosophen vor – dem Geiste?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 271-273

Was ist Romantik? – Man erinnert sich vielleicht, zum mindesten unter meinen Freunden, daß ich anfangs mit einigen dicken Irrtümern und Überschätzungen und jedenfalls als Hoffender auf diese moderne Welt losgegangen bin. Ich verstand – wer weiß, auf welche persönlichen Erfahrungen hin? – den philosophischen Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts, wie als ob er das Symptom von höherer Kraft des Gedankens, von verwegenerer Tapferkeit, von siegreicherer Fülle des Lebens sei, als diese dem achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter Humes, Kants, Condillacs und der Sensualisten, zu eigen gewesen sind: so daß mir die tragische Erkenntnis wie der eigentliche Luxus unsrer Kultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste, gefährlichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres Überreichtums, als ihr erlaubter Luxus. Desgleichen deutete ich mir die deutsche Musik zurecht zum Ausdruck einer dionysischen Mächtigkeit der deutschen Seele: in ihr glaubte ich das Erdbeben zu hören, mit dem eine von alters her aufgestaute Urkraft sich endlich Luft macht – gleichgültig dagegen, ob alles, was sonst Kultur heißt, dabei ins Zittern gerät. Man sieht, ich verkannte damals, sowohl am philosophischen Pessimismus wie an der deutschen Musik, das was ihren eigentlichen Charakter ausmacht – ihre Romantik. Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil-und Hilfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehen werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es gibt zweierlei Leidende, einmal die an der Überfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntnis suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem Doppel-Bedürfnisse der letzteren entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard Wagner, um jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker zu nennen, welche damals von mir mißverstanden wurden – übrigens nicht zu ihrem Nachteile, wie man mir in aller Billigkeit zugestehen darf. Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die fürchterliche Tat und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung; bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige und Häßliche gleichsam erlaubt, infolge eines Überschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften, welcher aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen imstande ist. Umgekehrt würde der Leidendste, Lebensärmste am meisten die Milde, Friedlichkeit, Güte nötig haben, im Denken und im Handeln, womöglich einen Gott, der ganz eigentlich ein Gott für Kranke, ein »Heiland« wäre; ebenso auch die Logik, die begriffliche Verständlichkeit des Daseins – denn die Logik beruhigt, gibt Vertrauen –, kurz eine gewisse warme, furchtabwehrende Enge und Einschließung in optimistische Horizonte. Dergestalt lernte ich allmählich Epikur begreifen, den Gegensatz eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den »Christen«, der in der Tat nur eine Art Epikureer und, gleich jenem, wesentlich Romantiker ist, – und mein Blick schärfte sich immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden – des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der Tat auf den Täter, vom Ideal auf den, der es nötig hat, von jeder Denk-und Wertungsweise auf das dahinter kommandierende Bedürfnis. – In Hinsicht auf alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle »ist hier der Hunger oder der Überfluß schöpferisch geworden?« Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen – sie ist bei weitem augenscheinlicher – nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehen, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiß, das Wort »dionysisch«), aber es kann auch der Haß des Mißratenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt – man sehe sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der Wille zum Verewigen bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen Homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend. Er kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturierten sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der romantische Pessimismus in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauersche Willens-Philosophie, sei es als Wagnersche Musik – der romantische Pessimismus, das letzte große Ereignis im Schicksal unsrer Kultur. (Daß es noch einen ganz anderen Pessimismus geben könne, einen klassischen – diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von mir, als mein proprium und ipsissimum: nur daß meinen Ohren das Wort »klassisch« widersteht, es ist bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft – denn er kommt! ich sehe ihn kommen! – den dionysischen Pessimismus.)“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 285-288

Warum wir keine Idealisten sind. – Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen: haben wir – diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute allesamt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie, nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik .... Jene hingegen meinten, durch die Sinne aus ihrer Welt, dem kalten Reiche der »Ideen«, auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt zu werden: woselbst, wie sie fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee in der Sonne wegschmelzen würden. »Wachs in den Ohren« war damals beinahe Bedingung des Philosophierens; ein echter Philosoph hörte das Leben nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leugnete die Musik des Lebens – es ist ein alter Philosophen-Aberglaube, daß alle Musik Sirenen-Musik ist. – Nun möchten wir heute geneigt sein, gerade umgekehrt zu urteilen (was an sich noch ebenso falsch sein könnte): nämlich daß die Ideen schlimmere Verführerinnen seien als die Sinne, mit allem ihrem kalten anämischen Anscheine und nicht einmal trotz diesem Anscheine – sie lebten immer vom »Blute« des Philosophen, sie zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, auch sein »Herz«. Diese alten Philosophen waren herzlos: Philosophieren war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinozas, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Blässer-werden –, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht im Hintergrunde irgendeine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig läßt? – ich meine Kategorien, Formeln, Worte (denn, man vergebe mir, das was von Spinoza übrig blieb, amor intellectualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! was ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt? ...). In summa: aller philosophische Idealismus war bisher etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Platos, die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. – Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Platos Idealismus nötig zu haben? Und wir fürchten die Sinne nicht, weil ....“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 289-290

»Wissenschaft« als Vorurteil. – Es folgt aus den Gesetzen der Rangordnung, daß Gelehrte, insofern sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen großen Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen dürfen; zudem reicht ihr Mut und ebenso ihr Blick nicht bis dahin – vor allem, ihr Bedürfnis, das sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wünschen, es möchte so und so beschaffen sein, ihr Fürchten und Hoffen kommt zu bald schon zur Ruhe, zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und einen Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit ziehen heißt, jene endliche Versöhnung von »Egoismus und Altruismus«, von der er fabelt, das macht unsereinem beinahe Ekel – eine Menschheit mit solchen Spencerschen Perspektiven als letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung, der Vernichtung wert! Aber schon daß etwas als höchste Hoffnung von ihm empfunden werden muß, was anderen bloß als widerliche Möglichkeit gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht hätte .... Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Wertbegriffen ihr Äquivalent und Maß haben soll, an eine »Welt der Wahrheit«, der man mit Hilfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte – wie? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer Rechenknechts-Übung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen lassen? Man soll es vor allem nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden wollen: das fordert der gute Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor allem, was über euren Horizont geht! Daß allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in eurem Sinne (– ihr meint eigentlich mechanistisch?) geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehen und Greifen und nichts weiter zuläßt, das ist eine Plumpheit und Naivität, gesetzt daß es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es umgekehrt nicht recht wahrscheinlich, daß sich gerade das Oberflächlichste und Äußerlichste vom Dasein – sein Scheinbarstes, seine Haut und Versinnlichung – am ersten fassen ließe? vielleicht sogar allein fassen ließe? Eine »wissenschaftliche« Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der dümmsten, das heißt sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern ins Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell sinnlose Welt! Gesetzt, man schätzte den Wert einer Musik danach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne – wie absurd wäre eine solche »wissenschaftliche« Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu nichts von dem, was eigentlich an ihr »Musik« ist!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 290-292

Unser neues »Unendliches«. – Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgendeinen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne »Sinn« eben zum »Unsinn« wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch die fleißigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte: zum Beispiel ob irgendwelche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre). Aber ich denke, wir sind heute zum mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretieren, daß man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal »unendlich« geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt. Noch einmal faßt uns der große Schauder – aber wer hätte wohl Lust, dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen? Und etwa das Unbekannte fürderhin als »den Unbekannten« anzubeten? Ach es sind zu viele ungöttliche Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation – unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir kennen.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 292-293

„Warum wir Epikureer scheinen. – Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen letzte Überzeugungen; unser Mißtrauen liegt auf der Lauer gegen die Bezauberungen und Gewissens-Überlistungen, welche in jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein liegen: wie erklärt sich das? Vielleicht, daß man darin zu einem guten Teil die Behutsamkeit des »gebrannten Kindes«, des enttäuschten Idealisten sehn darf, zu einem andern und bessern Teile aber auch die frohlockende Neugierde eines ehemaligen Eckenstehers, der durch seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr im Gegensatz der Ecke schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im »Freien an sich«. Damit bildet sich ein nahezu epikurischer Erkenntnis-Hang aus, welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen will; insgleichen ein Widerwille gegen die großen Moral-Worte und -Gebärden, ein Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und sich seiner Übung in Vorbehalten mit Stolz bewußt ist. Denn das macht unsern Stolz aus, dieses leichte Zügel-Straffziehn bei unsrem vorwärtsstürmenden Drange nach Gewißheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen wildesten Ritten: nach wie vornämlich haben wir tolle feurige Tiere unter uns, und wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl die Gefahr, die uns zögern macht.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 293-294

Wir Heimatlosen. – Es fehlt unter den Europäern von heute nicht an solchen, die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen – ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza ausdrücklich ans Herz gelegt! Denn ihr Los ist hart, ihre Hoffnung ungewiß, es ist ein Kunststück, ihnen einen Trost zu erfinden – aber was hilft es! Wir Kinder der Zukunft, wie vermöchten wir in diesem Heute zu Hause zu sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin einer sich sogar in dieser zerbrechlichen, zerbrochenen Übergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber deren »Realitäten« betrifft, so glauben wir nicht daran, daß sie Dauer haben. Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Tauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind etwas, das Eis und andre allzudünne »Realitäten« aufbricht .... Wir »konservieren« nichts, wir wollen auch in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht »liberal«, wir arbeiten nicht für den »Fortschritt«, wir brauchen unser Ohr nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen – das, was sie singen, »gleiche Rechte«, »freie Gesellschaft«, »keine Herren mehr und keine Knechte«, das lockt uns nicht! – wir halten es schlechterdings nicht für wünschenswert, daß das Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmäßigung und Chineserei sein würde), wir freuen uns an allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht abfinden, einfangen, versöhnen und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken über die Notwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei – denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus »Mensch« gehört auch eine neue Art Versklavung hinzu – nicht wahr? mit alledem müssen wir schlecht in einem Zeitalter zu Hause sein, welches die Ehre in Anspruch zu nehmen liebt, das menschlichste, mildeste, rechtlichste Zeitalter zu heißen, das die Sonne bisher gesehen hat? Schlimm genug, daß wir gerade bei diesen schönen Worten um so häßlichere Hintergedanken haben! Daß wir darin nur den Ausdruck – auch die Maskerade – der tiefen Schwächung, der Ermüdung, des Alters, der absinkenden Kraft sehen! Was kann uns daran gelegen sein, mit was für Flittern ein Kranker seine Schwäche aufputzt! Mag er sie als seine Tugend zur Schau tragen – es unterliegt ja keinem Zweifel, daß die Schwäche mild, ach so mild, so rechtlich, so unoffensiv, so »menschlich« macht! – Die »Religion des Mitleidens«, zu der man uns überreden möchte – oh wir kennen die hysterischen Männlein und Weiblein genug, welche heute gerade diese Religion zum Schleier und Aufputz nötig haben! Wir sind keine Humanitarier; wir würden uns nie zu erlauben wagen, von unsrer »Liebe zur Menschheit« zu reden – dazu ist unsereins nicht Schauspieler genug! Oder nicht Saint-Simonist genug, nicht Franzose genug. Man muß schon mit einem gallischen Übermaß erotischer Reizbarkeit und verliebter Ungeduld behaftet sein, um sich in ehrlicher Weise sogar noch der Menschheit mit seiner Brunst zu nähern .... Der Menschheit! Gab es je noch ein scheußlicheres altes Weib unter allen alten Weibern? (– es müßte denn etwa »die Wahrheit« sein: eine Frage für Philosophen). Nein, wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch lange nicht »deutsch« genug, wie heute das Wort »deutsch« gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhaß das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu »gereist«: wir ziehen es bei weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, »unzeitgemäß«, in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wut ersparen, zu der wir uns verurteilt wüßten als Augenzeugen einer Politik, die den deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel macht, und kleine Politik außerdem ist – hat sie nicht nötig, damit ihre eigene Schöpfung nicht sofort wieder auseinanderfällt, sie zwischen zwei Todhasse zu pflanzen? muß sie nicht die Verewigung der Kleinstaaterei Europas wollen? .... Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als »moderne Menschen«, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des »historischen Sinns« zwiefach falsch und unanständig anmutet. Wir sind, mit einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europas, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christentum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christentums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben. Wir – tun desgleichen. Wofür doch? Für unsern Unglauben? Für jede Art Unglauben? Nein, das wißt ihr besser, meine Freunde! Das verborgne Ja in euch ist stärker als alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn ihr aufs Meer müßt, ihr Auswanderer, zwingt dazu auch euch – ein Glaube!
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 294-297

»Und werden wieder hell.« – Wir Freigebigen und Reichen des Geistes, die wir gleich offnen Brunnen an der Straße stehn und es niemandem wehren mögen, daß er aus uns schöpft: wir wissen uns leider nicht zu wehren, wo wir es möchten, wir können durch nichts verhindern, daß man uns trübt, finster macht – daß die Zeit, in der wir leben, ihr »Zeitlichstes«, daß deren schmutzige Vögel ihren Unrat, die Knaben ihren Krimskrams und erschöpfte, an uns ausruhende Wandrer ihr kleines und großes Elend in uns werfen. Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht haben: wir nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsre Tiefe – denn wir sind tief, wir vergessen nicht – und werden wieder hell.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 297

Zwischenrede des Narren. – Das ist kein Misanthrop, der dies Buch geschrieben hat: der Menschenhaß bezahlt sich heute zu teuer. Um zu hassen, wie man ehemals den Menschen gehaßt hat, timonisch, im ganzen, ohne Abzug, aus vollem Herzen, aus der ganzen Liebe des Hasses – dazu müßte man aufs Verachten Verzicht leisten – und wieviel feine Freude, wieviel Geduld, wieviel Gütigkeit selbst verdanken wir gerade unsrem Verachten! Zudem sind wir damit die »Auserwählten Gottes«: das feine Verachten ist unser Geschmack und Vorrecht, unsre Kunst, unsre Tugend vielleicht, wir Modernsten unter den Modernen! .... Der Haß dagegen stellt gleich, stellt gegenüber, im Haß ist Ehre, endlich: im Haß ist Furcht, ein großer, guter Teil Furcht. Wir Furchtlosen aber, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters, wir kennen unsern Vorteil gut genug, um gerade als die Geistigeren in Hinsicht auf diese Zeit ohne Furcht zu leben. Man wird uns schwerlich köpfen, einsperren, verbannen; man wird nicht einmal unsre Bücher verbieten und verbrennen. Das Zeitalter liebt den Geist, es liebt uns und hat uns nötig, selbst wenn wir es ihm zu verstehn geben müßten, daß wir in der Verachtung Künstler sind; daß uns jeder Umgang mit Menschen einen leichten Schauder macht; daß wir mit aller unsrer Milde, Geduld, Menschenfreundlichkeit, Höflichkeit unsre Nase nicht überreden können, von ihrem Vorurteile abzustehn, welches sie gegen die Nähe eines Menschen hat; daß wir die Natur lieben, je weniger menschlich es in ihr zugeht, und die Kunst, wenn sie die Flucht des Künstlers vor dem Menschen oder der Spott des Künstlers über den Menschen oder der Spott des Künstlers über sich selber ist.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 297-298

»Der Wanderer« redet. – Um unsrer europäischen Moralität einmal aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden, Moralitäten zu messen, dazu muß man es machen, wie es ein Wanderer macht, der wissen will, wie hoch die Türme einer Stadt sind: dazu verläßt er die Stadt. »Gedanken über moralische Vorurteile«, falls sie nicht Vorurteile über Vorurteile sein sollen, setzen eine Stellung außerhalb der Moral voraus, irgendein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen, klettern, fliegen muß – und, im gegebnen Falle, jedenfalls ein Jenseits von unsrem Gut und Böse, eine Freiheit von allem »Europa«, letzteres als eine Summe von kommandierenden Werturteilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind. Daß man gerade dorthinaus, dorthinauf will, ist vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches, unvernünftiges »du mußt« – denn auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien des »unfreien Willens« –: die Frage ist, ob man wirklich dorthinauf kann. Dies mag an vielfachen Bedingungen hängen; in der Hauptsache ist es die Frage danach, wie leicht oder wie schwer wir sind, das Problem unsrer »spezifischen Schwere«. Man muß sehr leicht sein, um seinen Willen zur Erkenntnis bis in eine solche Ferne und gleichsam über seine Zeit hinaus zu treiben, um sich zum Überblick über Jahrtausende Augen zu schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen! Man muß sich von vielem losgebunden haben, was gerade uns Europäer von heute drückt, hemmt, niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen Jenseits, der die obersten Wertmaße seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst nötig, diese Zeit in sich selbst zu »überwinden« – es ist die Probe seiner Kraft – und folglich nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen Widerwillen und Widerspruch gegen diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit, seine Zeit-Ungemäßheit, seine Romantik.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 298-299

Zur Frage der Verständlichkeit. – Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiß auch nicht verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers – er wollte nicht von »irgend jemand« verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mitteilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen »die anderen« seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten »den Eingang«, das Verständnis, wie gesagt – während sie denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. Und daß ich es unter uns sage und in meinem Falle – ich will mich weder durch meine Unwissenheit, noch durch die Munterkeit meines Temperaments verhindern lassen, euch verständlich zu sein, meine Freunde: durch die Munterkeit nicht, wie sehr sie auch mich zwingt, einer Sache geschwind beizukommen, um ihr überhaupt beizukommen. Denn ich halte es mit tiefen Problemen wie mit einem kalten Bade – schnell hinein, schnell hinaus. Daß man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug hinunter komme, ist der Aberglaube der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne Erfahrung. Oh! Die große Kälte macht geschwind! – Und nebenbei gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden und unerkannt, daß sie nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt wird? Muß man durchaus erst auf ihr festsitzen? auf ihr wie auf einem Ei gebrütet haben? Diu noctuque incubando, wie Newton von sich selbst sagte? Zum mindesten gibt es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren man nicht anders habhaft wird als plötzlich – die man überraschen oder lassen muß .... Endlich hat meine Kürze noch einen andren Wert: innerhalb solcher Fragen, wie sie mich beschäftigen, muß ich vieles kurz sagen, damit es noch kürzer gehört wird. Man hat nämlich als Immoralist zu verhüten, daß man die Unschuld verdirbt, ich meine die Esel und die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, die nichts vom Leben haben als ihre Unschuld; mehr noch, meine Schriften sollen sie begeistern, erheben, zur Tugend ermutigen. Ich wüßte nichts auf Erden, was lustiger wäre als begeisterte alte Esel zu sehn und Jungfern, welche durch die süßen Gefühle der Tugend erregt werden: und »das habe ich gesehn« – also sprach Zarathustra. So viel in Absicht der Kürze; schlimmer steht es mit meiner Unwissenheit, deren ich selbst vor mir selber kein Hehl habe. Es gibt Stunden, wo ich mich ihrer schäme; freilich ebenfalls Stunden, wo ich mich dieser Scham schäme. Vielleicht sind wir Philosophen allesamt heute zum Wissen schlimm gestellt: die Wissenschaft wächst, die Gelehrtesten von uns sind nahe daran zu entdecken, daß sie zu wenig wissen. Aber schlimmer wäre es immer noch, wenn es anders stünde – wenn wir zu viel wüßten; unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst, uns nicht selber zu verwechseln. Wir sind etwas anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist, daß wir auch, unter anderem, gelehrt sind. Wir haben andre Bedürfnisse, ein anderes Wachstum, eine andre Verdauung: wir brauchen mehr, wir brauchen auch weniger. Wieviel ein Geist zu seiner Ernährung nötig hat, dafür gibt es keine Formel; ist aber sein Geschmack auf Unabhängigkeit gerichtet, auf schnelles Kommen und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die Geschwindesten gewachsen sind, so lebt er lieber frei mit schmaler Kost als unfrei und gestopft. Nicht Fett, sondern die größte Geschmeidigkeit und Kraft ist das, was ein guter Tänzer von seiner Nahrung will – und ich wüßte nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine einzige Frömmigkeit, sein »Gottesdienst«.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 299-301

Die große Gesundheit. – Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft – wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer stärkeren, gewitzteren, zäheren, verwegneren, lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele danach dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten erlebt und alle Küsten dieses idealischen »Mittelmeers« umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrung wissen will, wie es einem Eroberer und Entdecker des Ideals zumute ist, insgleichen einem Künstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen, einem Gelehrten, einem Frommen, einem Wahrsager, einem Göttlich-Abseitigen alten Stils: der hat dazu zuallererst eins nötig, die große Gesundheit – eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muß, weil man sie immer wieder preisgibt, preisgeben muß! .... Und nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, mutiger vielleicht als klug ist, und oft genug schiffbrüchig und zu Schaden gekommen, aber wie gesagt gesünder, als man es uns erlauben möchte, gefährlich-gesund, immer wieder gesund – will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch niemand abgesehn hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem, daß unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst außer sich geraten sind – ach, daß wir nunmehr durch nichts mehr zu ersättigen sind! Wie könnten wir uns, nach solchen Ausblicken und mit einem solchen Heißhunger in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen Menschen genügen lassen? Schlimm genug: aber es ist unvermeidlich, daß wir seinen würdigsten Zielen und Hoffnungen nur mit einem übel aufrecht erhaltenen Ernste zusehn und vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir niemanden überreden möchten, weil wir niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heißt ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hieß; für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Wertmaß hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-über menschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste, unfreiwillige Parodie hinstellt – und mit dem, trotzalledem, vielleicht der große Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 301-303

Epilog. – Aber indem ich zum Schluß dieses düstere Fragezeichen langsam, langsam hinmale und eben noch willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten Lesers – oh was für vergessene und unbekannte Tugenden! – ins Gedächtnis zu rufen, begegnet mir's, daß um mich das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen laut wird: die Geister meines Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung. »Wir halten es nicht mehr aus« – rufen sie mir zu –; »fort, fort mit dieser rabenschwarzen Musik. Ist es nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner weicher Grund und Rasen, das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde, um fröhlich zu sein? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so flügge, daß es die Grillen nicht verscheucht – daß es die Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen? Und lieber noch einen einfältigen bäurischen Dudelsack als solche geheimnisvolle Laute, solche Unkenrufe, Grabesstimmen und Murmeltierpfiffe, mit denen sie uns in ihrer Wildnis bisher regaliert haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant! Nein! Nicht solche Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!« – Gefällt es euch so, meine ungeduldigen Freunde? Wohlan! Wer wäre euch nicht gern zu Willen? Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch – sie mag ein wenig rauh klingen, nehmt fürlieb! dafür sind wir im Gebirge. Aber was ihr zu hören bekommt, ist wenigstens neu; und wenn ihrs nicht versteht, wenn ihr den Sänger mißversteht, was liegt daran! Das ist nun einmal »des Sängers Fluch«. Um so deutlicher könnt ihr seine Musik und Weise hören, um so besser auch nach seiner Pfeife – tanzen. Wollt ihr das?“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 303-304

An Goethe
Das Unvergängliche // Ist nur dein Gleichnis! // Gott, der Verfängliche, // Ist Dichter-Erschleichnis ... // Welt-Rad, das rollende, // Streift Ziel auf Ziel: // Not – nennts der Grollende, // Der Narr nennts – Spiel ... // Welt-Spiel, das herrische // Mischt Sein und Schein: – // Das Ewig-Närrische // Mischt uns – hinein!“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 305

Dichters Berufung
Als ich jüngst, mich zu erquicken, // Unter dunklen Bäumen saß, // Hört ich ticken, leise ticken, // Zierlich, wie nach Takt und Maß. // Böse wurd ich, zog Gesichter, – // Endlich aber gab ich nach, // Bis ich gar, gleich einem Dichter, // Selber mit im Ticktack sprach.
Wie mir so im Verse-Machen // Silb um Silb ihr Hopsa sprang, // Mußt ich plötzlich lachen, lachen // Eine Viertelstunde lang. // Du ein Dichter? Du ein Dichter? // Stehts mit deinem Kopf so schlecht? // – »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.
Wessen harr ich hier im Busche? // Wem doch laur ich Räuber auf? // Ists ein Spruch? Ein Bild? Im Husche // Sitzt mein Reim ihm hintendrauf. // Was nur schlüpft und hüpft, gleich sticht der // Dichter sichs zum Vers zurecht. // – »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.
Reime, mein ich, sind wie Pfeile? // Wie das zappelt, zittert, springt, // Wenn der Pfeil in edle Teile // Des Lazerten-Leibchens dringt! // Ach, ihr sterbt dran, arme Wichter, // Oder taumelt wie bezecht! // – »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.
Schiefe Sprüchlein voller Eile, // Trunkne Wörtlein, wie sichs drängt! // Bis ihr alle, Zeil an Zeile, // An der Ticktack-Kette hängt. // Und es gibt grausam Gelichter, // Das dies – freut? Sind Dichter – schlecht? // – »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.
Höhnst du, Vogel? Willst du scherzen? // Stehts mit meinem Kopf schon schlimm, // Schlimmer stünds mit meinem Herzen? // Fürchte, fürchte meinen Grimm! – // ] Doch der Dichter – Reime flicht er // Selbst im Grimm noch schlecht und recht. // – »Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter« // Achselzuckt der Vogel Specht.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 305-307

Sils Maria
Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf nichts, // Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts // Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, // Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. // Da, plötzlich, Freundin! wurde eins zu zwei – // – Und Zarathustra ging an mir vorbei.“
Ders., Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 315-316

„I c h   l e h r e   e u c h   d e n   Ü b e r m e n s c h e n .    Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham: Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden? Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 8

„Seht! Ich zeige euch den  l e t z t e n   M e n s c h e n . Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13

„Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben; denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine und Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13-14

„Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren ?  Wer noch gehorchen?  Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche. Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. »Ehemals war alle Welt irre« – sagen die Feinsten und blinzeln. Man ist klug und weiß Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch; aber man versöhnt sich bald - sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 14

„»Nicht doch«, sprach Zarathustra, »du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 16

„Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke. Was ist schwer?  so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will gut beladen sein. .... Neue Werthe schaffen - das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen - das vermag die Macht des Löwen. Freiheit sich schaffen zu neuen Werthen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen. .... Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: s e i n e n   Willen will nun der Geist,  s e i n e   Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 25-27

„Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und darum sollst du deine Tugenden lieben – denn du wirst an ihnen zugrunde gehn.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 40

„Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 44

„Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 44

„Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seid ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif für die Predigt des Todes? Ihr alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde – ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiß ist Fluch und Wille, sich selber zu vergessen. Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet ihr weniger euch dem Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch – und selbst zur Faulheit nicht!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 52-53

„Überall ertönt die Stimme derer, welche den Tod predigen: und die Erde ist voll von Solchen, welchen der Tod gepredigt werden muss. Oder »das ewige Leben«: das gilt mir gleich, – wofern sie nur schnell dahinfahren!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 53

„Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 54

„Euch rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Man kann nur schweigen und stillsitzen, wenn man Pfeil und Bogen hat: sonst schwätzt und zankt man. Euer Friede sei ein Sieg!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Der Krieg und der Muth haben mehr große Dinge gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Euren höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen – und er lautet: der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

„So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges! Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

„Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine Brüder im Kriege!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

Vom neuen Götzen. – Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat, bin das Volk.« Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben. Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele und heissen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin. Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und hasst ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten. Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten. Aber der Staat lügt in allen Zungen der Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt – und was er auch hat, gestohlen hat er's. Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide. Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahrlich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes! Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut! »Auf der Erde ist nichts Grösseres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes« – also brüllt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken auf die Kniee! Ach, auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren Lügen! Ach, er erräth die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden! Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten Gottes! Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen! Helden und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen – das kalte Unthier! Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze: also kauft er sich den Glanz eurer Tugenden und den Blick eurer stolzen Augen. Ködern will er mit euch die Viel-zu Vielen! Ja, ein Höllenkunststück ward da erfunden, ein Pferd des Todes, klirrend im Putz göttlicher Ehren! Ja, ein Sterben für Viele ward da erfunden, das sich selber als Leben preist: wahrlich, ein Herzensdienst allen Predigern des Todes! Staat nenne ich's, wo alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord aller – »das Leben« heisst. Seht mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen sich die Werke der Erfinder und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl – und alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach! Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen einander und können sich nicht einmal verdauen. Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichtümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld – diese Unvermögenden! Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern übereinander hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe. Hin zum Throne wollen sie alle: ihr Wahnsinn ist es – als ob das Glück auf dem Throne sässe! Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron - und oft auch der Thron auf dem Schlamme. Wahnsinnige sind sie mir alle und kletternde Affen und Überheisse. Übel riecht mir ihr Götze, das kalte Unthier: übel riechen sie mir alle zusammen, diese Götzendiener. Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler und Begierden? Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt ins Freie! Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von der Götzendienerei der Überflüssigen! Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer! Frei steht großen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht. Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armut! Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort, wo der Staat  a u f h ö r t  – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 57-60

„Wahrlich, das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nutzen Vieler will: das ist nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Untergang.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 72

„Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel. Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch – sie selber noch?“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 72

„Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber. Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer »Selbstloses«.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73

„Das Du ist älter als das Ich; das Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das Ich: so drängt sich der Mensch hin zum Nächsten.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73

„Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 75

„Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein Weg vorbei, und an deinen sieben Teufeln!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 78

„Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andere ist Thorheit.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 81

„Du gehst zu Frauen?  Vergiss die Peitsche nicht!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 82

„Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei werfe ich diese Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie sei. Du bist jung und wünschest dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch, der ein Kind sich wünschen  d a r f ?  Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? Also frage ich dich. Oder redet aus deinem Wunsche das Thier und die Nothdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir? Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und deiner Befreiung. Über dich sollst du hinausbauen. Aber erst mußt du mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele. Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe. Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, - einen Schaffenden sollst du schaffen. Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 86

„Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: »stirb zur rechten Zeit!« Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es Zarathustra. Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! – Also rathe ich den Überflüssigen. Aber auch die Überflüssigen tun noch wichtig mit ihrem Sterben, und auch die hohlste Nuß will noch geknackt sein. Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbnis wird. Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden. Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte! Also zu sterben ist das Beste; das zweite aber ist: im Kampfe zu sterben und eine große Seele zu verschwenden. Aber dem Kämpfenden gleich verhasst wie dem Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb – und doch als Herr kommt. Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil  i c h  will. Und wann werde ich wollen? – Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 89-90

„Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht  E n t a r t u n g ?  –  Und auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende Seele fehlt. Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: »Alles für mich.«“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 94

„Arzt, hilf dir selber: so hilfst du auch deinem Kranken noch. Das sei seine beste Hilfe, dass er den mit Augen sehe, der sich selber heil macht.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 96

„Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen – und aus ihm der Übermensch.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 96-97

„Der Mensch der Erkenntnis muss nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde hassen können. Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen? Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage! Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra? Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen! Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben. Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder einer Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, daß ich den großen Mittag mit euch feiere. Und das ist der große Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen. Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, daß er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntnis wird ihm im Mittage stehn.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 97-98

„ » T o d t   s i n d   a l l e   G ö t t e r :   n u n   w o l l e n   w i r ,   d a s s   d e r   Ü b e r m e n s c h   l e b e . «   –   diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 98

„Könntet ihr einen Gott  s c h a f f e n ?  –  So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess sei euer bestes Schaffen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 105

„Ach, wo in der Welt geschahen grössere Thorheiten, als bei den Mitleidigen? Und was in der Welt stiftete mehr Leid als die Thorheiten der Mitleidigen? Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist! Also sprach der Teufel einst zu mir: »auch Gott hat seine Hölle: das ist seine Liebe zu den Menschen.« Und jüngst hörte ich ihn dies Wort sagen: »Gott ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.« “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 111

„Und noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder, erlöst werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten Menschen: - Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten fand ich - allzumenschlich!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 115

Von den Taranteln. – Siehe, das ist der Tarantel Höhle! Willst du sie selber sehn? Hier hängt ihr Netz: rühre daran, dass es erzittert. Da kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend! Also rede ich zu euch im Gleichnis, die ihr die Seelen drehend macht, ihr Prediger der  G l e i c h h e i t !  Taranteln seid ihr mir und versteckte Rachsüchtige! Aber ich will eure Verstecke schon ans Licht bringen: darum lache ich euch ins Antlitz mein Gelächter der Höhe. Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wut euch aus eurer Lügen-Höhle locke, und eure Rache hervorspringe hinter eurem Wort »Gerechtigkeit«. Denn  d a s s   d e r   M e n s c h   e r l ö s t   w e r d e   v o n   d e r   R a c h e :  das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern. Aber anders wollen es freilich die Taranteln. »Das gerade heisse uns Gerechtigkeit, dass die Welt voll werde von den Unwettern unsrer Rache« – also reden sie mit einander. »Rache wollen wir üben und Beschimpfung an Allen, die uns nicht gleich sind« – so geloben sich die Tarantel-Herzen. »Und ›Wille zur Gleichheit‹ – das selber soll fürderhin der Name für Tugend werden; und gegen Alles, was Macht hat, wollen wir unser Geschrei erheben!« Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht schreit also aus euch nach »Gleichheit«: eure heimlichsten Tyrannen-Gelüste vermummen sich also in Tugend-Worte! Vergrämter Dünkel, verhaltener Neid, vielleicht eurer Väter Dünkel und Neid: aus euch bricht's als Flamme heraus und Wahnsinn der Rache. Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum Reden; und oft fand ich den Sohn als des Vaters entblösstes Geheimnis. Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das Herz ist es, was sie begeistert – sondern die Rache. Und wenn sie fein und kalt werden, ist's nicht der Geist, sondern der Neid, der sie fein und kalt macht. Ihre Eifersucht führt sie auch auf der Denker Pfade; und diess ist das Merkmal ihrer Eifersucht – immer gehn sie zu weit: dass ihre Müdigkeit sich zuletzt noch auf Schnee schlafen legen muss. Aus jeder ihrer Klagen tönt Rache, in jedem ihrer Lobsprüche ist ein Wehetun; und Richter-sein scheint ihnen Seligkeit. Also aber rate ich euch, meine Freunde: misstraut Allen, in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig ist! Das ist Volk schlechter Art und Abkunft; aus ihren Gesichtern blickt der Henker und der Spürhund. Misstraut Allen denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden! Wahrlich, ihren Seelen fehlt es nicht nur an Honig. Und wenn sie sich selber »die Guten und Gerechten« nennen, so vergeßt nicht, dass ihnen zum Pharisäer nichts fehlt als – Macht! Meine Freunde, ich will nicht vermischt und verwechselt werden. Es giebt Solche, die predigen meine Lehre vom Leben: und zugleich sind sie Prediger der Gleichheit und Taranteln. Dass sie dem Leben zu Willen reden, ob sie gleich in ihrer Höhle sitzen, diese Gift-Spinnen, und abgekehrt vom Leben: das macht, sie wollen damit wehetun. Solchen wollen sie damit wehetun, die jetzt die Macht haben: denn bei diesen ist noch die Predigt vom Tode am besten zu Hause. Wäre es anders, so würden die Taranteln anders lehren: und gerade sie waren ehemals die besten Welt-Verleumder und Ketzer-Brenner. Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt sein. Denn so redet mir die Gerechtigkeit: »die Menschen sind nicht gleich«. Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche? Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen sie gesetzt sein: so lässt mich meine große Liebe reden! Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren Feindschaften, und mit ihren Bildern und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den höchsten Kampf kämpfen! Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und Alle Namen der Werthe: Waffen sollen es sein und klirrende Merkmale davon, dass das Leben sich immer wieder selber überwinden muss! In die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selber: in weite Fernen will es blicken und hinaus nach seligen Schönheiten –  d a r u m  braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden. Und seht mir doch, meine Freunde! Hier, wo der Tarantel Höhle ist, heben sich eines alten Tempels Trümmer aufwärts – seht mir doch mit erleuchteten Augen hin! Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte, um das Geheimnis Alles Lebens wusste er gleich dem Weisesten! Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schönheit sei, und Krieg um Macht und Übermacht: das lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichnis. Wie sich göttlich hier Gewölbe und Bogen brechen, im Ringkampfe: wie mit Licht und Schatten sie wider einander streben, die göttlich-Strebenden – Also sicher und schön lasst uns auch Feinde sein, meine Freunde! Göttlich wollen wir  w i d e r  einander streben! – Wehe! Da biss mich selber die Tarantel, meine alte Feindin! Göttlich sicher und schön biss sie mich in den Finger! »Strafe muss sein und Gerechtigkeit« – so denkt sie: »nicht umsonst soll er hier der Feindschaft zu Ehren Lieder singen!« Ja, sie hat sich gerächt! Und wehe! nun wird sie mit Rache auch noch meine Seele drehend machen! Dass ich mich aber nicht drehe, meine Freunde, bindet mich fest hier an diese Säule! Lieber noch Säulen-Heiliger will ich sein, als Wirbel der Rachsucht! Wahrlich, kein Dreh- und Wirbelwind ist Zarathustra; und wenn er ein Tänzer ist, nimmermehr doch ein Tarantel-Tänzer!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 124-127

„Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entraten. Und wie das Kleinere sich dem Größeren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran. Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr, und um den Tod ein Würfelspielen.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 143-144

„Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille, Herr zu sein. Auf Schleichwegen schleicht sich da der Schwächere in die Burg und bis ins Herz dem Mächtigeren – und stiehlt da Macht. Und diess Geheimnis redete das Leben selber zu mir: »Siehe«, sprach es, »ich bin das,  w a s   s i c h   i m m e r   s e l b e r   ü b e r w i n d e n   m u s s .  Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess ist Eins und Ein Geheimnis. Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen absagte; und wahrlich, wo es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht! Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl auch, auf welchen  k r u m m e n  Wegen er gehen muss! Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, – bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 144

„Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußtapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füßen deines Willens zur Wahrheit! Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom »Willen zum Dasein«: diesen Willen – giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 144-145

„Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich's dich – Wille zur Macht!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 145

„Also lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch das Räthsel eures Herzens. Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das gibt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder überwinden.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 145

„»Und das heisse mir aller Dinge  u n b e f l e c k t e  Erkenntnis, dass ich von den Dingen Nichts will: ausser dass ich vor ihnen da liegen darf wie ein Spiegel mit hundert Augen.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 153

„Wo ist Unschuld?  Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. Wo ist die Schönheit ?  Wo ich mit allem Willen wollen muss; wo ich lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe. Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 153

„Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. Und diess heisst  m i r  Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf – zu meiner Höhe!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 155

„Denn die Menschen sind  n i c h t  gleich: so spricht die Gerechtigkeit.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 158

„»Seit ich den Leib besser kenne«, – sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger – »ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das ›Unvergängliche‹ – das ist auch nur ein Gleichnis.«“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 159

„Die Erde ... hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heisst zum Beispiel: »Mensch«.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 164

„Lasst euch nur umstürzen! Dass ihr wieder zum Leben kommt, und zu euch – die Tugend!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 165

„Also redete ich vor dem Feuerhunde: da unterbrach er mich mürrisch und fragte: »Kirche? Was ist denn das?« »Kirche?« antwortete ich, »das ist eine Art von Staat, und zwar die verlogenste. Doch schweig still, du Heuchelhund! Du kennst deine Art wohl am besten schon! Gleich dir selber ist der Staat ein Heuchelhund; gleich dir redet er gern mit Rauch und Gebrülle – dass er glauben mache, gleich dir, er rede aus dem Bauch der Dinge. Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt's ihm auch.« – Als ich das gesagt hatte, gebärdete sich der Feuerhund wie unsinnig vor Neid. »Wie?« schrie er, »das wichtigste Thier auf Erden? Und man glaubt's ihm auch?« Und so viel Dampf und grässliche Stimmen kamen ihm aus dem Schlunde, dass ich meinte, er werde vor Ärger und Neid ersticken.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 165-166

„Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete! das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr würdet meinen Übermenschen – Teufel heissen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 181-182

„Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was liegt an ihrem Spotte! Du bist Einer, der das Gehorchen verlernt hat: nun sollst du befehlen! Weisst du nicht, wer allen am nöthigsten tut? Der Grosses befiehlt. Grosses vollführen ist schwer: aber das Schwerere ist, Grosses befehlen.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 185

„Gelobt sei, was hart macht! Ich lobe das Land nicht, wo Butter und Honig – fliesst!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 190

„Mitleiden ... ist der tiefste Abgrund: so tief der Mensch in das Leben sieht, so tief sieht er auch in das Leiden.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 195

„»Alles Gerade lügt«, murmelte verächtlich der Zwerg. »Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.«“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 196

„Muss nicht, was laufen  k a n n  von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehn  k a n n  von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muß auch dieser Torweg nicht schon – dagewesen sein?“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 196

„Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: »über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.« …. Diesen Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: »bei Allem ist Eins unmöglich - Vernünftigkeit!« Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, - dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein wenig Weisheit ist schon möglich, aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls - tanzen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 205

„Ich gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind  k l e i n e r  geworden und werden immer kleiner –  d a s   a b e r   m a c h t   i h r e   L e h r e   v o n   G l ü c k   u n d   T u g e n d . “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209

„Fuss und Augen sollen nicht lügen, noch sich einander Lügen strafen. Aber es ist viel Lügnerei bei den kleinen Leuten. Einige von ihnen wollen, aber die Meisten werden nur gewollt. Einige von ihnen sind ächt, aber die Meisten sind schlechte Schauspieler. Es gibt Schauspieler wider Wissen unter ihnen und Schauspieler wider Willen –, die Ächten sind immer selten, sonderlich die ächten Schauspieler.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209-

„Des Mannes ist hier wenig: darum vermännlichen sich ihre Weiber. Denn nur wer Mannes genug ist, wird im Weibe  d a s   W e i b   –   e r l ö s e n . “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209-210

„Und diese Heuchelei fand ich unter ihnen am schlimmsten: dass auch Die, welche befehlen, die Tugenden Derer heucheln, welche dienen.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Soviel Güte, soviel Schwäche sehe ich. Soviel Gerechtigkeit und Mitleiden, soviel Schwäche.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausttiere.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Ach, dass ihr mein Wort verstündet: »thut immerhin, was ihr wollt – aber seid erst solche, die  w o l l e n   k ö n n e n ! «  »Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch, – aber seid mir erst Solche, die  s i c h   s e l b e r  l i e b e n  – mit der grossen Liebe lieben, mit der grossen Verachtung lieben!« Also spricht Zarathustra, der Gottlose. – Doch was rede ich, wo niemand  m e i n e  Ohren hat! Es ist hier noch eine Stunde zu früh für mich. Mein eigner Vorläufer bin ich unter diesem Volke, mein eigner Hahnen-Ruf durch dunkle Gassen. Aber  i h r e  Stunde kommt! Und es kommt auch die meine! Stündlich werden sie kleiner, ärmer, unfruchtbarer – armes Kraut! armes Erdreich! Und  b a l d  sollen sie mir dastehn wie dürres Gras und Steppe, und wahrlich! ihrer selber müde – und mehr, als nach Wasser, nach  F e u e r  lechzend! Oh gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimnis vor Mittag! – Laufende Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkünder mit Flammen-Zungen: – verkünden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt, er ist nahe,  d e r   g r o s s e   M i t t a g ! “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 212-213

„Der Rest: das sind immer die Allermeisten, der Alltag, der Überfluß, die Viel-zu-Vielen – diese alle sind feige!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 223

„Wer Alles bei den Menschen begreifen wollte, der müsste Alles angreifen.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 229

„Sonderlich Die, welche sich »die Guten« heissen, fand ich als die giftigsten Fliegen: sie stechen in aller Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie  v e r m ö c h t e n  sie gegen mich – gerecht zu sein! Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lügen. Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten nämlich ist unergründlich. Mich selber verbergen und meinen Reichtum – das lernte ich da unten: denn jeden fand ich noch arm am Geiste. Das war der Lug meines Mitleidens, dass ich bei Jedem wusste, – daß ich Jedem es ansah und anroch, was ihm Geistes  g e n u g  und was ihm schon Geistes  z u v i e l  war!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 230

„Wer da segnen lehrte, der lehrte auch fluchen: welches sind in der Welt die drei bestverfluchten Dinge? Diese will ich auf die Wage tun.  W o l l u s t ,   H e r r s c h s u c h t ,   S e l b s t s u c h t :  diese drei wurden bisher am besten verflucht und am schlimmsten beleu- und belügenmundet – diese drei will ich menschlich gut abwägen.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 232

„Widriger aber sind mir noch alle Speichellecker; und das widrigste Thier von Mensch, das ich fand, das taufte ich Schmarotzer: das wollte nicht lieben und doch von Liebe leben.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 240

„Das Vergangne am Menschen zu erlösen und alles »Es war« umzuschaffen, bis der Wille spricht: »Aber so wollte ich es! So werde ich's wollen –« – Dies hiess ich ihnen Erlösung, Dies allein lehrte ich sie Erlösung heissen. – Nun warte ich  m e i n e r  Erlösung –, dass ich zum letzten Male zu ihnen gehe. Denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen:  u n t e r  ihnen will ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben! Der Sonne lernte ich das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da ins Meer aus unerschöpflichem Reichthume, – also, dass der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dies nämlich sah ich einst und wurde der Thränen nicht satt im Zuschauen – Der Sonne gleich will auch Zarathustra untergehn: nun sitzt er hier und wartet, alte zerbrochene Tafeln um sich und auch neue Tafeln – halbbeschriebene. “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 245

„Siehe, hier ist eine neue Tafel: aber wo sind meine Brüder, die sie mit mir zu Thale und in fleischerne Herzen tragen? – Also heischt es meine große Liebe zu den Fernsten:  s c h o n e   d e i n e n   N ä c h s t e n   n i c h t !  Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss. Es gibt vielerlei Weg und Weise der Überwindung: da siehe  d u  zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: »der Mensch kann auch  ü b e r s p r u n g e n  werden.« Überwinde dich selber noch in deinem Nächsten: und ein Recht, das du dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen! Was du thust, das kann dir keiner wieder thun. Siehe, es giebt keine Vergeltung. Wer sich nicht befehlen kann, der soll gehorchen. Und Mancher  k a n n  sich befehlen, aber da fehlt noch viel, dass er sich auch gehorche!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 245-246

„Also will es die Art edler Seelen: sie wollen Nichts  u m s o n s t  haben, am wenigsten das Leben. Wer vom Pöbel ist, der will umsonst leben; wir Anderen aber, denen das Leben sich gab – wir sinnen immer darüber,  w a s  wir am besten  d a g e g e n  geben! Und wahrlich, dies ist eine vornehme Rede, welche spricht: »Was  u n s  das Leben verspricht, das wollen  w i r  – dem Leben halten!« Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht zu geniessen giebt. Und – man soll nicht geniessen  w o l l e n !  Genuss und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten Dinge: Beide wollen nicht gesucht sein. Man soll sie  h a b e n  –, aber man soll eher noch nach Schuld und Schmerzen  s u c h e n ! “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 246

„Gute Menschen reden nie die Wahrheit ....“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 247

„ N e b e n  dem bösen Gewissen wuchs bisher alles  W i s s e n !  Zerbrecht, zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 247

„Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 249

„Denn es könnte einmal kommen, dass der Pöbel Herr würde, und in seichten Gewässern alle Zeit ertränke. Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines  n e u e n   A d e l s ,  der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt »edel«. Vieler Edlen nämlich bedarf es und vielerlei Edlen,  d a s s   e s   A d e l   g e b e !  Oder, wie ich einst im Gleichnis sprach: »Das eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott giebt!«“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 250

„Wo der schlimmste aller Bäume wuchs, das Kreuz, – an dem Lande ist Nichts zu loben!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 251

„Oh meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern  h i n a u s !  Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterländern! Eurer  K i n d e r   L a n d  sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel suchen und suchen! An euren Kindern sollt ihr  g u t   m a c h e n ,  dass ihr eurer Väter Kinder seid: Alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 251

„Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln der Nimmer-Frohen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 252

„Der Beste ist noch Etwas, das überwunden werden muss!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 253

„Zerbrecht, zerbrecht mir, oh meine Brüder, diese alten Tafeln der Frommen! Zersprecht mir die Sprüche der Welt-Verleumder!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 253

„Und so ist es immer schwacher Menschen Art: sie verlieren sich auf ihren Wegen. Und zuletzt fragt noch ihre Müdigkeit: »wozu gingen wir jemals Wege! Es ist alles gleich!«  D e n e n  klingt es lieblich zu Ohren, dass gepredigt wird: »Es verlohnt sich nichts! Ihr sollt nicht wollen!« Dies aber ist eine Predigt zur Knechtschaft.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 254

„Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich. Und  n u r  zum Schaffen sollt ihr lernen! Und auch das Lernen sollt ihr erst von mir  l e r n e n , das Gut-Lernen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 254

„Ich schließe Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere Berge: ich baue ein Gebirge aus immer heiligeren Bergen. – Wohin ihr aber auch mit mir steigen mögt, oh meine Brüder: seht zu, daß nicht ein  S c h m a r o t z e r  mit euch steige! Schmarotzer: das ist ein Gewürm, ein kriechendes, geschmiegtes, das fett werden will an euren kranken wunden Winkeln. Und  d a s  ist seine Kunst, dass ersteigende Seelen errät, wo sie müde sind: in euren Gram und Unmut, in eure zarte Scham baut er sein ekles Nest. Wo der Starke schwach, der Edle allzumild ist – dahinein baut er sein ekles Nest: der Schmarotzer wohnt, wo der Große kleine wunde Winkel hat. Was ist die höchste Art alles Seienden und was die geringste? Der Schmarotzer ist die geringste Art; wer aber höchster Art ist, der ernährt die meisten Schmarotzer. Die Seele nämlich, welche die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann: wie sollten nicht an der die meisten Schmarotzer sitzen? – die umfänglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann; die nothwendigste, welche sich aus Lust in den Zufall stürzt: – die seiende Seele, welche ins Werden taucht; die habende, welche ins Wollen und Verlangen  w i l l :  – die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten zuredet: – die sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und Widerströmen und Ebbe und Flut haben: – o hwie sollte  d i e   h ö c h s t e   S e e l e  nicht die schlimmsten Schmarotzer haben?“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 256-257

„Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich  w i l l  es noch stoßen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 257-258

„Ihr sollt nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde zum Verachten: ihr müsst stolz auf euren Feind sein: also lehrte ich schon Ein Mal.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 258

„Der Mensch nämlich ist das beste Raubthier. Allen Thieren hat der Mensch schon ihre Tugenden abgeraubt: das macht, von allen Thieren hat es der Mensch am schwersten gehabt. Nur noch die Vögel sind über ihm. Und wenn der Mensch noch fliegen lernte, wehe!  w o h i n a u f  – würde seine Raublust fliegen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 259

„So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das andre, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen. Und verloren sei uns der Tag, wo nicht einmal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht ein Gelächter gab!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 260

„Nicht nur fort euch zu pflanzen, sondern  h i n a u f  – dazu, oh meine Brüder, helfe euch der Garten der Ehe!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 260

„Im Erdbeben alter Völker brechen neue Quellen aus.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch, so lehre ich's – ein langes Suchen: sie sucht aber den Befehlenden! – ein Versuch, oh meine Brüder! Und  k e i n  »Vertrag«! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb- und Halben!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Oh meine Brüder! Bei welchen liegt doch die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Und was für Schaden auch die Bösen thun mögen: der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden! Und was für Schaden auch die Welt-Verleumder thun mögen: der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden. Oh meine Brüder, den Guten und Gerechten sah einer einmal ins Herz, der da sprach: »es sind die Pharisäer«. Aber man verstand ihn nicht. Die Guten und Gerechten selber durften ihn nicht verstehen: ihr Geist ist eingefangen in ihr gutes Gewissen. Die Dummheit der Guten ist unergründlich klug. Das aber ist die Wahrheit: die Guten  m ü s s e n  Pharisäer sein – sie haben keine Wahl! Die Guten  m ü s s e n  den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet! Das  i s t  die Wahrheit! Der zweite aber, der ihr Land entdeckte, Land, Herz und Erdreich der Guten und Gerechten: das war, der da fragte: »wen hassen sie am meisten?« Den  S c h a f f e n d e n  hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und alte Werte, den Brecher – den heissden sie Verbrecher. Die Guten nämlich – die  k ö n n e n  nicht schaffen: die sind immer der Anfang vom Ende: – sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft – sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft! Die Guten – die waren immer der Anfang vom Ende.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 262

„Und was ich einst sagte vom »letzten Menschen«? – Bei welchen liegt die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten?  Z e r b r e c h t ,   z e r b r e c h t   m i r   d i e   G u t e n   u n d   G e r e c h t e n ! “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 263

„Ihr flieht von mir? Ihr seid erschreckt? Ihr zittert vor diesem Worte? Oh meine Brüder, als ich euch die Guten zerbrechen hiessund die Tafeln der Guten: da erst schiffte ich den Menschen ein auf seine hohe See. Und nun erst kommt ihm der große Schrecken, das grosse Umsich-sehn, die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die grosse See-Krankheit. Falsche Küsten und falsche Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten. Aber wer das Land »Mensch« entdeckte, entdeckte auch das Land »Menschen-Zukunft«. Nun sollt ihr mir Seefahrer sein, wackere, geduldsame! Aufrecht geht mir beizeiten, oh meine Brüder, lernt aufrecht gehn! Das Meer stürmt: Viele wollen an euch sich wieder aufrichten. Das Meer stürmt: alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf! Ihr alten Seemanns-Herzen! Was Vaterland!  D o r t h i n  will unser Steuer, wo unser  K i n d e r - L a n d  ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre grosse Sehnsucht!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 263-264

„»Warum so hart!« – sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle; »sind wir denn nicht Nah-Verwandte?« – Warum so weich? Oh meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr denn nicht – meine Brüder? Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr mit mir – siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, – härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste. Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch:  w e r d e t   h a r t ! “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 264

„Oh du mein Wille! Du Wende aller Not, du  m e i n e  Nothwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heisse! Du In-mir! Über-mir! Bewahre und spare mich auf zu einem großen Schicksale! Und deine letzte Grösse, mein Wille, spare dir für dein Letztes auf – daß du unerbittlich bist in deinem Siege! Ach, wer unterlag nicht seinem Siege! Ach, wessen Auge dunkelte nicht in dieser trunkenen Dämmerung! Ach, wessen Fuß taumelte nicht und verlernte im Siege – stehen! – Dass ich einst bereit und reif sei im großen Mittage: bereit und reif gleich glühendem Erze, blitzschwangrer Wolke und schwellendem Milch-Euter: – bereit zu mir selber und zu meinem verborgensten Willen: ein Bogen brünstig nach seinem Pfeile, ein Pfeil brünstig nach seinem Sterne: – ein Stern, bereit und reif in seinem Mittage, glühend, durchbohrt, selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: – eine Sonne selber und ein unerbittlicher Sonnen-Wille, zum Vernichten bereit im Siegen! Oh Wille, Wende aller Not, du  m e i n e  Nothwendigkeit! Spare mich auf zu einem grossen Siege!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 264-265

„Es ist eine schöne Narrethei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268

„Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne! Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten Regenbögen. “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268

„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268-269

„Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra und lächelte wieder, wie gut wißt ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste: ....“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 269

„ U n d   i h r   s c h a u t e t   d e m   A l l e n   z u ?  Oh meine Thiere, seid auch ihr grausam? Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun wollen, wie Menschen thun? Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 270

„Der Mensch ist gegen sich selber das grausamste Thier; und bei Allem, was sich »Sünder« und »Kreuzträger« und »Büsser« heisst, überhört mir die Wollust nicht, die in diesem Klagen und Anklagen ist!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 269

„Und ich selber – will ich damit des Menschen Ankläger sein? Ach, meine Thiere, Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen sein Bösestes nöthig ist zu seinem Besten, – dass alles Böseste seine beste Kraft ist und der härteste Stein dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser  u n d  böser werden muß: – Nicht an  d i e s  Marterholz war ich geheftet, dass ich weiß: der Mensch ist böse – sondern ich schrie, wie noch niemand geschrien hat: »Ach, dass sein Bösestes so gar klein ist! Ach, dass sein Bestes so gar klein ist!« Der grosse Überdruss am Menschen –  d e r  würgte mich und war mir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: »Alles ist gleich, es lohnt sich nichts, Wissen würgt.« Eine lange Dämmerung hinkte vor mir her, eine todesmüde, todestrunkene Traurigkeit, welche mit gähnendem Munde redete. »Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch« – so gähnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss und konnte nicht einschlafen. Zur Höhle wandelte sich mir die Menschen-Erde, ihre Brust sank hinein, alles Lebendige ward mir Menschen-Moder und Knochen und morsche Vergangenheit. Mein Seufzen sass auf allen Menschen-Gräbern und konnte nicht mehr aufstehn; mein Seufzen und Fragen unkte und würgte und nagte und klagte bei Tag und Nacht: – »ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig wieder!« Nackt hatte ich einst beide gesehn, den größten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander – allzumenschlich auch den Größten noch! Allzuklein der Größte! – das war mein Überdruss am Menschen! Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! – das war mein Überdruß an allem Dasein!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 270

„»Sprich nicht weiter«, antworteten ihm abermals seine Thiere; »lieber noch, du Genesender, mache dir erst eine Leier zurecht, eine neue Leier!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 271

„Denn deine Tiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden mußt: siehe,  d u   b i s t   d e r   L e h r e r   d e r   e w i g e n   W i e d e r k u n f t  –, das ist nun  d e i n  Schicksal!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 271

„Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns. Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens gibt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von neuem umdrehn, damit es von neuem ablaufe und auslaufe: – so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten, so dass wir selber in jedem großen Jahre uns selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 272

„Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft. Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange –  n i c h t  zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, – dass ich wieder das Wort spreche vom großen Erden- und Menschen-Mittage, dass ich wieder den Menschen den Übermenschen künde. Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Loos –, als Verkündiger gehe ich zu Grunde! Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also –  e n d e t  Zarathustra's Untergang.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 273

„Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring der Wiederkunft! Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!   D e n n   i c h   l i e b e   d i c h ,   o h   E w i g k e i t ! “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 283-287

„ D e r  nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: »Werde, der du bist!«“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 293

„Ich aber und mein Schicksal – wir reden nicht zum Heute, wir reden auch nicht zum Niemals: wir haben zum Reden schon Geduld und Zeit und Überzeit. Denn einst muss er doch kommen und darf nicht vorübergehn. Wer muss einst kommen und darf nicht vorübergehn? Unser grosser Hazar, das ist unser grosses fernes Menschen-Reich, das Zarathustra-Reich von tausend Jahren.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 294

„Einstmals – ich glaub’, im Jahr des Heiles Eins – // Sprach die Sibylle, trunken sonder Weins: // »Weh, nun geht's schief! // Verfall! Verfall! Nie sank die Welt so tief! // Rom sank zur Hure und zur Huren-Bude, // Rom’s Caesar sank zum Vieh, Gott selbst – ward Jude!«“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 303

„Verlange Viel – das rät mein Stolz! // Und rede kurz – das rät mein andrer Stolz!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 312

„Ich liebe die grossen Verachtenden. Der Mensch aber ist Etwas, das überwunden werden muss.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 328

„So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen. Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde nicht seine Trübsal los– seine große Trübsal: die aber heißt heute Ekel. Wer hat heute von Ekel nicht Herz, Mund und Augen voll? Auch du! Auch du! Aber siehe doch diese Kühe an!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 330

„Die Kühe aber schauten dem Allen zu und wunderten sich. »Sprich nicht von mir, du Wunderlicher! Lieblicher!« sagte Zarathustra und wehrte seiner Zärtlichkeit, »sprich mir erst von dir! Bist du nicht der freiwillige Bettler, der einst einen großen Reichtum von sich warf, – der sich seines Reichthums schämte und der Reichen, und zu den Ärmsten floh, dass er ihnen seine Fülle und sein Herz schenke? Aber sie nahmen ihn nicht an.« »Aber sie nahmen mich nicht an«, sagte der freiwillige Bettler, »du weisst es ja. So gieng ich endlich zu den Thieren und zu diesen Kühen.« »Da lerntest du«, unterbrach Zarathustra den Redenden, »wie es schwerer ist, recht geben als recht nehmen, und dass gut schenken eine  K u n s t  ist und die letzte listigste Meister-Kunst der Güte.« »Sonderlich heutzutage«, antwortete der freiwillige Bettler: »heute nämlich, wo alles Niedrige aufständisch ward und scheu und auf seine Art hoffärtig: nämlich auf Pöbel-Art. Denn es kam die Stunde, du weisst es ja, für den großen schlimmen langen langsamen Pöbel- und Sklaven-Aufstand: der wächst und wächst! Nun empört die Niedrigen alles Wohltun und kleine Weggeben; und die Überreichen mögen auf der Hut sein! Wer heute gleich bauchichten Flaschen tröpfelt aus allzuschmalen Hälsen – solchen Flaschen bricht man heute gern den Hals. Lüsterne Gier, gallichter Neid, vergrämte Rachsucht, Pöbel-Stolz: das sprang mir alles ins Gesicht. Es ist nicht mehr wahr, daß die Armen selig sind. Das Himmelreich aber ist bei den Kühen.« »Und warum ist es nicht bei den Reichen?« fragte Zarathustra versuchend, während er den Kühen wehrte, die den Friedfertigen zutraulich anschnauften. »Was versuchst du mich?« antwortete dieser. »Du weisst es selber besser noch als ich. Was trieb mich doch zu den Ärmsten, oh Zarathustra? War es nicht der Ekel vor unsern Reichsten? – vor den Sträflingen des Reichtums, welche sich ihren Vortheil aus jedem Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken, vor diesem Gesindel, das gen Himmel stinkt, – vor diesem vergüldeten, verfälschten Pöbel, dessen Väter Langfinger oder Aasvögel oder Lumpensammler waren, mit Weibern willfährig, lüstern, vergesslich – sie haben’s nämlich alle nicht weit zur Hure – Pöbel oben, Pöbel unten! Was ist heute noch ›arm‹ und ›reich‹! Diesen Unterschied verlernte ich – da floh ich davon, weiter, immer weiter, bis ich zu diesen Kühen kam.«“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 331-332

„Es wird mir wahrlich zu viel; diess Gebirge wimmelt, mein Reich ist nicht mehr von dieser Welt, ich brauche neue Berge.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 334

„Am späten Nachmittage war es erst, dass Zarathustra, nach langem umsonstigen Suchen und Umherstreifen, wieder zu seiner Höhle heimkam. Als er aber derselben gegenüberstand, nicht zwanzig Schritt mehr von ihr ferne, da geschah das, was er jetzt am wenigsten erwartete: von Neuem hörte er den grossen  N o t h s c h r e i .  Und, erstaunlich! diess Mal kam derselbige aus seiner eignen Höhle. Es war aber ein langer vielfältiger seltsamer Schrei, und Zarathustra unterschied deutlich, dass er sich aus vielen Stimmen zusammensetze: mochte er schon, aus der Ferne gehört, gleich dem Schrei aus einem einzigen Munde klingen. Da sprang Zarathustra auf seine Höhle zu, und siehe! welches Schauspiel erwartete ihn erst nach diesem Hörspiele! Denn da sassen sie allesamt beieinander, an denen er des Tags vorübergegangen war: der König zur Rechten und der König zur Linken, der alte Zauberer, der Papst, der freiwillige Bettler, der Schatten, der Gewissenhafte des Geistes, der traurige Wahrsager und der Esel; der hässlichste Mensch aber hatte sich eine Krone aufgesetzt und zwei Purpurgürtel umgeschlungen – denn er liebte es, gleich allen Hässlichen, sich zu verkleiden und schön zu tun. Inmitten aber dieser betrübten Gesellschaft stand der Adler Zarathustra’s, gesträubt und unruhig, denn er sollte auf zu vieles antworten, wofür sein Stolz keine Antwort hatte; die kluge Schlange aber hing um seinen Hals. Dies alles schaute Zarathustra mit grosser Verwunderung; dann aber prüfte er jeden Einzelnen seiner Gäste mit leutseliger Neugierde, las ihre Seelen ab und wunderte sich von Neuem. Inzwischen hatten sich die Versammelten von ihren Sitzen erhoben und warteten mit Ehrfurcht, dass Zarathustra reden werde. Zarathustra aber sprach also: »Ihr Verzweifelnden! Ihr Wunderlichen! Ich hörte also  e u r e n  Nothschrei? Und nun weiss ich auch, wo Der zu suchen ist, den ich umsonst heute suchte:  d e r   h ö h e r e   M e n s c h  – :  –  in meiner eignen Höhle sitzt er, der höhere Mensch! Aber was wundere ich mich! Habe ich ihn nicht selber zu mir gelockt, durch Honig-Opfer und listige Lockrufe meines Glücks?“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 342-343

„»Meine Gäste, ihr höheren Menschen, ich will deutsch und deutlich mit euch reden. Nicht auf  e u c h  wartete ich hier in diesen Bergen.« (»....«) »Ihr mögt wahrlich insgesamt höhere Menschen sein«, fuhr Zarathustra fort, »aber für mich – seid ihr nicht hoch und stark genug. Für mich, das heisst: für das Unerbittliche, das in mir schweigt, aber nicht immer schweigen wird. Und gehört ihr zu mir, so doch nicht als mein rechter Arm. Wer nämlich selber auf kranken und zarten Beinen steht, gleich euch, der will vor Allem, ob er's weiss oder sich verbirgt: dass er  g e s c h o n t  werde. Meine Arme und meine Beine aber schone ich nicht,  i c h   s c h o n e   m e i n e   K r i e g e r   n i c h t :  wieso könntet ihr zu  m e i n e m  Kriege taugen? Mit euch verdürbe ich mir jeden Sieg noch. Und mancher von euch fiele schon um, wenn er nur den lauten Schall meiner Trommeln hörte. Auch seid ihr mir nicht schön genug und wohlgeboren. Ich brauche reine glatte Spiegel für meine Lehren; auf eurer Oberfläche verzerrt sich noch mein eignes Bildnis. Eure Schultern drückt manche Last, manche Erinnerung; manch schlimmer Zwerg hockt in euren Winkeln. Es giebt verborgenen Pöbel auch in euch. Und seid ihr auch hoch und höherer Art: vieles an euch ist krumm und missgestalt. Da ist kein Schmied in der Welt, der euch mir zurecht und gerade schlüge. Ihr seid nur Brücken: mögen Höhere auf euch hinüberschreiten! Ihr bedeutet Stufen: so zürnt Dem nicht, der über euch hinweg in  s e i n e  Höhe steigt! Aus eurem Samen mag auch mir einst ein echter Sohn und vollkommener Erbe wachsen: aber das ist ferne. Ihr selber seid Die nicht, welchen mein Erbgut und Name zugehört. Nicht auf euch warte ich hier in diesen Bergen, nicht mit euch darf ich zum letzten Male niedersteigen. Als Vorzeichen kamt ihr mir nur, dass schon Höhere zu mir unterwegs sind, – –  n i c h t  die Menschen der grossen Sehnsucht, des grossen Ekels, des grossen Überdrusses und das, was ihr den Überrest Gottes nanntet. – Nein! Nein! Drei Mal Nein! Auf  A n d e r e  warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele:  l a c h e n d e   L ö w e n  müssen kommen! Oh, meine Gastfreunde, ihr Wunderlichen – hörtet ihr noch nichts von meinen Kindern? Und dass sie zu mir unterwegs sind? Sprecht mir doch von meinen Gärten, von meinen glückseligen Inseln, von meiner neuen schönen Art – warum sprecht ihr mir nicht davon? Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass ihr mir von meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich arm: was gab ich nicht hin, – was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte:  d i e s e  Kinder,  d i e s e  lebendige Pflanzung,  d i e s e  Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!«“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 346-347

„Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die Einsiedler-Thorheit, die große Thorheit: ich stellte mich auf den Markt. Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem. Des Abends aber waren Seiltänzer meine Genossen, und Leichname; und ich selber fast ein Leichnam. Mit dem neuen Morgen aber kam mir eine neue Wahrheit: da lernte ich sprechen »Was geht mich Markt und Pöbel und Pöbel-Lärm und lange Pöbel-Ohren an!« Ihr höheren Menschen, Diess lernt von mir: auf dem Markt glaubt niemand an höhere Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan! Der Pöbel aber blinzelt »wir sind alle gleich«. »Ihr höheren Menschen« – so blinzelt der Pöbel – »es giebt keine höheren Menschen, wir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir Alle gleich!« Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 352

„Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren Menschen, dieser Gott war eure grösste Gefahr. Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der große Mittag, nun erst wird der höhere Mensch – Herr! Verstandet ihr diess Wort, oh meine Brüder? Ihr seid erschreckt: wird euren Herzen schwindlig? Klafft euch hier der Abgrund? Kläfft euch hier der Höllenhund? Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreisst der Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen wir – dass der Übermensch lebe.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 353

„Die Sorglichsten fragen heute: »wie bleibt der Mensch erhalten?« Zarathustra aber fragt als der einzige und erste: »wie wird der Mensch  ü b e r w u n d e n ? «  Der Übermensch liegt mir am Herzen,  d e r  ist mein Erstes und Einziges – und  n i c h t  der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste. – Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist Vieles, das mich lieben und hoffen macht. Dass ihr verachtetet, ihr höheren Menschen, das macht mich hoffen. Die großen Verachtenden nämlich sind die großen Verehrenden. Dass ihr verzweifeltet, daran ist Viel zu ehren. Denn ihr lerntet nicht, wie ihr euch ergäbet, ihr lerntet die kleinen Klugheiten nicht. Heute nämlich wurden die kleinen Leute Herr: die predigen alle Ergebung und Bescheidung und Klugheit und Fleiss und Rücksicht und das lange Und-so-weiter der kleinen Tugenden. Was von Weibsart ist, was von Knechtsart stammt und sonderlich der Pöbel-Mischmasch:  D a s  will nun Herr werden alles Menschen-Schicksals – oh Ekel! Ekel! Ekel! Das frägt und frägt und wird nicht müde: »wie erhält sich der Mensch, am besten, am längsten, am angenehmsten?« Damit – sind sie die Herren von heute. Diese Herren von heute überwindet mir, oh meine Brüder – diese kleinen Leute:  d i e  sind des Übermenschen grösste Gefahr! Überwindet mir, ihr höheren Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das »Glück der Meisten« –! Und lieber verzweifelt, als dass ihr euch ergebt. Und, wahrlich, ich liebe euch dafür, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr höheren Menschen! So nämlich lebt  i h r  – am Besten!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 353-354

„Habt ihr Muth, oh meine Brüder? Seid ihr herzhaft? Nicht Muth vor Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Muth, dem auch kein Gott mehr zusieht? Kalte Seelen, Maultiere, Blinde, Trunkene heissen mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit  S t o l z .  Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, – wer mit Adlers-Krallen den Abgrund  f a s s t :  Der hat Muth.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 354

„»Der Mensch ist böse« – so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft. »Der Mensch muss besser und böser werden« – so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem. Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde. Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines großen  T r o s t e s .  – Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt. Jedwedes Wort gehört auch nicht in jedes Maul. Das sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht Schafs-Klauen greifen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 355

„Ihr höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu machen, was ihr schlecht machtet? Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer betten? Oder euch Unstäten, Verirrten, Verkletterten neue leichtere Fussteige zeigen? Nein! Nein! Drei Mal Nein! Immer Mehr, immer Bessere eurer Art sollen zu Grunde gehn – denn ihr sollt es immer schlimmer und härter haben. So allein – – so allein wächst der Mensch in  d i e  Höhe, wo der Blitz ihn trifft und zerbricht: hoch genug für den Blitz! Auf Weniges, auf Langes, auf Fernes geht mein Sinn und meine Sehnsucht: was gienge mich euer kleines, vieles, kurzes Elend an! Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr littet noch nicht  a m   M e n s c h e n .  Ihr würdet lügen, wenn ihr's anders sagtet! Ihr leidet Alle nicht, woran  i c h  litt.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 355

„Es ist mir nicht genug, dass der Blitz nicht mehr schadet. Nicht ableiten will ich ihn: er soll lernen für  m i c h  – arbeiten. – Meine Weisheit sammelt sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller und dunkler. So tut jede Weisheit, welche  e i n s t  Blitze gebären soll. – Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht sein, nicht Licht heissen.  D i e  – will ich blenden. Blitz meiner Weisheit! stich ihnen die Augen aus!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 356

„Wollt Nichts über euer Vermögen: es giebt eine schlimme Falschheit bei Solchen, die über ihr Vermögen wollen. Sonderlich, wenn sie grosse Dinge wollen! Denn sie wecken Misstrauen gegen grosse Dinge, diese feinen Falschmünzer und Schauspieler:– – bis sie endlich falsch vor sich selber sind, schieläugig, übertünchter Wurmfrass, bemäntelt durch starke Worte, durch Aushänge-Tugenden, durch glänzende falsche Werke. Habt da eine gute Vorsicht, ihr höheren Menschen! Nichts nämlich gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit. Ist diess Heute nicht des Pöbels? Pöbel aber weiss nicht, was gross, was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm, der lügt immer.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 356

„Habt heute ein gutes Misstrauen, ihr höheren Menschen, ihr Beherzten! Ihr Offenherzigen! Und haltet eure Gründe geheim! Diess Heute nämlich ist des Pöbels. Was der Pöbel ohne Gründe einst glauben lernte, wer könnte ihm durch Gründe das – umwerfen? Und auf dem Markte überzeugt man mit Gebärden. Aber Gründe machen den Pöbel misstrauisch. Und wenn da einmal die Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch mit gutem Misstrauen: »welch starker Irrtum hat für sie gekämpft?« Hütet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch: denn sie sind unfruchtbar! Sie haben kalte vertrocknete Augen, vor ihnen liegt jeder Vogel entfedert. Solche brüsten sich damit, dass sie nicht lügen: aber Ohnmacht zur Lüge ist lange noch nicht Liebe zur Wahrheit. Hütet euch! Freiheit von Fieber ist lange noch nicht Erkenntnis! Ausgekälteten Geistern glaube ich nicht. Wer nicht lügen kann, weiss nicht, was Wahrheit ist.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 357

„Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eignen Beine! Lasst euch nicht empor  t r a g e n ,  setzt euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe! Du aber stiegst zu Pferde? Du reitest nun hurtig hinauf zu deinem Ziele? Wohlan, mein Freund! Aber dein lahmer Fuß sitzt auch mit zu Pferde! Wenn du an deinem Ziele bist, wenn du von deinem Pferde springst: auf deiner Höhe gerade, du höherer Mensch – wirst du stolpern!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 357

„Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Man ist nur für das eigne Kind schwanger. Lasst euch nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Nächster? Und handelt ihr auch »für den Nächsten« – ihr schafft doch nicht für ihn! Verlernt mir doch diess »Für«, ihr Schaffenden: eure Tugend gerade will es, dass ihr kein Ding mit »für« und »um« und »weil« thut. Gegen diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer Ohr zukleben. Das »für den Nächsten« ist die Tugend nur der kleinen Leute: da heisst es »gleich und gleich« und »Hand wäscht Hand« – sie haben nicht Recht noch Kraft zu eurem Eigennutz! In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vorsicht und Vorsehung! Was niemand noch mit Augen sah, die Frucht: die schirmt und schont und nährt eure ganze Liebe. Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da ist auch eure ganze Tugend! Euer Werk, euer Wille ist  e u e r  »Nächster«: lasst euch keine falschen Werte einreden!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 358

„Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Wer gebären muss, der ist krank; wer aber geboren hat, ist unrein. Fragt die Weiber: man gebiert nicht, weil es Vergnügen macht. Der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern. Ihr Schaffenden, an euch ist viel Unreines. Das macht, ihr musstet Mütter sein. Ein neues Kind: oh, wie viel neuer Schmutz kam auch zur Welt! Geht beiseite! Und wer geboren hat, soll seine Seele rein waschen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 358

„Seid nicht tugendhaft über eure Kräfte! Und wollt Nichts von euch wider die Wahrscheinlichkeit! Geht in den Fusstapfen, wo schon eurer Väter Tugend ging! Wie wolltet ihr hoch steigen, wenn nicht eurer Väter Wille mit euch steigt? Wer aber Erstling sein will, sehe zu, dass er nicht auch Letztling werde! Und wo die Laster eurer Väter sind, darin sollt ihr nicht Heilige bedeuten wollen! Wessen Väter es mit Weibern hielten und mit starken Weinen und Wildschweinen: was wäre es, wenn der von sich Keuschheit wollte? Eine Narrheit wäre es! Viel, wahrlich, dünkt es mich für einen Solchen, wenn er Eines oder Zweier oder Dreier Weiber Mann ist. Und stiftete er Klöster und schriebe über die Tür: »der Weg zum Heiligen« – ich spräche doch: wozu! es ist eine neue Narrheit! Er stiftete sich selber ein Zucht- und Fluchthaus: wohl bekomm's! Aber ich glaube nicht daran. In der Einsamkeit wächst, was Einer in sie bringt, auch das innere Vieh. Solchergestalt widerräth sich vielen die Einsamkeit. Gab es Schmutzigeres bisher auf Erden als Wüsten-Heilige?  U m   d i e  herum war nicht nur der Teufel los – sondern auch das Schwein.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 359

„Scheu, beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missriet: also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch beiseite schleichen. Ein Wurf missriet euch. Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen und spotten, wie man spielen und spotten muss! Sitzen wir nicht immer an einem grossen Spott- und Spieltische? Und wenn euch Grosses missriet, seid ihr selber darum – missraten? Und missrietet ihr selber, missriet darum – der Mensch? Missriet aber der Mensch: wohlan! wohlauf!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 359-360

„Je höher von Art, je seltener gerät ein Ding. Ihr höheren Menschen hier, seid ihr nicht alle – missgeraten? Seid guten Muths, was liegt daran! Wie Vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss! Was Wunders auch, dass ihr missrietet und halb gerietet, ihr Halbzerbrochenen! Drängt und stösst sich nicht in euch – des Menschen  Z u k u n f t ?  Des Menschen Fernstes, Tiefstes, Sternen-Höchstes, seine ungeheure Kraft: schäumt das nicht alles gegen einander in eurem Topfe? Was Wunders, dass mancher Topf zerbricht! Lernt über euch lachen, wie man lachen muss! Ihr höheren Menschen, oh wie Vieles ist noch möglich! Und wahrlich, wie Viel gerieth schon! Wie reich ist diese Erde an kleinen guten vollkommenen Dingen, an Wohlgerathenem! Stellt kleine gute vollkommene Dinge um euch, ihr höheren Menschen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommnes lehrt hoffen.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 360

„Welches war hier auf Erden bisher die grösste Sünde? War es nicht das Wort dessen, der sprach: »Wehe denen, die hier lachen!« Fand er zum Lachen auf der Erde selber keine Gründe? So suchte er nur schlecht. Ein Kind findet hier noch Gründe. Der – liebte nicht genug: sonst hätte er auch uns geliebt, die Lachenden! Aber er hasste und höhnte uns, Heulen und Zähneklappern verhiess er uns. Muss man denn gleich fluchen, wo man nicht liebt? Das – dünkt mich ein schlechter Geschmack. Aber so that er, dieser Unbedingte. Er kam vom Pöbel. Und er selber liebte nur nicht genug: sonst hätte er weniger gezürnt, dass man ihn nicht liebe. Alle grosse Liebe  w i l l  nicht Liebe – die will mehr. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Das ist eine arme kranke Art, eine Pöbel-Art: sie sehn schlimm diesem Leben zu, sie haben den bösen Blick für diese Erde. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Sie haben schwere Füsse und schwüle Herzen – sie wissen nicht zu tanzen. Wie möchte Solchen wohl die Erde leicht sein!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 361

„Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe. Gleich Katzen machen sie Buckel, sie schnurren innewendig vor ihrem nahen Glücke – alle guten Dinge lachen. Der Schritt verrät, ob Einer schon auf  s e i n e r  Bahn schreitet: so seht mich gehn! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der tanzt. Und, wahrlich, zum Standbild ward ich nicht, noch stehe ich nicht da, starr, stumpf, steinern, eine Säule; ich liebe geschwindes Laufen. Und wenn es auf Erden auch Moor und dicke Trübsal giebt: wer leichte Füsse hat, läuft über Schlamm noch hinweg und tanzt wie auf gefegtem Eise. Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 361-362

„Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu. Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger: – Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt; ich selber setzte mir diese Krone auf!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 362

„Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf! Es giebt auch im Glück schweres Gethier, es giebt Plumpfüssler von Anbeginn. Wunderlich mühn sie sich ab, einem Elephanten gleich, der sich müht auf dem Kopf zu stehn. Besser aber noch närrisch sein vor Glücke als närrisch vor Unglücke, besser plump tanzen, als lahm gehn. So lernt mir doch meine Weisheit ab: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten, – – auch das schlimmste Ding hat gute Tanzbeine: so lernt mir doch euch selbst, ihr höheren Menschen, auf eure rechten Beine stellen! So verlernt mir doch Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit! Oh wie traurig dünken mich heute des Pöbels Hanswürste noch! Diess Heute aber ist des Pöbels.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 362-363

„Dem Winde thut mir gleich, wenn er aus seinen Berghöhlen stürzt: nach seiner eignen Pfeife will er tanzen, die Meere zittern und hüpfen unter seinen Fusstapfen. Der den Eseln Flügel giebt, der Löwinnen melkt, gelobt sei dieser gute unbändige Geist, der allem Heute und allem Pöbel wie ein Sturmwind kommt, – – der Distel- und Tiftelköpfen feind ist und allen welken Blättern und Unkräutern: gelobt sei dieser wilde gute freie Sturmgeist, welcher auf Mooren und Trübsalen wie auf Wiesen tanzt! Der die Pöbel-Schwindhunde hasst und alles missratene düstere Gezücht: gelobt sei dieser Geist aller freien Geister, der lachende Sturm, welcher allen Schwarzsichtigen, Schwärsüchtigen Staub in die Augen bläst! Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muss – über euch hinweg tanzen! Was liegt daran, dass ihr missrietet! Wie vieles ist noch möglich! So  l e r n t  doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen,  l e r n t  mir – lachen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 363-364

„Und da stehe ich schon, Als Europäer, Ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 381

„ D i e   W ü s t e   w ä c h s t :   w e h   D e m ,   d e r   W ü s t e n   b i r g t ! “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 381

„Eins aber weiss ich, – von dir selber lernte ich's einst, oh Zarathustra: wer am gründlichsten tödten will, der  l a c h t .  ›Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man‹ – so sprachst du einst. Oh Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du gefährlicher Heiliger, – du bist ein Schelm!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 388

„Es lohnt sich auf der Erde zu leben: ein Tag, ein Fest mit Zarathustra lehrte mich die Erde lieben. ›War  D a s  – das Leben?‹ will ich zum Tode sprechen. ›Wohlan! Noch Ein Mal!‹ Meine Freunde, was dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: War  D a s  – das Leben? Um Zarathustras Willen, wohlan! Noch Ein Mal!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 392

„Weh spricht: »Vergeh! Weg, du Wehe!« Aber Alles, was leidet, will leben, dass es reif werde und lustig und sehnsüchtig, – sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem. »Ich will Erben, so spricht Alles, was leidet, ich will Kinder, ich will nicht  m i c h « ,  – Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder – Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 397-398

„Mitternacht ist auch Mittag ....“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 398

„ D e n n   a l l e   L u s t   w i l l   –   E w i g k e i t ! “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 398

„Lust will  a l l e r  Dinge Ewigkeit,  w i l l   t i e f e ,   t i e f e   E w i g k e i t ! “
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 399

„Oh Mensch! Gib Acht! // Was spricht die tiefe Mitternacht? // »Ich schlief, ich schlief –, // Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – // Die Welt ist tief, // Und tiefer als der Tag gedacht. // Tief ist ihr Weh –, // Lust – tiefer noch als Herzeleid: // Weh spricht: Vergeh! // Doch alle Lust will Ewigkeit –, // – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 400

„Mein Leid und mein Mitleiden – was liegt daran! Trachte ich denn nach  G l ü c k e ?  Ich trachte nach meinem  W e r k e !  Wohlan! Der  Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reif, meine Stunde kam: – Dies ist  m e i n  Morgen,  m e i n  Tag hebt an:  h e r a u f   n u n ,   h e r a u f ,   d u   g r o s s e r   M i t t a g ! «  – – Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.“
Ders., Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 404

„Grundsatz: das, was im Kampf mit den Tieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Tier.“
Ders., Frühjahr 1884, in: Nachgelassene Fragmente (25 [428], KSA, 11, 125)

„Ist Pessimismus notwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? – wie er es bei den Indern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den »modernen« Menschen und Europäern ist? Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Gibt es vielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst? Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was »das Fürchten« ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren, die Tragödie? – Und wiederum: das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen – wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein? Und die »griechische Heiterkeit« des späteren Griechentums nur eine Abendröte? Der epikurische Wille gegen den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft – ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher – alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen – die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? O Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheimnisvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie?“
Ders., Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 3-4

„Christentum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Überdruß des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein »anderes« oder »besseres« Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Haß auf die »Welt«, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins Ausruhen, hin zum »Sabbat der Sabbate« – dies alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christentums, nur moralische Werte gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines »Willens zum Untergang«, zum mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Mißmutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, – denn vor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten Moral) muß das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, – muß endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Neins, als begehrens-unwürdig, als unwert an sich empfunden werden.“
Ders., Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 10

„Und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europas gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs-Begründung, seinen Übergang zur Vermittelmäßigung, zur Demokratie und den »modernen Ideen« machte!“
Ders., Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12

„Abseits freilich von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das große dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in betreff der Musik, fort und fortbestehn: wie müßte eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern dionysischen?
Ders., Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12

„Leben selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.“
Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 13, in: Werke III, S. 24 bzw. 578

„Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und Zurechtlegung und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muß auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten.“
Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 13, in: Werke III, S. 24 bzw. 578

„Philosophen .... Ihr Denken ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennenm eine Rück- und Heimkerh in einen fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind – Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges.“
Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 20, in: Werke III, S. 29-30 bzw. 583-584

„Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, daß, dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine dank der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit großer Wahrscheinlichkeit anders »in die Welt« blicken und auf andern Pfaden zu finden sein als Indogermanen oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werturteile und Rasse-Bedingungen. – So viel zur Zurückweisung von Lockes Oberflächlichkeit in bezug auf die Herkunft der Ideen.“
Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 20, in: Werke III, S. 30 bzw. 584

„Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene »Gesetzmäßigkeit der Natur«, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – – besteht nur dank eurer Ausdeutung und schlechten »Philologie« – sie ist kein Tatbestand, kein »Text«, vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt!“
Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 22, in: Werke III, S. 32 bzw. 586

„Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob wir an die Kausalität des Willens glauben: tun wir das – und im Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Kausalität selbst –, so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Kausalität hypothetisch als die einzige zu setzen. »Wille« kann natürlich nur auf »Wille« wirken – und nicht auf »Stoffe« (nicht auf »Nerven« zum Beispiel –): genug, man muß die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo »Wirkungen« anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt – und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin tätig wird, eben Willenskraft, Willens- Wirkung ist. – Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist –; gesetzt, daß man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren »intelligiblen Charakter« hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben »Wille zur Macht« und nichts außerdem.“
Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 36, in: Werke III, S. 47 bzw. 601

„Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.“
Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 78, in: Werke III, S. 73 bzw. 627

„Eine Seele, die sich gelebt weiß, aber selbst niocht lebt, verrät ihren Bodensatz – ihr Unterstes kommt herauf.“
Ders., Jenseits von Gut und Böse, 1886, 79, in: Werke III, S. 73 bzw. 627

„Gerade hier ... sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wehrend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig sich ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifend Mildeids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Eiropäer-Buddhismus? zum - Nihilismus? ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 213 bzw. 767

„Man hat bisher auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger? .... So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 214 bzw. 768

„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 228 bzw. 782

„Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem »Außerhalb«, zu einem »Anders«, zu einem »Nicht-selbst«: und dies Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks - diese notwendige Richtung nach außen statt zurück auf sich selber - gehört eben zum Resentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren - ihre Aktion ist von Grund auf Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen - ihr negativer Begriff »niedrig«, »gemein«, »schlecht« ist nur ein nachgeborenes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff »wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!«“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 228-220 bzw. 782-783

„Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (gennaios »edelbürtig« unterstreicht die Nuance »aufrichtig« und auch wohl »naiv«), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784

„Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich ... in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784

„Wieviel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! - und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe .... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem nichts zu verachten und sehr viel zu ehren ist! Dagegen stelle man sich »den Feind« vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert - und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat »den bösen Feind« konzipiert, »den Bösen«, und zwar als Gegenbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen »Guten« ausdenkt - sich selbst ! ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 231 bzw. 785

„Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem Blick« betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem »schlechten Gewissen« verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich – aber wer ist stark genug dazu? –, nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen wenden? .... Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu, wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden. .... Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt? Und wiederum – wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, sobald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen« wie alle Welt!“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 282 bzw. 836

„Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei – während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 282-283 bzw. 836-837

„An dieser Stelle geziemt mir nur eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem »Zukünftigeren«, einem Stärkeren, als ich bin – was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 283 bzw. 837

„Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz: und jene Ausnahme Sokrates – der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheiratet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstrieren.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 295 bzw. 849

Das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein solches Mittel: es steht also gerade umgekehrt, als es die Verehrer dieses Ideals meinen – das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und gegen den Tod, das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens. Daß dasselbe in dem Maße, wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen walten und mächtig werden konnte, insonderheit überall dort, wo die Zivilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt sich eine große Tatsache aus: die Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen, zum mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen des Menschen mit dem Tode (genauer: mit dem Überdrusse am Leben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem »Ende«).“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 307-308 bzw. 861-862

„Der asketische Priester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anders wo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die Macht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet; eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muß, günstigere Bedingungen für das Hier-sein und Mensch-sein zu schaffen – eben mit dieser Macht hält er die ganze Herde der Mißratnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits: dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende – er gerade gehört zu den ganz großen konservierenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens .... Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit?“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862

„Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgendein Tier sonst, daran ist kein Zweifel – er ist das kranke Tier: woher kommt das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Tiere zusammengenommen: er, der große Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Tier, Natur und Göttern ringt – er, der immer noch Unbezwungne, der ewig-Zukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so daß ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt – wie sollte ein solches mutiges und reiches Tier nicht auch das am meisten gefährdete, das am längsten und tiefsten kranke unter allen kranken Tieren sein? .... Der Mensch hat es satt, oft genug, es gibt ganze Epidemien dieses Satthabens (– so um 1348 herum, zur Zeit des Totentanzes): aber selbst noch dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruß an sich selbst – alles tritt an ihm so mächtig heraus, daß es sofort wieder zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarterer Jas ans Licht; ja, wenn er sich verwundet, dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung – hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862

„Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist – und wir können diese Normalität nicht in Abrede stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die Glücksfälle des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgeratenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten. Tut man das? .... Die Kranken sind die größte Gefahr für die Gesunden; nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern von den Schwächsten. Weiß man das?“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Ins große gerechnet, ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man wünschen dürfte: denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar zu sein – sie hält den wohlgeratenen Typus Mensch aufrecht. Was zu fürchten ist, was verhängnisvoll wirkt wie kein andres Verhängnis, das wäre nicht die große Furcht, sondern der große Ekel vor dem Menschen; insgleichen das große Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, daß diese beiden eines Tags sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der »letzte Wille« des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus. Und in der Tat: hierzu ist viel vorbereitet. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft – ich rede, wie billig, von den Kulturgebieten des Menschen, von jeder Art »Europa«, das es nachgerade auf Erden gibt.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Die Krankhaften sind des Menschen große Gefahr: nicht die Bösen, nicht die »Raubtiere«. Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochenen - sie sind es, die Schwächsten sind es, welche am meisten das Leben unter Menschen unterminieren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Wo entginge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Mißgebornen von Anbeginn, der es verrät, wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht – jenem Blick, der ein Seufzer ist! »Möchte ich irgend jemand anderes sein!« so seufzt dieser Blick: »aber da ist keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und doch – habe ich mich satt!«“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Auf solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Giftgewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so süßlich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten; hier spinnt sich beständig das Netz der bösartigsten Verschwörung - der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgeratenen und Siegreichen, hier wird der Aspekt des Siegreichen gehaßt.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309-310 bzw. 863-864

„Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns – wie als ob Gesundheit, Wohlgeratenheit, Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die man einst büßen, bitter büßen müsse: o wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büßen zu machen, wie sie darnach dürsten, Henker zu sein. Unter ihnen gibt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort »Gerechtigkeit« wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzen Mundes, immer bereit, alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muts seine Straße zieht.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 310 bzw. 864

„Der Wille der Kranken, irgendeine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen – wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur Macht! Das kranke Weib insonderheit: niemand übertrifft es in Raffinements, zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisieren. Das kranke Weib schont dazu nichts Lebendiges, nichts Totes, es gräbt die begrabensten Dinge wieder auf (die Bogos sagen: »das Weib ist eine Hyäne«). Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden – ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten »die edle Entrüstung« spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungs-Gebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wut solcher »edlen« Pharisäer ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 310-311 bzw. 864-865

„Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen und ebenso in Maskeraden der Rache, in Vorwänden zur Rache: wann würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph der Rache kommen? Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begännen und vielleicht untereinander sich sagten »es ist eine Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!« .... Aber es könnte gar kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln. Fort mit dieser »verkehrten Welt«!“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 311 bzw. 865

„Hat man in aller Tiefe begriffen – und ich verlange, daß man hier gerade tief greift, tief begreift –, inwiefern es schlechterdings nicht die Aufgabe der Gesunden sein kann, Kranke zu warten, Kranke gesund zu machen, so ist damit auch eine Notwendigkeit mehr begriffen – die Notwendigkeit von Ärzten und Krankenwärtern, die selber krank sind: und nunmehr haben und halten wir den Sinn des asketischen Priesters mit beiden Händen. Der asketische Priester muß uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 312 bzw. 866

„Der Priester ... bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; aber erst hat er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde – darauf vor allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubtier-Bändiger, in dessen Umkreis alles Gesunde notwendig krank und alles Kranke notwendig zahm wird. Er verteidigt in der Tat gut genug seine kranke Herde, dieser seltsame Hirt – er verteidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Herde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken untereinander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Herde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu entladen, daß er nicht die Herde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit; wollte man den Wert der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 313-314 bzw. 867-868

„Es gibt, streng geurteilt, gar keine »voraussetzungslose« Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein »Glaube« muß immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht, wer zum Beispiel sich anschickt, die Philosophie »auf streng wissenschaftliche Grundlage« zu stellen, der hat dazu erst nötig, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber auf den Kopf zu stellen: die ärgste Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer geben kann!)“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 336 bzw. 890

„Ja, es ist kein Zweifel – und hiermit lasse ich meine »fröhliche Wissenschaft« zu Worte kommen, vgl. deren fünftes Buch: (II 208) – »der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ›andre Welt‹ bejaht, wie? muß er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen? .... Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht – auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist .... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?« “
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 336-337 bzw. 890-891

„Die Wissenschaft selber bedarf nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt sein soll, daß es eine solche für sie gibt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewußtsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie – woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher Herr war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies »durfte«?“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337 bzw. 891

„Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, gibt es auch ein neues Problem: das vom Werte der Wahrheit. – Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe –, der Wert der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen .... (Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt der »fröhlichen Wissenschaft« nachzulesen, welcher den Titel trägt: »Inwiefern auch wir noch fromm sind«: (II 206 ff.), am besten das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen die Vorrede zur »Morgenröte«.)“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337 bzw. 891

„Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?«  war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres »Umsonst;!«  Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand - er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Problem seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?«  Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es; er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag - und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn!“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899

„Nein! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche, wenn ich frage: »wo ist der gegnerische Wille, in dem sich sein gegnerisches Ideal ausdrückt?« Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Wert-Ideals, einer werteschaffenden Macht, in deren Dienste sie an sich selber glauben darf – sie selbst ist niemals werteschaffend. Ihr Verhältnis zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch; sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und Kampf bezieht sich, feiner geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Außenwerke, Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung, Verdogmatisierung – sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exoterische an ihm verneint.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337-338 bzw. 891-892

„Diese beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf einem Boden – ich gab dies schon zu verstehen –: nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen Glauben an die Unabschätzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich notwendig Bundesgenossen – so daß sie, gesetzt, daß sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und in Frage gestellt werden können. Eine Wertabschätzung des asketischen Ideals zieht unvermeidlich auch eine Wertabschätzung der Wissenschaft nach sich: dafür mache man sich bei Zeiten die Augen hell, die Ohren spitz!“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„(Die Kunst, vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des längeren darauf zurück – die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand es der Instinkt Platos, dieses größten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato gegen Homer: das ist der ganze, der echte Antagonismus – dort der »Jenseitige« besten Willens, der große Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die goldene Natur. Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstler-Korruption, die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten: denn nichts ist korruptibler als ein Künstler.) “
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„Auch physiologisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort die Voraussetzung, – die Affekte kühl geworden, das Tempo verlangsamt, die Dialektik an Stelle des Instinktes, der Ernst den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt (der Ernst, dieses unmißverständlichste Abzeichen des mühsameren Stoffwechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens). Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt: es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niederganges – die überströmende Kraft, die Lebens-Gewißheit, die Zukunfts-Gewißheit sind dahin.“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„Das Übergewicht des Mandarinen bedeutet niemals etwas Gutes: so wenig als die Heraufkunft der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung, der Religion des Mitleids und was es sonst alles für Symptome des absinkenden Lebens gibt. (Wissenschaft als Problem gefaßt; was bedeutet Wissenschaft? – vgl. darüber die Vorrede zur »Geburt der Tragödie«.)“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338-339 bzw. 892-893

„Nein! diese »moderne Wissenschaft« – macht euch nur dafür die Augen auf! – ist einstweilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals, und gerade deshalb, weil sie die unbewußteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist! Sie haben bis jetzt ein Spiel gespielt, die »Armen des Geistes« und die wissenschaftlichen Widersacher jenes Ideals (man hüte sich, anbei gesagt, zu denken, daß sie deren Gegensatz seien, etwa als die Reichen des Geistes – das sind sie nicht, ich nannte sie Hektiker des Geistes). Diese berühmten Siege der letzteren: unzweifelhaft, es sind Siege – aber worüber? Das asketische Ideal wurde ganz und gar nicht in ihnen besiegt, es wurde eher damit stärker, nämlich unfaßlicher, geistiger, verfänglicher gemacht, daß immer wieder eine Mauer, ein Außenwerk, das sich an dasselbe angebaut hatte und seinen Aspekt vergröberte, seitens der Wissenschaft schonungslos abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint man in der Tat, daß etwa die Niederlage der theologischen Astronomie eine Niederlage jenes Ideals bedeute? .... Ist damit vielleicht der Mensch weniger bedürftig nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines Rätsels von Dasein geworden, daß dieses Dasein sich seitdem noch beliebiger, eckensteherischer, entbehrlicher in der sichtbaren Ordnung der Dinge ausnimmt?“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339 bzw. 893

„Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott ((»Kind Gottes«, »Gottmensch«) war .... Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins »durchbohrende Gefühl seines Nichts«? .... Wohlan! dies eben wäre der gerade Weg – ins alte Ideal?“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339 bzw. 893

Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demütigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswertes Geständnis gemacht hat, »sie vernichtet meine Wichtigkeit« ...), alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die unnatürliche – so heiße ich die Erkenntnis-Selbstkritik –, ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam errungene Selbstverachtung des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrechtzuerhalten (mit Recht, in der Tat: denn der Verachtende ist immer noch einer, der »das Achten nicht verlernt hat« ...).“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339-340 bzw. 893-894

„Wird damit dem asketischen Ideale eigentlich entgegengearbeitet? Meint man wirklich allen Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeitlang sich einbildeten), daß etwa Kants Sieg über die theologische Begriffs-Dogmatik ((raquo;Gott«, »Seele«, »Freiheit«, »Unsterblichkeit«) jenem Ideale Abbruch getan habe? – wobei es uns einstweilen nichts angehn soll, ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur in Absicht gehabt hat. Gewiß ist, daß alle Art Transzendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel haben – sie sind von den Theologen emanzipiert: welches Glück! – er hat ihnen jenen Schleichweg verraten, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den »Wünschen ihres Herzens« nachgehn dürfen. Insgleichen: wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich, das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten? .... Gesetzt, daß alles, was der Mensch »erkennt«, seinen Wünschen nicht genugtut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die Schuld davon nicht im »Wünschen«, sondern im »Erkennen« suchen zu dürfen! . .... »Es gibt kein Erkennen: folglich – gibt es einen Gott«: welche neue elegantia syllogismi! welcher Triumph des asketischen Ideals!“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340 bzw. 894

„Oder zeigte vielleicht die gesamte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will nichts mehr »beweisen«; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack – sie bejaht so wenig, als sie verneint, sie stellt fest, sie »beschreibt« .... Dies alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340-341 bzw. 894-895

„Hundertmal schlimmer sind die »Beschaulichen« –: ich wüßte nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein »objektiver« Lehnstuhl, solch ein duftender Genüßling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verrät, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Schere ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat! Das geht mir wider den Geschmack, auch wider die Geduld: behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer nichts an ihr zu verlieren hat – mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche »Zuschauer« erbittern mich gegen das »Schauspiel«, mehr noch als das Schauspiel (die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das chasm odonion gab, wozu gab mir die Natur den Fuß? .... Zum Treten, beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen; zum Zusammentreten der morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchentums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz!“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 341-342 bzw. 895-896

„Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist! solange es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und »objektiv« blicken; ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Mißbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 342 bzw. 896

„Europa ist heute reich und erfinderisch vor allem in Erregungsmitteln, es scheint nichts nötiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch die widrige, übelriechende, verlogne, pseudo-alkoholische Luft überall. Ich möchte wissen, wieviel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostümen und Klapperblech großer Worte, wieviel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls, wieviel Stelzbeine »edler Entrüstung« zur Nachhilfe geistig Plattfüßiger, wieviel Komödianten des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa exportiert werden müßten, damit seine Luft wieder reinlicher röche .... Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue Handels–Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen »Idealisten« ein neues »Geschäft« zu machen – man überhöre diesen Zaunpfahl nicht! Wer hat Mut genug dazu? – wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu »idealisieren«!.. Aber was rede ich von Mut: hier tut eins nur not, eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 342-343 bzw. 896-897

„Genug! Genug! Lassen wir diese Kuriositäten und Komplexitäten des modernsten Geistes, an denen ebensoviel zum Lachen als zum Verdrießen ist: gerade unser Problem kann deren entraten, das Problem von der Bedeutung des asketischen Ideals – was hat dasselbe mit gestern und heute zu tun! Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefaßt werden (unter dem Titel »Zur Geschichte des europäischen Nihilismus«; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte).“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 343 bzw. 897

„Worauf es mir allein ankommt, hier hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das sind die Komödianten dieses Ideals – denn sie wecken Mißtrauen. Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals – der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist »Atheismus« –: abgerechnet seines Willens zur Wahrheit. Dieser Wille aber, dieser Rest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulierung, esoterisch ganz und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus (– und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäß nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen und inneren Folgerichtigkeiten – er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unabhängigkeit und deshalb etwas beweisend; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse zwingend; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisiert und zur Religion gemacht.)“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 343-344 bzw. 897-898

Was, in aller Strenge gefragt, hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt? Die Antwort steht in meiner »fröhlichen Wissenschaft« (II, 227 f.): »Die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit – mit dieser Strenge, wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung.«“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 344 bzw. 898

„Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen »Selbstüberwindung« im Wesen des Lebens – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: »patere legem, quam ipse tulisti.« Dergestalt ging das Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muß nun auch das Christentum als Moral noch zugrunde gehn – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluß nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluß, ihren Schluß gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt »was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?« .... Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde (– denn noch weiß ich von keinem Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? .... An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 344-345 bzw. 898-899

„Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?« – war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres »Umsonst!« Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand – er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?« Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn!
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899

„Es war bisher der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betracht das »faute de mieux« par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leben ausgelegt; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Tür schloß sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung - es ist kein Zweifel - brachte neues Leiden mit sich; tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld .... Aber trotz alledem - der Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des »Ohne-Sinns«; er konnte nunmehr etwas wollen - gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Haß gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Tierische, mehr noch gegen das Stoffliche; dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst; die Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst - das alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Aufglehnung gegen die grundsätzlichen Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille! ....  Und, um es noch zum Schluß zu sagen, was ich anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen als nicht wollen ....“
Ders., Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 345-346 bzw. 899-900

„Um allein zu leben, muß man ein Tier oder ein Gott sein – sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall: man muß beides sein – Philosoph.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 389 bzw. 943

Aus der Kriegsschule des Lebens. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 389 bzw. 943

„Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 390 bzw. 944

„»Böse Menschen haben keine Lieder.« - Wie kommt es, daß die Russen Lieder haben?“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 392 bzw. 946

„Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und wenn es keine männliche Tugenden hat, so läuft es selbst davon.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 392 bzw. 951

„Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, daß die großen Weisen Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurteil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch (»Geburt der Tragödie«, 1872).“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 397 bzw. 951

„Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 398 bzw. 952

„Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zugunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloß. Man warnte die Jugend vor ihnen.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 399 bzw. 953

„Der Dialektiker überläßt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wütend, er macht zugleich hilflos. Der Dialektiker depotenziert den Intellekt seines Gegners.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 400 bzw. 954

„Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt: ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heißt bloß: man muß es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen – das Tageslicht der Vernunft. Man muß klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, ans Unbewußte führt hinab ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw. 955

„Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates faszinierte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nötig, noch den Irrtum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die »Vernünftigkeit um jeden Preis« lag? – Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw. 955

„Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht außerhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw. 955

„Sie fragen mich, was alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist? .... Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Haß gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägyptizismus.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 403 bzw. 957

„Die »Vernunft« ist die Ursache, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht .... Aber damit wird Heraklit ewig recht behalten, daß das Sein eine leere Fiktion ist. Die »scheinbare« Welt ist die einzige: die »wahre Welt« ist nur hinzugelogen ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 404 bzw. 958

„Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen – als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Mißgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichen-Lehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem: ebensowenig als die Frage, welchen Wert überhaupt eine solche Zeichen-Konvention, wie die Logik ist, hat.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 404 bzw. 958

„Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, daß etwas da sein müsse, das uns irreführe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurteil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaßen verstrickt in den Irrtum, nezessitiert zum Irrtum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, daß hier der Irrtum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des großen Gestirns: bei ihnen hat der Irrtum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum beständigen Anwalt.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 405 bzw. 959

„Die vier großen Irrtümer —: (1) Irrtum der Verwechslung von Ursache und Folge. .... – (2) Irrtum einer falschen Ursächlichkeit. .... – (3) Irrtum der imaginären Ursachen. .... – (4) Irrtum vom freien Willen. ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 417-424 bzw. 971-978

„Man kennt meine Forderung an den Philosophen, sich jenseits von Gut und Böse zu stellen – die Illusion des moralischen Urteils unter sich zu haben. Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir zum ersten Male formuliert worden ist: daß es gar keine moralischen Tatsachen gibt.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw. 979

„Das moralische Urteil hat das mit dem religiösen gemein, daß es an Realitäten glaubt, die keine sind. Moral ist nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine Mißdeutung. Das moralische Urteil gehört, wie das religiöse, einer Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen, die Unterscheidung des Realen und Imaginären noch fehlt: so daß »Wahrheit« auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute »Einbildungen« nennen. Das moralische Urteil ist insofern nie wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als Semiotik unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die wertvollsten Realitäten von Kulturen und Innerlichkeiten, die nicht genug wußten, um sich selbst zu »verstehn«. Moral ist bloß Zeichenrede, bloß Symptomatologie: man muß bereits wissen, worum es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehn.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw. 979

„Zu allen Zeiten hat man die Menschen »verbessern« wollen: dies vor allem hieß Moral. Aber unter dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt. Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch, als die Züchtung einer bestimmten Gattung Mensch ist »Besserung« genannt worden: erst diese zoologischen termini drücken Realitäten aus – Realitäten freilich, von denen der typische »Verbesserer«, der Priester, nichts weiß – nichts wissen will.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw. 979

„Die Zähmung eines Tieres seine »Besserung« nennen ist in unsern Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiß, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, daß die Bestie daselbst »verbessert« wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425-426 bzw. 979-980

„Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester »verbessert« hat. Im frühen Mittelalter, wo in der Tat die Kirche vor allem eine Menagerie war, machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der »blonden Bestie« Jagd – man »verbesserte« zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher »verbesserter«, ins Kloster verführter Germane aus? Wie eine Karikatur des Menschen, wie eine Mißgeburt: er war zum »Sünder« geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt .... Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Haß gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein »Christ« .... Physiologisch geredet: im Kampf mit der Bestie kann Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen, sie schwächte ihn – aber sie nahm in Anspruch, ihn »verbessert« zu haben.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 426 bzw. 980

„Nehmen wir den andern Fall der sogenannten Moral, den Fall der Züchtung einer bestimmten Rasse und Art. Das großartigste Beispiel dafür gibt die indische Moral, als »Gesetz des Manu« zur Religion sanktioniert. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche, eine kriegerische, eine händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Tierbändigern: eine hundertmal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu konzipieren. Man atmet auf, aus der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere, weitere Welt einzutreten. Wie armselig ist das »Neue Testament« gegen Manu, wie schlecht riecht es! – Aber auch diese Organisation hatte nötig, furchtbar zu sein – nicht diesmal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen – es war der Kampf mit der »großen Zahl«.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 426-427 bzw. 980-981

„Vielleicht gibt es nichts unserm Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaßregeln der indischen Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra I), das »von den unreinen Gemüsen«, ordnet an, daß die einzige Nahrung, die den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in Anbetracht, daß die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder Früchte, die Körner tragen, oder Wasser oder Feuer zu geben. Dasselbe Edikt setzt fest, daß das Wasser, welches sie nötig haben, weder aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen werden dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern, welche durch die Fußtapfen der Tiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und sich selbst zu waschen, da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehn, insgleichen noch eins für die letzteren, einander dabei beizustehn.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427 bzw. 981

„Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus: mörderische Seuchen, scheußliche Geschlechtskrankheiten und daraufhin wieder »das Gesetz des Messers«, die Beschneidung für die männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen Kinder anordnend. – Manu selbst sagt: »die Tschandala sind die Frucht von Ehebruch, Inzest und Verbrechen (– dies die notwendige Konsequenz des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister; sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des Von-links-nach-rechts ist bloß den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse.«“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427 bzw. 981

„Diese Verfügungen sind lehrreich genug: in ihnen haben wir einmal die arische Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich – wir lernen, daß der Begriff »reines Blut« der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist. Andrerseits wird klar, in welchem Volk sich der Haß, der Tschandala-Haß gegen diese »Humanität« verewigt hat, wo er Religion, wo er Genie geworden ist .... Unter diesem Gesichtspunkte sind die Evangelien eine Urkunde ersten Ranges; noch mehr das Buch Henoch. – Das Christentum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar – es ist die antiarische Religion par excellence: das Christentum die Umwertung aller arischen Werte, der Sieg der Tschandala-Werte, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Mißratenen, Schlechtweggekommenen gegen die »Rasse« – die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der Liebe.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427-428 bzw. 981-982

„Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen als obersten Satz hinstellen, daß, um Moral zu machen, man den unbedingten Willen zum Gegenteil haben muß. Dies ist das große, das unheimliche Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der »Verbesserer« der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Tatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit »verbesserten«. Weder Manu, noch Plato, noch Konfuzius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz andren Rechten nicht gezweifelt .... In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch.
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 428 bzw. 982

„Man mache einen Überschlag: es liegt nicht nur auf der Hand, daß die ... Kultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben, als er hat – das gilt von Einzelnen, das gilt von Völkern. Gibt man sich für Macht, für große Politik, für Wirtschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militär-Interessen aus – gibt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt es auf der andern Seite.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 431 bzw. 985

„Die Kultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten: »Kultur-Staat« ist bloß eine moderne Idee. Das eine lebt vom andern, das eine gedeiht auf Unkosten des andern. Alle großen Zeiten der Kultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was groß ist im Sinn der Kultur, war unpolitisch, selbst antipolitisch ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 431 bzw. 985

„Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Daß Erziehung, Bildung selbst Zweck ist – und nicht »das Reich« –, daß es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf – und nicht der Gymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – man vergaß das .... Erzieher tun not, die selbst erzogen sind, überlegne, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süß gewordene Kulturen – nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Jugend heute als »höhere Ammen« entgegenbringt. Die Erzieher fehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Kultur. Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jacob Burckhardt in Basel: ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität. – Was die »höheren Schulen« Deutschlands tatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen. »Höhere Erziehung« und Unzahl – das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme: man muß privilegiert sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 432 bzw. 986

„Was bedingt den Niedergang der deutschen Kultur? Daß »höhere Erziehung« kein Vorrecht mehr ist – der Demokratismus der »allgemeinen«, der gemein gewordnen »Bildung«.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 433 bzw. 987

„Es steht niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu geben: unsre »höheren« Schulen sind allesamt auf die zweideutigste Mittelmäßigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht »fertig« ist, noch nicht Antwort weiß auf die »Hauptfrage«: welchen Beruf? – Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht »Berufe«, genau deshalb, weil sie sich berufen weiß .... Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, »fertig« zu werden – mit dreißig Jahren ist man, im Sinne hoher Kultur, ein Anfänger, ein Kind. – Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in Schutz zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg getan haben, dazu hat man vielleicht Ursachen – Gründe dafür gibt es nicht.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 433 bzw. 987

Anti-Darwin. – Was den berühmten »Kampf ums Leben« betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht .... Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. – Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf – und in der Tat, er kommt vor –, so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr – das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger .... Darwin hat den Geist vergessen (– das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist .... Man muß Geist nötig haben, um Geist zu bekommen – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nötig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (– »laß fahren dahin!« denkt man heute in Deutschland »– das Reich muß uns doch bleiben« ...). Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große Selbstbeherrschung und alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein großer Teil der sogenannten Tugend).“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 444-445 bzw. 998-999

„Ich trage es den Deutschen nach, sich über Kant und seine »Philosophie der Hintertüren«, wie ich sie nenne, vergriffen zu haben – das war nicht der Typus der intellektuellen Rechtschaffenheit. – Das andre, was ich nicht hören mag, ist ein berüchtigtes »und«: die Deutschen sagen »Goethe und Schiller«, – ich fürchte, sie sagen »Schiller und Goethe« .... Kennt man noch nicht diesen Schiller? – Es gibt noch schlimmere »und«; ich habe mit meinen eigenen Ohren, allerdings nur unter Universitäts-Professoren, gehört »Schopenhauer und Hartmann«.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 445-446 bzw. 999-1000

„Was den Menschen rechtfertigt, ist seine Realität – sie wird ihn ewig rechtfertigen. Um wie viel mehr wert ist der wirkliche Mensch, verglichen mit irgendeinem bloß gewünschten, erträumten, erstunkenen und erlogenen Menschen? mit irgendeinem idealen Menschen? .... Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider den Geschmack“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 453-454 bzw. 1007-1008

Naturwert des Egoismus. – Die Selbstsucht ist so viel wert, als der physiologisch wert ist, der sie hat: sie kann sehr viel wert sein, sie kann nichtswürdig und verächtlich sein. Jeder Einzelne darf daraufhin angesehn werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht wert ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der Tat sein Wert außerordentlich – und um des Gesamt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt weiter tut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das »Individuum«, wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein Irrtum: er ist nichts für sich, kein Atom, kein »Ring der Kette«, nichts bloß Vererbtes von ehedem – er ist die ganze eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch .... Stellt er die absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (– Krankheiten sind, ins Große gerechnet, bereits Folgeerscheinungen des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Wert zu, und die erste Billigkeit will, daß er den Wohlgeratnen so wenig als möglich wegnimmt. Er ist bloß noch deren Parasit ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 454 bzw. 1008

Christ und Anarchist. – Wenn der Anarchist, als Mundstück niedergehender Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen Entrüstung »Recht«, »Gerechtigkeit«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er eigentlich leidet – woran er arm ist, an Leben .... Ein Ursachen-Trieb ist in ihm mächtig: jemand muß schuld daran sein, daß er sich schlecht befindet .... Auch tut ihm die »schöne Entrüstung« selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen – es gibt einen kleinen Rausch von Macht. Schon die Klage, das Sich-Beklagen kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält: eine feinere Dosis Rache ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter Umständen selbst seine Schlechtigkeit denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein unerlaubtes Vorrecht vor. »Bin ich eine Kanaille, so solltest du es auch sein«: auf diese Logik hin macht man Revolution. – Das Sich-Beklagen taugt in keinem Falle etwas: es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-Befinden andern oder sich selber zumißt – ersteres tut der Sozialist, letzteres zum Beispiel der Christ –, macht keinen eigenlichen Unterschied. Das Gemeinsame, sagen wir auch das Unwürdige daran ist, daß jemand schuld daran sein soll, daß man leidet – kurz, daß der Leidende sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet. Die Objekte dieses Rach-Bedürfnisses als eines Lust-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen: der Leidende findet überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen, – ist er Christ, nochmals gesagt, so findet er sie in sich .... Der Christ und der Anarchist – Beide sind décadents. – Aber auch wenn der Christ die »Welt« verurteilt, verleumdet, beschmutzt, so tut er es aus dem gleichen Instinkte, aus dem der sozialistische Arbeiter die Gesellschaft verurteilt, verleumdet, beschmutzt: das »Jüngste Gericht« selbst ist noch der süße Trost der Rache – die Revolution, wie sie auch der sozialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner gedacht .... Das »Jenseits« selbst – wozu ein Jenseits, wenn es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen?“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 455 bzw. 1009

Kritik der décadence-Moral. – Eine »altruistische« Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht verkümmert –, bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt. Instinktiv das Sich-Schädliche wählen, Gelockt-werden durch »uninteressierte« Motive gibt beinahe die Formel ab für décadence. »Nicht seinen Nutzen suchen« – das ist bloß das moralische Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische Tatsächlichkeit: »ich weiß meinen Nutzen nicht mehr zu finden« .... Disgregation der Instinkte! – Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird. – Statt naiv zu sagen »ich bin nichts mehr wert«, sagt die Moral-Lüge im Munde des décadent: »Nichts ist etwas wert, – das Leben ist nichts wert« .... Ein solches Urteil bleibt zuletzt eine große Gefahr, es wirkt ansteckend – auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christentum), bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulnis gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf Jahrtausende hin das Leben ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456 bzw. 1010

Moral für Ärzte. – Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verlorengegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein – nicht Rezepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten .... Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456 bzw. 1010

„Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so daß ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summierung des Lebens – alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christentume nie vergessen, daß es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Notzucht, daß es die Art des Todes selbst zu Wert-Urteilen über Mensch und Vergangenheit gemißbraucht hat! – Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurteils zum Trotz, vor allem die richtige, das heißt physiologische Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein »unnatürlicher«, ein Selbstmord ist. Man geht nie durch jemand anderes zugrunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten Zeit, ein Feiglings-Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben –, den Tod anders wollen, frei, bewußt, ohne Zufall, ohne Überfall ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456-457 bzw. 1010-1011

„Endlich ein Rat für die Herrn Pessimisten und andre décadents. Wir haben es nicht in der Hand zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler – denn bisweilen ist es ein Fehler – wieder gutmachen. Wenn man sich abschafft, tut man die achtungswürdigste Sache, die es gibt: man verdient beinahe damit, zu leben .... Die Gesellschaft, was sage ich! das Leben selber hat mehr Vorteil davon als durch irgendwelches »Leben« in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend – man hat die andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem Einwand befreit .... Der Pessimismus, pur ... beweist sich erst durch die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessimisten: man muß einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloß mit »Wille und Vorstellung«, wie Schopenhauer es tat, das Leben verneinen –, man muß Schopenhauer zuerst verneinen .... Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt: man muß morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent mehr; ich erinnere an das Ergebnis der Statistik, daß die Jahre, in denen die Cholera wütet, sich in der Gesamt-Ziffer der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 457-458 bzw. 1011-1012

Ob wir moralischer geworden sind. – Gegen meinen Begriff »jenseits von Gut und Böse« hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Ferozität der moralischen Verdummung ... ins Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen. Vor allem gab man mir die »unleugbare Überlegenheit« unsrer Zeit im sittlichen Urteil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten Fortschritt: ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns, durchaus nicht als ein »höherer Mensch«, als eine Art Übermensch, wie ich es tue, aufzustellen .... Ein Schweizer Redakteur, vom »Bund«, ging so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Mut zu solchem Wagnis auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin zu »verstehn«, daß ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! – ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Daß alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen .... Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletztlich und hundert Rücksichten gebend und nehmend, bilden uns in der Tat ein, diese zärtliche Menschlichkeit, die wir darstellen, diese erreichte Einmütigkeit in der Schonung, in der Hilfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen, sei ein positiver Fortschritt, damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so muß sie denken. Gewiß ist, daß wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletztlichere, aus der sich notwendig eine rücksichtenreiche Moral erzeugt.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 458 bzw. 1012

„Denken wir unsre Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der »Vermenschlichung« sofort ihren Wert – an sich hat keine Moral Wert –: sie würde uns selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, daß wir Modernen mit unsrer dick wattierten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stoßen will, den Zeitgenossen Cesare Borgias eine Komödie zum Totlachen abgeben würden. In der Tat, wir sind über die Maßen unfreiwillig spaßhaft, mit unsren modernen »Tugenden« .... Die Abnahme der feindseligen und mißtrauen-weckenden Instinkte – und das wäre ja unser »Fortschritt« – stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der Vitalität dar: es kostet hundertmal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich gegenseitig, da ist jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und jeder Krankenwärter. Das heißt dann »Tugend« –: unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer, überströmender, hätte man's anders genannt, »Feigheit« vielleicht, »Erbärmlichkeit«, »Altweiber-Moral« ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 458-459 bzw. 1012-1013

„Unsre Milderung der Sitten – das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung – ist eine Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein. Dann nämlich darf auch viel gewagt, viel herausgefordert, viel auch vergeudet werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es Gift .... Indifferent zu sein – auch das ist eine Form der Stärke – dazu sind wir gleichfalls zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der erste gewarnt habe, ... ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der Mitleids-Moral Schopenhauers versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen – ein sehr unglücklicher Versuch! – ist die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die vornehmen Kulturen sehen im Mitleiden, in der »Nächstenliebe«, im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459 bzw. 1013

„Die Zeiten sind zu messen nach ihren positiven Kräften – und dabei ergibt sich jene so verschwenderische und verhängnisreiche Zeit der Renaissance als die letzte große Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsern Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit – sammelnd, ökonomisch, machinal – als eine schwache Zeit .... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert durch unsre Schwäche .... “
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459 bzw. 1013

„Die »Gleichheit«, eine gewisse tatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von »gleichen Rechten« nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben –, das, was ich Pathos der Distanz nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit .... Alle unsre politischen Theorien und Staats-Verfassungen, das »Deutsche Reich« durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Notwendigkeiten des Niedergangs; die unbewußte Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Soziologie in England und Frankreich bleibt, daß sie nur die Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eignen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Werturteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisierenden, das heißt trennenden, Klüfte aufreißenden, unter- und überordnenden Kraft formuliert sich in der Soziologie von heute zum Ideal .... Unsre Sozialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert Spencer ist ein décadent – er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459-460 bzw. 1013-1014

Mein Begriff von Freiheit. – Der Wert einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt – was sie uns kostet. Ich gebe ein Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind: es gibt später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit als liberale Institutionen. Man weiß ja, was sie zuwege bringen: sie unterminieren den Willen zur Macht, sie sind die zur Moral erhobene Nivellierung von Berg und Tal, sie machen klein, feige und genüßlich – mit ihnen triumphiert jedesmal das Herdentier. Liberalismus: auf deutsch Herden-Vertierung .... Dieselben Institutionen bringen, so lange sie noch erkämpft werden, ganz andre Wirkungen hervor; sie fördern dann in der Tat die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg um liberale Institutionen, der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern läßt. Und der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit? Daß man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Daß man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Daß man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Daß man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, daß die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des »Glücks«.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 460-461 bzw. 1014-1015

„Der freigewordne Mensch, um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist Krieger.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461 bzw. 1015

„Wonach mißt sich die Freiheit, bei Einzelnen wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muß, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird: fünf Schritte weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unter den »Tyrannen« unerbittliche und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern – schönster Typus Julius Cäsar –; dies ist auch politisch wahr, man mache nur seinen Gang durch die Geschichte. Die Völker, die etwas wert waren, wert wurden, wurden dies nie unter liberalen Institutionen: die große Gefahr machte etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, die uns unsre Hilfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen, unsern Geist erst kennen lehrt – die uns zwingt, stark zu sein .... Erster Grundsatz: man muß es nötig haben, stark zu sein: sonst wird man's nie. – Jene großen Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die es bisher gegeben hat, die aristokratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe: als etwas, das man hat und nicht hat, das man will, das man erobert ....“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461 bzw. 1015

Kritik der Modernität. – Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmütig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns. Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jederzeit die Niedergangs-Form der organisierenden Kraft: ich habe schon in »Menschliches, Allzumenschliches« (I, 682) die moderne Demokratie samt ihren Halbheiten, wie »Deutsches Reich«, als Verfallsform des Staats gekennzeichnet. Damit es Institutionen gibt, muß es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich etwas wie das Imperium Romanum: oder wie Rußland, die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann – Rußland, der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des Deutschen Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist .... Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem »modernen Geiste« geht vielleicht nichts so sehr wider den Strich.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461-462 bzw. 1015-1016

„Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man »Freiheit«. Was aus Institutionen Institutionen macht, wird verachtet, gehaßt, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort »Autorität« auch nur laut wird. Soweit geht die décadence im Wert-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt .... Zeugnis die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle Vernunft abhanden gekommen: das gibt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe – sie lag in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe – sie lag in ihrer prinzipiellen Unlösbarkeit: damit bekam sie einen Akzent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, sich Gehör zu schaffen wußte. Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zugunsten der Liebes-Heirat geradezu die Grundlage der Ehe, das, was erst aus ihr eine Institution macht, eliminiert. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die »Liebe« – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigentumstrieb (Weib und Kind als Eigentum), auf den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisiert, der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maß von Macht, Einfluß, Reichtum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der größten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. – Die moderne Ehe verlor ihren Sinn – folglich schafft man sie ab.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 462-463 bzw. 1016-1017

Die Arbeiter-Frage. – Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiter-Frage gibt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts. – Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die große Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Notwendigkeit gewesen. Was hat man getan? – Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten – man hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht–) empfindet? Aber was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muß man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 463-464 bzw. 1017-1018

»Freiheit, die ich nicht meine ....« – In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängnis mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich untereinander; ich definierte das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, daß unter einem eisernen Drucke wenigstens eins dieser Instinkt-Systeme paralysiert würde, um einem andern zu erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müßte man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe beschneidet: möglich, das heißt ganz .... Das Umgekehrte geschieht: der Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng wäre – dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der décadence: unser moderner Begriff »Freiheit« ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 464 bzw. 1018

Den Konservativen ins Ohr gesagt. – Was man früher nicht wußte, was man heute weiß, wissen könnte –, eine Rückbildung, eine Umkehr in irgendwelchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt – sie wollten die Menschheit auf ein früheres Maß von Tugend zurückbringen, zurückschrauben. Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht: es gibt auch heute noch Parteien, die als Ziel den Krebsgang aller Dinge träumen. Aber es steht niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muß vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence (– dies meine Definition des modernen »Fortschritts« ...). Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 464-465 bzw. 1018-1019

Fortschritt in meinem Sinne. – Auch ich rede von »Rückkehr zur Natur«, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf .... Um es im Gleichnis zu sagen: Napoleon war ein Stück »Rückkehr zur Natur«, so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen). – Aber Rousseau – wohin wollte der eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille in einer Person; der die moralische »Würde« nötig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese Mißgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte »Rückkehr zur Natur« – wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück? – Ich hasse Rousseau noch in der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und Kanaille. Die blutige Farce, mit der sich diese Revolution abspielte, ihre »Immoralität«, geht mich wenig an: was ich hasse, ist ihre Rousseausche Moralität – die sogenannten »Wahrheiten« der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmäßige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit! .... Aber es gibt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist . .... »Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches« – das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, »Ungleiches niemals gleich machen.« – Daß es um jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und blutig zuging, hat dieser »modernen Idee« par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so daß die Revolution als Schauspiel auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. – Ich sehe nur einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden muß, mit Ekel – Goethe.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 469-470 bzw. 1023-1024

Goethe – kein deutsches Ereignis, sondern ein europäisches: ein großartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von seiten dieses Jahrhunderts. – Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (– letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hilfe, vor allem die praktische Tätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (– in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethes); er disziplinierte sich zur Ganzheit, er schuf sich .... Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu allem, was ihm hierin verwandt war – er hatte kein größeres Erlebnis als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe konzipierte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichtum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zugrunde gehn würde, noch zu seinem Vorteil zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr gibt, es sei denn die Schwäche, heiße sie nun Laster oder Tugend .... Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und bejaht – er verneint nicht mehr .... Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 470-471 bzw. 1024-1025

„Man könnte sagen, daß in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert das alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheißen, ein An-sich-heran-kommen-lassen von jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Tatsächlichen. Wie kommt es, daß das Gesamt-Ergebnis kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen? (– zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Feminismus im Geschmack, als Sozialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloß ein verstärktes verrohtes achtzehntes Jahrhundert, das heißt ein décadence-Jahrhundert? So daß Goethe nicht bloß für Deutschland, sondern für ganz Europa bloß ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre? – Aber man mißversteht große Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Daß man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehen weiß, das gehört selbst vielleicht zur Größe.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 471-472 bzw. 1025-1026

„Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfinde, – auch verstehen wir uns über das »Kreuz« .... Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiß zuletzt, ob ich auch nur wünsche, heute gelesen zu werden? – Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein – ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der »Ewigkeit«; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt – was jeder andre in einem Buche nicht sagt .... – Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 472 bzw. 1026

„Erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die Grundtatsache des hellenischen Instinkts aus – sein »Wille zum Leben«. Was verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheißen und geweiht; das triumphierende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus; das wahre Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die »Wehen der Gebärerin« heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz .... Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muß es auch ewig die »Qual der Gebärerin« geben .... Dies alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihnen ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg .... Erst das Christentum, mit seinem Ressentiment gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht: es warf Kot auf den Anfang, auf die Voraussetzung unsres Lebens.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 477-478 bzw. 1031-1032

„Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten mißverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers zu beweisen, daß sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen, der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – das nannte ich dionysisch, das erriet ich als die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so verstand es Aristoteles –: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schließt. Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausging – die »Geburt der Tragödie« war meine erste Umwertung aller Werte: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft.“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 478 bzw. 1032

„»Warum so hart! –« sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle: »sind wir denn nicht Nah-Verwandte?« Warum so weich? O meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr denn nicht – meine Brüder? Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? so wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr einst mit mir – siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? Alle Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, – – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, – härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste. Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: Werdet hart!“
Ders., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 479 bzw. 1033

„Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral – man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Wertformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit. Moral verneint das Leben .... Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin vonnöten – Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir, eingerechnet Wagner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne »Menschlichkeit«. – Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemäße: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras, ein Auge, das die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht – unter sich sieht .... Einem solchen Ziele – welches Opfer wäre ihm nicht gemäß? welche »Selbst-Überwindung«! welche »Selbst-Verleugnung«!.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 3-4

„Mein größtes Erlebnis war eine Genesung. Wagner gehört bloß zu meinen Krankheiten. Nicht daß ich gegen diese Krankheit undankbar sein möchte. Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrechterhalte, daß Wagner schädlich ist, so will ich nicht weniger aufrechthalten, wem er trotzdem unentbehrlich ist – dem Philosophen. Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen aber steht es nicht frei, Wagners zu entraten. Er hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein – dazu muß er deren bestes Wissen haben. Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Wert des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im klaren ist. – Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt: »ich hasse Wagner, aber ich halte keine andere Musik mehr aus«. Ich würde aber auch einen Philosophen verstehen, der erklärte: »Wagner resümiert die Modernität. Es hilft nichts, man muß erst Wagnerianer sein.«“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 4

„Auch dieses Werk erlöst, nicht Wagner allein ist ein »Erlöser«.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 9

„Sie ziehen selbst das Problem Wagners dem Bizets vor? Auch ich unterschätze es nicht, es hat seinen Zauber. Das Problem der Erlösung ist selbst ein ehrwürdiges Problem. Wagner hat über nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein – dies ist sein Problem. – Und wie reich er sein Leitmotiv variiert! Welche seltenen, welche tiefsinnigen Ausweichungen! Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, daß die Unschuld mit Vorliebe interessante Sünder erlöst? (der Fall im Tannhäuser). Oder daß selbst der ewige Jude erlöst wird, seßhaft wird, wenn er sich verheiratet? (der Fall im Fliegenden Holländer). Oder daß alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehn, von keuschen Jünglingen erlöst zu werden? (der Fall Kundry). Oder daß schöne Mädchen am liebsten durch einen Ritter erlöst werden, der Wagnerianer ist? (der Fall in den Meistersingern). Oder daß auch verheiratete Frauen gerne durch einen Ritter erlöst werden? (der Fall Isoldens). Oder daß »der alte Gott«, nachdem er sich moralisch in jedem Betracht kompromittiert hat, endlich durch einen Freigeist und Immoralisten erlöst wird? (der Fall im »Ring«). Bewundern Sie insonderheit diesen letzten Tiefsinn! Verstehn Sie ihn? Ich – hüte mich, ihn zu verstehn.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 10-11

„Daß man noch andere Lehren aus den genannten Werken ziehn kann, möchte ich eher beweisen als bestreiten. Daß man durch ein Wagnersches Ballett zur Verzweiflung gebracht werden kann – und zur Tugend! (nochmals der Fall Tannhäusers). Daß es von den schlimmsten Folgen sein kann, wenn man nicht zur rechten Zeit zu Bett geht (nochmals der Fall Lohengrins). Daß man nie zu genau wissen soll, mit wem man sich eigentlich verheiratet (zum drittenmal der Fall Lohengrins). – Tristan und Isolde verherrlichen den vollkommnen Ehegatten, der, in einem gewissen Falle, nur eine Frage hat: »aber warum habt ihr mir das nicht eher gesagt? Nichts einfacher als das!« Antwort: »Das kann ich dir nicht sagen; und was du frägst, das kannst du nie erfahren.« Der Lohengrin enthält eine feierliche In-Acht-Erklärung des Forschens und Fragens. Wagner vertritt damit den christlichen Begriff »du sollst und mußt glauben«. Es ist ein Verbrechen am Höchsten, am Heiligsten, wissenschaftlich zu sein .... Der fliegende Holländer predigt die erhabne Lehre, daß das Weib auch den Unstetesten festmacht, wagnerisch geredet, »erlöst«.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 11-12

„Ins Wirkliche übersetzt: die Gefahr der Künstler, der Genies ... liegt im Weibe: die anbetenden Weiber sind ihr Verderb. Fast keiner hat Charakter genug, um nicht verdorben – »erlöst« zu werden, wenn er sich als Gott behandelt fühlt – er kondeszendiert alsbald zum Weibe. – Der Mann ist feige vor allem Ewig-Weiblichen: das wissen die Weiblein. – In vielen Fällen der weiblichen Liebe, und vielleicht gerade in den berühmtesten, ist Liebe nur ein feinerer Parasitismus, ein Sich-Einnisten in eine fremde Seele, mitunter selbst in ein fremdes Fleisch – ach! wie sehr immer auf »des Wirtes« Unkosten!“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 12

„Gerade, weil nichts moderner ist als diese Gesamterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excellence, der Cagliostro der Modernität. In seiner Kunst ist auf die verführerischste Art gemischt, was heute alle Welt am nötigsten hat – die drei großen Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische).“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 17

„Wagner ... hat ... das Mittel erraten, müde Nerven zu reizen – er hat die Musik damit krank gemacht. Seine Erfindungsgabe ist keine kleine in der Kunst, die Erschöpftesten wieder aufzustacheln, die Halbtoten ins Leben zu rufen. Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um. Der Erfolg Wagners – sein Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen – hat die ganze ehrgeizige Musiker-Welt zu Jüngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht nur die ehrgeizige, auch die kluge .... Man macht heute nur Geld mit kranker Musik; unsre großen Theater leben von Wagner.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 17

„Der Parsifal wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behalten, als der Geniestreich der Verführung .... Ich bewundere dies Werk, ich möchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon verstehe ich es .... Wagner war nie besser inspiriert als am Ende. Das Raffinement im Bündnis von Schönheit und Krankheit geht hier so weit, daß es über Wagners frühere Kunst gleichsam Schatten legt – sie erscheint zu hell, zu gesund. Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als Einwand beinahe? .... So weit sind wir schon reine Toren .... Niemals gab es einen größeren Meister in dumpfen hieratischen Wohlgerüchen – nie lebte ein gleicher Kenner alles kleinen Unendlichen, alles Zitternden und Überschwänglichen, aller Feminismen aus dem Idiotikon des Glücks! – Trinkt nur, meine Freunde, die Philtren dieser Kunst! Ihr findet nirgends eine angenehmere Art, euren Geist zu entnerven, eure Männlichkeit unter einem Rosengebüsche zu vergessen .... Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er uns damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! Wie er jeder Feigheit der modernen Seele mit Zaubermädchen-Tönen zu Willen redet! – Es gab nie einen solchen Todhaß auf die Erkenntnis! – Man muß Zyniker sein, um hier nicht verführt zu werden, man muß beißen können, um hier nicht anzubeten. Wohlan, alter Verführer! Der Zyniker warnt dich – cave canem ....“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 37

„In der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werte ist kein größerer Gegensatz aufzufinden als der einer Herren-Moral und der Moral der christlichen Wertbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen (– die Evangelien führen uns genau dieselben physiologischen Typen vor, welche die Romane Dostojewskis schildern), die Herren-Moral (»römisch«, »heidnisch«, »klassisch«, »Renaissance«) umgekehrt als die Zeichensprache der Wohlgeratenheit, des aufsteigenden Lebens, des Willens zur Macht als Prinzips des Lebens. Die Herren-Moral bejaht ebenso instinktiv, wie die christliche verneint (»Gott«, »Jenseits«, »Entselbstung« lauter Negationen). Die erstere gibt aus ihrer Fülle an die Dinge ab – sie verklärt, sie verschönt, sie vernünftigt die Welt –, die letztere verarmt, verblaßt, verhäßlicht den Wert der Dinge, sie verneint die Welt. »Welt« ein christliches Schimpfwort.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 44-45

„Diese Gegensatzformen in der Optik der Werte sind beide notwendig: es sind Arten zu sehen, denen man mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt das Christentum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. Daß man den Pessimismus wie eine Philosophie bekämpft hat, war der Gipfelpunkt des gelehrten Idiotentums. Die Begriffe »wahr« und »unwahr« haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn. – Wogegen man sich allein zu wehren hat, das ist die Falschheit, die Instinkt-Doppelzüngigkeit, welche diese Gegensätze nicht als Gegensätze empfinden will: wie es zum Beispiel Wagners Wille war, der in solchen Falschheiten keine kleine Meisterschaft hatte. Nach der Herren-Moral, der vornehmen Moral hinschielen (– die isländische Sage ist beinahe deren wichtigste Urkunde –) und dabei die Gegenlehre, die vom »Evangelium der Niedrigen«, vom Bedürfnis der Erlösung, im Munde führen!“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 45

„Das Bedürfnis nach Erlösung, der Inbegriff aller christlichen Bedürfnisse ... ist die ehrlichste Ausdrucksform der décadence, es ist das überzeugteste, schmerzhafteste Ja-sagen zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken. Der Christ will von sich loskommen .... – Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umgekehrt ihre Wurzel in einem triumphierenden Ja-sagen zu sich – sie ist Selbstbejahung, Selbstverherrlichung des Lebens ....“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 45-46

„Ich erinnere daran, wie der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks, wie Goethe das Kreuz empfand. Man sucht umsonst nach wertvolleren, nach notwendigeren Gegensätzen.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 46

Anmerkung. Über den Gegensatz »vornehme Moral« und »christliche Moral« unterrichtete zuerst meine »Genealogie der Moral«: es gibt vielleicht keine entscheidendere Wendung in der Geschichte der religiösen und moralischen Erkenntnis. Dies Buch, mein Prüfstein für das, was zu mir gehört, hat das Glück, nur den höchstgesinnten und strengsten Geistern zugänglich zu sein: dem Reste fehlen die Ohren dafür. Man muß seine Leidenschaft in Dingen haben, wo sie heute niemand hat.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 46

„Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 46

„Aber wir alle haben wider Wissen, wider Willen, Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe – wir sind, physiologisch betrachtet, falsch .... Eine Diagnostik der modernen Seele – womit begänne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werte, mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall.“
Ders., Der Fall Wagner, 1888, S. 47

„Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. »Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden«: das hat schon Pindar von uns gewußt. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes - unser Leben, unser Glück.« .... Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? – Der moderne Mensch etwa? »Ich weiß nicht aus, noch ein; ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß« – seufzt der moderne Mensch .... An dieser Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Kompromiß, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz ... des Herzens, die alles »verzeiht«, weil sie alles »begreift«.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611 bzw. 1165

„Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? - Alles was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? - Das Gefühl davon, daß die Macht wächst - daß ein Widerstand überwunden wird. Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht, nicht Friede überhaupt, sondern Krieg, nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend). Die Schwachen und Mißratenen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher als irgend ein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratenen und Schwachen - das Christentum ....“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611-612 bzw. 1165-1166

„Nicht, was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem, das ich hiermit stelle (- der Mensch ist ein Ende -): sondern welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren. Dieser höherwertige Typus ist oft schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; - und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, - der Christ ....“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611-612 bzw. 1165-1166

„Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der »Fortschritt« ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgendwelcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166

„In einem andern Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus, mit denen in der Tat sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166

„Man soll das Christentum nicht schmücken und herausputzen: es hat einen Todkrieg gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann getan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestilliert – der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der »verworfene Mensch«. Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte. Das jammervollste Beispiel: die Verderbnis Pascals, der an die Verderbnis seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Christentum verdorben war!“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167

„Es ist ein schmerzliches, ein schauerliches Schauspiel, das mir aufgegangen ist: ich zog den Vorhang weg von der Verdorbenheit des Menschen. Dies Wort, in meinem Munde, ist wenigstens gegen einen Verdacht geschützt: daß es eine moralische Anklage des Menschen enthält. Es ist – ich möchte es nochmals unterstreichen – moralinfrei gemeint: und dies bis zu dem Grade, daß jene Verdorbenheit gerade dort von mir am stärksten empfunden wird, wo man bisher am bewußtesten zur »Tugend«, zur »Göttlichkeit« aspirierte. Ich verstehe Verdorbenheit, man errät es bereits, im Sinne von décadence: meine Behauptung ist, daß alle Werte, in denen jetzt die Menschheit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfaßt, décadence-Werte sind.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167

„Ich nenne ein Tier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachteilig ist. Eine Geschichte der »höheren Gefühle«, der »Ideale der Menschheit« – und es ist möglich, daß ich sie erzählen muß – wäre beinahe auch die Erklärung dafür, weshalb der Mensch so verdorben ist.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167

„Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachstum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, gibt es Niedergang. Meine Behauptung ist, daß allen obersten Werten der Menschheit dieser Wille fehlt – daß Niedergangs-Werte, nihilistische Werte unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613-614 bzw. 1167-1168

„Das Mitleiden kreuzt im ganzen großen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist, es wehrt sich zugunsten der Enterbten und Verurteilten des Lebens, es gibt durch die Fülle des Mißratenen aller Art, das es im Leben festhält, dem Leben selbst einen düsteren und fragwürdigen Aspekt.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614 bzw. 1168

„Man hat gewagt, das Mitleiden eine Tugend zu nennen (– in jeder vornehmen Moral gilt es als Schwäche –); man ist weitergegangen, man hat aus ihm die Tugend, den Boden und Ursprung aller Tugenden gemacht – nur freilich, was man stets im Auge behalten muß, vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus, welche nihilistisch war, welche die Verneinung des Lebens auf ihr Schild schrieb.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614 bzw. 1168

„Schopenhauer war in seinem Recht damit: durch das Mitleid wird das Leben verneint, verneinungswürdiger gemacht – Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus. Nochmals gesagt: dieser depressive und kontagiöse Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung und Wert-Erhöhung des Lebens aus sind: er ist eben so als Multiplikator des Elends wie als Konservator alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung der décadence – Mitleiden überredet zum Nichts! .... Man sagt nicht »Nichts«: man sagt dafür »Jenseits«: oder »Gott«; oder »das wahre Leben«; oder Nirwana, Erlösung, Seligkeit .... Diese unschuldige Rhetorik aus dem Reich der religiös-moralischen Idiosynkrasie erscheint sofort viel weniger unschuldig, wenn man begreift, welche Tendenz hier den Mantel sublimer Worte um sich schlägt: die lebensfeindliche Tendenz.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614-615 bzw. 1168-1169

„Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend .... Aristoteles sah, wie man weiß, im Mitleiden einen krankhaften und gefährlichen Zustand, dem man gut täte, hier und da durch ein Purgativ beizukommen: er verstand die Tragödie als Purgativ. Vom Instinkte des Lebens aus müßte man in der Tat nach einem Mittel suchen, einer solchen krankhaften und gefährlichen Häufung des Mitleids, wie sie der Fall Schopenhauers (und leider auch unsre gesamte literarische und artistische décadence von St. Petersburg bis Paris, von Tolstoi bis Wagner) darstellt, einen Stich zu versetzen: damit sie platzt .... Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer!“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 615 bzw. 1169

„Wir leiten den Menschen nicht mehr vom »Geist«, von der »Gottheit« ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns andrerseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte: wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der tierischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: ...: der Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte – freilich, mit alledem, auch das interessanteste!“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 620 bzw. 1174

„Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgendeinem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (»Gott«, »Seele«, »Ich«, »Geist«, »der freie Wille« – oder auch »der unfreie«): lauter imaginäre Wirkungen (»Sünde«, »Erlösung«, »Gnade«, »Strafe«, »Vergebung der Sünde«). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen (»Gott«, »Geister«, »Seelen«); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen); eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Mißverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus, mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie – »Reue«, »Gewissensbiß«, »Versuchung des Teufels«, »die Nähe Gottes«); eine imaginäre Teleologie (»das Reich Gottes«, »das Jüngste Gericht«, »das ewige Leben«).“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 621 bzw. 1175

„Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, – es projiziert seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern .... Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. – Ein solcher Gott muß nützen und schaden können, muß Freund und Feind sein können – man bewundert ihn im Guten wie im Schlimmen.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176

„Die widernatürliche Kastration eines Gottes zu einem Gotte bloß des Guten läge hier außerhalb aller Wünschbarkeit. Man hat den bösen Gott so nötig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit .... Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? – Freilich: wenn ein Volk zugrunde geht; wenn es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten, dann muß sich auch sein Gott verändern. Er wird jetzt Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, rät zum »Frieden der Seele«, zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht, zur »Liebe« selbst gegen Freund und Feind. Er moralisiert beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit .... Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176

„In der Tat, es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein –, oder aber die Ohnmacht zur Macht – und dann werden sie notwendig gut.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176

„Wo in irgendwelcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedesmal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichsten Tugenden und Trieben, wird nunmehr notwendig zum Gott der Physiologisch-Zurückgezogenen, der Schwachen. Sie heißen sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich »die Guten«.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 623 bzw. 1177

Verfall eines Gottes: Gott ward »Ding an sich«“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 624 bzw. 1178

„Mit meiner Verurteilung des Christentums möchte ich kein Unrecht gegen eine verwandte Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt: gegen den Buddhismus. Beide gehören als nihilistische Religionen zusammen – sie sind décadence-Religionen –, beide sind voneinander in der merkwürdigsten Weise getrennt. Daß man sie jetzt vergleichen kann, dafür ist der Kritiker des Christentums den indischen Gelehrten tief dankbar. – Der Buddhismus ist hundertmal realistischer als das Christentum – er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung; der Begriff »Gott« ist bereits abgetan, als er kommt. Der Buddhismus ist die einzige eigentlich positivistische Religion, die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnistheorie (einem strengen Phänomenalismus –), er sagt nicht mehr »Kampf gegen die Sünde«, sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, »Kampf gegen das Leiden«. Er hat – dies unterscheidet ihn tief vom Christentum – die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich, – er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von Gut und Böse.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 625 bzw. 1179

„Die physiologischen Tatsachen, auf denen er ruht und die er ins Auge faßt, sind: einmal eine übergroße Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich als raffinierte Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein allzulanges Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der Person-Instinkt zum Vorteil des »Unpersönlichen« Schaden genommen hat (– beides Zustände, die wenigstens einige meiner Leser, die »Objektiven«, gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen weiden). Auf Grund dieser physiologischen Bedingungen ist eine Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben; die Mäßigung und die Wahl in der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge, weder für sich, noch für andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder Ruhe geben oder erheitern – er erfindet Mittel, die anderen sich abzugewöhnen. Er versteht die Güte, das Gütigsein als gesundheit-fördernd. Gebet ist ausgeschlossen, ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ, kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft (– man kann wieder hinaus –).“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 625-626 bzw. 1179-1180

„Das alles wären Mittel, um jene übergroße Reizbarkeit zu verstärken. Eben darum fordert er auch keinen Kampf gegen Andersdenkende; seine Lehre wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, der Abneigung, des ressentiment (– »nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende«: der rührende Refrain des ganzen Buddhismus...). Und das mit Recht: gerade diese Affekte wären vollkommen ungesund in Hinsicht auf die diätetische Hauptabsicht. Die geistige Ermüdung, die er vorfindet und die sich in einer allzugroßen »Objektivität« (das heißt Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht, an »Egoismus«) ausdrückt, bekämpft er mit einer strengen Zurückführung auch der geistigsten Interessen auf die Person. In der Lehre Buddhas wird der Egoismus Pflicht: das »eins ist not«, das »wie kommst du vom Leiden los« reguliert und begrenzt die ganze geistige Diät (– man darf sich vielleicht an jenen Athener erinnern, der der reinen »Wissenschaftlichkeit« gleichfalls den Krieg machte, an Sokrates, der den Personal-Egoismus auch im Reich der Probleme zur Moral erhob).“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 626 bzw. 1180

„Das Christentum will über Raubtiere Herr werden; sein Mittel ist, sie krank zu machen – die Schwächung ist das christliche Rezept zur Zähmung, zur »Zivilisation«. Der Buddhismus ist eine Religion für den Schluß und die Müdigkeit der Zivilisation, das Christentum findet sie noch nicht einmal vor – es begründet sie unter Umständen.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 628 bzw. 1182

Was ist jüdische, was ist christliche Moral? Der Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit dem Begriff »Sünde« beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als »Versuchung«; das physiologische Übelbefinden mit dem Gewissens-Wurm vergiftet.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 632 bzw. 1186

„Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht – die jüdische Priesterschaft blieb dabei nicht stehn. Man konnte die ganze Geschichte Israels nicht brauchen: fort mit ihr! – Diese Priester haben jenes Wunderwerk von Fälschung zustande gebracht, als deren Dokumente uns ein guter Teil der Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohnegleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität, ins Religiöse übersetzt, das heißt, aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn gemacht. Wir würden diesen schmachvollsten Akt der Geschichts-Fälschung viel schmerzhafter empfinden, wenn uns nicht die kirchliche Geschichts- Interpretation von Jahrtausenden fast stumpf für die Forderungen der Rechtschaffenheit in historicis gemacht hätte. Und der Kirche sekundierten die Philosophen: die Lüge der »sittlichen Weltordnung« geht durch die ganze Entwicklung selbst der neueren Philosophie. .... Die Realität an Stelle dieser erbarmungswürdigen Lüge heißt: eine parasitische Art Mensch, die nur auf Kosten aller gesunden Bildungen des Lebens gedeiht, der Priester, mißbraucht den Namen Gottes: er nennt einen Zustand der Gesellschaft, in dem der Priester den Wert der Dinge bestimmt, »das Reich Gottes«; er nennt die Mittel, vermöge deren ein solcher Zustand erreicht oder aufrechterhalten wird, »den Willen Gottes«; er mißt, mit einem kaltblütigen Zynismus, die Völker, die Zeiten, die Einzelnen danach ab, ob sie der Priester-Übermacht nützten oder widerstrebten.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 632-633 bzw. 1186-1187

„Von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet, daß der Priester überall unentbehrlich ist; in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar nicht vom »Opfer« (der Mahlzeit) zu reden, erscheint der heilige Parasit, um sie zu entnatürlichen – in seiner Sprache: zu »heiligen« .... Denn dies muß man begreifen: jede natürliche Sitte, jede natürliche Institution (Staat, Gerichtsordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege), jede vom Instinkt des Lebens eingegebne Forderung, kurz alles, was seinen Wert in sich hat, wird durch den Parasitismus des Priesters (oder der »sittlichen Weltordnung«) grundsätzlich wertlos, wert-widrig gemacht: es bedarf nachträglich einer Sanktion – eine wertverleihende Macht tut not, welche die Natur darin verneint, welche eben damit erst einen Wert schafft .... Der Priester entwertet, entheiligt die Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt. – Der Ungehorsam gegen Gott, das heißt gegen den Priester, gegen »das Gesetz«, bekommt nun den Namen »Sünde«; die Mittel, sich wieder »mit Gott zu versöhnen«, sind, wie billig, Mittel, mit denen die Unterwerfung unter den Priester nur noch gründlicher gewährleistet ist: der Priester allein »erlöst« .... Psychologisch nachgerechnet, werden in jeder priesterlich organisierten Gesellschaft die »Sünden« unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt von den Sünden, er hat nötig, daß »gesündigt« wird .... Oberster Satz: »Gott vergibt dem, der Buße tut« – auf deutsch: der sich dem Priester unterwirft.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 634 bzw. 1188

„Auf einem dergestalt falschen Boden, wo jede Natur, jeder Naturwert, jede Realität die tiefsten Instinkte der herrschenden Klasse wider sich hatte, wuchs das Christentum auf, eine Todfeindschafts-Form gegen die Realität, die bisher nicht übertroffen worden ist. Das »heilige Volk«, das für alle Dinge nur Priester-Werte, nur Priester-Worte übrig behalten hatte und mit einer Schluß-Folgerichtigkeit, die Furcht einflößen kann, alles, was sonst noch an Macht auf Erden bestand, als »unheilig«, als »Welt«, als »Sünde« von sich abgetrennt hatte – dies Volk brachte für seinen Instinkt eine letzte Formel hervor, die logisch war bis zur Selbstverneinung: es verneinte, als Christentum, noch die letzte Form der Realität, das »heilige Volk«, das »Volk der Ausgewählten«, die jüdische Realität selbst. Der Fall ist ersten Rangs: die kleine aufständische Bewegung, die auf den Namen des Jesus von Nazareth getauft wird, ist der jüdische Instinkt noch einmal – anders gesagt, der Priester-Instinkt, der den Priester als Realität nicht mehr verträgt, die Erfindung einer noch abgezogneren Daseinsform, einer noch unrealeren Vision der Welt ....“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 634-635 bzw. 1188-1189

„Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßnen und »Sünder«, die Tschandala innerhalb des Judentums zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief – mit einer Sprache, falls den Evangelien zu trauen wäre, die auch heute noch nach Sibirien führen würde, war ein politischer Verbrecher, so weit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen Gemeinschaft möglich waren. Dies brachte ihn ans Kreuz: der Beweis dafür ist die Aufschrift des Kreuzes. Er starb für seine Schuld – es fehlt jeder Grund dafür, so oft es auch behauptet worden ist, daß er für die Schuld andrer starb.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 635 bzw. 1189

Der Instinkt-Haß gegen die Realität .... Die Instinkt-Ausschließung aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen im Gefühl .... Dies sind die zwei physiologischen Realitäten, auf denen, aus denen die Erlösungs-Lehre gewachsen ist.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 637-638 bzw. 1191-1192

„Der eine Gott und der eine Sohn Gottes: beides Erzeugnisse des Ressentiment.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 650 bzw. 1204

„Der Buddhismus verspricht nicht, sondern hält, das Christentum verspricht alles, aber hält nichts.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 649-650 bzw. 1203-204

„Der »frohen Botschaft« folgte auf dem Fuß die allerschlimmste: die des Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum »frohen Botschafter«, das Genie im Haß, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist alles dem Hasse zum Opfer gebracht! Vor allem den Erlöser: er schlug ihn an sein Kreuz.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 650 bzw. 1204

„Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins »Jenseits« verlegt – ins Nichts –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte – alles, was wohltätig, was lebenfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Mißtrauen. So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum »Sinn« des Lebens. Wozu Gemeinsinn, wozu Dankbarkeit noch für Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen, irgendein Gesamtwohl fördern und im Auge haben? Ebenso viele »Versuchungen«, ebenso viele Ablenkungen vom »rechten Weg« – »eins ist not«. Daß jeder als »unsterbliche Seele« mit jedem gleichen Rang hat, daß in der Gesamtheit aller Wesen das »Heil« jedes Einzelnen eine ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf, daß kleine Mucker und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, daß um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden – eine solche Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. Und doch verdankt das Christentum dieser erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg – gerade alles Mißratene, Aufständisch-Gesinnte, Schlechtweg-gekommne, den ganzen Auswurf und Abhub der Menschheit hat es damit zu sich überredet. Das »Heil der Seele« – auf deutsch: »die Welt dreht sich um mich« .... Das Gift der Lehre »gleiche Rechte für alle« – das Christentum hat es am grundsätzlichsten ausgesät; das Christentum hat jedem Ehrfurchts-und Distanz-Gefühl zwischen Mensch und Mensch, das heißt der Voraussetzung zu jeder Erhöhung, zu jedem Wachstum der Kultur einen Todkrieg aus den heimlichsten Winkeln schlechter Instinkte gemacht – es hat aus dem Ressentiment der Massen sich seine Hauptwaffe geschmiedet gegen uns, gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden. Die »Unsterblichkeit« jedem Petrus und Paulus zugestanden, war bisher das größte, das bösartigste Attentat auf die vornehme Menschlichkeit.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 651 bzw. 1205

Und unterschätzen wir das Verhängnis nicht, das vom Christentum aus sich bis in die Politik eingeschlichen hat! Niemand hat heute mehr den Mut zu Sonderrechten, zu Herrschaftsrechten, zu einem Ehrfurchtsgefühl vor sich und seinesgleichen – zu einem Pathos der Distanz. Unsre Politik ist krank an diesem Mangel an Mut! – Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das »Vorrecht der Meisten« Revolutionen macht und machen wird – das Christentum ist es, man zweifle nicht daran, christliche Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt! Das Christentum ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat: das Evangelium der »Niedrigen« macht niedrig.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 651-652 bzw. 1205-1206

„Die Evangelien sind unschätzbar als Zeugnis für die bereits unaufhaltsame Korruption innerhalb der ersten Gemeinde.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 652 bzw. 1206

„Der Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal – dreimal selbst.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 652 bzw. 1206

„Indem sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selber ....“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 653 bzw. 1207

„Man lese die Evangelien als Bücher der Verführung mit Moral: die Moral wird von diesen kleinen Leuten mit Beschlag belegt – sie wissen, was es auf sich hat mit der Moral! Die Menschheit wird am besten genasführt mit der Moral!“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 653 bzw. 1207

„Paulus war der größte aller Apostel der Rache.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 655 bzw. 1209

„Hat man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht – von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft? Man hat sie nicht verstanden. Dies Priesterbuch par excellence beginnt, wie billig, mit der großen inneren Schwierigkeit des Priesters: er hat nur eine große Gefahr, folglich hat »Gott« nur eine große Gefahr.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 658 bzw. 1212

„Der alte Gott, ganz »Geist«, ganz Hoherpriester, ganz Vollkommenheit, lustwandelt in seinen Gärten: nur daß er sich langweilt. Gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens. Was tut er? Er erfindet den Menschen – der Mensch ist unterhaltend. Aber siehe da, auch der Mensch langweilt sich. Das Erbarmen Gottes mit der einzigen Not, die alle Paradiese an sich haben, kennt keine Grenzen: er schuf alsbald noch andre Tiere. Erster Fehlgriff Gottes: der Mensch fand die Tiere nicht unterhaltend – er herrschte über sie, er wollte nicht einmal »Tier« sein. – Folglich schuf Gott das Weib. Und in der Tat, mit der Langeweile hatte es nun ein Ende – aber auch mit anderem noch! Das Weib war der zweite Fehlgriff Gottes. – »Das Weib ist seinem Wesen nach Schlange, Heva« – das weiß jeder Priester; »vom Weib kommt jedes Unheil in der Welt« – das weiß ebenfalls jeder Priester. »Folglich kommt von ihm auch die Wissenschaft«. .... Erst durch das Weib lernte der Mensch vom Baume der Erkenntnis kosten. – Was war geschehn? Den alten Gott ergriff eine Höllenangst. Der Mensch selbst war sein größter Fehlgriff geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht gottgleich, – es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird! – Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene an sich – sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. – »Du sollst nicht erkennen« – der Rest folgt daraus.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 658-659 bzw. 1212-1213

„Die Höllenangst Gottes verhinderte ihn nicht, klug zu sein. Wie wehrt man sich gegen die Wissenschaft? das wurde für lange sein Hauptproblem. Antwort: fort mit dem Menschen aus dem Paradiese! Das Glück, der Müßiggang bringt auf Gedanken – alle Gedanken sind schlechte Gedanken. Der Mensch soll nicht denken. – Und der »Priester an sich« erfindet die Not, den Tod, die Lebensgefahr der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal, die Krankheit vor allem – lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft! Die Not erlaubt dem Menschen nicht, zu denken. Und trotzdem! entsetzlich! Das Werk der Erkenntnis türmt sich auf, himmelstürmend, götterandämmernd – was tun! – Der alte Gott erfindet den Krieg, er trennt die Völker, er macht, daß die Menschen sich gegenseitig vernichten (– die Priester haben immer den Krieg nötig gehabt ...). Der Krieg – unter anderem ein großer Störenfried der Wissenschaft! – Unglaublich! Die Erkenntnis, die Emanzipation vom Priester, nimmt selbst trotz Kriegen zu. – Und ein letzter Entschluß kommt dem alten Gotte: »der Mensch ward wissenschaftlich – es hilft nichts, man muß ihn ersäufen!«“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 659-660 bzw. 1213-1214

„Man hat mich verstanden. Der Anfang der Bibel enthält die ganze Psychologie des Priesters. – Der Priester kennt nur eine große Gefahr: das ist die Wissenschaft – der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung. Aber die Wissenschaft gedeiht im ganzen nur unter glücklichen Verhältnissen – man muß Zeit, man muß Geist überflüssig haben, um zu »erkennen«. »Folglich muß man den Menschen unglücklich machen« – dies war zu jeder Zeit die Logik des Priesters. – Man errät bereits, was, dieser Logik gemäß, damit erst in die Welt gekommen ist – die »Sünde«. Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze »sittliche Weltordnung« ist erfunden gegen die Wissenschaft – gegen die Ablösung des Menschen vom Priester. Der Mensch soll nicht hinaus-, er soll in sich hineinsehn; er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden. Und er soll so leiden, daß er jederzeit den Priester nötig hat.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 660 bzw. 1214

„Das Christentum steht auch im Gegensatz zu aller geistigen Wohlgeratenheit – es kann nur die kranke Vernunft als christliche Vernunft brauchen, es nimmt die Partei alles Idiotischen, es spricht den Fluch aus gegen den »Geist«, gegen die superbia des gesunden Geistes. Weil die Krankheit zum Wesen des Christentums gehört, muß auch der typisch-christliche Zustand, »der Glaube«, eine Krankheitsform sein, müssen alle geraden, rechtschaffnen, wissenschaftlichen Wege zur Erkenntnis von der Kirche als verbotene Wege abgelehnt werden. Der Zweifel bereits ist eine Sünde .... Der vollkommne Mangel an psychologischer Reinlichkeit beim Priester – im Blick sich verratend – ist eine Folgeerscheinung der décadence – man hat die hysterischen Frauenzimmer, andrerseits rachitisch angelegte Kinder darauf hin zu beobachten, wie regelmäßig Falschheit aus Instinkt, Lust zu lügen, um zu lügen, Unfähigkeit zu geraden Blicken und Schritten der Ausdruck von décadence ist. »Glaube« heißt Nicht-wissen-wollen, was wahr ist. Der Pietist, der Priester beiderlei Geschlechts, ist falsch, weil er krank ist: sein Instinkt verlangt, daß die Wahrheit an keinem Punkt zu Rechte kommt. »Was krank macht, ist gut; was aus der Fülle, aus dem Überfluß, aus der Macht kommt, ist böse«: so empfindet der Gläubige. Die Unfreiheit zur Lüge – daran errate ich jeden vorherbestimmten Theologen.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 664 bzw. 1218

„Man lasse sich nicht irreführen: große Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch Skepsis.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 666-667 bzw. 1220-1221

„Ein Geist, der Großes will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Notwendigkeit Skeptiker. Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blicken-können. Die große Leidenschaft, der Grund und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter, noch despotischer, als er selbst es ist, nimmt seinen ganzen Intellekt in Dienst; sie macht unbedenklich; sie gibt ihm Mut sogar zu unheiligen Mitteln; sie gönnt ihm unter Umständen Überzeugungen. Die Überzeugung als Mittel: vieles erreicht man nur mittelst einer Überzeugung. Die große Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht – sie weiß sich souverän. – Umgekehrt: das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies Wort nachsehn will, ist ein Bedürfnis der Schwäche. Der Mensch des Glaubens, der »Gläubige« jeder Art ist notwendig ein abhängiger Mensch – ein solcher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt nicht Zwecke ansetzen kann. Der »Gläubige« gehört sich nicht, er kann nur Mittel sein, er muß verbraucht werden, er hat jemand nötig, der ihn verbraucht. Sein Instinkt gibt einer Moral der Entselbstung die höchste Ehre: zu ihr überredet ihn alles, seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung. Erwägt man, wie notwendig den allermeisten ein Regulativ ist, das sie von außen her bindet und fest macht, wie der Zwang, in einem höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist, unter der der willensschwächere Mensch, zumal das Weib, gedeiht: so versteht man auch die Überzeugung, den »Glauben«. Der Mensch der Überzeugung hat in ihr sein Rückgrat. Viele Dinge nicht sehn, in keinem Punkte unbefangen sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und notwendige Optik in allen Werten haben – das allein bedingt es, daß eine solche Art Mensch überhaupt besteht. Aber damit ist sie der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen – der Wahrheit .... Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die Frage »wahr« und »unwahr« überhaupt ein Gewissen zu haben: rechtschaffen sein an dieser Stelle wäre sofort sein Untergang. Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den Fanatiker – Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon –, den Gegensatz-Typus des starken, des freigewordnen Geistes. Aber die große Attitüde dieser kranken Geister, dieser Epileptiker des Begriffs, wirkt auf die große Masse – die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit sieht Gebärden lieber, als daß sie Gründe hört.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 667-668 bzw. 1221-1222

„Einen Schritt weiter in der Psychologie der Überzeugung, des »Glaubens«. Es ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen (Menschliches, Allzumenschliches I, Aphorismus 54 und 483). Diesmal möchte ich die entscheidende Frage tun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein Gegensatz? – Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt! – Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Vorformen, ihre Tentativen und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem sie es lange nicht ist, nachdem sie es noch länger kaum ist. Wie? könnte unter diesen Embryonal-Formen der Überzeugung nicht auch die Lüge sein? – Mitunter bedarf es bloß eines Personen-Wechsels: im Sohn wird Überzeugung, was im Vater noch Lüge war. – Ich nenne Lüge: etwas nicht sehn wollen, das man sieht, etwas nicht so sehn wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statthat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen andrer ist relativ der Ausnahmefall. – Nun ist dies Nicht-sehn-wollen, was man sieht, dies Nicht-so-sehn-wollen, wie man es sieht, beinahe die erste Bedingung für alle, die Partei sind, in irgendwelchem Sinne: der Parteimensch wird mit Notwendigkeit Lügner.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 668 bzw. 1222

„Darf man sich noch darüber wundern, wenn, aus Instinkt, alle Parteien, auch die deutschen Historiker, die großen Worte der Moral im Munde haben – daß die Moral beinahe dadurch fortbesteht, daß der Parteimensch jeder Art jeden Augenblick sie nötig hat?“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 668-669 bzw. 1222-1223

„Es gibt Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit dem Menschen die Entscheidung nicht zusteht; alle obersten Fragen, alle obersten Wert-Probleme sind jenseits der menschlichen Vernunft .... Die Grenzen der Vernunft begreifen – das erst ist wahrhaft Philosophie.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 669 bzw. 1223

„Der Mensch kann von sich nicht selber wissen, was gut und böse ist, darum lehrte ihn Gott seinen Willen. Moral: der Priester lügt nicht – die Frage »wahr« oder »unwahr« gibt es nicht in solchen Dingen, von denen Priester reden; diese Dinge erlauben gar nicht zu lügen. Denn um zu lügen, müßte man entscheiden können, was hier wahr ist. Aber das kann eben der Mensch nicht; der Priester ist damit nur das Mundstück Gottes. – Ein solcher Priester-Syllogismus ist durchaus nicht bloß jüdisch und christlich; das Recht zur Lüge und die Klugheit der »Offenbarung« gehört dem Typus Priester an, den décadence-Priestern so gut als den Heidentum-Priestern (– Heiden sind alle, die zum Leben ja sagen, denen »Gott« das Wort für das große Ja zu allen Dingen ist). – Das »Gesetz«, der »Wille Gottes«, das »heilige Buch«, die »Inspiration« – alles nur Worte für die Bedingungen, unter denen der Priester zur Macht kommt, mit denen er seine Macht aufrecht erhält – diese Begriffe finden sich auf dem Grunde aller Priester-Organisationen, aller priesterlichen oder philosophisch- priesterlichen Herrschaftsgebilde. Die »heilige Lüge«- dem Konfuzius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Mohammed, der christlichen Kirche gemeinsam –: sie fehlt nicht bei Plato. »Die Wahrheit ist da«: dies bedeutet, wo nur es laut wird, der Priester lügt.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 669-670 bzw. 1223-1224

„Ich lese mit einem entgegengesetzten Gefühle das Gesetzbuch des Manu, ein unvergleichlich geistiges und überlegenes Werk, das mit der Bibel auch nur in einem Atem nennen eine Sünde wider den Geist wäre. Man errät sofort: es hat eine wirkliche Philosophie hinter sich, in sich, nicht bloß ein übelriechendes Judain von Rabbinismus und Aberglauben ....“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 670 bzw. 1224

„Man ertappt die Unheiligkeit der christlichen Mittel in flagranti, wenn man den christlichen Zweck einmal an dem Zweck des Manu-Gesetzbuches mißt – wenn man diesen größten Zweck-Gegensatz unter starkes Licht bringt. Es bleibt dem Kritiker des Christentums nicht erspart, das Christentum verächtlich zu machen. – Ein solches Gesetzbuch, wie das des Manu, entsteht wie jedes gute Gesetzbuch: es resümiert die Erfahrung, Klugheit und Experimental-Moral von langen Jahrhunderten, es schließt ab, es schafft nichts mehr. Die Voraussetzung zu einer Kodifikation seiner Art ist die Einsicht, daß die Mittel einer langsam und kostspielig erworbenen Wahrheit Autorität zu schaffen, grundverschieden von denen sind, mit denen man sie beweisen würde. Ein Gesetzbuch erzählt niemals den Nutzen, die Gründe, die Kasuistik in der Vorgeschichte eines Gesetzes: eben damit würde es den imperativischen Ton einbüßen, das »du sollst«, die Voraussetzung dafür, daß gehorcht wird. Das Problem liegt genau hierin. – An einem gewissen Punkte der Entwicklung eines Volks erklärt die einsichtigste, das heißt rück- und hinausblickendste Schicht desselben, die Erfahrung, nach der gelebt werden soll – das heißt kann –, für abgeschlossen. Ihr Ziel geht dahin, die Ernte möglichst reich und vollständig von den Zeiten des Experiments und der schlimmen Erfahrung heimzubringen. Was folglich vor allem jetzt zu verhüten ist, das ist das Noch-Fort-Experimentieren, die Fortdauer des flüssigen Zustands der Werte, das Prüfen, Wählen, Kritik-Üben der Werte in infinitum.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 671 bzw. 1225

„Ein Gesetzbuch nach Art des Manu aufstellen, heißt einem Volke fürderhin zugestehn, Meister zu werden, vollkommen zu werden – die höchste Kunst des Lebens zu ambitionieren. Dazu muß es unbewußt gemacht werden: dies der Zweck jeder heiligen Lüge. – Die Ordnung der Kasten, das oberste, das dominierende Gesetz, ist nur die Sanktion einer Natur-Ordnung, Natur-Gesetzlichkeit ersten Ranges, über die keine Willkür, keine »moderne Idee« Gewalt hat.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 672 bzw. 1226

„Es treten in jeder gesunden Gesellschaft, sich gegenseitig bedingend, drei physiologisch verschieden-gravitierende Typen auseinander, von denen jeder seine eigne Hygiene, sein eignes Reich von Arbeit, seine eigne Art Vollkommenheits-Gefühl und Meisterschaft hat. Die Natur, nicht Manu, trennt die vorwiegend Geistigen, die vorwiegend Muskel- und Temperaments-Starken und die weder im einen, noch im andern ausgezeichneten dritten, die Mittelmäßigen, voneinander ab – die letzteren als die große Zahl, die ersteren als die Auswahl. Die oberste Kaste – ich nenne sie die Wenigsten – hat als die vollkommne auch die Vorrechte der wenigsten: dazu gehört es, das Glück, die Schönheit, die Güte auf Erden darzustellen. Nur die geistigsten Menschen haben die Erlaubnis zur Schönheit, zum Schönen: nur bei ihnen ist Güte nicht Schwäche. Pulchrum est paucorum bominum: das Gute ist ein Vorrecht. Nichts kann ihnen dagegen weniger zugestanden werden als häßliche Manieren oder ein pessimistischer Blick, ein Auge, das verhäßlicht –, oder gar eine Entrüstung über den Gesamt-Aspekt der Dinge. Die Entrüstung ist das Vorrecht der Tschandala; der Pessimismus desgleichen. »Die Welt ist vollkommen« – so redet der Instinkt der Geistigsten, der jasagende Instinkt –: »die Unvollkommenheit, das Unter-uns jeder Art, die Distanz, das Pathos der Distanz, der Tschandala selbst gehört noch zu dieser Vollkommenheit.« Die geistigsten Menschen, als die Stärksten, finden ihr Glück, worin andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth, in der Härte gegen sich und andre, im Versuch; ihre Lust ist die Selbstbezwingung: der Asketismus wird bei ihnen Natur, Bedürfnis, Instinkt. Die schwere Aufgabe gilt ihnen als Vorrecht; mit Lasten zu spielen, die andre erdrücken, eine Erholung. Erkenntnis – eine Form des Asketismus. – Sie sind die ehrwürdigste Art Mensch: das schließt nicht aus, daß sie die heiterste, die liebenswürdigste sind. Sie herrschen, nicht weil sie wollen, sondern weil sie sind; es steht ihnen nicht frei, die zweiten zu sein. – Die zweiten: das sind die Wächter des Rechts, die Pfleger der Ordnung und der Sicherheit, das sind die vornehmen Krieger, das ist der König vor allem als die höchste Formel von Krieger, Richter und Aufrechterhalter des Gesetzes. Die zweiten sind die Exekutive der Geistigsten, das Nächste, was zu ihnen gehört, das was ihnen alles Grobe in der Arbeit des Herrschens abnimmt – ihr Gefolge, ihre rechte Hand, ihre beste Schüleschaft. – In dem allem, nochmals gesagt, ist nichts von Willkür, nichts »gemacht«; was anders ist, ist gemacht – die Natur ist dann zuschanden gemacht.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 672-673 bzw. 1226-1227

„Die Ordnung der Kasten, die Rangordnung, formuliert nur das oberste Gesetz des Lebens selbst; die Abscheidung der drei Typen ist nötig zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Ermöglichung höherer und höchster Typen – die Ungleichheit der Rechte ist erst die Bedingung dafür, daß es überhaupt Rechte gibt. – Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen wir die Vorrechte der Mittelmäßigen nicht. Das Leben nach der Höhe zu wird immer härter – die Kälte nimmt zu, die Verantwortlichkeit nimmt zu.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 673 bzw. 1227

„Eine hohe Kultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zu allererst eine stark und gesund konsolidierte Mittelmäßigkeit zur Voraussetzung. Das Handwerk, der Handel, Ackerbau, die Wissenschaft, der größte Teil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufstätigkeit mit einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaß im Können und Begehren; dergleichen wäre deplaziert unter Ausnahmen, der dazugehörige Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 673-674 bzw. 1227-1228

„Daß man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu gibt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren die allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen. Für den Mittelmäßigen ist mittelmäßig sein ein Glück; die Meisterschaft in einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt. Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die erste Notwendigkeit dafür, daß es Ausnahmen geben darf: eine hohe Kultur ist durch sie bedingt. Wenn der Ausnahme-Mensch gerade die Mittelmäßigen mit zarteren Fingern handhabt, als sich und seinesgleichen, so ist dies nicht bloß Höflichkeit des Herzens – es ist einfach seine Pflicht.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228

„Wen hasse ich unter dem Gesindel von Heute am besten? Das Sozialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben – die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren .... Das Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es liegt im Anspruch auf »gleiche« Rechte. Was ist schlecht? Aber ich sagte es schon: alles, was aus Schwäche, aus Neid, aus Rache stammt. – Der Anarchist und der Christ sind einer Herkunft.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228

„In der Tat, es macht einen Unterschied, zu welchem Zweck man lügt: ob man damit erhält oder zerstört. Man darf zwischen Christ und Anarchist eine vollkommne Gleichung aufstellen: ihr Zweck, ihr Instinkt geht nur auf Zerstörung.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228

„Der Christ und der Anarchist: beide décadents, beide unfähig, anders als auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken, beide der Instinkt des Todhasses gegen alles, was steht, was groß dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht. Das Christentum war der Vampyr des Imperium Romanum – es hat die ungeheure Tat der Römer, den Boden für eine große Kultur zu gewinnen, die Zeit hat, über Nacht ungetan gemacht. – Versteht man es immer noch nicht? Das Imperium Romanum, das wir kennen, das uns die Geschichte der römischen Provinz immer besser kennen lehrt, dies bewunderungswürdigste Kunstwerk des großen Stils, war ein Anfang, sein Bau war berechnet, sich mit Jahrtausenden zu beweisen – es ist bis heute nie so gebaut, nie auch nur geträumt worden, in gleichem Maße sub specie aeterni zu bauen! – Diese Organisation war fest genug, schlechte Kaiser auszuhalten: der Zufall von Personen darf nichts in solchen Dingen zu tun haben – erstes Prinzip aller großen Architektur. Aber sie war nicht fest genug gegen die korrupteste Art Korruption, gegen den Christen. Dies heimliche Gewürm, das sich in Nacht, Nebel und Zweideutigkeit an alle Einzelnen heranschlich und jedem einzelnen den Ernst für wahre Dinge, den Instinkt überhaupt für Realitäten aussog, diese feige, femininische und zuckersüße Bande hat Schritt für Schritt die »Seelen« diesem ungeheuren Bau entfremdet – jene wertvollen, jene männlich-vornehmen Naturen, die in der Sache Roms ihre eigne Sache, ihren eignen Ernst, ihren eignen Stolz empfanden. Diese Mucker-Schleicherei, die Konventikel-Heimlichkeit, düstere Begriffe wie Hölle, wie Opfer des Unschuldigen, wie unio mystica im Bluttrinken, vor allem das langsam aufgeschürte Feuer der Rache, der Tschandala-Rache – das wurde Herr über Rom, dieselbe Art von Religion, der in ihrer Präexistenz-Form schon Epikur den Krieg gemacht hatte. Man lese Lukrez, um zu begreifen, was Epikur bekämpft hat, nicht das Heidentum, sondern »das Christentum«, will sagen die Verderbnis der Seelen durch den Schuld-, durch den Straf- und Unsterblichkeits-Begriff. – Er bekämpfte die unterirdischen Kulte, das ganze latente Christentum – die Unsterblichkeit zu leugnen war damals schon eine wirkliche Erlösung. – Und Epikur hätte gesiegt, jeder achtbare Geist im römischen Reich war Epikureer: da erschien Paulus. Paulus, der Fleisch-, der Genie-gewordne Tschandala-Haß gegen Rom, gegen »die Welt«, der Jude, der ewige Jude par excellence. Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektiererischen Christen-Bewegung abseits des Judentums einen »Weltbrand« entzünden könne, wie man mit dem Symbol »Gott am Kreuze« alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. »Das Heil kommt von den Juden.« – Das Christentum als Formel, um die unterirdischen Kulte aller Art, die des Osiris, der großen Mutter, des Mithras zum Beispiel, zu überbieten – und zu summieren: in dieser Einsicht besteht das Genie des Paulus. Sein Instinkt war darin so sicher, daß er die Vorstellungen, mit denen jene Tschandala-Religionen faszinierten, mit schonungsloser Gewalttätigkeit an der Wahrheit dem »Heilande« seiner Erfindung in den Mund legte, und nicht nur in den Mund – daß er aus ihm etwas machte, das auch ein Mithras-Priester verstehn konnte. Dies war sein Augenblick von Damaskus: er begriff, daß er den Unsterblichkeits-Glauben nötig hatte, um »die Welt« zu entwerten, daß der Begriff »Hölle« über Rom noch Herr wird – daß man mit dem »Jenseits« das Leben tötet. Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloß.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 675-676 bzw. 1229-1230

„Die ganze Arbeit der antiken Welt umsonst: ich habe kein Wort dafür, das mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt. – Und in Anbetracht, daß ihre Arbeit eine Vorarbeit war, daß eben erst der Unterbau zu einer Arbeit von Jahrtausenden mit granitnem Selbstbewußtsein gelegt war, der ganze Sinn der antiken Welt umsonst! Wozu Griechen? wozu Römer? – Alle Voraussetzungen zu einer gelehrten Kultur, alle wissenschaftlichen Methoden waren bereits da, man hatte die große, die unvergleichliche Kunst, gut zu lesen, bereits festgestellt – diese Voraussetzung zur Tradition der Kultur, zur Einheit der Wissenschaft; die Naturwissenschaft, im Bunde mit Mathematik und Mechanik, war auf dem allerbesten Wege – der Tatsachen-Sinn, der letzte und wertvollste aller Sinne, hatte seine Schulen, seine bereits Jahrhunderte alte Tradition! Versteht man das? Alles Wesentliche war gefunden, um an die Arbeit gehn zu können – die Methoden, man muß es zehnmal sagen, sind das Wesentliche, auch das Schwierigste, auch das, was am längsten die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat. Was wir heute, mit unsäglicher Selbstbezwingung – denn wir haben alle die schlechten Instinkte, die christlichen, irgendwie noch im Leibe – uns zurückerobert haben, den freien Blick vor der Realität, die vorsichtige Hand, die Geduld und den Ernst im Kleinsten, die ganze Rechtschaffenheit der Erkenntnis – sie war bereits da! vor mehr als zwei Jahrtausenden bereits! Und, dazu gerechnet, der gute, der feine Takt und Geschmack! Nicht als Gehirn-Dressur!“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 676-677 bzw. 1230-1231

Alles umsonst! Über Nacht bloß noch eine Erinnerung! – Griechen! Römer! die Vornehmheit des Instinkts, der Geschmack, die methodische Forschung, das Genie der Organisation und Verwaltung, der Glaube, der Wille zur Menschen-Zukunft, das große Ja zu allen Dingen als Imperium Romanum sichtbar, für alle Sinne sichtbar, der große Stil nicht mehr bloß Kunst, sondern Realität, Wahrheit, Leben geworden. – Und nicht durch ein Natur-Ereignis über Nacht verschüttet! Nicht durch Germanen und andre Schwerfüßler niedergetreten! Sondern von listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyren zuschanden gemacht! Nicht besiegt – nur ausgesogen! Die versteckte Rachsucht, der kleine Neid Herr geworden! Alles Erbärmliche, Ansich-Leidende, Von-schlechten-Gefühlen-Heimgesuchte, die ganze Ghetto-Welt der Seele mit einem Male obenauf!
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 677 bzw. 1231

„Man lese nur irgendeinen christlichen Agitator, den heiligen Augustin zum Beispiel, um zu begreifen, um zu riechen, was für unsaubere Gesellen damit obenauf gekommen sind. Man würde sich ganz und gar betrügen, wenn man irgendwelchen Mangel an Verstand bei den Führern der christlichen Bewegung voraussetzte – oh, sie sind klug, klug, bis zur Heiligkeit, diese Herren Kirchenväter! Was ihnen abgeht, ist etwas ganz anderes. Die Natur hat sie vernachlässigt – sie vergaß, ihnen eine bescheidne Mitgift von achtbaren, von anständigen, von reinlichen Instinkten mitzugeben. Unter uns, es sind nicht einmal Männer. Wenn der Islam das Christentum verachtet, so hat er tausendmal recht dazu: der Islam hat Männer zur Voraussetzung.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 677-678 bzw. 1231-1232

„Das Christentum hat uns um die Ernte der antiken Kultur gebracht, es hat uns später wieder um die Ernte der Islam-Kultur gebracht. Die wunderbare maurische Kultur-Welt Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und Griechenland, wurde niedergetreten (– ich sage nicht von was für Füßen –), warum? weil sie vornehmen, weil sie Männer-Instinkten ihre Entstehung verdankte, weil sie zum Leben ja sagte auch noch mit den seltnen und raffinierten Kostbarkeiten des maurischen Lebens! Die Kreuzritter bekämpften später etwas, vor dem sich in den Staub zu legen ihnen besser angestanden hätte – eine Kultur, gegen die sich selbst unser neunzehntes Jahrhundert sehr arm, sehr »spät« vorkommen dürfte. – Freilich, sie wollten Beute machen: der Orient war reich. Man sei doch unbefangen! Kreuzzüge – die höhere Seeräuberei, weiter nichts!“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 678 bzw. 1232

„An sich sollte es ja keine Wahl geben, angesichts von Islam und Christentum, so wenig als angesichts eines Arabers und eines Juden. Die Entscheidung ist gegeben; es steht niemandem frei, hier noch zu wählen. Entweder ist man ein Tschandala, oder man ist es nicht. »Krieg mit Rom aufs Messer! Friede, Freundschaft mit dem Islam«: so empfand, so tat jener große Freigeist, das Genie unter den deutschen Kaisern, Friedrich der Zweite? Wie? muß ein Deutscher erst Genie, erst Freigeist sein, um anständig zu empfinden? Ich begreife nicht, wie ein Deutscher je christlich empfinden konnte.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 678-679 bzw. 1232-1233

„Die Umwertung der christlichen Werte, der Versuch, mit allen Mitteln, mit allen Instinkten, mit allem Genie unternommen, die Gegen-Werte, die vornehmen Werte zum Sieg zu bringen.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 679 bzw. 1233

„Ich sehe eine Möglichkeit vor mir von einem vollkommen überirdischen Zauber und Farbenreiz – es scheint mir, daß sie in allen Schaudern raffinierter Schönheit erglänzt, daß eine Kunst in ihr am Werke ist, so göttlich, so teufelsmäßig-göttlich, daß man Jahrtausende umsonst nach einer zweiten solchen Möglichkeit durchsucht; ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich, daß alle Gottheiten des Olymps einen Anlaß zu einem unsterblichen Gelächter gehabt hätten – Cesare Borgia als Papst. Versteht man mich? Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange –: damit war das Christentum abgeschafft! – Was geschah? Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance. Statt mit tiefster Dankbarkeit das Ungeheure zu verstehn, das geschehen war, die Überwindung des Christentums an seinem Sitz –, verstand sein Haß aus diesem Schauspiel nur seine Nahrung zu ziehn. Ein religiöser Mensch denkt nur an sich. – Luther sah die Verderbnis des Papsttums, während gerade das Gegenteil mit Händen zu greifen war: die alte Verderbnis, das peccatum originale, das Christentum saß nicht mehr auf dem Stuhl des Papstes! Sondern das Leben! Sondern der Triumph des Lebens! Sondern das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen! Und Luther stellte die Kirche wieder her: er griff sie an .... Die Renaissance – ein Ereignis ohne Sinn, ein großes Umsonst!
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 679-680 bzw. 1233-1234

„Hiermit bin ich am Schluß und spreche mein Urteil. Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von ihren »humanitären« Segnungen zu reden! Irgendeinen Notstand abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit: sie lebte von Notständen, sie schuf Notstände, um sich zu verewigen. Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Notstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert! – Die »Gleichheit der Seelen vor Gott«, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist – ist christlicher Dynamit. »Humanitäre« Segnungen des Christentums! Aus der humanitas einen Selbst-Widerspruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen Instinkte herauszuzüchten! Das wären mir Segnungen des Christentums! – Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihrem Bleichsuchts-, ihrem »Heiligkeits«-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat – gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 680-681 bzw. 1234-1235

„Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt – ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen .... Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist – ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit ....“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 681 bzw. 1235

„Und man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus, mit dem dies Verhängnis anhob – nach dem ersten Tag des Christentums! – Warum nicht lieber nach seinem letzten? – Nach heute? – Umwertung aller Werte!“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 681 bzw. 1235

„Gesetz wider das Christentum. Gegeben am Tage des Heils, am ersten Tage des Jahres Eins (- am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung). Todkrieg gegen das Laster: das Laster ist das Christentum. —   E r s t e r    S a t z .  -  Lasterhaft ist jede Art Widernatur. Die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: er lehrt die Widernatur. Gegen den Priester hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus.   Z w e i t e r    S a t z .  -  Jede Teilnahme an einem Gottesdienste ist ein Attentat auf die öffentliche Sittlichkeit. Man soll härter gegen Protestanten als gegen Katholiken sein, härter gegen liberale Protestanten als gegen strenggläubige. Das Verbrecherische im Christ-sein nimmt in dem Maße zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher der Verbrecher ist folglich der Philosoph.   D r i t t e r    S a t z .  -  Die fluchwürdige Stätte, auf der das Christentum seine Basilisken-Eier gebrütet hat, soll dem Erdboden gleich gemacht werden und als verruchte Stelle der Erde der Schrecken aller Nachwelt sein. Man soll giftige Schlangen auf ihr züchten.   V i e r t e r    S a t z .  -  Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff »unrein« ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.  F ü n f t e r    S a t z .  -  Mit einem Priester an einem Tisch essen stößt aus: man exkommuniziert sich damit aus der rechtschaffnen Gesellschaft. Der Priester ist unser Tschandala, - man soll ihn verfehmen, aushungern, in jede Art Wüste treiben.  S e c h s t e r    S a t z .  -  Man soll die »heilige« Geschichte mit dem Namen nennen, den sie verdient, als verfluchte Geschichte; man soll die Worte »Gott«, »Heiland«, »Erlöser«, »Heiliger« zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen benutzen.  S i e b e n t e r    S a t z .  -  Der Rest folgt daraus.“
Ders., Der Antichrist, 1889, in: Werke, 6. Abteilung, 3. Band, S. 252 (Anhang)

„Das letzte, was ich versprechen würde, wäre, die Menschheit zu »verbessern«. Von mir werden keine neuen Götzen aufgerichtet; die alten mögen lernen, was es mit tönernen Beinen auf sich hat. Götzen (mein Wort für »Ideale«) umwerfen – das gehört schon eher zu meinem Handwerk. Man hat die Realität in dem Grade um ihren Wert, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit gebracht, als man eine ideale Welt erlog. Die »wahre Welt« und die »scheinbare Welt« – auf deutsch: die erlogne Welt und die Realität. Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über die Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch geworden – bis zur Anbetung der umgekehrten Werte, als die sind, mit denen ihr erst das Gedeihen, die Zukunft, das hohe Recht auf Zukunft verbürgt wäre.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 4

„Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann getan war. Aus einer langen Erfahrung, welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen, aus denen bisher moralisiert und idealisiert wurde, sehr anders ansehn, als es erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. – Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Wertmesser. Irrtum (– der Glaube ans Ideal –) ist nicht Blindheit, Irrtum ist Feigheit. Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich .... Ich widerlege die Ideale nicht, ich ziehe bloß Handschuhe vor ihnen an. Nitimur in vetitum: in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 4-5

„Hier redet kein »Prophet«, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt. Man muß vor allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören, um dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig unrecht zu tun. »Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt –«“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 5

„Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süß: und indem sie fallen, reißt ihnen die rote Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen. Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr süßes Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und Nachmittag.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 6

„Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht »gepredigt«, hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort – eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden. Dergleichen gelangt nur zu den Auserwähltesten; es ist ein Vorrecht ohnegleichen, hier Hörer zu sein; es steht niemandem frei, für Zarathustra Ohren zu haben. Ist Zarathustra mit alledem nicht ein Verführer?. Aber was sagt er doch selbst, als er zum ersten Male wieder in seine Einsamkeit zurückkehrt? Genau das Gegenteil von dem, was irgendein »Weiser«, »Heiliger«, »Welt-Erlöser« und andrer décadent in einem solchen Falle sagen würde .... Er redet nicht nur anders, er ist auch anders.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 6

„Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es.Geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch. Der Mensch der Erkenntnis muß nicht nur seine Feinde lieben, er muß auch seine Freunde hassen können.Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?Ihr verehrt mich: aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage!Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen, aber was liegt an allen Gläubigen!Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 6-7

„Ein Arzt, der mich länger als Nervenkranken behandelte, sagte schließlich: »Nein! an Ihren Nerven liegt's nicht, ich selber bin nur nervös«.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 11

„Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung – sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence. Brauche ich, nach alledem, zu sagen, daß ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabiert. Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des »Um-die-Ecke-sehns« und was sonst mir eignet, ward damals erst erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der alles sich bei mir verfeinerte, die Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werten, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewißheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgendworin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine »Umwertung der Werte« überhaupt möglich ist.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 11-12

„Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter anderem, daß ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte: während der décadent an sich immer die ihm nachteiligen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Spezialität war ich décadent.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 12

„Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selber wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, daß man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehrleben sein. So in der Tat erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie andre nicht leicht schmecken könnten – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie. Denn man gebe acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armut und Entmutigung.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 12-13

„Meine Erfahrungen geben mir ein Anrecht auf Mißtrauen überhaupt hinsichtlich der sogenannten »selbstlosen« Triebe, der gesamten zu Rat und Tat bereiten »Nächstenliebe«. Sie gilt mir an sich als Schwäche, als Einzelfall der Widerstands-Unfähigkeit gegen Reize – das Mitleiden heißt nur bei décadents eine Tugend. Ich werfe den Mitleidigen vor, daß ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhanden kommt, daß Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht – daß mitleidige Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch in ein großes Schicksal, in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere Schuld hineingreifen können. Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden: ich habe als »Versuchung Zarathustras« einen Fall gedichtet, wo ein großer Notschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von sich abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den sogenannten selbstlosen Handlungen tätig sind, das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat -sein eigentlicher Beweis von Kraft.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 16-17

„Auch noch in einem anderen Punkte bin ich bloß mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach einem allzufrühen Tode. Gleich jedem, der nie unter seinesgleichen lebte und dem der Begriff »Vergeltung« so unzugänglich ist wie etwa der Begriff »gleiche Rechte«, verbiete ich mir in Fällen, wo eine kleine oder sehr große Torheit an mir begangen wird, jede Gegenmaßregel, jede Schutzmaßregel – wie billig, auch jede Verteidigung, jede »Rechtfertigung«. Meine Art Vergeltung besteht darin, der Dummheit so schnell wie möglich eine Klugheit nachzuschicken: so holt man sie vielleicht noch ein.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 17

„Die Freiheit vom Ressentiment, die Aufklärung über das Ressentiment – wer weiß, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin!“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 18

„Kranksein ist eine Art Ressentiment selbst.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 18

„Das Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken – sein Böses: leider auch sein natürlichster Hang. – Das begriff jener tiefe Physiolog Buddha. Seine »Religion«, die man besser als eine Hygiene bezeichnen dürfte, um sie nicht mit so erbarmungswürdigen Dingen wie das Christentum ist, zu vermischen, machte ihre Wirkung abhängig von dem Sieg über das Ressentiment: die Seele davon frei machen – erster Schritt zur Genesung. »Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende, durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende«: das steht am Anfang der Lehre Buddhas – so redet nicht die Moral, so redet die Physiologie“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 18-19

„Wer den Ernst kennt, mit dem meine Philosophie den Kampf mit den Rach- und Nachgefühlen bis in die Lehre vom »freien Willen« hinein aufgenommen hat – der Kampf mit dem Christentum ist nur ein Einzelfall daraus –, wird verstehn, weshalb ich mein persönliches Verhalten, meine Instinkt-Sicherheit in der Praxis hier gerade ans Licht stelle. In den Zeiten der décadence verbot ich sie mir als schädlich; sobald das Leben wieder reich und stolz genug dazu war, verbot ich sie mir als unter mir.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 19

„Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich »anders« wollen – das ist in solchen Zuständen die große Vernunft selbst.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 19

„Das Weib zum Beispiel ist rachsüchtig: das ist in seiner Schwäche bestimmt, so gut wie seine Reizbarkeit für fremde Not.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 20

Wenn ich dem Christenthum den Krieg mache, so steht dies mir zu, weil ich von dieser Seite aus keine Fatalitäten und Hemmungen erlebt habe, - die ernstesten Christen sind mir immer gewogen gewesen. Ich selber, ein Gegner des Christenthums de rigueur, bin ferne davon, es dem Einzelnen nachzutragen, was das Verhängniss von Jahrtausenden ist.
Ders., Ecce homo, 1889, S. 21-22

Darf ich noch einen letzten Zug meiner Natur anzudeuten wagen, der mir im Umgang mit Menschen keine kleine Schwierigkeit macht?  Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinkts, so daß ich die Nähe oder - was sage ich ?  - das Innerlichste, die »Eingeweide« jeder Seele physiologisch wahrnehme - rieche .... Ich habe an dieser Reizbarkeit psychologische Fühlhörner .... Das macht mir aus dem Verkehr mit Menschen keine kleine Gedulds-Probe; meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, daß ich ihn mitfühle .... Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung. - Aber ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft .... Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit .... - Der Ekel am Menschen, am »Gesindel« war immer meine grösste Gefahr .... Will man die Worte hören, in denen Zarathustra von der Erlösung vom Ekel redet?
Ders., Ecce homo, 1889, S. 21-22

„Es ist mir gänzlich entgangen, inwiefern ich »sündhaft« sein sollte. Insgleichen fehlt mir ein zuverlässiges Kriterium dafür, was ein Gewissensbiß ist: nach dem, was man darüber hört, scheint mir ein Gewissensbiß nichts Achtbares.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 24

„Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelikatesse gegen uns Denker –, im Grunde sogar bloß ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 25

„In der Tat, ich habe bis zu meinen reifsten Jahren immer nur schlecht gegessen – moralisch ausgedrückt »unpersönlich«, »selbstlos«, »altruistisch«, zum Heil der Köche und andrer Mitchristen. Ich verneinte zum Beispiel durch Leipziger Küche, gleichzeitig mit meinem ersten Studium Schopenhauers (1865), sehr ernsthaft meinen »Willen zum Leben«.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 25

„Es steht niemandem frei, überall zu leben ....“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 27-28

„Die Krankheit brachte mich erst zur Vernunft.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 29

„Die Skeptiker, der einzige ehrenwerte Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen!“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 30

„Ich selbst habe irgendwo gesagt: was war der größte Einwand gegen das Dasein bisher? Gott ....“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 32

Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken vermag ....
Ders., Ecce homo, 1889, S. 32

„Nicht der Zweifel, die Gewißheit ist das, was wahnsinnig macht.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 33

„Und zum Teufel, meine Herrn Kritiker! Gesetzt, ich hätte meinen Zarathustra auf einen fremden Namen getauft, zum Beispiel auf den von Richard Wagner, der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu erraten, daß der Verfasser von »Menschliches, Allzumenschliches« der Visionär des Zarathustra ist.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 33

„Hier, wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nötig, um meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am tiefsten und herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere Verkehr mit Richard Wagner gewesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke. Ich weiß nicht, was andre mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 34

Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik. Denn ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence – Gift, ich bestreite es nicht .... Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab – mein Kompliment, Herr von Bülow! –, war ich Wagnerianer. Die älteren Werke Wagners sah ich unter mir – noch zu gemein, zu »deutsch«. Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der Tristan ist – ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Leonardo da Vincis entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. Dies Werk ist durchaus das non plus ultra Wagners; er erholte sich von ihm mit den Meistersingern und dem Ring. Gesünder werden – das ist ein Rückschritt bei einer Natur wie Wagner. Ich nehme es als Glück ersten Rangs, zur rechten Zeit gelebt und gerade unter Deutschen gelebt zu haben, um reif für dies Werk zu sein: so weit geht bei mir die Neugierde des Psychologen. Die Welt ist arm für den, der niemals krank genug für diese »Wollust der Hölle« gewesen ist: es ist erlaubt, es ist fast geboten, hier eine Mystiker-Formel anzuwenden. – Ich denke, ich kenne besser als irgend jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu denen niemand außer ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vorteil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den großen Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen ....
Ders., Ecce homo, 1889, S. 35-36

„Ich sage noch ein Wort für die ausgesuchtesten Ohren: was ich eigentlich von der Musik will. Daß sie heiter und tief ist, wie ein Nachmittag im Oktober. Daß sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süßes Weib von Niedertracht und Anmut ist.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 36

„Das Abwehren, das Nicht-heran-kommen-lassen ist eine Ausgabe – man täusche sich hierüber nicht –, eine zu negativen Zwecken verschwendete Kraft. Man kann, bloß in der beständigen Not der Abwehr, schwach genug werden, um sich nicht mehr wehren zu können.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 38

„Der Gelehrte gibt seine ganze Kraft im Ja- und Neinsagen, in der Kritik von bereits Gedachtem ab – er selber denkt nicht mehr. Der Instinkt der Selbstverteidigung ist bei ihm mürbe geworden; im anderen Falle würde er sich gegen Bücher wehren. Der Gelehrte – ein décadent. – Das habe ich mit Augen gesehn: begabte, reich und frei angelegte Naturen schon in den dreißiger Jahren »zuschanden gelesen«, bloß noch Streichhölzer, die man reiben muß, damit sie Funken – »Gedanken« geben. – Frühmorgens beim Anbruch des Tags, in aller Frische, in der Morgenröte seiner Kraft, ein Buch lesen – das nenne ich lasterhaft!“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 39

„An dieser Stelle ist nicht mehr zu umgehn, die eigentliche Antwort auf die Frage, wie man wird, was man ist, zu geben. Und damit berühre ich das Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung – der Selbstsucht. Angenommen nämlich, daß die Aufgabe, die Bestimmung, das Schicksal der Aufgabe über ein durchschnittliches Maß bedeutend hinausliegt, so würde keine Gefahr größer sein, als sich selbst mit dieser Aufgabe zu Gesicht zu bekommen. Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im entferntesten ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe des Lebens ihren eignen Sinn und Wert, die zeitweiligen Nebenwege und Abwege, die Verzögerungen, die »Bescheidenheiten«, der Ernst, auf Aufgaben verschwendet, die jenseits der Aufgabe liegen. Darin kommt eine große Klugheit, sogar die oberste Klugheit zum Ausdruck: wo nosce te ipsum das Rezept zum Untergang wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-Mißverstehn, Sich-Verkleinern, –Verengern, – Vermittelmäßigen zur Vernunft selber. Moralisch ausgedrückt: Nächstenliebe, Leben für andere und anderes kann die Schutzmaßregel zur Erhaltung der härtesten Selbstigkeit sein. Dies ist der Ausnahmefall, in welchem ich, gegen meine Regel und Überzeugung, die Partei der »selbstlosen« Triebe nehme: sie arbeiten hier im Dienste der Selbstsucht, Selbstzucht. – Man muß die ganze Oberfläche des Bewußtseins – Bewußtsein ist eine Oberfläche – rein erhalten von irgendeinem der großen Imperative. Vorsicht selbst vor jedem großen Worte, jeder großen Attitüde! Lauter Gefahren, daß der Instinkt zu früh »sich versteht« – –. Inzwischen wächst und wächst die organisierende, die zur Herrschaft berufne »Idee« in der Tiefe – sie beginnt zu befehlen, sie leitet langsam aus Nebenwegen und Abwegen zurück, sie bereitet einzelne Qualitäten und Tüchtigkeiten vor, die einmal als Mittel zum Ganzen sich unentbehrlich erweisen werden – sie bildet der Reihe nach alle dienenden Vermögen aus, bevor sie irgend etwas von der dominierenden Aufgabe, von »Ziel«, »Zweck«, »Sinn« verlauten läßt. – Nach dieser Seite hin betrachtet ist mein Leben einfach wundervoll.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 39-40

„Es fehlt in meiner Erinnerung, daß ich mich je bemüht hätte – es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur. Etwas »wollen«, nach etwas »streben«, einen »Zweck«, einen »Wunsch« im Auge haben – das kenne ich alles nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft – eine weite Zukunft! – wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im geringsten, daß etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden. Aber so habe ich immer gelebt. Ich habe keinen Wunsch gehabt. Jemand, der nach seinem vierundvierzigsten Jahre sagen kann, daß er sich nie um Ehren, um Weiber, um Geld bemüht hat! – Nicht daß sie mir gefehlt hätten. So war ich zum Beispiel eines Tages Universitätsprofessor – ich hatte nie im entferntesten an dergleichen gedacht, denn ich war kaum 24 Jahre alt. So war ich zwei Jahr früher eines Tags Philolog: in dem Sinne, daß meine erste philologische Arbeit, mein Anfang in jedem Sinne, von meinem Lehrer Ritschl für sein »Rheinisches Museum« zum Druck verlangt wurde (Ritschl – ich sage es mit Verehrung – der einzige geniale Gelehrte, den ich bis heute zu Gesicht bekommen habe. Er besaß jene angenehme Verdorbenheit, die uns Thüringer auszeichnet und mit der sogar ein Deutscher sympathisch wird – wir ziehn selbst, um zur Wahrheit zu gelangen, noch die Schleichwege vor. Ich möchte mit diesen Worten meinen näheren Landsmann, den klugen Leopold von Ranke, durchaus nicht unterschätzt haben.).“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 40-41

„Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, daß man die schädlichsten Menschen für große Menschen nahm – daß man die »kleinen« Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber, verachten lehrte. Unsre jetzige Kultur ist im höchsten Grade zweideutig. Der deutsche Kaiser mit dem Papst paktierend, als ob nicht der Papst der Repräsentant der Todfeindschaft gegen das leben wäre!“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 42

„Wenn ich mich danach messe, was ich kann, nicht davon zu reden, was hinter mir drein kommt, ein Umsturz, ein Aufbau ohne gleichen, so habe ich mehr als irgendein Sterblicher den Anspruch auf das Wort Größe.“
Ders., Ecce homo, 1889, S.42

„Vergleiche ich mich nun mit den Menschen, die man bisher als erste Menschen ehrte, so ist der Unterschied handgreiflich. Ich rechne diese angeblich »Ersten« nicht einmal zu den Menschen überhaupt – sie sind für mich Ausschuß der Menschheit, Ausgeburten von Krankheit und rachsüchtigen Instinkten: sie sind lauter unheilvolle, im Grunde unheilbare Unmenschen, die am Leben Rache nehmen. Ich will dazu der Gegensatz sein: mein Vorrecht ist, die höchste Feinheit für alle Zeichen gesunder Instinkte zu haben.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 42

„Auch an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand – ich habe immer nur an der »Vielsamkeit« gelitten.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 43

„In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wußte ich bereits, daß mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich je darüber betrübt gesehn?“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 43

„Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: daß man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen –, sondern es lieben.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 43

„Ich selber bin noch nicht an der Zeit, einige werden posthum geboren.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 44

„Irgendwann wird man Institutionen nötig haben, in denen man lebt und lehrt, wie ich leben und lehren verstehe: vielleicht selbst, daß man dann auch eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra errichtet. Aber es wäre ein vollkommner Widerspruch zu mir, wenn ich heute bereits Ohren und Hände für meine Wahrheiten erwartete: daß man heute nicht hört, daß man heute nicht von mir zu nehmen weiß, ist nicht nur begreiflich, es scheint mir selbst das Rechte. Ich will nicht verwechselt werden – dazu gehört, daß ich mich selber nicht verwechsle. – Nochmals gesagt, es ist wenig in meinem Leben nachweisbar von »bösem Willen«; auch von literarischem »bösen Willen« wüßte ich kaum einen Fall zu erzählen. Dagegen zuviel von reiner Torheit! Es scheint mir eine der seltensten Auszeichnungen, die jemand sich erweisen kann, wenn er ein Buch von mir in die Hand nimmt – ich nehme selbst an, er zieht dazu die Schuhe aus – nicht von Stiefeln zu reden. Als sich einmal der Doktor Heinrich von Stein ehrlich darüber beklagte, kein Wort aus meinem Zarathustra zu verstehn, sagte ich ihm, das sei in Ordnung: sechs Sätze daraus verstanden, das heißt: erlebt haben, hebe auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf, als »moderne« Menschen erreichen könnten. Wie könnte ich, mit diesem Gefühle der Distanz, auch nur wünschen, von den »Modernen«, die ich kenne –, gelesen zu werden! – Mein Triumph ist gerade der umgekehrte, als der Schopenhauers war – ich sage »non legor, non legar«.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 44-45

„Nicht, daß ich das Vergnügen unterschätzen möchte, das mir mehrmals die Unschuld im Neinsagen zu meinen Schriften gemacht hat. Noch in diesem Sommer, zu einer Zeit, wo ich vielleicht mit meiner schwerwiegenden, zu schwer wiegenden Literatur den ganzen Rest von Literatur aus dem Gleichgewicht zu bringen vermöchte, gab mir ein Professor der Berliner Universität wohlwollend zu verstehn, ich sollte mich doch einer andren Form bedienen: so etwas lese niemand. – Zuletzt war es nicht Deutschland, sondern die Schweiz, die die zwei extremen Fälle geliefert hat. Ein Aufsatz des Dr. V. Widmann im »Bund«, über »Jenseits von Gut und Böse«, unter dem Titel »Nietzsches gefährliches Buch«, und ein Gesamt-Bericht über meine Bücher überhaupt seitens des Herrn Karl Spitteler, gleichfalls im »Bund«, sind ein Maximum in meinem Leben – ich hüte mich zu sagen wovon. Letzterer behandelte zum Beispiel meinen Zarathustra als höhere Stilübung, mit dem Wunsche, ich möchte später doch auch für Inhalt sorgen; Dr. Widmann drückte mir seine Achtung vor dem Mut aus, mit dem ich mich um Abschaffung aller anständigen Gefühle bemühe. – Durch eine kleine Tücke von Zufall war hier jeder Satz, mit einer Folgerichtigkeit, die ich bewundert habe, eine auf den Kopf gestellte Wahrheit: man hatte im Grunde nichts zu tun, als alle »Werte umzuwerten«, um, auf eine sogar bemerkenswerte Weise, über mich den Nagel auf den Kopf zu treffen – statt meinen Kopf mit einem Nagel zu treffen.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 45

„Wer etwas von mir verstanden zu haben glaubte, hatte sich etwas aus mir zurechtgemacht, nach seinem Bilde – nicht selten einen Gegensatz von mir, zum Beispiel einen »Idealisten«; wer nichts von mir verstanden hatte, leugnete, daß ich überhaupt in Betracht käme. – Das Wort »Übermensch« zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit, im Gegensatz zu »modernen« Menschen, zu »guten« Menschen, zu Christen und andren Nihilisten – ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein sehr nachdenkliches Wort wird – ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werte verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustras zur Erscheinung gebracht worden ist: will sagen als »idealistischer« Typus einer höheren Art Mensch, halb »Heiliger«, halb »Genie. Andres gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdächtigt; selbst der von mir so boshaft abgelehnte »Heroen-Kultus« jenes großen Falschmünzers wider Wissen und Willen, Carlyle's, ist darin wiedererkannt worden. Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 46

„Daß ich gegen Besprechungen meiner Bücher, insonderheit durch Zeitungen, ohne jedwede Neugierde bin, wird man mir verzeihen müssen. Meine Freunde, meine Verleger wissen das und sprechen mir nicht von dergleichen. In einem besondren Falle bekam ich einmal alles zu Gesicht, was über ein einzelnes Buch – es war »Jenseits von Gut und Böse« – gesündigt worden ist; ich hätte einen artigen Bericht darüber abzustatten. Sollte man es glauben, daß die »Nationalzeitung« ... allen Ernstes das Buch als ein »Zeichen der Zeit« zu verstehn wußte, als die echte rechte Junker-Philosophie, zu der es der »Kreuzzeitung« nur an Mut gebreche?“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 46-47

„Ich bin der Antiesel par excellence und damit ein welthistorisches Untier – ich bin, auf griechisch und nicht nur auf griechisch, der Antichrist.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 48

Daß aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht seinesgleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt – ein Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen.
Ders., Ecce homo, 1889, S. 51

„Das Weib ist unsäglich viel böser als der Mann, auch klüger; Güte am Weibe ist schon eine Form der Entartung. Bei allen sogenannten »schönen Seelen« gibt es einen physiologischen Übelstand auf dem Grunde – ich sage nicht alles, ich würde sonst medi-zynisch werden.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 52

„Der Kampf um gleiche Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit: jeder Arzt weiß das. – Das Weib, je mehr Weib es ist, wehrt sich ja mit Händen und Füßen gegen Rechte überhaupt: der Naturzustand, der ewige Krieg zwischen den Geschlechtern gibt ihm ja bei weitem den ersten Rang.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 52

„Hat man Ohren für meine Definition der Liebe gehabt? es ist die einzige, die eines Philosophen würdig ist. Liebe – in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 52-53

„Hat man meine Antwort auf die Frage gehört, wie man ein Weib kuriert – »erlöst«? Man macht ihm ein Kind. Das Weib hat Kinder nötig, der Mann ist immer nur Mittel: also sprach Zarathustra.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 53

„Emanzipation des Weibes« – das ist der Instinkthaß des mißratenen, das heißt gebäruntüchtigen Weibes gegen das wohlgeratene – der Kampf gegen den »Mann« ist immer nur Mittel, Vorwand, Taktik. Sie wollen, indem sie sich hinauf heben, als »Weib an sich«, als »höheres Weib«, als »Idealistin« von Weib, das allgemeine Rang-Niveau des Weibes herunterbringen; kein sichereres Mittel dazu als Gymnasial-Bildung, Hosen und politische Stimmvieh-Rechte. Im Grunde sind die Emanzipierten die Anarchisten in der Welt des »Ewig-Weiblichen«, die Schlechtweggekommenen, deren unterster Instinkt Rache ist. Eine ganze Gattung des bösartigsten »Idealismus« – der übrigens auch bei Männern vorkommt, zum Beispiel bei Henrik Ibsen, dieser typischen alten Jungfrau – hat das Ziel, das gute Gewissen, die Natur in der Geschlechtsliebe zu vergiften.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 53

„Und damit ich über meine in diesem Betracht ebenso honnette als strenge Gesinnung keinen Zweifel lasse, will ich noch einen Satz aus meinem Moral-Kodex gegen das Laster mitteilen: mit dem Wort Laster bekämpfe ich jede Art Widernatur oder, wenn man schöne Worte liebt, Idealismus. Der Satz heißt: »Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff 'unrein' ist das Verbrechen selbst am Leben – ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.«“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 53

Heraklit, in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zumute wird als irgendwo sonst. Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden, mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs »Sein« – darin muß ich unter allen Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist. Die Lehre von der »ewigen Wiederkunft«, das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 58-59

„Bis heute ist mir nichts fremder und unverwandter als die ganze europäische und amerikanische Spezies von »libres penseurs«. Mit ihnen als mit unverbesserlichen Flachköpfen und Hanswursten der »modernen Ideen« befinde ich mich sogar in einem tieferen Zwiespalt als mit irgendwem von ihren Gegnern. Sie wollen auch, auf ihre Art, die Menschheit »verbessern«, nach ihrem Bilde, sie würden gegen das, was ich bin, was ich will, einen unversöhnlichen Krieg machen, gesetzt daß sie es verstünden – sie glauben allesamt noch ans »Ideal« .... Ich bin der erste Immoralist.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 65

„»Menschliches, Allzumenschliches« ist das Denkmal einer Krisis. Es heißt sich ein Buch für freie Geister: fast jeder Satz darin drückt einen Sieg aus – ich habe mich mit demselben vom Unzugehörigen in meiner Natur freigemacht. Unzugehörig ist mir der Idealismus: der Titel sagt »wo ihr ideale Dinge seht, sehe ich – Menschliches, ach nur Allzumenschliches!«. .... Ich kenne den Menschen besser .... In keinem andren Sinne will das Wort »freier Geist« hier verstanden werden: ein freigewordner Geist, der von sich selber wieder Besitz ergriffen hat.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 68

Morgenröte .... Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 75

„Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werte ist deshalb für mich eine Frage ersten Ranges, weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt. Die Forderung, man solle glauben, daß alles im Grunde in den besten Händen ist, daß ein Buch, die Bibel, eine endgültige Beruhigung über die göttliche Lenkung und Weisheit im Geschick der Menschheit gibt, ist, zurückübersetzt in die Realität, der Wille, die Wahrheit über das erbarmungswürdige Gegenteil davon nicht aufkommen zu lassen, nämlich, daß die Menschheit bisher in den schlechtesten Händen war, daß sie von den Schlechtweggekommenen, den Arglistig-Rachsüchtigen, den sogenannten »Heiligen«, diesen Weltverleumdern und Menschenschändern regiert worden ist. Das entscheidende Zeichen, an dem sich ergibt, daß der Priester (– eingerechnet die versteckten Priester, die Philosophen) nicht nur innerhalb einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, sondern überhaupt Herr geworden ist, daß die décadence-Moral, der Wille zum Ende, als Moral an sich gilt, ist der unbedingte Wert, der dem Unegoistischen, und die Feindschaft, die dem Egoistischen überall zuteil wird. Wer über diesen Punkt mit mir uneins ist, den halte ich für infiziert. Aber alle Welt ist mit mir uneins. Für einen Physiologen läßt ein solcher Wert-Gegensatz gar keinen Zweifel. Wenn innerhalb des Organismus das geringste Organ in noch so kleinem Maße nachläßt, seine Selbsterhaltung, seinen Kraftersatz, seinen »Egoismus« mit vollkommner Sicherheit durchzusetzen, so entartet das Ganze. Der Physiologe verlangt Ausschneidung des entarteten Teils, er verneint jede Solidarität mit dem Entarteten, er ist am fernsten vom Mitleiden mit ihm. Aber der Priester will gerade die Entartung des Ganzen, der Menschheit: darum konserviert er das Entartende – um diesen Preis beherrscht er sie. Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hilfsbegriffe der Moral, »Seele«, »Geist«, »freier Wille«, »Gott«, wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruinieren? Wenn man den Ernst von der Selbsterhaltung, Kraftsteigerung des Leibes, das heißt des Lebens ablenkt, wenn man aus der Bleichsucht ein Ideal, aus der Verachtung des Leibes »das Heil der Seele« konstruiert, was ist das anderes, als ein Rezept zur décadence? – Der Verlust an Schwergewicht, der Widerstand gegen die natürlichen Instinkte, die »Selbstlosigkeit« mit einem Worte – das hieß bisher Moral. Mit der »Morgenröte« nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 76-78

„Ein Vers, welcher die Dankbarkeit für den wunderbarsten Monat Januar ausdrückt, den ich erlebt habe – das ganze Buch ist ein Geschenk –, verrät zur Genüge, aus welcher Tiefe heraus hier die »Wissenschaft« fröhlich geworden ist:
Der du mit dem Flammenspeere // Meiner Seele Eis zerteilt, // Daß sie brausend nun zum Meere // Ihrer höchsten Hoffnung eilt: // Heller stets und stets gesunder, // Frei im liebevollsten Muß: – // Also preist sie deine Wunder, // Schönster Januarius!
Was hier »höchste Hoffnung« heißt, wer kann darüber im Zweifel sein, der als Schluß des vierten Buchs die diamantene Schönheit der ersten Worte des Zarathustra aufglänzen sieht? oder der die graniten Sätze am Ende des dritten Buchs liest, mit denen sich ein Schicksal für alle Zeiten zum ersten Male in Formen faßt?.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 79

„Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundkonzeption des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, die höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: »6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit«. Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich halt. Da kam mir dieser Gedanke.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 81

„Den Vormittag stieg ich in südlicher Richtung auf der herrlichen Straße nach Zoagli hin in die Höhe, an Pinien vorbei und weitaus das Meer überschauend; des Nachmittags, so oft es nur die Gesundheit erlaubte, umging ich die ganze Bucht von Santa Margherita bis hinter nach Porto fino. Dieser Ort und diese Landschaft ist durch die große Liebe, welche Kaiser Friedrich der Dritte für sie fühlte, meinem Herzen noch näher gerückt; ich war zufällig im Herbst 1886 wieder an dieser Küste, als er zum letztenmal diese kleine vergessene Welt von Glück besuchte. – Auf diesen beiden Wegen fiel mir der ganze erste Zarathustra ein, vor allem Zarathustra selber, als Typus: richtiger, er überfiel mich.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 83

„Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, daß man Jahrtausende zurückgehn muß, um jemanden zu finden, der mir sagen darf »es ist auch die meine«.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 86

„Ich wollte nach Aquila, dem Gegenbegriff von Rom, aus Feindschaft gegen Rom gegründet, wie ich einen Ort dereinst gründen werde, die Erinnerung an einen Atheisten und Kirchenfeind comme il faut, an einen meiner Nächstverwandten, den großen Hohenstaufen-Kaiser Friedrich den Zweiten.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 86

„Das psychologische Problem im Typus des Zarathustra ist, wie der, welcher in einem unerhörten Grade Nein sagt, Nein tut, zu allem, wozu man bisher Ja sagte, trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes sein kann; wie der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängnis von Aufgabe tragende Geist trotzdem der leichteste und jenseitigste sein kann – Zarathustra ist ein Tänzer –: wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den »abgründlichsten Gedanken« gedacht hat, trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet – vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, »das ungeheure unbegrenzte Ja– und Amen-sagen«. »In alle Abgründe trage ich noch mein segnendes Jasagen«.Aber das ist der Begriff des Dionysos noch einmal.
Ders., Ecce homo, 1889, S. 90-91

„Für eine dionysische Aufgabe gehört die Härte des Hammers, die Lust selbst am Vernichten in entscheidender Weise zu den Vorbedingungen. Der Imperativ: »werdet hart!«, die unterste Gewißheit darüber, daß alle Schaffenden hart sind, ist das eigentliche Abzeichen einer dionysischen Natur.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 95

„Theologisch geredet – man höre zu, denn ich rede selten als Theologe – war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntnis legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein. Er hatte alles zu schön gemacht. Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes an jedem siebenten Tage.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 97

Genealogie der Moral .... Die Wahrheit der ersten Abhandlung ist die Psychologie des Christentums: die Geburt des Christentums aus dem Geiste des Ressentiment, nicht, wie wohl geglaubt wird, aus dem »Geiste« – eine Gegenbewegung ihrem Wesen nach, der große Aufstand gegen die Herrschaft vornehmer Werte. Die zweite Abhandlung gibt die Psychologie des Gewissens: dasselbe ist nicht, wie wohl geglaubt wird, »die Stimme Gottes im Menschen« – es ist der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach außen hin sich entladen kann. Die Grausamkeit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten Kultur-Untergründe hier zum ersten Male ans Licht gebracht. Die dritte Abhandlung gibt die Antwort auf die Frage, woher die ungeheure Macht des asketischen Ideals, des Priester-Ideals, stammt, obwohl dasselbe das schädliche Ideal par excellence, ein Wille zum Ende, ein décadence-Ideal ist. Antwort: nicht, weil Gott hinter den Priestern tätig ist, was wohl geglaubt wird, sondern faute de mieux – weil es das einzige Ideal bisher war, weil es keinen Konkurrenten hatte. »Denn der Mensch will lieber noch das Nichts wollen als nicht wollen«. .... – Vor allem fehlte ein Gegen-Idealbis auf Zarathustra. – Man hat mich verstanden. Drei entscheidende Vorarbeiten eines Psychologen für eine Umwertung aller Werte. – Dies Buch enthält die erste Psychologie des Priesters.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 98-99

„Das, was Götze auf dem Titelblatt heißt, ist ganz einfach das, was bisher Wahrheit genannt wurde. Götzen-Dämmerung – auf deutsch: es geht zu Ende mit der alten Wahrheit.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 100

„Es gibt keine Realität, keine »Idealität«, die in dieser Schrift nicht berührt würde (– berührt: was für ein vorsichtiger Euphemismus!). Nicht bloß die ewigen Götzen, auch die allerjüngsten, folglich altersschwächsten. Die »modernen Ideen« zum Beispiel. Ein großer Wind bläst zwischen den Bäumen, und überall fallen Früchte nieder – Wahrheiten. Es ist die Verschwendung eines allzureichen Herbstes darin: man stolpert über Wahrheiten, man tritt selbst einige tot – es sind ihrer zu viele. Was man aber in die Hände bekommt, das ist nichts Fragwürdiges mehr, das sind Entscheidungen. Ich erst habe den Maßstab für »Wahrheiten« in der Hand, ich kann erst entscheiden. Wie als ob in mir ein zweites Bewußtsein gewachsen wäre, wie als ob sich in mir »der Wille« ein Licht angezündet hätte über die schiefe Bahn, auf der er bisher abwärts lief. Die schiefe Bahn – man nannte sie den Weg zur Wahrheit«. Es ist zu Ende mit allem »dunklen Drang«, der gute Mensch gerade war sich am wenigsten des rechten Wegs bewußt. Und allen Ernstes, niemand wußte vor mir den rechten Weg, den Weg aufwärts: erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreibende Wege der Kultur – ich bin deren froher Botschafter. Eben damit bin ich auch ein Schicksal.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 100-101

„Ich habe nie einen solchen Herbst erlebt, auch nie etwas der Art auf Erden für möglich gehalten – ein Claude Lorrain ins Unendliche gedacht, jeder Tag von gleicher unbändiger Vollkommenheit.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 102

„Wer zweifelt eigentlich daran, daß ich, als der alte Artillerist, der ich bin, es in der Hand habe, gegen Wagner mein schweres Geschütz aufzufahren? – Ich hielt alles Entscheidende in dieser Sache bei mir zurück – ich habe Wagner geliebt.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 103

„Dieser gerechte Sinn des deutschen Gaumens, der allem gleiche Rechte gibt – der alles schmackhaft findet. .... Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten. Als ich das letzte Mal Deutschland besuchte, fand ich den deutschen Geschmack bemüht, Wagner und dem Trompeter von Säckingen gleiche Rechte zuzugestehn; ich selber war Zeuge, wie man in Leipzig, zu Ehren eines der echtesten und deutschesten Musiker, im alten Sinne des Wortes deutsch, keines bloßen Reichsdeutschen, des Meister Heinrich Schütz einen Liszt-Verein gründete, mit dem Zweck der Pflege und Verbreitung listiger Kirchenmusik. Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 104

„Jüngst machte ein Idioten-Urteil in historicis, ein Satz des zum Glück verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch die deutschen Zeitungen als eine »Wahrheit«, zu der jeder Deutsche ja sagen müsse: »Die Renaissance und die Reformation, beide zusammen machen erst ein Ganzes – die ästhetische Wiedergeburt und die sittliche Wiedergeburt.« – Bei solchen Sätzen geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie alles schon auf dem Gewissen haben. Alle großen Kultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen! Und immer aus dem gleichen Grunde, aus ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit, aus »Idealismus«. Die Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten großen Zeit, der Renaissance-Zeit, gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere Ordnung der Werte, wo die vornehmen, die zum Leben jasagenden, die Zukunftverbürgenden Werte am Sitz der entgegengesetzten, der Niedergangs-Werte, zum Sieg gelangt waren – und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein! Luther, dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausendmal schlimmer ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag. Das Christentum, diese Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben! Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner »Unmöglichkeit«, die Kirche angriff und sie – folglich! – wieder herstellte. Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten. Luther – und die »sittliche Wiedergeburt«! Zum Teufel mit aller Psychologie! – Ohne Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 104

„Die Deutschen werden auch in meinem Falle wieder alles versuchen, um aus einem ungeheuren Schicksal eine Maus zu gebären. Sie haben sich bis jetzt an mir kompromittiert, ich zweifle, daß sie es in der Zukunft besser machen.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 106

„Man kommt beim Deutschen, beinahe wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er hat keinen: das ist alles. Aber damit ist man noch nicht einmal flach. – Das, was in Deutschland »tief« heißt, ist genau diese Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der ich eben rede: man will über sich nicht im klaren sein.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 107

„Das erste, woraufhin ich mir einen Menschen »nierenprüfe«, ist, ob er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang, Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distinguiert: damit ist man gentilhomme; in jedem andren Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen, ach! so gutmütigen Begriff der canaille. Aber die Deutschen sind canaille – ach! sie sind so gutmütig. Man erniedrigt sich durch den Verkehr mit Deutschen: der Deutsche stellt gleich. Rechne ich meinen Verkehr mit einigen Künstlern, vor allem mit Richard Wagner ab, so habe ich keine gute Stunde mit Deutschen verlebt.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 108

„Niemand in Deutschland hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen das absurde Stillschweigen zu verteidigen, unter dem er vergraben lag: ein Ausländer, ein Däne war es, der zuerst dazu genug Feinheit des Instinkts und Mut hatte, der sich über meine angeblichen Freunde empörte. .... An welcher deutschen Universität wären heute Vorlesungen über meine Philosophie möglich, wie sie letztes Frühjahr der damit noch einmal mehr bewiesene Psycholog Dr. Georg Brandes in Kopenhagen gehalten hat?“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 109

„Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. – Und mit alledem ist nichts in mir von einem Religionsstifter – Religionen sind Pöbel-Affären, ich habe nötig, mir die Hände nach der Berührung mit religiösen Menschen zu waschen. Ich will keine »Gläubigen«, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen. Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man Unfug mit mir treibt. Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. .... Vielleicht bin ich ein Hanswurst. .... Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem – denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige – redet aus mir die Wahrheit. – Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit. – Umwertung aller Werte: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 111

„Mein Los will, daß ich der erste anständige Mensch sein muß, daß ich mich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiß. Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch daß ich zuerst die Lüge als Lüge empfand – roch. Mein Genie ist in meinen Nüstern. Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist, und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes. Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab, ich kenne Aufgaben von einer Höhe, daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat; erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen. Mit alledem bin ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Tal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an gibt es auf Erden große Politik.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 111-112

„Will man eine Formel für ein solches Schicksal, das Mensch wird? – Sie steht in meinem Zarathustra. – Und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische. Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben hat; dies schließt nicht aus, daß ich der wohltätigste sein werde. Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäß ist, – in beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neintun nicht vom Jasagen zu trennen weiß. Ich bin der erste Immoralist: damit bin ich der Vernichter par excellence.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 112

„Man hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten der Name Zarathustra bedeutet: denn was die ungeheure Einzigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmacht, ist gerade dazu das Gegenteil. Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn – die Übersetzung der Moral ins Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk. Aber diese Frage wäre im Grunde bereits die Antwort. Zarathustra schuf diesen verhängnisvollsten Irrtum, die Moral: folglich muß er auch der erste sein, der ihn erkennt. Nicht nur, daß er hier länger und mehr Erfahrung hat als sonst ein Denker – die ganze Geschichte ist ja die Experimental-Widerlegung vom Satz der sogenannten »sittlichen Weltordnung« –: das Wichtigere ist, Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker. Seine Lehre, und sie allein, hat die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend – das heißt den Gegensatz zur Feigheit des »Idealisten«, der vor der Realität die Flucht ergreift; Zarathustra hat mehr Tapferkeit im Leibe als alle Denker zusammengenommen. Wahrheit reden und gut mit Pfeilen schießen, das ist die persische Tugend. – Versteht man mich? .... Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – in mich – das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 113

„Im Grunde sind es zwei Verneinungen, die mein Wort Immoralist in sich schließt. Ich verneine einmal einen Typus Mensch, der bisher als der höchste galt, die Guten, die Wohlwollenden, Wohltätigen; ich verneine andrerseits eine Art Moral, welche als Moral an sich in Geltung und Herrschaft gekommen ist – die décadence-Moral, handgreiflicher geredet, die christliche Moral. Es wäre erlaubt, den zweiten Widerspruch als den entscheidenderen anzusehn, da die Überschätzung der Güte und des Wohlwollens, ins große gerechnet, mir bereits als Folge der décadence gilt, als Schwäche-Symptom, als unverträglich mit einem aufsteigenden und jasagenden Leben: im Jasagen ist Verneinen und Vernichten Bedingung.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 113-114

„Ich bleibe zunächst bei der Psychologie des guten Menschen stehn. Um abzuschätzen, was ein Typus Mensch wert ist, muß man den Preis nachrechnen, den seine Erhaltung kostet – muß man seine Existenzbedingungen kennen. Die Existenz-Bedingung der Guten ist die Lüge –: anders ausgedrückt, das Nicht-sehn-Wollen um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht derart, um jederzeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger derart, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen gutmütigen Händen jederzeit gefallen zu lassen. “
Ders., Ecce homo, 1889, S. 114

„In der großen Ökonomie des Ganzen sind die Furchtbarkeiten der Realität (in den Affekten, in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unausrechenbaren Maße notwendiger als jene Form des kleinen Glücks, die sogenannte »Güte«; man muß sogar nachsichtig sein, um der letzteren, da sie in der Instinkt-Verlogenheit bedingt ist, überhaupt einen Platz zu gönnen.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 114

„Ich werde einen großen Anlaß haben, die über die Maßen unheimlichen Folgen des Optimismus, dieser Ausgeburt der homines optimi, für die ganze Geschichte zu beweisen. Zarathustra, der erste, der begriff, daß der Optimist ebenso décadent ist wie der Pessimist und vielleicht schädlicher, sagt: gute Menschen reden nie die Wahrheit. Falsche Küsten und Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten. Die Welt ist zum Glück nicht auf Instinkte hin gebaut, daß gerade bloß gutmütiges Herdengetier darin sein enges Glück fände; zu fordern, daß alles »guter Mensch«, Herdentier, blauäugig, wohlwollend, »schöne Seele« – oder, wie Herr Herbert Spencer es wünscht, altruistisch werden solle, hieße dem Dasein seinen großen Charakter nehmen, hieße die Menschheit kastrieren und auf eine armselige Chineserei herunterbringen. – Und dies hat man versucht! Dies eben hieß man Moral. In diesem Sinne nennt Zarathustra die Guten bald »die letzten Menschen«, bald den »Anfang vom Ende«; vor allem empfindet er sie als die schädlichste Art Mensch, weil sie ebenso auf Kosten der Wahrheit als auf Kosten der Zukunft ihre Existenz durchsetzen.
Die Guten – die können nicht schaffen, die sind immer der Anfang vom Ende –
– sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft, sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft!
Die Guten – die waren immer der Anfang vom Ende ....
Und was auch für Schaden die Welt-Verleumder tun mögen, der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 114-115

„Zarathustra, der erste Psycholog der Guten, ist – folglich – ein Freund der Bösen. Wenn eine décadence-Art Mensch zum Rang der höchsten Art aufgestiegen ist, so konnte dies nur auf Kosten ihrer Gegensatz-Art geschehn, der starken und lebensgewissen Art Mensch. Wenn das Herdentier im Glanze der reinsten Tugend strahlt, so muß der Ausnahme-Mensch zum Bösen heruntergewertet sein. Wenn die Verlogenheit um jeden Preis das Wort »Wahrheit« für ihre Optik in Anspruch nimmt, so muß der eigentlich Wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden sein. Zarathustra läßt hier keinen Zweifel: er sagt, die Erkenntnis der Guten, der »Besten« gerade sei es gewesen, was ihm Grausen vor dem Menschen überhaupt gemacht habe; aus diesem Widerwillen seien ihm die Flügel gewachsen, »fortzuschweben in ferne Zukünfte« – er verbirgt es nicht, daß sein Typus Mensch, ein relativ übermenschlicher Typus, gerade im Verhältnis zu den Guten übermenschlich ist, daß die Guten und Gerechten seinen Übermenschen Teufel nennen würden.
Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete, das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rate, ihr würdet meinen Übermenschen – Teufel heißen!
So fremd seid ihr dem Großen mit eurer Seele, daß euch der Übermensch furchtbar sein würde in seiner Güte.
An dieser Stelle und nirgendswo anders muß man den Ansatz machen, um zu begreifen, was Zarathustra will: diese Art Mensch, die er konzipiert, konzipiert die Realität, wie sie ist: sie ist stark genug dazu –, sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich, damit erst kann der Mensch Größe haben.
Ders., Ecce homo, 1889, S. 115-116

„Aber ich habe auch noch in einem andren Sinne das Wort Immoralist zum Abzeichen, zum Ehrenzeichen für mich gewählt; ich bin stolz darauf, dies Wort zu haben, das mich gegen die ganze Menschheit abhebt. Niemand noch hat die christliche Moral als unter sich gefühlt: dazu gehörte eine Höhe, ein Fernblick, eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit. Die christliche Moral war bisher die Circe aller Denker – sie standen in ihrem Dienst. – Wer ist vor mir eingestiegen in die Höhlen, aus denen der Gifthauch dieser Art von Ideal – der Weltverleumdung! – emporquillt? Wer hat auch nur zu ahnen gewagt, daß es Höhlen sind? Wer war überhaupt vor mir unter den Philosophen Psycholog und nicht vielmehr dessen Gegensatz »höherer Schwindler«, »Idealist«? Es gab vor mir noch gar keine Psychologie. – Hier der Erste zu sein kann ein Fluch sein, es ist jedenfalls ein Schicksal: denn man verachtet auch als der Erste. Der Ekel am Menschen ist meine Gefahr.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 116-117

„Hat man mich verstanden? – Was mich abgrenzt, was mich beiseite stellt gegen den ganzen Rest der Menschheit, das ist, die christliche Moral entdeckt zu haben. Deshalb war ich eines Worts bedürftig, das den Sinn einer Herausforderung an jedermann enthält. Hier nicht eher die Augen aufgemacht zu haben, gilt mir als die größte Unsauberkeit, die die Menschheit auf dem Gewissen hat, als Instinkt gewordner Selbstbetrug, als grundsätzlicher Wille, jedes Geschehen, jede Ursächlichkeit, jede Wirklichkeit nicht zu sehen, als Falschmünzerei in psychologicis bis zum Verbrechen. Die Blindheit vor dem Christentum ist das Verbrechen par excellence – das Verbrechen am Leben. Die Jahrtausende, die Völker, die Ersten und die Letzten, die Philosophen und die alten Weiber – fünf, sechs Augenblicke der Geschichte abgerechnet, mich als siebenten – in diesem Punkte sind sie alle einander würdig. Der Christ war bisher das »moralische Wesen«, ein Kuriosum ohnegleichen – und, als »moralisches Wesen«, absurder, verlogner, eitler, leichtfertiger, sich selber nachteiliger als auch der größte Verächter der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Die christliche Moral – die bösartigste Form des Willens zur Lüge ....“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 117-118

„Es ist nicht der Irrtum als Irrtum, was mich bei diesem Anblick entsetzt, nicht der jahrtausendelange Mangel an »gutem Willen«, an Zucht, an Anstand, an Tapferkeit im Geistigen, der sich in seinem Sieg verrät – es ist der Mangel an Natur, es ist der vollkommen schauerliche Tatbestand, daß die Widernatur selbst als Moral die höchsten Ehren empfing und als Gesetz, als kategorischer Imperativ, über der Menschheit hängen blieb! In diesem Maße sich vergreifen, nicht als Einzelner, nicht als Volk, sondern als Menschheit! .... Daß man die allerersten Instinkte des Lebens verachten lehrte; daß man eine »Seele«, einen »Geist« erlog, um den Leib zuschanden zu machen; daß man in der Voraussetzung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt; daß man in der tiefsten Notwendigkeit zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht (– das Wort schon ist verleumderisch! –) das böse Prinzip sucht; daß man umgekehrt in den typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im »Selbstlosen«, im Verlust an Schwergewicht, in der »Entpersönlichung« und »Nächstenliebe« (– Nächstensucht!) den höheren Wert, was sage ich! den Wert an sich sieht! Wie! wäre die Menschheit selber in décadence? war sie es immer? – Was feststeht, ist, daß ihr nur Décadence-Werte als oberste Werte gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Tatsache, »ich gehe zugrunde« in den Imperativ übersetzt: »ihr sollt alle zugrunde gehn« – und nicht nur in den Imperativ! Diese einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrät einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben. – Hier bliebe die Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit in Entartung sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit der Moral sich zu ihren Wert-Bestimmern emporgelogen hat – die in der christlichen Moral ihr Mittel zur Macht erriet. Und in der Tat, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesamt, waren insgesamt auch décadents: daher die Umwertung aller Werte ins Lebensfeindliche, daher die Moral. Definition der Moral: Moral – die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen – und mit Erfolg. Ich lege Wert auf diese Definition.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 118-119

„Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereignis, das nicht seinesgleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm. Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am höchsten stand: wer begreift, was da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch etwas in den Händen hat. Alles, was bisher »Wahrheit« hieß, ist als die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand, die Menschheit zu »verbessern«, als die List, das Leben selbst auszusaugen, blutarm zu machen. Moral als Vampyrismus.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 119

„Wer die Moral entdeckt, hat den Unwert aller Werte mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten, in den selbst heilig gesprochnen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges mehr, er sieht die verhängnisvollste Art von Mißgeburten darin, verhängnisvoll, weil sie faszinierten.“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 119

„Der Begriff »Gott« erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben – in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff »Jenseits«, »wahre Welt« erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die es gibt – um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität übrigzubehalten? Der Begriff »Seele«, »Geist«, zuletzt gar noch »unsterbliche Seele«, erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank – »heilig« – zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen! Statt der Gesundheit das »Heil der Seele« – will sagen eine folie circulaire zwischen Bußkrampf und Erlösungs-Hysterie! Der Begriff »Sünde« erfunden samt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff »freier Wille«, um die Instinkte zu verwirren, um das Mißtrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen! Im Begriff des »Selbstlosen«, des »Sich-selbst-Verleugnenden« das eigentliche décadence-Abzeichen, das Gelocktwerden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-Können«, die Selbst-Zerstörung zum Wertzeichen überhaupt gemacht, zur »Pflicht«, zur »Heiligkeit«, zum »Göttlichen« im Menschen! Endlich – es ist das Furchtbarste – im Begriff des guten Menschen die Partei alles Schwachen, Kranken, Mißratnen, An-sich-selber-Leidenden genommen, alles dessen, was zugrunde gehn soll -, das Gesetz der Selektion gekreuzt, ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgeratenen, gegen den jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht – dieser heißt nunmehr der Böse .... Und das alles wurde geglaubt als Moral!
Ders., Ecce homo, 1889, S. 119-120

„Hat man mich verstanden? —  D i o n y s o s   g e g e n   d e n   G e k r e u z i g t e n .“
Ders., Ecce homo, 1889, S. 120

„So sterben, wie ich ihn einst sterben sah –, den Freund, der Blitze und Blicke göttlich in meine dunkle Jugend warf: – mutwillig und tief, in der Schlacht ein Tänzer –, unter Kriegern der Heiterste, unter Siegern der Schwerste, auf seinem Schicksal ein Schicksal stehend, hart, nachdenklich, vordenklich –: erzitternd darob, daß er siegte, jauchzend darüber, daß er sterbend siegte –: befehlend, indem er starb, – und er befahl, daß man vernichte .... So sterben, wie ich ihn einst sterben sah: siegend, vernichtend ....“
Ders., Dionysos-Dithyramben, 1889, in: Werke III, S. 694 bzw. 1248

„Hier, wo zwischen Meeren die Insel wuchs, ein Opferstein jäh hinaufgetürmt, hier zündet sich unter schwarzem Himmel Zarathustra seine Höhenfeuer an, – Feuerzeichen für verschlagne Schiffer, Fragezeichen für solche, die Antwort haben. Diese Flamme mit weißgrauem Bauche – in kalte Fernen züngelt ihre Gier, nach immer reineren Höhen biegt sie den Hals – eine Schlange gerad aufgerichtet vor Ungeduld: dieses Zeichen stellte ich vor mich hin. Meine Seele selber ist diese Flamme: unersättlich nach neuen Fernen lodert aufwärts, aufwärts ihre stille Glut. Was floh Zarathustra vor Tier und Menschen? Was entlief er jäh allem festen Lande? Sechs Einsamkeiten kennt er schon –, aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam, die Insel ließ ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme, nach einer siebenten Einsamkeit wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt. Verschlagne Schiffer! Trümmer alter Sterne! Ihr Meere der Zukunft! Unausgeforschte Himmel! nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel: gebt Antwort auf die Ungeduld der Flamme, fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen, meine siebente, letzte Einsamkeit!“
Ders., Dionysos-Dithyramben, 1889, in: Werke III, S. 699 bzw. 1253

„Schon im Sommer 1876, mitten in der Zeit der ersten Festspiele, nahm ich bei mir Abschied von Wagner.“
Ders., Nietzsche contra Wagner, 1889, S.20

„Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. .... Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 3

„Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt nichts bisher getan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vorteil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 3-4

„Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte« – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werte und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser »Werte« war .... Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 4

„Es ist ein Irrtum, auf »soziale Notstände« oder »physiologische Entartungen« oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Not, seelische, leibliche, intellektuelle Not ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d.h. die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 7

„Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der moralischen Weltauslegung, die kein Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten, endet in Nihilismus. »Alles hat keinen Sinn« ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 7

„Die Undurchführbarkeit einer Welauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist, erweckt das Mißtrauen, ob nicht alle Werteauslegungen falsch sind. Buddhistischer Zug, Sehensucht in's Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht eine grundmoralische Entwickelung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrtum kombiniert, der Irrtum also die Strafe- eine moralische Wertschätzung). Die philosophischen Versuche, den »moralischen Gott« zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volkstümlichen Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter. Antagonismus von »wahr« und »schön« und »gut«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (neben ihren Versuchen ins Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betrieb folgt endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Anti-Wissenschaftlichkeit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 8

„Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der politischen und volkswirtschaftlichen Denkweise, wo alle »Prinzipien« nachgerade zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit und Unaufrichtigkeit u.s.w.. Der Nationalismus. Der Anarchismus u.s.w.. Strafe. Es fehltv der erlösende Stand und Mensch, die Rechtfertiger.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der Historie und der »praktischen Historiker«, d.h. der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absulute Unorginalität ihrer Stellung in der modernen Welt. Ihre Verdüsterung. Goethes angebliches Olympiertum.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 9

„Die Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus: Romantik (Wagners Nibelungen-Schluß).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 9

„Was bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel, es fehl die Antwort auf das »Warum«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 10

„Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt, hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen. – Diese Einsicht ist ein Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«, somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 10

„Unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit : diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte Betrachtung - und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun, gerade als Stimulans.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 11

„Die obersten Werte, in deren Dienst der Mensch leben sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten, – diese sozialen Werte hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie Kommandos Gottes wären, als »Realität«, als »wahre« Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über dem Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werte klar wird, scheint uns das All damit entwertet, »sinnlos« geworden, – aber das ist nur ein Zwischenzustand.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 11-12

„Die nihilistische Konsequenz (der Glaube an die Wertlosigkeit) als Folge der moralischen Wertschätzung: das Egoistische ist uns verleitet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen). Das Notwendige ist uns verleitet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines liberum arbitrium einer »intelligiblen Freiheit«). Wir sehen, daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werte gelegt haben nicht erreichen - damit hat die andre Sphäre, in der wir leben noch keineswegs an Wert gewonnen: im Gegenteil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren haben. »Umsonst bisher« .“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 12

Hinfall der kosmologischen Werte
A.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen »Sinn« in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des »Umsonst«, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen .... Jener Sinn könnte gewesen sein: die »Erfüllung« eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen Nichts-Zustand – ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht werden soll: – und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird. .... Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze »Entwicklung« betreffen (– der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens).
Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der Gesamtvorstellung einer höchsten Herrschafts-und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (– ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit allem zu versöhnen ...). Eine Art Einheit, irgendeine Form des »Monismus«: und infolge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit. . .... »Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des einzelnen« ..., aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Wert verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich wertvolles Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes konzipiert, um an seinen Wert glauben zu können.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will ....
– Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit« der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch ..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden .... Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«, mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt wertlos aus ....
B.
Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, – versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwertet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerten.
– Resultat: Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen.
– Schluß-Resultat: Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität des Menschen: sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 12-16

„Was ist ein Glaube? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein Für-wahr-halten. Die extremste Form des Nihilismus wäre die Einsicht: daß jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten notwenig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht gibt. Also: ein perspektivischer Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt nötig haben). – Daß es das Maß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die Notwendigkeit der Lüge eingestehen können, ohne zugrunde zu gehen. Insofern könnte Nihilismus, als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein. “
Ders., Der Wille zur Macht, S. 17

„Wenn wir »Enttäuschte« sind, so sind wir es nicht in Hinsicht auf das Leben: sondern, daß uns über die »Wünschbarkeiten« aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir sehen mit einem spöttischen Ingrimm dem zu, was »Ideal« heißt: wir verachten uns nur darum, nicht zu jeder Stunde jene absurde Regung niederhalten zu können, welche »Idealismus« heißt. Die Verwöhnung ist stärker als der Ingrimm des Enttäuschten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 17

Inwiefern der Schopenhauersche Nihilismus immer noch die Folge des gleichen Ideals ist, welches den christlichen Theismus geschaffen hat. – Der Grad von Sicherheit in betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werte, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon wie von einer absoluten Gewißheit a priori ausgingen: »Gott« an der Spitze als gegebene Wahrheit. »Gott gleich zu werden«, »in Gott aufzugehn« – das waren jahrtausendelang die naivsten und überzeugendsten Wünschbarkeiten (– aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für Esel). – Man hat verlernt, jener Ansetzung von Idealen auch die Personen-Realität zuzugestehen; man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? – Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die wirkliche »Realität«, das »Ding an sich«, im Verhältnis zu dem alles andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist, daß, weil unsre Erscheinungswelt so ersichtlich nicht der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht »wahr« ist – und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nötig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als »bösen, blinden Willen«: dergestalt konnte er dann »das Erscheinende« sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf – er schlich sich durch .... (Kant schien die Hypothese der »intelligiblen Freiheit« nötig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen ...).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 17-18

„Jede rein moralische Wertsetzung (wie z.B. die buddhistische) endet mit Nihilismus: dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus notwendig. – In der Religion fehlt der Zwang, uns als wertsetzend zu betrachten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 19

„Die Frage des Nihlismus »wozu?« geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen her gestellt, gegeben, gefordert schien – nämlich durch irgend eine übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat, an diese zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach einer andern Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte und Ziele und Aufgaben befehlen könnte. Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr emanzipiert von der Theologie, um so imperativischer wird die Moral) als Schadenersatz für persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft. Oder der soziale Instinkt (die Herde). Oder die Historie mit einem immanenten Geist, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kann. Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Ziels, um das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben, man möchte die Verantwortung abwälzen (– man würde den Fatalismus akzeptieren). Endlich: Glück, und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der meisten.
Man sagt sich:
1. ein bestimmtes Ziel ist gar nicht nötig,
2. ist gar nicht möglich vorherzusehen.
Gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nötig wäre, ist er am schwächsten und kleinmütigsten. Absolutes Mißtrauen gegen die organisatorische Kraft des Willens fürs Ganze.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 19-20

Der vollkommene Nihilist. – Das Auge des Nihilisten idealisiert ins Häßliche, übt Untreue gegen seine Erinnerungen –: es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt. Und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit der Menschheit nicht. – er läßt sie fallen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 20

„Der Nihilismus ist zweideutig:
A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus.
B. Nihilismus als Niedergang, als Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 20

„Der Nihilismus ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das »Umsonst!«, und nicht nur der Glaube, daß alles wert ist zugrunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zugrunde .... Das ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung, logisch zu sein .... Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein »des Urteils« stehen zu bleiben: – das Nein der Tat kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die Ver-Nichtsung durch die Hand.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 21-22

Ursachen des Nihilismus:
1. Es fehlt die höhere Spezies, d. h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den Glauben an den Menschen aufrechterhält. (Man denke, was man Napoleon verdankt: fast alle höheren Hoffnungen dieses Jahrhunderts.)
2. die niedere Spezies (»Herde«, »Masse«, »Gesellschaft«) verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu kosmischen und metaphysischen Werten auf. Dadurch wird das ganze Dasein vulgarisiert: insofern nämlich die Masse herrscht, tyrannisiert sie die Ausnahmen, so daß diese den Glauben an sich verlieren und Nihilisten werden.
Alle Versuche, höhere Typen auszudenken, manquiert (»Romantik«; der Künstler, der Philosoph; gegen Carlyles Versuch, ihnen die höchsten Moralwerte zuzulegen). Widerstand gegen höhere Typen als Resultat. Niedergang und Unsicherheit aller höheren Typen. Der Kampf gegen das Genie (»Volkspoesie« usw.). Mitleid mit den Niederen und Leidenden als Maßstab für die Höhe der Seele.
Es fehlt der Philosoph, der Ausdeuter der Tat, nicht nur der Umdichter.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 22-23

„Der unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin. Die Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werte umzuwerten: bringen das Gegenteil hervor, verschärfen das Problem.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 23

„Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ – wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Wertungen, mit dem Maße von Energie, das eben eine solche extreme Überwertung des Menschen im Menschen erzeugt hat.
Jetzt ist alles durch und durch falsch, »Wort«, durcheinander, schwach oder überspannt:
a) man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Sozialismus: »Gleichheit der Person«);
b) man versucht ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der Selbst-Verleugnung, der Willens- Verneinung);
c) man versucht selbst das »Jenseits« festzuhalten: sei es auch nur als antilogisches x: aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;
d) man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende, erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;
e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so daß man den Sieg des Guten und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet (– das ist englisch: typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);
f) die Verachtung der »Natürlichkeit«, der Begierde, des ego: Versuch, selbst die höchste Geistigkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung und als désintéressement zu verstehn;
g) man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben: wir haben noch immer den »christlichen Staat«, die »christliche Ehe« –“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 24-25

„Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, – nicht der Welt und des Daseins.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 27

„Das »Übergewicht von Leid über Lust« oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum Nihilismus .... Denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung. Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: – für jede gesunde Art Mensch mißt sich der Wert des Lebens schlechterdings nicht am Maße dieser Nebensachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben; ein Nöthig-haben dieses Übergewichts. »Das Leben lohnt sich nicht«; »Resignation«, »warum sind die Tränen? ...« – eine schwächliche und sentimentale Denkweise.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 27-28

„Der philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht? Aber woher nimmt man diesen »Sinn«, dieses Maß? – Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes, nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt. Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen. Es läuft auf die absurde Wertung hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zurecht bestehen soll .... Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegenteils für uns unlösbar ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 28

Entwicklung des Pessimismus zum Nihilismus. – Entnatürlichung der Werte. Scholastik der Werte. Die Werte, losgelöst, idealistisch, statt das Tun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurteilend gegen das Tun. Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich. Die verworfene Welt, angesichts einer künstlich erbauten »wahren, wertvollen«. – Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die »wahre Welt« gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Konto ihrer Verwerflichkeit. Damit ist der Nihilismus da: man hat die richtenden Werte übrigbehalten – und nichts weiter! Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:
1. die Schwachen zerbrechen daran;
2. die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht;
3. die Stärksten überwinden die richtenden Werte.
Das zusammen macht das tragische Zeitalter aus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 28-29

„Grundansicht über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen. Damit verändert sich die ganze Persprektive der moralischen Probleme. Der ganze Moral-Kampf gegen Laster, Luxus, Verbrechen, selbst Krankheit erscheint als Naivität, als überflüssig: – es gibt keine »Besserung« (gegen die Reue). Die décadence selbst ist nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut notwendig und jeder Zeit und jedem Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen ist, das ist die Einschleppung des Kontagiums in die gesunden Teile des Organismus. Tut man das? Man tut das Gegenteil. Genau darum bemüht man sich seitens der Humanität. – Wir verhalten sich zu dieser biologischen Grundfrage die bisherigen obersten Werte? Die Philosophie, die Religion, die Moral, die Kunst u.s.w.. (Die Kur: z.B. Militarismus, von Napoleon an, der in der Zivilisation seine natürliche Feindin sah.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 31

„Was sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit: die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen u.s.w., die gebrochene Widerstandskraft, moralisch ausgedrückt: die Resignation und Demut vor dem Feinde.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 35

Gesundheit und Krankheit sind nicht wesentlich Verschiedenes, wie es die ... Mediziner und ... einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Prinzipien oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist albernes Zeug und Geschwätz, das zu nichts ... taugt. Tatsächlich gibt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonbie der normalen Phänomene konstituieren den krankhaften Zustand. So gut »das Böse« betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie, Disproportion, so gut kann »das Gute« eine Schutzdiät gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 35

„Man will Schwäche: warum? ..., meistens, weil man notwendig schwach ist. – Die Schwächung als Aufgabe. ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 36

Theorie der Erschöpfung. – Das Laster, die Geisteskranken (resp. die Artisten...), die Verbrecher, die Anarchisten – das sind nicht die unterdrückten Klassen, sondern der Auswurf der bisherigen Gesellschaft aller Klassen .... Mit der Einsicht, daß alle unsre Stände durchdrungen sind von diesen Elementen, haben wir begriffen, daß die moderne Gesellschaft keine »Gesellschaft«, kein »Körper« ist, sondern ein krankes Konglomerat von Tschandalas – eine Gesellschaft, die die Kraft nicht mehr hat, zu exkretieren. Inwiefern durch das Zusammenleben seit Jahrhunderten die Krankhaftigkeit viel tiefer geht:
die moderne Tugend}als Krankheits-Formen,
die moderne Geistigkeit
unsre Wissenschaft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 39

Der Zustand der Korruption. – Die Zusammengehörigkeit aller Korruptions-Formen zu begreifen; und dabei nicht die christliche Korruption zu vergessen (Pascal als Typus); ebenso die sozialistisch-kommunistische Korruption (eine Folge der christlichen; -naturwissenschaftlich ist die höchste Sozietäts-Konzeption der Sozialisten die niedrigste in der Rangordnung der Sozietäten); die »Jenseits«-Korruption: wie als ob es außer der wirklichen Welt, der des Werdens, eine Welt des Seienden gäbe. Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen, vernichten, Krieg führen, -man muß das christlich-nihilistische Wertmaß überall noch herausziehn und es unter jeder Maske bekämpfen .., z.B. aus der jetzigen Soziologie, aus der jetzigen Musik, aus dem jetzigen Pessimismus (- alles Formen des christlichen Wertideals -). Entweder eins oder das andere ist wahr: wahr, das heißt hier den Typus Mensch emporhebend. .... Der Priester, der Seelsorger, als verwerfliche Daseinsformen. Die gesamte Erziehung bisher hilflos, haltlos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werte behaftet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 39-40

„Nicht die Natur ist unmoralisch, wenn sie ohne Mitleid für die Degenerierten ist: das Wachstum der physiologischen und moralischen Übel im menschlichen Geschlecht ist umgekehrt die Folge einer krankhaften und unnatürlichen Moral. Die Sensibilität der Mehrzahl der Menschen ist krankhaft und unnatürlich. Woran hängt es, daß die Menschheit korrupt ist in moralischer und physiologischer Beziehung? – Der Leib geht zugrunde, wenn ein Organ alteriert ist. Man kann nicht das Recht des Altruismus auf die Physiologie zurückführen, ebensowenig das Recht auf Hilfe, auf Gleichheit der Lose: das sind alles Prämien für die Degenerierten und Schlechtweggekommenen. Es gibt keine Solidarität in einer Gesellschaft, wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente gibt: die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden, als sie selbst sind.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 40

„Es gibt eine tiefe und vollkommen unbewußte wirkung der décadence selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsre ganze Soziologie ist der Beweis für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur das Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Urteils nimmt. Das niedersinkende Leben im jetzigen Europa formuliert in ihnen seine Gesellschafts-Ideale : sie sehen alle zum Verwechseln dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich. .... Der Herdeninstinkt sodann - eine jetzt souverän gewordene Macht - ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt einer aristokratischen Sozietät: und es kommt auf den Wert der Einheiten an, was die Summe zu bedeuten hat .... Unsre ganze Soziologie kennt gar keinen andern Instinkt als den der Herde, d.h. der summierten Nullen, - wo jede Null »gleiche Rechte« hat, wo es tugendhaft ist, Null zu sein .... Die Wertung, mit der heute die verschiedenen Formen der Sozietät beurteilt werden, ist ganz und gar eins mit jener, welche dem Frieden einen höheren Wert zuerteilt als dem Krieg: aber dies Urteil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der décadence des Lebens. .... Das Leben ist eine Folge des Kriegs, die Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg. .... Herr Herbert Spencer ist als Biologe ein décadent, - er ist es auch als Moralist (er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!!!).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 41

„Ich habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung den Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein führt. Ich lehre das Nein zu allem, was schwach macht, was erschöpft. Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft rechtfertigt. Man hat weder das eine noch das andre bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt .... Dies sind alles Werthe der Erschöpften. Ein langes Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wie weit die Urteile Erschöpfter in die Welt der Werte eingedrungen seien. Mein Ergebnis war so überraschend wie möglich, selbst für mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich fand alle obersten Werturteile, alle, die Herr geworden sind über die Menschheit, mindestens zahm gewordene Menschheit, zurückführbar auf die Urteile Erschöpfter. Unter den heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt, Schwäche lehrt, Schwäche infiziert ..., ich fand, daß der »gute Mensch« eine Selbstbejahungsform der décadence ist. Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie die oberste, die einzige und das Fundament aller Tugenden sei: eben jenes Mitleiden erkannte ich als gefährlicher als irgendein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich kreuzen – das hieß bisher Tugend par excellence .... Man soll das Verhängnis in Ehren halten, das Verhöängnis, das zum Schwachen sagt »geh zugrunde!« Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängnis widerstrebte, – daß man die Menschheit verdarb und verfaulen machte .... Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich führen .... Die Rasse ist verdorben – nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels .... Die Tugend ist unser großes Mißverständnis. Problem: wie kamen die Erschöpften dazu, die Gesetze der Werte zu machen? Anders gefragt: wie kamen die zur Macht, die die Letzten sind? ... Erkenne die Geschichte! Wie kommt der Instinkt des Tieres Mensch auf den Kopf zu stehn? ...“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 41-43

„Extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-notwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen »Sinn« im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation ging zugrunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 43

„Daß dies »Umsonst!« der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zur Frage: »sind nicht alle ›Werte‹ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näherkommt?« Die Dauer, mit einem »Umsonst«, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch, wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 43-44

„Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige Wiederkehr«. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig! Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 44

„Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn »alles vollkommen, göttlich, ewig« zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die »ewige Wiederkunft«. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-Stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott »jenseits von Gut und Böse« zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? – Das wäre der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Notwendigkeit hat: und er triumphierte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 44-45

„Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zugrunde liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphierend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, wertvoll, mit Lust empfindet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 45

„Nun hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen vergewalttätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewalttätigen, die »Herren« überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, das heißt zunächst ermutigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten hassen und verachten gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: ihren Willen zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Wertung ansehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem Willen zur Moral nur dieser »Wille zur Macht« verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 45-46

„Vielmehr umkehrt! Es gibt nichts am Leben, was Wert hat, außer dem Grade der Macht – gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus, indem sie jedem einen unendlichen Wert, einen metaphysischen Wert beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demut usw.. Gesetzt, daß der Glaube an diese Moral zugrunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben – und zugrunde gehn.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 46

„Das Zugrunde-gehen präsentiert sich als ein Sich-zugrunde-richten, als ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nötigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (– gleichsam sich seine Henker selbst züchtend), der Wille zur Zerstörung als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 46

„Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, »sich zu ergeben« – daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Prinzips stellen und auch ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-tun, nachdem alles Dasein seinen »Sinn« verloren hat.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 47

„Die »Not« ist nicht etwa größer geworden: im Gegenteil! »Gott, Moral, Ergebung« waren Heilmittel, auf furchtbar tiefen Stufen des Elends: der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen auf. Schon daß die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Kultur voraus; diese wieder ein relatives Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer Meinungen bis zur hoffnungslosesten Skepsis gegen Philosophie gebracht, kennzeichnet ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte Voraussetzungen haben (wie die Lehre Buddhas solche hatte, zum Beispiel Begriff der Kausalität usw.).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 47

„Was heißt jetzt »schlechtweggekommen«? Vor allem physiologisch: nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüten ist bei der Einsicht, daß alles seit Ewigkeiten da war – auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. – Der Wert einer solchen Krisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich aneinander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist – auch unter ihnen die schwächeren, unsichreren ans Licht bringend und so zu einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundheit, den Anstoß gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 47-48

„Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehn, sondern lieben, die, welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten – Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentieren. – Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 48

Perioden des europäischen Nihilismus.
Die Periode der Unklarheit, der Tentativen aller Art, das Alte zu konservieren und das Neue nicht fahren zu lassen.
Die Periode der Klarheit: man begreift, daß Altes und Neues Grundgegensätze sind: die alten Werte aus dem niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben geboren –, daß alle alten Ideale lebensfeindliche Ideale sind (aus der décadence geboren und die décadence bestimmend, wie sehr auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral). Wir verstehen das Alte und sind lange nicht stark genug zu einem Neuen.
Die Periode der drei großen Affekte: der Verachtung, des Mitleids, der Zerstörung.
Die Periode der Katastrophe: die Heraufkunft einer Lehre, welche die Menschen aussiebt ... welche die Schwachen zu Entschlüssen treibt und ebenso die Starken. –“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 49

Zur Geschichte der modernen Verdüsterung.
Die Staats-Nomaden (Beamte usw.): ohne »Heimat« –.
Der Niedergang der Familie.
Der »gute Mensch« als Symptom der Erschöpfung.
Gerechtigkeit als Wille zur Macht (Züchtung).
Geilheit und Neurose.
Schwarze Musik: – die erquickliche Musik wohin?
Der Anarchist.
Menschenverachtung, Ekel.
Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der Romantik. –
Nordische Unnatürlichkeit.
Das Bedürfnis nach Alcoholica: die Arbeiter– »Not«.
Der philosophische Nihilismus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 51

„Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der Französischen Revolution reichlich präludiert und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, – im ganzen also das Übergewicht der Herde über alle Hirten und Leithämmel – bringt mit sich:
1. Verdüsterung des Geistes (– das Beieinander eines stoischen und frivolen Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt viele Leiden sehn und hören, welche man früher ertrug und verbarg);
2. die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber durch die Herden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung und nicht durch solche, die außer dem Herden-Vermögen erkannt und gewürdigt werden);
3. eine wirkliche große Menge von Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Herdentiere haben – »Gemeinsinn«, »Vaterland«, alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 51-52

„Im großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein ungeheures Quantum von Humanität erreicht. Daß ies im allgemeinen nicvht empfunden wird, ist selber ein Beweis dafür: wir sind für die kleinen Notstände so empfindlich geworden, daß wir das, was erreicht ist, unbillig übersehen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 53

Der zweite Buddhismus. Die nihilistische Katastrophe, die mit der indischen Kultur ein Ende machte - Vorzeichen dafür: Das Überhandnehmen des Mitleids. Die geistige Übermüdung. Die Reduktion der Probleme auf Lust- und Unlust-Fragen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 54

„Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition: alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den Geschmack... Im Grunde denkt und tut man nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität: man studiert sie, man erkennt sie an (als »Erblichkeit« –), aber man will sie nicht. Die Anspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und Wertungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maße antimodern. Woraus sich ergibt, daß die desorganisierenden Prinzipien unserem Zeitalter den Charakter geben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 54

Nihilistischer Zug.
a) In den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit« –); Kausalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit« ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.
b) Insgleichen in der Politik: es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.
c) Insgleichen in der Volkswirtschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines erlösenden Standes, eines Rechtfertigers, – Heraufkommen des Anarchismus. »Erziehung«?
d) Insgleichen in der Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und Göttlichkeit hineinzudeuten, mißraten. Sentimentalität vor der Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! – (Der Phänomenalismus auch hier: Charakter als Maske; es gibt keine Tatsachen.)
e) Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen).Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch, sich rein artistisch zum »Menschen« zu stellen, – auch da wird noch nicht die umgekehrte Wertschätzung gewagt!)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 56-57

„Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem »Willen zur Wahrheit« hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher »Freiheit“ sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens derer, denen sie fehlt. In der ersten verlangt man Gerechtigkeit. Auch von Seiten derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d.h. man will loskommen von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man »gleiche Rechte«, d.h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 63-64

Fortschritt. – Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts – wir möchten glauben, daß auch alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, – daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist .... Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechzehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788 .... Die »Menschheit« avanciert nicht, sie existiert nicht einmal. Der Gesamt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentier-Werkstätte, wo einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence-Bewegung ist? .... Daß die deutsche Reformation eine Rekrudeszenz der christlichen Barbarei ist?... Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation der Gesellschaft zerstört hat? .... Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Tier: der Kultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber und Korsen; der Chinese ist ein wohlgeratener Typus, nämlich dauerfähiger, als der Europäer ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 65

„Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden; Hegel sucht Vernunft überall,-vor der Vernunft darf man sich ergeben und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, der nicht revoltiert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 72

Gegen Rousseau. – Der Mensch ist leider nicht mehr böse genug; die Gegner Rousseaus, welche sagen, »der Mensch ist ein Raubtier«, haben leider nicht recht. Nicht die Verderbnis des Menschen, sondern seine Verzärtlichung und Vermoralisierung ist der Fluch. In der Sphäre, welche von Rousseau am heftigsten bekämpft wurde, war gerade die relativ noch starke und wohlgeratene Art Mensch (– die, welche noch die großen Affekte ungebrochen hatte: Wille zur Macht, Wille zum Genuß, Wille und Vermögen zu kommandieren). Man muß den Menschen des 18. Jahrhunderts mit dem Menschen der Renaissance vergleichen (auch dem des 17. Jahrhunderts in Frankreich), um zu spüren, worum es sich handelt: Rousseau ist ein Symptom der Selbstverachtung und der erhitzten Eitelkeit – beides Anzeichen, daß es am dominierenden Willen fehlt: er moralisiert und sucht die Ursache seiner Miserabilität als Rankune-Mensch in den herrschenden Ständen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 73

Rousseau: die Regel gründend auf das Gefühl; die Natur als Quelle der Gerechtigkeit; der Mensch vervollkommnet sich in dem Maße, in dem er sich der Natur nähert (– nach Voltaire in dem Maße, in dem er sich von der Natur entfernt). Dieselben Epochen für den einen die des Fortschritts der Humanität, für den andern Zeiten der Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit. .... Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung, bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. .... Romantik á la Rousseau: die Leidenschaft (» das souveräne Recht der Passion«), die »Natürlichkeit«; die Faszination der Verrücktheit (die Narrheit zur Größe gerechnet); die unsinnige Eitelkeit des Schwachen; die Pöbel-Rankune als Richterin (»in der Politik hat man seit hundert Jahren einen Kranken als Führer genommen«).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 74-76

„Die beiden großen Tentativen, die gemacht worden sin, das 18. Jahrhundert zu überwinden:
Napoleon, indem er den Mann, den Soldaten und den großen Kampf umd Macht wieder aufweckte – Europa als politische Einheit konzipierend;
Goethe, indem er eine europäische Kultur imaginierte, die die volle Erbschaft der schon erreichten Humanität macht.
Die deutsche Kultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen – in der Musik fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe –“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 78

„Wagner resümiert die Romantik, die deutsche und die französische –“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 79

„Grundsatz: es gibt etwas von Verfall in allem, was den modernen Menschen anzeigt: aber dicht neben der Krankheit stehen Anzeichen einer unerprobten Kraft und Mächtigkeit der Seele. Dieselben Gründe, welche die Verkleinerung der Menschen hervorbringen, treiben die Stärkeren und Seltneren bis hinauf zur Größe.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 81

„Gesamt-Einsicht: der zweideutige Charakter unserer modernen Welt - eben dieselben Symptome können auf Niedergang und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter (zurückgebliebener) Gefühls-Abwerthung als Schwäche mißverstanden werden. Kurz, das Gefühl, als Wert-Gefühl, ist nicht auf der Höhe der Zeit. Verallgemeinert: Das Wertgefühl ist immer rückständig, es drückt Erhaltungs-, Wachstums-Beziehungen einer viel frühren Zeit aus: es kämpft gegen neue Daseins-Bedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es nothwendig mißversteht, mißtrauisch ansehen lehrt usw.: es hemmt, es weckt Argwohn gegen das Neue ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 81

Das Problem des neunzehnten Jahrhunderts. Ob seine starke und schwache Seite zueinander gehören? Ob es aus einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit seiner Ideale und deren Widerspruch in einem höheren Zwecke bedingt ist: als etwas Höheres – Denn es könnte die Vorbestimmung zur Größe sein, in diesem Maße in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit, der Nihilismus könnte ein gutes Zeichen sein.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 82

Gesamt-Einsicht. – Tatsächlich bringt jedes große Wachstum auchein ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich: das Leiden, die Symptome des Niedergangs gehören in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens; jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung mitgeschaffen. Es wäre unter Umständen das Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentliches Wachstum, für den Übergang in neue Daseinsbedingungen, daß die extremste Form des Pessimismus. der eigentliche Nihilismus, zur Welt käme. Dies habe ich begriffen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 82

„A.
Von einer vollen herzhaften Würdigung unsrer jetzigen Menschheit auszugehen: – sich nicht durch den Augenschein täuschen lassen: diese Menschheit ist weniger »effektvoll«, aber sie gibt ganz andere Garantien der Dauer, ihr Tempo ist langsamer, aber der Takt selbst ist viel reicher. Die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes werden erkannt und allmählich geschaffen, der »Asketismus« ironice –. Die Scheu vor Extremen, ein gewisses Zutrauen zum »rechten Weg«, keine Schwärmerei; ein zeitweiliges Sich-Einleben in engere Werte (wie »Vaterland«, wie »Wissenschaft« usw.). Dies ganze Bild wäre aber immer noch zweideutig: – es könnte eine aufsteigende oder aber eine absteigende Bewegung des Lebens sein.
B.
Der Glaube an den »Fortschritt« – – in der niederen Sphäre der Intelligenz erscheint er als aufsteigendes Leben: aber das ist Selbsttäuschung; in der höheren Sphäre der Intelligenz als absteigendes. Schilderung der Symptome. Einheit des Gesichtspunktes: Unsicherheit in betreff der Wertmaße. Furcht vor einem allgemeinen »Umsonst«. Nihilismus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 82-83

„Tatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nötig: das Leben ist nicht mehr dermaßen ungewiß, zufällig, unsinnig in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzierung vom Wert des Menschen, vom Wert des Übels usw. ist jetzt nicht so nötig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung dieses Wertes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. »Gott« ist eine viel zu extreme Hypothese.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 83

„Wenn irgend etwas unsere Vermenschlichung, einen wahren tatsächlichen Fortschritt bedeutet, so ist es,daß wir keine exzessiven Gegensätze, überhaupt keine Gegensätze mehr brauchen .... Wir dürfen die Sinne lieben, wir haben sie in jedem Grade vergeistigt und artistisch gemacht; wir haben ein Recht auf alle die Dinge, die am schlimmsten bisher verrufen waren.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 83-84

Die Umkehrung der Rangordnung. – Die frommen Falschmünzer, die Priester, werden unter uns zu Tschandalas: – sie nehmen die Stellung der Scharlatane, der Quacksalber, der Falschmünzer, der Zauberer ein: wir halten sie für Willens-Verderber, für die großen Verleumder und Rachsüchtigen des Lebens, für die Empörer unter den Schlechtweggekommenen. Wir haben aus der Dienstboten-Kaste, den Sudras, unsern Mittelstand gemacht, unser »Volk«, das, was die politische Entscheidung in den Händen hat. Dagegen ist der Tschandala von ehemals obenauf: voran die Gotteslästerer, die Immoralisten, die Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die Spielleute – im Grunde alle verrufenen Menschenklassen –. Wir haben uns zu ehrenhaften Gedanken emporgehoben, mehr noch, wir bestimmen die Ehre auf Erden, die »Vornehmheit«... Wir alle sind heute die Fürsprecher des Lebens –. Wir Immoralisten sind heute die stärkste Macht: die großen andern Mächte brauchen uns... wir konstruieren die Welt nach unserm Bilde –. Wir haben den Begriff »Tschandala« auf die Priester, Jenseits-Lehrer und die mit ihnen verwachsene christliche Gesellschaft übertragen, hinzugenommen was gleichen Ursprungs ist, die Pessimisten, Nihilisten, Mitleids-Romantiker, Verbrecher, Lasterhaften – die gesamte Sphäre, wo der Begriff »Gott« als Heiland imaginiert wird .... Wir sind stolz darauf, keine Lügner mehr sein zu müssen, keine Verleumder, keine Verdächtiger des Lebens ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 84-85

Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts gegen das achtzehnte (– im Grunde führen wir guten Europäer einen Krieg gegen das achtzehnte Jahrhundert –):
1. »Rückkehr zur Natur« immer entschiedener im umgekehrten Sinne verstanden, als es Rousseau verstand; – weg vom Idyll und der Oper!
2. immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer, maßvoller, mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen, antirevolutionär;
3. immer entschiedener die Frage der Gesundheit des Leibes der »der Seele« voranstellend: letztere als einen Zustand infolge der ersteren begreifend, diese mindestens als die Vorbedingung der Gesundheit der Seele.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 85

„Wenn irgend etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen, eine freudigere, wohlwollendere, Goetheschere Stellung zur Sinnlichkeit; insgleichen eine stolzere Empfindung in betreff des Erkennens: so daß der »reine Tor« wenig glauben findet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 85

Die Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert (das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz, der Feinheit und der généreux sentiments). >Nicht „Rückkehr zur Natur“: denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und widernatürlicher Werte ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe — er kehrt nie »zurück« .... Die Natur: d.h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur. Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.
Natürlicher ist unsere erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müßgen: man macht Jagd auseinander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hindernis und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Erkenntnis: wir haben die Libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntnis, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Moral. Prinzipien sind lächerlich geworden; niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner „Pflicht“ zu reden. Aber man schätzt eine hilfreiche wohlwollende Gesinnung (– man sieht im Instinkt die Moral und dedaignirt den Rest. Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe –).
Natürlicher ist unsere Stellung in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.
Natürlicher ist unsere Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir konzipieren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer »Unschuld« »Vernunft« »Schönheit« willen, wir haben sie hübsch »verteufelt« und »verdummt«. Aber statt sie darum zu verachten, fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt nicht zur Tugend: wir achten sie deshalb.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher konstatiert, ohne sich zu erregen.
In summa: es gibt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehn, ohne Erbitterung: im Gegenteil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten. Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Korruption fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der »Natur« angenähert hat, von der Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter in der Zivilisation, welche er perhorreszierte. Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes namentlich ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 87-88

Kultur contra Zivilisation. – Die Höhepunkte der Kultur und der Zivilisation liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus von Kultur und Zivilisation nicht irreführen lassen. Die großen Momente der Kultur waren immer, moralisch geredet, Zeiten der Korruption; und wiederum waren die Epochen der gewollten und erzwungenen Tierzähmung des Menschen (»Zivilisation« –) Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen. Zivilisation will etwas anderes, als Kultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 88-89

Wovor ich warne: die décadence-Instinkte nicht mit Humanität zu verwechseln: die auflösenden und notwendig zu décadence treibenden Mittel der Zivilisation nicht mit der Kultur zu verwechseln; die Libertinage, das Prinzip der »laisser aller«, nicht mit dem Willen zur Macht zu verwechseln (– er ist dessen Gegenprinzip).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 89

„Die unerledigten Probleme, die ich neu stelle: das Problem der Zivilisation, der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760. Der Mensch wird tiefer, mißtrauischer, »unmoralischer«, stärker, sich-selbst-vertrauender – und insofern »natürlicher«: das ist »Fortschritt«. – Dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitsteilung, die verböserten Schichten und die gemilderten, gezähmten auseinander: so daß die Gesamttatsache nicht ohne weiteres in die Augen springt .... Es gehört zur Stärke, zur Selbstbeherrschung und Faszination der Stärke, daß diese stärkeren Schichten die Kunst besitzen, ihre Verböserung als etwas Höheres empfinden zu machen. Zu jedem »Fortschritt« gehört eine Umdeutung der verstärkten Elemente ins »Gute«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 89

„Daß man den Menschen den Mut zu ihren Naturtrieben wiedergibt –.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 90

„Fortschritt zur »Natürlichkeit«: in allen politischen, auch im Verhältnis von Parteien, selbst von merkantilen oder Arbeiter- oder Unternehmer-Parteien. handelt es sich um Machtfragen –, »was man kann«, und erst daraufhin, was man soll.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 90

„Der Sozialismus – als die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten, der Oberflächlichen, der Neidischen und der Dreiviertels-Schauspieler – ist in der Tat die Schlußfolgerung der »modernen Ideen« und ihres latenten Anarchismus: aber in der lauen Luft eines demokratischen Wohlbefindens erschlafft das Vermögen, zu Schlüssen oder gar zum Schluß zu kommen. Man folgt, – aber man folgert nicht mehr. Deshalb ist der Sozialismus im Ganzen eine hoffnungslose, säuerliche Sache; und nichts ist lustiger anzusehen als der Widerspruch zwischen den giftigen und verzweifelten Gesichtern, welche heute die Sozialisten machen – und von was für erbärmlichen gequetschten Gefühlen legt gar ihr Stil Zeugnis ab! – und dem harmlosen Lämmer-Glück ihrer Hoffnungen und Wünschbarkeiten. Dabei kann es doch an vielen Orten Europas ihrerseits zu gelegentlichen Handstreichen und Überfällen kommen: dem nächsten Jahrhundert wird es hie und da gründlich im Leibe »rumoren,« und die Pariser Kommune, welche auch in Deutschland ihre Schutzredner und Fürsprecher hat (z.B. in dem philosophischen Grimassen-Schneider und Sumpfmolch E[ugen] D[ühring] in Berlin), war vielleicht nur eine leichtere Unverdaulichkeit gemessen an dem, was kommt. Trotzdem wird es immer zuviel Besitzende geben, als daß der Sozialismus mehr bedeuten könnte als einen Krankheits-Anfall: und diese Besitzenden sind wie Ein Mann Eines Glaubens »man muß etwas besitzen, um etwas zu sein.« Dies aber ist der älteste und gesündeste aller Instinkte: ich würde hinzufügen »man muß mehr haben wollen als man hat, um mehr zu werden.« So nämlich klingt die Lehre, welche allem, was lebt, durch das Leben selber gepredigt wird: die Moral der Entwicklung. Haben und mehr haben wollen, Wachstum mit einem Wort – das ist das Leben selber. In der Lehre des Sozialismus versteckt sich schlecht ein »Wille zur Verneinung des Lebens«; es müssen mißratene Menschen oder Rassen sein, welche eine solche Lehre ausdenken. In der Tat, ich wünschte, es würde durch einige große Versuche bewiesen, daß in einer sozialistischen Gesellschaft das Leben sich selber verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet. Die Erde ist groß genug, und der Mensch immer noch unausgeschöpft genug, als daß mir eine derart praktische Belehrung und demonstratio ad absurdum, selbst wenn sie mit einem ungeheuren Aufwand von Menschenleben gewonnen und bezahlt würde, nicht wünschenswert erscheinen müßte. Immerhin, schon als unruhiger Maulwurf unter dem Boden einer in die Dummheit rollenden Gesellschaft wird der Sozialismus etwas Nützliches und Heilsames sein können: er verzögert den »Frieden auf Erden« und die gänzliche Vergutmütigung des demokratischen Herdentieres, er zwingt die Europäer, Geist, nämlich List und Vorsicht übrig zu behalten, den männlichen und kriegerischen Tugenden nicht gänzlich abzuschwören und einen Rest von Geist, von Klarheit, Trockenheit und Kälte des Geistes übrig zu behalten, – er schützt Europa einstweilen vor dem ihm drohenden marasmus femininus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 90-92

Die günstigstren Hemmungen und Remeduren der Modernität:
1. die allgemeine Wehrpflicht mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaß aufhört;
2. die nationale Borniertheit(vereinfachend, konzentrierend);
3. die verbesserte Ernährung (Fleisch);
4. die zunehmende Reinlichkeit und Gesundheit der Wohnstätten;
5. die Vorherrschaft der Physiologie über Theologie, Moralistik, Ökonomie und Politik;
6. die militärische Strende in der Forderung und Handhabung seiner »Schuldigkeit« (man lobt nicht mehr ...).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 92

„Die Verkleinerung und Regierbarkeit der Menschen wird als »Fortschritt« erstrebt!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 93

„All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht: o über seine königliche Freigebigkeit, womit er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen! Das ist seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen hat, was er bewunderte. –“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 99

Der unfreie Wille bedarf eines fremden Willens.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 101

„Der Mensch hat alle seine starken und erstaunlichen Momente nicht gewagt, sich zuzurechnen, – er hat sie als »passiv«, als »erlitten«, als Überwältigungen konzipiert: die Religion ist eine Ausgeburt eines Zweifels an der Einheit der Person, eine altération der Persönlichkeit: insofern alles Große und Starke vom Menschen als übermenschlich, als fremd konzipiert wurde, verkleinerte sich der Mensch, – er legte die zwei Seiten, eine sehr erbärmliche und schwache und eine sehr starke und erstaunliche in zwei Sphären auseinander, hieß die erste »Mensch«, die zweite »Gott«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 101

„Er hat das immer fortgesetzt. Er hat, in der Periode der moralischen Idiosynkrasie seine hohen und sublimen Moral-Zustände nicht als »gewollt«, als »Werk« der Person ausgelegt. Auch der Christ legt seine Person in eine mesquine und schwache Fiktion, die er Mensch nennt, und eine andere, die er Gott (Erlöser, Heiland) nennt, auseinander.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 101-102

„Die Religion hat den Begriff »Mensch« erniedrigt; ihre extreme Konsequenz ist, daß alles Gute, Große, Wahre übermenschlich ist und nur durch eine Gnade geschenkt ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 102

„Ein Weg, den Menschen aus seiner Erniedrigung zu ziehen, welche der Abgang der hohen und starken Zustände, wie als fremder Zustände, mit sich brachte, war die Verwandtschafts-Theorie. Diese hohen und starken Zustände konnten wenigstens als Einwirkungen unserer Vorfahren ausgelegt werden, wir gehörten zueinander, solidarisch, wir wachsen in unseren eigenen Augen, indem wir nach uns bekannter Norm handeln.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 102

„Versuch, vornehmer Familien, die Religion mit ihrem Selbstgefühl auszugleichen. – Dasselbe tun die Dichter und Seher, sie fühlen sich stolz, gewürdigt und auserwählt zu sein zu solchem Verkehre, – sie legen Wert darauf, als Individuen gar nicht in Betracht zu kommen, bloße Mundstücke zu sein (Homer).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 102

„Schrittweises Besitz-ergreifen von seinen hohen und stolzen Zuständen, Besitz-ergreifen von seinen Handlungen und Werken. Ehedem glaubte man sich zu ehren, wenn man für die höchsten Dinge, die man tat, sich nicht verantwortlich wußte, sondern – Gott – die Unfreiheit des Willens galt als das, was einer Handlung einen höheren Wert verlieh: damals war ein Gott zu ihrem Urheber gemacht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 102

„Die Priester sind die Schauspieler von irgend etwas Übermenschlichem, dem sie Sinnfälligkeit zu geben haben, sei es von Idealen, sei es von Göttern oder von Heilanden; darin finden sie ihren Beruf, dafür haben sie ihre Instinkte; um es so glaubwürdig wie möglich zu machen, müssen sie in der Anähnlichung so weit wie möglich gehen; ihre Schauspieler-Klugheit muß vor allem das gute Gewissen bei ihnen erzielen, mit Hilfe dessen erst wahrhaft überredet werden kann.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 103

„Der Priester will durchsetzen, daß er als höchster Typus des Menschen gilt, daß er herrscht, – auch noch über die, welche die Macht in den Händen haben, daß er unverletztlich ist, unangreifbar –, daß er die stärkste Macht in der Gemeinde ist, absolut nicht zu ersetzen und zu unterschätzen. Mittel: er allein ist der Wissende; er allein ist der Tugendhafte; er allein hat die höchste Herrschaft über sich; er allein ist in einem gewissen Sinne Gott und geht zurück in die Gottheit; er allein ist die Zwischenperson zwischen Gott und den andern; die Gottheit straft jeden Nachteil, jeden Gedanken wider einen Priester gerichtet. Mittel: die Wahrheit existiert. Es gibt nur eine Form, sie zu erlangen: Priester werden. Alles, was gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem Herkommen, geht auf die Weisheit der Priester zurück. Das Heilige Buch ist ihr Werk. Die ganze Natur ist nur eine Ausführung der Satzungen darin. Es gibt keine andere Quelle des Guten als den Priester. Alle andere Art von Vortrefflichkeit ist rangverschieden von der des Priesters, z.B. die des Kriegers. Konsequenz: wenn der Priester der höchste Typus sein soll, so muß die Gradation zu seinen Tugenden die Wertgradation der Menschen ausmachen. Das Studium, die Entsinnlichung, das Nicht-Aktive, das Impassible, Affektlose, das Feierliche; – Gegensatz: die tiefste Gattung Mensch. Der Priester hat eine Art Moral gelehrt: um selbst als höchster Typus empfunden zu werden. Er konzipiert einen Gegensatz-Typus: den Tschandala. Diesen mit allen Mitteln verächtlich zu machen, gibt die Folie ab für die Kasten-Ordnung. – Die extreme Angst des Priesters vor der Sinnlichkeit ist zugleich bedingt durch die Einsicht, daß hier die Kasten-Ordnung (das heißt die Ordnung überhaupt) am schlimmsten bedroht ist .... Jede »freiere Tendenz« in puncto puncti (d.h.: hisnischtlich der Keuschheit; HB) wirft die Ehegesetzgebung über den Haufen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 103-104

„Der Philosoph als Weiter-Entwicklung des priesterlichen Typus: – hat dessen Erbschaft im Leibe; – ist, selbst noch als Rivale, genötigt, um dasselbe mit denselben Mitteln zu ringen wie der Priester seiner Zeit; – er aspiriert zur höchsten Autorität. Was gibt Autorität, wenn man nicht die physische Macht in den Händen hat (keine Heere, keine Waffen überhaupt ...)? Wie gewinnt man namentlich die Autorität über die, welche die physische Gewalt und die Autorität besitzen? (Sie konkurrieren mit der Ehrfurcht vor dem Fürsten, vor dem siegreichen Eroberer, dem weisen Staatsmann.) Nur indem sie den Glauben erwecken, eine höhere stärkere Gewalt in den Händen zu haben – Gott –. Es ist nichts stark genug: man hat die Vermittlung und die Dienste der Priester nötig. Sie stellen sich als unentbehrlich dazwischen: sie haben als Existenzbedingung nötig:
1. daß an die absolute Überlegenheit ihres Gottes, daß an ihren Gott geglaubt wird,
2. daß es keine andern, keine direkten Zugänge zu Gott gibt.
Die zweite Forderung allein schafft den Begriff der »Heterodoxie«; die erste den des »Ungläubigen« (d.h. der an einen andern Gott [oder gar keinen; HB] glaubt –).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 104-105

Kritik der heiligen Lüge. – Daß zu frommen Zwecken die Lüge erlaubt ist, das gehört zur Theorie aller Priesterschaften – wie weit es zu ihrer Praxis gehört, soll der Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Aber auch die Philosophen, sobald sie mit priesterlichen Hinterabsichten die Leitung der Menschen in die Hand zu nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht zur Lüge zurechtgemacht: Plato voran. Am großartigsten ist die doppelte durch die typischarischen Philosophen des Vedânta entwickelte: zwei Systeme, in allen Hauptpunkten widersprüchlich, aber aus Erziehungszwecken sich ablösend, ausfüllend, ergänzend. Die Lüge des einen soll einen Zustand schaffen, in dem die Wahrheit des andern erst hörbar wird ....
Wie weit geht die fromme Lüge der Priester und der Philosophen? – Man muß hier fragen, welche Voraussetzungen zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie erfinden müssen, um diesen Voraussetzungen genugzutun?
Erstens: sie müssen die Macht, die Autorität, die unbedingte Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite haben.
Zweitens: sie müssen den ganzen Naturverlauf in Händen haben, so daß alles, was den einzelnen trifft, als bedingt durch ihr Gesetz erscheint.
Drittens: sie müssen auch einen weiter reichenden Machtbereich haben, dessen Kontrolle sich den Blicken ihrer Unterworfenen entzieht: das Strafmaß für das Jenseits, das »Nach-dem-Tode« – wie billig auch die Mittel, zur Seligkeit den Weg zu wissen.
– Sie haben den Begriff des natürlichen Verlaufs zu entfernen: da sie aber kluge und nachdenkliche Leute sind, so können sie eine Menge Wirkungen versprechen, natürlich als bedingt durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes. – Sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen, die absolut vernünftig sind, – nur daß sie nicht die Erfahrung, die Empirie als Quelle dieser Weisheit nennen dürfen, sondern eine Offenbarung oder die Folge »härtester Bußübungen«.
Die heilige Lüge bezieht sich also prinzipiell: (a) auf den Zweck der Handlung (– der Naturzweck, die Vernunft wird unsichtbar gemacht: ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung, eine Gottesdienstlichkeit erscheint als Zweck –): (b) auf die Folge der Handlung (– die natürliche Folge wird als übernatürliche ausgelegt, und, um sichrer zu wirken, es werden unkontrollierbare andre, übernatürliche Folgen in Aussicht gestellt).
Auf diese Weise wird ein Begriff von Gut und Böse geschaffen, der ganz und gar losgelöst von dem Naturbegriff »nützlich«, »schädlich«, »lebenfördernd«, »lebenvermindernd« erscheint – er kann, insofern ein anderes Leben erdacht ist, sogar direkt feindselig dem Naturbegriff von Gut und Böse werden.
Auf diese Weise wird endlich das berühmte »Gewissen« geschaffen: eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht den Wert der Handlung an ihren Folgen mißt, sondern in Hinsicht auf die Absicht und Konformität dieser Absicht mit dem »Gesetz«.
Die heilige Lüge hat also 1. einen strafenden und belohnenden Gott erfunden, der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und exakt sie als seine Mundstücke und Bevollmächtigten in die Welt schickt; – 2. ein Jenseits des Lebens, in dem die große Straf-Maschine erst wirksam gedacht wird – zu diesem Zwecke die Unsterblichkeit der Seele; – 3. das Gewissen im Menschen, als das Bewußtsein davon, daß Gut und Böse feststeht – daß Gott selbst hier redet, wenn es die Konformität mit der priesterlichen Vorschrift anrät; – 4. die Moral als Leugnung alles natürlichen Verlaufs, als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes Geschehen, die Moralwirkung (d. h. die Straf- und Lohn-Idee) als die Welt durchdringend, als einzige Gewalt, als creator von allem Wechsel; – 5. die Wahrheit als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend mit der Lehre der Priester: als Bedingung alles Heils und Glücks in diesem und jenem Leben.
In summa: womit ist die moralische Besserung bezahlt? – Aushängung der Vernunft, Reduktion aller Motive auf Furcht und Hoffnung (Strafe und Lohn); Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft, von einer Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht, einen göttlichen Willen auszudrücken; die Einpflanzung eines »Gewissens«, welches ein falsches Wissen an Stelle der Prüfung und des Versuchs setzt: wie als ob es bereits feststünde, was zu tun und was zu lassen wäre – eine Art Kastration des suchenden und vorwärtsstrebenden Geistes; – in summa: die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich vorstellen kann, angeblich als der »gute Mensch«.
In praxi ist die ganze Vernunft, die ganze Erbschaft von Klugheit, Feinheit, Vorsicht, welche die Voraussetzung des priesterlichen Kanons ist, willkürlich hinterdrein auf eine bloße Mechanik reduziert: die Konformität mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als oberstes Ziel, das Leben hat keine Probleme mehr; – die ganze Welt-Konzeption ist beschmutzt mit der Strafidee; – das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche Leben als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen, in eine Verleumdung und Beschmutzung des Lebens umgedacht; – der Begriff »Gott« stellt eine Abkehr vom Leben, eine Kritik, eine Verachtung selbst des Lebens dar; – die Wahrheit ist umgedacht als die priesterliche Lüge, das Streben nach Wahrheit als Studium der Schrift, als Mittel, Theolog zu werden ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 105-108

Zur Kritik des Manu-Gesetzbuches. – Das ganze Buch ruht auf der heiligen Lüge. Ist es das Wohl der Menschheit, welches dieses ganze System inspiriert hat? Diese Art Mensch, welche an die Interessiertheit jeder Handlung glaubt, war sie interessiert oder nicht, dieses System durchzusetzen? Die Menschheit zu verbessern – woher ist diese Absicht inspiriert? Woher ist der Begriff des Bessern genommen? Wir finden eine Art Mensch, die priesterliche, die sich als Norm, als Spitze, als höchsten Ausdruck des Typus Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie den Begriff des »Bessern«. Sie glaubt an ihre Überlegenheit, sie will sie auch in der Tat: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille zur Macht .... Aufrichtung der Herrschaft: zu diesem Zwecke die Herrschaft von Begriffen, welche in der Priesterschaft ein non plus ultra von Macht ansetzen. Die Macht durch die Lüge – in Einsicht darüber, daß man sie nicht physisch, militärisch besitzt .... Die Lüge als Supplement der Macht – ein neuer Begriff der »Wahrheit«. Man irrt sich, wenn man hier unbewußte und naive Entwicklung voraussetzt, eine Art Selbstbetrug... Die Fanatiker sind nicht die Erfinder solcher durchdachten Systeme der Unterdrückung .... Hier hat die kaltblütigste Besonnenheit gearbeitet; dieselbe Art Besonnenheit, wie sie ein Plato hatte, als er sich seinen »Staat« ausdachte. – »Man muß die Mittel wollen, wenn man das Ziel will« – über diese Politiker-Einsicht waren alle Gesetzgeber bei sich klar. Wir haben das klassische Muster als spezifisch arisch: wir dürfen also die bestausgestattete und besonnenste Art Mensch verantwortlich machen für die grundsätzlichste Lüge, die je gemacht worden ist .... Man hat das nachgemacht, überall beinahe: der arische Einfluß hat alle Welt verdorben ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 108-109

„Im arischen Gesetzbuch reinster Rasse, im Manu, ist ... „Priester-Geist“ schlimmer als irgendwo.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 109

„Die Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das Schema in Babylon kennengelernt: das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte, so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 109

„Der Mohammedanismus hat wiederum vom Christentum gelernt: die Benutzung des »Jenseits« als Straf-Organ.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 109

„Das Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze – dieses älteste große Kultur-Produkt Asiens im Gebiete der Organisation – muß natürlich in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachmachen aufgefordert haben. – Noch Plato: aber vor allen die Ägypter.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 109-110

„Die Moralen und Religionen sind die Hauptmittel, mit denen man aus den Menschen gestalten kann, was einem beliebt: vorausgesetzt, daß man einen Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine ja-sagende arische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Manus. (Die Vergöttlichung des Machtgefühls im Brahmanen: interessant, daß es in der Krieger-Kaste entstanden und erst übergegangen ist auf die Priester.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine ja-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Mohammeds, das alte Testament in den älteren Teilen. (Der Mohammedanismus, als eine Religion für Männer, hat eine tiefe Verachtung für die Sentimentalität und Verlogenheit des Christentums ..., einer Weibs-Religion, als welche er sie fühlt –.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine nein-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der unterdrückten Klasse, aussieht: das neue Testament (– nach indisch-arischen Begriffen: eine Tschandala-Religion).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine nein-sagende arische Religion, gewachsen unter den herrschenden Ständen: der Buddhismus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 110

„Es ist vollkommen in Ordnung, daß wir keine Religion unterdrückter arischer Rassen haben: denn das ist ein Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf oder geht zugrunde.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 110-111

„An sich hat eine Religion nichts mit der Moral zu tun: aber die beiden Abkömmlinge der jüdischen Religion sind beide wesentlich moralische Religionen – solche, die Vorschriften darüber geben, wie gelebt werden soll und mit Lohn und Strafe ihren Forderungen Gehör schaffen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 111

Heidnisch – christlich. – Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen, »die Natürlichkeit«. Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die Widernatürlichkeit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 111

„»Unschuldig« ist z.B. Petronius: ein Christ hat im Vergleich mit diesem Glücklichen ein für allemal die Unschuld verloren. Da aber zuletzt auch der christliche Status bloß ein Naturzustand sein muß, sich aber nicht als solchen begreifen darf, so bedeutet »christlich« eine zum Prinzip erhobene Falschmünzerei der psychologischen Interpretation ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 111

„Der christliche Priester ist von Anfang an der Todfeind der Sinnlichkeit: man kann sich keinen größeren Gegensatz denken, als die unschuldig ahnungsvolle und feierliche Haltung, mit der z.B. in den ehrwürdigsten Frauenkulten Athens die Gegenwart der geschlechtlichen Symbole empfunden wurde. Der Akt der Zeugung ist das Geheimniß an sich in allen nicht-asketischen Religionen: eine Art Symbol der Vollendung und der geheimnißvollen Absicht, der Zukunft: der Wiedergeburt, Unsterblichkeit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 111-112

„Die große Lüge in der Historie: als ob es die Verderbnis des Heidentums gewesen wäre, die dem Christentum die Bahn gemacht habe! Aber es war die Schwächung und Vermoralisierung des antiken Menschen! Die Umdeutung der Naturtriebe in Laster war schon vorhergegangen!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 112

Buddha gegen den „Gekreuzigten“. – Innerhalb der nihilistischen Bewegung darf man immer noch die christliche und die buddhistische scharf auseinander halten: die buddhistische drückt einen schönen Abend aus, eine vollendete Süßigkeit und Milde, – es ist Dankbarkeit gegen alles, was hinten liegt, mit eingerechnet, es fehlt die Bitterkeit, die Enttäuschung, die Rancune: zuletzt, die hohe geistige Liebe, das Raffinement des physiologischen Widerspruchs ist hinter ihm, auch davon ruht es aus: aber von diesem hat es noch seine geistige Glorie und Sonnenuntergangs-Gluth. (– Herkunft aus den obersten Kasten –.) – Die christliche Bewegung ist eine Degenerescenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art: sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden .… Sie ist deshalb nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an die Enterbten von überall; sie hat die Ranküne auf dem Grunde gegen alle Wohlgeratene und Herrschende, sie braucht ein Symbol, welches den Fluch auf die Wohlgeratenen und Herrschenden darstellt .... Sie steht im Gegensatz auch zu aller geistigen Bewegung, zu aller Philosophie: sie nimmt die Partei der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Ranküne gegen die Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie erräth in ihnen das Wohlgeratene, das Herrschaftliche.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 113-114

„Im Buddhismus überwiegt dieser Gedanke: »Alle Begierden, alles, was Affekt, was Blut macht, zieht zu Handlungen fort« – nur insofern wird gewarnt vor dem Bösen. Denn Handeln – das hat keinen Sinn, Handeln hält im Dasein fest: alles Dasein aber hat keinen Sinn. Sie sehen im Bösen den Antrieb zu etwas Unlogischem: zur Bejahung von Mitteln, deren Zweck man verneint. Sie suchen nach einem Wege zum Nichtsein, und deshalb perhorreszieren sie alle Antriebe seitens der Affekte. Z.B. ja nicht sich rächen! ja nicht feind sein! – Der Hedonismus der Müden gibt hier die höchsten Wertmaße ab. Nichts ist dem Buddhisten ferner als der jüdische Fanatismus eines Paulus: nichts würde mehr seinem Instinkt widerstreben als diese Spannung, Flamme, Unruhe des religiösen Menschen, vor allem jene Form der Sinnlichkeit, welche das Christentum mit dem Namen der »Liebe« geheiligt hat. Zu alledem sind es die gebildeten und sogar übergeistigten Stände, die im Buddhismus ihre Rechnung finden: eine Rasse, durch einen jahrhundertelangen Philosophen-Kampf abgesotten und müde ge macht, nicht aber unterhalb aller Kultur wie die Schichten, aus denen das Christentum entsteht... Im Ideal des Buddhismus erscheint das Loskommen auch von Gut und Böse wesentlich: es wird da eine raffinierte Jenseitigkeit der Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit zusammenfällt, unter der Voraussetzung, daß man auch die guten Handlungen bloß zeitweilig nötig hat, bloß als Mittel, -nämlich um von allem Handeln loszukommen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 114-115

„Das Christentum ist ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung, mitten aus dem eigentlichen Herde des Ressentiments heraus... aber durch Paulus zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen staatlichen Organisation vertragen lernt... und Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört, haßt. Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfnis der großen, religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem »Opfer«. Er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der Einzelseele) als Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer zu bringen (nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris). Er hat nötig, den Begriff Schuld und Sünde in den Vordergrund zu bringen, nicht eine neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte), sondern einen neuen Kultus, einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche Verwandlung (»Erlösung« durch den Glauben). Er hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert, überall das Schwergewicht verlegt... er hat prinzipiell das ursprüngliche Christentum annulliert .... Das Attentat auf Priester und Theologen mündete, dank dem Paulus, in eine neue Priesterschaft und Theologie – einen herrschenden Stand, auch eine Kirche. Das Attentat auf die übermäßige Wichtigtuerei der »Person« mündete in den Glauben an die »ewige Person« (in die Sorge ums »ewige Heil« ...), in die paradoxeste Übertreibung des Personal-Egoismus. Das ist der Humor der Sache, ein tragischer Humor: Paulus hat gerade das im großen Stile wieder aufgerichtet, was Christus durch sein Leben annulliert hatte. Endlich, als die Kirche fertig ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 119-120

„Die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt hat – und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 120

„Ein Gott für unsere Sünden gestorben; eine Erlösung durch den Glauben; eine Wiederauferstehung nach dem Tode – das sind alles Falschmünzereien des eigentlichen Christentums, für die man jenen unheilvollen Querkopf (Paulus) verantwortlich machen muß. Das vorbildliche Leben besteht in der Liebe und Demut; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das Recht-behalten-wollen, auf Verteidigung, auf Sieg im Sinne des persönlichen Triumphes; im Glauben an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Not, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit, in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht belohnt werden wollen; niemandem sich verbunden haben; die geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes Leben unter dem Willen zum armen und dienenden Leben. Nachdem die Kirche die ganze christliche Praxis sich hatte nehmen lassen und ganz eigentlich das Leben im Staate, jene Art Leben, welche Jesus bekämpft und verurteilt hatte, sanktioniert hatte, mußte sie den Sinn des Christentums irgendwo anders hin legen: in den Glauben an unglaubwürdige Dinge, in das Zeremoniell von Gebeten, Anbetung, Festen usw. Der Begriff »Sünde«, »Vergebung«, »Strafe«, »Belohnung« – alles ganz unbeträchtlich und fast ausgeschlossen vom ersten Christentum – kommt jetzt in den Vordergrund. Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie und Judentum; der Asketismus; das beständige Richten und Verurteilen; die Rangordnung usw..“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 120-121

„Das Christentum hat von vornherein das Symbolische in Kruditäten umgesetzt:
1. der Gegensatz »wahres Leben« und »falsches« Leben: mißverstanden als »Leben diesseits« und »Leben jenseits«;
2. der Begriff »ewiges Leben« im Gegensatz zum Personal-Leben der Vergänglichkeit als »Personal-Unsterblichkeit«;
3. die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und Trank nach hebräisch-arabischer Gewohnheit als »Wunder der Transsubstantiation«;
4. die »Auferstehung –« als Eintritt in das »wahre Leben«, als »wiedergeboren«; daraus: eine historische Eventualität, die irgendwann nach dem Tode eintritt;
5. die Lehre vom Menschensohn als dem »Sohn Gottes«, das Lebensverhältnis zwischen Mensch und Gott; daraus: die »zweite Person der Gottheit« – gerade das weggeschafft: das Sohnverhältnis jedes Menschen zu Gott, auch des niedrigsten;
6. die Erlösung durch den Glauben (nämlich daß es keinen anderen Weg zur Sohnschaft Gottes gibt als die von Christus gelehrte Praxis des Lebens) umgekehrt in den Glauben, daß man an irgendeine wunderbare Abzahlung der Sünde zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen, sondern durch die Tat Christi bewerkstelligt ist: Damit mußte »Christus am Kreuze« neu gedeutet werden. Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache ..., er war nur ein Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit und Gesetze der Welt zu verhalten habe – nicht sich wehren .... Darin lag das Vorbild.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 121-122

„Man muß das „Kreuz“ empfinden wie Goethe.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 128

Zum psychologischen Problem des Christentums.Die treibende Kraft bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen. (Mit dem Buddhismus steht es anders: er ist nicht geboren aus einer Ressentiment-Bewegung. Er bekämpft dasselbe, weil es zum Handeln antreibt). Diese Friedenspartei begreift, daß Verzichtleisten auf Feindseligkeit in Gedanken und Tat eine Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist. Hierin liegt die psychologische Schwierigkeit, welche verhindert hat, daß man das Christentum verstand: der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung seiner selber. Nur als Friedens- und Unschuldspartei hat diese Aufstandsbewegung eine Möglichkeit auf Erfolg: sie muß siegen durch die extreme Milde, Süßigkeit, Sanftmut, ihr Instinkt begreift das –. Kunststück: den Trieb, dessen Ausdruck man ist, leugnen, verurteilen, das Gegenstück dieses Triebes durch die Tat und das Wort beständig zur Schau tragen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 130

„Genauso so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier umzufälschen, damit das Christentum als sein kardinalstes Ereignis erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judentums entstehen: dessen Haupttat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu reduzieren: davon ist das Christentum die zweite Potenz.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 133

„Das Christentum zog die letzte Konsequenz dieser Bewegung: auch im jüdischen Priestertum empfand es noch die Kaste, den Privilegierten, den Vornehmen – es strich den Priester aus. – Der Christ ist der Tschandala, der den Priester ablehnt .... der Tschandala, der sich selbst erlöst .... Deshalb ist die französische Revolution die Tochter und Fortsetzerin des Christentums ..., sie hat den Instinkt gegen die Kaste, gegen die Vornehmen, gegen die letzten Privilegien.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 134

„Die tiefe Verachtung, mit der der Christ in der vornehm gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört ebendahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne, linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden. Das Neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Wert zu haben, ja allen Wert zu haben, hat in der Tat etwas Empörendes – auch heute noch.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 134-135

„Der Buddhist handelt anders als der Nichtbuddhist; der Christ handelt wie alle Welt und hat ein Christentum der Zeremonien und Stimungen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 137

„Das Christentum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen die vornehme Religion bestand. Tatsächlich ist diese ganze Umbildung eine Übersetzung in die Bedürfnisse und das Verständnis-Niveau der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos, die »große Mutter« glaubte und welche von einer Religion verlangte: 1. die Jenseits-Hoffnung, 2. die blutige Phantasmagorie des Opfertiers (das Mysterium), 3. die erlösende Tat, die heilige Legende, 4. den Asketismus, die Weltverneinung, die abergläubische »Reinigung«, 5. die Hierarchie, eine Form der Gemeindebildung. Kurz: das Christentum paßt sich an das schon bestehende, überall eingewachsene Anti-Heidentum an, an die Kulte, welche von Epikur bekämpft worden sind ..., genauer, an die Religionen der niederen Masse, der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände.
Wir haben also als Mißverständnis:
1. die Unsterblichkeit der Person;
2. die angebliche andere Welt;
3. die Absurdität des Strafbegriffs und Sühnebegriffs im Zentrum der Daseins-Interpretation;
4. die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung, die Aufreißung der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder, nur die Prostration der tiefsten Selbstverachtung hinweghilft;
5. die ganze Welt der verdorbenen Imagination und des krankhaften Affekts, statt der liebevollen, einfältigen Praxis, statt eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes;
6. eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte;
7. das Wunder in allem und jedem, der Aberglaube: während gerade das Auszeichnende des Judentums und des ältesten Christentums sein Widerwille gegen das Wunder ist, seine relative Rationalität.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 139-140

„Dies war die verhängnisvollste Art Größenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: – wenn diese verlogenen kleinen Mißgeburten von Muckern anfangen, die Worte »Gott«, »Jüngstes Gericht«, »Wahrheit«, »Liebe«, »Weisheit«, »Heiliger Geist« für sich in Anspruch zu nehmen und sich damit gegen »die Welt« abzugrenzen, wenn diese Art Mensch anfängt, die Werte nach sich umzudrehen, wie als ob sie der Sinn, das Salz, das Maß und Gewicht vom ganzen Rest wären: so sollte man ihnen Irrenhäuser bauen und nichts weiter tun. Daß man sie verfolgte, das war eine antike Dummheit großen Stils: damit nahm man sie zu ernst, damit machte man aus ihnen einen Ernst. Das ganze Verhängnis war dadurch ermöglicht, daß schon eine verwandte Art von Größenwahn in der Welt war, der jüdische (– nachdem einmal die Kluft zwischen den Juden und den Christen-Juden auf – gerissen, mußten die Christen-Juden die Prozedur der Selbsterhaltung, welche der jüdische Instinkt erfunden hatte, nochmals und in einer letzten Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung anwenden –); andererseits dadurch, daß die griechische Philosophie der Moral alles getan hatte, um einen Moral-Fanatismus selbst unter Griechen und Römern vorzubereiten und schmackhaft zu machen... Plato, die große Zwischenbrücke der Verderbnis, der zuerst die Natur in der Moral nicht verstehen wollte, der bereits die griechischen Götter mit seinem Begriff »gut« entwertet hatte, der bereits jüdisch – angemuckert war (– in Ägypten?).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 143

„Diese kleinen Herdentier-Tugenden führen ganz und gar nicht zum »ewigen Leben«: sie dergestalt in Szene setzen, und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für den, der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotz alledem das lächerlichste aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit gebracht hat; man bleibt damit, günstigenfalls, immer bloß ein kleines, liebes, absurdes Schaf mit Hörnern – vorausgesetzt, daß man nicht vor Eitelkeit platzt und durch richterliche Attitüden skandalisiert. Die ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminiert werden – wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten! Die natürliche Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich verschwiegen; sie ist nur in Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches Vorbild wertvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und geistliche Güter. (Prachtvoll: als ob sichs ums »Heil der Seele« handelte: aber es war ein Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen »auszuhalten«.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 144

„Der Krieg gegen die Vornehmen und Mächtigen, wie er im Neuen Testament geführt wird, ist ein Krieg wie der des Reineke und mit gleichen Mitteln: nur immer in priesterlicher Salbung und in entschiedener Ablehnung, um seine eigne Schlauheit zu wissen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 150

„Das Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und Armen ein Zugang zum Glück offensteht, – daß man nichts zu tun hat als sich von der Institution, der Tradition, der Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist die Heraufkunft des Christentums nichts weiter als die typische Sozialisten-Lehre. Eigentum, Erwerb, Vaterland, Stand und Rang, Tribunale, Polizei, Staat, Kirche, Unterricht, Kunst, Militärwesen: alles ebenso viele Verhinderungen des Glücks, Irrtümer, Verstrickungen, Teufelswerke, denen das Evangelium das Gericht ankündigt – alles typisch für die Sozialisten-Lehre. Im Hintergründe der Aufruhr, die Explosion eines aufgestauten Widerwillens gegen die »Herren«, der Instinkt dafür, wie viel Glück nach so langem Drucke schon im Frei-sich-fühlen liegen könnte... (Meistens ein Symptom davon, daß die unteren Schichten zu menschenfreundlich behandelt worden sind, daß sie ein ihnen verbotenes Glück bereits auf der Zunge schmecken .... Nicht der Hunger erzeugt Revolutionen, sondern daß das Volk en mangeant Appetit bekommen hat ....)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 150-151

„Das Christentum ist jeden Augenblick noch möglich. Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben: es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott, noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom Glauben; es hat schlechterdings keine Metaphysik nötig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche »Naturwissenschaft«. Das Christentum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen. Wer jetzt sagte »ich will nicht Soldat sein«, »ich kümmere mich nicht um die Gerichte«, »die Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen«, »ich will nichts tun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß, nichts wird mehr mir den Frieden erhalten als Leiden« – der wäre Christ.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 152

Zur Geschichte des Christentums. – Fortwährende Veränderung des Milieus: die christliche Lehre verändert damit fortwährend ihr Schwergewicht .... Die Begünstigung der Niederen und kleinen Leute .... Die Entwicklung der Caritas .... Der Typus »Christ« nimmt schrittweise alles wieder an, was er ursprünglich negierte (in dessen Negation er bestand –). Der Christ wird Bürger, Soldat, Gerichtsperson, Arbeiter, Handelsmann, Gelehrter, Theolog, Priester, Philosoph, Landwirt, Künstler, Patriot, Politiker, »Fürst« ..., er nimmt alle Tätigkeiten wieder auf, die er abgeschworen hat (– die Selbstverteidigung, das Gerichthalten, das Strafen, das Schwören, das Unterscheiden zwischen Volk und Volk, das Geringschätzen, das Zürnen ...). Das ganze Leben des Christen ist endlich genau das Leben, von dem Christus die Loslösung predigte .... Die Kirche gehört so gut zum Triumph des Antichristlichen, wie der moderne Staat, der moderne Nationalismus .... Die Kirche ist die Barbarisierung des Christentums.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 153

„Über das Christentum Herr geworden: der Judaismus (Paulus); der Platonismus (Augustin); die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des »Kreuzes«); der Asketismus (– Feindschaft gegen die »Natur«, »Vernunft«, »Sinne«, – Orient...).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 153

„Das Christentum als eine Entnatürlichung der Herdentier-Moral: unter absolutem Mißverständnis und Selbstverblendung. Die Demokratisierung ist eine natürlichere Gestalt derselben, eine weniger verlogene. Tatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganze große Menge von Sklaven und Halbsklaven wollen zur Macht.
Erste Stufe: sie machen sich frei – sie lösen sich aus, imaginär zunächst, sie erkennen sich untereinander an, sie setzen sich durch.
Zweite Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, »Gerechtigkeit«.
Dritte Stufe: sie wollen die Vorrechte (– sie ziehen die Vertreter der Macht zu sich hinüber).
Vierte Stufe: sie wollen die Macht allein, und sie haben sie ....
Im Christentum sind drei Elemente zu unterscheiden:
a) die Unterdrückten aller Art,
b) die Mittelmäßigen aller Art,
c) die Unbefriedigten und Kranken aller Art.
Mit dem ersten Element kämpft es gegen die politisch Vornehmen und deren Ideal; mit dem zweiten Element gegen die Ausnahmen und Privilegierten (geistig, sinnlich –) jeder Art; mit dem dritten Element gegen den Natur-Instinkt der Gesunden und Glücklichen. Wenn es zum Siege kommt, so tritt das zweite Element in den Vordergrund; denn dann hat das Christentum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessiert wegen der Überwältigung der Menge), – und jetzt ist es der Herden-Instinkt, die in jedem Betracht wertvolle Mittelmaß-Natur, die ihre höchste Sanktion durch das Christentum bekommt. Diese Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit sich zum Bewußtsein (– gewinnt den Mut zu sich –), daß sie auch politisch sich die Macht zugesteht .... Die Demokratie ist das vernatürlichte Christentum: eine Art »Rückkehr zur Natur«, nachdem es durch eine extreme Antinatürlichkeit von der entgegengesetzten Wertung überwunden werden konnte. – Folge: das aristokratische Ideal entnatürlicht sich nunmehr (»der höhere Mensch«, »vornehm«, »Künstler«, »Leidenschaft«, »Erkenntnis«; Romantik als Kultus der Ausnahme, Genie usw.).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 154-155

„Krieg gegen das christliche Ideal, gegen die Lehre von der »Seligkeit« und dem »Heil« als Ziel des Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen, der reinen Herzen, der Leidenden und Mißglückten. Wann und wo hat je ein Mensch, der in Betracht kommt, jenem christlichen Ideal ähnlich gesehen? Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und Nierenprüfer haben muß! – man blättere alle Helde Plutarchs durch.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 156

„Wir haben das christliche Ideal wieder hergestellt: es bleibt übrig, seinen Wert zu bestimmen:
1. Welche Werte werden durch dasselbe negiert? Was enthält das Gegensatz-Ideal? – Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den Übermut, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis –; das vornehme Ideal wird negiert: Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele setzende, der »zukünftige« Mensch (– hier ergibt sich die Christlichkeit als Schlußolgerung des Judentums –).
2. Ist es realisierbar? – Ja, doch klimatisch bedingt, ähnlich wie das indische. Beiden fehlt die Arbeit. – Es löst heraus aus Volk, Staat, Kultur-Gemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das Wissen, die Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den Handel ab... es löst alles ab, was den Nutzen und Wert des Menschen ausmacht – es schließt ihn durch eine Gefühls-Idiosynkrasie ab. Unpolitisch, antinational, weder aggressiv noch defensiv, – nur möglich innerhalb des festgeordnetsten Staats- und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen Parasiten auf allgemeine Unkosten wuchern läßt ....
3. Es bleibt eine Konsequenz des Willens zur Lust – und zu nichts weiter! Die »Seligkeit« gilt als etwas, das sich selbst beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht, – alles übrige (die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck ....
Aber das ist niedrig gedacht: die Furcht vor dem Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbnis selbst als ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen .... Dies ist eine arme Denkweise, Zeichen einer erschöpften Rasse; man soll sich nicht täuschen lassen. (»Werdet wie die Kinder« –. Die verwandte Natur: Franz von Assisi, neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 157-158

„Der höhere Mensch unterscheidet sich von dem niederen in Hinsicht auf die Furchtlosigkeit und die Herausforderung des Unglücks: es ist ein Zeichen von Rückgang, wenn eudämonistische Wertmaße als oberste zu gelten anfangen (– physiologische Ermüdung, Willens- Verarmung–). Das Christentum mit seiner Perspektive auf »Seligkeit« ist eine typische Denkweise für eine leidende und verarmte Gattung Mensch. Eine volle Kraft will schaffen, leiden, untergehn: ihr ist das christliche Mucker-Heil eine schlechte Musik und hieratische Gebärden ein Verdruß.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 158

„Gott schuf den Menschen glücklich, müßig, unschuldig und unsterblich: unser wirkliches Leben ist ein falsches, abgefallenes, sündhaftes Dasein, eine Straf-Existenz .... Das Leiden, der Kampf, die Arbeit, der Tod werden als Einwände und Fragezeichen gegen das Leben abgeschätzt, als etwas Unnatürliches, etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel braucht – und hat! .... Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich in einem unnormalen Zustande befunden: Gott selbst hat seinen Sohn für die Schuld Adams hergegeben, um diesem unnormalen Zustande ein Ende zu machen: der natürliche Charakter des Lebens ist ein Fluch; Christus gibt dem, der an ihn glaubt, den Normal-Zustand zurück: er macht ihn glücklich, müßig und unschuldig. – Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu sein ohne Arbeit; die Weiber gebären nicht ohne Schmerzen Kinder; die Krankheit hat nicht aufgehört; die Gläubigsten befinden sich hier so schlecht wie die Ungläubigsten. Nur daß der Mensch vom Tode und von der Sünde befreit ist – Behauptungen, die keine Kontrolle zulassen –, das hat die Kirche um so bestimmter behauptet. »Er ist frei von Sünde« – nicht durch sein Tun, nicht durch einen rigorosen Kampf seinerseits, sondern durch die Tat der Erlösung freigekauft – folglich vollkommen, unschuldig, paradiesisch .... Das wahre Leben nur ein Glaube (d. h. ein Selbstbetrug, ein Irrsinn). Das ganze ringende, kämpfende, wirkliche Dasein voll Glanz und Finsternis nur ein schlechtes, falsches Dasein: von ihm erlöst werden ist die Aufgabe. »Der Mensch unschuldig, müßig, unsterblich, glücklich« – diese Konzeption der »höchsten Wünschbarkeit« ist vor allem zu kritisieren. Warum ist die Schuld, die Arbeit, der Tod, das Leiden (und, christlich geredet, die Erkenntnis ...) wider die höchste Wünschbarkeit? – Die faulen christlichen Begriffe »Seligkeit«, »Unschuld«, »Unsterblichkeit« – – – .“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 159-160

„Es fehlt der exzentrische Begriff der »Heiligkeit«, – »Gott« und »Mensch« sind nicht auseinandergerissen. Das »Wunder« fehlt – es gibt gar nicht jene Sphäre: die einzige, die in Betracht kommt, ist die »geistliche« (d.h. symbolisch-psychologische). Als décadence: Seitenstück zum »Epikureismus«... Das Paradies, nach griechischem Begriff, auch nur der »Garten Epikurs«. Es fehlt die Aufgabe in einem solchen Leben: – es will nichts; – eine Form der »epikurischen Götter«; – es fehlt aller Grund, noch Ziele zu setzen, – Kinder zu haben: – Alles ist erreicht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 160

„Der Kampf gegen die brutalen Instinkte ist ein anderer, als der Kampf gegen die krankhaften Instinkte; es lann selbst ein MIttel sein, um über die Brutalität Herr zu werden, krank zu machen. Die psychologische Behandlung im Christentum läuft oft darauf hinaus, aus einem Vieh ein krankes und folglich zahmes Tier zu machen. Der Kampf gegen rohe und wüste Naturen muß ein Kampf mit Mitteln sein, die auf sie wirken: die abergläubischen Mittel sind unersetzlich und unerläßlich ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 180

„Unser Zeitalter ist in einem gewissen Sinne reif (nämlich dekadent), wie es die Zeit Buddhas war .... Deshalb ist eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen möglich (die widerlichen Ausgeburten des antiken Hybridismus).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 180

„Gesetzt selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt werden könnte, hielt Pascal doch in Hinsicht auf eine furchtbare Möglichkeit, daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christentum an Furchtbarkeit eingebüßt hat, jenen andern Versuch seiner Rechtfertigung, daß selbst, wenn er ein Irrtum wäre, man zeitlebens doch den großen Vorteil und Genuß dieses Irrtums habe: – es scheint also, daß gerade um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrechterhalten werden solle – also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonische Wendung, der Beweis aus der Lust, ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus der Kraft, aus dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der Furcht. Tatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christentum der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem opiatischen Christentum, weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen-wollen die Kraft hat noch zum Pascalismus, zu dieser grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des »Vielleicht-Verurteilten«. Aber ein Christentum, das vor allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare Lösung eines »Gottes am Kreuze« überhaupt nicht nötig: weshalb im stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 180-171

„Damit, daß das Christentum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, hat es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse für höherwertig angesetzt als das Individual-Interesse. Seine eigentlich historische Wirkung, das Verhängnis von Wirkung bleibt umgekehrt gerade die Steigerung des Egoismus, des Individual-Egoismus bis ins Extrem (– bis zum Extrem der Individual-Unsterblichkeit). Der einzelne wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer .... Vor Gott wurden alle »Seelen« gleich: aber das ist gerade die gefährlichste aller möglichen Wertschätzungen! Setzt man die einzelnen gleich, so stellt man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christentum ist das Gegenprinzip gegen die Selektion. Wenn der Entartende und Kranke (»der Christ«) so viel Wert haben soll wie der Gesunde (»der Heide«), oder gar noch mehr, nach Pascals Urteil über Krankheit und Gesundheit, so ist der natürliche Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht .... Diese allgemeine Menschenliebe ist in praxi die Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerierten: sie hat tatsächlich die Kraft, die Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und abgeschwächt. Es blieb nach dem Schema des christlichen Wertmaßes nur noch übrig, sich selbst zu opfern: aber dieser Rest von Menschenopfer, den das Christentum konzedierte und selbst anriet, hat, vom Standpunkte der Gesamt-Züchtung aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen der Gattung gleichgültig, ob irgendwelche einzelne sich selbst opfern (– sei es in mönchischer und asketischer Manier oder, mit Hilfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schafotten, als »Märtyrer« des Irrtums). Die Gattung braucht den Untergang der Mißratenen, Schwachen, Degenerierten: aber gerade an sie wendete sich das Christentum, als konservierende Gewalt; sie steigerte noch jenen an sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig zu halten. Was ist die »Tugend« und »Menschenliebe« im Christentum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus, wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher errät, daß, wenn alle füreinander sorgen, jeder einzelne am längsten erhalten bleibt? .... Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme Unmoralität, als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und hat selber deren Instinkte... Die echte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christentum heißt, will gerade durchsetzen, daß niemand geopfert wird ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 174-176

Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern als ein konsequenter Nihilismus der Tat. – So wie ich alle Phänomene des Christenthums, des Pessimismus verstehe, so drücken sie aus: »wir sind reif, nicht zu sein; für uns ist es vernünftig, nicht zu sein«. Diese Sprache der »Vernunft« wäre in diesem Falle auch die Sprache der selektiven Natur. Was über alle Begriffe dagegen zu verurteilen ist, das ist die zweideutige und feige Halbheit einer Religion, wie die des Christenthums: deutlicher, der Kirche: welche, statt zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermutigen, alles Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht. – Problem: mit was für Mitteln würde eine strenge Form des großen kontagiösen Nihilism erzielt werden: eine solche, welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen Tod lehrt und übt ... (und nicht das schwächliche Fortvegetieren mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz –). Man kann das Christentum nicht genug verurteilen, weil es den Wert einer solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken der unsterblichen Privat-Person entwertet hat: insgleichen durch die Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer durch ein Abhalten von der Tat des Nihilismus, dem Selbstmord .... Es substituirte den langsamen Selbstmord; allmählich ein kleines armes aber dauerhaftes Leben; allmählich ein ganz gewöhnliches bürgerliches mittelmäßiges Leben usw..“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 176-177

Die christlichen Moral-Quacksalber. – Mitleid und Verachtung folgen sich in schnellem Wechsel, und mitunter bin ich empört, wie beim Anblick eines schnöden Verbrechens. Hier ist der Irrtum zur Pflicht gemacht – zur Tugend –, der Fehlgriff ist Handgriff geworden, der Zerstörer-Instinkt systematisiert als »Erlösung«; hier wird aus jeder Operation eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen, deren Energie die Voraussetzung jeder Wiederkehr der Gesundheit ist. Und bestenfalls wird nicht geheilt, sondern nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere eingetauscht... Und dieser gefährliche Unsinn, das System der Schändung und Verschneidung des Lebens gilt als heilig, als unantastbar; in seinem Dienste leben, Werkzeug dieser Heilkunst sein, Priester sein hebt heraus, macht ehrwürdig, macht heilig und unantastbar selbst. Nur die Gottheit kann die Urheberin dieser höchsten Heilkunst sein: nur als Offenbarung ist die Erlösung begreiflich, als Akt der Gnade, als unverdientestes Geschenk, das der Kreatur gemacht ist.
Erster Satz: die Gesundheit der Seele wird als Krankheit angesehen, mißtrauisch ....
Zweiter Satz: die Voraussetzungen für ein starkes und blühendes Leben, die starken Begehrungen und Leidenschaften, gelten als Einwände gegen ein starkes und blühendes Leben.
Dritter Satz: Alles, woher dem Menschen Gefahr droht, alles, was über ihn Herr werden und ihn zugrunde richten kann, ist böse, ist verwerflich – ist mit der Wurzel aus seiner Seele auszureißen.
Vierter Satz: der Mensch, ungefährlich gemacht, gegen sich und andre, schwach, niedergeworfen in Demut und Bescheidenheit, seiner Schwäche bewußt, der »Sünder«, – das ist der wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie der Seele auch herstellen kann ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 177-178

„Wogegen ich protestiere? Daß man nicht diese kleine Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar als Maß des Menschen. Bacon von Verulam sagt: Infimarum virtutum apud vulgus laus est, mediarum admiratio, suprematum sensus nullus. Das Christentum aber gehört, als Religion, zum vulgus: es hat für die höchste Gattung virtus keinen Sinn.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 178

„Sehen wir, was »der echte Christ« mit alledem anfängt, was seinem Instinkte sich widerrät: – die Beschmutzung und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden, des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des Erkennenden, des Mächtigen – in summa der ganzen Kultur: seine Absicht geht dahin, ihr das gute Gewissen zu nehmen ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 178

„Man hat bisher das Christentum immer auf eine falsche, und nicht bloß schüchterne Weise angegriffen. Solange man nicht die Moral des Christentums als Kapitalverbrechen am Leben empfindet, haben dessen Verteidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen »Wahrheit« des Christentums – sei es in Hinsicht auf die Existenz seines Gottes oder die Geschichtlichkeit seiner Entstehungslegende, gar nicht zu reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft – ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit, solange die Wertfrage der christlichen Moral nicht berührt ist. Taugt die Moral des Christentums etwas oder ist sie eine Schändung und Schmach trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste? Es gibt Schlupfwinkel jeder Art für das Problem von der Wahrheit; und die Gläubigsten können zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmieren – nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung (– dieser Kunstgriff heißt sich heute »Kantischer Kritizismus«).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 179

„Man soll es dem Christentum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zugrunde gerichtet hat. Man soll nie aufhören, eben dies am Christentum zu bekämpfen, daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden geben, solange dies eine noch nicht in Grund und Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen, welches vom Christentum erfunden worden ist, seine Forderungen an den Menschen, sein Nein und sein Ja in Hinsicht auf den Menschen. Der ganze absurde Rest von christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und Theologie geht uns nichts an; er könnte noch tausendmal absurder sein, und wir würden nicht einen Finger gegen ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit seiner krankhaften Schönheit und Weibs- Verführung, mit seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit allen Feigheiten und Eitelkeiten müdgewordner Seelen zuredet – und die Stärksten haben müde Stunden –, wie als ob alles das, was in solchen Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten scheinen mag, Vertrauen, Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit, Geduld, Liebe zu seinesgleichen, Ergebung, Hingebung an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung seines ganzen Ichs, auch an sich das Nützlichste und Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittstier und Herdenschaf Mensch nicht nur den Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und darum hundertfachgefährdeteren Art Mensch habe, sondern geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel, das Maß, die höchste Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung eines Ideals war bis her die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch ausgesetzt war: denn mit ihm drohte den stärker geratenen Ausnahmen und Glücksfällen von Mensch, in denen der Wille zur Macht und zum Wachstum des ganzen Typus Mensch einen Schritt vorwärts tut, der Untergang; mit seinen Werten sollte das Wachstum jener Mehr-Menschen an der Wurzel angegraben werden, welche um ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben (ökonomisch ausgedrückt: Steigerung der Unternehmer-Kosten ebenso sehr wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen. Was wir am Christentum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Mut entmutigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnot verkehren will, daß es die vornehmen Instinkte giftig und krankzumachen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selber kehrt – bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zugrunde gehen: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgibt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 179-181

„Versuch, über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, mißtrauisch gegen die Überlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke. Eine Welt, die wir verehren können, die unserem anbetenden Triebe gemäß ist – die sich fortwährend beweist – durch Leitung des einzelnen und allgemeinen –: dies ist die christliche Anschauung, aus der wir alle stammen. Durch ein Wachstum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit (auch durch einen höher gerichteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter wieder christlichen Einwirkungen) ist diese Interpretation uns immer mehr unerlaubt geworden. Feinster Ausweg: der Kantische Kritizismus. Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als auch zur Ablehnung der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügt sich mit einem Mehr von Vertrauen und Glauben, mit einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen »Ideal« (Gott) die Lücke auszufüllen. Der Hegelsche Ausweg, im Anschluß an Plato, ein Stück Romantik und Reaktion, zugleich das Symptom des historischen Sinns, einer neuen Kraft: der »Geist« selbst ist das »sich enthüllende und verwirklichende Ideal«: im »Prozeß«, im »Werden« offenbart sich ein immer Mehr von diesem Ideal, an das wir glauben –, also das Ideal verwirklicht sich, der Glaube richtet sich auf die Zukunft, in der er seinem edlen Bedürfnisse nach anbeten kann. Kurz,
1. Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar (Hintersinn der erkenntnis-theoretischen Bewegung);
2. Gott ist nachweisbar, aber als etwas Werdendes, und wir gehören dazu, eben mit unsrem Drang zum Idealen (Hintersinn der historisierenden Bewegung).
Man sieht: es ist niemals die Kritik an das Ideal selbst gerückt, sondern nur an das Problem, woher der Widerspruch gegen dasselbe kommt, warum es noch nicht erreicht oder warum es nicht nachweisbar im kleinen und großen ist. Es macht den größten Unterschied: ob man aus der Leidenschaft heraus, aus einem Verlangen heraus, diesen Notstand als Notstand fühlt oder ob man ihn mit der Spitze des Gedankens und einer gewissen Kraft der historischen Imagination gerade noch als Problem erreicht. Abseits von der religiös-philosophischen Betrachtung finden wir dasselbe Phänomen: der Utilitarismus (der Sozialismus, der Demokratismus) kritisiert die Herkunft der moralischen Wertschätzungen, aber er glaubt an sie, ebenso wie der Christ. (Naivität, als ob Moral übrigbliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt! Das Jenseits« absolut notwendig, wenn der Glaube an Moral aufrechterhalten werden soll.) Grundproblem: woher diese Allgewalt des Glaubens? des Glaubens an die Moral? (– der sich auch darin verrät, daß selbst die Grundbedingungen des Lebens zugunsten der Moral falsch interpretiert werden: trotz Kenntnis der Tierwelt und Pflanzenwelt. Die »Selbsterhaltung«; darwinistische Perspektive auf Versöhnung altruistischer und egoistischer Prinzipien.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 182-184

„Die Frage nach der Herkunft unsrer Wertschätzungen und Gütertafeln fällt ganz und gar nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt wird: so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo für das Gefühl eine Wertverminderung der so entstandnen Sache mit sich bringt und gegen dieselbe eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 184

„Was sind unsre Wertschätzungen und moralischen Gütertafeln selber wert? Was kommt bei ihrer Herrschaft heraus? Für wen? in bezug worauf? – Antwort: für das Leben. Aber was ist Leben? Hier tut also eine neue, bestimmtere Fassung des Begriffs »Leben« not. Meine Formel dafür lautet: Leben ist Wille zur Macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 184

Was bedeutet das Wertschätzen selbst? weist es auf eine andere, metaphysische Welt zurück oder hinab? (wie noch Kant glaubte, der vor der großen historischen Bewegung steht.) Kurz: wo ist es entstanden? Oder ist es nicht »entstanden«? – Antwort: das moralische Wertschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretieren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urteilen: Wer legt aus? – Unsre Affekte.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 184

„Alle Tugenden physiologische Zustände: .... Alle Tugenden sind eigentlich verfeinerte Leidenschaften und erhöhte Zustände.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 184-185

„Ich verstehe unter »Moral« ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 185

„Ehemals sagte man von jeder Moral: »an ihren Früchten solt ihr sie erkennen«. Ich sage von jeder Moral: »Sie ist eine Frucht, an der ich den Boden erkenne, aus dem sie wuchs.« “
Ders., Der Wille zur Macht, S. 185

„Mein Versuch, die moralischen Urteile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißratens, ebenso das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen verraten, – eine Interpretations-Weise vom Werte der Astrologie, Vorurteile, denen Instinkte soufflieren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen, wie Jugend oder Verwelken usw.).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 185

„Angewendet auf die speziell christlich-europäische Moral: unsere moralischen Urteile sind Zeichen von Verfall, von Unglauben an das Leben, eine Vorbereitung des Pessimismus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 185

Mein Hauptsatz: es gibt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation dieser Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermoralischen Ursprungs.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 185-186

„Was bedeutet es, daß wir einen Widerspruch in das Dasein hineininterpretiert haben? – Entscheidende Wichtigkeit: hinter allen andern Wertschätzungen stehen kommandierend jene moralischen Wertschätzungen. Gesetzt, sie fallen fort, wonach messen wir dann? Und welchen Wert haben dann Erkenntnis usw., usw.???“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 186

„Einsicht: bei aller Wertschätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspektive: Erhaltung des Individuums, einer Gemeinde, einer Rasse, eines Staates, einer Kirche, eines Glaubens, einer Kultur. – Vermöge des Vergessens, daß es nur ein perspektivisches Schätzen gibt, wimmelt alles von widersprechenden Schätzungen und folglich von widersprechenden Antrieben in einem Menschen. Das ist der Ausdruck der Erkrankung am Menschen im Gegensatz zum Tiere, wo alle vorhandenen Instinkte ganz bestimmten Aufgaben genügen. Dies widerspruchsvolle Geschöpf hat aber an seinem Wesen eine große Methode der Erkenntnis: er fühlt viele Für und Wider, er erhebt sich zur Gerechtigkeit – zum Begreifen jenseits des Gut- und Böse-Schätzens. Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine großen Augenblicke grandiosen Zusammenklangs – der hohe Zufall auch in uns! Eine Art planetarischer Bewegung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 186

„»Wollen« ist gleich Zweck-Wollen. »Zweck« enthält eine Wertschätzung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 187

„Umfang der moralischen Wertschätzungen: sie sind fast in jedem Sinneseindruck mitspielend. Die Welt ist uns gefärbt dadurch.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 187

„Wir haben die Zwecke und die Werte hineingelegt: wir haben eine ungeheure latente Kraftmasse dadurch in uns: aber in der Vergleichung der Werte ergibt sich, daß Entgegengesetztes als wertvoll galt, daß viele Gütertafeln existierten (also nichts »an sich« wertvoll).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 187

„Bei der Analyse der einzelnen Gütertafeln ergab sich ihre Aufstellung als die Aufstellung von Existenzbedingungen beschränkter Gruppen (und oft irrtümlicher): zur Erhaltung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 187

„Bei der Betrachtung der jetzigen Menschen ergab sich, daß wir sehr verschiedene Werturteile handhaben, und daß keine schöpferische Kraft mehr darin ist – die Grundlage: »die Bedingung der Existenz« fehlt dem moralischen Urteile jetzt. Es ist viel überflüssiger, es ist lange nicht so schmerzhaft. – Es wird willkürlich. Chaos.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 187

„Wer schafft das Ziel, das über der Menschheit stehen bleibt und auch über dem einzelnen? Ehemals wollte man mit der Moral erhalten: aber niemand will jetzt mehr erhalten, es ist nichts daran zu erhalten. Also eine versuchende Moral: sich ein Ziel geben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 187

„Was ist das Kriterium der moralischen Handlung? 1. ihre Uneigennützigkeit, 2. ihre Allgemeingültigkeit usw. Aber das ist Stuben-Moralistik. Man muß die Völker studieren und zusehn, was jedesmal das Kriterium ist, und was sich darin ausdrückt: ein Glaube »ein solches Verhalten gehört zu unseren ersten Existenz-Bedingungen«. Unmoralisch heißt »untergang-bringend«. Nun sind alle diese Gemeinschaften, in denen diese Sätze gefunden wurden, zugrunde gegangen: einzelne dieser Sätze sind immer von neuem unterstrichen worden, weil jede neu sich bildende Gemeinschaft sie – wieder nötig hatte, z.B. »Du sollst nicht stehlen«. Zu Zeiten, wo das Gemeingefühl für die Gesellschaft (z.B. im imperium Romanum) nicht verlangt werden konnte, warf sich der Trieb aufs »Heil der Seele«, religiös gesprochen: oder »das größte Glück«, philosophisch geredet. Denn auch die griechischen Moral-Philosophen empfanden nicht mehr mit ihrer poliV.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 188

„Das Problem der Moral sehen und zeigen – das scheint mir die neue Aufgabe und Hauptsache. Ich bestreite. daß das in der bisherigen Morlaphilosophie geschehen ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 188

„Wie falsch, wie verlogen war die Menschheit immer über die Grundtatsachen ihrer inneren Welt! Hier kein Auge zu haben, hier den Mund halten und den Mund auftun ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 188

„Es fehlt das Wissen und Bewußtsein davon, welche Umdrehungen bereits das moralische Urteil durchgemacht hat und wie wirklich mehrere Male schon im gründlichsten Sinne »Böse« auf »Gut« umgetauft worden ist. Auf eine dieser Verschiebungen habe ich mit dem Worte »Sittlichkeit der Sitte« hingewiesen. Auch das Gewissen hat seine Sphäre vertauscht: es gab einen Herden-Gewissensbiß.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 189

   „A. Moral als Werk der Unmoralität.
1. Damit moralische Werte zur Herrschaft kommen, müssen lauter unmoralische Kräfte und Affekte helfen.
2. Die Entstehung moralischer Werte ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten.
    B. Moral als Werk des Irrtums.
    C. Moral mit sich selbst allgemach im Widerspruch.
Vergeltung. – Wahrhaftigkeit, Zweifel, epoch, Richten. »Unmoralität« des Glaubens an die Moral.
Die Schritte:
1. absolute Herrschaft der Moral; alle biologischen Erscheinungen nach ihr gemessen und gerichtet.
2. Versuch einer Identifikation von Leben und Moral (Symptom einer erwachten Skepsis: Moral soll nicht mehr als Gegensatz gefühlt werden); mehrere Mittel, selbst ein transzendenter Weg.
3. Entgegensetzung von Leben und Moral: Moral vom Leben aus gerichtet und verurteilt.
    D. Inwiefern die Moral dem Leben schädlich war:
a) dem Genuß des Lebens, der Dankbarkeit gegen das Leben usw.,
b) der Verschönerung, Veredelung des Lebens,
c) der Erkenntnis des Lebens,
d) der Entfaltung des Lebens, insofern es die höchsten Erscheinungen desselben mit sich selbst zu entzweien suchte.
    E. Gegenrechnung: ihre Nützlichkeit für das Leben.
1. die Moral als Erhaltungsprinzip von größeren Ganzen, als Einschränkung der Glieder: nützlich für das »Werkzeug«.
2. die Moral als Erhaltungsprinzip im Verhältnis zur inneren Gefährdung des Menschen durch Leidenschaften; nützlich für den »Mittelmäßigen«.
3. die Moral als Erhaltungsprinzip gegen die lebenvernichtenden Einwirkungen tiefer Not und Verkümmerung: nützlich für den »Leidenden«.
4. die Moral als Gegenprinzip gegen die furchtbare Explosion der Mächtigen: nützlich für den »Niedrigen«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 189-190

„Denken wir nicht gering von dem, was ein paar Jahrtausende Moral unserm Geiste angezüchtet haben!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 190

„Zwei Typen der Moral sind nicht zu verwechseln: eine Moral, mit der sich der gesund gebliebene Instinkt gegen die beginnende décadence wehrt – und eine andere Moral, mit der eben diese décadence sich formuliert, rechtfertigt und selber abwärts führt. Die erstere pflegt stoisch, hart, tyrannisch zu sein (– der Stoizismus selbst war eine solche Hemmschuh-Moral); die andere ist schwärmerisch, sentimental, voller Geheimnisse, sie hat die Weiber und »schönen Gefühle« für sich (– das erste Christentum war eine solche Moral).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 190-191

Meine Absicht, die absolute Homogenität in allem Geschehen zu zeigen und die Anwendung der moralischen Unterscheidung nur als perspektivisch bedingt; zu zeigen, wie alles das, was moralisch gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen ist und nur, wie jede Entwicklung der Moral, mit unmoralischen Mitteln und zu unmoralischen Zwecken ermöglicht worden ist –; wie umgekehrt alles, was als unmoralisch in Verruf ist, ökonomisch betrachtet, das Höhere und Prinzipiellere ist, und wie eine Entwicklung nach größerer Fülle des Lebens notwendig auch den Fortschritt der Unmoralität bedingt. »Wahrheit« der Grad, in dem wir uns die Einsicht in diese Tatsache gestatten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 193-194

„Zuletzt sei man ohne Sorge: man braucht nämlich sehr viel Moralität, um in dieser feinen Weise unmoralisch zu sein; ich will ein Gleichnis gebrauchen: Ein Physiologe, der sich für eine Krankheit interessiert“, und ein Kranker, der von ihr geheilt werden soll, haben nicht das gleiche Interesse. Nehmen wir einmal an, daß jene Krankheit die Moral ist – denn sie ist eine Krankheit – und daß wir Europäer deren Kranke sind: was für eine feine Qual und Schwierigkeit wird entstehen, wenn wir Europäer nun zugleich auch deren neugierige Beobachter und Physiologen sind! Werden wir auch nur ernsthaft wünschen, von der Moral loszukommen? Werden wir es wollen? Abgesehen von der Frage, ob wir es können? Ob wir »geheilt« werden können?
Ders., Der Wille zur Macht, S. 194

Wessen Wille zur Macht ist die Moral? – Das Gemeinsame in der Geschichte Europas seit Sokrates ist der Versuch, die moralischen Werte zur Herrschaft über alle anderen Werte zu bringen; so daß sie nicht nur Führer und Richter des Lebens sein sollen, sondern auch
1. der Erkenntnis,
2. der Künste,
3. der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen.
»Besserwerden« als einzige Aufgabe, alles übrige dazu Mittel (oder Störung, Hemmung, Gefahr; folglich bis zur Vernichtung zu bekämpfen ...). – Eine ähnliche Bewegung in China. Eine ähnliche Bewegung in Indien.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 194

„Was bedeutet dieser Wille zur Macht seitens der moralischen Werte, der in den ungeheuren Entwicklungen sich bisher auf der Erde abgespielt hat? Antwort: – drei Mächte sind hinter ihm versteckt:
1. der Instinkt der Herde gegen die Starken und Unabhängigen;
2. der Instinkt der Leidenden und Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen;
3. der Instinkt der Mittelmäßigen gegen die Ausnahmen. –
Ungeheurer Vorteil dieser Bewegung, wieviel Grausamkeit, Falschheit und Borniertheit auch in ihr mitgeholfen hat ( : denn die Geschichte vom Kampf der Moral mit den Grundinstinkten des Lebens ist selbst die größte Immoralität, die bisher auf Erden dagewesen ist ...).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 195

„Die großen Dekadenz-Religionen rechnen immer auf die Unterstützung durch die Herde.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 200

„Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet, nicht auf eine individualistische Moral. Der Sinn der Herde soll in der Herde herrschen, – aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Herde bedürfen einer grundverschiedenen Wertung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die »Raubtiere« usw..“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 203

„Es ist eine Entnatürlichung der Moral, daß man die Handlung abtrennt vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die »Sünde« wendet; daß man glaubt, es gäbe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind. Wiederherstellung der »Natur«: eine Handlung an sich ist vollkommen leer an Wert: es kommt alles darauf an, wer sie tut. Ein und dasselbe »Verbrechen« kann in einem Fall das höchste Vorrecht, im andern das Brandmal sein. Tatsächlich ist es die Selbstsucht der Urteilenden, welche eine Handlung, resp. ihren Täter, auslegt im Verhältnis zum eigenen Nutzen oder Schaden (– oder im Verhältniß zur Ähnlichkeit oder Nicht-verwandtschaft mit sich.) “
Ders., Der Wille zur Macht, S. 206-207

„Wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden: darin ist unsre längste Übung, unsre Meisterschaft vielleicht, unser Raffinement in jedem Fall; wir haben die natürlichen Hänge mit dem bösen Gewissen verschwistert. Ein umgekehrter Versuch wäre möglich: die unnatürlichen Hänge, ich meine die Neigungen zum Jenseitigen, Sinnwidrigen, Denkwidrigen, Naturwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt Welt-Verleumdungs-Ideale waren, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 208

Moralistischer Naturalismus: Rückführung des scheinbar emanzipierten, übernatürlichen Moralwertes auf seine »Natur«: d.h. auf die natürliche Immoralität, auf die natürliche »Nützlichkeit« usw.. Ich darf die Tendenz dieser Betrachtungen als moralistischen Naturalismus bezeichnen: meine Aufgabe ist, die scheinbar emanzipierten und naturlos gewordnen Moralwerte in ihre Natur zurückzuübersetzen – d.h. in ihre natürliche »Immoralität«.
– NB. Vergleich mit der jüdischen »Heiligkeit« und ihrer Naturbasis: ebenso steht es mit dem souverän gemachten Sittengesetz, losgelöst von seiner Natur (– bis zum Gegensatz zur Natur –). Schritte der Entnatürlichung der Moral (sogenannten »Idealisierung«:
als Weg zum Individual-Glück,
als Folge der Erkenntnis,
als kategorischer Imperativ,
als Weg zur Heiligung,
als Verneinung des Willens zum Leben.
(Die schrittweise Lebensfeindlichkeit der Moral.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 210-211

„Nun wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der Macchiavellismus pur ... ist übermenschlich, göttlich, transzendent, er wird von Menschen nie erreicht, höchstens gestreift. Auch in dieser engeren Art von Politik, in der Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden zu sein. Auch Plato hat es nur gestreift. Man entdeckt, gesetzt daß man Augen für versteckte Dinge hat, selbst noch an den unbefangensten und bewußtesten Moralisten (– und das ist ja der Name für solche Politiker der Moral, für jede Art Begründer neuer Moral-Gewalten), Spuren davon, daß auch sie der menschlichen Schwäche ihren Tribut gezollt haben. Sie alle aspirierten, zum mindesten in ihrer Ermüdung, auch für sich selbst zur Tugend: erster und kapitaler Fehler eines Moralisten,—als welcher Immoralist der Tat zu sein hat. Daß er gerade das nicht scheinen darf, ist eine andere Sache. Oder vielmehr ist es nicht eine andere Sache: es gehört eine solche grundsätzliche Selbstverleugnung (moralisch ausgedrückt, Verstellung) mit hinein in den Kanon des Moralisten und seiner eigensten Pflichtenlehre: ohne sie wird er niemals zu seiner Art Vollkommenheit gelangen. Freiheit von der Moral, auch von der Wahrheit, um jenes Zieles willen, das jedes Opfer aufwiegt: Herrschaft der Moral – so lautet jener Kanon. Die Moralisten haben die Attitüde der Tugend nötig, auch die Attitüde der Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst, wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch werden, wahr werden. Ein großer Moralist ist, unter anderem, notwendig auch ein großer Schauspieler; seine Gefahr ist, daß seine Verstellung unversehens Natur wird, wie es sein Ideal ist, sein esse und sein operari auf eine göttliche Weise auseinander zu halten; Alles, was er tut, muß er sub specie boni tun,—sein hohes, fernes, anspruchsvolles Ideal! Ein göttliches Ideal! Und in der Tat geht die Rede, daß der Moralist damit kein geringeres Vorbild nachahmt als Gott selbst: Gott, diesen größten Immoralisten der That den es giebt, der aber nichtsdestoweniger zu bleiben versteht, was er ist, der gute Gott.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 213-215

„Mit der Tugend selbst gründet man nicht die Herrschaft der Tugend; mit der Tugend selbst verzichtet man auf Macht, verliert den Willen zur Macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 215

„Der Sieg eines moralischen Ideals wird durch dieselben »unmoralischen« Mittel errungen wie jeder Sieg: gewalt, Lüge, verleumdung, Ungerechtigkeit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 215

„Die Moral ist gerade so »unmoralisch« wie jedwedes andre Ding auf Erden; die Moralität selbst ist eine Form der Unmoralität.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 215

Die Moral in der Wertung von Rassen und Ständen. – In Anbetracht, daß Affekte und Grundtriebe bei jeder Rasse und bei jedem Stande etwas von ihren Existenzbedingungen ausdrücken (– zum mindesten von den Bedingungen, unter denen sie die längste Zeit sich durchgesetzt haben), heißt verlangen, daß sie »tugendhaft« sind:
daß sie ihren Charakter wechseln, aus der Haut fahren und ihre Vergangenheit auswischen:
heißt, daß sie aufhören sollen, sich zu unterscheiden:
heißt, daß sie in Bedürfnissen und Ansprüchen sich anähnlichen sollen – deutlicher: daß sie zugrunde gehn.
Der Wille zu einer Moral erweist sich somit als die Tyrannei jener Art, der diese eine Moral auf den Leib geschnitten ist, über andere Arten: es ist die Vernichtung oder die Uniformierung zugunsten der herrschenden (sei es, um ihr nicht mehr furchtbar zu sein, sei es, um von ihr ausgenutzt zu werden). »Aufhebung der Sklaverei« – angeblich ein Tribut an die »Menschenwürde«, in Wahrheit eine Vernichtung einer grundverschiedenen Spezies (– Untergrabung ihrer Werte und ihres Glücks –). Worin eine gegnerische Rasse oder ein gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein Bösestes, Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns (– seine »Tugenden« werden verleumdet und umgetauft). Es gilt als Einwand gegen Mensch und Volk, wenn er uns schadet: aber von seinem Gesichtspunkt aus sind wir ihm erwünscht, weil wir solche sind, von denen man Nutzen haben kann. Die Forderung der »Vermenschlichung« (welche ganz naiv sich im Besitz der Formel »was ist menschlich?« glaubt) ist eine Tartüfferie, unter der sich eine ganz bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht: genauer, ein ganz bestimmter Instinkt, der Herden-Instinkt. – »Gleichheit der Menschen«: was sich verbirgt unter der Tendenz, immer mehr Menschen als Menschen gleichzusetzen. Die »Interessiertheit« in Hinsicht auf die gemeine Moral. (Kunstgriff: die großen Begierden Herrschsucht und Habsucht zu Protektoren der Tugend zu machen.) Inwiefern alle Art Geschäftsmänner und Habsüchtige, alles, was Kredit geben und in Anspruch nehmen muß, es nötig hat, auf gleichen Charakter und gleichen Wertbegriff zu dringen: der Welt-Handel und -Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich gleichsam die Tugend. Insgleichen der Staat und jede An Herrschaft in Hinsicht auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft, um mit Vertrauen und Sparsamkeit der Kräfte zu arbeiten. – Insgleichen die Priesterschaft. – Hier wird also die gemeine Moral erzwungen, weil mit ihr ein Vorteil errungen wird; und um sie zum Sieg zu bringen, wird Krieg und Gewalt geübt gegen die Unmoralität – nach welchem »Rechte«? Nach gar keinem Rechte: sondern gemäß dem Selbsterhaltungsinstinkt. Dieselben Klassen bedienen sich der Immoralität, wo sie ihnen nützt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 217-219

„Moralinfreie Tugend ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 221

„Die Begierde vergrößert das, was man haben will; sie wächst selbst durch Nichterfüllung, – die größten Ideen sind die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen den Dingen immer mehr Wert bei, je mehr unsre Begierde nach ihnen wächst: wenn die »moralischen Werte« die höchsten Werte geworden sind, so verrät dies, daß das moralische Ideal das unerfüllteste gewesen ist (– insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel der Seligkeit). Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst nur Wolken umarmt: sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen »Gott« genannt ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 231

„Die Naivität in Hinsicht auf die letzten »Wünschbarkeiten«, – während amn das »Warum«“ des Menschen nicht kennt.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 231

Was ist die Falschmünzerei an der Moral? – Sie gibt vor, etwas zu wissen, nämlich was »gut und böse« sei. Das heißt wissen wollen, wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen. Das heißt wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung habe.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 231

„Daß die Menschheit eine Gesamtaufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes irgendeinem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie wieder los, bevor sie eine »fixe Idee« wird... Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen, – sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter. Sondern die Schichten liegen durcheinander und übereinander – und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall gibt es Auswurf- und Verfalls-Stoffe, es ist ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfalls- Gebilde.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 232

„Unter der Gewalt des christlichen Vorurteils gab es diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß es möglichst bald ein Ende habe; – über das, was dem einzelnen not tue, gab es keinen Zweifel .... Die Aufgabe stellte sich jetzt für jeden einzelnen, wie in irgendwelcher Zukunft für einen Zukünftigen: der Wert, Sinn, Umkreis der Werte war fest, unbedingt, ewig, eins mit Gott .... Das, was von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurteilt .... Das Schwergewicht des Wertes lag für jede Seele in sich selber: Heil oder Verdammnis! Das Heil der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung .... Für jede Seele gab es nur eine Vervollkommnung; nur ein Ideal; nur einen Weg zur Erlösung... Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft an eine optische Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit bis ins Unsinnige .... Lauter unsinnig wichtige Seelen, mit entsetzlicher Angst um sich selbst gedreht ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 232-233

„Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigtuerei: und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die optische Gewöhnung, einen Wert des Menschen in der Annäherung an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht. In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit sei .... Dieser Glaube ist aber nur die Folge einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des »idealen Typus«, sofort wieder herauszieht. Man glaubt,
erstens, zu wissen, daß die Annäherung an einen Typus wünschbar ist;
zweitens, zu wissen, welcher Art dieser Typus ist;
drittens, daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein Kraft- und Machtverlust des Menschen ist ...
Zustände träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität für sich hat: höher haben es auch unsre Sozialisten, selbst die Herren Utilitarier nicht gebracht. – Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des »Reiches Gottes« in die Zukunft verlegt, auf die Erde, ins Menschliche, – aber man hat im Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 233-234

Verstecktere Formen des Kultus des christlichen Moral-Ideals. – Der weichliche und feige Begriff »Natur«, der von den Naturschwärmern auf-gebracht ist (– abseits von allen Instinkten für das Furchtbare, Unerbittliche und Zynische auch der »schönsten« Aspekte), eine Art Versuch, jene moralisch-christliche »Menschlichkeit« aus der Natur herauszulesen, – der Rousseausche Naturbegriff, wie als ob »Natur« Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, Idyll sei, – immer Kultus der christlichen Moral im Grunde. – Stellen zu sammeln, was eigentlich die Dichter verehrt haben, z.B. am Hochgebirge usw.. – Was Goethe an ihr haben wollte, – warum er Spinoza verehrte –. Vollkommene Unwissenheit der Voraussetzung dieses Kultus .... Der weichliche und feige Begriff »Mensch« á la Comte und Stuart Mill, womöglich gar Kultus-Gegenstand .... Es ist immer wieder der Kultus der christlichen Moral unter einem neuen Namen .... Die Freidenker, z.B. Guyau. Der weichliche und feige Begriff »Kunst«, als Mitgefühl für alles Leidende, Schlechweggekommene (selbst die Historie, z.B. Thierrys): es ist immer wieder der Kultus des christlichen Moral-Ideals. Und nun gar das ganze sozialistische Ideal: nichts als ein tölpelhaftes Mißverständnis jenes christlichen Moral-Ideals.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 234

Die Herkunft des Ideals. Untersuchung des Bodens, auf dem es wächst.
A. Von den »ästhetischen« Zuständen ausgehen, wo die Welt voller, runder, vollkommener gesehen wird –: das heidnische Ideal: darin die Selbstbejahung vorherrschend (man gibt ab –). Der höchste Typus: das klassische Ideal – als Ausdruck eines Wohlgeratenseins aller Hauptinstinkte. Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des »Willens zur Macht« selbst. Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich zu bekennen.
B. Von Zuständen ausgehen, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die »Vergeistigung« und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt, wo am meisten das Brutale, Tierisch-Direkte, Nächste vermieden wird (– man rechnet ab, man wählt –): der »Weise«, »der Engel«, priesterlich = jungfräulich = unwissend, physiologische Charakteristik solcher Idealisten –: das anämische Ideal. Unter Umständen kann es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in Spinoza seinen »Heiligen«).
C. Von Zuständen ausgehen, wo wir die Welt absurder, schlechter, ärmer, täuschender empfinden, als daß wir in ihr noch das Ideal vermuten oder wünschen (– man negiert, man vernichtet –): die Projektion des Ideals in das Wider-Natürliche, Wider-Tatsächliche, Wider-Logische; der Zustand dessen, der so urteilt (– die »Verarmung« der Welt als Folge des Leidens: man nimmt, man gibt nicht mehr –): das widernatürliche Ideal.
(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser, bald mit jener Gestalt überwiegend.)
Die drei Ideale:
A. Entweder eine Verstärkung des Lebens (– heidnisch), oder
B. eine Verdünnung des Lebens (– anämisch), oder
C. eine Verleugnung des Lebens (– widernatürlich). Die »Vergöttlichung« gefühlt: in der höchsten Fülle – in der zartesten Auswahl – in der Verachtung und Zerstörung des Lebens.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 234-236

A. Der konsequente Typus. Hier wird begriffen, daß man auch das Böse nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe; daß man das Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei der Gegner nimmt in Wort und Tat; daß man durch eine Superfötation der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hilf- und liebreichen Zustände den Boden der anderen Zustände verarmt ..., daß man eine fortwährende Praxis nötig hat. Was ist hier erreicht? – Der buddhistische Typus oder die vollkommene Kuh. Dieser Standpunkt ist nur möglich, wenn kein moralischer Fanatismus herrscht, d. h. wenn das Böse nicht um seiner selbst willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgibt zu Zuständen, welche uns wehtun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit).Dies der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier fehlt der Begriff »Sünde«.
B. Der inkonsequente Typus. Man führt Krieg gegen das Böse, – man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische und Charakter-Konsequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und derentwegen man ihn als böse verabscheut). Tatsächlich verdirbt ein solcher Krieg gegen das Böse viel gründlicher als irgendeine Feindseligkeit von Person zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar »die Person« als Gegner, wenigstens imaginär, wieder ein (der Teufel, die bösen Geister usw.). Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spionieren gegen alles, was in uns schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten und unruhigsten Verfassung: so daß jetzt »Wunder«, Lohn, Ekstase, Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden .... Der christliche Typus: oder der vollkommene Mucker.
C. Der stoische Typus. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche, der Friede als Unbeugsamkeit eines langen Willens – die tiefe Ruhe, der Verteidigungszustand, die Burg, das kriegerische Mißtrauen – die Festigkeit der Grundsätze; die Einheit von Wille und Wissen; die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus. Der vollkommene »Hornochs«.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 236-237

„Ein Ideal, das sich durchsetzen oder noch behaupten will, sucht sich zu stützen
a) durch eine untergeschobene Herkunft,
b) durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen,
c) durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutierbare Macht rede,
d) durch Verleumdung seiner gegnerischen Ideale,
e) durch eine lügnerische Lehre des Vorteils, den es mit sich bringt, z.B. Glück, Seelenruhe, Frieden oder auch die Beihilfe eines mächtigen Gottes usw. – Zur Psychologie des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet.
Hat man alle Defensiv- und Schutz-Maßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal sich erhält: ist es damit widerlegt? Es hat die Mittel angewendet, durch die alles Lebendige lebt und wächst – sie sind allesamt »unmoralisch«. Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren es Leben und Wachstum gibt, sind mit dem Banne der Moral belegt: Moral als Instinkt der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu befreien.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 237-238

Tendenz der Moral-Entwicklung. – Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunterzuziehen: Hauptmittel das moralische Urteil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen. Der Kampf der vielen gegen die wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken –: eine seiner feinsten Unterbrechungen ist die, daß die Ausgesuchten, Feinen, Anspruchsvolleren sich als die Schwachen präsentieren und die gröberen Mittel der Macht von sich weisen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 238-239

„1. Der angeblich reine Erkenntnistrieb aller Philosophen ist kommandiert durch ihre Moral– »Wahrheiten«, – ist nur scheinbar unabhängig ....
2. Die »Moralwahrheiten« »so soll gehandelt werden« sind bloße Bewußtseins-Formen eines müdewerdenden Instinkts »so und so wird bei uns gehandelt«. Das »Ideal« soll einen Instinkt wiederherstellen, stärken; es schmeichelt dem Menschen, gehorsam zu sein, wo er nur Automat ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 239

Moral als Verführungsmittel. – »Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für die »Verderbnis der Menschen« zu? Ihren Tyrannen und Verführern, den herrschenden Ständen – man muß sie vernichten« –; die Logik Rousseaus (vgl. die Logik Pascals, welcher den Schluß auf die Erbsünde macht). Man vergleiche die verwandte Logik Luthers. In beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein unersättliches Rachebedürfnis als moralisch – religiöse Pflicht einzuführen. Der Haß gegen den regierenden Stand sucht sich zu heiligen ... (die »Sündhaftigkeit Israels«: Grundlage für die Machtstellung der Priester). Man vergleiche die verwandte Logik des Paulus. Immer ist es die Sache Gottes, unter der diese Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der Menschlichkeit usw..“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 239

„Der »gute Mensch«. Oder: die Hemiplegie der Tugend. – Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-tun und Nein-tun zueinander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt – welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? ... Die Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneide, mit denen er feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen kann... Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen Konzeption eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summierend. – Eine solche Wertungsweise glaubt sich damit »idealistisch«; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der Konzeption »des Guten« angesetzt zu haben. Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse annulliert ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übriggeblieben sind. Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, letzteres soll verschwinden und ersteres soll übrigbleiben, das eine hat ein Recht zu sein, das andere sollte gar nicht da sein .... Was wünscht da eigentlich?
Man hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf den »Guten« zu reduzieren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten, denen diese Absicht mit der »Vermenschlichung« überhaupt oder mit dem »Willen Gottes« oder mit dem »Heil der Seele« zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der Mensch nichts Böses tue, daß er unter keinen Umständen schade, schaden wolle. Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeit zur Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des Ressentiments, der »Frieden der Seele« als chronisches Übel.
Diese Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von einer absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten, die mit sich im Widerspruch sind (nicht als komplementäre Wertbegriffe, was die Wahrheit wäre), sie rät die Partei des Guten zu nehmen, sie verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und widerstrebt – sie verneint tatsächlich damit das Leben, welches in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denkt es sich als Zustand der Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen jenen entgegengesetzten Wert-Antrieben ein Ende gemacht wird. – Vielleicht gab es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug in psychologicis als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten Typus, den unfreien Menschen groß, den Mucker; man lehrte, eben nur als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei ein göttlicher Wandel.
Und selbst hier noch behält das Leben recht – das Leben, welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß –: was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse zu halten, nicht schaden, nicht Neintun zu wollen! man führt doch Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint mit jener Hemiplegie der Tugend, hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, nein zu sagen, nein zu tun. Der Christ zum Beispiel haßt die »Sünde«! – und was ist ihm nicht alles »Sünde«! Gerade durch jenen Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerten, vom Ewigzu-Bekämpfenden übervoll geworden. »Der Gute« sieht sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen, er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Dichten und Trachten noch das Böse: und so endet er, wie es folgerichtig ist, damit, die Natur für böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt als menschenunmöglich) zu verstehen. In summa: er verneint das Leben, er begreift, wie das Gute als oberster Wert das Leben verurteilt .... Damit sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine Krankheit widerlegt man nicht. Und so konzipiert er ein anderes Leben!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 241-244

Zur Kritik des guten Menschen. – Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen, – sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an sich wertindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter irgendwelchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Wert bekommen? Liegt der Wert dieser Eigenschaften in ihnen oder in dem Nutzen, Vorteil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)? Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz von ego und alter in der Beurteilung: die Frage ist, ob die Folgen es sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für die Umgebung, Gesellschaft, »Menschheit«, derentwegen diese Eigenschaften Wert haben sollen: oder ob sie an sich selbst Wert haben .... Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die entgegengesetzten Eigenschaften verurteilen, bekämpfen, verneinen heißt (– Unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit –)? Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Konsequenz solcher Eigenschaften verurteilt? – Anders gefragt: wäre es wünschbar, daß Menschen die ser zweiten Eigenschaften nicht existieren? – Das wird jedenfalls geglaubt .... Aber hier steckt der Irrtum, die Kurzsichtigkeit, die Borniertheit des Winkel-Egoismus. Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vorteil auf Seiten der Rechtschaffenen ist – so daß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmutigt würden und langsam ausstürben? Dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und der Ästhetik: wäre es wünschbar, daß die »achtbarste«, d.h. langweiligste Spezies Mensch übrigbliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die »Hornochsen«? Denkt man sich die ungeheure Überfülle der »Anderen« weg: so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist nicht mehr nötig, – und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat. Die Wünschbarkeit liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei denen der »rechtschaffene Mensch« in die bescheidne Stellung eines »nützlichen Werkzeugs« herabgedrückt wird – als das »ideale Herdentier«, bestenfalls Herden-Hirt: kurz, bei denen er nicht mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt: welche andere Eigenschaften verlangt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 244-246

Der »gute Mensch« als Tyrann. – Die Menschheit hat immer denselben Fehler wiederholt: daß sie aus einem Mittel zum Leben einen Maßstab des Lebens gemacht hat; daß sie – statt in der höchsten Steigerung des Lebens selbst, im Problem des Wachstums und der Erschöpfung, das Maß zu finden – die Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum Ausschluß aller anderen Formen des Lebens, kurz zur Kritik und Selektion des Lebens benutzt hat. D.h. der Mensch liebt endlich die Mittel um ihrer selbst willen und vergißt sie als Mittel: so daß sie jetzt als Ziele ihm ins Bewußtsein treten, als Maßstäbe von Zielen... d.h. eine bestimmte Spezies Mensch behandelt ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen, als »Wahrheit«, »Gut«, »Vollkommen«: sie tyrannisiert .... Es ist eine Form des Glaubens, des Instinkts, daß eine Art Mensch nicht die Bedingtheit ihrer eignen Art, ihre Relativität im Vergleich zu anderen einsieht Wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch (Volk, Rasse), wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 246

„Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? den guten Menschen? Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave, der Sklave der Zukunft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 247

Die Metamorphosen der Sklaverei; ihre Verkleidung unter religiöse Mäntel; ihre Verklärung durch die Moral.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 247

Der ideale Sklave (der »gute« Mensch). – Wer sich nicht als »Zweck« ansetzen kann, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, der gibt der Moral der Entselbstung die Ehre – instinktiv. Zu ihr überredet ihn alles: seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube ist eine Entselbstung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 247

„Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg erklärt (samt dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen für neue Ideale, für robustere Ideale .... Die Fortdauer des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswertesten Dingen, die es gibt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend machen wollen, – sie müssen Gegner, starke Gegner haben, um stark zu werden. – So brauchen wir Immoralisten die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsre Gegner bei Kräften bleiben, – er will nur Herr über sie werden.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 248-249

Egoismus und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher ihn überall herauszog und damit den Wert der Dinge und Tugenden vermindert glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts anderes geben könne als Egoismus, – daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird, – daß die Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego sind, – daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist usw. Die falsche Wertschätzung zielt in Wahrheit auf das Interesse
1. derer, denen genützt, geholfen wird, der Herde;
2. enthält sie einen pessimistischen Argwohn gegen den Grund des Lebens;
3. möchte sie die prachtvollsten und wohlgeratensten Menschen verneinen; Furcht;
4. will sie den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger;
5. bringt sie eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den wertvollsten Menschen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 249

Ursprung der Moralwerte. – Der Egoismus ist so viel wert, als der physiologisch wert ist, der ihn hat. Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral auffaßt, etwas das mit der Geburt beginnt):
Stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Wert in der Tat außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachstums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgeratenen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus gibt).
Stellt er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung: so kommt ihm wenig Wert zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig als möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgeratenen wegnimmt. In diesem Falle hat die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoismus (– der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert –) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende verkümmerte Volks-Schichten. Eine Lehre und Religion der »Liebe«, der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in Tat und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werte sein, selbst mit den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des Ressentiment, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen, – sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demut und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergibt sich, warum die herrschenden Klassen oder Rassen und Einzelnen jeder Zeit den Kultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Niedrigen, den »Gott am Kreuze« aufrecht erhalten haben.
Das Übergewicht einer altruistischen Wertungsweise ist die Folge eines Instinktes für Mißraten-sein. Das Werturteil auf unterstem Grunde sagt hier: »ich bin nicht viel wert«: ein bloß physiologisches Werturteil, noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungszentren). Dies Werturteil übersetzt sich, je nach der Kultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urteil ( – die Vorherrschaft religiöser und moralischer Urteile ist immer ein Zeichen niedriger Kultur – ): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen der Begriff »Wert« überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür nicht in seiner »Schuld« (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der Sozialist, der Anarchist, der Nihilist, indem sie ihr Dasein als etwas empfinden, an dem jemand schuld sein soll, ist damit immer noch der Nächstverwandte des Christen, der auch das Sich-schlecht-Befinden und Mißraten besser zu ertragen glaubt, wenn er jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich machen kann. Der Instinkt der Rache und des Ressentiment erscheint hier in beiden Fällen als Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eigenen, wie beim Christen, sei es gegen den fremden, wie beim Sozialisten, ergibt sich dergestalt als ein Werturteil unter der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle .... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiment im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoismus (des eigenen oder eines fremden) noch ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der Kultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.
Wenn der Sozialist mit einer schönen Entrüstung »Gerechtigkeit«, »Recht«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er nur unter dem Druck seiner ungenügenden Kultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; befände er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: »die Welt« wird von ihm verurteilt, verleumdet, verflucht – er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohltut, zu schreien, denen die Verleumdung eine Erleichterung ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 252-255

Die Verinnerlichung des Menschen. – Die Verinnerlichung entsteht, indem mächtige Triebe, denen mit Einrichtung des Friedens und der Gesellschaft die Entladung nach außen versagt wird, sich nach innen zu schadlos zu halten suchen, im Bunde mit der Imagination. Das Bedürfnis nach Feindschaft, Grausamkeit, Rache, Gewaltsamkeit wendet sich zurück, »tritt zurück«; im Erkennenwollen ist Habsucht und Erobern: im Künstler tritt die zurückgetretene Verstellungs- und Lügenkraft auf; die Triebe werden zu Dämonen umgeschaffen, mit denen es Kampf gibt usw.,“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 255-256

„Der Mächtige lügt immer.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 257

„Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden von den Moral-Vorurteilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes liegt, die typische Unmoralität des Genies, nicht sehen wollen, er hat künstlich das, was er allein ehrte, den moralischen Wert der »Entselbstung«, auch als Bedingung der geistigsten Tätigkeit, des »Objektiv«-Blickens, angesetzt. »Wahrheit«, auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens .... Quer durch alle moralische Idiosynkrasie hindurch sehe ich eine grundverschiedene Wertung: solche absurde Auseinandertrennung von »Genie« und Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht. Der moralische Mensch ist eine niedrigere Spezies als der unmoralische, eine schwächere; ja – er ist der Moral nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Kopie, eine gute Kopie bestenfalls, – das Maß seines Wertes liegt außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum Macht und Fülle seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und der Verleumdung .... Ich schätze die Macht eines Willens danach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vorteil umzuwandeln weiß; ich rechne dem Dasein nicht seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf an, sondern bin der Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter sein wird als bisher .... Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginierte, war, zur Erkenntnis zu kommen, daß alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv der gute Mensch schon tut .... Er leugnet, daß es höhere Arten Intellekt geben könne, – er nahm seine Einsicht als ein non plus ultra. Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Wert (als Kunst z.B.) wäre es, die moralische Umkehr anzuraten, vorzubereiten: absolute Herrschaft der Moralwerte. – Neben Schopenhauer will ich Kant charakterisieren: nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker (Goethes Stelle über das Radikal-Böse). Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit .... Ich brauche eine Kritik des Heiligen .... Hegels Wert. »Leidenschaft«. Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen. Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker und Psychologen: es muß alles, was wertvoll ist in Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik, bewiesen werden als moralisch-wertvoll, moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Wert: z.B. Rousseaus Frage in betreff der Zivilisation »wird durch sie der Mensch besser?« – eine komische Frage, da das Gegenteil auf der Hand liegt und eben das ist, was zugunsten der Zivilisation redet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 259-260

„Mein Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch einen viel höheren Wert darstellt als der wünschbare Mensch irgendeines bisherigen Ideals: daß alle »Wünschbarkeiten« in Hinsicht auf den Menschen gefährliche Ausschweifungen waren, mit denen eine einzelne Art von Mensch ihre Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen über der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte; daß jede zur Herrschaft gebrachte »Wünschbarkeit“ solchen Ursprungs bis jetzt den Wert des Menschen, seine Kraft, seine Zukunftsgwißheit herabgedrückt hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität des Menschen sich am meisten bloßstellt, auch heute noch, wenn er wünscht;daß die Fähigkeit des Menschen, Werte anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt war, um dem tatsächlichen, nicht bloß »wünschbaren« Werte des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis jetzt die eigentlich welt- und mensch-verleumdende Kraft, der Gifthauch über der Realität, die große Verführung zum Nichts war ....
Ders., Der Wille zur Macht, S. 265

„Maßstab, wonach der Wert der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist. Die übersehene Grundtatsache: Widerspruch zwischen dem »Moralischer-werden« und der Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch. Homo natura. Der »Wille zur Macht«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 265

„Die Moralwerte als Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 265

„»Die Krankheit macht den Menschen besser«: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, gibt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: gibt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die »Verbesserung des Menschen«, im großen betrachtet, z.B. die unleugbare Milderung, Vermenschlichung, Vergutmütigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißratens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat »die Krankheit« den Europäer »besser gemacht«? Oder anders gefragt: ist unsre Moralität – unsre moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge, – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs? .... Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo »der Mensch« sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Mut oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: »je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so ›unmoralischer‹ wird er auch«. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden teurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die »Verbesserung«, die wachsende »Zivilisierung« des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und »jeder jedermanns Krankenpfleger« wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten »Frieden auf Erden«! Aber auch so wenig »Wohlgefallen aneinander«! So wenig Schönheit, Übermut, Wagnis, Gefahr! So wenig »Werke«, um derentwillen es sich lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine »Taten« mehr! Alle großen Werke und Taten, welche stehngeblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?
Ders., Der Wille zur Macht, S. 268-269

„Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen .... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht zum Moralisten“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 270

„Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht zum Moralisten“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 270

„Der Mensch, eingesperrt in einen eisernen Käfig von Irrtümern, eine Karikatur des Menschen geworden, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig, voller Haß auf die Antriebe zum Leben, voller Mißtrauen gegen alles, was schön und glücklich ist am Leben, ein wandelndes Elend: diese künstliche, willkürliche, nachträgliche Mißgeburt, welche die Priester aus ihrem Boden gezogen haben, den »Sünder«: wie werden wir es erlangen, dieses Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen?
Ders., Der Wille zur Macht, S. 271

„Um billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre Stelle setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten Art. Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie »bessern» wollen .... Aber wir andern lachen, wenn ein Tierbändiger von seinen »gebesserten« Tieren reden wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen durch eine Schädigung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist kein besserer Mensch, sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 271

„Was ich mit aller Kraft deutlich zu machen wünsche:
a) daß es keine schlimmere Verwechslung gibt, als wenn man Züchtung mit Zähmung verwechselt: was man getan hat .... Die Züchtung ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der Menschheit, so daß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen können – nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch aus ihnen herauswachsend, ins Stärkere ....
b) daß es eine außerordentliche Gefahr gibt, wenn man glaubt, daß die Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker würde, wenn die Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich werden .... Menschheit ist ein Abstraktum: das Ziel der Züchtung kann auch im einzelnsten Falle immer nur der stärkere Mensch sein (– der ungezüchtete ist schwach, vergeuderisch, unbeständig –).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 271-272

„Das sind meine Forderungen an euch – sie mögen euch schlecht genug zu Ohren gehen –: daß ihr die moralischen Wertschätzungen selbst einer Kritik unterziehen sollt. Daß ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher hier Unterwerfung und nicht Kritik verlangt, mit der Frage: »warum Unterwerfung?« Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem »Warum?«, nach einer Kritik der Moral, eben als eure jetzige Form der Moralität selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Moralität, die euch und eurer Zeit Ehre macht. Daß eure Redlichkeit, euer Wille, euch nicht zu betrügen, sich selbst ausweisen muß: »warum nicht? – Vor welchem Forum?«“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 272

„Die drei Behauptungen:
Das Unvornehme ist das Höhere (Protest des »gemeinen Mannes«);
das Widernatürliche ist das Höhere (Protest der Schlechtweggekommenen);
das Durchschnittliche ist das Höhere (Protest der Herde, der »Mittleren«).
In der Geschichte der Moral drückt sich also ein Wille zur Macht aus, durch den bald die Sklaven und Unterdrückten, bald die Mißratenen und An-sich-Leidenden, bald die Mittelmäßigen den Versuch machen, die ihnen günstigsten Werturteile durchzusetzen. Insofern ist das Phänomen der Moral vom Standpunkt der Biologie aus höchst bedenklich. Die Moral hat sich bisher entwickelt auf Unkosten: der Herrschenden und ihrer spezifischen Instinkte, der Wohlgeratenen und schönen Naturen, der Unabhängigen und Privilegierten in irgendeinem Sinne. Die Moral ist also eine Gegenbewegung gegen die Bemühungen der Natur, es zu einem höheren Typus zu bringen. Ihre Wirkung ist; Mißtrauen gegen das Leben überhaupt (insofern dessen Tendenzen als »unmoralisch« empfunden werden) – Sinnlosigkeit, Widersinn (insofern die obersten Werte als im Gegensatz zu den obersten Instinkten empfunden werden) – Entartung und Selbstzerstörung der »höheren Naturen«, weil gerade in ihnen der Konflikt bewußt wird.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 272-273

„Welche Werte bisher obenauf waren.
Moral als oberster Wert, in allen Phasen der Philosophie (selbst bei den Skeptikern). Resultat: diese Welt taugt nichts, es muß eine »wahre Welt« geben. Was bestimmt hier eigentlich den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? Der Instinkt der décadence, es sind die Erschöpften und Enterbten, die auf diese Weise Rache nehmen und die Herren machen .... Historischer Nachweis: die Philosophen immer décadents, immer im Dienst der nihilistischen Religionen. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Vorführung seines Systems der Mittel: absolute Unmoralität der Mittel. Gesamteinsicht: die bisherigen obersten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 273-274

„Warum die gegnerischen Werte immer unterlagen
1. Wie war das eigentlich möglich? Frage: warum unterlag das Leben, die physiologische Wohlgeratenheit überall? Warum gab es keine Philosophie des Ja, keine Religion des Ja? .... Die historischen Anzeichen solcher Bewegungen: Die heidnische Religion. Dionysos gegen den »Gekreuzigten«. Die Renaissance. Die Kunst.
2. Die Starken und die Schwachen: die Gesunden und die Kranken; die Ausnahme und die Regel. Es ist kein Zweifel, wer der Stärkere ist .... Gesamtaspekt der Geschichte: Ist der Mensch damit eine Ausnahme in der Geschichte des Lebens? – Einsprache gegen den Darwinismus. Die Mittel der Schwachen, um sich oben zu erhalten, sind Instinkte, sind »Menschlichkeit« geworden, sind »Institutionen« ....
3. Nachweis dieser Herrschaft in unsern politischen Instinkten, in unsern sozialen Werturteilen, in unsern Künsten, in unsrer Wissenschaft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 274

„Die Niedergangs-Instinkte sind Herr über die Aufgangs-Instinkte geworden .... Der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben! – Ist das wahr? ist nicht vielleicht eine größere Garantie des Lebens, der Gattung in diesem Sieg der Schwachen und Mittleren? – ist es vielleicht nur ein Mittel in der Gesamtbewegung des Lebens, eine Tempo-Verzögerung? eine Notwehr gegen etwas noch Schlimmeres? – Gesetzt, die Starken wären Herr, in allem, und auch in den Wertschätzungen geworden: ziehen wir die Konsequenz, wie sie über Krankheit, Leiden, Opfer denken würden! Eine Selbstverachtung der Schwachen wäre die Folge: sie würden suchen, zu verschwinden und sich auszulöschen. Und wäre dies vielleicht wünschenswert? – und möchten wir eigentlich eine Welt, in der die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 274-275

„Wir haben zwei »Willen zur Macht« im Kampfe gesehn (im Spezialfall: wir hatten ein Prinzip, dem einen recht zu geben, der bisher unterlag, und dem, der bisher siegte, unrecht zu geben): wir haben die »wahre Welt« als eine »erlogene Welt« und die Moral als eine Form der Unmoralität erkannt. Wir sagen nicht: »der Stärkere hat unrecht«. Wir haben begriffen, was bisher den obersten Wert bestimmt hat und warum es Herr geworden ist über die gegnerische Wertung –: es war numerisch stärker. Reinigen wir jetzt die gegnerische Wertung von der Infektion und Halbheit, von der Entartung, in der sie uns allen bekannt ist. Wiederherstellung der Natur: moralinfrei.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 275

Moral ein nützlicher Irrtum, deutlicher, in Hinsicht auf die größten und vorurteilsfreiesten ihrer Förderer, eine notwendig erachtete Lüge.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 275

„Man darf sich die Wahrheit bis so weit zugestehn, als man bereits erhöht genug ist, um nicht mehr die Zwangsschule des moralischen Irrtums nötig zu haben. – Falls man das Dasein moralisch beurteilt, degoutiert es. Man soll nicht falsche Personen erfinden, z.B. nicht sagen »die Natur ist grausam«. Gerade einzusehen, daß es kein solches Zentralwesen der Verantwortlichkeit gibt, erleichtert!
Entwicklung der Menschheit.
A. Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. (Die Moral war nötig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und »wildem Tier«.)
B. Ist die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 276

„Moral als Illusion der Gattung, um den einzelnen anzutreiben, sich der Zukunft zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen Wert zugestehend, so daß er mit diesem Selbstbewußtsein andere Seiten seiner Natur tyrannisiert und niederhält und schwer mit sich zufrieden ist. Tiefste Dankbarkeit für das, was die Moral bisher geleistet hat: aber jetzt nur noch ein Druck, der zum Verhängnis werden würde! Sie selbst zwingt als Redlichkeit zur Moralverneinung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 276

„Inwiefern die Selbstvernichtung der Moral noch ein Stück ihrer eigenen Kraft ist. Wir Europäer haben das Blut solcher in uns, die für ihren Glauben gestorben sind; wir haben die Moral furchtbar und ernst genommen, und es ist nichts, was wir ihr nicht irgendwie geopfert haben. Andrerseits: unsre geistige Feinheit ist wesentlich durch Gewissens-Vivisektion erreicht worden. Wir wissen das »Wohin?« noch nicht, zu dem wir getrieben werden, nachdem wir uns dergestalt von unsrem alten Boden abgelöst haben. Aber dieser Boden selbst hat uns die Kraft angezüchtet, die uns jetzt hinaustreibt in die Ferne, ins Abenteuer, durch die wir ins Uferlose, Unerprobte, Unentdeckte hinausgestoßen werden – es bleibt uns keine Wahl, wir müssen Eroberer sein, nachdem wir kein Land mehr haben, wo wir heimisch sind, wo wir »erhalten« möchten. Ein verborgenes Ja treibt uns dazu, das stärker ist als alle unsre Neins. Unsre Stärke selbst duldet uns nicht mehr im alten morschen Boden: wir wagen uns in die Weite, wir wagen uns daran: die Welt ist noch reich und unentdeckt, und selbst Zugrundegehn ist besser als halb und giftig werden. Unsre Stärke selbst zwingt uns aufs Meer, dorthin, wo alle Sonnen bisher untergegangen sind: wir wissen um eine neue Welt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 276-277

„Zunächst tut die absolute Skepsis gegen alle überlieferten Begriffe not (wie sie vielleicht schon einmal ein Philosoph besessen hat – Plato natürlich –, denn er hat das Gegenteil gelehrt).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 279

„Gegen die erkenntnistheoretischen Dogmen tief mißtrauisch, liebte ich es, bald aus diesem, bald aus jenem Fenster zu blicken, hütete mich, mich darin festzusetzen, hielt sie für schädlich, – und zuletzt: ist es wahrscheinlich, daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisieren kann?? – Worauf ich achtgab, war vielmehr, daß niemals eine erkenntnistheoretische Skepsis oder Dogmatik ohne Hintergedanken entstanden ist, – daß sie einen Wert zweiten Ranges hat, sobald man erwägt, was im Grunde zu dieser Stellung zwang. Grundeinsicht: sowohl Kant als Hegel, als Schopenhauer – sowohl die skeptisch-epochistische Haltung als die historisierende, als die pessimistische – sind moralischen Ursprungs. Ich sah niemanden, der eine Kritik der moralischen Wertgefühle gewagt hätte: und den spärlichen Versuchen, zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle zu kommen (wie bei den englischen und deutschen Darwinisten) wandte ich bald den Rücken. Wie erklärt sich Spinozas Stellung, seine Verneinung und Ablehnung der moralischen Werturteile? (Es war eine Konsequenz seiner Theodizee!)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 280-281

„Durch moralische Hinterabsichten ist der Gang der Philosophie bisher am meisten aufgehalten worden. “
Ders., Der Wille zur Macht, S. 281

„Man hat zu allen Zeiten die »schönen Gefühle« für Argumente genommen, den »gehobenen Busen« für den Blasebalg der Gottheit, die Überzeugung als »Kriterium der Wahrheit«, das Bedürfnis des Gegners als Fragezeichen zur Weisheit: diese Falschheit, Falschmünzerei geht durch die ganze Geschichte der Philosophie. Die achtbaren, aber nur spärlichen Skeptiker abgerechnet, zeigt sich nirgends ein Instinkt von intellektueller Rechtschaffenheit. Zuletzt hat noch Kant in aller Unschuld diese Denker-Korruption mit dem Begriff »praktische Vernunft« zu verwissenschaftlichen gesucht: er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchen Fällen man sich nicht um die Vernunft zu kümmern brauche: nämlich wenn das Bedürfnis des Herzens, wenn die Moral, wenn die »Pflicht« redet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 281-282

Hegel: seine populäre Seite die Lehre vom Krieg und den großen Männern. Das Recht ist bei dem Siegreichen: er stellt den Fortschritt der Menschheit dar. Versuch, die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen.
Kant: ein Reich der moralischen Werte, uns entzogen, unsichtbar, wirklich.
Hegel: eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reiches.
Wir wollen uns weder auf die Kantische noch Hegelsche Manier betrügen lassen – wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich auch keine Philosophien zu gründen, damit die Moral recht behalte. Sowohl der Kritizismus als der Historizismus hat für uns nicht darin seinen Reiz – nun, welchen hat er denn?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 282

„Die Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel): einen Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse, der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden. Diese grandiose Initiative ist mißbraucht worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit des gerade Herrschenden sanktioniert.
Schopenhauer erscheint dagegen als hartnäckiger Moral-Mensch, welcher endlich, um mit seiner moralischen Schätzung recht zu behalten, zum Welt-Verneiner wird. Endlich zum »Mystiker«.
Ich selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht: wie ist die Häßlichkeit der Welt möglich? – Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel: fundamental aber schien mir das ewig-Schaffende als das ewig-Zerstören-Müssende gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der Dinge unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das Sinnlos-gewordene zu legen: die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige als unhaltbar, mißraten, verneinungswürdig, als häßlich zu fühlen!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 282-283

Meine erste Lösung: die dionysische Weisheit. Lust an der Vernichtung des Edelsten und am Anblick, wie er schrittweise ins Verderben gerät: als Lust am Kommenden, Zukünftigen, welches triumphiert über das vorhandene noch so Gute. Dionysisch: zeitweilige Identifikation mit dem Prinzip des Lebens (Wollust des Märtyrers einbegriffen).
Meine Neuerungen. – Weiter-Entwicklung des Pessimismus: der Pessimismus des Intellekts; die moralische Kritik, Auflösung des letzten Trostes. Erkenntnis der Zeichen des Verfalls: umschleiert durch Wahn jedes starke Handeln; die Kultur isoliert, ist ungerecht und dadurch stark.
1. Mein Anstreben gegen den Verfall und die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit. Ich suchte ein neues Zentrum.
2. Unmöglichkeit dieses Strebens erkannt.
3. Darauf ging ich weiter in der Bahn der Auflösung – darin fand ich für einzelne neue Kraftquellen. Wir müssen Zerstörer sein! – – Ich erkannte, daß der Zustand der Auflösung, in der einzelne Wesen sich vollenden können wie nie – ein Abbild und Einzelfall des allgemeinen Daseins ist. Gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 283-284

„Die deutsche Philosophie als Ganzes – Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen – ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen – ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überallhin, in alle Heimaten und »Vaterländer«, die es für Griechen-Seelen gegeben hat! Freilich: man muß sehr leicht, sehr dünn sein, um über diese Brücken zu schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit von »Druck und Stoß«, von der mechanischen Tölpelei der Naturwissenschaften, von dem Jahrmarkts-Lärme der »modernen Ideen«! Man will zurück, durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Altertums, das Christentum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werturteile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen – immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europas Herr geworden ist und welcher an dem großen »ungeistigen Menschen«, an Luther, seinen Anführer hatte: – in diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille fortzufahren in der Entdeckung des Altertums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor allem der Vorsokratiker – der bestverschüt teten aller griechischen Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später urteilen wird, daß alles deutsche Philosophieren darin seine eigentliche Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein, und daß jeder Anspruch auf »Originalität« kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnis zu jenem höheren Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst gearteten Typus »Mensch«. Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras erfunden hat, – wir werden von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Wertschätzungen, gleichsam als gräzisierende Gespenster: aber dereinst hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 284-286

Theorie und Praxis. – Verhängnisvolle Unterscheidung, wie als ob es einen eignen Erkenntnistrieb gebe, der, ohne Rücksicht auf Fragen des Nutzens und Schadens, blindlings auf die Wahrheit losgehe: und dann, davon abgetrennt, die ganze Welt der praktischen Interessen .... Dagegen suche ich zu zeigen, welche Instinkte hinter all diesen reinen Theoretikern tätig gewesen sind – wie sie allesamt fatalistisch im Bann ihrer Instinkte auf etwas losgingen, das für sie »Wahrheit« war, für sie und nur für sie. Der Kampf der Systeme, samt dem der erkenntnistheoretischen Skrupel, ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen der Vitalität, des Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.). Der sogenannte Erkenntnistrieb ist zurückzuführen auf einen Aneignungs– und Überwältigungstrieb: diesem Triebe folgend haben sich die Sinne, das Gedächtnis, die Instinkte usw. entwickelt. Die möglichst schnelle Reduktion der Phänomene, die Ökonomie, die Akkumulation des erworbenen Schatzes an Erkenntnis (d.h. angeeigneter und handlich gemachter Welt) .... Die Moral ist deshalb eine so kuriose Wissenschaft, weil sie im höchsten Grade praktisch ist: so daß die reine Erkenntnisposition, die wissenschaftliche Rechtschaffenheit sofort preisgegeben wird, sobald die Moral ihre Antworten fordert. Die Moral sagt: ich brauche manche Antworten – Gründe, Argumente; Skrupel mögen hinterdrein kommen, oder auch nicht –. »Wie soll gehandelt werden?« – Denkt man nun nach, daß man mit einem souverän entwickelten Typus zu tun hat, von dem seit unzähligen Jahrtausenden »gehandelt« worden ist, und alles Instinkt, Zweckmäßigkeit, Automatismus, Fatalität geworden ist, so kommt einem die Dringlichkeit dieser Moral – Frage sogar ganz komisch vor. »Wie soll gehandelt werden?« – Moral war immer ein Mißverständnis: tatsächlich wollte eine Art, die ein Fatum so und so zu handeln im Leibe hatte, sich rechtfertigen, indem sie ihre Norm als Universalnorm aufdekretieren wollte . .... »Wie soll gehandelt werden?« ist keine Ursache, sondern eine Wirkung. Die Moral folgt, das Ideal kommt am Ende. – Andrerseits verrät das Auftreten der moralischen Skrupel (anders ausgedrückt: das Bewußtwerden der Werte, nach denen man handelt) eine gewisse Krankhaftigkeit; starke Zeiten und Völker reflektieren nicht über ihr Recht, über Prinzipien zu handeln, über Instinkt und Vernunft. Das Bewußtwerden ist ein Zeichen davon, daß die eigentliche Moralität, d. h. Instinkt – Gewißheit des Handelns, zum Teufel geht .... Die Moralisten sind, wie jedesmal, daß eine neue Bewußtseins – Welt geschaffen wird, Zeichen einer Schädigung, Verarmung, Desorganisation. – Die Tief – Instinktiven haben eine Scheu vor dem Logisieren der Pflichten: unter ihnen findet man pyrrhonistische Gegner der Dialektik und der Erkennbarkeit überhaupt .... Eine Tugend wird mit »um« widerlegt ....
Thesis: das Auftreten der Moralisten gehört in die Zeiten, wo es zu Ende geht mit der Moralität.
Thesis: der Moralist ist ein Auflöser der moralischen Instinkte, so sehr er deren Wiederhersteller zu sein glaubt.
Thesis: das, was den Moralisten tatsächlich treibt, sind nicht moralische Instinkte, sondern die Instinkte der décadence, übersetzt in die Formeln der Moral (– er empfindet das Unsicherwerden der Instinkte als Korruption).
Thesis: die Instinkte der décadence, die durch die Moralisten über die Instinkt – Moral starker Rassen und Zeiten Herr werden wollen, sind
1. die Instinkte der Schwachen und Schlechtweggekommenen;
2. die Instinkte der Ausnahmen, der Solitären, der Ausgelösten, des abortus im Hohen und Geringen;
3. die Instinkte der Habituell – Leidenden, welche eine noble Auslegung ihres Zustandes brauchen und deshalb so wenig als möglich Physiologen sein dürfen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 287-290

„Das Erscheinen der griechischen Philosophen von Sokrates an ist ein Symptom der decadence; die antihellenischen Instinkte kommen oben auf. .. Noch ganz hellenisch ist der »Sophist« – eingerechnet Anaxagoras, Demokrit, die großen Ionier – ; aber als Übergangsform. Die Polis verliert ihren Glauben an die Einzigkeit ihrer Kultur, an ihr Herren – Recht über jede andere Polis. .... Man tauscht die Kultur, d.h. »die Götter« aus, – man verliert dabei den Glauben an das Allein – Vorrecht des deus autochthonus. Das Gut und Böse verschiedener Abkunft mischt sich: die Grenze zwischen Gut und Böse verwischt sich. .... Das ist der »Sophist« ... Der »Philosoph« dagegen ist die Reaktion: er will die alte Tugend. Er sieht die Gründe des Verfalls im Verfall der Institutionen, er will alte Institutionen; er sieht den Verfall im Verfall der Autorität: er sucht nach neuen Autoritäten (Reise ins Ausland, in fremde Literaturen, in exotische Religionen. ...); – er will die ideale Polis, nachdem der Begriff »Polis« sich überlebt hatte ( ungefähr wie die Juden sich als »Volk« festhielten, nachdem sie in Knechtschaft gefallen waren). Sie interessieren sich für alle Tyrannen: sie wollen die Tugend mit force majeure wiederherstellen. Allmählich wird alles Echthellenische verantwortlich gemacht für den Verfall (und Plato ist genau so undankbar gegen Perikles, Homer, Tragödie, Rhetorik, wie die Propheten gegen David und Saul). Der Niedergang von Griechenland wird als Einwand gegen die Grundlagen der hellenischen Kultur verstanden: Grundirrtum der Philosophen – . Schluß: die griechische Welt geht zugrunde. Ursache: Homer, der Mythos, die antike Sittlichkeit usw.. Die antihellenische Entwicklung des philosophen-Werturteils: – das Ägyptische (»Leben nach dem Tode« als Gericht ...); – das Semitische (die »Würde des Weisen«, der »Scheich«) ; – die Pythagoreer, die unterirdischen Kulte, das Schweigen, die Jenseits-Furchtmittel, die Mathematik: religiöse Schätzung, eine Art Verkehr mit dem kosmischen All; – das Priesterliche, Asketische, Transzendente; – die Dialektik, – ich denke, es ist eine abscheuliche und pedantische Begriffsklauberei schon in Plato ? – Niedergang des guten geistigen Geschmacks: man empfindet das Häßliche und Klappemde aller direkten Dialektik bereits nicht mehr. Nebeneinander gehen die beiden décadence-Bewegungen und Extreme: a) die üppige, liebenswürdig – boshafte, prunk – und kunstliebende décadence und b) die Verdüsterung des religiös – moralischen Pathos, die stoische Selbst-Verhärtung, die platonische Sinnen-Verleumdung, die Vorbereitung des Bodens für das Christentum.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 293-294

„Wie weit die Verderbnis der Psychologen durch die Moral – Idiosynkrasie geht: – niemand der alten Philosophen hat den Mut zur Theorie des »unfreien Willens« gehabt (d.h. zu einer die Moral negierenden Theorie); – niemand hat den Mut gehabt, das Typische der Lust, jeder Art Lust (»Glück«) zu definieren als Gefühl der Macht: denn die Lust an der Macht galt als unmoralisch; – niemand hat den Mut gehabt, die Tugend als eine Folge der Unmoralität (eines Machtwillens) im Dienste der Gattung (oder der Rasse oder der Polis) zu begreifen (denn der Machtwille galt als Unmoralität). Es kommt in der ganzen Entwicklung der Moral keine Wahrheit vor: alle Begriffs – Elemente, mit denen gearbeitet wird, sind Fiktionen; alle Psychologica, an die man sich hält, sind Fälschungen; alle Formen der Logik, welche man in dies Reich der Lüge einschleppt, sind Sophismen. Was die Moral – Philosophen selbst auszeichnet, das ist die vollkommene Absenz jeder Sauberkeit, jeder Selbstzucht des Intellekts: sie halten »schöne Gefühle« für Argumente: ihr »geschwellter Busen« dünkt ihnen der Blasebalg der Gottheit .... Die Moral – Philosophie ist die skabröse Periode in der Geschichte des Geistes. Das erste große Beispiel: unter dem Namen der Moral, als Patronat der Moral ein unerhörter Unfug ausgeübt, tatsächlich eine décadence in jeder Hinsicht. Man kann nicht streng genug darauf insistieren, daß die großen griechischen Philosophen die décadence jedweder griechischen Tüchtigkeit repräsentieren und kontagiös machen .... Diese gänzlich abstrakt gemachte »Tugend« war die größte Verführung, sich selbst abstrakt zu machen: d.h. sich herauszulösen. Der Augenblick ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral, die erste Einsicht über die Moral: – sie stellen die Mehrheit (die lokale Bedingtheit) der moralischen Werturteile nebeneinander; – sie geben zu verstehen, daß jede Moral sich dialektisch rechtfertigen lasse: d. h. sie erraten, wie alle Begründung einer Moral notwendig sophistisch sein muß – ein Satz, der hinterdrein im allergrößten Stil durch die antiken Philosophen von Plato an (bis Kant) bewiesen worden ist; – sie stellen die erste Wahrheit hin, daß eine »Moral an sich«, ein »Gutes an sich« nicht existiert, daß es Schwindel ist, von »Wahrheit« auf diesem Gebiete zu reden.
Wo war nur die intellektuelle Rechtschaffenheit damals?
Die griechische Kultur der Sophisten war aus allen griechischen Instinkten herausgewachsen; sie gehört zur Kultur der Perikleischen Zeit, so notwendig wie Plato nicht zu ihr gehört: sie hat ihre Vorgänger in Heraklit, in Demokrit, in den wissenschaftlichen Typen der alten Philosophie; sie hat in der hohen Kultur des Thukydides z.B. ihren Ausdruck. Und – sie hat schließlich recht bekommen: jeder Fortschritt der erkenntnistheoretischen und moralistischen Erkenntnis hat die Sophisten restituiert .... Unsre heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch ..., es genügte zu sagen, daß sie protagoreisch sei: weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm. (Plato: ein großer Cagliostro – man denke, wie ihn Epikur beurteilte; wie ihn Timon, der Freund Pyrrhos, beurteilte. – – Steht vielleicht die Rechtschaffenheit Platos außer Zweifel? ... Aber wir wissen zum mindesten, daß er als absolute Wahrheit gelehrt wissen wollte, was nicht einmal bedingt ihm als Wahrheit galt: nämlich die Sonder – Existenz und Sonder – Unsterblichkeit der »Seelen«.).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 294-296

„Die Sophisten sind nichts weiter als Realisten: sie formulieren die allen gang und gäben Werte und Praktiken zum Rang der Werte, – sie haben den Mut, den alle starken Geister haben, um ihre Unmoralität zu wissen .... Glaubt man vielleicht, daß diese kleinen griechischen Freistädte, welche sich vor Wut und Eifersucht gern aufgefressen hätten, von menschenfreundlichen und rechtschaffenen Prinzipien geleitet wurden? Macht man vielleicht dem Thukydides einen Vorwurf aus seiner Rede, die er den athenischen Gesandten in den Mund legt, als sie mit den Meliern über Untergang oder Unterwerfung verhandeln? Inmitten dieser entsetzlichen Spannung von Tugend zu reden war nur vollendeten Tartüffs möglich – oder Abseits – Gestellten, Einsiedlern, Flüchtlingen und Auswanderern aus der Realität .... Alles Leute, die negierten, um selber leben zu können. – Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich weiß nicht was –. Die Taktik Grotes zur Verteidigung der Sophisten ist falsch: er will sie zu Ehrenmännern und Moral – Standarten erheben – aber ihre Ehre war, keinen Schwindel mit großen Worten und Tugenden zu treiben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 296-297

„Die große Vernunft in aller Erziehung zur Moral war immer, daß man hier die Sicherheit eines Instinkts zu erreichen suchte: so daß weder die gute Absicht, noch die guten Mittel als solche erst ins Bewußtsein traten. So wie der Soldat exerziert, so sollte der Mensch handeln lernen. In der Tat gehört dieses Unbewußtsein zu jeder Art Vollkommenheit: selbst noch der Mathematiker handhabt seine Kombinationen unbewußt .... Was bedeutet nun die Reaktion des Sokrates, welcher die Dialektik als Weg zur Tugend anempfahl und sich darüber lustig machte, wenn die Moral sich nicht logisch zu rechtfertigen wußte? .... Aber eben das Letztere gehört zu ihrer Güte, – ohne Unbewußtheit taugt sie nichts! .... Scham erregen war ein notwendiges Attribut des Vollkommenen! .... Es bedeutet exakt die Auflösung der griechischen Instinkte, als man die Beweisbarkeit als Voraussetzung der persönlichen Tüchtigkeit in der Tugend voranstellte. Es sind selbst Typen der Auflösung, alle diese großen “Tugendhaften” und Wortemacher .... In praxi bedeutet es, daß die moralischen Urteile aus ihrer Bedingtheit, aus der sie gewachsen sind und in der allein sie Sinn haben, aus ihrem griechischen und griechisch – politischen Grund und Boden ausgerissen werden und, unter dem Anschein von Sublimierung, entnatürlicht werden. Die großen Begriffe »gut«, »gerecht« werden losgemacht von den Voraussetzungen, zu denen sie gehören: und als freigewordne »Ideen« Gegenstände der Dialektik. Man sucht hinter ihnen eine Wahrheit, man nimmt sie als Entitäten oder als Zeichen von Entitäten: man erdichtet eine Welt, wo sie zu Hause sind, wo sie herkommen .... In summa: der Unfug ist auf seiner Spitze bereits bei Plato .... Und nun hatte man nötig, auch den abstrakt – vollkommenen Menschen hinzu zu erfinden: – gut, gerecht, weise, Dialektiker—kurz die Vogelscheuche des antiken Philosophen, eine Pflanze, aus jedem Boden losgelöst; eine Menschlichkeit ohne alle bestimmten regulierenden Instinkte; eine Tugend, die sich mit Gründen »beweist«. Das vollkommen absurde »Individuum« an sich! die Unnatur höchsten Rangs .... Kurz, die Entnatürlichung der Moralwerte hatte zur Konsequenz, einen entartenden Typus des Menschen zu schaffen – »den Guten«, »den Glücklichen«, »den Weisen«. Sokrates ist ein Moment der tiefsten Perversität in der Geschichte der Werte.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 297-298

Sokrates. – Dieser Ummschlag des Geschmacks zugunsten der Dialektik ist ein großes Fragezeichen. Was geschah eigentlich? Sokrates ... kam mit ihm über einen vornehmeren Geschmack, den Geschmack der Vornehmen, zum Sieg: – der Pöbel kam mit der Dialektik zum Sieg. Vor Sokrates lehnte man seitens aller guten Gesellschaft die dialektische Manier ab; man glaubte, daß sie bloßstellte; man warnte die Jugend vor ihr. Wozu diese Etalage von Gründen? Wozu eigentlich beweisen? Gegen andere hatte man die Autorität. Man befahl: das genügte. Unter sich, inter pares, hat man das Herkommen, auch eine Autorität: und, zu guter Letzt, man »verstand sich«! Man fand gar keinen Platz für Dialektik. Auch mißtraute man solchem offnen Präsentieren seiner Argumente. Alle honnetten Dinge halten ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist etwas Unanständiges darin, alle fünf Finger zu zeigen. Was sich »beweisen« läßt, ist wenig wert. – Daß Dialektik Mißtrauen erregt, daß sie wenig überredet, das weiß übrigens der Instinkt der Redner aller Parteien. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt. Dialektik kann nur eine Notwehr sein. Man muß in der Not sein, man muß sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker, Reineke Fuchs war es, Sokrates war es. Man hat ein schonungsloses Werkzeug in der Hand. Man kann mit ihr tyrannisieren. Man stellt bloß, indem man siegt. Man überläßt seinem Opfer den Nachweis, kein Idiot zu sein. Man macht wütend und hilflos, während man selber kalte, triumphierende Vernünftigkeit bleibt, man depotenziert die Intelligenz seines Gegners. Die Ironie des Dialektikers ist eine Form der Pöbel-Rache: die Unterdrückten haben ihre Ferozität in den kalten Messerstichen des Syllogismus. .... Bei Plato, als bei einem Menschen der überreizbaren Sinnlichkeit und Schwärmerei, ist der Zauber des Bgriffs so groß geworden,d aß er unwillkürlich den Begriff als eine Idealform verehrte und vergötterte. Dialektik-Trunkenheit: als das Bewußtsein, mit ihr eine Herrschaft über sich auszuüben – – als Werkzeug des Machtwillens.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 298-300

„Ich suche zu begreifen, aus welchen partiellen und idiosynkratischen Zuständen das sokratische Prtoblem ableitbar ist: seine Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück. Mit diesem Absurdum von Identitätslehre hat er bezaubert: die antike Philosophie kam nicht wieder davon los .... Absoluter Mangel an objektivem Interesse: Haß gegen die Wissenschaft: Idiosynkrasie, sich selbst als Problem zu fühlen. Akustische Halluzinationen bei Sokrates: morbides Element. Mit Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geist reich und unabhängig ist. Wie kommt es, daß Sokrates Moral-Monoman ist? – Alle »praktische« Philosophie tritt in Notlagen sofort in den Vordergrund. Moral und Religion als Hauptinteressen sind Notstands-Zeichen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 300-301

„Die décadence verrät sich in dieser Präokkupation des »Glücks« (d.h. des »Heils der Seele«, d.h. seinen Zustand als Gefahr empfinden). Ihr Fanatismus des Interesses für »Glück« zeigt die Pathologie des Untergrundes: es war ein Lebensinteresse. Vernünftig sein oder zugrunde gehn war die Alternative, vor der sie alle standen. Der Moralismus der griechischen Philosophen zeigt, daß sie sich in Gefahr fühlten ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 302

„Die antiken Philosophen bekämpfen alles, was berauscht, – was die absolute Kälte und Neutralität des Bewußtseins beeinträchtigt .... Sie waren konsequent, auf Grund ihrer falschen Voraussetzung: daß Bewußtsein der hohe, der oberste Zustand sei, die Voraussetzung der Vollkommenheit, – wäheend das Gegenteil wahr ist. – – –“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 303

„Die antiken Philosophen waren die größten Stümper der Praxis, weil sie sich theoretisch verurteilten, zur Stümperei .... In praxi lief alles auf Schauspielrei hinaus: – und wer dahinter kam, Pyrrho z.B., urteilte wie jedermann, nämlich: daß in der Güte und Rechtschaffenheit die »kleinen Leute« den Philosohen weit über sind. Alle tieferen Naturen des Altertums haben Ekel an den Philosophen der Tugend gehabt; man sah Streithämmel und Schauspieler in ihnen. (Urteil über Plato: seitens Epikurs, seitens Pyrrhos).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 303

„Die eigentlichen Philosophen der Griechen sind die vor Sokrates (– mit Sokrates verändert sich etwas).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 305

„Ich sehe nur noch Eine originale Figur in dem Kommenden: eine Spätling, aber notwendig den letzten, – den NIhilisten Pyrrho: – er hat den Instinkt gegen alles Das, was inzwischen obenauf gekommen war, die Sokratiker, Platon den Artisten-Optimismus Heraklits. (Pyyrho greift über Protagoras zu Demokrit zurück ...).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 305

„Die weise Müdigkeit: Pyrrho. Unter den Niedrigen leben, niedrig. Kein Stolz. Auf die gemeine Art leben; ehren und glauben, was alle glauben. Auf der Hut gegen Wissenschaft und Geist, auch alles, was bläht .... Einfach: unbeschreiblich geduldig, unbekümmert, mild; apaqeia, mehr noch prauths. Ein Buddhist für Griechenland, zwischen dem Tumult der Schulen aufgewachsen; spät gekommen; ermüdet; der Protest des Müden gegen den Eifer der Dialektiker; der Unglaube des Müden an die Wichtigkeit aller Dinge. Er hat Alexander gesehn, er hat die indischen Büßer gesehn. Auf solche Späte und Raffinierte wirkt alles Niedrige, alles Arme, alles Idiotische selbst verführerisch. Das narkotisiert: das macht ausstrecken (Pascal). Sie empfinden andrerseits, mitten im Gewimmel und verwechselt mit jedermann, ein wenig Wärme: sie haben Wärme nötig, diese Müden .... Den Widerspruch überwinden; kein Wettkampf; kein Wille zur Auszeichnung: die griechischen Instinkte verneinen. (Pyrrho lebte mit seiner Schwester zusammen, die Hebamme war.) Die Weisheit verkleiden, daß sie nicht mehr auszeichnet; ihr einen Mantel von Armut und Lumpen geben; die niedrigsten Verrichtungen tun: auf den Markt gehn und Milchschweine verkaufen .... Süßigkeit; Helle; Gleichgültigkeit; keine Tugenden, die Gebärden brauchen: sich auch in der Tugend gleichsetzen: letzte Selbstüberwindung, letzte Gleichgültigkeit. Pyrrho, gleich Epikur, zwei Formen der griechischen décadence: verwandt im Haß gegen die Dialektik und gegen alle schauspielerischen Tugenden – beides zusammen hieß damals Philosophie –; absichtlich das, was sie lieben, niedrig achtend; die gewöhnlichen, selbst verachteten Namen dafür wählend; einen Zustand darstellend, wo man weder krank, noch gesund, noch lebendig, noch tot ist .... Epikur naiver, idyllischer, dankbarer; Pyrrho gereister, verlebter, nihilistischer .... Sein Leben war ein Protest gegen die große Identitätslehre (Glück = Tugend = Erkenntnis). Das rechte Leben fördert man nicht durch Wissenschaft: Weisheit macht nicht »weise« .... Das rechte Leben will nicht Glück, sieht ab von Glück.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 305-307

„Der Kampf gegen Sokrates, Plato, die sämtlichen sokratischen Schulen geht von dem tiefen Instinkt aus, daß man den Menschen nicht besser macht, wenn man ihm die Tugend als beweisbar, als gründefordernd darstellt... Zuletzt ist es die mesquine Tatsache, daß der agonale Instinkt alle diese gebornen Dialektiker dazu zwang, ihre Personal-Fähigkeit als oberste Eigenschaft zu verherrlichen und alles übrige Gute als bedingt durch sie darzustellen. Der antiwissenschaftliche Geist dieser ganzen »Philosophie«: sie will recht behalten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 309

„Das ist außerordentlich. Wir finden von Anfang der griechischen Philosophie an einen Kampf gegen die Wissenschaft, mit den Mitteln einer Erkenntnistheorie, resp. Skepsis: und wozu? Immer zugunsten der Moral. (Der Haß gegen die Physiker und Ärzte). Sokrates, Aristipp, die Megariker, die Cyniker, Epikur, Pyrrho – General-Ansturm gegen die Erkenntnis zugunsten der Moral .... (Haß auch gegen die Dialektik). Es bleibt ein Problem: sie nähern sich der Sophistik, um die Wissenschaft loszuwerden Andererseits sind die Physiker alle so weit unterjocht, um das Schema der Wahrheit, des wahren Seins in ihre Fundamente aufzunehmen: z.B. das Atom, die 4 Elemente (Juxtaposition eines Seienden, um die Vielheit und Veränderung zu erklären –). Verachtung gelehrt gegen die Objektivität des Interesses: Rückkehr zu dem praktischen Interesse, zur Personal-Nützlichkeit aller Erkenntnis .... Der Kampf gegen die Wissenschaft richtet sich gegen
1) deren Pathos (Objektivität),
2) deren Mittel (d.h. gegen deren Nützlichkeit),
3) deren Resultate (als kindisch).
Es ist derselbe Kampf, der später wieder von Seiten der Kirche, im Namen der Frömmigkeit geführt wird: : sie erbt das ganze antike Rüstzeug zum Kampfe. Die Erkenntnistheorie spielt dabei dieselbe Rolle, wie bei Kant, wie bei den Indern .... Man will sich nicht drum zu bekümmern haben: man will die Hand behalten für seinen »Weg«. Wogegen wehren sie sich eigentlich? Gegen die Verbindlichkeit, gegen die Gesetzlichkeit, gegen die Nötigung, Hand in Hand zu gehen –: ich glaube, man nennt das Freiheit .... Darin drückt sich décadence aus: der Instinkt der Solidarität ist so entartet, daß die Solidarität als Tyrannei empfunden wird: sie wollen keine Autorität, keine Solidarität, keine Einordnung in Reih und Glied zu unedler Langsamkeit der Bewegung. Sie hassen das Schrittweise, das Tempo der Wissenschaft, sie hassen das Nicht-anlangen-Wollen, den langen Atem, die Personal-Indifferenz des wissenschaftlichen Menschen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 309-310

„Im Grunde ist die Moral gegen die Wissenschaft feindlich gesinnt: schon Sokrates war dies – und zwar deshalb, weil die Wissenschaft Dinge als wichtig nimmt, welche mit »gut« und »böse« nichts zu schaffen haben, folglich dem Gefühl für »gut« und »böse« Gewicht nehmen. Die Moral nämlich will, daß ihr der ganze Mensch und seine gesamte Kraft zu Diensten sei: sie hält es für die Verschwendung eines solchen, der zum Verschwenden nicht reich genug ist, wenn der Mensch sich ernstlich um Pflanzen und Sterne kümmert. Deshalb ging in Griechenland, als Sokrates die Krankheit des Moralisierens in die Wissenschaft eingeschleppt hatte, es geschwinde mit der Wissenschaftlichkeit abwärts; eine Höhe, wie die in der Gesinnung eines Demokrit, Hippokrates und Thukydides, ist nicht zum zweiten Male erreicht worden.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 310-311

„Der Wahn, der glücklich macht, ist verderblicher als der, welcher direkt schlimme Folgen hat: letzterer schärft, macht mißtrauisch, reinigt die Vernunft, ersterer schläfert sie ein ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 315

„Die psychologischen Verwechslungen: – das Verlangen nach Glauben – verwechselt mit dem »Willen zur Wahrheit« (z.B. bei Carlyle). Aber ebenso ist das Verlangen nach Unglauben verwechselt worden mit dem »Willen zur Wahrheit« (– ein Bedürfnis, loszukommen von einem Glauben, aus hundert Gründen: Recht zu bekommen gegen irgendwelche »Gläubigen«). Was inspiriert die Skeptiker? Der Haß gegen die Dogmatiker – oder ein Ruhe-Bedürfnis, eine Müdigkeit, wie bei Pyrrho. Die Vorteile, welche man von der Wahrheit erwartete, waren die Vorteile des Glaubens an sie: – an sich nämlich könnte ja die Wahrheit durchaus peinlich, schädlich, verhängnisvoll sein –. Man hat die »Wahrheit« auch nur wieder bekämpft, als man Vorteile sich vom Siege versprach – z.B. Freiheit von den herrschenden Gewalten. Die Methodik der Wahrheit ist nicht aus Motiven der Wahrheit gefunden worden, sondern aus Motiven der Macht, des Überlegen-sein-wollens. Womit beweist sich die Wahrheit? Mit dem Gefühl der erhöhten Macht – mit der Nützlichkeit – mit der Unentbehrlichkeit – kurz mit Vorteilen (nämlich Voraussetzungen, welcher Art die Wahrheit beschaffen sein sollte, um von uns anerkannt zu werden). Aber das ist ein Vorurteil: ein Zeichen, daß es sich gar nicht um Wahrheit handelt .... Was bedeutet z.B. der »Wille zur Wahrheit« bei den Goncourts? bei den Naturalisten? – Kritik der »Objektivität«. Warum erkennen: warum nicht lieber sich täuschen? .... Was man wollte, war immer der Glaube – und nicht die Wahrheit .... Der Glaube wird durch entgegengesetzte Mittel geschaffen als die Methodik der Forschung –: er schließt letztere selbst aus –.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 316-317

„Nicht Theorie und Praxis trennen!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 319

„Daß nichts von dem wahr ist, was ehemals als wahr galt –. Was als unheilig, verboten, verächtlich, verhängnisvoll ehemals verachtet wurde –: alle diese Blumen wachsen heute am lieblichen Pfade der Wahrheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 320

„Diese ganze Moral geht uns nichts mehr an: es ist kein Begriff darin, der noch Achtung verdiente. Wir haben sie überlebt .... Unser Kriterium der Wahrheit ist durchaus nicht die Moralität: wir widerlegen eine Behauptung damit, daß wir sie als abhängig von der Moral, als inspiriert durch edle Gefühle beweisen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 320

„Der Mensch sucht nach einem Prinzip, von wo aus er den Menschen verachten kann, – er erfindet eine Welt, um diese Welt verleumden und beschmutzen zu können: tatsächlich greift er jedesmal nach dem Nichts und konstruiert das Nichts zum »Gott«, zur »Wahrheit« und jedenfalls zum Richter und Verurteiler dieses Seins ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 321

„Was blieb ihnen übrig, als, je mehr sie das Dasein begriffen, um so mehr zu ihm nein zu sagen? ..... Dieses Dasein ist unmoralisch .... Und dieses Leben ruht auf unmoralischen Voraussetzungen: und alle Moral verneint das Leben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 322

„Schaffen wir die wahrte Welt ab: und um dies zu könne, haben wir die bisherigen obersten Werte anzuschaffen, die Moral .... Es genügt nachzuweisen, daß auch die Moral unmoralisch ist, in dem Sinne, in welchem das Unmoralische bis jetzt verurteilt worden sit. Ist auf diese Weise die Tyrannei der bisherigen Werte gebrochen, haben wir die »wahre Welt« abgeschafft, so wird eine neue Ordnung der Werte von selbst folgen müssen..“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 322

„Die scheinbare Welt und die erlogene Welt – ist der Gegensatz. Letztere hieß bisher die »wahre Welt«, die »Wahrheit«, »Gott«. Diese haben wir abzuschaffen.
Logik meiner Konzeption:
1. Moral als oberster Wert (Herrin über alle Phasen der Philosophie, selbst der Skeptiker). Resultat: diese Welt taugt nichts, sie ist nicht die »wahre Welt«.
2. Was bestimmt hier den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? – Der Instinkt der décadence; es sind die Erschöpften und Enterbten, die auf diese Weise Rache nehmen. Historischer Nachweis: die Philosophen sind immer décadents ... im Dienste der nihilistischen Religionen.
3. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Beweis: die absolute Unmoralität der Mittel in der ganzen Geschichte der Moral.
Gesamteinsicht: die bisherigen höchsten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 322-323

„Prinzipielle Neuerungen:
An Stelle der »moralischen Werte« lauter naturalistische Werte. Vernatürlichung der Moral.
An Stelle der »Soziologie« eine Lehre von den Herrschaftsgebilden.
An Stelle der »Gesellschaft« den Kultur-Komplex, als mein Vorzugs-Interesse (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Teilen).
An Stelle der »Erkenntnistheorie« eine Perspektiven-Lehre der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört: die transfigurierten Affekte, deren höhere Ordnung, deren »Geistigkeit«).
An Stelle von »Metaphysik« und Religion die Ewige Wiederkunftslehre (diese als Mittel der Züchtung und Auswahl).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 323-324

„Meine Vorbereiter:
Schopenhauer: Inwiefern ich den Pessimismus vertiefte und durch Erfindung seines höchsten Gegensatzes erst ganz mir zum Gefühl brachte.
Sodann: die höheren Europäer, Vorläufer der großen Politik.
Sodann: die Griechen und ihre Entstehung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 324

„Ich nannte meine unbewußten Arbeiter und Vorbereiter. Wo aber dürfte ich mit einiger Hoffnung nach meiner Art von Philosophen selber, zum mindesten nach meinem Bedürfnis neuer Philosophen suchen? Dort allein, wo eine vornehme Denkweise herrscht, eine solche, welche an Sklaverei und an viele Grade der Hörigkeit als an die Voraussetzung jeder höheren Kultur glaubt; wo eine schöpferische Denkweise herrscht, welche nicht der Welt das Glück der Ruhe, den »Sabbat aller Sabbate« als Ziel setzt und selber im Frieden das Mittel zu neuen Kriegen ehrt; eine der Zukunft Gesetze vorschreibende Denkweise, welche um der Zukunft willen sich selber und alles Gegenwärtige hart und tyrannisch behandelt; eine unbedenkliche, »unmoralische« Denkweise, welche die guten und die schlimmen Eigenschaften des Menschen gleichermaßen ins Große züchten will, weil sie sich die Kraft zutraut, beide an die rechte Stelle zu setzen, – an die Stelle, wo sie beide einander not tun. Aber wer also heute nach Philosophen sucht, welche Aussicht hat er, zu finden, was er sucht? Ist es nicht wahrscheinlich, daß er, mit der besten Diogenes-Laterne suchend, umsonst tags- und nachtsüber herumläuft? Das Zeitalter hat die umgekehrten Instinkte: es will vor allem und zuerst Bequemlichkeit; es will zu zweit Öffentlichkeit und jenen großen Schauspieler-Lärm, jenes große Bumbum, welches seinem Jahrmarkts-Geschmacke entspricht; es will zu dritt, daß jeder mit tiefster Untertänigkeit vor der größten aller Lügen – diese Lüge heißt »Gleichheit der Menschen« – auf dem Bauche liegt, und ehrt ausschließlich die gleichmachenden, gleichstellenden Tugenden. Damit aber ist es der Entstehung des Philosophen, wie ich ihn verstehe, von Grund aus entgegengerichtet, ob es schon in aller Unschuld sich ihm förderlich glaubt. In der Tat, alle Welt jammert heute darüber, wie schlimm es früher die Philosophen gehabt hätten, eingeklemmt zwischen Scheiterhaufen, schlechtes Gewissen und anmaßliche Kirchenväter-Weisheit: die Wahrheit ist aber, daß eben darin immer noch günstigere Bedingungen zur Erziehung einer mächtigen, umfänglichen, verschlagenen und verwegen-wagenden Geistigkeit gegeben waren als in den Bedingungen des heutigen Lebens. Heute hat eine andere Art von Geist, nämlich der Demagogen-Geist, der Schauspieler-Geist, vielleicht auch der Biber- und Ameisen-Geist des Gelehrten für seine Entstehung günstige Bedingungen. Aber um so schlimmer sieht es schon mit den höheren Künstlern: gehen sie denn nicht fast alle an innerer Zuchtlosigkeit zugrunde? Sie werden nicht mehr von außen her, durch die absoluten Werttafeln einer Kirche oder eines Hofes, tyrannisiert: so lernen sie auch nicht mehr ihren »inneren Tyrannen« großziehen, ihren Willen. Und was von den Künstlern gilt, gilt in einem höheren und verhängnisvolleren Sinne von den Philosophen. Wo sind denn heute freie Geister? Man zeige mir doch heute einen freien Geist!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 324-326

„Ich verstehe unter »Freiheit des Geistes« etwas sehr Bestimmtes: hundertmal den Philosophen und andern Jüngern der »Wahrheit« durch Strenge gegen sich überlegen sein, durch Lauterkeit und Mut, durch den unbedingten Willen, nein zu sagen, wo das Nein gefährlich ist – ich behandle die bisherigen Philosophen als verächtliche libertins unter der Kapuze des Weibes »Wahrheit«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 326

„Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sonder der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 329

„Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: Alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt, – der wirkliche Vorgang der inneren »Wahrnehmung«, die Kausalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 332

„Es gibt weder »Geist«, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: Alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um »Subjekt und Objekt«, sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen Richtigkeit, vor allem Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 336

„Durch das Denken wird das Ich gesetzt; aber bisher glaubte man wie das Volk, im »Ich denke« liege etwas von Unmittelbar-Gewissem, und dieses »Ich« sei die gegebene Ursache des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen ursächlichen Verhältnisse verstünden. Wie sehr gewohnt und unentbehrlich jetzt jene Fiktion auch sein mag – das allein beweist noch nichts gegen ihre Erdichtetheit: es kann ein Glaube Lebensbedingung und trotzdem falsch sein.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 337-338

„Daß aber ein Glaube, so notwendig er ist zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit zu tun hat, erkennt man z.B. selbst daran, daß wir an Zeit, Raum und Bewegung glauben müssen, ohne uns gezwungen zu fühlen, hier absolute Realität zuzugestehen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 340

„Alles, was als »Einheit« ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit. Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 341

„Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt. Eine Art Aristokratie von »Zellen«, in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von pares, welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen?
Meine Hypothesen:
Das Subjekt als Vielheit.
Der Schmerz intellektuell und abhängig vom Urteil »schädlich«: projiziert.
Die Wirkung immer »unbewußt«: die erschlossene und vorgestellte Ursache wird projiziert, folgt der Zeit nach.
Die Lust ist eine Art des Schmerzes.
Die einzige Kraft, die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Kommandieren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern.
Die beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Subjekts. »Sterbliche Seele«.
Die Zahl als perspektivische Form.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 341-342

„Der Glaube an den Leib ist fundamentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt. Glaube an die Wahrheit des Traumes –).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 342

Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 343

„Es ist unwahrscheinlich, daß unser »Erkennen« weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis zur Schwierigkeit der Ernährung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 343

„»Der Sinn für Wahrheit« muß, wenn die Moralität des »Du sollst nicht lügen« abgewiesen ist, sich vor einem andern Forum legitimieren – als Mittel der Erhaltung von Mensch, als Macht-Wille. Ebenso unsre Liebe zum Schönen: ist ebenfalls der gestaltende Wille. Beide Sinne stehen beieinander; der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten – eine Urlust! Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 344

„Die bestgeglaubten apriorischen »Wahrheiten« sind für mich – Annahmen bis auf weiteres, z.B. das Gesetz der Kausalität, sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht daran glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehen bleibt!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 344

„Die Sinneswahrnehmungen nach »außen« projiziert: »innen« und »außen« – da kommandiert der Leib –? Dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außenwelt: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das Resultat dieser Anähnlichung und Gleichsetzung in bezug auf alle Vergangenheit in uns; sie folgen nicht sofort auf den »Eindruck«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 345

„Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: d. i. die Summe aller der Wahrnehmungen, deren Bewußtwerden uns und dem ganzen organischen Prozesse vor uns nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt (z. B. nicht die elektrischen); das heißt: wir haben Sinne nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen – solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit Werturteilen (nützlich und schädlich – folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich einen Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem Einwirken derselben Farbe eingestehen, z.B. Gefangene im Gefängnis oder Irre). So auch reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese, andere jene, z.B. Ameisen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 346-347

„Erst Bilder – zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte, angewendet auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte gibt – ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort). Das kleine bißchen Emotion, welches beim »Wort« entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die ein Wort da ist – diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben empfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarter Empfindungen in der Konstatierung dieser Empfindungen; – wer aber konstatiert? Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinnes-Eindruck: eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein »Für-wahr-halten« im Anfange! Also zu erklären: wie ein »Für-wahr-halten« entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter »wahr«?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 347

„Die Wertschätzung »ich glaube, daß das und das so ist«, als Wesen der »Wahrheit«. In den Wertschätzungen drücken sich Erhaltungs– und Wachstums-Bedingungen aus. Alle unsre Erkenntnisorgane und Sinne sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs-und Wachstums-Bedingungen. Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren »Wahrheit«. Daß eine Menge Glauben da sein muß; daß geurteilt werden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt: – das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist notwendig, – nicht, daß etwas wahr ist. »Die wahre und die scheinbare Welt« – dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf Wertverhältnisse. Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen projiziert als Prädikate des Seins überhaupt. Daß wir in unserm Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die »wahre« Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine seiende ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 348

„Ursprünglich Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde – und geht zugrunde.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 348

Zur Entstehung der Logik. – Der fundamentale Hang, gleichzusetzen, gleichzusehen wird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch den Erfolg: es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zu gleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze Prozeß ist ganz entsprechend jenem äußeren, mechanischen (der sein Symbol ist), daß das Plasma fortwährend, was es sich aneignet, sich gleichmacht und in seine Formen und Reihen einordnet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 349

„Gleichheit und Ähnlichkeit.
1. Das gröbere Organ sieht viele scheinbare Gleichheit;
2. der Geist will Gleichheit, d.h. einen Sinneneindruck subsumieren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimiliert.
Zum Verständnis der Logik:
der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht – der Glaube, daß etwas so und so sei (das Wesen des Urteils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich gleich sein.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 349

„Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen zur Wahrheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 349-350

„Die erfinderische Kraft, welche Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst des Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit auf Grund von Zeichen und Klängen, von Abkürzungsmitteln: – es handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten bei »Substanz«, »Subjekt«, »Objekt«, »Sein«, »Werden«. – Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben, und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 350

„Eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte, bewiesene Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtsein, als dominierend .... Und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werte und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft; es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft vergessen wird .... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist .... Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den Kategorien der Vernunft: dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit .... Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte – und wo man sie befahl, d.h. wo sie wirkten als befehlend .... Von jetzt ab galten sie als a priori, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar. Und doch drücken sie vielleicht nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit, – bloß ihre Nützlichkeit ist ihre »Wahrheit«“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 350-351

„Nicht »erkennen«, sondern schematisieren, – dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut. In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfnis maßgebend gewesen: das Bedürfnis, nicht zu »erkennen«, sondern zu subsumieren, zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung .... (Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen, – derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!) Hier hat nicht eine präexistente »Idee« gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden .... Die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät das Leben, – es wird Unübersichtlich –, zu ungleich –. Die Kategorien sind »Wahrheiten« nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingende »Wahrheit« ist. (An sich geredet: da niemand die Notwendigkeit, daß es gerade Menschen gibt, aufrechterhalten wird, ist die Vernunft, so wie der Euklidische Raum, eine bloße Idiosynkrasie bestimmter Tierarten, und eine neben vielen anderen ...). Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nötigung: der Instinkt der Nützlichkeit, so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leibe, wir sind beinahe dieser Instinkt .... Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine »Wahrheit an sich« besäßen!... Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen, nicht eine »Wahrheit«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 351-352

„Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine »Notwendigkeit« aus, sondern nur ein Nichtvermögen. Wenn, nach Aristoteles, der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen zurückgehn, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher bereits kennte; nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden sollen. Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll. Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches, den Begriff »Wirklichkeit«, für uns erst zu schaffen? .... Um das erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll. Gesetzt, es gäbe ein solches sich-selbst-identisches A gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, das A wäre bereits eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloß scheinbare Welt zur Voraussetzung. In der Tat glauben wir an jenen Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu bestätigen scheint. Das »Ding« – das ist das eigentliche Substrat zu A; unser Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des »Dinges« .... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein Kriterium des wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt eine metaphysische Welt zu konzipieren, das heißt eine »wahre Welt« (– diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal ...). Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen, das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahr-halten, sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzen, überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten, bereits von einem Glauben beherrscht, daß es für uns Erkenntnis gibt, daß Urteilen wirklich die Wahrheit treffen könne: – kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen können). Hier regiert das sensualistische grobe Vorurteil, daß die Empfindungen uns Wahrheiten über die Dinge lehren – daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Dinge sagen kann, es ist hart und es ist weich. (Der instinktive Beweis »ich kann nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben« – ganz grob und falsch). Das begriffliche Widerspruchs-Verbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden können, daß ein Begriff das Wesen eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern faßt... Tatsächlich gilt die Logik (wie die Geometrie und Arithmetik) nur von fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 352-354

„Die Annahme des Seienden ist nötig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes. Deshalb wäre diese Annahme noch ohne Beweiskraft für die Realität: »das Seiende« gehört zu unsrer Optik. Das »Ich« als seiend (– durch Werden und Entwicklung nicht berührt). Die fingierte Welt von Subjekt, Substanz, »Vernunft« usw. ist nötig –: eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. »Wahrheit« ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen: – die Phänomene aufreihen auf bestimmte Kategorien. Hierbei gehen wir vom Glauben an das »An-sich« der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene als wirklich). Der Charakter der werdenden Welt als unformulierbar, als »falsch«, als »sich-widersprechend«. Erkenntnis und Werden schließen sich aus. Folglich muß »Erkenntnis« etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehen, eine Art Werden selbst muß die Täuschung des Seienden schaffen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 354-355

„Wenn unser »Ich« uns das einzige Sein ist, nach dem wir alles Sein machen oder verstehen: sehr gut! Dann ist der Zweifel sehr am Platze, ob hier nicht eine perspektivische Illusion vorliegt – die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare reichere Phänomen zum Leitfaden für das Verständnis des ärmeren zu benutzen. Endlich: gesetzt, alles ist Werden, so ist Erkenntnis nur möglich auf Grund des Glaubens an Sein.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 355

„Wenn es »nur ein Sein gibt, das Ich« und nach seinem Bilde alle andern »Seienden« gemacht sind – wenn schließlich der Glaube an das »Ich« mit dem Glauben an die Logik, d. h. metaphysische Wahrheit der Vernunft-Kategorien steht und fällt: wenn andrerseits das Ich sich als etwas Werdendes erweist: so – ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 355

„Die fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von »Individuum« usw. zu reden; die »Zahl« der Wesen ist selber im Fluß. Wir würden nichts von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, »Ruhendes« neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig von Ursache und Wirkung, und ohne die irrtümliche Konzeption des »leeren Raumes« wären wir gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den »Augenschein«, daß es gleiche Dinge gibt. Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht »begriffen«, nicht »erkannt« werden; nur insofern der »begreifende« und »erkennende« Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden, insofern diese Art Schein das Leben erhalten hat – nur insofern gibt es etwas wie »Erkenntnis«: d. h. ein Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 355-356

Zur »logischen Scheinbarkeit«. – Der Begriff »Individuum« und »Gattung« gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich. »Gattung« drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten und daß das Tempo im Weiterwachsen und Sich-Verändern eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß die tatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen (– eine Entwicklungsphase, bei der das Sich-entwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht erreicht scheint und die falsche Vorstellung ermöglicht wird, hier sei ein Ziel erreicht – und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben ...). Die Form gilt als etwas Dauerndes und deshalb Wertvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft »dieselbe Form erreicht wird«, so bedeutet das nicht, daß es dieselbe Form ist, -sondern es erscheint immer etwas Neues – und nur wir, die wir vergleichen, rechnen das Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der »Form«. Als ob ein Typus erreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und innewohne. Die Form, die Gattung, das Gesetz, die Idee, der Zweck – hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen Gehorsam in sich trage, – eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht zwischen dem, was tut, und dem, wonach das Tun sich richtet (aber das was und das wonach sind nur angesetzt aus einem Gehorsam gegen unsre metaphysisch-logische Dogmatik: kein »Tatbestand«). Man soll diese Nötigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze zu bilden (»eine Welt der identischen Fälle«) nicht so verstehen, als ob wir damit die wahre Welt zu fixieren imstande wären; sondern als Nötigung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsre Existenz ermöglicht wird: – wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist. Diese selbe Nötigung besteht in der Sinnen-Aktivität, welche der Verstand unterstützt – durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles »Wiedererkennen«, alles Sich-verständlich-machen-können beruht. Unsre Bedürfnisse haben unsre Sinne so präzisiert, daß die »gleiche Erscheinungswelt« immer wiederkehrt und dadurch den Anschein der Wirklichkeit bekommen hat. Unsre subjektive Nötigung, an die Logik zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik selber zum Bewußtsein kam, nichts getan haben als ihre Postulate in das Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor –, wir können nicht mehr anders – und vermeinen nun, diese Nötigung verbürge etwas über die »Wahrheit«. Wir sind es, die das »Ding«, das »gleiche Ding«, das Subjekt, das Prädikat, das Tun, das Objekt, die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob- und Einfach-machen am längsten getrieben haben. Die Welt erscheint uns logisch, weil wir sie erst logisiert haben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 356-358

Grundlösung. – Wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe. Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut. Nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken – somit die »ewige Wahrheit« der »Vernunft« glauben (z. B. Subjekt, Prädikat usw.). Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn. Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 358

„Das, was bewußt wird, steht unter kausalen Beziehungen, die uns ganz und gar vorenthalten sind – die Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen im Bewußtsein drückt nichts darüber aus, daß diese Folge eine kausale Folge ist: es ist aber scheinbar so, im höchsten Grade. Auf diese Scheinbarkeit hin haben wir unsere ganze Vorstellung von Geist, Vernunft, Logik usw. gegründet (– das gibt es alles nicht: es sind fingierte Synthesen und Einheiten) und diese wieder in die Dinge, hinter die Dinge projiziert! Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als Gesamt-Sensorium und oberste Instanz; indessen, es ist nur ein Mittel der Mitteilbarkeit: es ist im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrs- Interessen . .... »Verkehr« hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und den unsererseits dabei nötigen Reaktionen; ebenso wie von unseren Wirkungen nach außen. Es ist nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 359-360

„Das theologische Vorurteil bei Kant, sein unbewußter Dogmatismus, seine moralistische Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend. Das proton pseudos: wie ist die Tatsache der Erkenntnis möglich? ist die Erkenntnis überhaupt eine Tatsache? was ist Erkenntnis? Wenn wir nicht wissen, was Erkenntnis ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntnis gibt. – Sehr schön! Aber wenn ich nicht schon »weiß«, ob es Erkenntnis gibt, geben kann, kann ich die Frage »was ist Erkenntnis« vernünftigerweise gar nicht stellen. Kant glaubt an die Tatsache der Erkenntnis: es ist eine Naivität, was er will: die Erkenntnis der Erkenntnis! »Erkenntnis ist Urteil!« Aber Urteil ist ein Glaube, daß etwas so und so ist! Und nicht Erkenntnis! »Alle Erkenntnis besteht in synthetischen Urteilen« mit dem Charakter der Allgemeingültigkeit (die Sache verhält sich in allen Fällen so und nicht anders), mit dem Charakter der Notwendigkeit (das Gegenteil der Behauptung kann nie stattfinden). Die Rechtmäßigkeit im Glauben an die Erkenntnis wird immer vorausgesetzt: so wie die Rechtmäßigkeit im Gefühl des Gewissensurteils vorausgesetzt wird. Hier ist die moralische Ontologie das herrschende Vorurteil.
Also der Schluß ist:
1. es gibt Behauptungen, die wir für allgemeingültig und notwendig halten;
2. der Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit kann nicht aus der Erfahrung stammen;
3. folglich muß er ohne Erfahrung, anderswoher sich begründen und eine andere Erkenntnisquelle haben!
(Kant schließt:
1. es gibt Behauptungen, die nur unter gewisser Bedingung gültig sind;
2. diese Bedingung ist, daß sie nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft stammen.)
Also: die Frage ist, woher unser Glaube an die Wahrheit solcher Behauptungen seine Gründe nimmt? Nein, woher er seine Ursache hat! Aber die Entstehung eines Glaubens, einer starken Überzeugung ist ein psychologisches Problem: und eine sehr begrenzte und enge Erfahrung bringt oft einen solchen Glauben zuwege! Er setzt bereits voraus, daß es nicht nur »data a posteriori« gibt, sondern auch data a priori, »vor der Erfahrung«. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit könne nie durch Erfahrung gegeben werden: womit ist denn nun klar, daß sie ohne Erfahrung überhaupt da sind?
Es gibt keine einzelnen Urteile!
Ein einzelnes Urteil ist niemals »wahr«, niemals Erkenntnis; erst im Zusammenhang, in der Beziehung von vielen Urteilen ergibt sich eine Bürgschaft. Was unterscheidet den wahren und den falschen Glauben? Was ist Erkenntnis? Er »weiß« es, das ist himmlisch!
Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit können nie durch Erfahrung gegeben werden! Also unabhängig von der Erfahrung, vor aller Erfahrung! Diejenige Einsicht, die a priori stattfindet, also unabhängig von aller Erfahrung aus der bloßen Vernunft, »eine reine Erkenntnis«! »Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs, sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen.« – Aber das sind gar keine Erkenntnisse! sondern regulative Glaubensartikel.
Um die Apriorität (die reine Vernunftmäßigkeit) der mathematischen Urteile zu begründen, muß der Raum begriffen werden als eine Form der reinen Vernunft. Hume hatte erklärt: »es gibt gar keine synthetischen Urteile a priori.« Kant sagt: doch! die mathematischen! Und wenn es also solche Urteile gibt, gibt es vielleicht auch Metaphysik, eine Erkenntnis der Dinge durch die reine Vernunft! Mathematik wird möglich unter Bedingungen, unter denen Metaphysik nie möglich ist. Alle menschliche Erkenntnis ist entweder Erfahrung oder Mathematik.
Ein Urteil ist synthetisch: d. h. es verknüpft verschiedene Vorstellungen. Es ist a priori: d.h. jene Verknüpfung ist eine allgemeingültige und notwendige, die nie durch sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch reine Vernunft gegeben sein kann. Soll es synthetische Urteile a priori geben, so wird die Vernunft imstande sein müssen, zu verknüpfen: das Verknüpfen ist eine Form. Die Vernunft muß formgebende Vermögen besitzen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 362-365

„Das Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr- oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt« zu haben – was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 365

„Was sind Prädikate? – Wir haben Veränderungen an uns nicht als solche genommen, sondern als ein »An-sich«, das uns fremd ist, das wir nur »wahrnehmen«: und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als »Eigenschaft« – und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d. h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. Aber auch noch in dieser Formulierung ist der Begriff »Wirkung« willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursache zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: »zu jeder Veränderung gehört ein Urheber«; – aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken. Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«, so habe ich das Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht »wird«. – Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das ist der doppelte Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 365

Das Urteil – das ist der Glaube: »Dies und dies ist so.« Also steckt im Urteil das Geständnis, einem »identischen Fall« begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft es nicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle gibt. Wie heißt nun jene Funktion, die viel älter, früher arbeitend sein muß, welche an sich ungleiche Fälle ausgleicht und verähnlicht? Wie heißt jene zweite, welche auf Grund dieser ersten usw.. »Was gleiche Empfindungen erregt, ist gleich«: wie aber heißt das, was Empfindungen gleich macht, als gleich »nimmt«? – Es könnte gar keine Urteile geben, wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung geübt wäre: Gedächtnis ist nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten. – Bevor geurteilt wird, muß der Prozeß der Assimilation schon getan sein: also liegt auch hier eine intellektuelle Tätigkeit vor, die nicht ins Bewußtsein fällt, wie beim Schmerz infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen usw.. Wesentlich: vom Leib ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist. »Eine Sache mag noch so stark geglaubt werden: darin liegt kein Kriterium der Wahrheit.« Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung geworden ist? Dann freilich wäre die Stärke ein Kriterium, z. B. in betreff der Kausalität.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 366

„Die logische Bestimmtheit, Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit (»omne illud verum est, quod clare et distincte percipitur«, Descartes); damit ist die mechanische Welt-Hypothese erwünscht und glaublich. Aber das ist eine grobe Verwechslung: wie simplex sigillum veri. Woher weiß man das, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhältnis zu unserm Intellekt steht? – Wäre es nicht anders? Daß die ihm am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm bevorzugt, geschätzt und folglich als wahr bezeichnet wird? – Der Intellekt setzt sein freiestes und stärkstes Vermögen und Können als Kriterium des Wertvollsten, folglich Wahren ....
»Wahr«:
von seiten des Gefühls aus –: was das Gefühl am stärksten erregt (»Ich«);
von seiten des Denkens aus –: was dem Denken das größte Gefühl von Kraft gibt;
von seiten des Tastens, Sehens, Hörens aus –: wobei am stärksten Widerstand zu leisten ist.
Also die höchsten Grade in der Leistung erwecken für das Objekt den Glauben an dessen »Wahrheit«, das heißt Wirklichkeit. Das Gefühl der Kraft, des Kampfes, des Widerstandes überredet dazu, daß es etwas gibt, dem hier widerstanden wird.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 367

„Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 367

„»Wahrheit«: das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht notwendig einen Gegensatz zum Irrtum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedner Irrtümer zueinander: etwa daß der eine älter, tiefer als der andere ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen »Tyrannen«, beseitigt und »widerlegt« werden können. Eine Annahme, die unwiderlegbar ist, – warum sollte sie deshalb schon »wahr« sein? Dieser Satz empört vielleicht die Logiker, welche ihre Grenzen als Grenzen der Dinge ansetzen: aber diesem Logiker- Optimismus habe ich schon lange den Krieg erklärt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 367-368

„Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht »wahr«. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins noch auch nur reduzierbar auf Eins.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 368

Was ist Wahrheit? – Inertia; die Hypothese, bei welcher Befriedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 368

„Erster Satz.
Die leichtere Denkweise siegt über die schwierigere – als Dogma: simplex sigillum veri. – Dico: daß die Deutlichkeit etwas für Wahrheit ausweisen soll, ist eine vollkommne Kinderei ....
Zweiter Satz.
Die Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter festen Einheiten ist hundertmal leichter als die Lehre vom Werden, von der Entwicklung ....
Dritter Satz.
Die Logik war als Erleichterung gemeint: als Ausdrucksmittel – nicht als Wahrheit .... Später wirkte sie als Wahrheit ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 368-369

„Parmenides hat gesagt: »man denkt das nicht, was nicht ist«; – wir sind am andern Ende und sagen: »was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 369

„Es gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen –: und folglich gibt es vielerlei »Wahrheiten«, und folglich gibt es keine Wahrheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 369

„Wenn der Charakter des Daseins falsch sein sollte – das wäre nämlich möglich –, was wäre dann die Wahrheit, alle unsere Wahrheit? .... Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere Potenz des Falschen?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 369

„In einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Tendenz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen höheren Potenz von Falschheit. Damit eine Welt des Wahren, Seienden fingiert werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet, daß ein solcher sich »wahrhaftig« glaubt). Einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang, Form: ein Mensch derart konzipiert eine Welt des Seins als »Gott« nach seinem Bilde. Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es muß der Vorteil in jedem Sinne auf seiten des Wahrhaftigen sein. – Lüge, Tücke, Verstellung müssen Erstaunen erregen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 369-370

„Die Zunahme der »Verstellung« gemäß der aufwärtssteigenden Rangordnung der Wesen. In der anorganischen Welt scheint sie zu fehlen – Macht gegen Macht, ganz roh –, in der organischen beginnt die List; die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. Die höchsten Menschen wie Cäsar, Napoleon (Stendhals Wort über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiener [? HB]), die Griechen (Odysseus); die tausendfältigste Verschlagenheit gehört ins Wesen der Erhöhung des Menschen .... Problem des Schauspielers. Mein Dionysos-Ideal .... Die Optik aller organischen Funktionen, aller stärksten Lebensinstinkte: die irrtumwollende Kraft in allem Leben; der Irrtum als Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor »gedacht« wird, muß schon »gedichtet« worden sein; das Zurechtbilden zu identischen Fällen, zur Scheinbarkeit des Gleichen ist ursprünglicher als das Erkennen des Gleichen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 370

„Ich glaube an den absoluten Raum als Substrat der Kraft: diese begrenzt und gestaltet. Die Zeit ewig. Aber an sich gibt es nicht Raum noch Zeit. »Veränderungen« sind nur Erscheinungen (oder Sinnes-Vorgänge für uns); wenn wir zwischen diesen noch so regelmäßige Wiederkehr ansetzen, so ist damit nichts begründet als eben diese Tatsache, daß es immer so geschehen ist. Das Gefühl, daß das post hoc ein propter hoc ist, ist leicht als Mißverständnis abzuleiten; es ist begreiflich. Aber Erscheinungen können nicht »Ursachen« sein!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 370-371

„»Subjekt«, »Objekt«, »Prädikat« – diese Trennungen sind gemacht und werden jetzt wie Schemata übergestülpt über alle anscheinenden Tatsachen. Die falsche Grundbeobachtung ist, daß ich glaube, ich bin's, der etwas tut, etwas leidet, der etwas »hat«, der eine Eigenschaft »hat«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 371-372

„In jedem Urteile steckt der ganze, volle, tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung (nämlich als die Behauptung“, daß jede Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetzt); und dieser letztere Glaube sit sogar nur ein Einzelfall des ersteren, so daß als Grundglaube der Glaube ürbigbleibt: es gibt Subjekte, alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zur irgendwelchem Subjekte.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 372

„Ehemals sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 372

„»Ursache« kommt gar nicht vor: von einigen Fällen, wo sie uns gegeben schien und wo wir aus uns sie projiziert haben zum Verständnis des Geschehens, ist die Selbsttäuschung nachgewiesen. Unser »Verständnis eines Geschehens« bestand darin, daß wir ein Subjekt erfanden, welches verantwortlich wurde dafür, daß etwas geschah und wie es geschah. Wir haben unser Willens-Gefühl, unser »Freiheits«-Gefühl, unser Verantwortlichkeits-Gefühl und unsre Absicht zu einem Tun in den Begriff »Ursache« zusammengefaßt: causa efficiens und causa finalis ist in der Grundkonzeption eins.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 373

„Wir meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand aufgezeigt würde, dem sie bereits inhäriert. Tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt... Umgekehrt sind wir außerstande, von irgendeinem Dinge vorauszusagen, was es »wirkt«. Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht – alles inhäriert der Konzeption »Ursache«. Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes »Ding« und »Ursubjekt«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 373-374

„Aus einer notwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Kausal-Verhältnis (– das hieße deren wirkende Vermögen von 1 auf 2, auf 3, auf 4, auf 5 springen machen). Es gibt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen »Wirkungen« getrennt denke, so habe ich ihn negiert.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 374

„In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend. Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzuerfunden zum Geschehen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 374

Die Kausalitäts-Interpretation eine Täuschung .... Ein »Ding« ist die Summe seiner Wirkungen, synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild. Tatsächlich hat die Wissenschaft den Begriff Kausalität seines Inhalts entleert und ihn übrigbehalten zu einer Gleichnisformel, bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache oder Wirkung. Es wird behauptet, daß in zwei Komplex-Zuständen (Kraftkonstellationen) die Quanten Kraft gleich blieben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 374

„Die Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde, oder einer Notwendigkeit gehorcht wurde, oder ein Gesetz von Kausalität von uns in jedes Geschehen projiziert wurde –: sie liegt in der Wiederkehr »identischer Fälle«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 374-375

„Es gibt nicht, wie Kant meint, einen Kausalitäts-Sinn. Man wundert sich, man ist beunruhigt, man will etwas Bekanntes, woran man sich halten kann .... Sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir beruhigt. Der angebliche Kausalitäts-Instinkt ist nur die Furcht vor dem Ungewohnten und der Versuch, in ihm etwas Bekanntes zu entdecken, – ein Suchen nicht nach Ursachen, sondern nach Bekanntem.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 375

Zur Bekämpfung des Determinismus und der Teleologie. – Daraus, daß etwas regelmäßig erfolgt und berechenbar erfolgt, ergibt sich nicht, daß es notwendig erfolgt. .... Die »mechanische Notwendgkeit« ist kein Tatbestand: wir erst haben sie in das Geschehen hineininterpretiert. .... Der Zwang ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß daß ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 375

„Erst dadurch, daß wir Subjekte, »Täter« in die Dinge hineingedeutet haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehen die Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Zwange ist, – ausgeübt von wem? wiederum von einem »Täter«. Ursache und Wirkung – ein gefährlicher Begriff, solange man ein Etwas denkt, das verursacht, und ein Etwas, auf das gewirkt wird.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 375

„Die Notwendigkeit ist kein Tatbestand, sondern eine Interpretation.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 376

„Hat man begriffen, daß das »Subjekt« nichts ist, das wirkt, sondern nur eine Fiktion, so folgt vielerlei.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 376

„ Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjekts die Dinglichkeit erfunden und in den Sensations-Wirrwarr hineininterpretiert. Glauben wir nicht mehr an das wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an wirkende Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 376

„Geben wir das wirkende Subjekt auf, so auch das Objekt, auf das gewirkt wird. “
Ders., Der Wille zur Macht, S. 376

„Geben wir den Begriff »Subjekt« und »Objekt« auf, dann auch den Begriff »Substanz« – und folglich auch dessen verschiedene Modifikationen, z.B. »Materie«, »Geist« und andere hypothetische Wesen, »Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Stoffs« usw.. Wir sind die Stofflichkeit los.–“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 377

„Moralisch ausgedrückt, ist die Welt falsch. Aber insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 377

„Der Wille zur Wahrheit ist ein Fest-machen, ein Wahr-, Dauerhaft-machen, ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes falschen Charakters, eine Umdeutung desselben ins Seiende. »Wahrheit« ist somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, – nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den »Willen zur Macht«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 377

„Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die erratbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisierund, Rationalisierung, Systematisierung als Hilfsmittel des Lebens.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 377

„Der mensch projiziert seinen Trieb zur Wahrheit, sein »Ziel« in einem gewissen Sinne außer sich als seiende Welt, als metaphysische Welt, als »Ding an sich«, als bereits vorhandene Welt. Sein Bedürfnis als Schaffender erdichtet bereits die Welt, an der er arbeitet, nimmt sie vorweg; diese Vorwegnahme (dieser »Glaube« an die Wahrheit) ist seine Stütze.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 378

„Sobald wir uns jemanden imaginieren, der verantwortlich ist dafür, daß wir so und so sind usw. (Gott, Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück und Elend als Absicht zulgen, verderben wir uns die Unschuld des Werdens. Wir haben dann jemandenm der durch uns und mit uns etwas erreichen will.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 378

„Das »Wohl des Individuumns« ist ebenso imaginär als das »Wohl der Gattung«: das erstere wird nicht dem letzteren geopfert, Gattung ist aus der ferne betrachtet etwas ebenso Flüssigens wie Individuum. »Erhaltung der Gattung« ist nur eine Folge des Wachstums der Gattung, d.h. der Überwindung der Gattung auf dem Wege zu einer stärkeren Art.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 378

Thesen. – Daß die anscheinende »Zweckmäßigkeit« (»die aller menschlichen Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit«) bloß die Folge jenes in allem Geschehen sich abspielenden Willens zur Macht ist –: daß das Stärker-werden Ordnungen mit sich bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurf ähnlich sehen –: daß die anscheinenden Zwecke nicht beabsichtigt sind, aber, sobald die Übermacht über eine geringe Macht erreicht ist und letztere als Funktion der größeren arbeitet, eine Ordnung des Ranges, der Organisation den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken muß.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 378

„Gegen die anscheinende »Notwendigkeit«: – diese nur ein Ausdruck dafür, daß eine Kraft nicht auch etwas anderes ist.
Gegen die anscheinende »Zweckmäßigkeit«: – letztere nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel. “
Ders., Der Wille zur Macht, S. 378-379

„Ein »Ding an sich« ebnso verkehrt wie ein »Sein an sich«. eine »Bedeutung an sich«. Es gibt keinen »Tatbestand an sich«. sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 381

„Wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? Aber das »Ding«, an das wir glauben, ist nur als Unterlage zu verschiednen Prädikaten hinzuerfunden. Wenn das Ding »wirkt«, so heißt das: wir fassen alle übrigen Eigenschaften, die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als Ursache, daß jetzt eine einzelne Eigenschaft hervortritt: d. h. wir nehmen die Summe seiner Eigenschaften – x – als Ursache der Eigenschaft x: was doch ganz dumm und verrückt ist! Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das eins bedeutet, aber nicht eins ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 383

„»Es mußte in der Ausbildung des Denkens der Punkt eintreten, wo es zum Bewußtsein kam, daß das, was man als Eigenschaften der Dinge bezeichnete, Empfindungen des empfindenden Subjekts seien: damit hörten die Eigenschaften auf, dem Dinge anzugehören.« Es blieb »das Ding an sich« übrig. Die Unterscheidung zwischen Ding an sich und des Dinges für uns basiert auf der älteren, naiven Wahrnehmung, die dem Dinge Energie beilegte: aber die Analyse ergab, daß auch die Kraft hineingedichtet worden ist, und ebenso – die Substanz. »Das Ding affiziert ein Subjekt.«? Wurzel der Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-Seienden! Das Ding an sich ist gar kein Problem! Das Seiende wird als Empfindung zu denken sein, welcher nichts Empfindungsloses mehr zugrunde liegt. In der Bewegung ist kein neuer Inhalt der Empfindung gegeben. Das Seiende kann nicht inhaltlich Bewegung sein: also Form des Seins.
NB. Die Erklärung des Geschehens kann versucht werden einmal: durch Vorstellung von Bildern des Geschehens, die ihm voranlaufen (Zwecke); zweitens: durch Vorstellung von Bildern, die ihm nachlaufen (die mathematisch-physikalische Erklärung).
Beide soll man nicht durcheinanderwerfen. Also: die physische Erklärung, welche die Verbildlichung der Welt ist aus Empfindung und Denken, kann nicht selber wieder das Empfinden und Denken ableiten und entstehen machen: vielmehr muß die Physik auch die empfindende Welt konsequent als ohne Empfindung und Zweck konstruieren – bis hinauf zum höchsten Menschen. Und die teleologische ist nur eine Geschichte der Zwecke und nie physikalisch!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 383-384

„Unser »Erkennen« beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen; aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitäts-Differenzen als Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns; kein »An sich«. Unsere Sinne haben ein bestimmtes Quantum als Mitte, innerhalb deren sie funktionieren, d. h. wir empfinden groß und klein im Verhältnis zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsre Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zugrunde gehn: – d. h. wir empfinden auch Größenverhältnisse in bezug auf unsre Existenz-Ermöglichung als Qualitäten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 384-385

„Sollten nicht alle Quantitäten Anzeichen von Qualitäten sein? Der größeren Macht entspricht ein anderes Bewußtsein, Begehren, ein anderer perspektivischer Blick; Wachstum selbst ist ein Verlangen, mehr zu sein; aus einem quale heraus erwächst das Verlangen nach einem Mehr von quantum; in einer rein quantitativen Welt wäre alles tot, starr, unbewegt. – Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist Unsinn: was sich ergibt, ist, daß eins und das andre beisammensteht, eine Analogie “
Ders., Der Wille zur Macht, S. 385

„Die Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können durch nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr aufeinander reduzierbar sind. Aber alles, wofür nur das Wort »Erkenntnis« Sinn hat, bezieht sich auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität: während umgekehrt alle unsre Wertempfindungen (d. h. eben unsre Empfindungen) gerade an den Qualitäten haften, d. h. an unsren, nur uns allein zugehörigen perspektivischen »Wahrheiten«, die schlechterdings nicht »erkannt« werden können. Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer andern Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsre eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsre menschlichen Auslegungen und Werte allgemeine und vielleicht konstitutive Werte sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 385-386

„Die »wahre Welt«, wie immer auch man sie bisher konzipiert hat – sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 386

„Die scheinbare Welt, d. h. eine Welt, nach Werten angesehn; geordnet, ausgewählt nach Werten, d. h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht- Steigerung einer bestimmten Gattung von Animal. Das Perspektivische also gibt den Charakter der »Scheinbarkeit« ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet! Jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d.h. seine ganz bestimmte Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstands-Art. Die »scheinbare Welt« reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum. Nun gibt es gar keine andre Art Aktion: und die »Welt« ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen. Die Realität besteht exakt in dieser Partikular-Aktion und -Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze .... Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden .... Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des Reagierens: wir wissen nicht, wie viele und was für Arten es alles gibt. Aber es gibt kein »anderes«, kein »wahres«, kein wesentliches Sein – damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt sein .... Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduziert sich auf den Gegensatz »Welt« und »Nichts«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 386-387

Kritik des Begriffes »wahre und scheinbare Welt«. – Von diesen ist die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingierten Dingen gebildet. Die »Scheinbarkeit« gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins; d. h. in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden: ein Tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist, usw.. »Scheinbarkeit« ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an der unsre praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns vollkommen wahr: nämlich wir leben, wir können in ihr leben: Beweis ihrer Wahrheit für uns ..., die Welt, abgesehen von unsrer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsre Logik und psychologischen Vorurteile reduziert haben, existiert nicht als Welt »an sich«; sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt – und diese Summierungen sind in jedem Falle gänzlich inkongruent. Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nötigung es wirkt oder widersteht.Unser Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Konzeption gemacht, um in einer Welt leben zu können, um gerade genug zu perzipieren, daß wir noch es aushalten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 387-388

„Unsre psychologische Optik ist dadurch bestimmt:
1. daß Mitteilung nötig ist und daß zur Mitteilung etwas fest, ver-einfacht, präzisierbar sein muß (vor allem im sogenannten identischen Fall). Damit es aber mitteilbar sein kann, muß es zurechtgemacht empfunden werden, als »wiedererkennbar«. Das Material der Sinne vom Verstande zurechtgemacht, reduziert auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht, subsumiert unter Verwandtes. Also: die Undeutlichkeit und das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam logisiert;
2. die Welt der »Phänomene« ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden. Die »Realität« liegt in dem beständigen Wieder-kommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisierten Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können;
3. der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht »die wahre Welt«, sondern die formlos-unformulier bare Welt des Sensationen-Chaos – also eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns »unerkennbare«;
4. Fragen, wie die Dinge »an sich« sein mögen, ganz abgesehen von unsrer Sinnen-Rezeptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge gibt? Die »Dingheit« ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist, ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu schaffen – und ob nicht dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was »Dinge setzt«, allein real ist; und ob nicht die »Wirkung der äußeren Welt auf uns« auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist .... Die anderen »Wesen« agieren auf uns; unsre zurechtgemachte Scheinwelt ist eine Zurechtmachung und Überwältigung von deren Aktionen: eine Art Defensiv-Maßregel. Das Subjekt allein ist beweisbar: Hypothese, daß es nur Subjekte gibt – daß »Objekt« nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist ... ein Modus des Subjekts.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 388-389

„Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das, was war, und das, was wird – man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine »Welt«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 389

„Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück: seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding wert ist, jener schattengleiche Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt; er glaubt daran, daß, je mehr subtilisiert, verdünnt, verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, um so mehr sein Wert zunimmt: je weniger real, um so mehr Wert. Dies ist Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen: – er maß den Grad Realität nach dem Wertgrade ab und sagte: je mehr »Idee«, desto mehr Sein. Er drehte den Begriff »Wirklichkeit« herum und sagte: »Was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrtum, und wir kommen, je näher wir der ›Idee‹ kommen, um so näher der ›Wahrheit‹«. – Versteht man es? Das war die größte Umtaufung: und weil sie vom Christentum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht. Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen! also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit! das Unwirkliche dem Vorhandenen! – er war aber so sehr vom Werte des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute »Sein«, »Ursächlichkeit« und »Gutheit«, »Wahrheit«, kurz alles übrige beilegte, dem man Wert beilegt. Der Wertbegriff selbst, als Ursache gedacht: erste Einsicht. Das Ideal mit allen Attributen bedacht, die Ehre verleihen: zweite Einsicht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 389-390

„Die Idee der »wahren Welt« oder »Gottes« als absolut unsinnlich, geistig, gütig ist eine Notmaßregel im Verhältnis dazu, als die Gegen-Instinkte noch allmächtig sind .... Die Mäßigkeit und erreichte Humanität zeigt sich exakt in der Vermenschlichung der Götter: die Griechen der stärksten Zeit, die vor sich selber keine Furcht hatten, sondern Glück an sich hatten, näherten ihre Götter an alle ihre Affekte –. Die Vergeistigung der Gottes-Idee ist deshalb fern davon, einen Fortschritt zu bedeuten: man fühlt dies recht herzlich bei der Berührung mit Goethe – wie da die Verdunstung Gottes zu Tugend und Geist sich als eine rohere Stufe fühlbar macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 390-391

„Erst vermöge des Denkens gibt es Unwahrheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 391

Zur Psychologie der Metaphysik. – Diese Welt ist scheinbar: folglich gibt es eine wahre Welt; – diese Welt ist bedingt: – folglich gibt es eine unbedingte Welt; – diese Welt ist widerspruchsvoll: folglich gibt es eine widerspruchslose Welt; – diese Welt ist werdend: folglich gibt es eine seiende Welt: – lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein). Zu diesen Schlüssen inspiriert das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginiert wird, eine wertvollere: das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch. Zweite Reihe von Fragen: wozu Leiden? Und hier ergibt sich ein Schluß auf das Verhältnis der wahren Welt zu unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden, widerspruchsvollen:
1. Leiden als Folge des Irrtums: wie ist Irrtum möglich?
2. Leiden als Folge von Schuld: wie ist Schuld möglich?
(Lauter Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universalisiert und ins »An-sich« projiziert).
Wenn aber die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß die Freiheit zum Irrtum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder fragt man wozu? .... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des Leidens ist also gewollt: wozu? Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche Begriffe sind gebildet – weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht, »muß« auch dem andern eine Realität entsprechen. »Woher sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?« – Vernunft somit als eine Offenbarungs-Quelle über An-sich-Seiendes. Aber die Herkunft jener Gegensätze braucht nicht notwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft zurückzugehn: es genügt, die wahre Genesis der Begriffe dagegenzustellen: – diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre, und hat eben daher ihren starken Glauben (man geht daran zugrunde, wenn man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das nicht »bewiesen«, was sie behauptet). Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. »Ewige Seligkeit«: psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Men schen fassen Lust und Leid nie als letzte Wertfragen, – es sind Begleit-Zustände: man muß beides wollen, wenn man etwas erreichen will –. Darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehn. Auch die Moral hat nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt. Insgleichen die Präokkuptaion durch Schein und Irrtum. Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der »Gewißheit«, im »Glauben«).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 393-395

„Inwiefern die einzelnen erkenntnistheoretischen Grundstellungen (Materialismus, Sensualismus, Idealismus) Konsequenzen der Wertschätzungen sind: die Quelle der obersten Lustgefühle (»Wertgefühle«) auch als entscheidend über das Problem der Realität! – Das Maß positiven Wissens ist ganz gleichgültig oder nebensächlich: man sehe doch die indische Entwicklung. Die buddhistische Negation der Realität überhaupt (Scheinbarkeit = Leiden) ist eine vollkommene Konsequenz: Unbeweisbarkeit, Unzugänglichkeit, Mangel an Kategorien nicht nur für eine »Welt an sich«, sondern Einsicht in die fehlerhaften Prozeduren, vermöge deren dieser ganze Begriff gewonnen ist. »Absolute Realität«, »Sein an sich« ein Widerspruch. In einer werdenden Welt ist »Realität« immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung auf Grund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo desWerdens. Die logische Weltverneinung und Nihilisierung folgt daraus, daß wir Sein dem Nichtsein entgegensetzen müssen und daß der Begriff »Werden« geleugnet wird. (»Etwas« wird.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 395

„Wir haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden dürften. (Es könnte eben bloß eine scheinbare Welt geben, aber nicht nur unsere scheinbare Welt.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 397

„Es ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist die große Anzweiflerin und Wertverminderung der Welt, die wir sind: sie war bisher unser gefährlichstes Attentat auf das Leben. Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingiert hat. Zu diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werte die obersten seien. Die moralische Wertung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen werden könnte als die Folge einer unmoralischen Wertung: als ein Spezialfall der realen Unmoralität: sie reduzierte sich damit selbst auf einen Anschein, und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein zu verurteilen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 398

„Der »Wille zur Wahrheit« wäre sodann psychologisch zu untersuchen: er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies wäre damit zu beweisen, daß er sich aller unmoralischen Mittel bedient: die Metaphysiker voran –. Wir sind heute vor die Prüfung der Behauptung gestellt, daß die moralischen Werte die obersten Werte seien. Die Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn alle moralischen Vorurteile überwunden sind: – sie stellt einen Sieg über die Moral dar.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 398

„Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende. Das ist der größte Irrtum, der begangen worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, – während man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge Weise die Realität mißzuverstehn .... Und siehe da: jetzt wurde die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen, Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg. Und nun war das ganze Verhängnis da:
1. Wie kommt man los von der falschen, der bloß scheinbaren Welt? (– es war die wirkliche, die einzige);
2. wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff des vollkommnen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher, als Widerspruch zum Leben ...).
Die ganze Richtung der Werte war auf Verleumdung des Lebens aus; man schuf eine Verwechslung des Ideal-Dogmatismus mit der Erkenntnis überhaupt: so daß die Gegenpartei immer nun auch die Wissenschaft perhorreszierte. Der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben an die »wahre« Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die Naturwissenschaft ... war
1. in ihren Objekten verurteilt,
2. um ihre Unschuld gebracht ....
In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend etwas verurteilen und wegdenken, alles wegdenken und verurteilen. Das Wort »das sollte nicht sein«, »das hätte nicht sein sollen« ist eine Farce .... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinne schädllich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja besser! – Wir sehen, wie die Moral
a) die ganze Weltauffassung vergiftet,
b) den Weg zur Erkenntnis, zur Wissenschaft abschneidet,
c) alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln als unmoralisch empfinden lehrt).
Wir sehen ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns arbeiten, das sich mit den heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 400-401

„A.
Der Mensch sucht »die Wahrheit«: eine Welt, die nicht sich wider-spricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt – eine Welt, in der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel – Ursachen des Leidens! Er zweifelt nicht, daß es eine Welt, wie sie sein soll, gibt; er möchte zu ihr sich den Weg suchen. (Indische Kritik: selbst das »Ich« als scheinbar, als nicht-real.) Woher nimmt hier der Mensch den Begriff der Realität? – Warum leitet er gerade das Leiden von Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück? – Die Verachtung, der Haß gegen alles, was vergeht, wechselt, wandelt: – woher diese Wertung des Bleibenden; Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden. Die Sinne täuschen, die Vernunft korrigiert die Irrtümer: folglich, schloß man, ist die Vernunft der Weg zu dem Bleibenden; die unsinnlichsten Ideen müssen der »wahren Welt« am nächsten sein. – Von den Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge, – sie sind Betrüger, Betörer, Vernichter. – Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist die Formel für: Weg zum höchsten Glück.
In summa: Die Welt, wie sie sein sollte, existiert; diese Welt, in der wir leben, ist ein Irrtum, – diese unsre Welt sollte nicht existieren.
Der Glaube an das Seiende erweist sich nur als eine Folge: das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens .... Was für eine Art Mensch reflektiert so? Eine unproduktive, leidende Art, eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nötig; mehr noch, sie würde es verachten, als tot, langweilig, indifferent ....
Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. »Wille zur Wahrheit« – als Ohnmacht des Willens zum Schaffen.
Erkennen, daß etwas so und so ist: {Antagonismus in den Kraft-Graden der Naturen.
Tun, daß etwas so und so wird:
Fiktion einer Welt, welche unseren Wünschen entspricht; psychologische Kunstgriffe und Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser wahren Welt zu verknüpfen.»Wille zur Wahrheit« auf dieser Stufe ist wesentlich Kunst der Interpretation: wozu immer noch Kraft der Interpretation gehört.
Dieselbe Spezies Mensch, noch eine Stufe ärmer geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu interpretieren, des Schaffens von Fiktionen, macht den Nihilisten. Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn: das Pathos des »Umsonst« ist das Nihilisten-Pathos – zugleich noch als Pathos eine Inkonsequenz des Nihilisten.
Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen Sinn hinein, d.h. den Glauben, daß schon ein Wille darin sei.
Es ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält: weil man ein kleines Stück von ihr selbst organisiert.
Das philosophische Objektiv-Blicken kann somit ein Zeichen von Willens- und Kraft-Armut sein. Denn die Kraft organisiert das Nähere und Nächste; die »Erkennenden«, welche nur feststellen wollen, was ist, sind solche, die nichts festsetzen können, wie es sein soll.
Die Künstler, eine Zwischenart: sie setzen wenigstens ein Gleichnis von dem fest, was sein soll, – sie sind produktiv, insofern sie wirklich verändern und umformen; nicht wie die Erkennenden, welche alles lassen, wie es ist.
Zusammenhang der Philosophen mit den pessimistischen Religionen: dieselbe Spezies Mensch (– sie legen den höchsten Grad von Realität den höchstgewerteten Dingen bei –).
Zusammenhang der Philosophen mit den moralischen Menschen und deren Wertmaßen (– die moralische Weltauslegung als Sinn nach dem Niedergang des religiösen Sinnes –).
Überwindung der Philosophen durch Vernichtung der Welt des Seienden: Zwischenperiode des Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werte umzuwenden und das Werdende, die scheinbare Welt, als die einzige, zu vergöttlichen und gutzuheißen.
B.
Der Nihilismus als normales Phänomen kann ein Symptom wachsender Stärke sein oder wachsender Schwäche:
teils, daß die Kraft, zu schaffen, zu wollen, so gewachsen ist, daß sie diese Gesamt-Ausdeutungen und Sinn-Einlegungen nicht mehr braucht (»nähere Aufgaben«, Staat usw.);
teils, daß selbst die schöpferische Kraft, Sinn zu schaffen, nachläßt und die Enttäuschung der herrschende Zustand wird. Die Unfähigkeit zum Glauben an einen »Sinn«, der »Unglaube«.
Was die Wissenschaft in Hinsicht auf beide Möglichkeiten bedeutet?
1. Als Zeichen von Stärke und Selbstbeherrschung, als Entbehren-können heilender, tröstlicher Illusions-Welten;
2. als untergrabend, sezierend, enttäuschend, schwächend.
C.
Der Glaube an die Wahrheit, das Bedürfnis einen Halt zu haben an etwas Wahrgeglaubtem: psychologische Reduktion abseits von allen bisherigen Wertgefühlen. Die Furcht, die Faulheit.
Insgleichen der Unglaube: Reduktion. Inwiefern er einen neuen Wert bekommt, wenn es eine wahre Welt gar nicht gibt (– dadurch werden die Wertgefühle wieder frei, die bisher auf die seiende Welt verschwendet worden sind).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 401-405

„Die »wahre« und die »scheinbare Welt«
A.
Die Verführungen, die von diesem Begriff ausgehen, sind dreierlei Art:
a) eine unbekannte Welt: – wir sind Abenteurer, neugierig – das Bekannte scheint uns müde zu machen (– die Gefahr des Begriffs liegt darin, uns »diese« Welt als bekannt zu insinuieren ...);
b) eine andre Welt, wo es anders ist: – es rechnet etwas in uns nach, unsre stille Ergebung, unser Schweigen verlieren dabei ihren Wert, – vielleicht wird alles gut, wir haben nicht umsonst gehofft .... Die Welt, wo es anders, wo wir selbst – wer weiß? anders sind ....
c) eine wahre Welt: – das ist der wunderlichste Streich und Angriff, der auf uns gemacht wird; es ist so vieles an das Wort »wahr« ankrustiert, unwillkürlich machen wir's auch der »wahren Welt« zum Geschenk: die wahre Welt muß auch eine wahrhaftige sein, eine solche, die uns nicht betrügt, nicht zu Narren hat: an sie glauben ist beinahe glauben müssen (– aus Anstand, wie es unter zutrauenswürdigen Wesen geschieht –).
Der Begriff »die unbekannte Welt« insinuiert uns diese Welt als »bekannt« (als langweilig –); der Begriff »die andre Welt« insinuiert, als ob die Welt anders sein könnte, – hebt die Notwendigkeit und das Fatum auf (– unnütz, sich zu ergeben, sich anzupassen –); der Begriff »die wahre Welt« insinuiert diese Welt als eine unwahrhaftige, betrügerische, unredliche, unechte, unwesentliche – und folglich auch nicht unserm Nutzen zugetane Welt (– unratsam, sich ihr anzupassen; besser: ihr widerstreben).
Wir entziehen uns also in dreierlei Weise »dieser« Welt:
a) mit unsrer Neugierde – wie als ob der interessantere Teil woanders wäre;
b) mit unsrer Ergebung – wie als ob es nicht nötig sei, sich zu ergeben, – wie als ob diese Welt keine Notwendigkeit letzten Ranges sei;
c) mit unsrer Sympathie und Achtung – wie als ob diese Welt sie nicht verdiente, als unlauter, als gegen uns nicht redlich ....
In summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltiert: wir haben ein x zur Kritik der »bekannten Welt« gemacht.
B.
Erster Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, inwiefern wir verführt sind – nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein;
a) die unbekannte Welt könnte derartig beschaffen sein, um uns Lust zu machen zu »dieser« Welt, – als eine vielleicht stupide und geringere Form des Daseins;
b) die andere Welt, geschweige, daß sie unsern Wünschen, die hier keinen Austrag fänden, Rechnung trüge, könnte mit unter der Masse dessen sein, was uns diese Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel, uns zufrieden zu machen;
c) die wahre Welt: aber wer sagt uns eigentlich, daß die scheinbare Welt weniger wert sein muß als die wahre? Widerspricht nicht unser Instinkt diesem Urteile? Schafft sich nicht ewig der Mensch eine fingierte Welt, weil er eine bessere Welt haben will als die Realität? Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht unsre Welt die wahre ist? ... zunächst könnte doch die andre Welt die »scheinbare« sein (in der Tat haben sich die Griechen z. B. ein Schattenreich, eine Scheinexistenz neben der wahren Existenz, gedacht –). Und endlich: was gibt uns ein Recht, gleichsam Grade der Realität anzusetzen? Das ist etwas andres als eine unbekannte Welt – das ist bereits Etwas-wissen-wollen von der unbekannten. Die »andere«, die »unbekannte« Welt – gut! aber sagen »wahre Welt« das heißt »etwas wissen von ihr«, – das ist der Gegensatz zur Annahme einer x-Welt ....
In summa: die Welt x könnte in jedem Sinne langweiliger, unmenschlicher und unwürdiger sein als diese Welt.
Es stünde anders, wenn behauptet würde, es gebe x Welten, d. h. jede mögliche Welt noch außer dieser. Aber das ist nie behauptet worden ....
C.
Problem: warum die Vorstellung von der andern Welt immer zum Nachteil, resp. zur Kritik »dieser« Welt ausgefallen ist – worauf das weist? – Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgange des Lebens ist, denkt das Anders-sein immer als Niedriger-, Wertloser-sein; es betrachtet die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde... Ein Volk würde nicht zugeben, daß ein anderes Volk das »wahre Volk« wäre ....Schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist – daß man diese Welt für die »scheinbare« und jene für die »wahre« nimmt, ist symptomatisch. Die Entstehungsherde der Vorstellung »andre Welt«: der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo die Vernunft und die logischen Funktionen adäquat sind – daher stammt die »wahre« Welt; der religiöse Mensch, der eine »göttliche Welt« erfindet – daher stammt die »entnatürlichte, widernatürliche« Welt; der moralische Mensch, der eine »freie Welt« fingiert – daher stammt die »gute, vollkommene, gerechte, heilige« Welt. Das Gemeinsame der drei Entstehungsherde: der psychologische Fehlgriff, die physiologischen Verwechslungen. Die »andre Welt«, wie sie tatsächlich in der Geschichte erscheint, mit welchen Prädikaten abgezeichnet? Mit den Stigmaten des philosophischen, des religiösen, des moralischen Vorurteils. Die »andre Welt«, wie sie aus diesen Tatsachen erhellt, als ein Synonym des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben-wollens ....
Gesamteinsicht: der Instinkt der Lebensmüdigkeit, und nicht der des Lebens, hat die »andre Welt« geschaffen.
Konsequenz: Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der décadence.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 405-409

„Die Frage der Werte ist fundamentaler als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet ist. Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergibt kein »Sein an sich«, keine Kriterien für »Realität«, sondern nur für Grade der Scheinbarkeit, gemessen an der Stärke des Anteils, den wir einem Schein geben. Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft; – vernichtet wird die überwundene Vorstellung nicht, nur zurückgedrängt oder subordiniert. Es gibt im Geistigen keine Vernichtung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 409-410

„Die Wissenschaft – das war bisher die Beseitigung der vollkommenen Verworrenheit der Dinge durch Hypothesen, welche alles »erklären« – also aus dem Widerwillen des Intellekts an dem Chaos. – Dieser selbe Widerwille ergreift mich bei der Betrachtung meiner selber: die innere Welt möchte ich auch durch ein Schema mir bildlich vorstellen und über die intellektuelle Verworrenheit hinauskommen. Die Moral war eine solche Vereinfachung: sie lehrte den Menschen als erkannt, als bekannt. – Nun haben wir die Moral vernichtet – wir selber sind uns wieder völlig dunkel geworden! Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß. Die Physik ergibt sich als eine Wohltat für das Gemüt: die Wissenschaft (als der Weg zur Kenntnis) bekommt einen neuen Zauber nach der Beseitigung der Moral – und weil wir hier allein Konsequenz finden, so müssen wir unser Leben darauf einrichten, sie uns zu erhalten. Dies ergibt eine Art praktischen Nachdenkens über unsre Existenzbedingungen als Erkennende.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 411

„Keine »moralische Erziehung« des Menschengeschlechts: sondern die Zwangsschule der wissenschaftlichen Irrtümer ist nötig, weil die »Wahrheit« degoutiert und das Leben verleidet – vorausgesetzt, daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 412

„Wir wissen, daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres »leeren Raumes«, einen Zuwachs unserer »Öde«“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 414

„Was kann allein Erkenntnis sein? – »Auslegung«, Sinn-hineinlegen – nicht »Erklärung« (in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordne Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 414

„Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: – das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken – Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben, – die einen zum Wiederfinden, die andern – wir andern! – zum Hineinstecken!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 415

„Die Entwicklung der Wissenschaft löst das »Bekannte« immer mehr in ein Unbekanntes auf: – sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen. In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß »Erkennen« gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmut war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur »Erkennen« als eine Möglichkeit gelten zu lassen – daß »Erkennen« eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Tatsache: so wenig »Ding an sich«, so wenig ist »Erkenntnis an sich« noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch »Zahl und Logik«, die Verführung durch die »Gesetze«. »Weisheit« als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen (d.h. über den »Willen zur Macht«) hinwegzukommen: ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw., Schwächung der Aneignungskraft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 415-416

„Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier lebt: du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nötig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 416

„Wissenschaft – Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur – das gehört in die Rubrik »Mittel«. Aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 416

„Die Erkenntnis wird, bei höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nötig sind.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 417

„Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind als bloß menschliche –), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt – das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist »im Flusse«, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine »Wahrheit«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 418

Rekapitulation:
Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.
Zwiefache Fälschung, von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwertigen usw.
Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins – Gipfel der Betrachtung.
Von den Werten aus, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die Verurteilung und Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden war.
Die Metamorphosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.).
»Das Seiende« als Schein; Umkehrung der Werte: der Schein war das Wertverleihende –.
Erkenntnis an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntnis möglich? Als Irrtum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung.
Werden als Erfinden, Wollen, Selbstverneinen, Sich-selbst-überwinden: kein Subjekt, sondern ein Tun, Setzen, schöpferisch, keine »Ursachen und Wirkungen«.
Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens, als »Verewigen«, aber kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend.
Was alles Leben zeigt, als verkleinerte Formel für die gesamte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue Fixierung des Begriffs »Leben«, als Wille zur Macht.Anstatt »Ursache und Wirkung« der Kampf des Werdenden miteinander, oft mit Einschlürfung des Gegners; keine konstante Zahl des Werdenden.
Unbrauchbarkeit der alten Ideale zur Interpretation des ganzen Geschehens, nachdem man deren tierische Herkunft und Nützlichkeit erkannt hat; alle überdies dem Leben widersprechend.
Unbrauchbarkeit der mechanistischen Theorie – gibt den Eindruck der Sinnlosigkeit.
Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen – in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d.h. Sinnlosigkeit.
Die Vernichtung der Ideale, die neue Öde; die neuen Künste, um es auszuhalten, wir Amphibien.
Voraussetzung: Tapferkeit, Geduld, keine »Rückkehr«, keine Hitze nach vorwärts. (NB. Zarathustra, sich beständig parodisch zu allen früheren Werten verhaltend, aus der Fülle heraus.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 418-419

„Der siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als »Willen zur Macht«, d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die »Wirkung in die Ferne« aus ihren Prinzipien nicht los; ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende). Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle »Erscheinungen«, alle »Gesetze« nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu diesem Ende bedienen. Am Tier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser einen Quelle.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 421

Druck und Stoß etwas unsäglich Spätes, Abgeleitetes, Unursprüngliches. Es setzt ja schon etwas voraus, das zusammenhält und drücken und stoßen kann! Aber woher hielte es zusammen?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 422

„ES gibt nicht Unveränderliches in der Chemie.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 422

„Illusion, daß etwas erkannt sei, wo wir eine mathematische Formel für das Geschehene haben: es ist nur bezeichnet, beschrieben: nichts mehr!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 424

„Wenn ich ein regelmäßiges Geschehen in eine Formel bringe, so habe ich mir die Bezeichnung des ganzen Phänomens erleichtert, abgekürzt usw. Aber ich habe kein »Gesetz« konstatiert, sondern die Frage aufgestellt, woher es kommt, daß hier etwas sich wiederholt: es ist eine Vermutung, daß der Formel ein Komplex von zunächst unbekannten Kräften und Kraft-Auslösungen entspricht: es ist Mythologie zu denken, daß hier Kräfte einem Gesetz gehorchen, so daß infolge ihres Gehorsams wir jedesmal das gleiche Phänomen haben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 425

„Ich hüte mich, von chemischen »Gesetzen« zu sprechen: das hat einen moralischen Beigeschmack. Es handelt sich vielmehr um eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das Schwächere Herr, soweit dies eben seinen Grad von Selbständigkeit nicht durchsetzen kann, – hier gibt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger eine Achtung vor »Gesetzen«!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 425

„Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein »Gesetz«, sondern ein Machtverhältnis zwischen zwei oder mehreren Kräften. Zu sagen »aber gerade dies Verhältnis bleibt sich gleich!« heißt nichts anderes als: »ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein«. – Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, – sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente nicht als Ursache und Wirkung sich bedingen .... Die Trennung des »Tuns« vom »Tuenden«, des Geschehens von einem, der geschehen macht, des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, – der Versuch, das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungs-Wechsel von »Seiendem«, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an »Ursache und Wirkung« festgestellt, nachdem er in den sprachlich-grammatischen Funktionen eine feste Form gefunden hatte.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 425-426

„Die »Regelmäßigkeit« der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck, wie als ob hier eine Regel befolgt werde: kein Tatbestand. Ebenso »Gesetzmäßigkeit«. Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir kein »Gesetz« entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom »Gesetz«, Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 426

„Zwei aufeinanderfolgende Zustände, der eine »Ursache«, der andere »Wirkung« –: ist falsch. Der erste Zustand hat nichts zu bewirken, den zweiten hat nichts bewirkt. Es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neu-Arrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden. Der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom ersten (nicht dessen Wirkung): das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 426-427

Kritik des Mechanismus. – Entfernen wir hier die zwei populären Begriffe »Notwendigkeit« und »Gesetz«: das erste legt einen falschen Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. »Die Dinge« betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es gibt keine Dinge (– das ist unsre Fiktion); sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang von Notwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Zwanges .... Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht – darum handelt es sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserm Handgebrauch der Berechnung, das in Formeln und »Gesetzen« auszudrücken wissen, um so besser für uns! Aber wir haben damit keine »Moralität« in die Welt gelegt, daß wir sie als gehorsam fingieren –. Es gibt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit. Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. Nicht Selbsterhaltung: jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus – es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum »Wille zur Macht«: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken. Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt – eine Welt fürs Auge – ist der Begriff »Bewegung«. Hier ist immer subintelligiert, daß etwas bewegt wird – hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt – d.h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Täter zum Tun, das Tun und das, was es tut, gesondert: vergessen wir nicht, daß dies eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 427-428

„Wir haben »Einheiten« nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserm »Ich«-Begriff – unserm ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff »Ding« gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsre Konzeption des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um die mechanistische Welt theoretisch aufrechtzuerhalten, immer die Klausel zu machen, inwiefern wir sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus unsrer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms (= Einheit, aus unsrer psychischen »Erfahrung« herstammend): – sie hat ein Sinnen-Vorurteil und ein psychologisches Vorurteil zu ihrer Voraussetzung. Die Mechanik formuliert Folgeerscheinungen, noch dazu semiotisch, in sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln (daß alle Wirkung Bewegung ist; daß wo Bewegung ist, etwas bewegt wird): sie berührt die ursächliche Kraft nicht. Die mechanistische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als »bewegt«), – so, daß sie berechnet werden kann, – daß ursächliche Einheiten fingiert sind, »Dinge« (Atome), deren Wirkung konstant bleibt (– Übertragung des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff).Phänomenal ist also: die Einmischung des Zahlbegriffs, des Dingbegriffs (Subjektbegriffs), des Tätigkeitsbegriffs (Trennung von Ursache-sein und Wirken), des Bewegungsbegriffs: wir haben unser Auge, unsre Psychologie immer noch darin. Eliminieren wir diese Zutaten, so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen andern dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen andern Quanten besteht, in ihrem »Wirken« auf dieselben. Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 428-429

„Die Physiker glauben an eine »wahre Welt« auf ihre Art: eine feste, für alle Wesen gleiche Atom-Systematisation in notwendigen Bewegungen – so daß für sie die »scheinbare Welt« sich reduziert auf die jedem Wesen nach seiner Art zugängliche Seite des allgemeinen und allgemein notwendigen Seins (zugänglich und auch noch zurechtgemacht – »subjektiv« ge macht). Aber damit verirren sie sich. Das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivismus – ist somit auch selbst eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht wesensverschieden von dem Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten Sinnen konstruiert, aber durchaus mit unsern Sinnen .... Und zuletzt haben sie in der Konstellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den notwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftzentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet .... Sie haben vergessen, diese Perspektiven-setzende Kraft in das »wahre Sein« einzurechnen – in der Schulsprache geredet: das Subjekt-sein. Sie meinen, dies sei »entwickelt«, hinzugekommen; – aber noch der Chemiker braucht es: es ist ja das Spezifisch-Sein, das bestimmt So-und-so-Agieren und -Reagieren, je nachdem. Der Perspektivismus ist nur eine komplexe Form der Spezifität. Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (– sein Wille zur Macht:) und alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen andrer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren (»vereinigen«), welche ihm verwandt genug sind: – so konspirieren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozeß geht weiter ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 427-428

„Auch im Reiche des Unorganischen kommt für ein Kraft-Atom nur seine Nachbarschaft in Betracht: die Kräfte in der Ferne gleichen sich aus. Hier steckt der Kern des Perspektivischen und warum ein lebendiges Wesen durch und durch »egoistisch« ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 428-429

„Gesetzt, die Welt verfügte über ein Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand, daß jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt – also neben der Kausalität hintereinander wäre eine Abhängigkeit neben– und miteinander gegeben“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 429-430

„Die einzige Möglichkeit, einen Sinn für den Begriff »Gott« aufrechtzuerhalten, wäre: Gott nicht als treibende Kraft, sondern Gott als Maximal-Zustand, als eine Epoche –: ein Punkt in der Entwicklung des Willens zur Macht: aus dem sich ebensosehr die Weiterentwicklung als das Vorher, das Bis-zu-ihm erklärte. Mechanistisch betrachtet, bleibt die Energie des Gesamt-Werdens konstant; ökonomisch betrachtet, steigt sie bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf. Dieser »Wille zur Macht« drückt sich in der Ausdeutung, in der Art des Kraftverbrauchs aus: – Verwandlung der Energie in Leben und »Leben in höchster Potenz« erscheint demnach als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung verschiedenes. Das, was das Wachstum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer und weiter rechnende Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht .... Als Ideal das Prinzip des kleinsten Aufwandes .... Daß die Welt nicht auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das einzige, was bewiesen ist. Folglich muß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß er kein Gleichgewichtszustand ist .... Die absolute Nezessität des gleichen Geschehens in einem Weltlauf, wie in allen übrigen, ist in Ewigkeit nicht ein Determinismus über dem Geschehen, sondern bloß der Ausdruck dessen, daß das Unmögliche nicht möglich ist; daß eine bestimmte Kraft nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich an einem Quantum Kraft- Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist; – Geschehen und Notwendig-Geschehen ist eine Tautologie.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 431-432

„»Leben« wäre zu definieren als eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellung, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits zugleich wachsen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 433

„Der Wille zur Macht interpretiert (– bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation): er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andre wachsen-wollende Etwas auf seinen Wert hin interpretiert. Darin gleich – – In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährend Interpretieren voraus.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 433

„Die größte Kompliziertheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder – wenn das Vollkommenheit ist, so ergibt sich ein Wille zur Macht im organischen Prozeß, vermöge deren herrschaftliche, gestaltende, befehlende Kräfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ wachsend. Der »Geist« ist nur ein Mittel und Werkzeug im Dienst des höheren Lebens, der Erhöhung des Lebens.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 434

Gegen den Darwinismus. – Der Nutzen eines Organs erklärt nicht seine Entstehung, im Gegenteil! Die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im Kampf mit äußeren Umständen und Feinden. Was ist zuletzt »nützlich«? Man muß fragen »in bezug worauf nützlich?« Z.B. was der Dauer des Individuums nützt, könnte seiner Stärke und Pracht ungünstig sein; was das Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten und stillstellen in der Entwicklung. Andererseits kann ein Mangel, eine Entartung vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer Organe wirkt. Ebenso kann eine Notlage Existenzbedingung sein, insofern sie ein Individuum auf das Maß herunterschraubt, bei dem es zusammenhält und sich nicht vergeudet. – Das Individuum selbst als Kampf der Teile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Teile, an ein Verkümmern, »Organwerden« anderer Teile. Der Einfluß der »äußeren Umstände« ist bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche die »äußeren Umstände« ausnützt, ausbeutet –. Die von innen her gebildeten neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin geformt; aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener ausgestalten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 435-436

„»Nützlich« in bezug auf die Beschleunigung des Tempos der Entwicklung ist ein anderes »Nützlich« als das in bezug auf möglichste Feststellung und Dauerhaftigkeit des Entwickelten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 436

„»Nützlich« im Sinne der darwinistischen Biologie – das heißt: im Kampf mit anderen sich als begünstigend erweisend. Aber mir scheint schon das Mehrgefühl, das Gefühl des Stärker-werdens, ganz abgesehen vom Nutzen im Kampf, der eigentliche Fortschritt: aus diesem Gefühle entspringt erst der Wille zum Kampf“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 436

„Die Physiologen sollten sich besinnen, den »Erhaltungstrieb« als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen: die »Erhaltung« ist nur eine der Konsequenzen davon. – Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! Und dahin gehört der ganze Begriff »Erhaltungstrieb«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 436

„Man kann die unterste und ursprünglichste Tätigkeit im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten, denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, es »erhält sich« damit nicht, sondern zerfällt .... Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-wollen zu erklären: »Hunger« ist schon eine Ausdeutung, nach ungleich komplizierteren Organismen (– Hunger ist eine spezialisierte und spätere Form des Triebes, ein Ausdruck der Arbeitsteilung, im Dienst eines darüber waltenden höheren Triebes).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 436-437

„Es ist nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu nehmen, ebenso wenig als die Selbsterhaltung. Der Hunger als Folge der Unterernährung aufgefaßt, heißt: der Hunger als Folge eines nicht mehr Herr werdenden Willens zur Macht. Es handelt sich durchaus nicht um eine Wiederherstellung eines Verlustes – erst spät, infolge Arbeitsteilung, nachdem der Wille zur Macht ganz andre Wege zu seiner Befriedigung einschlagen lernte, wird das Aneignungsbedürfnis des Organismus reduziert auf den Hunger, auf das Wiederersatzbedürfnis des Verlorenen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 437

„Der Trieb, sich anzunähern, – und der Trieb, etwas zurückzustoßen, sind in der unorganischen wie organischen Welt das Band. Die ganze Scheidung ist ein Vorurteil. Der Wuille zur Macht in jeder Jraft-Kombination, sich wehrend gegen das Stärkere, losstürzend auf das Schwächere, ist richtiger. NB. Die Prozesse als »Wesen«.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 438

„Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht also nach dem, was ihm widersteht, – dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasmas, wenn es Pseudopodien ausstreckt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. – Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben). »Hunger« ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 438

Der Leib als Herrschaftsgebilde. – Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Zellen und Gewebe). Die Sklaverei und die Arbeitsteilung: der höhere Typus nur möglich durch Herunterdrückung eines niederen auf eine Funktion. Lust und Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der Macht. »Ernährung« nur eine Konsequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht. Die »Zeugung«, der Zerfall eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen, das Angeeignete zu organisieren. Die gestaltende Kraft ist es, die immer neuen »Stoff« (noch mehr »Kraft«) vorrätig haben will. Das Meisterstück des Aufbaus eines Organismus aus dem Ei. »Mechanistische Auffassung«: will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität. Die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären. Der »Zweck«. Auszugehen von der »Sagazität« der Pflanzen. Begriff der »Vervollkommnung«: nicht nur größere Kompliziertheit, sondern größere Macht (– braucht nicht nur größere Masse zu sein –). Schluß auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der Hervorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweglichstes Werkzeug).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 438-439

Am Leitfaden des Leibes. – Gesetzt, daß die »Seele« ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben – vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte »Seele«. Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichsten Besitz, unser gewissestes Sein, kurz unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder die »Seele« oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen göttlichen Magen zu verstehen: aber seine Gedanken als »eingegeben«, seine Wertschätzungen als »von einem Gott eingeblasen«, seine Instinkte als Tätigkeit im Dämmern zu fassen – für diesen Hang und Geschmack des Menschen gibt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse. Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges Aushängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage vorlegt, wodurch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der schöpferische Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen, etwas wie Unschuld und kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen: »Das kam von mir, das war meine Hand, die die Würfel warf.« – Umgekehrt haben selbst jene Philosophen und Religiösen, welche den zwingendsten Grund in ihrer Logik und Frömmigkeit hatten, ihr Leibliches als Täuschung (und zwar als überwundene und abgetane Täuschung) zu nehmen, nicht umhin gekonnt, die dumme Tatsächlichkeit anzuerkennen, daß der Leib nicht davongegangen ist: worüber die seltsamsten Zeugnisse teils bei Paulus, teils in der Vedânta- Philosophie zu finden sind. Aber was bedeutet zuletzt Stärke des Glaubens? Deshalb könnte es immer noch ein sehr dummer Glaube sein! – Hier ist nachzudenken: – Und zuletzt, wenn der Glaube an den Leib nur die Folge eines Schlusses ist: gesetzt, es wäre ein falscher Schluß, wie die Idealisten behaupten, ist es nicht ein Fragezeichen an der Glaubwürdigkeit des Geistes selber, daß er dergestalt die Ursache falscher Schlüsse ist? Gesetzt, die Vielheit, und Raum und Zeit und Bewegung (und was alles die Voraussetzungen eines Glaubens an Leiblichkeit sein mögen) wären Irrtümer – welches Mißtrauen würde dies gegen den Geist erregen, der uns zu solchen Voraussetzungen veranlaßt hat? Genug, der Glaube an den Leib ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist; und wer ihn untergraben will, untergräbt eben damit am gründlichsten auch den Glauben an die Autorität des Geistes!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 440-441

„Warum alle Tätigkeit, auch die eines Sinnes, mit Lust verknüpft ist? Weil vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr weil alles Tun ein Überwinden, ein Herrwerden ist und Vermehrung des Machtgefühls gibt? – Die Lust im Denken. – Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines »Werks«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 441-442

„Schaffen – als Auswählen und Fertig-machen des Gewählten. (Bei jedem Willensakte ist dies das Wesentliche.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 442

„Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 443

„Die Wissenschaft fragt nicht, was uns zum Wollen trieb: sie leugnet vielmehr, daß gewollt worden ist, und meint, daß etwas ganz anderes geschehen sei – kurz, daß der Glaube an »Wille« und »Zweck« eine Illusion sei.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 446

„Lust und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine »Ursachen«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 448

„Ich erkannte die aktive Kraft, das Schaffende inmitten des Zufälligen: – Zufall ist selber nur das Aufeinanderstoßen der schaffenden Impulse.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 450

„In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus ist der uns bewußt werdende Teil ein bloßes Mittel: und das bißchen »Tugend«, »Selbstlosigkeit« und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen Gesamtgeschehen aus Lügen gestraft. Wir tun gut, unseren Organismus in seiner vollkommenen Unmoralität zu studieren .... Die animalischen Funktionen sind ja prinzipiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseins-Höhen: letztere sind ein Überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen. Das ganze bewußte Leben, der Geist samt der Seele, samt dem Herzen, samt der Güte, samt der Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs-, Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen: vor allem der Lebenssteigerung. Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man »Leib« und »Fleisch« nannte: der Rest ist ein kleines Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen, und so, daß der Faden immer mächtiger wird – das ist die Aufgabe. Aber nun sehe man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören, diese prinzipielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob sie die Ziele wären! Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt durch die außerordentliche Irrtumsfähigkeit des Bewußtseins: es wird am wenigsten durch Instinkte in Zaum gehalten und vergreift sich deshalb am längsten und gründlichsten. Nach den angenehmen oder unangenehmen Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen, ob das Dasein Wert hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel: – und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch nur Mittel! Woran mißt sich objektiv der Wert? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 450-451

Wert alles Abwertens. – Meine Forderung ist, daß man den Täter wieder in das Tun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat; daß man das Etwas-tun, das »Ziel«, die »Absicht«, daß man den »Zweck« wieder in das Tun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat. Alle »Zwecke«, »Ziele«, »Sinne« sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des einen Willens, der allem Geschehen inhäriert: des Willens zur Macht. Zwecke-, Ziele-, Absichten-haben, Wollen überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-wollen – und dazu auch die Mittel wollen. Der allgemeinste und unterste Instinkt in allem Tun und Wollen ist eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben, weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind .... Alle Wertschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste dieses einen Willens: das Wertschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht. Eine Kritik des Seins aus irgendeinem dieser Werte heraus ist etwas Widersinniges und Mißverständliches. Gesetzt selbst, daß sich darin ein Untergangsprozeß einleitet, so steht dieser Prozeß noch im Dienste dieses Willens. Das Sein selbst abschätzen! Aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch! – und indem wir nein sagen, tun wir immer noch, was wir sind. Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehn; und sodann noch zu erraten suchen, was sich eigentlich damit begibt. Es ist symptomatisch.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 451-452

„Es ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt: wie Handlung und Bild der Handlung verschieden ist, wie wenig man von dem weiß, was einer Handlung vorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle »Freiheit des Willens«, »Ursache und Wirkung« sind: wie Gedanken und Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit jeder Handlung: die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wie wesentlich Erfindung und Einbildung ist, worin wir bewußt leben: wie wir in allen unsern Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie die Verbindung der Menschheit auf einem Überleiten und Fortdichten dieser Erfindungen beruht: während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren unbekannten Weg geht“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 453-454

„Die Individuation, vom Standpunkt der Abstammungstheorie beurteilt, zeigt das beständige Zerfallen von eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergroße Masse stirbt jedesmal ab (»der Leib«). Das Grundphänomen: unzählige Individuen geopfert um weniger willen: als deren Ermöglichung. – Man muß sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den Völkern und Rassen: sie bilden den »Leib« zur Erzeugung von einzelnen wertvollen Individuen, die den großen Prozeß fortsetzen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 457

„Gegen die Theorie, daß das einzelne Individuum den Vorteil der Gattung, seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten des eigenen Vorteils: das ist nur Schein. Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäußerung (natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 457-458

Grundirrtümer der bisherigen Biologen: es handelt sich nicht um die Gattung, sondern um stärker auszuwirkende Individuen. (Die Vielen sind nur Mittel.) Das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr »Äußeres« sich unterwirft und einverleibt. Diese Biologen setzen die moralischen Wertschätzungen fort (– der »an sich höhere Wert des Altruismus«, die Feindschaft gegen die Herrschsucht, gegen den Krieg, gegen die Unnützlichkeit, gegen die Rang-und Ständeordnung).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 458

„Mit der moralischen Herabwürdigung des ego geht auch noch, in der Naturwissenschaft, eine Überschätzung der Gattung Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche Distinktion gemacht. Das ego ist hundertmal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die Kette selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet worden ist, das Individuum der Gattung geopfert wird, ist durchaus kein Tatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften Interpretation.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 458

„Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 459

Anti-Darwin. – Die Domestikation des Menschen: welchen definitiven Wert kann sie haben? oder hat überhaupt eine Domestikation einen definitiven Wert? – Man hat Gründe, dies letztere zu leugnen. Die Schule Darwins macht zwar große Anstrengung, uns zum Gegenteil zu überreden: sie will, daß die Wirkung der Domestikation tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen halten wir am Alten fest: es hat sich nichts bisher bewiesen, als eine ganz oberflächliche Wirkung durch Domestikation – oder aber die Degenereszenz. Und alles, was der menschlichen Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder in seinen Natur-Zustand zurück. Der Typus bleibt konstant: man kann nicht »dénaturer la nature«. Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht.
Man teilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß jeder Vorteil sich vererbt und sich in abfolgenden Geschlechtern immer stärker ausdrückt (während die Erblichkeit so kapriziös ist...); man betrachtet die glücklichen Anpassungen gewisser Wesen an sehr besondere Lebensbedingungen und man erklärt, daß sie durch den Einfluß des Milieus erlangt seien. Man findet aber Beispiele der unbewußten Selektion nirgendswo (ganz und gar nicht). Die disparatesten Individuen einigen sich, die extremen mischen sich in die Masse. Alles konkurriert, seinen Typus aufrechtzuerhalten; Wesen, die äußere Zeichen haben, die sie gegen gewisse Gefahren schützen, verlieren dieselben nicht, wenn sie unter Umstände kommen, wo sie ohne Gefahr leben. Wenn sie Orte bewohnen, wo das Kleid aufhört, sie zu verbergen, nähern sie sich keineswegs dem Milieu an.
Man hat die Auslese der Schönsten in einer Weise übertrieben, wie sie weit über den Schönheitstrieb unsrer eignen Rasse hinausgeht! Tatsächlich paart sich das Schönste mit sehr enterbten Kreaturen, das Größte mit dem Kleinsten. Fast immer sehen wir Männchen und Weibchen von jeder zufälligen Begegnung profitieren und sich ganz und gar nicht wählerisch zeigen. – Modifikation durch Klima und Nahrung: – aber in Wahrheit gleichgültig.
Man behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder Typus hat seine Grenze: über diese hinaus gibt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 459-460

Meine Gesamtansicht. –
Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben.
Zweiter Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem andern Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren .... Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander. Die reichsten und komplexesten Formen – denn mehr besagt das Wort »höherer Typus« nicht – gehen leichter zugrunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben eine kompromittierende Fruchtbarkeit für sich. – Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon décadents .... Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Cäsar ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein »Glücksfall« .... Das liegt an keinem besonderen Verhängnis und »bösen Willen« der Natur, sondern einfach am Begriff »höherer Typus«: der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Komplexität – eine größere Summe koordinierter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das »Genie« ist die sublimste Maschine, die es gibt – folglich die zerbrechlichste.
Dritter Satz: die Domestikation (die »Kultur«) des Menschen geht nicht tief .... Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenereszenz (Typus: der Christ). Der »wilde« Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur – und, in gewissem Sinne, seine Wiederherstellung, seine Heilung von der »Kultur« ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 460-461

Anti-Darwin. – Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehn von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zugunsten der Stärkeren, Besser-Weg-gekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zugunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statthat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, die Überzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt der Welt der Werte zeigt, daß in den obersten Werten, die über der Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen, die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, – vielleicht gibt es nichts Interessanteres in der Welt, als dieses unerwünschte Schauspiel .... So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich/Belasteten. Will man die Realität zur Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren (ich glaube, es sind sogar die Unteren! Anm HB) sind mehr wert, als die Ausnahmen; die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben – und das Gesamtziel ist, nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: »besser nicht sein, als sein.« Gegen die Formulierung der Realität zur Moral empöre ich mich: deshalb perhorresziere ich das Christentum mit einem tödlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts, der Tugend, der Göttlichkeit zu geben .... Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als ihn die Schule Darwins lehrt, – nämlich ich sehe überall die obenauf, die übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren. – Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein, um gerade hier falsch zu sehen? Daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt.
Ich sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List im Übergewicht sind, – ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für eine so lange Zeit: diese wäre wieder ein neues Motiv, zu erklären, warum eine zufällige Veränderung derartig stark geworden ist.
Ich finde die »Grausamkeit der Natur«, von der man so viel redet, an einer andern Stelle: sie ist grausam gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles.
In summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantiert, als durch die Präponderanz der mittleren und niederen Typen .... In letzteren ist die große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 462-464

„Der bisherige Mensch – gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft; – alle gestaltenden Kräfte, die auf diesen hinzielen, sind in ihm: und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für das jetzige Individuum, je mehr es zukunftbestimmend ist, Leiden. Dies ist die tiefste Auffassung des Leidens: die gestaltenden Kräfte stoßen sich. – Die Vereinzelung des Individuums darf nicht täuschen – in Wahrheit fließt etwas fort unter den Individuen. Daß es sich einzeln fühlt, ist der mächtigste Stachel im Prozesse selber nach fernsten Zielen hin: sein Suchen für sein Glück ist das Mittel, welches die gestaltenden Kräfte andrerseits zusammenhält und mäßigt, daß sie sich nicht selber zerstören.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 464

„Wir sind mehr als das Individuum: wir sind die ganze Kette noch, mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 464

„Meine Theorie wäre: – daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle andern Affekte nur seine Ausgestaltungen sind; daß es eine bedeutende Aufklärung gibt, an Stelle des individuellen »Glücks« (nach dem jedes Lebende streben soll) zu setzen Macht: »es strebt nach Macht, nach mehr in der Macht«; – Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit – (– es strebt nicht nach Lust: sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht –); daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, daß es keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem gibt. In unsrer Wissenschaft, wo der Begriff Ursache und Wirkung reduziert ist auf das Gleichungs-Verhältnis, mit dem Ehrgeiz, zu beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von Kraft ist, fehlt die treibende Kraft: wir betrachten nur Resultate, wir setzen sie als gleich in Hinsicht auf Inhalt an Kraft ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 465

„Es ist eine bloße Erfahrungssache, daß die Veränderung nicht aufhört: an sich haben wir nicht den geringsten Grund, zu verstehen, daß auf eine Veränderung eine andre folgen müsse. Im Gegenteil: ein erreichter Zustand schiene sich selbst erhalten zu müssen, wenn es nicht ein Vermögen in ihm gäbe, eben nicht sich erhalten zu wollen .... Der Satz des Spinoza von der »Selbsterhaltung« müßte eigentlich der Veränderung einen Halt setzen: aber der Satz ist falsch, das Gegenteil ist wahr. Gerade an allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen, daß es alles tut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 465

„Der Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung, – für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität. Sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen? – und in der kosmischen Ordnung?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 466

„Nicht bloß Konstanz der Energhie: sondern Maximal-Ökonomie des Verbrauchs: so daß das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftzentrum aus die einzige Realität ist, – nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignen, Herr-werden, Mehr-werden, Stärker-werden-wollen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 466

„Daß Wissenschaft möglich ist, das soll uns ein Kausalitäts-Prinzip beweisen? »Aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen« – »Ein permanentes Gesetz der Dinge« – »Eine invariable Ordnung«? – Weil etwas berechenbar ist, ist es deshalb schon notwendig?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 467

„Wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein »Prinzip«, kein »Gesetz«, keine »Ordnung«, sondern es wirken Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 467

„Können wir ein Streben nach Macht annehmen, ohne eine Lust- und Unlust-Empfindung, d.h. ohne ein Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht? Der Mechanismus ist nur eine Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta? Alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Atom, Schwere, Druck und Stoß sind nicht »Tatsachen an sich«, sondern Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen. Das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Akkumulation der Kraft –; alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden. Das Leben, als ein Einzelfall (Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins –) strebt nach einem Maximal-Gefühl von Macht; ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille. (Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 467

„Man kann das, was die Ursache dafür ist, daß es überhaupt Entwicklung gibt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als »werdend« verstehn wollen, noch weniger als geworden. .... Der »Wille zur Macht« kann nicht geworden sein.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 467-468

„Ist »Wille zur Macht« eine Art »Wille« oder identisch mit dem Begriff »Wille«? Heißt es so viel als begehren? oder kommandieren? Ist es der »Wille«, von dem Schopenhauer meint, er sei das »An sich der Dinge«? Mein Satz ist: daß Wille der bisherigen Psychologie eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung ist, daß es diesen Willen gar nicht gibt, daß, statt die Ausgestaltung eines bestimmten Willens in viele Formen zu fassen, man den Charakter des Willens weggestrichen hat, indem man den Inhalt, das Wohin? heraussubtrahiert hat –: das ist im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er »Wille« nennt. Es handelt sich noch weniger um einen »Willen zum Leben«: denn das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur Macht; – es ist ganz willkürlich, zu behaupten, daß alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 468

„Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinal-Tatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oszillationen des Ja und des Nein? – Aber wer fühlt Lust? .... Aber wer will Macht? .... Absurde Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlust-fühlen ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 468-469

„Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist notwendig in jeder Aktion ein Ingrediens von Unlust. Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens und stärkt den Willen zur Macht!
Ders., Der Wille zur Macht, S. 469

„Wenn Lust und Unlust sich auf das Gefühl der Macht beziehen, so müßte Leben ein Wachstum von Macht darstellen, so daß die Differenz des »Mehr« ins Bewußtsein träte .... Ein Niveau von Macht festgehalten, würde sich die Lust nur an Verminderungen des Niveaus zu messen haben, an Unlustzuständen, – nicht an Lustzuständen .... Der Wille zum Mehr liegt im Wesen der Lust: daß die Macht wächst, daß die Differenz ins Bewußtsein tritt. Von einem gewissen Punkte an, bei der décadence, tritt die umgekehrte Differenz ins Bewußtsein, die Abnahme: das Gedächtnis der starken Augenblicke von ehedem drückt die gegenwärtigen Lustgefühle herab, – der Vergleich schwächt jetzt die Lust.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 469

Nicht die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust (: gegen diese oberflächlichste Theorie will ich besonders kämpfen, – die absurde psychologische Falschmünzerei der nächsten Dinge –), sondern daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht. Das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne den Gegner und Widerstand noch nicht satt genug ist. – »Der Glückliche«: Herdenideal.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 469-470

„Die normale Unbefriedigung unsrer Triebe, z. B. des Hungers, des Geschlechtstriebs, des Bewegungstriebs, enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie wirkt vielmehr agazierend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von kleinen, schmerzhaften Reizen es stärkt, was auch die Pessimisten uns vorreden mögen. Diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große Stimulans des Lebens. (Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen als einen Rhythmus kleiner Unlustreize.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 470

„Der Schmerz ist etwas anderes als die Lust, – ich will sagen, er ist nicht deren Gegenteil. Wenn das Wesen der »Lust« zutreffend bezeichnet worden ist als ein Plus-Gefühl von Macht (somit als ein Differenz-Gefühl, das die Vergleichung voraussetzt), so ist damit das Wesen der »Unlust« noch nicht definiert. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich die Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang der Wahrheit gewesen. Es gibt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsen des Machtgefühls, des Lustgefühls erreicht. Dies ist der Fall z. B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des Koitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingrediens der Lust tätig. Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird – dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überschüssiger, überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht. Die Umkehrung, eine Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene Lustreize, fehlt: Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes. Der Schmerz ist ein intellektueller Vorgang, in dem entschieden ein Urteil laut wird, – das Urteil »schädlich«, in dem sich lange Erfahrung aufsummiert hat. An sich gibt es keinen Schmerz. Es ist nicht die Verwundung, die wehtut; es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung für den Gesamt-Organismus sein kann, welche in Gestalt jener tiefen Erschütterung redet, die Unlust heißt (bei schädigenden Einflüssen, welche der älteren Menschheit unbekannt geblieben sind, z. B. von seiten neu kombinierter giftiger Chemikalien, fehlt auch die Aussage des Schmerzes, – und wir sind verloren). Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer die lange Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden Schocks im zerebralen Herde des Nervensystems – man leidet eigentlich nicht an der Ursache des Schmerzes (irgendeiner Verletzung z.B.), sondern an der langen Gleichgewichtsstörung, welche infolge jenes Schocks eintritt. Der Schmerz ist eine Krankheit der zerebralen Nervenherde, – die Lust ist durchaus keine Krankheit. Daß der Schmerz die Ursache ist zu Gegenbewegungen, hat zwar den Augenschein und sogar das Philosophen-Vorurteil für sich; aber in plötzlichen Fällen kommt, wenn man genau beobachtet, die Gegenbewegung ersichtlich früher als die Schmerzempfindung. Es stünde schlimm um mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das Faktum an die Glocke des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu tun ist, zurücktelegraphiert würde. Vielmehr unterscheide ich so deutlich als möglich, daß erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und dann, in einer meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter Welle plötzlich im vordern Kopfe fühlbar wird. Man reagiert also nicht auf den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projiziert in die verwundete Stelle – aber das Wesen dieses Lokal-Schmerzes ist trotzdem nicht der Ausdruck der Art der Lokal-Verwundung; er ist ein bloßes Ortszeichen, dessen Stärke und Tonart der Verwundung gemäß ist, welche die Nerven-Zentren davon empfangen haben. Daß infolge jenes Schocks die Muskelkraft des Organismus meßbar heruntergeht, gibt durchaus noch keinen Anhalt dafür, das Wesen des Schmerzes in einer Verminderung des Machtgefühls zu suchen. Man reagiert, nochmals gesagt, nicht auf den Schmerz: die Unlust ist keine »Ursache« von Handlungen. Der Schmerz selbst ist eine Reaktion, die Gegenbewegung ist eine andre und frühere Reaktion – beide nehmen von verschiedenen Stellen ihren Ausgangspunkt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 470-472

„Intellektualität des Schmerzes: er bezeichnet nicht an sich, was augenblicklich geschädigt ist, sondern welchen Wert die Schädigung hat in Hinsicht auf das allgemeine Individuum. Ob es Schmerzen gibt, in denen »die Gattung« und nicht das Individuum leidet –?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 473

„»Die Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust: folglich wäre das Nichtsein der Welt besser, als deren Sein« – »Die Welt ist etwas, das vernünftigerweise nicht wäre, weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust verursacht« – dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus! Lust und Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werturteile zweiten Ranges, die sich erst ableiten von einem regierenden Wert – ein in Form des Gefühls redendes »nützlich«, »schädlich« und folglich absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem »nützlich«, »schädlich« sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen. Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität: er ist selbst ein Zeichen tiefer Verarmung an Leben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 473

„Der Mensch sucht nicht die Lust und vermeidet nicht die Unlust: man versteht, welchem berühmten Vorurteile ich hiermit widerspreche. Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung – was der Mensch will, was jeder kleinste Teil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus von Macht. Im Streben danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen heraussucht er nach Widerstand, braucht er etwas, das sich entgegenstellt... Die Unlust, als Hemmung seines Willens zur Macht, ist also ein normales Faktum, das normale Ingrediens jedes organischen Geschehens; der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat sie vielmehr fortwährend nötig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus. Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung: das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, das ihm widersteht – nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben: – das, was man »Ernährung« nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden. Die Unlust hat also so wenig notwendig eine Verminderung unsres Machtgefühls zur Folge, daß, in durchschnittlichen Fällen, sie gerade als Reiz auf dieses Machtgefühl wirkt – das Hemmnis ist der stimulus dieses Willens zur Macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 473-474

„Man hat die Unlust verwechselt mit einer Art der Unlust, mit der der Erschöpfung: letztere stellt in der Tat eine tiefe Verminderung und Herabstimmung des Willens zur Macht, eine meßbare Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: es gibt
a) Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und
b) Unlust nach einer Vergeudung von Macht; im erstern Fall ein stimulus, im letztern die Folge einer übermäßigen Reizung.
Die Unfähigkeit zum Widerstand ist der letzteren Unlust zu eigen: die Herausforderung des Widerstehenden gehört zur ersteren .... Die Lust, welche im Zustand der Erschöpfung allein noch empfunden wird, ist das Einschlafen; die Lust im andern Falle ist der Sieg. Die große Verwechslung der Psychologen bestand darin, daß sie diese beiden Lustarten – die des Einschlafens und die des Sieges – nicht auseinanderhielten. Die Erschöpften wollen Ruhe, Gliederausstrecken, Frieden, Stille – es ist das Glück der nihilistischen Religionen und Philosophien; die Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner, Überströmen des Machtgefühls über weitere Bereiche als bisher. Alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies Bedürfnis – und der ganze Organismus ist ein solcher nach Wachstum von Machtgefühlen ringender Komplex von Systemen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 474-475

„Wie kommt es, daß die Grundglaubensartikel in der Psychologie allesamt die ärgsten Verdrehungen und Falschmünzereien sind? »Der Mensch strebt nach Glück« z.B. – was ist daran wahr? Um zu verstehn, was »Leben« ist, welche Art Streben und Spannung Leben ist, muß die Formel so gut von Baum und Pflanze, als vom Tier gelten. »Wonach strebt die Pflanze?« – aber hier haben wir bereits eine falsche Einheit erdichtet, die es nicht gibt: die Tatsache eines millionenfachen Wachstums mit eigenen und halbeigenen Initiativen ist versteckt und verleugnet, wenn wir eine plumpe Einheit »Pflanze« voranstellen. Daß die letzten kleinsten »Individuen« nicht in dem Sinn eines »metaphysischen Individuums« und Atoms verständlich sind, daß ihre Machtsphäre fortwährend sich verschiebt – das ist zuallererst sichtbar: aber strebt ein jedes von ihnen, wenn es sich dergestalt verändert, nach Glück? – Aber alles Sich-ausbreiten, Einverleiben, Wachsen ist ein Anstreben gegen Widerstehendes; Bewegung ist essentiell etwas mit Unlustzuständen Verbundenes: es muß das, was hier treibt, jedenfalls etwas anderes wollen, wenn es dergestalt die Unlust will und fortwährend aufsucht. – Worum kämpfen die Bäume eines Urwaldes miteinander? Um »Glück«? – Um Macht! .... Der Mensch, Herr über die Naturgewalten geworden, Herr über seine eigne Wildheit und Zügellosigkeit (die Begierden haben folgen, haben nützlich sein gelernt) – der Mensch, im Vergleich zu einem Vor-Menschen, stellt ein ungeheures Quantum Macht dar, – nicht ein Plus von »Glück«! Wie kann man behaupten, daß er nach Glück gestrebt habe?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 475-476

„Indem ich dieses sage, sehe ich über mir den ungeheuren Rattenschwanz von Irrtümern unter den Sternen glänzen, der bisher als die höchste Inspiration der Menschheit galt: »alles Glück folgt aus der Tugend, alle Tugend aus dem freien Willen«! Kehren wir die Werte um: alle Tüchtigkeit Folge einer glücklichen Organisation, alle Freiheit Folge der Tüchtigkeit (– Freiheit hier als Leichtigkeit in der Selbstdirektive verstanden. Jeder Künstler versteht mich).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 476

„»Der Wert des Lebens.« – Das Leben ist ein Einzelfall; man muß alles Dasein rechtfertigen und nicht nur das Leben, – das rechtfertigende Prinzip ist ein solches, aus dem sich das Leben erklärt. Das Leben ist nur Mittel zu etwas: es ist der Ausdruck von Wachstumsformen der Macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 476

„Die »bewußte Welt« kann nicht als Wert-Ausgangspunkt gelten: Notwendigkeit einer »objektiven« Wertsetzung. In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinanderarbeitens, wie es das Gesamtleben jedes Organismus darstellt, ist dessen bewußte Welt von Gefühlen, Absichten, Wertschätzungen ein kleiner Ausschnitt. Dies Stück Bewußtsein als Zweck, als Warum? für jenes Gesamt-Phänomen von Leben anzusetzen, fehlt uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewußtwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens. Deshalb ist es eine Naivität, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit oder irgendeine Einzelheit der Sphäre des Bewußtseins als höchsten Wert anzusetzen: und vielleicht gar »die Welt« aus ihnen zu rechtfertigen. Das ist mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen Kosmo- und Theodizeen, gegen alle Warums und höchsten Werte in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie. Eine Art der Mittel ist als Zweck mißverstanden worden: das Leben und seine Machtsteigerung wurde umgekehrt zum Mittel erniedrigt. Wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen; er müßte vielmehr jede noch erklären als Mittel zu sich .... Die »Verneinung des Lebens« als Ziel des Lebens, Ziel der Entwicklung! Das Dasein als große Dummheit! Eine solche Wahnwitz-Interpretation ist nur die Ausgeburt einer Messung des Lebens mit Faktoren des Bewußtseins (Lust und Unlust, Gut und Böse). Hier werden die Mittel geltend gemacht gegen den Zweck – die »unheiligen«, absurden, vor allem unangenehmen Mittel –: wie kann der Zweck etwas taugen, der solche Mittel gebraucht! Aber der Fehler steckt darin, daß wir – statt nach dem Zweck zu suchen, der die Notwendigkeit solcher Mittel erklärt – von vornherein einen Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade ausschließt: d.h. daß wir eine Wünschbarkeit in bezug auf gewisse Mittel (nämlich angenehme, rationelle, tugendhafte) zur Norm nehmen, nach der wir erst ansetzen, welcher Gesamtzweck wünschbar ist .... Der Grundfehler steckt nur darin, daß wir die Bewußtheit – statt sie als Werkzeug und Einzelheit im Gesamt-Leben zu verstehen – als Maßstab, als höchsten Wertzustand des Lebens ansetzen: es ist die fehlerhafte Perspektive des a parte ad totum, – weshalb instinktiv alle Philosophen darauf aus sind, ein Gesamtbewußtsein, ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was geschieht, einen »Geist«, »Gott« zu imaginieren. Man muß ihnen aber sagen, daß eben damit das Dasein zum Monstrum wird; daß ein »Gott« und Gesamtsensorium schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein verurteilt werden müßte .... Gerade daß wir das zweck- und mittelsetzende Gesamtbewußtsein eliminiert haben: das ist unsre große Erleichterung, – damit hören wir auf, Pessimisten sein zu müssen .... Unser größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 477-478

Vom Wert des »Werdens«. – Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie und wissenschaftliche Hypothese (z. B. der Mechanismus), in der ein solcher notwendig wird, ist durch jenes Grundfaktum widerlegt. Ich suche ein Weltkonzeption, welche dieser Tatsache gerecht wird. Das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwertbar: was auf eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die »Notwendigkeit« nicht in Gestalt einer übergreifenden, beherrschenden Gesamtgewalt, oder eines ersten Motors; noch weniger als notwendig, um etwas Wertvolles zu bedingen. Dazu ist nötig, ein Gesamtbewußtsein des Werdens, einen »Gott«, zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: »Gott« ist nutzlos, wenn er nicht etwas will, und andrerseits ist damit eine Summierung von Unlust und Unlogik gesetzt, welche den Gesamtwert des »Werdens« erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summierende Macht (– ein leidender und überschauender Gott, ein »Gesamtsensorium« und »Allgeist« wäre der größte Einwand gegen das Sein). Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen – weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint. Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen); insgleichen: wie alle Werturteile, welche auf der Hypothese ruhen, daß es Seiendes gebe, entwertet sind. Damit aber erkennt man, daß diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist (– die »bessere Welt«, die »wahre Welt«, die »jenseitige Welt«, das »Ding an sich«).
1. Das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein »Sein«.
2. Das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein.
3. Das Werden ist wertgleich in jedem Augenblick: die Summe seines Wertes bleibt sich gleich; anders ausgedrückt: es hat gar keinen Wert, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre und in bezug worauf das Wort »Wert« Sinn hätte. Der Gesamtwert der Welt ist unabwertbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 478-480

„Daß wir nicht unsere »Wünschbarkeiten« zu Richtern über das Sein machen! Daß wir nicht auch Endformen der Entwicklung (z. B. Geist) wieder als ein »An-sich« hinter die Entwicklung placieren!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 480

„Unsre Erkenntnis ist in dem Maße wissenschaftlich geworden, als sie Zahl und Maß anwenden kann. Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werte einfach auf einer Zahl– und Maß-Skala der Kraft aufzubauen wäre .... Alle sonstigen »Werte« sind Vorurteile, Naivitäten, Mißverständnisse. – Sie sind überall reduzierbar auf jene Zahl- und Maß-Skala der Kraft. Das Aufwärts in dieser Skala bedeutet jedes Wachsen an Wert: das Abwärts in dieser Skala bedeutet Verminderung des Wertes. Hier hat man den Schein und das Vorurteil wider sich. (Die Moralwerte sind ja nur Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 480

„Wo der Gesichtspunkt »Wert« unzulässig: – Daß im »Prozeß des Ganzen« die Arbeit der Menschheit nicht in Betracht kommt, weil es einen Gesamtprozeß (diesen als System gedacht –) gar nicht gibt; daß es kein »Ganzes« gibt; daß alle Abwertung des menschlichen Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden kann, das gar nicht existiert; daß die »Notwendigkeit«, die »Ursächlichkeit«, »Zweckmäßigkeit« nützliche Scheinbarkeiten sind; daß nicht »Vermehrung des Bewußtseins« das Ziel ist, sondern Steigerung der Macht: in welche Steigerung die Nützlichkeit des Bewußtseins eingerechnet ist; ebenso verhält es sich mit Lust und Unlust; daß man nicht die Mittel zum obersten Wertmaß nimmt (also nicht Zustände des Bewußtseins, wie Lust und Schmerz, wenn das Bewußtwerden selbst nur ein Mittel ist –); daß die Welt durchaus kein Organismus ist, sondern das Chaos: daß die Entwicklung der »Geistigkeit« nur Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist; daß alle »Wünschbarkeit« keinen Sinn hat in bezug auf den Gesamtcharakter des Seins.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 481

„»Gott« als Kulminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung. Aber darin kein Wert-Höhepunkt, sondern ein Macht-Höhepunkt. Absoluter Ausschluß des Mechanismus und des Stoffs: beides nur Ausdrucksformen niedriger Stufen, die entgeistigtste Form des Affekts (des »Willens zur Macht«). Der Rückgang vom Höhepunkt im Werden (der höchsten Vergeistigung der Macht auf dem sklavenhaftesten Grunde) als Folge dieser höchsten Kraft darzustellen, welche, gegen sich sich wendend, nachdem sie nichts mehr zu organisieren hat, ihre Kraft verwendet zu desorganisieren ....
a) Die immer größere Besiegung der Sozietäten und Unterjochung derselben unter eine kleinere, aber stärkere Zahl;
b) die immer größere Besiegung der Bevorrechteten und Stärkeren und folglich Heraufkunft der Demokratie, endlich Anarchie der Elemente“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 482

Wert ist das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag – der Mensch: nicht die Menschheit! Die Menschheit ist viel eher noch ein Mittel, als ein Ziel. Es handelt sich um den Typus: die Menschheit ist bloß das Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß des Mißratenen: ein Trümmerfeld.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 470

„Der Gesichtspunkt des »Werts« ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens. Es gibt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist »das Seiende« erst von uns hineingelegt (aus praktischen, nützlichen, perspektivischen Gründen). »Herrschaftsgebilde«; die Sphäre des Beherrschenden fortwährend wachsend oder unter der Gunst und Ungunst der Umstände (der Ernährung –) periodisch abnehmend, zunehmend. »Wert« ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren (»Vielheiten« jedenfalls; aber die »Einheit« ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden). Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das »Werden« auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von »Dingen« usw. zu setzen. Relativ dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist .... Es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 482-483

„Grundsatz: nur Einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten sind erfunden, um Dinge zu tun, zu denen der Einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal aufrichtiger und belehrender über das Wesen des Menschen als das Individuum, welches zu schwach ist, um den Mut zu seinen Begierden zu haben .... Der ganze »Altruismus« ergibt sich als Privatmann-Klugheit: die Gesellschaften sind nicht »altruistisch« gegeneinander... Das Gebot der Nächstenliebe ist noch niemals zu einem Gebot der Nachbar- Liebe erweitert worden. Vielmehr gilt da noch, was bei Manu steht: »Alle uns angrenzenden Reiche, ebenso deren Verbündete, müssen wir als uns feindlich denken. Aus demselben Grunde hinwiederum müssen uns deren Nachbarn als uns freundlich gesinnt gelten.« Das Studium der Gesellschaft ist deshalb so unschätzbar, weil der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist als der Mensch als »Einheit«. Die »Gesellschaft« hat die Tugend nie anders angesehen als als Mittel der Stärke, der Macht, der Ordnung. Wie einfältig und würdig sagt es Manu: »Aus eigner Kraft würde die Tugend sich schwerlich behaupten können. Im Grunde ist es nur die Furcht vor Strafe, was die Menschen in Schranken hält und jeden im ruhigen Besitz des Seinen läßt.«“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 484-485

„Der Staat oder die organisierte Unmoralitätinwendig: als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig: als Wille zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache. Wie wird es erreicht, daß eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? – Durch Zerteilung der Verantwortlichkeit, des Befehlens und der Ausführung. Durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands-und Fürstenliebe. Durch Aufrechterhaltung des Stolzes, der Strenge, der Stärke, des Hasses, der Rache – kurz aller typischen Züge, welche dem Herdentypus widersprechen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 485

„Ihr habt alle nicht den Mut, einen Menschen zu töten, oder auch nur zu peitschen, oder auch nur zu –, aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt den einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für das, was er tut, ablehnt (Gehorsam, Eid usw.). – Alles, was ein Mensch im Dienste des Staates tut, geht wider seine Natur; – insgleichen alles, was er in Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staate lernt, geht wider seine Natur. Das wird erreicht durch die Arbeitsteilung (so daß niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat): der Gesetzgeber – und der, der das Gesetz ausführt; der Disziplin-Lehrer – und die, welche in der Disziplin hart und streng geworden sind.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 485-486

„Eine Arbeitsteilung der Affekte innerhalb der Gesellschaft: so daß die Einzelnen und die Stände die unvollständige, aber eben damit nützlichere Art von Seele heranzüchten. Inwiefern bei jedem Typus innerhalb der Gesellschaft einige Affekte fast rudimentär geworden sind (auf die stärkere Ausbildung eines andern Affekts hin). Zur Rechtfertigung der Moral: die ökonomische (die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft gegen die Verschwendung alles Ausnahmsweisen); die ästhetische (die Ausgestaltung fester Typen samt der Lust am eignen Typus); die politische (als Kunst, die schweren Spannungsverhältnisse von verschiedenen Machtgraden auszuhalten); die psychologische (als imaginäres Übergewicht der Schätzung zugunsten derer, die schlecht oder mittelmäßig weggekommen sind – zur Erhaltung der Schwachen).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 486

„Das furchtbarste und gründlichste Verlangen des Menschen, sein Trieb nach Macht – man nennt diesen Trieb »Freiheit« – muß am längsten in Schranken gehalten werden. Deshalb ist die Ethik bisher, mit ihren unbewußten Erziehungs- und Züchtungs-Instinkten, darauf aus gewesen, das Macht-Gelüst in Schranken zu halten: sie verunglimpft das tyrannische Individuum und unterstreicht, mit ihrer Verherrlichung der Gemeindefürsorge und der Vaterlandsliebe, den Herden-Machtinstinkt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 486

„Das Unvermögen zur Macht: seine Hypokrisie und Klugheit: als Gehorsam (Einordnung, Pflicht-Stolz, Sittlichkeit...); als Ergebung, Hingebung, Liebe (Idealisierung, Vergötterung des Befehlenden als Schadenersatz und indirekte Selbstverklärung); als Fatalismus, Resignation; als »Objektivität«; als Selbsttyrannisierung (Stoizismus, Askese, »Enselbstung«, »Heiligung«), als Kritik, Pessimismus, Entrüstung, Quälgeisterei; als »schöne Seele«, »Tugend«, »Selbstvergötterung«, »Abseits«, »Reinheit von der Welt« usw. (– die Einsicht in das Unvermögen zur Macht sich als dédain verkleidend). Überall drückt sich das Bedürfnis aus, irgendeine Macht doch noch auszuüben, oder sich selbst den Anschein von Macht zeitweilig zu schaffen – als Rausch. Die Menschen, welche die Macht wollen um der Glücks-Vorteile willen, die die Macht gewährt: politische Parteien. Andre Menschen, welche die Macht wollen, selbst mit sichtbaren Nachteilen und Opfern an Glück und Wohlbefinden: die Ambitiösen. Andre Menschen, welche die Macht wollen, bloß weil sie sonst in andre Hände fiele, von denen sie nicht abhängig sein wollen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 487

„Kritik der »Gerechtigkeit« und »Gleichheit vor dem Gesetz«: was eigentlich damit wegschafft werden soll? Die Spannung, die Feindschaft, der Haß. – Aber ein Irrtum ist es, daß dergestalt »das Glück« gemehrt wird: die Korsen z. B. genießen mehr Glück als die Kontinentalen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 487

„Die Gegenseitigkeit, die Hinterabsicht auf Bezahlt-werden-wollen: eine der verfänglichsten Formen der Wert-Erniedrigung des Menschen. Sie bringt jene »Gleichheit« mit sich, welche die Kluft der Distanz als unmoralisch abwertet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 487-488

„Was »nützlich« heißt, ist ganz und gar abhängig von der Absicht, dem Wozu?; dieAbsicht, das »Ziel« wieder ist ganz und gar abhängig vom Grad der Macht. Deshalb ist Utilitarismus keine Grundlage, sondern nur eine Folgen-Lehre und absolut zu keiner Verbindlichkeit für alle zu bringen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 488

„Erstmals hatte man die Theorie vom Staat als einer berechnenden Nützlichkeit: jetzt hat man die Praxis dazu! – Die Zeit der Könige ist vorbei, weil die Völker ihrer nicht mehr würdig sind: sie wollen nicht das Urbild ihres Ideals im König sehn, sondern ein Mittel ihres Nutzens. – Das ist die ganze Wahrheit!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 488

„Moral wesentlich als Wehr, als Verteidigungsmittel; insofern ein Zeichen des unausgewachsenen Menschen (verpanzert; stoisch). Der ausgewachsene Mensch hat vor allem Waffen: er ist angreifend. Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt (aus Schuppen und Platten Federn und Haare).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 489

„Es gehört zum Begriff des Lebendigen, daß es wachsen muß – daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen muß. Man redet, unter der Benebelung durch die Moral-Narkose, von einem Recht des Individuums, sich zu verteidigen; im gleichen Sinne dürfte man auch von seinem Rechte anzugreifen reden: denn beides – und das zweite noch mehr als das erste – sind Nezessitäten für jedes Lebendige – der aggressive und der defensive Egoismus sind nicht Sache der Wahl oder gar des »freien Willens«, sondern die Fatalität des Lebens selbst. Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper, eine aufwärtsstrebende »Gesellschaft« ins Auge faßt. Das Recht zur Strafe (oder die gesellschaftliche Selbstverteidigung) ist im Grunde nur durch einen Mißbrauch zum Worte »Recht« gelangt: ein Recht wird durch Verträge erworben – aber das Sich-wehren und Sich-verteidigen ruht nicht auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit ebensoviel gutem Sinn sein Eroberungsbedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waffen, sei es durch Handel, Verkehr und Kolonisation, als Recht bezeichnen – Wachstums-Recht etwa. Eine Gesellschaft, die, endgültig und ihrem Instinkt nach, den Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie und Krämerregiment... In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen bloße Betäubungsmittel.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 489-490

„Die Aufrechterhaltung des Militär-Staates ist das allerletzte Mittel, die große Tradition sei es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des obersten Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen (z. B. Nationalismus, Schutzzoll).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 490

„Damit etwas bestehn soll, das länger ist als ein einzelner, damit also ein Werk bestehn bleibt, das vielleicht ein einzelner geschaffen hat: dazu muß dem einzelnen alle mögliche Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw. auferlegt werden. Mit welchem Mittel? Die Liebe, Verehrung, Dankbarkeit gegen die Person, die das Werk schuf, ist eine Erleichterung: oder daß unsere Vorfahren es erkämpft haben: oder daß meine Nachkommen nur so garantiert sind, wenn ich jenes Werk (z.B. die poliV) garantiere. Moral ist wesentlich das Mittel, über die einzelnen hinweg oder vielmehr durch eine Versklavung der einzelnen etwas zur Dauer zu bringen. Es versteht sich, daß die Perspektive von unten nach oben ganz andere Ausdrücke geben wird als die von oben nach unten. Ein Macht-Komplex: wie wird er erhalten? Dadurch, daß viele Geschlechter ihm sich opfern.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 490-491

Das Kontinuum: »Ehe, Eigentum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat« sind Kontinuen niederer und höherer Ordnung. Die Ökonomik derselben besteht in dem Überschusse der Vorteile der ununterbrochenen Arbeit, sowie der Vervielfachung über die Nachteile: die größeren Kosten der Auswechslung der Teile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung der wirkenden Teile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung.) Der Vorteil besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden Verluste gespart werden. Nichts ist kostspieliger als ein Anfang. »Je größer die Daseinsvorteile, desto größer auch die Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe zugrunde zu gehen.«“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 491

„Bei den Ehen im bürgerlichen Sinne des Wortes, wohlverstanden im achtbartsen Sinne des Wortes »Ehe«, handelt es sich ganz und gar nicht um Liebe, ebensowenig, als es sich dabei um Geld handelt – aus der Liebe läßt sich keine Institution machen –: sondern um die gesellschaftliche Erlaubnis, die zwei Personen zur Geschlechtsbefriedigung aneinander erteilt wird, unter Bedingungen, wie sich von selbst versteht, aber solchen, welche das Interesse der Gesellschaft im Auge haben. Daß einiges Wohlgefallen der Beteiligten und sehr viel guter Wille – Wille zur Geduld, Verträglichkeit, Fürsorge füreinander – – zu den Voraussetzungen eines solchen Vertrags gehören wird, liegt auf der Hand; aber das Wort Liebe sollte man dafür nicht mißbrauchen! Für zwei Liebende im ganzen und starken Sinn des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung nichts Wesentliches und eigentlich nur ein Symbol: für den einen Teil, wie gesagt, Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung. – Bei der Ehe im adeligen, altadeligen Sinne des Wortes handelte es sich um Züchtung einer Rasse (gibt es heute noch Adel? Quaeritur) – also um Aufrechterhaltung eines festen, bestimmten Typus herrschender Menschen: diesem Gesichtspunkt wurde Mann und Weib geopfert. Es versteht sich, daß hier bei nicht Liebe das erste Erfordernis war, im Gegenteil! und noch nicht einmal jenes Maß von gutem Willen füreinander, welches die gute bürgerliche Ehe bedingt. Das Interesse eines Geschlechts zunächst entschied, und über ihm – der Stand. Wir würden vor der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs, wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen wie noch im Europa des 18. Jahrhunderts, ein wenig frösteln, wir warmblütigen Tiere mit kitzlichem Herzen, wir »Modernen«! Eben deshalb ist die Liebe als Passion – nach dem großen Verstande des Wortes – für die aristokratische Welt erfunden worden und in ihr: da, wo der Zwang, die Entbehrung eben am größten waren.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 491-492

„Zur Zukunft der Ehe: – eine Steuer-Mehrbelastung (bei Erbschaften), auch Kriegsdienst-Mehrbelastung der Junggesellen von einem bestimmten Alter an und anwachsend (innerhalb der Gemeinde); Vorteile aller Art für Väter, welche reichlich Knaben in die Welt setzen: unter Umständen eine Mehrheit von Stimmen; ein ärztliches Protokoll, jeder Ehe vorangehend und von den Gemeinde-Vorständen unterzeichnet: worin mehrere bestimmte Fragen seitens der Verlobten und der Ärzte beantwortet sein müssen (»Familien-Geschichte« –); als Gegenmittel gegen die Prostitution (oder als deren Veredelung): Ehen auf Frist, legalisiert (auf Jahre, auf Monate), mit Garantie für die Kinder; jede Ehe verantwortet und befürwortet durch eine bestimmte Anzahl Vertrauensmänner einer Gemeinde: als Gemeinde-Angelegenheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 492-493

Auch ein Gebot der Menschenliebe. – Es gibt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu tun? – Solche zur Keuschheit ermutigen, etwa mit Hilfe von Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden: Parsifal selbst, dieser typische Idiot, hatte nur zu viel Gründe, sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand ist, daß eine gewisse Unfähigkeit, sich zu »beherrschen« (– auf Reize, auf noch so kleine Geschlechtsreize nicht zu reagieren), gerade zu den regelmäßigsten Folgen der Gesamt-Erschöpfung gehört. .... Der Priester, der Moralist spielen da ein verlorenes Spiel; besser tut man noch, in die Apotheke zu schicken. Zuletzt hat hier die Gesellschaft eine Pflicht zu erfüllen: es gibt wenige dergestalt dringliche und grundsätzliche Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten – sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Kastrationen in Bereitschaft halten. – Das Bibel-Verbot »du sollst nicht töten!« ist eine Naivität im Vergleich zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: »ihr sollt nicht zeugen!«... Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein »gleiches Recht« zwischen gesunden und entartenden Teilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden – oder das Ganze geht zugrunde. – Mitleiden mit den décadents, gleiche Rechte auch für die Mißratenen – das wäre die tiefste Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als Moral!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 494-494

„Wir lernen in unsrer zivilisierten Welt fast nur den ... Verbrecher kennen ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 494

„Inmitten unsrer späten Kultur ist die Fatalität und die Degenereszenz etwas, das vollkommen den Sinn von Lohn und Strafe aufhebt .... Es setzt junge, starke, kräftige Rassen voraus, dieses wirkliche Bestimmen der Handlung durch Lohn- und Straf-Aussicht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 495

„Man vermag nur solche Menschen in die Höhe zu bringen, die man nicht mi Verachtung behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgendein Verbrechen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 498

„Ja, die Philosophie des rechts. Das ist eine Wissenschaft, welche wie alle moralische Wissenschaft noch nicht einmal in der Windel liegt!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 500

„Ein alter Chinese sagte, er habe gehört, wenn Reiche zugrunde gehn sollen, so hätten sie viele Gesetze.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 500

„Schopenhauer wünscht, daß man die Schurken kastriert und die Gänse ins Kloster sperrt: von welchem Gesichtspunkte aus könnte das wünschbar sein? Der Schurke hat das vor vielen Menschen voraus, daß er nicht mittelmäßig ist; und der Dumme das vor uns, daß er nicht am Anblick der Mittelmäßigkeit leidet. Wünschbarer wäre es, daß die Kluft größer würde, also die Schurkerei und die Dummheit wüchse. Dergestalt erweiterte sich die menschliche Natur .... Aber zuletzt ist eben das auch das Notwendige; es geschieht und wartet nicht darauf, ob wir es wünschen oder nicht. Die Dummheit, die Schurkerei wachsen: das gehört zum »Fortschritt«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 500-501

„Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europas soll nicht mehr lange dauern! Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt, wo alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? Und das in einem Zustande, wo die geistige Unselbständigkeit und Entnationalisierung in die Augen springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchtender eigentliche Wert und Sinn der jetzigen Kultur liegt! .... Und das »neue Reich«, wieder auf den verbrauchtesten und bestverachteten Gedanken gegründet: die Gleichheit der Rechte und der Stimmen. Das Ringen um einen Vorrang innerhalb eines Zustandes, der nichts taugt; diese Kultur der Großstädte, der Zeitungen, des Fiebers und der »Zwecklosigkeit« –! Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit – und ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei .... Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen; verbietet, sich der Gerichte zu bedienen; welche den Kampf, den Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört: eine Partei der Unterdrückten, wenigstens für eine Zeit; alsbald die große Partei. Gegnerisch gegen die Rach– und Nachgefühle. Eine Kriegspartei, mit der gleichen Grundsätzlichkeit und Strenge gegen sich, in umgekehrter Richtung vorgehend –.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 502-503

„Die verfaulten herrschenden Stände haben das Bild des Herrschenden verdorben. Der »Staat«, als Hericht übend, ist eine Feigheit, weil der große Mensch fehlt, an dem gemessen werden kann. Zuletzt wird die Unsicherheit so groß, daß die Menschen vor jeder Willenskraft, die befiehlt, in den Staub fallen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 503

„»Der Wille zur Macht« wird in demokratischen Zeitaltern dermaßen gehaßt, daß deren ganze Psychologie auf seine Verkleinerung und Verleumdung gerichtet scheint. Der Typus des großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein! Und Cäsar! und Alexander! – Als ob das nicht gerade die größten Verächter der Ehre wären! Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach Macht strebt, um die Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehn – er versteht dieses Streben nach Macht als Willen zum Genuß! als Hedonismus!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 503-504

„Ich bin abgeneigt
1. dem Sozialismus, weil er ganz naiv vom »Guten, Wahren, Schönen« und von »gleichen Rechten« träumt (auch der Anarchismus wll, nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal!);
2. dem Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil das die Mittel sind, wodurch das Herdentier sich zum Hernn macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 504

„Die Bewaffnung des Volkes – ist schließlich die Bewaffnung des Pöbels.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 504

„Wie mir die Sozialisten lächerlich sind mit ihrem albernen Optimismus vom »guten Menschen«, der hinter dem Busche wartet, wenn man nur erst die bisherige »Ordnung« abgeschafft hat und alle »natürlichen Triebe« losläßt. Und die Gegenpartei ist ebenso lächerlich, weil sie die Gewalttat in dem Gesetz, die Härte und den Egoismus in jeder Art Autorität nicht zugesteht. »,Ich und meine Art' will herrschen und übrigbleiben: wer entartet, wird ausgestoßen oder vernichtet« – ist Grundgefühl jeder alten Gesetzgebung. Man haßt die Vorstellung einer höheren Art Menschen mehr als die Monarchen. Anti-aristokratisch: das nimmt den Monarchenhaß nur als Maske.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 505

„Wie verräterisch sind alle Parteien! – sie bringen etwas von ihren Führern ans Licht, das von ihnen vielleicht mit großer Kunst unter den Scheffel gestellt ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 505

„Der moderne Sozialismus will die weltliche Nebenform des Jesuitismus schaffen: jeder absolutes Werkzeug. Aber der Zweck, das Wozu? ist nicht aufgefunden bisher.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 505

„Die Sklaverei in der Gegenwart: eine Barbarei! Wo sind die, für welche sie arbeiten? Man muß nicht immer Gleichzeitigkeit der beiden sich komplementierenden Kasten erwarten. Der Nutzen und das Vergnügen sind Sklaven-Theorien vom Leben: der »Segen der Arbeit« ist eine Verherrlichung ihrer selber. – Unfähigkeit zum otium.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 505

„Man hat kein Recht weder auf Dasein, noch auf Arbeit, noch gar auf »Glück«: es steht mit dem einzelnen Menschen nicht anders, als mit dem niedrigsten Wurm.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 506

„Die europäische Demokratie ist zum kleinsten Teil eine Entfesselung von Kräften. Vor allem ist sie eine Entfesselung von Faulheiten, von Müdigkeiten, von Schwächen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 506

„Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte. Dieser Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung, vor allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet ist. Soweit auch nur der Mensch gedacht hat, so weit hat er den Bazillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er jedes So-und-so-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte. Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnisvollste Fälschung in der bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe. Es war die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte. Die Urheber jener Psychologie – der Willens-Psychologie – hat man in den Ständen zu suchen, welche das Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester an der Spitze der ältesten Gemeinwesen: diese wollten sich ein Recht schaffen, Rache zu nehmen – sie wollten Gott ein Recht zur Rache schaffen. Zu diesem Zwecke wurde der Mensch »frei« gedacht; zu diesem Zwecke mußte jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein liegend gedacht werden. Aber mit diesen Sätzen ist die alte Psychologie widerlegt. Heute, wo Europa in die umgekehrte Bewegung eingetreten scheint, wo wir Halkyonier zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der Welt wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen, wo unser größter Ernst darauf aus ist, die Psychologie, die Moral, die Geschichte, die Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen, Gott selbst von diesem Schmutze zu reinigen, – in wem müssen wir unsre natürlichsten Antagonisten sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments, in jenen Entrüstungs-Pessimisten par excelence, welche eine Mission daraus machen, ihren Schmutz unter dem Namen »Entrüstung« zu heiligen... Wir anderen, die wir dem Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen, möchten die Missionare eines reinlicheren Gedankens sein: daß niemand dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst, – daß niemand schuld an ihm ist .... Es fehlt ein Wesen, das dafür verantwortlich gemacht werden könnte, daß jemand überhaupt da ist, daß jemand so und so ist, daß jemand unter diesen Umständen, in dieser Umgebung geboren ist. – Es ist ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt .... Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein »Ideal von Vollkommenheit« oder ein »Ideal von Glück« oder ein »Ideal von Tugend« zu erreichen – wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber angst werden müßte (mit welchem Gedanken bekanntlich das Alte Testament beginnt). Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: niemand könnte es: man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen! Warum nicht? – Aus fünf Gründen, allesamt selbst bescheidenen Intelligenzen zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts gibt außer dem Ganzen .... Und nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld alles Daseins.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 509-511

„Welcher Grad von Widerstand beständig überwunden werden muß, um obenauf zu bleiben, das ist das Maß der Freiheit, sei es für einzelne, sei es für Gesellschaften: Freiheit nämlich als positive Macht, als Wille zur Macht angesetzt. Die höchste Form der Individual-Freiheit, der Souveränität wüchse demnach, mit großer Wahrscheinlichkeit, nicht fünf Schritt weit von ihrem Gegensatze auf, dort wo die Gefahr der Sklaverei gleich hundert Damoklesschwertern über dem Dasein hängt. Man gehe daraufhin durch die Geschichte: die Zeiten, wo das »Individuum« bis zu jener Vollkommenheit reif, das heißt frei wird, wo der klassische Typus des souveränen Menschen erreicht ist: o nein! das waren niemals humane Zeiten!
Man muß keine Wahl haben: entweder obenauf – oder unten, wie ein Wurm, verhöhnt, vernichtet, zertreten. Man muß Tyrannen gegen sich haben, um Tyrann, d. h. frei zu werden. Es ist kein kleiner Vorteil, hundert Damoklesschwerter über sich zu haben: damit lernt man tanzen, damit kommt man zur »Freiheit der Bewegung«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 512-513

„Scheinbar entgegengesetzt die zwei Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das Individualisti sche und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit – diese fordert, bei ihrem Bewußtsein wie schnell sie leidet, daß jeder andere ihm gleichgestellt gelte, daß er nur inter pares sei. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisiert, in welcher tatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehn. Der Stolz, welcher Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständnis; die ganz »großen« Erfolge gibt es nur durch Massen, ja man begreift es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg ist: weil pulchrum est paucorum hominum. Alle Moralen wissen nichts von »Rangordnung« der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeinde-Gewissen. Das Individual-Prinzip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt, unter ungefähr gleichen, das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines Talentes; und weil jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und zivilisierten Kulturen – also erwarten kann, sein Teil Ehre zurückzubekommen –, deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals noch: es gibt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit. Seine Unbilligkeit besteht in einer Wut ohne Grenzen nicht gegen die Tyrannen und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die vornehmen Menschen, welche das Lob der vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte (z. B. über alles und jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist anti-aristokratisch. Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter); oder »Stadt-sein« wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches Offiziers-Korps und Beamtentum; oder Schüler-sein und Fortsetzer großer Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der kleinen Eitelkeit nötig ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 521-522

„Der Individualismus ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des »Willens zur Macht«; hier scheint es dem einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft (sei es des Staates oder der Kirche). Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als einzelner; er vertritt alle einzelnen gegen die Gesamtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit jedem einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit.
Der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesamtaktion organisieren muß, zu einer »Macht«. Aber was er will, ist nicht die Sozietät als Zweck des einzelnen, sondern die Sozietät als Mittel zur Ermöglichung vieler einzelnen: – das ist der Instinkt der Sozialisten, über den sie sich häufig betrügen (– abgesehen, daß sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen). Die altruistische Moral-Predigt im Dienste des Individual-Egoismus: eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Sozialismus; mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu faszinieren und zu terrorisieren: vor allem – er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geistigsten.
Trotz alledem: der Individualismus ist die bescheidenste Stufe des Willens zur Macht.
Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seinesgleichen – er hebt andere von sich ab. Auf den Individualismus folgt die Glieder– und Organbildung: die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht betätigend: zwischen diesen Machtzentren Reibung, Krieg, Erkenntnis beiderseitiger Kräfte, Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen. Am Schluß: eine Rangordnung.
Rekapitulation:
1. Die Individuen machen sich frei;
2. sie treten in Kampf, sie kommen über »Gleichheit der Rechte« überein (– »Gerechtigkeit« als Ziel –);
3. ist das erreicht, so treten die tatsächlichen Ungleichheiten der Kraft in eine vergrößerte Wirkung (weil im großen ganzen der Friede herrscht und viele kleine Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die früher fast gleich null waren). Jetzt organisieren sich die Einzelnen zu Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht. Der Kampf, in milderer Form, tobt von neuem.
Man will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man »Gerechtigkeit«, d.h. gleiche Macht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 522-524

Berichtigung des Begriffs »Egoismus«. – Hat man begriffen, inwiefern »Individuum« ein Irrtum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in gerader Linie ist (nicht bloß »vererbt«, sondern er selbst –), so hat das Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung. Der Instinkt redet darin ganz richtig. Wo dieser Instinkt nachläßt, – wo das Individuum sich einen Wert erst im Dienst für andere sucht, kann man sicher auf Ermüdung und Entartung schließen. Der Altruismus der Gesinnung, gründlich und ohne Tartüfferie, ist ein Instinkt dafür, sich wenigstens einen zweiten Wert zu schaffen, im Dienste anderer Egoismen. Meistens aber ist er nur scheinbar: ein Umweg zur Erhaltung des eigenen Lebensgefühls, Wertgefühls.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 524

„Geschichte der Vermoralisierung und Entmoralisierung
Erster Satz: Es gilt gar keine moralischen Handlungen: sie sind vollkommen eingebildet. Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind (was z. B. Kant zugab und das Christentum insgleichen), – sondern sie sind gar nicht möglich. Man hat einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden, durch ein psychologisches Mißverständnis, und glaubt eine andere Art von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingiert, das gar nicht existiert. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz »moralisch« und »unmoralisch« aufgebracht hat, muß man sagen: es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen.
Zweiter Satz: Diese ganze Unterscheidung »moralisch« und »unmoralisch« geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen Akte der freien Spontaneität seien – kurz, daß es eine solche gebe, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurteilung überhaupt sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen beziehe, die freien. Aber diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär: die Welt, an welche der moralische Maßstab allein anlegbar ist, existiert gar nicht – es gibt weder moralische noch unmoralische Handlungen.
Der psychologische Irrtum, aus dem der Gegensatz-Begriff »moralisch« und »unmoralisch« entstanden ist: »selbstlos«, »unegoistisch«, »selbstverleugnend« – alles unreal, fingiert. Fehlerhafter Dogmatismus in betreff des »ego«: dasselbe als atomistisch genommen, in einem falschen Gegensatz zum »Nicht-Ich«; insgleichen aus dem Werden herausgelöst, als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisierung des Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht. Nach dieser künstlichen Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung des ego hatte man einen Wert-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien: das Einzel-ego und das ungeheure Nicht-Ich. Es schien handgreiflich, daß der Wert des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure »Nicht-Ich« zu beziehen resp. sich ihm unterzuordnen und um seinet-willen zu existieren. – Hier waren die Herden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber, das ego ist begriffen als ein An-und-für-sich, so muß sein Wert in der Selbstverneinung liegen. Also:
1. die falsche Verselbständigung des »Individuums«, als Atom;
2. die Herden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen perhorresziert und als feindlich empfindet;
3. als Folgerung: Überwindung des Individuums durch Verlegung seines Ziels;
4. nun schien es Handlungen zu geben, welche selbstverneinend waren: man phantasierte um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum;
5. man fragte: in welchen Handlungen bejaht sich der Mensch am stärksten? Um diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man glaubte, daß es unselbstische Triebe gibt, man verwarf alle selbstischen, man verlangte die unselbstischen;
6. Folge davon: was hatte man getan? Man hatte die stärksten, natürlichsten, mehr noch, die einzig realen Triebe in Bann getan, – man mußte, um eine Handlung fürderhin lobenswert zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher Triebe leugnenungeheure Fälscherei in psychologicis. Selbst jede Art »Selbstzufriedenheit« hatte sich erst dadurch wieder möglich zu machen, daß man sich sub specie boni mißverstand und zurechtlegte. Umgekehrt: jene Spezies, wel che ihren Vorteil davon hatte, dem Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen (die Repräsentanten des Herden-Instinkts, z. B. die Priester und Philosophen), wurde fein und psychologisch-scharfsichtig, zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß: »Alles ist Sünde; auch unsre Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des Menschen. Die selbstlose Handlung ist nicht möglich.« Erbsünde. Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig, Handlungen zu tun, welche »gut« sind.
NB. Das Christentum bezeichnet damit einen Fortschritt in der psychologischen Verschärfung des Blicks: Larochefoucauld und Pascal. Es begriff die Wesensgleichheit der menschlichen Handlungen und ihre Wert-Gleichheit in der Hauptsache (– alle unmoralisch).
Nun machte man Ernst, Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getötet ist – die Priester, die Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit, »vollkommen« zu werden, man zweifelte nicht, zu wissen, was vollkommen ist. Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des »guten Menschen« mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die wirklichen Motive des Handelns für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen, die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam heiligen. Mit derselben Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt und veridealisiert. Das Wüten gegen die Instinkte des Lebens als »heilig«, verehrungswürdig. Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute Armut: priesterliches Ideal. Almosen, Mitleiden, Aufopferung, Verleugnung des Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit, moroser Blick für alle starken Qualitäten, die man hat: Laien-Ideal. Man kommt vorwärts: die verleumdeten Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z. B. Luthers Reformation: gröbste Form der moralischen Verlogenheit unter der »Freiheit des Evangeliums«), – man tauft sie um auf heilige Namen; die verleumdeten Instinkte suchen sich als notwendig zu beweisen, damit die tugendhaften überhaupt möglich sind; man muß vivre, pour vivre pour autrui: Egoismus als Mittel zum Zweck; man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als auch den altruistischen Regungen ein Existenz-Recht zu geben: Gleichheit der Rechte für die einen wie für die andern (vom Gesichtspunkt des Nutzens); man geht weiter, man sucht die höhere Nützlichkeit in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes gegenüber dem altruistischen: nützlicher in Hinsicht auf das Glück der meisten oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht an Rechten des Egoismus, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive (»Gesamt-Nutzen der Menschheit«); man sucht die altruistische Handlungsweise mit der Natürlichkeit zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man sucht das Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im Wesen des Lebens und der Natur; man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes in irgendeiner Zukunft, wo, durch fortgesetzte Anpassung, das Egoistische auch zugleich das Altruistische ist; endlich, man begreift, daß die altruistischen Handlungen nur eine Spezies der egoistischen sind – und daß der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein Beweis ist für den Grad einer individuellen Macht und Personalität. Kurz, daß man, indem man den Menschen böser macht, ihn besser macht – und daß man das eine nicht ohne das andere ist... Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren Fälschung der Psychologie des bisherigen Menschen.
Folgerungen: es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen; – die sogenannten moralischen sind also als Unmoralitäten nachzuweisen. Die Ableitung aller Affekte aus dem einen Willen zur Macht: wesensgleich. Der Begriff des Lebens: – es drücken sich in dem anscheinenden Gegensatze (von »gut und böse«) Machtgrade von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden. – Rechtfertigung der Moral: ökonomisch usw..
Gegen den zweiten Satz. Der Determinismus: Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch daß man sie transloziert – ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur ein modus, unsre Wertschätzungen eskamotieren zu dürfen, nachdem sie in der mechanistisch-gedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb den Determinismus angreifen und unterminieren: insgleichen unser Recht zu einer Scheidung einer An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 524-529

„Ist man über das »Warum?« seines Lebens mit sich im reinen, so gibt man dessen »Wie?« leichten Kaufs dahin. Es ist selbst schon ein Zeichen von Unglauben an Warum, an Zweck und Sinn, ein Mangel an Willen, wenn der Wert von Lust und Unlust in den Vordergrund tritt und hedonistisch-pessimistische Lehren Gehör finden; und Entsagung, Resignation, Tugend, »Objektivität« können zum mindesten schon Zeichen davon sein, daß es an der Hauptsache zu mangeln beginnt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 531

„Deutschland, welches reich ist an geschickten und wohlunterrichteten Gelehrten, ermangelt in einem solchen Maße seit langer Zeit der großen Seelen, der mächtigen Geister, daß es verlernt zu haben scheint, was eine große Seele, was ein mächtiger Geist ist: und heutzutage stellen sich, beinahe mit gutem Gewissen und aller Verlegenheit bar, mittelmäßige und dazu noch übelgeratene Menschen an den Markt und preisen sich selber als große Männer, Reformatoren an; wie z. B. Eugen Dühring tut, wahrhaftig ein geschickter und wohlunterrichteter Gelehrter, der aber doch fast mit jedem Worte verrät, daß er eine kleinliche Seele herbergt und durch enge neidische Gefühle zerquetscht wird; auch daß nicht ein mächtiger, überschäumender, wohltätig-verschwenderischer Geist ihn treibt – sondern der Ehrgeiz! In diesem Zeitalter aber nach Ehren zu geizen, ist eines Philosophen noch viel unwürdiger als in irgendeinem früheren Zeitalter: jetzt, wo der Pöbel herrscht, wo der Pöbel die Ehren vergibt!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 531-532

„Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, z. B. als Leib, als Organisation (preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Die Welt als ein sich selbstgebärendes Kunstwerk.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 533

Apollinisch – dionysisch. – Es gibt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andrerseits als Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben vorgespielt, nur schwächer: im Traum und im Rausch. Aber derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten, jede aber verschieden: der Traum die des Sehens, Verknüpfens, Dichtens; der Rausch die der Gebärde, der Leidenschaft, des Gesangs, des Tanzes.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 534

„Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht im apollinischen. Es muß noch eine Tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben .... Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger: die Verlangsamung des Zeit-und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration dar – das höchste Gefühl der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren: ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 534

„Die Häßlichkeit bedeutet décadence eines Typus, Widerspruch und mangelnde Koordination der inneren Begehrungen – bedeutet einen Niedergang an organisierender Kraft, an »Willen«, psychologisch geredet. Der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl... Die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar; die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten; die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten; die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hilfe hin, auf jede Suggestion hin: die »intelligente« Sinnlichkeit-; die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto; die Stärke als Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück, Abenteuer, Furchtlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen Leben und Tod... Alle diese Höhen-Momente des Lebens regen sich gegenseitig an; die Bilder- und Vorstellungswelt des einen genügt, als Suggestion, für den andern: – dergestalt sind schließlich Zustände ineinander verwachsen, die vielleicht Grund hätten, sich fremd zu bleiben. Zum Beispiel: das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung (– zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich koordiniert. Was gefällt allen frommen Frauen, alten? jungen? Antwort: ein Heiliger mit schönen Beinen, noch jung, noch Idiot). Die Grausamkeit in der Tragödie und das Mitleid (– ebenfalls normal koordiniert ...). Frühling, Tanz, Musik: – alles Wettbewerb der Geschlechter, – und auch noch jene Faustische »Unendlichkeit im Busen«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 535-536

Biologischer Wert des Schönen und des Häßlichen. – Was uns instinktiv widersteht, ästhetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich redende ästhetische Instinkt (im Ekel z. B.) enthält ein Urteil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Leben-steigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen, d. h. der Vermehrung von Machtgefühl geben (– nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindungen solcher Dinge oder ihre Symbole). Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsre untersten Erhaltungswerte. Davon abgesehen ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen, ist sinnlos. Das Schöne existiert so wenig als das Gute, das Wahre. Im einzelnen handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingungen einer bestimmten Art von Mensch: so wird der Herdenmensch bei anderen Dingen das Wertgefühl des Schönen haben als der Ausnahme- und Über-Mensch. Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht, aus der der Wert des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt.

Alle Instinkt-Urteile sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie raten an, was zunächst zu tun ist. Der Verstand ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren auf das Instinkt-Urteil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger. Die Schönheits– und Häßlichkeits-Urteile sind kurzsichtig (– sie haben immer den Verstand gegen sich –): aber im höchsten Grade überredend; sie appellieren an unsre Instinkte, dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor noch der Verstand zu Worte kommt. Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen regen sich gegenseitig auf und an; wenn der ästhetische Trieb einmal in Arbeit ist, kristallisiert sich um »das einzelne Schöne« noch eine ganze Fülle anderer und anders – woher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretierende, hinzugebende, ausfüllende, dichtende Kraft auszuhängen (– letztere ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber). Der Anblick eines »schönen Weibes« .... Also
1. das Schönheits-Urteil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten Folgen;
2. es überhäuft den Gegenstand, der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Assoziation verschiedener Schönheits-Urteile bedingt ist – der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist. Ein Ding als schön empfinden heißt: es notwendig falsch empfinden – (weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirat die gesellschaftlich unvernünftigste Art der Heirat ist).
Ders., Der Wille zur Macht, S. 538-539

„Der ästhetische Zustand hat einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen – er ist die Quelle der Sprachen. Die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen so gut als die Gebärden-und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Vermögen sind subtilisiert aus volleren Vermögen. Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln. Jede reife Kunst hat eine Fülle Konvention zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Konvention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht deren Verhinderung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 544-545

„Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle, die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 545

„Ein Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder –, eine gewisse Willens-Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach außen hin – das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt. Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch- Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben, – dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswert ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik – vom Künstler verlangen daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers) einübe, heißt verlangen, daß er sich und seine schöpferische Kraft verarme... Es ist hier wie bei der Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler, der gibt, nicht verlangen, daß er Weib wird – daß er »empfängt«. Unsre Ästhetik war insofern bisher eine Weibs-Ästhetik, als nur die Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen »was ist schön«? formuliert haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler .... Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler: denn der Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen, – er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu sehen, er hat zu geben. – Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu sein – andernfalls ist er halb und halb, ist er »modern«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 546-547

„Ich setze hier eine Reihe psychologischer Zustände als Zeichen vollen und blühenden Lebens hin, welche man heute gewohnt ist, als krankhaft zu beurteilen. Nun haben wir inzwischen verlernt, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze zu reden: es handelt sich um Grade – meine Behauptung in diesem Falle ist, daß, was heute »gesund« genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre –, daß wir relativ krank sind... Der Künstler gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon schädlich, was bei uns krankhaft wäre, ist bei ihm Natur – – Aber man wendet uns ein, daß gerade die Verarmung der Maschine die extravagante Verständniskraft über jedwede Suggestion ermögliche:
Zeugnis unsre hysterischen Weiblein.
Die Überfülle an Säften und Kräften kann so gut Symptome der partiellen Unfreiheit, von Sinnes-Halluzinationen, von Suggestions-Raffinements mit sich bringen, wie eine Verarmung an Leben –, der Reiz ist anders bedingt, die Wirkung bleibt sich gleich .... Vor allem ist die Nachwirkung nicht dieselbe; die extreme Erschlaffung aller morbiden Naturen nach ihren Nerven-Exzentrizitäten hat nichts mit den Zuständen des Künstlers gemein: der seine guten Zeiten nicht abzubüßen hat .... Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden, ohne arm zu werden. Wie man heute »Genie« als eine Form der Neurose beurteilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestiv-Kraft – und unsre Artisten sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen »heute«, und nicht gegen die »Künstler«. Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der Spiegelung, des ausgehängten Willens... (das skandalöse Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens nimmt) .... Die unkünstlerischen Zustände: der Verarmenden, Abziehenden, Abblassenden, unter deren Blick das Leben leidet – der Christ.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 547-548

„Der moderne Künstler, in seiner Physiologie dem Hysterismus nächstverwandt, ist auch als Charakter auf diese Krankhaftigkeit hin abgezeichnet. Der Hysteriker ist falsch – er lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungswürdig in jeder Kunst der Verstellung –, es sei denn, daß seine krankhafte Eitelkeit ihm einen Streich spielt. Diese Eitelkeit ist wie ein fortwährendes Fieber, welches Betäubungsmittel nötig hat und vor keinem Selbstbetrug, vor keiner Farce zurückschreckt, die eine augenblickliche Linderung verspricht. (Unfähigkeit zum Stolz und beständig Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nötig zu haben – das ist beinahe die Definition dieser Art von Eitelkeit.) Die absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen Erlebnissen Krisen macht und das »Dramatische« in die geringsten Zufälle des Lebens einschleppt, nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum ist er groß als Schauspieler: alle diese armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe studieren, setzen in Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, des Eintretens in fast jeden verlangten Charakter.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 548-549

„Verglichen mit dem Künstler, ist das Erscheinen des wissenschaftlichen Menschen in der Tat ein Zeichen einer gewissen Eindämmung und Niveau-Erniedrigung des Lebens (– aber auch einer Verstärkung, Strenge, Härte, Willenskraft). Inwiefern die Falschheit, die Gleichgültigkeit gegen Wahr und Nützlich beim Künstler Zeichen von Jugend, von »Kinderei« sein mögen .... Ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen »ewige Werte«, ihr Ernst im »Spiele« – ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott benachbart; der Heilige und die Kanaille... Das Nachmachen als Instinkt, kommandierend. – Aufgangs-Künstler – Niedergangs-Künstler: ob sie nicht allen Phasen zugehören? .... Ja!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 550-551

„Würde irgendein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das Weib, wenn das Werk des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu – sie beweist die Regel – das Weib bringt es in allem zur Vollkommenheit, was nicht ein Werk ist, in Brief, in Memoiren, selbst in der delikatesten Handarbeit, die es gibt, kurz in allem, was nicht ein Metier ist, genau deshalb, weil es darin sich selbst vollendet, weil es damit seinem einzigen Kunst-Antrieb gehorcht, den es besitzt – es will gefallen .... Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen Indifferenz des echten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch, einem Hopsassa mehr Wichtigkeit zugesteht, als sich selbst? der mit allen fünf Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Wert zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß (– daß es sich preisgibt, daß es sich öffentlich macht –). Die Kunst, so wie der Künstler sie übt – begreift ihr's denn nicht, was sie ist: ein Attentat auf alle pudeurs?... Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib jene Schwenkung zur Literatur gewagt (– vers la canaille plumière écrivassière, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert, es künstlert, es verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 551

„Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler »Form« nennen, als Inhalt, als »die Sache selbst« empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem – unser Leben eingerechnet.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 552

„In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge »dieser Welt« – sie liebten ihre Sinne. »Entsinnlichung« zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständnis oder eine Krankheit oder eine Kur, wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei ist. Ich wünsche mir selber und allen denen, welche ohne die Ängste eines Puritaner-Gewissens leben – leben dürfen, eine immer größere Vergeistigung und Vervielfältigung ihrer Sinne; ja wir wollen den Sinnen dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste von Geist, was wir haben, dagegen bieten. Was gehen uns die priesterlichen und metaphysischen Verketzerungen der Sinne an! Wir haben diese Verketzerung nicht mehr nötig: es ist ein Merkmal der Wohlgeratenheit, wenn einer, gleich Goethe, mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an »den Dingen der Welt« hängt – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 552-553

„Was bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio? – Ja. – Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht »Resignation« .... Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht .... Es gibt keine pessimistische Kunst .... Die Kunst bejaht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 553-554

„Wenn meine Leser darüber zur Genüge eingeweiht sind, daß auch »der Gute« im großen Gesamt-Schauspiel des Lebens eine Form der Erschöpfung darstellt: so werden sie der Konsequenz des Christentums die Ehre geben, welche den Guten als den Häßlichen konzipierte. Das Christentum hatte damit recht. An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen »das Gute und das Schöne sind eins«; fügt er gar noch hinzu »auch das Wahre«, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 554

„In Hinsicht auf die Maler: ... Sie sind tausend Meilem weit von den alten Meistern, welche nicht lasen und nur daran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 557

„Die Romantik: eine zweideutige Frage, wie alles Moderne.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 567

Was ist Romantik? – In Hinsicht auf alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser Grundunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle: »Ist hier der Hunger oder der Überfluß schöpferisch geworden?« Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung besser zu empfehlen scheinen – sie ist bei weitem augenscheinlicher –, nämlich die Unterscheidung, ob das Verlangen nach Starr-werden, Ewig-werden, nach »Sein« die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen zukunftsschwangern Kraft sein (mein Terminus dafür ist, wie man weiß, das Wort »dionysisch«); es kann aber auch der Haß der Mißratnen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehen, alles Sein selbst, empört und aufreizt. »Verewigen« andrerseits kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosen-Kunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig mit Hafis, hell und gütig mit Goethe und einen homerischen Glorienschein über alle Dinge breitend; – es kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwer-Leidenden sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist romantischer Pessimismus in der ausdrucksvollsten Form: ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 568-569

„Ob nicht hinter dem Gegensatz von klassisch und romantisch der Gegensatz des Aktiven und Reaktiven verborgen liegt?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 569

„Um Klassiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so, daß sie miteinander unter einem Joche gehen; zur rechten Zeit kommen, um ein Genus von Literatur oder Kunst oder Politik auf seine Höhe und Spitze zu bringen (nicht nachdem dies schon geschehen ist...): einen Gesamtzustand (sei es eines Volkes, sei es einer Kultur) in seiner tiefsten und innersten Seele widerspiegeln, zu einer Zeit, wo er noch besteht und noch nicht überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden (oder noch abhängig ist ...); kein reaktiver, sondern ein schließender und vorwärtsführender Geist sein, ja sagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß. »Es gehört dazu nicht der höchste persönliche Wert?« .... Vielleicht zu erwägen, ob die moralischen Vorurteile hier nicht ihr Spiel spielen und ob große moralische Höhe nicht vielleicht an sich ein Widerspruch gegen das Klassische ist? .... Ob nicht die moralischen Monstra notwendig Romantiker sein müssen, in Wort und Tat? .... Ein solches Übergewicht einer Tugend über die anderen (wie beim moralischen Monstrum) steht eben der klassischen Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man hätte diese Höhe und wäre trotzdem Klassiker, so dürfte dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität auf gleicher Höhe: ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 569-570

„Die Romantiker in Deutschland protestieren nicht gegen den Klassizismus, sondern gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes Jahrhundert.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 571

„Die Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse. Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin, in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivität sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt –, und insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse und indifferente Charakter sich nicht verfehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt .... Der nihilistische Künstler verrät sich im Wollen zum Bevorzugen der zynischen Geschichte, der zynischen Natur.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 571-572

Die Kunst in der »Geburt der Tragödie«
I
Die Konzeption des Werks, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordnen Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn. .... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese »Wahrheit« zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben. .... Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins.
Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft – sie werden in diesem Buche nur als verschiedne Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hilfe wird ans Leben geglaubt. »Das Leben soll Vertrauen einflößen«: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein. Und er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft – alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der »Wahrheit«, zur Verneinung der »Wahrheit«. Das Vermögen selbst, dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen des Menschen par excellence – er hat es noch mit allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht auch ein Stück Genie der Lüge sein!
Daß der Charakter des Daseins verkannt werde – tiefste und höchste Geheim-Absicht hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlertum ist. Vieles niemals sehn, vieles falsch sehn, vieles hinzusehn: o wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, »Gott« – lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben glaubt: o wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl von Macht! Wieviel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! .... Der Mensch ward wieder einmal Herr über den »Stoff« – Herr über die Wahrheit! .... Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht ....
II
Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.
Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.
Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden.
Die Kunst als die Erlösung des Handelnden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.
Die Kunst als die Erlösung des Leidenden – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.
III
Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die »Wahrheit« gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Wertmaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektivierten Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, »metaphysischer« als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Schein – letzterer ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, d.h. zum Schaffen: im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet). Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins konzipiert, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.
IV
Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinne, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das »göttlicher« ist als die Wahrheit: die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neintun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher das Wort reden, als der Verfasser dieses Buches. Nur weiß er – er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts anderes erlebt! – daß die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit.
In der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen wird, erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artisten-Evangelium: »die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit ....«“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 575-578

„Ich bin dazu gedrängt, im Zeitalter ..., wo jeder über jeden und jedes zu Gericht sitzen darf, die Rangordnung wiederherzustellen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 581

„Ramg bestimmend, Rang abhebend sind allein Macht-Quantitäten: und nichts sonst.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 581

Der Wille zur Macht. – Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwertung an sich vornehmen. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedingungen festhält. Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur – das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Galten sich unterjochend.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 581

„Ich unterscheide einen Typus des aufsteigenden Lebens und einen andern des Verfalls, der Zersetzung, der Schwäche. Sollte man glauben, daß die Rangfrage zwischen beiden Typen überhaupt noch zu stellen ist?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 581

„Über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 582

Vorteil eines Abseits von seiner Zeit. – Abseits gestellt gegen die beiden Bewegungen, die individualistische und die kollektivistische Moral – denn auch die erste kennt die Rangordnung nicht und will dem einen die gleiche Freiheit geben wie allen. Meine Gedanken drehen sich nicht um den Grad von Freiheit, der dem einen oder dem anderen oder allen zu gönnen ist, sondern um den Grad von Macht, den einer oder der andere über andere oder alle üben soll, resp. inwiefern eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung selbst, zur Hervorbringung eines höheren Typus die Basis gibt. In gröbster Form gedacht: wie könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 582

Vom Range. Die scheckliche Konsequenz“ der »Gleichheit« – schließlich glaubt jeder das Recht zu haben zu jedem Problem. Es ist alle Rangordnung verlorengegangenen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 582

„Eine Kriegserklärung der höheren Menschen an die Massen ist nötig! Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Hernn zu machen! Alles, was verweichlicht, sanft macht, das »Volk« zur Geltung bringt oder das »Weibliche«, wirkt zugunsten ... der Herrschaft der neideren Menschen. Aber wir wollen Repressalien übern und diese ganze Wirtschaft (die in Europa mit dem Chrisrtentum anhebt) ans Licht und vors Gericht brngen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 582-583

„Es bedarf einer Lehre, starkt genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken. lähmend und zerbrechend für die Weltmüden. Die Vernichtung der verfallenden Rassen. Verfall Europas. – Die Vernichtung der sklavenhaften Wertschätzungen. – Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren Typus. – Die Vernichtung der Tartüfferie, welche »Moral« heißt (das Christentum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit hierin: Augustin, Bunyan). – Die Vernichtung ... des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben. – Die Vernichtung der Mittelmäßigkeit und ihrer Geltung. (Die Einseitigen, einzelne – Völker; Fülle der Natur zu erstreben durch Paarung von Gegensätzen: Rassen-Mischungen dazu.) – Der neue Mut – keine apriorischen Wahrheiten (solche suchten die an Glauben Gewöhnten!), sondern freie Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat, z.B. Zeit als Eigenschaft des Raumes usw.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 583

„Der Begriff »starker und schwacher Mensch« reduziert sich darauf, daß im ersten Falle viel Kraft vererbt ist – er ist eine Summe: im andern noch wenig – (– unzureichende Vererbung, Zersplitterung des Ererbten). Die Schwäche kann ein Anfangs-Phänomen sein: »noch wenig«; oder ein End-Phänomen: »nicht mehr«. Der Ansatz-Punkt ist der, wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben ist. Die Masse, als die Summe der Schwachen, reagiert langsam; wehrt sich gegen vieles, für das sie zu schwach ist – von dem sie keinen Nutzen haben kann; schafft nicht, geht nicht voran. Dies gegen die Theorie, welche das starke Individuum leugnet und meint »die Masse tut's«. Es ist die Differenz wie zwischen getrennten Geschlechtern: es können vier, fünf Generationen zwischen dem Tätigen und der Masse liegen – eine chronologische Differenz. Die Werte der Schwachen sind obenan, weil die Starken sie übernommen haben, um damit zu leiten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 583-584

Warum die Schwachen siegen. In summa: die Kranken und Schwachen haben mehr Mitgefühl, sind »menschlicher« –: die Kranken und Schwachen haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender – boshafter: die Kranken allein haben die Bosheit erfunden. (Eine krankhafte Frühreife häufig bei Rhachitischen, Skrophulosen und Tuberkulosen –.)
Die Kranken und Schwachen haben die Faszination für sich gehabt: sie sind interessanter als die Gesunden: der Narr und der Heilige – die zwei interessantesten Arten Mensch ..., in enger Verwandtschaft das »Genie«. Die großen »Abenteurer und Verbrecher« und alle Menschen, die gesündesten voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank – die großen Gemütsbewegungen, die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen begleitet. Und was die décadence betrifft, so stellt sie jeder Mensch, der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar, – er kennt also auch die Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung – für die Hälfte fast jedes Menschenlebens ist der Mensch décadent.
Endlich: das Weib! Die eine Hälfte der Menschheit ist schwach, typisch-krank, wechselnd, unbeständig – das Weib braucht die Stärke, um sich an sie zu klammern, und eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich verherrlicht, schwach zu sein, zu lieben, demütig zu sein –: oder besser, es macht die Starken schwach – es herrscht, wenn es gelingt, die Starken zu überwältigen. Das Weib hat immer mit den Typen der décadence, den Priestern, zusammen konspiriert gegen die »Mächtigen«, die »Starken«, die Männer –. Das Weib bringt die Kinder beiseite für den Kultus der Pietät, des Mitleids, der Liebe – die Mutter repräsentiert den Altruismus überzeugend.
Endlich: die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen mit sich bringt. Eine Zwischen-Spezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität der Tat durch Willensschwäche und soziale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese spezifische Kulturpflanze, der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem Romancier, der für seine Art, zu sein, das sehr uneigentliche Wort »Naturalismus« handhabt... Die Irren, die Verbrecher und die »Naturalisten« nehmen zu: Zeichen einer wachsenden und jäh vorwärts eilenden Kultur – d.h. der Ausschuß, der Abfall, die Auswurfstoffe gewinnen Importanz, – das Abwärts hält Schritt.
Endlich: der soziale Mischmasch, Folge der Revolution, der Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an »gleiche Menschen«. Dabei mischen sich die Träger der Niedergangs-Instinkte (des Ressentiments, der Unzufriedenheit, des Zerstörer-Triebes, des Anarchismus und Nihilismus), eingerechnet der Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits- und Kanaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr zu erkennen (darauf steuern derzeit dle Abendländer zu, wie man deutlich sehen kann! HB) – alles ist verpöbelt. Hieraus resultiert ein Gesamtinstinkt gegen die Auswahl, gegen das Privilegium jeder Art, von einer Macht und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der Tat sich alsbald selbst die Privilegierten unterwerfen – was noch Macht festhalten will, schmeichelt dem Pöbel, arbeitet mit dem Pöbel, muß den Pöbel auf seiner Seite haben –, die »Genies« voran: sie werden Herolde der Gefühle, mit denen man Massen begeistert – die Note des Mitleids, der Ehrfurcht selbst vor allem, was leidend, niedrig, verachtet, verfolgt gelebt hat, klingt über alle andern Noten weg (Typen: Victor Hugo und Richard Wagner). – Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der alten Werte.
Bei einer solchen extremen Bewegung in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsre Zivilisation darstellt, verlegt sich das Schwergewicht der Menschen: der Menschen, auf die es am meisten ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die ganze große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu kompensieren – es werden die Verzögerer par excellence, die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechselns und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen Umständen notwendig den Mediokren zu: gegen die Herrschaft des Pöbels und der Exzentrischen (beide meist verbündet) konsolidiert sich die Mediokrität, als die Bürgschaft und Trägerin der Zukunft. Daraus erwächst für die Ausnahme-Menschen ein neuer Gegner – oder aber eine neue Verführung. Gesetzt, daß sie sich nicht dem Pöbel anpassen und dem Instinkte der »Enterbten« zu Gefallen Lieder singen, werden sie nötig haben, »mittelmäßig« und »gediegen« zu sein. Sie wissen: die mediocritas ist auch aurea – sie allein sogar verfügt über Geld und Gold (– über alles, was glänzt ....) .... Und noch einmal gewinnt die alte Tugend, und überhaupt die ganze verlebte Welt des Ideals eine begabte FürsprecHerrschaft .... Resultat: die Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie – sie wird unterhaltend, sie verführt.
Resultat. – Eine hohe Kultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark und gesund konsolidierten Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von ihr bedient arbeitet die Wissenschaft – und selbst die Kunst. Die Wissenschaft kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer mittleren Art Mensch – sie ist deplaziert unter Ausnahmen –, sie hat nichts Aristokratisches und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten. – Die Macht der Mitte wird sodann aufrecht gehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel: der Instinkt der Großfinanziers geht gegen alles Extreme – die Juden sind deshalb einstweilen die konservierendste Macht in unserm so bedrohten und unsicheren Europa (als ob nur Juden Großfinanziers wären! Nein, unter ihnen gab und gibt es mehr Revolutionäre und Sozialisten, als es den Anschein hatte und hat! HB) . Sie können weder Revolutionen brauchen, noch Sozialismus, noch Militarismus: wenn sie Macht haben wollen und brauchen, auch über die revolutionäre Partei, so ist dies nur eine Folge des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nötig, gegen andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen – dadurch, daß sie zeigen, was alles in ihrer Hand steht. Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar konservativ – und »mittelmäßig« .... Sie wissen überall, wo es Macht gibt, mächtig zu sein: aber die Ausnützung ihrer Macht geht immer in einer Richtung. Das Ehren-Wort für mittelmäßig ist bekanntlich das Wort »liberal«
Besinnung. – Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werte antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse des Lebens, zur Aufrechterhaltung des Typus »Mensch« selbst durch diese Methodik der Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen –: im andern Falle existierte der Mensch nicht mehr? – Problem – – –
Die Steigerung des Typus verhängnisvoll für die Erhaltung der Art? Warum? –
Es zeigen die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen dezimieren sich gegenseitig: durch Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; die starken Affekte: die Vergeudung – (es wird Kraft nicht mehr kapitalisiert, es entsteht die geistige Störung durch die übertriebene Spannung); ihre Existenz ist kostspielig, kurz – sie reiben sich untereinander auf –; es treten Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein: alle großen Zeiten werden bezahlt .... Die Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder, als die durchschnittlich-Schwachen.
Es sind verschwenderische Rassen. Die »Dauer« an sich hätte ja keinen Wert: man möchte wohl eine kürzere, aber wertreichere Existenz der Gattung vorziehen. – Es bliebe übrig, zu beweisen, daß selbst so ein reicherer Wertertrag erzielt würde als im Fall der kürzeren Existenz; d.h. der Mensch als Aufsummierung von Kraft gewinnt ein viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht .... Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie – – –“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 584-589

„Eine Gesinnung, die sich »Idealismus« nennt und die der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig zu sein, und dem Weibe nicht, Weib zu sein! – Nicht uniformieren! Uns klarmachen, wie teuer eine Tugend zu stehen kommt: und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswertes, sondern eine noble Tollheit, eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht, stark-gestimmt zu werden.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 589

„Die Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen »Maschinerie« der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort »Übermensch«.
Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesentum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen – eine Art Stillstands-Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: – als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner »anzupassenden« Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssig-werden aller dominierenden und kommandierenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werte darstellen.
Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisiertere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung – der Erzeugung des synthetischen, des summierenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisierung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann.
Er braucht die Gegnerschaft der Menge, der »Nivellierten«, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesamt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie tatsächlich bloß die Gesamt-Verringerung, Wert-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.
– Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus; wie als ob mit den wachsenden Unkosten aller auch der Nutzen aller notwendig wachsen müßte. Das Gegenteil scheint mir der Fall: die Unkosten aller summieren sich zu einem Gesamt-Verlust: der Mensch wird geringer – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein Wozu? ein neues Wozu? – das ist es, was die Menschheit nötig hat.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 589-591

„Einsicht in die Zunahme der Gesamt-Macht: ausrechnen, inwiefern auch der Niedergang von Einzelnen, von Ständen, von Zeiten, Völkern einbegriffen ist in diesem Wachstum. Verschiebung des Schwergewichts einer Kultur. Die Unkosten jedes großen Wachstums: wer sie trägt! Inwiefern sie jetzt ungeheuer sein müssen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 591

„Gesamt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzeß neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos. Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche mit klassischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Mut zur psychologischen Nacktheit (– die Vereinfachung ist eine Konsequenz des Willens zur Verstärkung; das Sichtbar-werdenlassen des Glücks, insgleichen der Nacktheit, eine Konsequenz des Willens zur Furchtbarkeit ...). Um sich aus jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen – dazu bedarf es einer Nötigung: man muß die Wahl haben, entweder zugrunde zu gehn oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts? Offenbarwerden sie erst nach ungeheuren sozialistischen Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren – es werden die Elemente sein, die der größten Härte gegen sich selber fähig sind, und den längsten Willen garantieren können.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 591-592

„Die mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen er am leichtesten zugrunde geht, sind so gründlich in Acht getan, daß damit die mächtigsten Menschen selber unmöglich geworden sind oder sich als böse, als »schädlich und unerlaubt« fühlen mußten. Diese Einbuße ist groß, aber notwendig bisher gewesen: jetzt, wo eine Menge Gegenkräfte großgezüchtet sind durch zeitweilige Unterdrückung jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust an der Verwandlung und Täuschung) ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht mehr die alte Wildheit haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsre Künstler und Staatsmänner an.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 592

„Die Wurzel alles Üblen: daß die sklavische Moral der Demut, Keuschheit, Selbstlosigkeit, absoluten Gehorsams gesiegt hat – die herrschenden Naturen wurden dadurch
1. zur Heuchelei,
2. zur Gewissensqual verurteilt – die schaffenden Naturen fühlten sich als Aufrührer gegen Gott, unsicher und gehemmt durch die ewigen Werte.
Die Barbaren zeigten, daß Maßhalten-können bei ihnen nicht zu Hause war: sie fürchteten und verlästerten die Leidenschaften und Triebe der Natur – ebenso der Anblick der herrschenden Cäsaren und Stände. Es entstand andrerseits der Verdacht, daß alle Mäßigung eine Schwäche sei, oder Alt- und Müdewerden (– so hat Larochefoucauld den Verdacht, daß »Tugend« ein schönes Wort sei bei solchen, welchen das Laster keine Lust mehr mache). Das Maßhalten selber war als Sache der Härte, Selbstbezwingung, Askese geschildert, als Kampf mit dem Teufel usw.. Das natürliche Wohlgefallen der ästhetischen Natur am Maße, der Genuß am Schönen des Maßes war übersehen oder verleugnet, weil man eine anti-eudämonistische Moral wollte. Der Glaube an die Lust im Maßhalten fehlte bisher – diese Lust des Reiters auf feurigem Rosse! – Die Mäßigkeit schwacher Naturen mit der Mäßigung der starken verwechselt! In summa: die besten Dinge sind verlästert worden, weil die Schwachen oder die unmäßigen Schweine ein schlechtes Licht darauf warfen – und die besten Menschen sind verborgen geblieben – und haben sich oft selber verkannt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 592-593

„Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster in Bann getan: als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? ... Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten finden. – Denkt man ein wenig konsequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht in das, was ein »großer Mensch« ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle »großen Menschen« in die Hölle schickt –, sie kämpft gegen alle »Größe des Menschen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 594

„Die Rechte, die ein Mensch sich nimmt, stehn im Verhältnis zu den Pflichten, die er sich stellt, zu den Aufgaben, denen er sich gewachsen fühlt. Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein Unglück für die höheren.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 594-595

Mißverständnis des Egoismus: von seiten der gemeinen Naturen, welche gar nichts von der Eroberungslust und Unersättlichkeit der großen Liebe wissen, ebenso von den ausströmenden Kraft-Gefühlen, welche überwältigen, zu sich zwingen, sich ans Herz legen wollen – der Trieb des Künstlers nach seinem Material. Oft auch nur sucht der Tätigkeitssinn nach einem Terrain. – Im gewöhnlichen »Egoismus« will gerade das »Nicht-ego«, das tiefe Durchschnittswesen, der Gattungsmensch seine Erhaltung – das empört, falls es von den Seltneren, Feineren und weniger Durchschnittlichen wahrgenommen wird. Denn diese urteilen: »Wir sind die Edleren! Es liegt mehr an unserer Erhaltung als an der jenes Viehs!«“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 595

„Die Entartung der Herrscher und der herrschenden Stände hat den größten Unfug in der Geschichte gestiftet! Ohne die römischen Cäsaren und die römische Gesellschaft wäre das Christentum nicht zur Herrschaft gekommen. Wenn die geringeren Menschen der Zweifel anfällt, ob es höhere Menschen gibt, da ist die Gefahr groß! Und man endet zu entdecken, daß es auch bei den geringen, unterworfenen, geistesarmen Menschen Tugenden gibt und daß vor Gott die Menschen gleich stehn: was das non plus ultra des Blödsinns bisher auf Erden gewesen ist! Nämlich die höheren Menschen maßen sich selber schließlich nach dem Tugend-Maßstab der Sklaven – fanden sich »stolz« usw., fanden alle ihre höheren Eigenschaften als verwerflich. Als Nero und Caracalla oben saßen, entstand die Paradoxie »der niedrigste Mensch ist mehr wert als der da oben!« Und ein Bild Gottes brach sich Bahn, welches möglichst entfernt war vom Bilde der Mächtigsten – der Gott am Kreuze!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 595-596

Der höhere Mensch und der Herden-Mensch. – Wenn die großen Menschen fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch nicht mehr am Menschen Lust hat (– »und am Weibe auch nicht« mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf einen Haufen, als Parlamente, und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.Das »Tyrannisierende« ist die Tatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 596

„Bis zu welchem Grade die Unfähigkeit eines pöbelhaften Agitators der Menge geht, sich den Begriff »höhere Natur« klar zu machen, dafür gibt Buckle das beste Beispiel ab. Die Meinung, welche er so leidenschaftlich bekämpft – daß »große Männer«, Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn die Hebel und Ursachen aller großen Bewegungen sind – wird von ihm instinktiv dahin mißverstanden, als ob mit ihr behauptet würde, das Wesentliche und Wertvolle an einem solchen »höheren Menschen« liege eben in der Fähigkeit, Massen in Bewegung zu setzen: kurz in ihrer Wirkung .... Aber die »höhere Natur« des großen Mannes liegt im Anderssein, in der Unmitteilbarkeit, in der Rangdistanz – nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 596-597

„Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unsrer ganzen Zivilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Entschuldigung.Der Wert eines Menschen (abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen wird der Wert eines Menschen noch nicht einmal berührt) liegt nicht in seiner Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn es niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgingen, die Spitze der ganzen Spezies Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm alles vor Neid zugrunde ginge?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 597

„Den Wert eines Menschen danach abschätzen, was er den Menschen nützt oder kostet oder schadet: das bedeutet ebensoviel und ebensowenig, als ein Kunstwerk abschätzen je nach den Wirkungen, die es tut. Aber damit ist der Wert des Menschen im Vergleich mit anderen Menschen gar nicht berührt. Die »moralische Wertschätzung«, soweit sie eine soziale ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen Wirkungen. Ein Mensch mit seinem eigenen Geschmack auf der Zunge, umschlossen und versteckt durch seine Einsamkeit, unmitteilbar, unmitteilsam – ein unausgerechneter Mensch, also ein Mensch einer höheren, jedenfalls anderen Spezies: wie wollt ihr den abwerten können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht vergleichen könnt? Die moralische Abwertung hat die größte Urteils-Stumpfheit im Gefolge gehabt: der Wert eines Menschen an sich ist unterschätzt, fast übersehen, fast geleugnet. Rest der naiven Teleologie: der Wert des Menschen nur in Hinsicht auf die Menschen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 597-598

„Die moralische Präokkupation stellt einen Geist tief in der Rangordnung: damit fehlt ihm der Instinkt des Sonderrechts, das a parte, das Freiheits-Gefühl der schöpferischen Naturen, der »Kinder Gottes« (oder des Teufels –). Und gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal zur Kritik der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit zur Herde – und sei es auch als deren oberster Notbedarf, als »Hirt«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 598

Ersatz der Moral durch den Willen zu unserem Ziele, und folglich zu dessen Mitteln.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 598

Zur Rangordnung. – Was ist am typischen Menschen mittelmäßig? Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entraten könne; daß er das eine nicht mit dem anderen hinnehmen will – daß er den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Teil ihrer Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte. Die »Wünschbarkeit« der Mittelmäßigen ist das, was von uns anderen bekämpft wird: das Ideal gefaßt als etwas, an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrigbleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachstum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten darstellte als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung... Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, d. h. die Vorbedingung für die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit. Die meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustande kommen des synthetischen Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hie und da der ganze Mensch entsteht, der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in einem Striche vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren (– wir haben z. B. mit aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance wieder erreicht, und hinwiederum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken Menschen zurück).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 598-599

„Man erkennt die Überlegenheit des griechischen Menschen, des Renaissance-Menschen an – aber man möchte ihn ohne seine Ursachen und Bedingungen haben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 600

„Die »Reinigung des Geschmacks« kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsre Gesellschaft von heute repräsentiert nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu einem Ziele unbedenklich ins Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr – Goethe als schönster Ausdruck des Typus (– ganz und gar kein Olympier!).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 600

„Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck – für die deutsche starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 600

„Soviel habe ich begriffen: wenn man das Entstehen großer und seltener Menschen abhängig gemacht hätte von der Zustimmung der vielen (einbegriffen, daß diese wüßten, welche Eigenschaften zur Größe gehören, und insgleichen, auf wessen Unkosten alle Größe sich entwickelt) – nun, es hätte nie einen bedeutenden Menschen gegeben! – Daß der Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung der allermeisten seinen Weg nimmt: daran liegt es, daß einiges Erstaunliche sich auf der Erde eingeschlichen hat.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 600-601

Die Rangordnung der Menschen-Werte.
a) Man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen. Nichts ist seltener als eine Personal-Handlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall – alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Tun aus als eine »Person«.
b) Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen »Personen« sind. Und dann sind manche auch mehrere Personen, die meisten sind keine. Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer »Person« zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge.
c) Die »Person« ein relativ isoliertes Faktum; in Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolierung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor allem, eine viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen Menschlichkeit kontagiös ist, hat.
Erste Frage in betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie herdenhaft jemand ist. (Im letztern Falle liegt sein Wert in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Herde, seines Typus sichern; im andern Falle in dem, was ihn abhebt, isoliert, verteidigt und solitär ermöglicht.)
Folgerung: man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem herdenhaften, und den herdenhaften nicht nach dem solitären.
Aus der Höhe betrachtet sind beide notwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus notwendig, – und nichts ist mehr zu verbannen als jene »Wünschbarkeit«, es möchte sich etwas Drittes aus beiden entwickeln (»Tugend« als Hermaphroditismus). Das ist so wenig »wünschbar« als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln, die Kluft immer tiefer aufreißen .... Begriff der Entartung in beiden Fällen: wenn die Herde den Eigenschaften der solitären Wesen sich nähert und diese den Eigenschaften der Herde – kurz, wenn sie sich annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen Beurteilung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 601-602

Wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat. – Das Zugrundegehen und Entarten der solitären Spezies ist viel größer und furchtbarer: sie haben die Instinkte der Herde, die Tradition der Werte gegen sich; ihre Werkzeuge zur Verteidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug – es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen (– sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten; wenn man nach Person sucht, dort findet man sie, um wie viel sicherer als in den mittleren Klassen!). Der Stände- und Klassenkampf, der auf »Gleichheit der Rechte« abzielt – ist er ungefähr erledigt, so geht der Kampf los gegen die Solitär-Person. (In einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Verteidigungs-Mittel nicht mehr nötig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.) Die Stärksten müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so will es der Instinkt der Herde. Für sie ein Régime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits oder der »Pflicht« in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 602-603

„Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend. – Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar zu machen und ihn, soweit es irgendwie angeht, der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden (– er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwertigen empfinden lernen: dazu tut not, daß ihm die anderen möglichst verleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden). Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit, welche alle machinale Tätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen – und nicht nur zu ertragen –, die Langeweile von einem höheren Reiz umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, das uns nichts angeht; und eben darin, in diesem »objektiven« Tätigsein, seine »Pflicht« empfinden; die Lust und die Pflicht voneinander getrennt abschätzen lernen – das ist die unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher an sich: weil seine Tätigkeit selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Tätigkeit abgibt; unter seiner Fahne lernt der Jüngling »ochsen«: erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte, Büro-Sklave, Zeitungsleser und Soldat). Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgendeiner unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewer tet werden; die »Pflicht an sich«, vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was unangenehm ist – und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit. Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch... Die machinale Existenzform als höchste, ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend (–Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs »du sollst«).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 603-604

„Die ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale – d.h. Auswahl bestimmter Affekte und Zustände, auf Unkosten anderer ausgewählt und großgezüchtet. Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Tätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein Machinalismus von Leistungen nämlich als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen jener Affekte und Zustände).Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte Ingredienzen des Peinlichen enthalten, so muß ein Mittel gefunden werden, dieses Peinliche durch eine Wertvorstellung zu überwinden, die Unlust als wertvoll, also in höherem Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel gefaßt: »wie wird etwas Unangenehmes angenehm?« Zum Beispiel wenn in der Kraft, Macht, Selbstüberwindung unser Gehorsam, unsre Einordnung in das Gesetz, zu Ehren kommt. Insgleichen unser Gemeinsinn. Nächstensinn, Vaterlandssinn, unsre »Vermenschlichung«, unser »Altruismus«, »Heroismus«. Daß man die unangenehmen Dinge gern tut – Absicht der Ideale.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 604-605

„Die Verkleinerung des Menschen muß lange als einziges Ziel gelten: weil erst ein breites Fundament zu schaffen ist, damit eine stärkere Art Mensch darauf stehen kann. (: Inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch auf einem Niveau der niedrigeren stand – – –)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 605

„Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Triumph zu fühlen, entrüstet ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll das nicht anders wollen! und die Kluft größer aufreißen! – Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat. Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen. Die Mittelgebilde ablösen und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 605

„Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich tue, man sieht es, das Gegenteil: jeder Schritt weg von ihr führt – so lehre ich – ins Unmoralische.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 600

„Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem »Recht auf Philosophie«. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Mut zu sich selber zu erhalten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 606

„Wogegen ich kämpfe: daß eine Ausnahme-Art der Regel den Krieg macht – statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der Regel die Voraussetzung für den Wert der Ausnahme ist. Zum Beispiel die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen Bedürfnisse zur Gelehrsamkeit zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt verrücken möchten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 606

„Die Vermehrung der Kraft, trotz des zeitweiligen Niedergehens des Individuums:
– ein neues Niveau begründen;
– eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung;
– die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik;
– die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse kleiner Arbeit getan werden muß;
– die Erhaltung einer Gesinnung, bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist;
– die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht und der Servilität;
– der Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des »großen Menschen«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 606

„Der Kampf gegen die großen Menschen, aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich entladen, sondern womöglich seiner Entladung vorbeugen: Grundinstinkt aller zivilisierten Gesellschaft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 607

„Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 607

Die Starken der Zukunft. – Was teils die Not, teils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art: das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist. Bis jetzt hatte die »Erziehung« den Nutzen der Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. »Werkzeuge« für sie wollte man. Gesetzt, der Reichtum an Kraft wäre großer, so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen. Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man begriffe, inwiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existieren zu können: sondern nur noch als Mittel in den Händen einer stärkeren Rasse. Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte Spezies schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können). Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt: die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen, als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Wertschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten. Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen. Diese ausgeglichene Spezies bedarf, sobald sie erreicht ist, einer Rechtfertigung: sie liegt im Dienste einer höheren souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis ins Geistigste; eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf, – stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nötig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nötig zu haben, jenseits von Gut und Böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 607-609

„Unsere Psychologen, deren Blick unwillkürlich nur an den Symptomen der décadence hängen bleibt, lenken immer wieder unser Mißtrauen wider den Geist. Man sieht immer nur die schwächenden, verzärtelnden, verkränkelnden Wirkungen des Geistes: aber es kommen nun
neue
Barbaren
:
{die Zyniker,
die Verucher,
die Eroberer
}Vereinigung der geistigen Überlegenheit
mit Wohlbefinden und
Überschuß von Kräften.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 609

„Ich zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen gibt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es gibt auch eine andere Art Barbaren, die kommen aus der Höhe: eine Art von erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem Stoffe suchen, den sie gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 609

Hauptgesichtspunkt: daß man nicht die Aufgabe der höheren Spezies in der Leitung der niederen sieht (wie es z. B. Comte macht –), sondern die niedere als Basis, auf der eine höhere Spezies ihrer eigenen Aufgabe lebt – auf der sie erst stehen kann. Die Bedingungen, unter denen eine starke und vornehme Spezies sich erhält (in Hinsicht auf geistige Zucht), sind die umgekehrten von denen, unter welchen die »industriellen Massen«, die Krämer à la Spencer stehn. Das, was nur den stärksten und fruchtbarsten Naturen freisteht zur Ermöglichung ihrer Existenz – Muße, Abenteuer, Unglaube, Ausschweifung selbst –, das würde, wenn es den mittleren Naturen freistünde, diese notwendig zugrunde richten – und tut es auch. Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die Mäßigkeit, die feste »Überzeugung« am Platze – kurz die »Herdentugenden«: unter ihnen wird diese mittlere Art Mensch vollkommen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 610

Zu den herrschaftlichen Typen. – Der »Hirt« im Gegensatz zum »Herrn« (– ersterer Mtitel zur Erhaltung der Herde; letzterer Zweck, weshalb die Herde da ist).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 610

„Zeitweiliges Überwiegen der sozialen Wertgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird. – Maßstab der Stärke: unter den umgekehrten Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 610

„Einsicht, welche den »freien Geistern« fehlt: dieselbe Disziplin, welche eine starke Natur noch verstärkt und zu großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert die mittelmäßigen: – der Zweifel – la largeur de cœur – das Experiment – die Independenz.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 611

„Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? – Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 611

„Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit, verdaut seine Taten ganz ebenso, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber führt ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er nichts tut, was ihm widersteht, so wenig als er etwas tut, das ihm nicht schmeckt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 611

Könnten wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen von höchstem Werte! Es ist tausendmal zu kompliziert und die Wahrscheinlichkeit des Mißratens sehr groß: so begeistert es nicht, danach zu streben! – Skepsis. – Dagegen: Mut, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit, Gefühl der Verantwortlichkeit können wir steigern, die Feinheit der Waage verfeinern und erwarten, daß günstige Zufälle zu Hilfe kommen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 611

„Bevor wir ans Handeln denken dürfen, muß eine unendliche Arbeit getan sein. In der Hauptsache aber ist das kluge Ausnützen der gegebenen Lage wohl unsere beste, ratsamste Tätigkeit. Das wirkliche Schaffen solcher Bedingungen, wie sie der Zufall schafft, setzt eiserne Menschen voraus, die noch nicht gelebt haben. Zunächst das persönliche Ideal durchsetzen und verwirklichen! Wer die Natur des Menschen, die Entstehung seines Höchsten begriffen hat, schaudert vor dem Menschen und flieht alles Handeln: Folge der vererbten Schätzungen!Daß die Natur des Menschen böse ist, ist mein Trost: es verbürgt die Kraft!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 612

„Die typischen Selbstgestaltungen. Oder: die acht Hauptfragen.
1. Ob man sich vielfacher haben will oder einfacher?
2. Ob man glücklicher werden will oder gleichgültiger gegen Glück und Unglück?
3. Ob man zufriedner mit sich werden will oder anspruchsvoller und unerbittlicher?
4. Ob man weicher, nachgebender, menschlicher werden will oder »unmenschlicher«?
5. Ob man klüger werden will oder rücksichtsloser?
6. Ob man ein Ziel erreichen will oder allen Zielen ausweichen (wie es z. B. der Philosoph tut, der in jedem Ziel eine Grenze, einen Winkel, ein Gefängnis, eine Dummheit riecht)?
7. Ob man geachteter werden will oder gefürchteter? Oder verachteter?
8. Ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Herdentier werden will?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 612

Typus meiner Jünger. – Solchen Menschen, welche mich etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung – ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht – daß er standhält.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 613

„Glück und Selbstzufriedenheit des Lazzaroni oder »Seligkeit« bei »schönen Seelen« oder schwindsüchtige Liebe bei herrnhuterischen Pietisten beweisen nichts in bezug auf die Rangordnung der Menschen. Man müßte, als großer Erzieher, eine Rasse solcher »seligen Menschen« unerbittlich in das Unglück hineinpeitschen. Die Gefahr der Verkleinerung, des Ausruhens ist sofort da – gegen das spinozistische oder epikureische Glück und gegen alles Ausruhen in kontemplativen Zuständen. Wenn aber die Tugend das Mittel zu einem solchen Glück ist, nun, so muß man auch Herr über die Tugend werden.
Ders., Der Wille zur Macht, S. 613

„Ich sehe durchaus nicht ab, wie einer es wiedergutmachen kann, der versäumt hat, zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht; er geht durchs Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verrät sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte Schule nachzuholen: jahrelanges Siechtum vielleicht, das die äußerste Willenskraft und Selbstgenugsamkeit herausfordert; oder eine plötzlich hereinbrechende Notlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Tätigkeit erzwingt, die den erschlafften Fasern wieder Energie gibt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen eine harte Disziplin zur rechten Zeit, d.h. in jenem Alter noch, wo es stolz macht, viel von sich verlangt zu sehn. Denn dies unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal verlangt wird; daß das Lob selten ist, daß die Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und näher besehn, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehn; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwaage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen mehr feind sein als dem Bösen. – Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen und Befehlen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 613-614

„Das Verdienst leugnen: aber das tun, was über allem Loben, ja über allem Verstehn ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 614

„Neue Formen der Moralität: Treue-Gelübde im Vereinen über das, was man lassen und tun will, ganz bestimmte Entsagung von vielem. Proben, ob reif dazu.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 614

„Ich will auch die Asketik wieder vernatürlichen: an Stelle der Absicht auf Verneinung die Absicht auf Verstärkung; eine Gymnastik des Willens; eine Entbehrung und eingelegte Fastenzeit jeder Art, auch im Geistigsten; eine Kasuistik der Tat in bezug auf unsre Meinung, die wir von unsern Kräften haben; ein Versuch mit Abenteuern und willkürlichen Gefahren. (Dîners chez Magny: lauter geistige Schlecker mit verdorbenem Magen.) – Man sollte Prüfungen erfinden auch für die Stärke im Wort-halten-können.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 615

„Was verdorben ist durch den Mißbrauch, den die Kirche damit getrieben hat:
1. die Askese: man hat kaum noch den Mut dazu, deren natürliche Nützlichkeit, deren Unentbehrlichkeit im Dienste der Willens-Erziehung ans Licht zu ziehen. Unsre absurde Erzieher-Welt, der der »brauchbare Staatsdiener« als regulierendes Schema vorschwebt, glaubt mit »Unterricht«, mit Gehirn-Dressur auszukommen; ihr fehlt selbst der Begriff davon, daß etwas anderes zuerst not tut – Erziehung der Willenskraft; man legt Prüfungen für alles ab, nur nicht für die Hauptsache: ob man wollen kann, ob man versprechen darf: der junge Mann wird fertig, ohne auch nur eine Frage, eine Neugierde für dieses oberste Wertproblem seiner Natur zu haben;
2. das Fasten: in jedem Sinne – auch als Mittel, die feine Genußfähigkeit aller guten Dinge aufrechtzuerhalten (z. B. zeitweise nicht lesen, keine Musik mehr hören, nicht mehr liebenswürdig sein; man muß auch Fasttage für seine Tugend haben);
3. das »Kloster«: die zeitweilige Isolation mit strenger Abweisung z. B. der Briefe; eine Art tiefster Selbstbesinnung und Selbst-Wiederfindung, welche nicht den »Versuchungen« aus dem Wege gehen will, sondern den »Pflichten«: ein Heraustreten aus dem Zirkeltanz des Milieus; ein Abseits von der Tyrannei der Reize und Einströmungen, welche uns verurteilt, unsre Kraft nur in Reaktionen auszugeben, und es nicht mehr erlaubt, daß sie sich häuft bis zur spontanen Aktivität (man sehe sich unsre Gelehrten aus der Nähe an: sie denken nur noch reaktiv, d.h. sie müssen erst lesen, um zu denken);
4. die Feste: Man muß sehr grob sein, um nicht die Gegenwart von Christen und christlichen Werten als einen Druck zu empfinden, unter dem jede eigentliche Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen: Stolz, Übermut, Ausgelassenheit; der Hohn über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit – lauter Zustände, zu denen der Christ nicht ehrlich ja sagen darf. Das Fest ist Heidentum par excellence;
5. der Mut vor der eigenen Natur: die Kostümierung ins »Moralische«. – Daß man keine Moral-Formel nötig hat, um einen Affekt bei sich gutzuheißen: Maßstab, wie weit einer zur Natur bei sich ja sagen kann – wie viel oder wie wenig er zur Moral rekurrieren muß;
6. der Tod.– Man muß die dumme physiologische Tatsache in eine moralische Notwendigkeit umdrehn. So leben, daß man auch zur rechten Zeit seinen Willen zum Tode hat!
Ders., Der Wille zur Macht, S. 616-616

Sich stärker fühlen – oder anders ausgedrückt: die Freude – setzt immer ein Vergleichen voraus (aber nicht notwendig mit anderen, sondern mit sich, inmitten eines Zustands von Wachstum, und ohne daß man erst wüßte, inwiefern man vergleicht –).
Die künstliche Verstärkung: sei es durch aufregende Chemika, sei es durch aufregende Irrtümer (»Wahnvorstellungen«):
z.B. das Gefühl der Sicherheit, wie es der Christ hat; er fühlt sich stark in sei nem Vertrauen-dürfen, in seinem Geduldig- und Gefaßt-sein-dürfen: er verdankt diese künstliche Verstärkung dem Wahne, von einem Gott beschirmt zu sein;
z.B. das Gefühl der Überlegenheit: wie wenn der Kalif von Marokko nur Erdkugeln zu sehen bekommt, auf denen seine drei vereinigten Königreiche vier Fünftel der Oberfläche einnehmen;
z.B. das Gefühl der Einzigkeit: wie wenn der Europäer sich einbildet, daß der Gang der Kultur sich in Europa abspielt, und wenn er sich selber eine Art abgekürzter Weltprozeß scheint: oder der Christ alles Dasein überhaupt um das »Heil des Menschen« sich drehen macht.
– Es kommt darauf an, wo man den Druck, die Unfreiheit empfindet: je nachdem erzeugt sich ein andres Gefühl des Stärker-seins. Einem Philosophen ist z.B. inmitten der kühlsten, transmontansten Abstraktions-Gymnastik zumute wie einem Fisch, der in sein Wasser kommt: während Farben und Töne ihn drücken; gar nicht zu reden von den dumpfen Begehrungen – von dem, was die andern »das Ideal« nennen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 616-617

„Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat und daß die »Barbarei« der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung einmal in die Notwendigkeit versetzt wird, am Kongo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 620-621

Die Kriegerischen und die Friedlichen. – Bist du ein Mensch, der die Instinkte des Kriegers im Leibe hat? Und in diesem Falle bliebe noch eine zweite Frage: bist du ein Angriffskrieger oder ein Widerstandskrieger von Instinkt? Der Rest von Menschen, alles, was nicht kriegerisch von Instinkt ist, will Frieden, will Eintracht, will »Freiheit«, will »gleiche Rechte« –: das sind nur Namen und Stufen für ein und dasselbe. Dorthin gehn, wo man nicht nötig hat, sich zu wehren – solche Menschen werden unzufrieden mit sich, wenn sie genötigt sind, Widerstand zu leisten: sie wollen Zustände schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr gibt. Schlimmstenfalls sich unterwerfen, gehorchen, einordnen: immer noch besser als Krieg führen – so rät es z.B. dem Christen sein Instinkt. Bei den geborenen Kriegern gibt es etwas wie Bewaffnung in Charakter, in Wahl der Zustände, in der Ausbildung jeder Eigenschaft: die »Waffe« ist im ersten Typus, die Wehr im zweiten am besten entwickelt. Die Unbewaffneten, die Unbewehrten: welche Hilfsmittel und Tugenden sie nötig haben, um es auszuhalten – um selbst obzusiegen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 621

Randbemerkung zu einer niaiserie anglaise. – »Was du nicht willst, daß dir die Leute tun, das tue ihnen auch nicht.« Das gilt als Weisheit; das gilt als Klugheit; das gilt als Grund der Moral – als »güldener Spruch«. John Stuart Mill (und wer nicht unter Engländern?) glaubt daran! ... Aber der Spruch hält nicht den leichtesten Angriff aus. Der Kalkül: »tue nichts, was dir selber nicht angetan werden soll« verbietet Handlungen um ihrer schädlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine Handlung immer vergolten wird. Wie nun, wenn jemand, mit dem »Principe« in der Hand, sagte: »gerade solche Handlungen muß man tun, damit andere uns nicht zuvorkommen – damit wir andere außerstand setzen, sie uns anzutun«? – Andrerseits: denken wir uns einen Korsen, dem seine Ehre die vendetta gebietet. Auch er wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber die Aussicht auf eine solche, die Wahrscheinlichkeit einer Kugel hält ihn nicht ab, seiner Ehre zu genügen .... Und sind wir nicht in allen anständigen Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen das, was daraus für uns kommt? Eine Handlung zu vermeiden, die schädliche Folgen für uns hätte – das wäre ein Verbot für anständige Handlungen überhaupt. Dagegen ist der Spruch wertvoll, weil er einen Typus Mensch verrät: es ist der Instinkt der Herde, der sich mit ihm formuliert – man ist gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir. – Hier wird wirklich an eine Äquivalenz der Handlungen geglaubt, die, in allen realen Verhältnissen, einfach nicht vorkommt. Es kann nicht jede Handlung zurückgegeben werden: zwischen wirklichen »Individuen« gibt es keine gleichen Handlungen, folglich auch keine »Vergeltung«... Wenn ich etwas tue, so liegt mir der Gedanke vollkommen fern, daß überhaupt dergleichen irgendeinem Menschen möglich sei: es gehört mir... Man kann mir nichts zurückzahlen, man würde immer eine »andere« Handlung gegen mich begehen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 621-622

Gegen John Stuart Mill. – Ich perhorresziere seine Gemeinheit, welche sagt »was dem einen recht ist, ist dem andern billig«; »was du nicht willst usw., das füg auch keinem andern zu«; welche den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, so daß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für etwas, das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne: hier wird die Äquivalenz der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir; hier ist der persönlichste Wert einer Handlung einfach annulliert (das, was durch nichts ausgeglichen und bezahlt werden kann –). Die »Gegenseitigkeit« ist eine große Gemeinheit; gerade daß etwas, das ich tue, nicht von einem andern getan werden dürfte und könnte, daß es keinen Ausgleich geben darf (– außer in der ausgewähltesten Sphäre der »meines-gleichen«, inter pares –), daß man in einem tieferen Sinne nie zurückgibt, weil man etwas Einmaliges ist und nur Einmaliges tut – diese Grundüberzeugung enthält die Ursache der aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge an »Gleichheit« und folglich Ausgleichbarkeit und »Gegenseitigkeit« glaubt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 622-623

„Die Krähwinkelei und Schollenkleberei der moralischen Abwertung und ihres »nützlich« und »schädlich« hat ihren guten Sinn; es ist die notwendige Perspektive der Gesellschaft, welche nur das Nähere und Nächste in Hinsicht der Folgen zu übersehen vermag. Der Staat und der Politiker hat schon eine mehr übermoralische Denkweise nötig: weil er viel größere Komplexe von Wirkungen zu berechnen hat. Insgleichen wäre eine Weltwirtschaft möglich, die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 623

»Seinem Gefühle folgen?« – Daß man, einem generösen Gefühle nachgebend, sein Leben in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines Augenblicks: das ist wenig wert und charakterisiert nicht einmal. In der Fähigkeit dazu sind sich alle gleich – und in der Entschlossenheit dazu übertrifft der Verbrecher, Bandit und Korse einen honetten Menschen gewiß. Die höhere Stufe ist: auch diesen Andrang bei sich zu überwinden und die heroische Tat nicht auf Impulse hin zu tun – sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische Überwallen von Lustgefühlen dabei .... Dasselbe gilt vom Mitleid: es muß erst habituell durch die raison durchgesiebt sein; im anderen Falle ist es so gefährlich wie irgendein Affekt. Die blinde Nachgiebigkeit gegen einen Affekt, sehr gleichgültig, ob es ein generöser und mitleidiger oder feindseliger ist, ist die Ursache der größten Übel. Die Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese Affekte nicht besitzt – im Gegenteil, man hat sie im furchtbarsten Grade: aber daß man sie am Zügel führt... und auch das noch ohne Lust an dieser Bändigung, sondern bloß weil ....“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 623-624

„»Sein Leben lassen für eine Sache« – großer Effekt. Aber man läßt für vieles sein Leben: die Affekte samt und sonders wollen ihre Befriedigung. Ob es das Mitleid ist oder der Zorn oder die Rache – daß das Leben daran gesetzt wird, verändert nichts am Werte. Wie viele haben ihr Leben für die hübschen Weiblein geopfert – und selbst, was schlimmer ist, ihre Gesundheit! Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv die gefährlichen Dinge: z.B. die Abenteuer der Spekulation, wenn man Philosoph; oder der Immoralität, wenn man tugendhaft ist. Die eine Art Mensch will nichts riskieren, die andre will riskieren. Sind wir anderen Verächter des Lebens? Im Gegenteil, wir suchen instinktiv ein potenziertes Leben, das Leben in der Gefahr .... Damit, nochmals gesagt, wollen wir nicht tugendhafter sein, als die anderen. Pascal z. B. wollte nichts riskieren und blieb Christ: das war vielleicht tugendhaft. – Man opfert immer.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 624

„Wie viel Vorteil opfert der Mensch, wie wenig »eigennützig« ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben – und wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt! Man will nicht sein »Glück«; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht. Unsre Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen –, ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 625

Nützlich sind die Affekte allesamt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgendeine Wertabfolge festzusetzen, – so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur allesamt gut, d. h. nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches Verhängnis auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die mächtigsten Affekte die wertvollsten sind: insofern es keine größeren Kraftquellen gibt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 625

Summa: die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung und Ausrottung! – Je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um soviel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. Der »große Mensch« ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden und durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Untiere in Dienst zu nehmen weiß. Der »gute Mensch« ist auf jeder Stufe der Zivilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich nicht zu fürchten hat und wen man trotzdem nicht verachten darf. Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme zu ruinieren zugunsten der Regel. Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten zugunsten des Mittleren. Erst wenn eine Kultur über einen Überschuß von Kräften zu gebieten hat, kann sie auch ein Treibhaus für den Luxus-Kultus der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance sein – jede aristokratische Kultur tendiert dahin.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 626

Lauter Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft und deren Vorurteile? – wie weit seine furchtbaren Eigenschaften entfesseln, an denen die meisten zugrunde gehen? – wie weit der Wahrheit entgegengehen und sich die fragwürdigsten Seiten derselben zu Gemüte führen? – wie weit dem Leiden, der Selbstverachtung, dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehen, mit dem Fragezeichen, ob man darüber Herr werden wird? (– was uns nicht umbringt, macht uns stärker ...) – endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen, dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen, der Durchschnitts-Natur recht geben bei sich, ohne sich damit vulgarisieren zu lassen? .... Stärkste Probe des Charakters: sich nicht durch die Verführung des Guten ruinieren zu lassen. Das Gute als Luxus, als Raffinement, als Laster.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 626-627

Typus: Die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum heraus: welche nicht gibt, um zu nehmen – welche sich nicht damit erheben will, daß sie gütig ist; – die Verschwendung als Typus der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 627

Aristokratismus. Die Herdentier-Ideale – jetzt gipfelnd als höchste Wertansetzung der »Sozietät«: Versuch, ihr einen kosmischen, ja metaphysischen Wert zu geben. – Gegen sie verteidige ich den Aristokratismus. Eine Gesellschaft, welche in sich jene Rücksicht und Delikatesse in bezug auf Freiheit bewahrt, muß sich als Ausnahme fühlen und sich gegenüber eine Macht haben, gegen welche sie sich abhebt, gegen welche sie feindselig ist und herabblickt. Je mehr ich Recht abgebe und mich gleichstelle, um so mehr gerate ich unter die Herrschaft der Durchschnittlichsten, endlich der Zahlreichsten. Die Voraussetzung, welche eine aristokratische Gesellschaft in sich hat, um zwischen ihren Mitgliedern den hohen Grad von Freiheit zu erhalten, ist die extreme Spannung, welche aus dem Vorhandensein des entgegengesetzten Triebes bei allen Mitgliedern entspringt: des Willens zur Herrschaft .... Wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefühl des Für-sich-seins auch ab.
Zur wirklichen Psychologie der Freiheits- und Gleichheits-Sozietät. – Was nimmt ab? Der Wille zur Selbstverantwortlichkeit, Zeichen des Niedergangs der Autonomie; die Wehr– und Waffentüchtigkeit, auch im Geistigsten: die Kraft zu kommandieren; der Sinn der Ehrfurcht, der Unterordnung, des Schweigen-könnens; die große Leidenschaft, die große Aufgabe, die Tragödie, die Heiterkeit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 627-628

„Wie sich die aristokratische Welt immer mehr selber schröpft und schwach macht! Vermöge ihrer noblen Instinkte wirft sie ihre Vorrechte weg, und vermöge ihrer verfeinerten Über-Kultur interessiert sie sich für das Volk, die Schwachen, die Armen, die Poesie des Kleinen usw..“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 628-629

„Es gibt eine vornehme und gefährliche Nachlässigkeit, welche einen tiefen Schluß und Einblick gewährt: die Nachlässigkeit der selbstgewissen und überreichen Seele, die sich nie um Freunde bemüht hat, sondern nur die Gastfreundschaft kennt, immer nur Gastfreundschaft übt und zu üben versteht – Herz und Haus offen für jedermann, der eintreten will, seien es nun Bettler oder Krüppel oder Könige. Dies ist die echte Leutseligkeit: wer sie hat, hat hundert »Freunde«, aber wahrscheinlich keinen Freund.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 629

„Die Lehre mhden agan wendet sich an Menschen mit überströmender Kraft – nicht an die Mittelmäßigen. Die egkrateia und aschsis ist nur eine Stufe der Höhe: höher steht die »goldene Natur«. »Du sollst« – unbedingter Gehorsam bei Stoikern, in den Orden des Christentums und der Araber, in der Philosophie Kants (es ist gleichgültig, ob einem Oberen, oder einem Begriff). Höher als »du sollst« steht: »Ich will« (die Heroen); höher als »ich will« steht: »Ich bin« (die Götter der Griechen). Die barbarischen Götter drücken nichts von der Lust am Maß aus – sind weder einfach noch leicht noch maßvoll.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 629

„Was ist vornehm?
– Die Sorgfalt im Äußerlichsten, insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fernhält, vor Verwechslung schützt.
– Der frivole Anschein in Wort, Kleidung, Haltung, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung sich vor aller unbescheidenen Neugierde schützt.
– Die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es gibt nicht zu viel wertvolle Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu dem Wertvollen. Wir bewundern schwer.
– Das Ertragen der Armut und der Dürftigkeit, auch der Krankheit.
– Das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen aber – Balzac hat es verraten, dieser typisch Ehrgeizige – comprendre c'est égaler.
– Unser Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben.
– Die Überzeugung, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten hat, gegen die andern sich nach Gutdünken verhält: daß nur inter pares auf Gerechtigkeit zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist.
– Die Ironie gegen die »Begabten«, der Glaube an den Geburtsadel auch im Sittlichen.
– Immer sich als den fühlen, der Ehren zu vergeben hat: während nicht häufig sich jemand findet, der ihn ehren dürfte.
– Immer verkleidet: je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des Inkognitos. Gott, wenn es einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch in der Welt bezeigen.
– Die Fähigkeit zum otium, der unbedingten Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht »Fleiß« im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren und zu Geltung zu bringen wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie Hühner machen, gackern und Eier legen und wieder gackern.
– Wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgendworin Meister ist: aber als Wesen, die höherer Art sind als diese, welche nur etwas können, als die bloß »produktiven Menschen«, verwechseln wir uns nicht mit ihnen.
– Die Lust an den Formen; das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehen-lassens, eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem und tölpelhaft wird und die Glieder streckt.
– Das Wohlgefallen an den Frauen als an einer vielleicht kleineren, aber feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen, die immer Tanz und Torheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großer Verantwortlichkeit beschwert ist.
– Das Wohlgefallen an den Fürsten und Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit der menschlichen Werte selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum mindesten symbolisch und im ganzen und großen sogar tatsächlich aufrechterhalten.
– Das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern.
– Das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit.
– Der Ekel am Demagogischen, an der »Aufklärung«, an der »Gemütlichkeit«, an der pöbelhaften Vertraulichkeit.
– Das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.
– Wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall, wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden!
– Wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen; wir finden Faust ebenso naiv als sein Gretchen.
– Wir schätzen die Guten gering, als Herdentiere: wir wissen, wie unter den schlimmsten, bösartigsten, härtesten Menschen oft ein unschätzbarer Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit der Milchseelen überwiegt.
– Wir halten einen Menschen unserer Art nicht widerlegt durch seine Laster noch durch seine Torheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind und daß wir alle Gründe haben, uns Vordergründe zu geben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 630-633

Was ist vornehm? – Daß man sich beständig zu repräsentieren hat. Daß man Lagen sucht, wo man beständig Gebärden nötig hat. Daß man das Glück der großen Zahl überläßt: Glück als Frieden der Seele, Tugend, comfort, englisch-engelhaftes Krämertum à la Spencer. Daß man instinktiv für sich schwere Verantwortungen sucht. Daß man sich überall Feinde zu schaffen weiß, schlimmstenfalls noch aus sich selbst. Daß man der großen Zahl nicht durch Worte, sondern durch Handlungen beständig widerspricht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 633

„Die Tugend (z.B. als Wahrhaftigkeit) als unser vornehmer und gefährlicher Luxus; wir müssen nicht die Nachteile ablehnen, die er mit sich bringt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 633

Der »Ehr-Begriff«: beruhend auf dem Glauben an »gute Gesellschaft«, an ritterliche Hauptqualitäten, an die Verpflichtung, sich fortwährend zu repräsentieren. Wesentlich: daß man sein Leben nicht wichtig nimmt; daß man unbedingt auf respektvollste Manieren hält, seitens aller, mit denen man sich berührt (zum mindesten so weit sie nicht zu »uns« gehören); daß man weder vertraulich, noch gutmütig, noch lustig, noch bescheiden ist, außer inter pares; daß man sich immer repräsentiert.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 634

„Daß man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs Spiel setzt, das ist die Folge des Übermutes und eines überströmenden, verschwenderischen Willens: nicht aus Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre Neugierde in bezug auf das Maß unsrer Kraft, unsres Mutes herausfordert.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 634

»Geradezu stoßen die Adler.« – Die Vornehmheit der Seele ist nicht am wenigsten an der prachtvollen und stolzen Dummheit zu erkennen, mit der sie angreift – »geradezu«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 634

„Krieg gegen die weichliche Auffassung der »Vornehmheit«! – ein Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlassen: so wenig als eine Nachbarschaft zum Verbrechen. Auch die »Selbstzufriedenheit« ist nicht darin; man muß abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch, verderberisch – nichts von Schönseelen-Salbaderei –. Ich will einem robusteren Ideale Luft machen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 610

„»Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter« – auch ein Symbolon und Kerbholz-Wort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verraten und erraten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 635

Die zwei Wege. – Es kommt ein Zeitpunkt, wo der Mensch Kraft im Überfluß zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur herbeizuführen. Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden, zu etwas Neuem, Höherem. Neue Aristokratie. Dann werden eine Menge Tugenden überlebt, die jetzt Existenzbedingungen waren. – Eigenschaften nicht mehr nötig haben, folglich sie verlieren. Wir haben die Tugenden nicht mehr nötig: folglich verlieren wir sie (– sowohl die Moral vom »Eins ist not«, vom Heil der Seele, wie der Unsterblichkeit: sie waren Mittel, um dem Menschen eine ungeheure Selbstbezwingung zu ermöglichen, durch den Affekt einer ungeheuren Furcht ...). Die verschiedenen Arten Not, durch deren Zucht der Mensch geformt ist: Not lehrt arbeiten, denken, sich zügeln. Die physiologische Reinigung und Verstärkung. Die neue Aristokratie hat einen Gegensatz nötig, gegen den sie ankämpft: sie muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten. Die zwei Zukünfte der Menschheit:
1. die Konsequenz der Vermittelmäßigung;
2. das bewußte Abheben, Sich-Gestalten.
Eine Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste Art (sie zerstört die mittlere).
Die bisherigen Aristokraten, geistliche und weltliche, beweisen nichts gegen die Notwendigkeit einer neuen Aristokratie.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 635-636

„Eine Frage kommt uns immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht: sei sie denen ins Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdige Fragen haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus »Herdentier« jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn jemand käme, der sich ihrer bediente – dadurch, daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei (– das muß die europäische Demokratie am Ende sein) jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche sich auf sie stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu ihren Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 636-637

„Der Anblick des jetzigen Europäers gibt mir viele Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende Rasse, auf der Breite einer äußerst intelligenten Herden-Masse. Es steht vor der Tür, daß die Bewegungen zur Bildung der letzteren nicht mehr allein im Vordergrund stehen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 637

„Dieselben Bedingungen, welche die Entwicklung des Herdentieres vorwärtstreiben, treiben auch die Entwicklung des Führer-Tiers.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 637

„Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll »der Mensch« als Ganzes – und nicht mehr ein Volk, eine Rasse – gezogen und gezüchtet werden? Die gesetzgeberischen Moralen sind das Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschengestalten kann, was einem schöpferischen und tiefen Willen beliebt: vorausgesetzt, daß ein solcher Künstler-Wille höchsten Ranges die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann in Gestalt von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten. Solchen Menschen des großen Schaffens, den eigentlich großen Menschen, wie ich es verstehe, wird man heute und wahrscheinlich für lange noch umsonst nachgehen: sie fehlen; bis man endlich, nach vieler Enttäuschung, zu begreifen anfangen muß, warum sie fehlen und daß ihrer Entstehung und Entwicklung für jetzt und für lange nichts feindseliger im Wege steht als das, was man jetzt in Europa geradewegs »die Moral« nennt: wie als ob es keine andere gäbe und geben dürfte – jene vorhin bezeichnete Herdentier-Moral, die mit allen Kräften das allgemeine grüne Weide-Glück auf Erden erstrebt, nämlich Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens und zu guter Letzt, »wenn alles gut geht«, sich auch noch aller Art Hirten und Leithämmel zu entschlagen hofft. Ihre beiden am reichlichsten gepredigten Lehren heißen: »Gleichheit der Rechte« und »Mitgefühl für alles Leidende« – und das Leiden selber wird von ihnen als etwas genommen, das man schlechterdings abschaffen muß. Daß solche »Ideen« immer noch modern sein können, gibt einen üblen Begriff von dieser Modernität. Wer aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß dies unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungs-Kraft unter langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht gesteigert werden muß, und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen, Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoizismus, Versucher-Kunst, Teufelei jeder Art, kurz der Gegensatz aller Herden-Wünschbarkeiten zur Erhöhung des Typus Mensch notwendig ist. Eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten, welche den Menschen ins Hohe statt ins Bequeme und Mittlere züchten will, eine Moral mit der Absicht, eine regierende Kaste zu züchten – die zukünftigen Herren der Erde – muß, um gelehrt werden zu können, sich in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und Anscheine einführen. Daß dazu aber viele Übergangs- und Täuschungsmittel zu erfinden sind und daß, weil die Lebensdauer eines Menschen beinahe nichts bedeutet in Hinsicht auf die Durchführung so langwieriger Aufgaben und Absichten, vor allem erst eine neue Art angezüchtet werden muß, in der dem nämlichen Willen, dem nämlichen Instinkte Dauer durch viele Geschlechter verbürgt wird – eine neue Herren-Art und -Kaste, – dies begreift sich ebensogut als das lange und nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieses Gedankens. Eine Umkehrung der Werte für eine bestimmte starke Art von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem Zwecke bei ihnen eine Menge in Zaum gehaltener und verleumdeter Instinkte langsam und mit Vorsicht zu entfesseln: wer darüber nachdenkt, gehört zu uns, den freien Geistern – freilich wohl zu einer neueren Art von »freien Geistern« als die bisherigen: denn diese wünschten ungefähr das Entgegengesetzte. Hierher gehören, wie mir scheint, vor allem die Pessimisten Europas, die Dichter und Denker eines empörten Idealismus, insofern ihre Unzufriedenheit mit dem gesamten Dasein sie auch zur Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Menschen mindestens logisch nötigt; insgleichen gewisse unersättlich-ehrgeizige Künstler, welche unbedenklich und unbedingt für die Sonderrechte höherer Menschen und gegen das »Herdentier« kämpfen und mit den Verführungsmitteln der Kunst bei ausgesuchteren Geistern alle Herden-Instinkte und Herden-Vorsichten einschläfern; zu dritt endlich alle jene Kritiker und Historiker, von denen die glücklich begonnene Entdeckung der alten Welt – es ist das Werk des neuen Kolumbus, des deutschen Geistes – mutig fortgesetzt wird – (denn wir stehen immer noch in den Anfängen dieser Eroberung). In der alten Welt nämlich herrschte in der Tat eine andere, eine herrschaftlichere Moral als heute; und der antike Mensch, unter dem erziehenden Banne seiner Moral, war ein stärkerer und tieferer Mensch als der Mensch von heute – er war bisher allein »der wohlgeratene Mensch«. Die Verführung aber, welche vom Altertum her auf wohlgeratene, d. h. auf starke und unternehmende Seelen ausgeübt wird, ist auch heute noch die feinste und wirksamste aller antidemokratischen und antichristlichen: wie sie es schon zur Zeit der Renaissance war.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 637-640

„Ich schreibe für eine Gattung Menschen, welche noch nicht vorhanden ist: für die »Herren der Erde«. Die Religionen als Tröstungen, Abschirrungen gefährlich: der Mensch glaubt sich nun ausruhn zu dürfen. Im Theages Platos steht es geschrieben: »Jeder von uns möchte Herr womöglich aller Menschen sein, am liebsten Gott.« Diese Gesinnung muß wieder da sein. Engländer, Amerikaner und Russen – – –“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 640

„Die Urwald-Vegetation »Mensch« erscheint immer, wo der Kampf um die Macht am längsten geführt worden ist. Die großen Menschen. Urwald-Tiere die Römer.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 640

„Es wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben, derengleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das wichtigste; es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzen, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen »Herren der Erde«; – eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird – eine höhere Art Menschen, die sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am »Menschen« selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 640-641

„Mein Augenmerk darauf, an welchen Punkten der Geschichte die großen Menschen hervorspringen. Die Bedeutung langer despotischer Moralen: sie spannen den Bogen, wenn sie ihn nicht zerbrechen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 641

„Ein großer Mensch – ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat – was ist das?
Erstens: er hat in seinem gesamten Tun eine lange Logik, die ihrer Länge wegen schwer überschaubar, folglich irreführend ist, eine Fähigkeit, über große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen und alles kleine Zeug an sich zu verachten und wegzuwerfen, seien darunter auch die schönsten, »göttlichsten« Dinge von der Welt.
Zweitens: er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der »Meinung«; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der »Achtung« und dem Geachtetwerden zusammenhängen, überhaupt alles, was zur »Tugend der Herde« gehört. Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt.
Drittens: er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist, im Verkehre mit Menschen, immer dar auf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmittelbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 641-642

„Der große Mensch ist notwendig Skeptiker (womit nicht gesagt ist, daß er es scheinen müßte), vorausgesetzt, daß dies die Größe ausmacht: etwas Großes wollen und die Mittel dazu. Die Freiheit von jeder Art Überzeugung gehört zur Stärke seines Willens. So ist es jenem »aufgeklärten Despotismus« gemäß, den jede große Leidenschaft ausübt. Eine solche nimmt den Intellekt in ihren Dienst; sie hat den Mut auch zu unheiligen Mitteln; sie macht unbedenklich; sie gönnt sich Überzeugungen, sie braucht sie selbst, aber sie unterwirft sich ihnen nicht. Das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem in Ja und Nein ist ein Beweis der Schwäche; alle Schwäche ist Willensschwäche. Der Mensch des Glaubens, der Gläubige ist notwendig eine kleine Art Mensch. Hieraus ergibt sich, daß »Freiheit des Geistes«, d.h. Unglaube als Instinkt, Vorbedingung der Größe ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 642

„Der große Mensch fühlt seine Macht über ein Volk, sein zeitweiliges Zusammenfallen mit einem Volke oder einem Jahrtausende – diese Vergrößerung im Gefühl von sich als causa und voluntas wird mißverstanden als »Altruismus« – es drängt ihn nach Mitteln der Mitteilung: alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen Mitteln. Sie wollen sich hineingestalten in große Gemeinden, sie wollen eine Form dem Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehn. Mißverständnis der Liebe. Es gibt eine sklavische Liebe, welche sich unterwirft und weggibt: welche idealisiert und sich täuscht – es gibt eine göttliche Liebe, welche verachtet und liebt und das Geliebte umschafft, hinaufträgt. Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und andrerseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehn an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie da war!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 642-643

„Die Revolution, Verwirrung und Not der Völker ist das Geringere in meiner Betrachtung gegen die Not der großen Einzelnen in ihrer Entwicklung. Man muß sich nicht täuschen lassen: die vielen Nöte aller dieser Kleinen bilden zusammen keine Summe, außer im Gefühle von mächtigen Menschen. – An sich denken, in Augenblicken großer Gefahr: seinen Nutzen ziehn aus dem Nachteile vieler – das kann bei einem sehr hohen Grade von Abweichung ein Zeichen großen Charakters sein, der über seine mitleidigen und gerechten Empfindungen Herr wird.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 643

„Der Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich großgezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. – Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Tätigkeit des Haupttriebes abgibt. Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der Tat: wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegeneinander treibenden Instinkte (z. B. Shakespeare), aber gebändigt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 643-644

„Ob man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen? Im einzelnen ist es nicht rein aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes Versteckenspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber, aber aus Grausamkeit – dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehen. Manche verstanden sich selber falsch; nicht selten fordert eine große Aufgabe große Qualitäten heraus, z. B. die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren Gefühle gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 644

„Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens – Unrecht, Lüge, Ausbeutung – am größten. Insofern sie aber überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 644-645

„Im allgemeinen ist jedes Ding so viel wert, als man dafür bezahlt hat. Dies gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isoliert nimmt; die großen Fähigkeiten des einzelnen stehen außer allem Verhältnis zu dem, was er selbst dafür getan, geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine Geschlechts-Vorgeschichte an, so entdeckt man da die Geschichte einer Ungeheuern Aufsparung und Kapital-Sammlung von Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen. Weil der große Mensch so viel gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder, als Gabe des Himmels und »Zufalls« dasteht, wurde er groß – »Vererbung« ein falscher Begriff. Für das, was einer ist, haben seine Vorfahren die Kosten bezahlt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 645

„Menschen, die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze Art der heroischen Lastträger: o wie gerne möchten sie einmal von sich selber ausruhn! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken, um für Stunden wenigstens loszuwerden, was sie drückt! Und wie umsonst dürsten sie! ... Sie warten; sie sehen sich alles an, was vorübergeht: niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel Leiden und Leidenschaft entgegen, niemand errät, inwiefern sie warten .... Endlich, endlich lernen sie ihre erste Lebensklugheit – nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an jedermann zu ertragen, jederlei zu ertragen – kurz, noch ein wenig mehr zu ertragen, als sie bisher schon getragen haben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 646

Gesetzgeber der Zukunft. – Nachdem ich lange und umsonst mit dem Worte »Philosoph« einen bestimmten Begriff zu verbinden suchte – denn ich fand viele entgegengesetzte Merkmale –, erkannte ich endlich, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen gibt:
1. solche, welche irgendeinen großen Tatbestand von Wertschätzungen (logisch oder moralisch) feststellen wollen;
2. solche, welche Gesetzgeber solcher Wertschätzungen sind.
Die ersten suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie das mannigfach Geschehende durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen: ihnen liegt daran, das bisherige Geschehen übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen – sie dienen der Aufgabe des Menschen, alle vergangenen Dinge zum Nutzen seiner Zukunft zu verwenden.
Die zweiten aber sind Befehlende; sie sagen: »So soll es sein!« Sie bestimmen erst das »Wohin« und »Wozu«, den Nutzen, was Nutzen der Menschen ist; sie verfügen über die Vorarbeit der wissenschaftlichen Menschen, und alles Wissen ist ihnen nur ein Mittel zum Schaffen. Diese zweite Art von Philosophen gerät selten; und in der Tat ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den schmalen Raum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt: z. B. Plato, als er sich überredete, das »Gute«, wie er es wollte, sei nicht das Gute Platos, sondern das »Gute an sich«, der ewige Schatz, den nur irgendein Mensch, namens Plato, auf seinem Wege gefunden habe! In viel gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religionsstiftern: ihr »du sollst« darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie »ich will« – nur als dem Befehl eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen, nur als »Eingebung« ist ihre Gesetzgebung der Werte eine tragbare Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.
Sobald nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Mohammeds, dahingefallen sind und kein Denker mehr an der Hypothese eines »Gottes« oder »ewiger Werte« sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der Anspruch des Gesetzgebers neuer Werte zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr nicht noch »zur rechten Zeit« durch irgendeinen Seitensprung entschlüpfen möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe sei schon gelöst, oder sie sei unlösbar, oder sie hätten keine Schultern für solche Lasten, oder sie seien schon mit andern, näheren Aufgaben überladen, oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung, eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem mag es in der Tat gelingen, auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zumeist aber kam solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde der Reife, wo sie mußten, was sie nicht einmal »wollten« – und die Tat, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen leicht und ungewollt vom Baume, als eine Tat ohne Willkür, fast als Geschenk.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 647-648

Der menschliche Horizont. – Man kann die Philosophen auffassen als solche, welche die äußerste Anstrengung machen, zu erproben, wie weit sich der Mensch erheben könne – besonders Plato: wie weit seine Kraft reicht. Aber sie tun es als Individuen; vielleicht war der Instinkt der Cäsaren, der Staatengründer usw. größer, welche daran denken, wie weit der Mensch getrieben werden könne in der Entwicklung und unter »günstigen Umständen«. Aber sie begriffen nicht genug, was günstige Umstände sind. Große Frage: wo bisher die Pflanze »Mensch« am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nötig.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 649

„Ein Faktum, ein Werk ist für jede Zeit und jede neue Art von Mensch von neuer Beredsamkeit. Die Geschichte redet immer neue Wahrheiten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 649

„Objektiv, hart, fest, streng bleiben im Durchsetzen eines Gedankens – das bringen die Künstler noch am besten zustande; wenn einer aber Menschen dazu nötig hat (wie Lehrer, Staatsmänner usw.), da geht die Ruhe und Kälte und Härte schnell davon. Man kann bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas ahnen von einem »interesselosen« Arbeiten an ihrem Marmor, mag dabei von Menschen geopfert werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zukunft der höchsten Menschen: die größte Verantwortlichkeit tragen und nicht daran zerbrechen. – Bisher waren fast immer Inspirations-Täuschungen nötig, um selbst den Glauben an sein Recht und seine Hand nicht zu verlieren.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 649

„Weshalb der Philosoph selten gerät. Zu seinen Bedingungen gehören Eigenschaften, die gewöhnlich einen Menschen zugrunde richten:
1. eine ungeheure Vielheit von Eigenschaften, er muß eine Abbreviatur des Menschen sein, aller seiner hohen und niedern Begierden: Gefahr der Gegensätze, auch des Ekels an sich;
2. er muß neugierig nach den verschiedensten Seiten sein: Gefahr der Zersplitterung;
3. er muß gerecht und billig im höchsten Sinne sein, aber tief auch in Liebe, Haß (und Ungerechtigkeit);
4. er muß nicht nur Zuschauer, sondern Gesetzgeber sein: Richter und Gerichteter (insofern er eine Abbreviatur der Welt ist);
5. äußerst vielartig, und doch fest und hart. Geschmeidig.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 650

„Der eigentlich königliche Beruf des Philosophen (nach dem Ausdruck Alkuins des Angelsachsen): prava corrigere, et recta corroborare, et sancta sublimare.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 650

„Der neue Philosoph kann nur in Verbindung mit einer herrschenden Kaste entstehen, als deren höchste Vergeistigung. Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger Mangel an Prinzipien dafür.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 650

„Grundgedanke: die neuen Werte müssen erst geschaffen werden – das bleibt uns nicht erspart! Der Philosoph muß uns ein Gesetzgeber sein. Neue Arten. (Wie bisher die höchsten Arten [z. B. Griechen] gezüchtet wurden: diese Art »Zufall« bewußt wollen.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 650

„Gesetzt, man denkt sich einen Philosophen als großen Erzieher, mächtig genug, um von einsamer Höhe herab lange Ketten von Geschlechtern zu sich hinaufzuziehen: so muß man ihm auch die unheimlichen Vorrechte des großen Erziehers zugestehen. Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt: sondern immer nur, was er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache denkt. In dieser Verstellung darf er nicht erraten werden; es gehört zu seiner Meisterschaft, daß man an seine Ehrlichkeit glaubt. Er muß aller Mittel der Zucht und Züchtigung fähig sein: manche Naturen bringt er nur durch Peitschenschläge des Hohnes vorwärts, andere. Träge, Unschlüssige, Feige, Eitle, vielleicht mit übertreibendem Lobe. Ein solcher Erzieher ist jenseits von Gut und Böse; aber niemand darf es wissen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 651

Nicht die Menschen »besser« machen, nicht zu ihnen auf irgendeine Art Moral reden, als ob »Moralität an sich«, oder eine ideale Art Mensch überhaupt, gegeben sei: sondern Zustände schaffen, unter denen stärkere Menschen nötig sind, welche ihrerseits eine Moral (deutlicher: eine leiblich-geistige Disziplin), welche stark macht, brauchen und folglich haben werden! Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen verführen lassen: die Größe der Seele hat nichts Romantisches an sich. Und leider gar nichts Liebenswürdiges!
Ders., Der Wille zur Macht, S. 651

„Man muß von den Kriegen her lernen:
1. den Tod in die Nähe der Interessen zu bringen, für die man kämpft – das macht uns ehrwürdig;
2. man muß lernen, viele zum Opfer bringen und seine Sache wichtig genug nehmen, um die Menschen nicht zu schonen;
3. die starre Disziplin, und im Krieg Gewalt und List sich zugestehn.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 651-652

„Die Erziehung zu jenen Herrscher-Tugenden, welche auch über sein Wohlwollen und Mitleiden Herr werden: die großen Züchter-Tugenden (»seinen Feinden vergeben« ist dagegen Spielerei), den Affekt des Schaffenden auf die Höhe bringen – nicht mehr Marmor behauen! – Die Ausnahme- und Macht-Stellung jener Wesen (verglichen mit der der bisherigen Fürsten): der römische Cäsar mit Christi Seele.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 652

„Seelengröße nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involviert Unabhängigkeit; aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet Unfug an, selbst noch durch Wohltun-wollen und »Gerechtigkeit«-üben. Die geringen Geister haben zu gehorchen – können also nicht Größe haben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 652

„Der höhere philosophische Mensch, der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein sein will, sondern weil er etwas ist, das nicht seinesgleichen findet: welche Gefahren und neuen Leiden sind ihm gerade heute aufgespart, wo man den Glauben an die Rangordnung verlernt hat und folglich diese Einsamkeit nicht zu ehren und nicht zu verstehen weiß! Ehemals heiligte sich der Weise beinahe durch ein solches Beiseite-gehen für das Gewissen der Menge – heute sieht sich der Einsiedler wie mit einer Wolke trüber Zweifel und Verdächtigungen umringt. Und nicht etwa nur von seiten der Neidischen und Erbärmlichen: er muß Verkennung, Vernachlässigung und Oberflächlichkeit noch an jedem Wohlwollen herausempfinden, das er erfährt, er kennt jene Heimtücke des beschränkten Mitleidens, welches sich selber gut und heilig fühlt, wenn es ihn, etwa durch bequemere Lagen, durch geordnetere, zuverlässigere Gesellschaft, vor sich selber zu »retten« sucht – ja er wird den unbewußten Zerstörungstrieb zu bewundern haben, mit dem alle Mittelmäßigen des Geistes gegen ihn tätig sind, und zwar im besten Glauben an ihr Recht dazu! Es ist für Men schen dieser unverständlichen Vereinsamung nötig, sich tüchtig und herzhaft auch in den Mantel der äußeren, der räumlichen Einsamkeit zu wickeln: das gehört zu ihrer Klugheit. Selbst List und Verkleidung werden heute not tun, damit ein solcher Mensch sich selber erhalte, sich selber oben erhalte, inmitten der niederziehenden gefährlichen Stromschnellen der Zeit. Jeder Versuch, es in der Gegenwart, mit der Gegenwart auszuhalten, jede Annäherung an diese Menschen und Ziele von heute muß er wie seine eigentliche Sünde abbüßen: und er mag die verborgene Weisheit seiner Natur anstaunen, welche ihn bei allen solchen Versuchen sofort durch Krankheit und schlimme Unfälle wieder zu sich selber zurückzieht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 652-653

„Die schwierigste und höchste Gestalt des Menschen wird am seltensten gelingen: so zeigt die Geschichte der Philosophie eine Überfülle von Mißratenen, von Unglücksfällen und ein äußerst langsames Schreiten; ganze Jahrtausende fallen dazwischen und erdrücken, was erreicht war; der Zusammenhang hört immer wieder auf. Das ist eine schauerliche Geschichte – die Geschichte des höchsten Menschen, des Weisen. – Am meisten geschädigt ist gerade das Gedächtnis der Großen, denn die Halb-Geratenen und Mißratenen verkennen sie und besiegen sie durch »Erfolge«. Jedesmal, wo »die Wirkung« sich zeigt, tritt eine Masse Pöbel auf den Schauplatz; das Mitreden der Kleinen und der Armen im Geiste ist eine fürchterliche Ohrenmarter für den, der mit Schauder weiß, daß das Schicksal der Menschheit am Geraten ihres höchsten Typus liegt. – Ich habe von Kindesbeinen an über die Existenzbedingungen des Weisen nachgedacht und will meine frohe Überzeugung nicht verschweigen, daß er jetzt in Europa wieder möglich wird – vielleicht nur für kurze Zeit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 653-654

„Die neuen Philosophen aber beginnen mit der Darstellung der tatsächlichen Rangordnung und Wert-Verschiedenheit der Menschen – sie wollen, ach, gerade das Gegenteil einer Anähnlichung, einer Ausgleichung sie lehren die Entfremdung in jedem Sinne, sie reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, sie wollen, daß der Mensch böser werde, als er je war. Einstweilen leben sie noch selber einander fremd und verborgen. Es wird ihnen aus vielen Gründen nötig sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen – sie werden folglich schlecht zum Suchen von ihresgleichen taugen. Sie werden allein leben und wahrscheinlich die Martern aller sieben Einsamkeiten kennen. Laufen sie sich aber über den Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß sie sich verkennen oder wechselseitig betrügen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 654

„Ich vergaß zu sagen, daß solche Philosophen heiter sind und daß sie gerne in dem Abgrund eines vollkommen hellen Himmels sitzen – sie haben andere Mittel nötig, das Leben zu ertragen, als andere Menschen; denn sie leiden anders (nämlich ebensosehr an der Tiefe ihrer Menschen-Verachtung als an ihrer Menschen-Liebe). – Das leidendste Tier auf Erden erfand sich – das Lachen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 655

„Über das Mißverständnis der »Heiterkeit«. Zeitweilige Erlösung von der langen Spannung; der Übermut, die Saturnalien eines Geistes, der sich zu langen und furchtbaren Entschlüssen weiht und vorbereitet. Der »Narr« in der Form der »Wissenschaft«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 655

„Neue Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen Naturen voran.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 655

„Es ist mir ein Trost, zu wissen, daß über dem Dampf und Schmutz der menschlichen Niederungen es eine höhere, hellere Menschheit gibt, die der Zahl nach eine sehr kleine sein wird (– denn alles, was hervorragt, ist seinem Wesen nach selten): man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer oder liebevoller wäre als die Menschen da unten, sondern – weil man kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja Bedingung des Daseins, weil man unter Wolken und Blitzen wie unter seinesgleichen lebt, aber ebenso unter Sonnenstrahlen, Tautropfen, Schneeflocken und allem, was notwendig aus der Höhe kommt und, wenn es sich bewegt, sich ewig nur in der Richtung von oben nach unten bewegt. Die Aspirationen nach der Höhe sind nicht die unsrigen. – Die Helden, Märtyrer, Genies und Begeisterten sind uns nicht still, geduldig, fein, kalt, langsam genug.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 655-656

„Absolute Überzeugung: daß die Wertgefühle oben und unten verschieden sind; daß zahllose Erfahrungen den Unteren fehlen, daß von unten nach oben das Mißverständnis notwendig ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 656

„Wie kommen Menschen zu einer großen Kraft und zu einer großen Aufgabe? Alle Tugend und Tüchtigkeit am Leib und an der Seele ist mühsam und im kleinen erworben worden, durch viel Fleiß, Selbstbezwingung, Beschränkung auf weniges, durch viel zähe, treue Wiederholung der gleichen Arbeiten, der gleichen Entsagungen: aber es gibt Menschen, welche die Erben und Herren dieses langsam erworbenen vielfachen Reichtums an Tugenden und Tüchtigkeiten sind – weil auf Grund glücklicher und vernünftiger Ehen und auch glücklicher Zufälle die erworbenen und gehäuften Kräfte vieler Geschlechter nicht verschleudert und versplittert, sondern durch einen festen Ring und Willen zusammengebunden sind. Am Ende nämlich erscheint ein Mensch, ein Ungeheuer von Kraft, welches nach einem Ungeheuer von Aufgabe verlangt. Denn unsere Kraft ist es, welche über uns verfügt: und das erbärmliche geistige Spiel von Zielen und Absichten und Beweggründen nur ein Vordergrund – mögen schwache Augen auch hierin die Sache selber sehn.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 656-657

„Der sublime Mensch hat den höchsten Wert, auch wenn er ganz zart und zerbrechlich ist, weil eine Fülle von ganz schweren und seltenen Dingen durch viele Geschlechter gezüchtet und beisammen erhalten worden ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 657

„Ich lehre: daß es höhere und niedere Menschen gibt und daß ein einzelner ganzen Jahrtausenden unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann – das heißt ein voller, reicher, großer, ganzer Mensch in Hinsicht auf zahllose unvollständige Bruchstück-Menschen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 657

„Jenseits der Herrschenden, losgelöst von allen Banden, leben die höchsten Menschen: und in den Herrschenden haben sie ihre Werkzeuge.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 657

Rangordnung: Der die Werte bestimmt und den Willen von Jahrtausenden lenkt, dadurch, daß er die höchsten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 657

„Ich glaube, ich habe einiges aus der Seele des höchsten Menschen erraten; – vielleicht geht jeder zugrunde, der ihn errät: aber wer ihn gesehn hat, muß helfen, ihn zu ermöglichen. Grundgedanke: wir müssen die Zukunft als maßgebend nehmen für alle unsere Wertschätzung – und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns suchen!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 657-658

„Nicht »Menschheit«, sondern Übermensch ist das Ziel!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 658

„Dem Wohlgeratenen, der meinem Herzen wohltut, aus einem Holz geschnitzt, welches hart, zart und wohlriechend ist – an dem selbst die Nase noch ihre Freude hat –, sei dies Buch geweiht.
Ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist;
sein Gefallen an etwas hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten wird;
er errät die Heilmittel gegen partielle Schädigungen; er hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens;
er versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen;
er wird stärker, durch die Unglücksfälle, die ihn zu vernichten drohen;
er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, zugunsten seiner Hauptsache – er folgt einem auswählenden Prinzip – er läßt viel durchfallen;
er reagiert mit der Langsamkeit, welche eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz angezüchtet haben – er prüft den Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht;
er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt;
er ehrt, indem er wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 659

„Eine Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie alles so, wie es gehen sollte, auch wirklich geht: wie jede Art »Unvollkommenheit« und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit gehört“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 659-660

Gegen 1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte: und ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung, die ich vor mir sah. Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar eingekerkert in meine Philologie und Lehrtätigkeit – in einen Zufall und Notbehelf meines Lebens –: ich wußte nicht mehr, wie herauskommen, und war müde, verbraucht, vernutzt. Um dieselbe Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf das Gegenteil hinauswollte als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten – dafür hatte ich die Formel »dionysisch«, in den Händen. Daß ein »An-sich der Dinge« notwendig gut, selig, wahr, eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers Interpretation des »An-sichs« als Wille ein wesentlicher Schritt: nur verstand er nicht, diesen Willen zu vergöttlichen: er blieb im moralisch-christlichen Ideal hängen. Schopenhauer stand so weit noch unter der Herrschaft der christlichen Werte, daß er, nachdem ihm das Ding an sich nicht mehr »Gott« war, es schlecht, dumm, absolut verwerflich sehen mußte. Er begriff nicht, daß es unendliche Arten des Anders-sein-könnens, selbst des Gott-sein-könnens geben kann.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 660-661

„Die moralischen Werte waren bis jetzt die obersten Werte: will das jemand in Zweifel ziehen?... Entfernen wir diese Werte von jener Stelle, so verändern wir alle Werte: das Prinzip ihrer bisherigen Rangordnung ist damit umgeworfen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 661

„Werte umwerten – was wäre das? Es müssen die spontanen Bewegungen alle da sein, die neuen, zukünftigen, stärkeren: nur stehen sie noch unter falschen Namen und Schätzungen und sind sich selbst noch nicht bewußt geworden.Ein mutiges Bewußt-werden und Ja-sagen zu dem, was erreicht ist – ein Losmachen von dem Schlendrian alter Wertschätzungen, die uns entwürdigen im Besten und Stärksten, was wir erreicht haben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 661

„Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht alles schon bereitliegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwertung von Werten wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen da ist, welche an den alten Werten leiden, ohne zum Bewußtsein zu kommen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 661-662

„Gesichtspunkte für meine Werte: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen? ob man zusieht oder Hand anlegt – oder wegsieht, beiseite geht?... ob aus der aufgestauten Kraft, »spontan«, oder bloß reaktiv angeregt, angereizt? ob einfach, aus Wenigkeit der Elemente, oder aus überwältigender Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie sie braucht? ob man Problem oder Lösung ist? ob vollkommen bei der Kleinheit der Aufgabe oder unvollkommen bei dem Außerordentlichen eines Ziels? ob man echt oder nur Schauspieler, ob man als Schauspieler echt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man »Vertreter« oder das Vertretene selbst ist –? ob »Person« oder bloß ein Rendez-vous von Personen ..., ob krank aus Krankheit oder aus überschüssiger Gesundheit? ob man vorangeht als Hirt oder als »Ausnahme« (dritte Spezies: als Entlaufener)? ob man Würde nötig hat – oder den »Hanswurst«? ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob man unvollkommen ist, als »zu früh« oder als »zu spät«? ob man von Natur ja sagt oder nein sagt oder ein Pfauenwedel von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist (– die Spezies wird selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer »Pflicht« noch fähig ist? (– es gibt solche, die sich den Rest ihrer Lebenslust rauben würden, wenn sie sich die Pflicht rauben ließen – sonderlich die Weiblichen, die Untertänig-Geborenen.)“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 662

„Gesetzt, unsere übliche Auffassung der Welt wäre ein Mißverständnis: könnte eine Vollkommenheit konzipiert werden, innerhalb deren selbst solche Mißverständnisse sanktioniert wären? Konzeption einer neuen Vollkommenheit: das, was unserer Logik, unserem »Schönen«, unserem »Guten«, unserem »Wahren« nicht entspricht, könnte in einem höheren Sinne vollkommen sein, als es unser Ideal selbst ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 662-663

Unsere große Bescheidung: das Unbekannte nicht vergöttern; wir fangen eben an, wenig zu wissen. Die falschen und verschwendeten Bemühungen. Unsere »neue Welt«: wir müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer unsrer Wertgefühle sind – also »Sinn« in die Geschichte legen können.Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Konsequenz – ihr wißt, wie sie lautet –: daß, wenn es überhaupt etwas anzubeten gibt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge – und nicht die Wahrheit – göttlich ist!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 663

„Wer die Vernünftigkeit vorwärts stößt, treibt damit die entgegengesetzte Macht auch wieder zu neuer Kraft, die Mystik und Narrheit aller Art. In jeder Bewegung zu unterscheiden:
1. daß sie teilweise Ermüdung ist von einer vorhergegangenen Bewegung (Sattheit davon, Bosheit der Schwäche gegen sie, Krankheit);
2. daß sie teilweise eine neu aufgewachte, lange schlummernde aufgehäufte Kraft ist, freudig, übermutig, gewalttätig: Gesundheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 663

„Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes – aber, natürlich auch, wieviel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann – gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 663-664

„Es ist nur eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber ausgleichen in einer überreichen plastischen wiederherstellenden Kraft. Der starke Mensch.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 664

Zur Stärke des 19. Jahrhunderts. – Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert; nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltnes. Wir haben gegen die Revolution revoltiert .... Wir haben uns von der Furcht vor der raison, dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emanzipiert: wir wagen wieder absurd, kindisch, lyrisch zu sein – mit einem Wort: »wir sind Musiker«. Ebensowenig fürchten wir uns vor dem Lächerlichen wie vor dem Absurden. Der Teufel findet die Toleranz Gottes zu seinen Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse als der Verkannte, Verleumdete von alters her – wir sind die Ehrenretter des Teufels. Wir trennen das Große nicht mehr von dem Furchtbaren. Wir rechnen die guten Dinge zusammen in ihrer Komplexität mit den schlimmsten: wir haben die absurde »Wünschbarkeit« von ehedem überwunden (die das Wachstum des Guten wollte ohne das Wachstum des Bösen –). Die Feigheit vor dem Ideal der Renaissance hat nachgelassen – wir wagen es, zu ihren Sitten selbst zu aspirieren. Die Intoleranz gegen den Priester und die Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen; »es ist unmoralisch, an Gott zu glauben« – aber gerade das gilt uns als die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens. Wir haben alledem ein Recht bei uns gegeben. Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite der »guten Dinge« (– wir suchen sie: wir sind tapfer und neugierig genug dazu), z.B. am Griechentum, an der Moral, an der Vernunft, am guten Geschmack (– wir rechnen die Einbuße nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten macht: man macht sich beinahe arm mit einer solchen Kostbarkeit –). Ebensowenig verhehlen wir uns die Kehrseite der schlimmen Dinge“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 664-665

Was uns Ehre macht. – Wenn irgend etwas uns Ehre macht, so ist es dies: wir haben den Ernst woandershin gelegt: wir nehmen die von allen Zeiten verachteten und beiseite gelassenen niedrigen Dinge wichtig – wir geben dagegen die »schönen Gefühle« wohlfeil. Gibt es eine gefährlichere Verirrung als die Verachtung des Leibes? Als ob nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurteilt wäre zum Krankhaft-werden, zu den vapeurs des »Idealismus«! Es hat alles nicht Hand noch Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht ist: wir sind radikaler. Wir haben die »kleinste Welt« als das überall Entscheidende entdeckt. Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, die Speise auf ihren Wertbegriffen; wir haben Ernst gemacht mit allen Nezessitäten des Daseins und verachten alles »Schönseelentum« als eine Art der »Leichtfertigkeit und Frivolität«. – Das bisher Verachtetste ist in die erste Linie gerückt.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 665

„Statt des »Naturmenschen« Rousseaus hat das 19. Jahrhundert ein wahreres Bild vom »Menschen« entdeckt – es hat dazu den Mut gehabt... Im ganzen ist damit dem christlichen Begriff »Mensch« eine Wiederherstellung zuteil geworden. Wozu man nicht den Mut gehabt hat, das ist, gerade diesen »Mensch an sich« gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantiert zu sehen. Insgleichen hat man nicht gewagt, das Wachstum der Furchtbarkeit des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachstums der Kultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen Ideal unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das Heidentum, insgleichen gegen den RenaissanceBegriff der virtù. So aber hat man den Schlüssel nicht zur Kultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zugunsten des »guten Menschen« (wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim sozialistischen Ideal (d.h. dem Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt). Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert: dessen höchste Überwindung durch Goethe und Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert – er ist ein moderner Pascal, mit Pascalschen Werturteilen ohne Christentum. Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja. Napoleon: die notwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der »Mann« wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die »Totalität« als Gesundheit und höchste Aktivität; die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 665-667

Zum Pessimismus der Stärke. – In dem innern Seelen-Haushalt des primitiven Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse?
– Er konzipiert es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken – zu prävenieren.
– Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen als wohlgemeint, als sinnvoll aus.
– Ein drittes Mittel: man interpretiert vor allem das Schlimme als »verdient«: man rechtfertigt das Böse als Strafe.
In summa: man unterwirft sich ihm –: die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse. – Der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt Verzicht leisten, es zu bekämpfen.
Nun stellt die ganze Geschichte der Kultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Kultur, das heißt eben berechnen lernen, kausal denken lernen, prävenieren lernen, an Notwendigkeit glauben lernen. Mit dem Wachstum der Kultur wird dem Menschen jene primitive Form der Unterwerfung unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene »Rechtfertigung des Übels« entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das »Übel« – er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß ins Bewußtsein tritt – wo die Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom höchster Kultur – ich nenne ihn den Pessimismus der Stärke. Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine »Rechtfertigung des Übels«, er perhorresziert gerade das »Rechtfertigen«: er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nötig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört. In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute einer »Rechtfertigung«, d.h. es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch. Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermut zugunsten des Tiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphierendste Form der Geistigkeit. Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen – er darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen. Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet, so tut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchtsform erkennen lassen. Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit einer Theodizee, d.h. mit einem absoluten Ja-sagen zu der Welt – aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals nein gesagt hat –: und dergestalt zur Konzeption dieser Welt als des tatsächlich erreichten höchstmöglichen Ideals.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 667-669

Die Hauptarten des Pessimismus:
der Pessimismus der Sensibilität (: die Überreizbarkeit mit einem Übergewicht der Unlustgefühle);
der Pessimismus des »unfreien Willens« (anders gesagt: der Mangel an Hemmungskräften gegen die Reize);
der Pessimismus des Zweifels (: die Scheu vor allem Festen, vor allem Fassen und Anrühren).
Die dazu gehörigen psychologischen Zustände kann man allesamt im Irrenhause beobachten, wenn auch in einer gewissen Übertreibung. Insgleichen den »Nihilismus« (das durchbohrende Gefühl des – »Nichts«). Wohin aber gehört der Moral-Pessimismus Pascals? der metaphysische Pessimismus der Vedânta-Philosophie? der soziale Pessimismus des Anarchisten (oder Shelleys)? der Mitgefühls-Pessimismus (wie der Leo Tolstois, Alfred de Vignys) ? Sind das nicht alles gleichfalls Verfalls- und Erkrankungs-Phänomene? .... Das exzessive Wichtig-nehmen von Moralwerten oder von »Jenseits«-Fiktionen oder von sozialen Notständen oder von Leiden überhaupt. Jede solche Übertreibung eines engeren Gesichtspunktes ist an sich schon ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das Überwiegen des Neins über das Ja! Was hier nicht zu verwechseln ist: die Lust am Nein-sagen und Nein- tun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Ja-sagens – eigentümlich allen reichen und mächtigen Menschen und Zeiten. Ein Luxus gleichsam; eine Form der Tapferkeit ebenfalls, welche sich dem Furchtbaren entgegenstellt; eine Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man, unter anderem, schrecklich und fragwürdig ist: das Dionysische in Wille, Geist, Geschmack.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 669-670

„Meine fünf »Neins«.
1. Mein Kampf gegen das Schuldgefühl und die Einmischung des Strafbegriffs in die physische und metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die Geschichts-Ausdeutung. Einsicht in die Vermoralisierung aller bisherigen Philosophie und Wertschätzung.
2. Mein Wiedererkennen und Herausziehn des überlieferten Ideals, des christlichen, auch wo man mit der dogmatischen Form des Christentums abgewirtschaftet hat. Die Gefährlichkeit des christlichen Ideals steckt in seinen Wertgefühlen, in dem, was des begrifflichen Ausdrucks entbehren kann: mein Kampf gegen das latente Christentum (z.B. in der Musik, im Sozialismus).
3. Mein Kampf gegen das 18. Jahrhundert Rousseaus, gegen seine »Natur«, seinen »guten Menschen«, seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls — gegen die Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisierung des Menschen: ein Ideal, das aus dem Haß gegen die aristokratische Kultur geboren ist und in praxi die Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühle ist, erfunden als Standarte für den Kampf (– die Schuldgefühls-Moralität des Christen, die Ressentiments-Moralität eine Attitüde des Pöbels).
4. Mein Kampf gegen die Romantik, in der christliche Ideale und Ideale Rousseaus zusammenkommen, zugleich aber mit einer Sehnsucht nach den alten Zeiten der priesterlich-aristokratischen Kultur, nach virtù, nach dem »starken Menschen« – etwas äußerst Hybrides; eine falsche und nachgemachte Art stärkeren Menschtums, welches die extremen Zustände überhaupt schätzt und in ihnen das Symptom der Stärke sieht (»Kultus der Leidenschaft«: ein Nachmachen der expressivsten Formen, furore espressivo nicht aus der Fülle, sondern dem Mangel) – (Was relativ aus der Fülle geboren ist im 19. Jahrhundert, mit Behagen: heitere Musik usw.; – unter Dichtern ist z.B. Stifter und Gottfried Keller Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein als – –. Die große Technik und Erfindsamkeit, die Naturwissenschaften, die Historie (?): relative Erzeugnisse der Stärke, des Selbstzutrauens des 19. Jahrhunderts.)
5. Mein Kampf gegen die Überherrschaft der Herden-Instinkte, nachdem die Wissenschaft mit ihnen gemeinsame Sache macht; gegen den neuerlichen
Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz behandelt wird.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 670-671

„Aus dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich. Auch das ist »Pessimismus« .... Eine Lehre, die einem solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend etwas befiehlt: eine Umwertung der Werte, vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, so daß sie in Blitzen und Taten explodieren – braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 672

„Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht. Das Glück: in dem herrschend gewordnen Bewußtsein der Macht und des Siegs. Der Fortschritt: die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles andere ist Mißverständnis, Gefahr.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 672

„Eine Periode, wo die alte Maskerade und Moral-Aufputzung der Affekte Widerwillen macht: die nackte Natur; wo die Macht-Quantitäten als entscheidend einfach zugestanden werden (als rangbestimmend); wo der große Stil wieder auftritt als Folge der großen Leidenschaft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 672

„Alles Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln, schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe der Kultur; aber bis sie stark genug dazu ist, muß sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst verfluchen. Überall, wo eine Kultur das Böse ansetzt, bringt sie damit ein Furchtverhältnis zum Ausdruck, also eine Schwäche.
These: alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse von ehedem.
Maßstab: je furchtbarer und größer die Leidenschaften sind, die eine Zeit, ein Volk, ein einzelner sich gestatten kann, weil er sie als Mittel zu brauchen vermag, um so höher steht seine Kultur –; je mittelmäßiger, schwächer, unterwürfiger und feiger ein Mensch ist, um so mehr wird er als böse ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfänglichsten. Der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen (d.h. des ihm Verbotenen und Feindlichen) überall sehen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 672-673

„Nicht »das Glück folgt der Tugend« – sondern der Mächtigere bestimmt seinen glücklichen Zustand erst als Tugend. Die bösen Handlungen gehören zu den Mächtigen und Tugendhaften: die schlechten, niedrigen zu den Unterworfenen. Der mächtigste Mensch, der Schaffende, müßte der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier: hart, schmerzhaft, aufgezwungen. Solche Menschen wie Napoleon müssen immer wieder kommen und den Glauben an die Selbstherrlichkeit des einzelnen befestigen: er selber aber war durch die Mittel, die er anwenden mußte, korrumpiert worden und hatte die noblesse des Charakters verloren. Unter einer andern Art Menschen sich durchsetzend, hätte er andere Mittel anwenden können; und so wäre es nicht notwendig, daß ein Cäsar schlecht werden müßte.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 673

„Der Mensch ist das Untier und Übertier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachstum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare: man soll das eine nicht wollen ohne das andere – oder vielmehr: je gründlicher man das eine will, um so gründlicher erreicht man gerade das andere.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 674

„Zur Größe gehört die Furchtbarkeit: man lasse sich nichts vormachen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 674

„Ich habe die Erkenntnis vor so furchtbare Bilder gestellt, daß jedes »epikureische Vergnügen« dabei unmöglich ist. Nur die dionysische Lust reicht aus –: ich habe das Tragische erst entdeckt. Bei den Griechen wurde es, dank ihrer moralistischen Oberflächlichkeit, mißverstanden. Auch Resignation ist nicht eine Lehre der Tragödie, sondern ein Mißverständnis derselben! Sehnsucht ins Nichts ist Verneinung der tragischen Weisheit, ihr Gegensatz!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 674

„Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachstum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube, der, welcher etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachstums in der Liebe erraten hat, wird Dante, als er über die Pforte seines Inferno schrieb: »auch mich schuf die ewige Liebe«, verstehen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 674

„Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben – mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück. Wirklich den Pessimismus überwinden –; ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 675

„Es ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgendwomit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 675

„Die ja-sagenden Affekte: – der Stolz, die Freude, die Gesundheit, die Liebe der Geschlechter, die Feindschaft und der Krieg, die Ehrfurcht, die schönen Gebärden, Manieren, der starke Wille, die Zucht der hohen Geistigkeit, der Wille zur Macht, die Dankbarkeit gegen Erde und Leben – alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht – die ganze Gewalt verklärender Tugenden, alles Gutheißende, Jasagende, Jatuende –.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 675

„Wir wenigen oder vielen, die wir wieder in einer entmoralisierten Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch die ersten, die es begreifen, was ein heidnischer Glaube ist – sich höhere Wesen, als der Mensch ist, vorstellen müssen, aber diese jenseits von Gut und Böse; alles Höher-sein auch als Unmoralisch-sein abschätzen müssen. Wir glauben an den Olymp – und nicht an den »Gekreuzigten«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 675-676

„Der neuere Mensch hat seine idealisierende Kraft in Hinsicht auf einen Gott zumeist in einer wachsenden Vermoralisierung desselben ausgeübt – was bedeutet das? – Nichts Gutes, ein Abnehmen der Kraft des Menschen. An sich wäre nämlich das Gegenteil möglich: und es gibt Anzeichen davon. Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral, die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend – Gott als das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von »Gut und Böse«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 676

„Aus der uns bekannten Welt ist der humanitäre Gott nicht nachzuweisen: so weit kann man euch heute zwingen und treiben. Aber welchen Schluß zieht ihr daraus? »Er ist uns nicht nachweisbar«: Skepsis der Erkenntnis. Ihr alle fürchtet den Schluß »aus der uns bekannten Welt würde ein ganz anderer Gott nachweisbar sein, ein solcher, der zum mindesten nicht humanitär ist« – – und, kurz und gut, ihr haltet euren Gott fest und erfindet für ihn eine Welt, die uns nicht bekannt ist.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 676

„Entfernen wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes – sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir insgleichen die höchste Weisheit – es ist die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleichsehen. Nein! Gott die höchste Macht – das genügt! Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt – »die Welt«!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 677

„Und wie viele neue Götter sind noch möglich! Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart! .... So vieles Seltsame ging schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken, die ins Leben herein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird... Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter gibt... Es fehlt nicht an solchen, aus denen man einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf .... Die leichten Füße gehören vielleicht selbst zum Begriffe »Gott« .... Ist es nötig, auszuführen, daß ein Gott sich mit Vorliebe jenseits alles Biedermännischen und Vernunftgemäßen zu halten weiß? jenseits auch, unter uns gesagt, von Gut und Böse? Er hat die Aussicht frei – mit Goethe zu reden. – Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustras anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen »ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde« .... Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich! – Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist: der glaubt weder an alte, noch neue Götter. Zarathustra sagt, er würde –; aber Zarathustra wird nicht .... Man verstehe ihn recht. Typus Gottes nach dem Typus der schöpferischen Geister, der »großen Menschen«.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 677-678

„Und wie viele neue Ideale sind im Grunde noch möglich! – Hier ein kleines Ideal, das ich alle fünf Wochen einmal auf einem wilden und einsamen Spaziergang erhasche, im azurnen Augenblick eines frevelhaften Glücks. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd; halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgendeinem Sonnenstrahl des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermutigt selbst durch Trübsal – denn Trübsal erhält den Glücklichen –; einen kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend: – dies, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes, eines Geistes der Schwere.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 678

Aus der Kriegsschule der Seele. (Den Tapfern, den Frohgemuten, den Enthaltsamen geweiht.) Ich möchte die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen; aber die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen. Auch in den Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus. In Zeiten schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit wähle den Krieg: er härtet ab, er macht Muskel. Die tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man hat nur, was man nötig hat. Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht mich – ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit übrig haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 678-679

Mein neuer Weg zum »Ja«. – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung durch Eis und Wüste gab, lernte ich alles, was bisher philosophiert hat, anders ansehn – die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. »Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« – dies wurde für mich der eigentliche Wertmesser. Der Irrtum ist eine Feigheit ..., jede Errungenschaft der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich .... Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl –, sie will den ewigen Kreislauf – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati. Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig zu begreifen, sondern als wünschenswert: und nicht nur als wünschenswert in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht. Insgleichen gehört hierzu, die bisher allein bejahte Seite des Daseins abzuschätzen; zu begreifen, woher diese Wertung stammt und wie wenig sie verbindlich für eine dionysische Wertabmessung des Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was hier eigentlich ja sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Herde andrerseits und jener dritte, der Instinkt der meisten gegen die Ausnahmen –). Ich erriet damit, inwiefern eine stärkere Art Mensch notwendig nach einer anderen Seite hin sich die Erhöhung und Steigerung des Menschen ausdenken müßte: höhere Wesen, jenseits von Gut und Böse, jenseits von jenen Werten, die den Ursprung aus der Sphäre des Leidens, der Herde und der meisten nicht verleugnen können – ich suchte nach den Ansätzen dieser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (die Begriffe »heidnisch«, »klassisch«, »vornehm« neu entdeckt und hingestellt –).“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 679-680

„Zu demonstrieren, inwiefern die griechische Religion die höhere war als die jüdisch-christliche. Letztere siegte, weil die griechische Religion selber entartet (zurückgegangen) war.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 680

„Es ist nicht zu verwundern, daß ein paar Jahrtausende nötig sind, um die Anknüpfung wieder zu finden – es liegt wenig an ein paar Jahrtausenden!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 681

„Es muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken – und nicht nur im Gedächtnis an sie, oder im Eins-werden mit ihnen, sondern immer von neuem und auf eine neue Weise soll diese Welt verklärt werden.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 681

„Die geistigsten Menschen empfinden den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge, wie es sich die anderen Menschen – solche mit den »fleischernen Herzen« – gar nicht vorstellen können, auch nicht vorstellen dürften, – sie sind Sensualisten im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen grundsätzlicheren Wert zugestehen als jenem feinen Siebe, dem Verdünnungs-, Verkleinerungsapparate, oder wie das heißen mag, was man, in der Sprache des Volkes, »Geist« nennt. Die Kraft und Macht der Sinne – das ist das Wesentlichste an einem wohlgeratenen und ganzen Menschen: das prachtvolle »Tier« muß zuerst gegeben sein – was liegt sonst an aller »Vermenschlichung«!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 681

„1. Wir wollen unsre Sinne festhalten und den Glauben an sie – und sie zu Ende denken! Die Widersinnlichkeit der bisherigen Philosophie als der größte Widersinn des Menschen.
2. Die vorhandene Welt, an der alles Irdisch-Lebendige gebaut hat, daß sie so scheint (dauerhaft und langsam bewegt), wollen wir weiter bauen – nicht aber als falsch wegkritisieren!
3. Unsre Wertschätzungen bauen an ihr; sie betonen und unterstreichen. Welche Bedeutung hat es, wenn ganze Religionen sagen: »Es ist alles schlecht und falsch und böse!« Diese Verurteilung des ganzen Prozesses kann nur ein Urteil von Mißratenen sein!
4. Freilich, die Mißratenen könnten die Leidendsten und Feinsten sein? Die Zufriedenen könnten wenig wert sein?
5. Man muß das künstlerische Grundphänomen verstehen, welches »Leben« heißt – den bauenden Geist, der unter den ungünstigsten Umständen baut: auf die langsamste Weise – – –. Der Beweis für alle seine Kombinationen muß erst neu gegeben werden: es erhält sich.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 681-682

„Die Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dankbarkeit für das Leben und seine typischen Zustände – das ist am heidnischen Kultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite. – Die Unnatur (schon im griechischen Altertum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral, Dialektik“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 682

„Eine antimetaphysische Weltbetrachtung – ja, aber eine artistische.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 682

„Die Täuschung Apollos: die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung »so soll es immer sein!«. Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 682-683

„Mit dem Wort »dionysisch« ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesamt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens..
Mit dem Wort »apollinisch« ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen »Individuum«, zu allem was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz..
An den Antagonismus dieser beiden Natur-Kunstgewalten ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso notwendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens. Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Rätsel, von dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu erraten, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte, der dionysische Grieche nötig hatte, apollinisch zu werden: das heißt, seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, so wenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 683-684

„Zu den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein seine eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur die Allerseltensten und Bestgeratenen: und auch diese nur, nachdem sie selber und ihre Vorfahren ein langes vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht einmal im Wissen um dieses Ziel, gelebt haben. Dann wohnt ein überströmender Reichtum vielfältigster Kräfte und zugleich die behendeste Macht eines »freien Wollens« und herrschaftlichen Verfügens in einem Menschen liebreich beieinander; der Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause, wie die Sinne in dem Geiste zu Hause und heimisch sind; und alles, was nur in diesem sich abspielt, muß auch in jenen ein feines außerordentliches Glück und Spiel auslösen. Und ebenfalls umgekehrt! – Man denke über diese Umkehrung bei Gelegenheit von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr auch schon im abgeschwächten Bilde, gibt von diesem Vorgange eine Ahnung. Es ist wahrscheinlich, daß bei solchen vollkommenen und wohlgeratenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichnis-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt werden; sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung des Leibes und sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes »Gott ist ein Geist«: wobei sich klar herausstellt, daß der Asket der »mißratene Mensch« ist, welcher nur ein Etwas an sich, und gerade das richtende und verurteilende Etwas, gut heißt – und »Gott« heißt. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Tiere: diese ganze lange ungeheure Licht-und Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche, nicht ohne die dankbaren Schauder dessen, der in ein Geheimnis eingeweiht ist, nicht ohne viele Vorsicht und fromme Schweigsamkeit – mit dem Götternamen: Dionysos. –.
Was wissen denn alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen, vielfachen, kranken, seltsamen Zeit, von dem Umfange des griechischen Glücks, was könnten sie davon wissen! Woher nähmen gar die Sklaven der »modernen Ideen« ein Recht zu dionysischen Feiern!.
Als der griechische Leib und die griechische Seele »blühte«, und nicht etwa in Zuständen krankhafter Überschwänglichkeit und Tollheit, entstand jenes geheimnisreiche Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung. Hier ist ein Maßstab gegeben, an dem alles, was seitdem wuchs, als zu kurz, zu arm, zu eng befunden wird – man spreche nur das Wort »Dionysos« vor den besten neueren Namen und Dingen aus, vor Goethe etwa oder vor Beethoven oder vor Shakespeare oder vor Raffael: und auf einmal fühlen wir unsere besten Dinge und Augenblicke gerichtet. Dionysos ist ein Richter! – Hat man mich verstanden? – Es ist kein Zweifel, daß die Griechen die letzten Geheimnisse »vom Schicksal der Seele« und alles, was sie über die Erziehung und Läuterung, vor allem über die unverrückbare Rangordnung und Wert-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen zu deuten suchten: hier ist für alles Griechische die große Tiefe, das große Schweigen – man kennt die Griechen nicht, solange hier der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet liegt. Zudringliche Gelehrten-Augen werden niemals etwas in diesen Dingen sehen, soviel Gelehrsamkeit auch im Dienste jener Ausgrabung noch verwendet werden muß –; selbst der edle Eifer solcher Freunde des Altertums, wie Goethes und Winckelmanns, hat gerade hier etwas Unerlaubtes, fast Unbescheidenes. Warten und sich-vorbereiten; das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichte und Stimmen vorbereiten; vom Jahrmarkts-Staube und -Lärm dieser Zeit seine Seele immer reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches überwinden und nicht nur von sich abtun – denn die christliche Lehre war die Gegenlehre gegen die dionysische –; den Süden in sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel des Südens über sich aufspannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unsrer »neuen Welt« –: wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages begegnen kann? Vielleicht eben – ein neuer Tag!
Ders., Der Wille zur Macht, S. 684-686

Die zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. – Festzustellen: ob der typische religiöse Mensch eine décadence-Form ist (die großen Neuerer sind samt und sonders krankhaft und epileptisch); aber lassen wir nicht da einen Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische Kult nicht eine Form der Danksagung und der Bejahung des Lebens? Müßte nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein? Typus eines wohlgeratenen und entzückt-überströmenden Geistes! Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Geistes! Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens; (typisch – daß der Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis, Ehrfurcht erweckt). Dionysos gegen den »Gekreuzigten«: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung. Im andern Falle gilt das Leiden, der »Gekreuzigte als der Unschuldige«, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung. – Man errät: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn. Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen; – der in Stücke geschnittne Dionysos ist eine Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 687-688

„Meine Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zugrunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurteilt; die, welche ihn als größte Wohltat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehen“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 689

Der größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.
Der Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille zum Untergang »will«.
Verhütung der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 689

„Eine pessimistische Denkweise und Lehre, ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer, mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft, um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 689

„Ich will den Gedanken lehren, welcher vielen das Recht gibt, sich durchzustreichen – den großen züchtenden Gedanken.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 690

Die ewige Wiederkunft. Eine Prophezeiung.
1. Darstellung der Lehre und ihrer theoretischen Voraussetzungen und Folgen.
2. Beweis der Lehre.
3. Mutmaßliche Folgen davon, daß sie geglaubt wird (sie bringt alles zum Aufbrechen).
a) Mittel, sie zu ertragen;
b) Mittel, sie zu beseitigen.
4. Ihr Platz in der Geschichte, als eine Mitte.
Zeit der höchsten Gefahr. Gründung einer Oligarchie über den Völkern und ihren Interessen: Erziehung zu einer allmenschlichen Politik. Gegenstück des Jesuitismus.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 690

„Die beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte:
a) der des Werdens, der Entwicklung;
b) der nach dem Werte des Daseins (aber die erbärmliche Form des deutschen Pessimismus erst zu überwinden!)
beide von mir in entscheidender Weise zusammengebracht.
Alles wird und kehrt ewig wieder – entschlüpfen ist nicht möglich! – Gesetzt, wir könnten den Wert beurteilen, was folgt daraus? Der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Prinzip, im Dienste der Kraft (und Barbarei!!). Reife der Menschheit für diesen Gedanken.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 690-691

„1. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist. Was aus ihm folgt.
2. Als der schwerste Gedanke: seine mutmaßliche Wirkung, falls nicht vorgebeugt wird, d. h. falls nicht alle Werte umgewertet werden.
3. Mittel, ihn zu ertragen: die Umwertung aller Werte. Nicht mehr die Lust an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit; nicht mehr »Ursache und Wirkung«, sondern das beständig Schöpferische; nicht mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht; nicht mehr die demütige Wendung »es ist alles nur subjektiv«, sondern »es ist auch unser Werk! – Seien wir stolz darauf!«“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 691

„Um den Gedanken der Wiederkunft zu ertragen, ist nötig: Freiheit von der Moral; – neue Mittel gegen die Tatsache des Schmerzes (Schmerz begreifen als Werkzeug, als Vater der Lust; es gibt kein summierendes Bewußtsein der Unlust); – der Genuß an aller Art Ungewißheit, Versuchhaftigkeit, als Gegengewicht gegen jenen extremen Fatalismus; – Beseitigung des Notwendigkeitsbegriffs; – Beseitigung des »Willens«; – Beseitigung der »Erkenntnis an sich«. Größte Erhöhung des Kraft-Bewußtseins des Menschen, als dessen, der den Übermenschen schafft.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 691

„Die beiden extremsten Denkweisen – die mechanistische und die platonische – kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 692

„Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es für sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines »Seins« fähig, hätte sie in allem ihrem Werden nur einen Augenblick diese Fähigkeit des »Seins«, so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem »Geiste«. Die Tatsache des »Geistes« als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist. – Die alte Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden schöpferischen Gott zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken. Auf diesen Einfall – daß also die Welt absichtlich einem Ziele ausweiche und sogar das Hineingeraten in einen Kreislauf künstlich zu verhüten wisse – müssen alle die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdekretieren möchten, d.h. einer endlichen, bestimmten, unveränderlich gleichgroßen Kraft, wie es »die Welt« ist, die Wunder-Fähigkeit zur unendlichen Neugestaltung ihrer Formen und Lagen. Die Welt, wenn auch kein Gott mehr, soll doch der göttlichen Schöpferkraft, der unendlichen Verwandlungs-Kraft fähig sein; sie soll es sich willkürlich verwehren, in eine ihrer alten Formen zurückzugeraten; sie soll nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren; sie soll somit in jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von Zielen, Endzuständen, Wiederholungen hin kontrollieren – und was alles die Folgen einer solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise sein mögen. Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht, zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei – daß irgendworin doch »der alte Gott noch lebe« –, jene Sehnsucht Spinozas, die sich in dem Worte »deus sive natura« (er empfand sogar »natura sive deus« –) ausdrückt. Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen, götter-erdichtenden Geist am bestimmtesten formuliert? Heißt es nicht: die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff »Kraft« unverträglich. Also – fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 692-693

„Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 693

„Daß eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich ist. Aber in einem unbestimmten Raum müßte sie erreicht sein. Ebenfalls in einem kugelförmigen Raum. Die Gestalt des Raumes muß die Ursache der ewigen Bewegung sein und zuletzt aller »Unvollkommenheit«. Daß »Kraft« und »Ruhe«, »Sich-gleich-bleiben« sich widerstreiten. Das Maß der Kraft (als Größe) als fest, ihr Wesen aber flüssig. »Zeitlos« abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Verteilung aller ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht stillstehn. »Veränderung« gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Notwendigkeit der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 693-694

„Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt alles viel zu viel wert zu sein, als daß es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für jegliches: dürfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen? – Mein Trost ist, daß alles, was war, ewig ist – das Meer spült es wieder her.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 694

Die neue Welt-Konzeption. – Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehn – sie erhält sich in beidem. Sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.
Die Hypothese einer geschaffenen Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff »schaffen« ist heute vollkommen undefinierbar, unvollziehbar; bloß ein Wort noch, rudimentär aus Zeiten des Aberglaubens; mit einem Wort erklärt man nichts. Der letzte Versuch, eine Welt, die anfängt, zu konzipieren, ist neuerdings mehrfach mit Hilfe einer logischen Prozedur gemacht worden – zumeist, wie zu erraten ist, aus einer theologischen Hinterabsicht.
Man hat neuerdings mehrfach in dem Begriff »Zeit-Unendlichkeit der Welt nach hinten« (regressus in infinitum) einen Widerspruch finden wollen: man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei den Kopf mit dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen »ich werde nie dabei an ein Ende kommen«: wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus. Erst wenn ich den Fehler machen wollte – ich werde mich hüten, es zu tun –, diesen korrekten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines endlichen progressus bis jetzt, erst wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf – diesen Augenblick – als Schwanz zu fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein Herr Dühring!
Ich bin auf diesen Gedanken bei früheren Denkern gestoßen: jedesmal war er durch andre Hintergedanken bestimmt (– meistens theologische, zugunsten des creator spiritus). Wenn die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, nichts werden könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte, oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in das Sein oder ins Nichts münden könnte), so müßte dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt .... Das ist unsre einzige Gewißheit, die wir in den Händen halten, um als Korrektiv gegen eine große Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen. Kann z.B. der Mechanismus der Konsequenz eines Finalzustandes nicht entgehen, welche William Thomson ihm gezogen hat, so ist damit der Mechanismus widerlegt.
Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftzentren gedacht werden darf – und jede andre Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich unbrauchbar –, so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Kombinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Kombination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch: sie würde unendliche Male erreicht sein. Und da zwischen jeder Kombination und ihrer nächsten Wiederkehr alle überhaupt noch möglichen Kombinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser Kombinationen die ganze Folge der Kombinationen in derselben Reihe bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt. – Diese Konzeption ist nicht ohne weiteres eine mechanistische: denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil die Welt ihn nicht erreicht hat, muß der Mechanismus uns als unvollkommne und nur vorläufige Hypothese gelten.“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 694-696

„Und wißt ihr auch, was mir »die Welt« ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom »Nichts« umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo »leer« wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein »Jenseits von Gut und Böse«, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“
Ders., Der Wille zur Macht, S. 696-697

„Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.“
Ders., Aus dem Nachlaß, S. 194-195

 

 

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