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Hermann F.-H. Schmitz

- „Welt“ -

Die Vorgeschichte der Welt
Übergang zur Welt
Die Welt als entfaltete Gegenwart
Der Raum
Die Zeit
Das Sein
Die Identität
Die Subjektivität
Anfang und Ende der Welt
Das naturwissenschaftliche Weltbild

 

Johann Sebastian Bach, Leipzig
Leipzig ist die erste Heimatstadt von Hermann Schmitz.
Johann Sebastian Bach, Leipzig
Bonn ist die zweite Heimatstadt von Hermann Schmitz.
Johann Sebastian Bach, Leipzig
Kiel ist die dritte Heimatstadt von Hermann Schmitz.
NACH OBEN Die Vorgeschichte der Welt

„Die Welt, die ich in diesem Kapitel behandle, ist das singulare tantum, die Welt, die es nur einmal gibt. Was gehört zu ihr ? Die übliche Antwort lautet: »alles« (mit Ausnahme eventuell des Transzendenten, das manche Gläubige »über« der Welt annehmen). Markus Gabriel nennt sie in seinem Buch Warum es die Welt nicht gibt (Berlin 2013) »den Bereich aller Bereiche«. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie lese ich am Anfang des Artikels Welt: »Von jeweils einer Welt als sinnvoller Ganzheit kann die Welt als Totalität alles Seienden unterschieden werden.« (Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, K. Gründer, G. Gabriel, Band 12, 2004, S. 407 [Formulierung vom Th. Rentsch]). Der Sinn des Wortes »alles« ist dieser: Etwas ist alle x, wenn etwas, falls es ein x ist, dazu gehört, und, falls es nicht ein x ist, nicht dazu gehört. Nach der Formulierung von Rentsch könnte also nur Seiendes zur Welt gehören. Das ist nicht haltbar. In der Welt mischen sich unzertrennlich Seiendes und Nichtseiendes. Sonst könnte es in ihr z.B. kein Entstehen und Vergehen geben, denn Entstehen ist Übergang dessen, was noch nicht ist, ins Sein und Vergehen Übergang dessen, was ist, in etwas, das nicht mehr ist. Die schmale Scheibe dessen, was dazwischen ist, wäre ein winziger, nicht abtrennbarer Ausschnitt der Welt ohne die Dynamik des Entstehens und Vergehens. Nun wird dieses von Metaphysikern und (neuerdings) von Physikern für Schein erklärt, aber davon ist wenig zu halten, wie sich noch zeigen wird. Außerdem gehört aber noch viel anderes Nichtseiendes zur Welt, z.B., was die Menschen träumen und nachher als nicht seiend durchschauen, was übrig bleibt, wenn sich Hoffnungen und Befürchtungen als Illusion erweisen, fiktive Phantasieinhalte. Dem Eingeständnis, daß auch dieses zur Welt gehört, pflegen Anhänger der These von Rentsch mit der Behauptung auszuweichen, in solchen Fällen gehöre nicht der Inhalt der Täuschung oder Fiktion, sondern nur die entsprechende Bewußthabe zur Welt. Diese Reservation kann so lange gelten, wie man die Bewußthaben im Zuge der Weltspaltung in einem Bewußtsein oder einer Seele ablagert, gleichsam verdickt zu Zuständen dieses Mediums. Das ist aber ganz überflüssig und wird widerlegt durch das Beispiel des affektiven Betroffenseins, das nicht in einem Inneren - einem Geist nach Art eines Theaters, wie Hume meinte - abgelagert wird, wozu der Bewußthaber, dessen Stellung zu seinem Inneren bei Philosophen unklar und umstritten ist, erst noch einen Zugang finden müßte; viel mehr wird der Bewußthaber selbst, dem etwas nahegeht, unmittelbar affektiv betroffen. Und was kann nicht alles affektiv betroffen machen? Sogar nüchternste Sachzusammenhänge, in den Augen eines mathematischen oder naturwissenschaftlichen Entdeckers. Wenn aber die Bewußthaben (vulgo Vorstellungen) keine Ablagen in einer Innenwelt sind, sondern bloß Beziehungen des Bewußthabers auf das, was ihm bewußt ist, dann ist die Bewußthabe leer ohne diesen Inhalt seines Bewußtseins (d.h. Bewußtgehabtwerdens) oder höchstens noch eine persönliche Stellungnahme dazu, die ohne ihren Inhalt eine Stellungnahme zu nichts wäre. Dieser bewußte Inhalt, auch wenn er, wie bei Illusionen, nicht ist, gehört also mit den Bewußthaben unzertrennlich zur Welt. Die Welt ist eine Mischung von Seiendem und Nichtseiendem. Die These, sie sei »die Totalität alles Seienden«, ist also unhaltbar. Sie scheitert auch daran, daß die Welt nicht nur einen Stoff, sondern auch eine Form hat, und daß der Stoff - und sei er auch alles Seiende - auch in anderer Form als in der Form der Welt vorliegen könnte.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 245-246).

„Was alles ist aber die Welt? Die nächste Antwort lautet: Sie ist die Totalität alles Einzelnen. Das wäre die passende Antwort für alle Singularisten, die der Überzeugung sind, alles sei ohne Weiteres einzeln, auch das Nichtseiende, wie Leibniz voraussetzt, wenn er behauptet, Gott habe aus allen möglichen Welten die beste als die wirkliche ausgesucht. (Zum Vergleich müßte er alles einzeln vor sich haben.) Der Singularismus ist eine Selbsttäuschung durch Auslassen nötiger begrifflicher Unterscheidungen. Selbst wenn man annimmt (was nicht zutrifft), daß alles absolut identisch ist, folgt nicht, daß alles einzeln ist. Absolut identisch ist, was, wenn vieles ist, von etwas verschieden ist; damit wird nichts über die 1 gesagt, während Einzelheit die und damit die Zahl (und Gattungen mit ihren Umfängen und Fällen) voraussetzt (3.2). Unter den Singularisten stechen besonders die Nominalisten hervor, nach deren Meinung erst einmal einzelne Sachen da sind, aus denen die Menschen durch vergleichende Analyse oder Quasi-Analyse, die Carnap in Der logische Aufbau der Welt so exakt wie möglich logisch zu rekonstruieren unternimmt, einzelne Abstrakta herausfischen, die sie dann zu Abstraktiora kombinieren. Der Grundfehler dieses Versuchs besteht in der Umkehr der Reihenfolge, Gattungen als Abstraktions- und Kombinationsprodukte den einzelnen Fällen nachzuschicken, obwohl Einzelheit nur dadurch möglich ist, daß etwas absolut identisch und zugleich Fall einer Gattung ist (3.2). Da aus der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung folgt, daß jeder einzelne Gegenstand Bestimmungen hat, die nicht einzeln sind (3.3), würde man mit der These des Singularismus für jeden Gegenstand gewisse Bestimmungen von ihm aus der Welt herauskomplimentieren, was nicht statthaft ist. Schon dadurch erledigt sich der Vorschlag.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 246-247).

„Die nächste etwas weniger anspruchsvolle Bestimmung des Weltinhaltes könnte lauten: Zur Welt gehört alles Seiende, das Fall einer Gattung ist, einschließlich des Nichtseienden, das vom Seienden nicht abgelöst werden kann. Dieser Vorschlag ist der Aufgabe schon sehr viel besser angepaßt, denn er läßt auch das nicht-numerische Mannigfaltige zu, sogar das konfuse, dessen Inhalte nicht einmal absolut identisch sind. Ferner kann etwas unter Gattungen fallen, wenn es zwar absolut identisch, aber nicht einzeln ist, weil die Gattung nicht auf es als dieses absolut Identische zutrifft, sondern nur auf es unter vielen, so daß universell nicht streuend (für jedes x), sondern nur summarisch (für alle x) quantifiziert werden kann. Der Vorschlag wäre gut, nur läßt er die Frage offen, woher denn die Gattungen kommen. Es hat sich herausgestellt, daß den Menschen ein Bewußtsein einzelner Fälle, wenigstens mit stabiler und zusammenhängender Einzelheit, nur durch Bewußthabe einzelner Gattungen und ihrer Kombination zu Konstellationen möglich ist, und ein Bewußthaben einzelner Gattungen nur, wenn diese aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden und dann zu weiteren Gattungen zusammengestellt werden (2.5). Mit dem Nominalismus ist also auch der Platonismus zu verwerfen, der die Gattungen einfach hinnimmt, als seien sie in einem Ideenhimmel von selbst da.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 247-248).

„Der dritte Vorschlag hat dieselbe Schwäche wie der zweite, dazu zu verführen, die Ebene der Betrachtung von vornherein zu hoch anzusetzen, auf einem Niveau, wo schon Gattungen für die je nach dem streuende oder summarische Subsumtion von einzelnen oder noch nicht einzelnen Fällen verfügbar sind. Diesen Fehler machen z. B. Naturwissenschaftler - meist naive Singularisten - , die uns als physikalische Kosmologen oder biologische Evolutionstheoretiker darüber belehren, was vor uralten Zeiten geschehen sei, z. B. in den ersten drei Sekunden des Universums nach dem Urknall, als ob es immer so viele einzelne Sekunden und eine in kleinere Abschnitte zerlegbare (extensive) Zeit gegeben haben müßte. Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß die einzelnen Fälle, die Gattungen und die Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme), eine Vorgeschichte haben, in der sie aus tieferen Stufen mit andersartiger Ordnungsform im nicht numerischen Mannigfaltigen hervorgehen. Wir können freilich, als Wissenschaftler, nur vom heute erreichten Standpunkt der Vereinzelung aus sprechen, und nur das tue auch ich, indem ich Gattungen bereitstelle, die spezifisch auf die tieferen Schichten der Voraussetzung des von uns erreichten höheren Standpunktes zutreffen, so gut, wie ich mit Feststellung objektiver Tatsachen über für jemanden subjektive Tatsachen spreche, ohne er zu sein (1.1). In dieser Weise werde ich an die Welt von ihrer Vorgeschichte her herantreten, indem ich mir den dritten Vorschlag - Welt als Inbegriff aller Fälle von Gattungen des Seienden und des ihm anhängenden Nichtseienden zu denken - im Prinzip zu eigen mache, aber abgesehen von der Einschränkung der Welt auf die Perspektive eines Beobachters, der von vornherein über Gattungen verfügt, als wären sie ihm geschenkt, wie vom platonischen Ideenhimmel gefallen, und nicht geschichtlich entbunden.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 248-249).

„Die ursprüngliche Voraussetzung der Welt ist die primitive Gegenwart, die nach 3.4 den Akzent im absolut konfus chaotischen Mannigfaltigen (2.4.1) setzt, der absolute Identität einführt. Das Urkontinuum, das auf diese Weise unterbrochen wird, kann man sich am Besten am Beispiel der intensiven Steigerung klar machen, wenn etwa etwas Leises lauter, etwas Warmes wärmer wird. Dann kommt viel Lautstärke, viel Wärme hinzu und macht sich als mehr laut, mehr warm bemerkbar, aber dieses Viele ist durch ein absolut unspaltbares Verhältnis so sehr zu einer Masse verschmolzen, daß es aussichtslos wäre, darin nach Verschiedenem zu suchen oder sich gar gegen Verwechslung des einen mit dem anderen schützen zu wollen. Erst mit der primitiven Gegenwart setzt die Verschiedenheitsfähigkeit ein, lange vor der Unterscheidbarkeit, denn Unterschiede gibt es erst, wenn etwas sich »in« etwas - nämlich in den Gattungen, dessen Fall es ist - von etwas unterscheidet, und das ist erst beim Einzelnen der Fall, während bloße Verschiedenheit nicht darauf angewiesen ist, »in« etwas von etwas verschieden zu sein. Die primitive Gegenwart, die die Verschiedenheitsfähigkeit in das Mannigfaltige einführt, ist die Gegenwart, die der plötzliche Andrang des Neuen aus dem absolut konfusen Mannigfaltigen abreißt, indem er Dauer zerreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein, ins Nichtmehrsein, verabschiedet. Genau besehen, wird erst durch diesen Riß das Urkontinuum zur Dauer, die aber nicht total zerrissen wird, sondern, wie sich noch zeigen wird, zum Teil als unzerrissene Dauer der zerrissenen anhaftet und mit dem Riß zusammen die reine Modalzeit, die Zeit des Entstehens und Vergehens noch vor der Gliederung in Früheres und Späteres, ausmacht.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 249-250).

„Die primitive Gegenwart hat fünf Seiten, deren Zahl aber eine Zutat aus dem Rückblick nach der Vereinzelung ist und in der Verschmelzung der fünf Seiten oder Momente durch absolut unspaltbares Verhältnis untereinander keine Rolle spielt. Ich habe diese fünf Seiten durch die Formel charakterisiert: Hier-jetzt-sein-dieses-ich. Diese fünf Seiten will ich nun erläutern.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 250).

Das Hier der primitiven Gegenwart ist die Enge, in die durch den plötzlichen Andrang der Betroffene (die fünfte Seite, das Ich-Moment) getrieben wird, in der Terminologie der leiblichen Dynamik: das Extrem privativer Engung, das der Betroffene im Zusammenzucken spürt. Dies ist ein streng absoluter Ort, der nicht nur ohne Lagen und Abstände, wodurch sich die relativen Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist, unterscheiden, auskommt, sondern auch ohne das andere, urtümlichere System räumlicher Orientierung, das unter 3.3 als das motorische Körperschema beschrieben wurde, in dem absolute Orte durch unumkehrbare Richtungen verbunden sind. Das Hier der primitiven Gegenwart nimmt am Abriß der Gegenwart aus dem Urkontinuum teil, das ihm gegenüber zur Weite wird, aber nicht am Abschied ins Vorbeisein und damit nicht an der verwandlung des Urkontinuums in zerrissene und unzerrissene Dauer.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 250).

Das Jetzt der primitiven Gegenwart ist das Plötzliche im Andrang des Neuen, der Gegenwart aus dem Urkontinuum abreißt, indem er plötzlich ist, d. h. Dauer zerreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein, ins Nichtmehrsein verabschiedet. Durch das Plötzliche wird das Urkontinuum der konfusen Mannigfaltigkeit zur Dauer und erhält eine zeitliche Seite. Das spezifisch Zeitliche, das dem Raum fehlt, ist der Abschied ins Nichtmehrsein, das Plötzliche. Dadurch wird die Perspektive in die Vergangenheit geöffnet. Wittgenstein weist einmal auf den Zirkel hin, der entsteht, wenn man den Zugang zur Vergangenheit der Erinnerung anvertraut: » Weiß er, daß es Erinnern ist, weil es durch Vergangenes hervorgerufen wurde ? Und wie weiß er, daß es Vergangenes ist? Den Begriff der Vergangenheit lernt ja der Mensch, indem er sich erinnert.« (Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Tei 2, Kaiptel 13, S, 579). Der Fehler, der den vermeintlichen Zirkel verschuldet, steht im letzten Satz. Die Erinnerung findet die Vergangenheit schon vor und füllt sie; eröffnet wird die Perspektive in die Vergangenheit vom Jetzt der primitiven Gegenwart.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 250-251).

„Von der Vergangenheit wird die primitive Gegenwart durch den Riß des Abschieds getrennt; desto inniger hängt sie mit der Zukunft zusammen, in der Gestalt des in sie eindringenden Neuen. Diese Zukunft ist von anderer Art als die unseres gewöhnlichen Umgangs mit der Zeit. Die Zukunft im gewöhnlichen Sinn ist das Bevorstehende, das noch nicht ist, auf das wir uns aber in der Haltung des Erwartens beziehen, weil wir es vereinzeln. Beziehungen erfordern einzelne Glieder, im Gegensatz zu unspaltbaren Verhältnissen (2.4.2). In der primitiven Gegenwart ist nichts einzeln. Ihre Zukunft ist das Neue, das entsteht, indem es in unspaltbarem Verhältnis in sie eindringt und durch Abreißen und Exponieren Gegenwart erzeugt. Ich bezeichne diese beziehungslose Zukunft als Appräsenz und deren Zusammenhang mit der durch sie hervorgerufenen Gegenwart als Präsenz-Appräsenz.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 251).

„Das Jetzt der primitiven Gegenwart ist der absolute Augenblick ohne Beziehung zum Früheren oder Späteren, zum Vergangenen oder Zukünftigen. Der absolute Augenblick unterliegt keiner Metrik, ist weder lang noch kurz, kein Zeitpunkt. Seit der Antike hat man sich mit dem Paradox beschäftigt, das die Wirklichkeit der Zeit bestreitet, weil das Seiende in ihr nur ein dauerloser Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft sei. Dieses Scheinproblem hat mit dem absoluten Augenblick nichts zu tun. (Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, 2014, S. 168-173). Die Verwandtschaft zwischen beiden besteht nur in der Dauerlosigkeit, die dem Zeitpunkt durch Verkürzung der Dauer bis zum Verschwinden zukommt, dem absoluten Augenblick der primitiven Gegenwart aber durch Zerreißen und Verabschieden der Dauer.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 251-252).

Das Sein der primitiven Gegenwart (die Wirklichkeit, die Existenz, das Dasein) ist wie jedes Existenz-Inductivum (wie auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) kein Attribut, also belanglos für die absolute Identität einer Sache, daß sie diese und keine andere ist; daher kann dieselbe Sache sowohl (ohne Widerspruch) sein als auch nicht sein, wofür ich das Vergangene, an das man sich erinnert, als Beispiel angegeben habe (2.1). Daraus folgt, daß es kein Kriterium des Seins geben kann, kein Unterscheidungsmerkmal, das, zirkelfrei formulierbar, das Seiende vom Nichtseienden schiede. Ein solches Kennzeichen müßte trennscharf sein; solche Trennschärfe ist unmöglich, wenn etwas, wie das, woran sich jemand erinnert, auf beiden Seiten Platz hat. Man kann die Wirklichkeit nicht in einen zur Unterscheidung genügenden Begriff fassen, sondern nur von ihr gepackt werden. Das Gepacktwerden von der Wirklichkeit in der primitiven Gegenwart hat die Eigenart, daß es ohne Spielraum ist. Die Begegnung mit der Wirklichkeit hat den Spielraum, mehr oder weniger aufdringlich zu sein, und zwar im Allgemeinen je nach dem Maß der leiblichen Engung: Je beengter einer ist, desto näher ist ihm die Wirklichkeit. Die primitive Gegenwart ist das Extrem leiblicher Enge, und deswegen ist die Wirklichkeit unausweichlich nahe: Man wird von ihr gestellt, wie das Wild auf der Jagd von den Hunden.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 252-253).

Das Dieses der primitiven Gegenwart ist das absolut Identische, das durch die Enge (das Hier) und das Plötzliche (das Jetzt) dem Urkontinuum abgewonnen wird. Es ist die Urform absoluter Identität, wie eine durch Abreißen der Gegenwart aus der zerrissenen Dauer exponierte Spitze, gleichsam die verkörperte Negation des Andersseins. Seinen Inhalt gewinnt es an dem fünften, dem Ich-Moment der primitiven Gegenwart mit dem es, wie mit deren anderen Momenten in unspaltbarem Verhältnis zusammenhängt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 253).

Das Ich der primitiven Gegenwart ist das, was jemand im affektiven Betroffensein als sich selbst spürt, indem ihm etwas so nahe kommt, daß er unweigerlich merkt, daß er selbst der davon Betroffene ist. In der primitiven Gegenwart hat diese Selbstgegebenheit die besonders reine Form, die durch die Exposition des Dieses im Abriß der Gegenwart, im Hier, Jetzt und spielraumlosen Sein, bereitet wird. Zur Exposition (Aussetzung) des Dieses kommt es, indem etwas aus dem Urkontinuum heraustritt, statt in verschwommenem Gleichmaß des Urkontinuums mitzuschwimmen, und das ist das Ich-Moment, die Subjektivität der primitiven Gegenwart in Gestalt der aktiven Seite des affektiven Betroffenseins, die unter 1.2 als Gesinnung aufgedeckt wurde, als das zum Betroffenwerden, damit es affektiv wird, gehörige, ursprünglich unbeliebige Eingehen auf das, was betroffen macht. Dieses aktiv-passive Doppelgesicht des affektiven Betroffenseins ist also unentbehrlich, um dem absolut Identischen einen Inhalt zu geben, so wie dieses dem Bewußthaber durch sein unspaltbares Verhältnis mit ihm die Mühe erspart, sich selbst zu finden, indem er im regressus ad infinitum immer neuer Identifizierungen hinter sich herläuft. So gehören das Dieses und das Ich der primitiven Gegenwart, absolute Identität und Subjektivität, an der Wurzel unzertrennlich zusammen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 253).

„Das Hier, das Jetzt, das Dieses und das Ich entspringen, wie aus der Analyse ersichtlich ist, erst in der primitiven Gegenwart, während das Sein nur in sie eintritt und in ihr das Gesicht der Spielraumlosigkeit annimmt, wodurch es unverkennbar wird. Es hat insofern eine Sonderstellung unter den fünf Momenten.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 254).

„Die primitive Gegenwart ist eine extreme Engung aus der Weite des Urkontinuums. Ihr antwortet, gleichsam als Rückstoß, eine entsprechende Weitung auf drei Schienen: Leib, Raum und Zeit. In der Schiene des Leibes bildet sich der vitale Antrieb aus Engung und Weitung sowie der Gegensatz epikritischer Tendenz zur absoluten Identität und protopathischer Tendenz zum konfusen Mannigfaltigen des Urkontinuums; so entsteht die leibliche Dynamik. In der Schiene des Raumes stehen sich der absolute Ort und die Weite, zu der das Urkontinuum im Verhältnis zum Hier der primitiven Gegenwart geworden ist, gegenüber; der Rückstoß erfolgt in Gestalt unumkehrbarer leiblicher Richtungen, die von der Enge des absoluten Ortes aus in die Weite eindringen, etwa als Blick und motorisches Körperschema. Wie weit dessen Bahnen gespannt sein können, kann man den Bahnen der Zugvögel, die deren motorischem Körperschema eingeprägt sind, entnehmen; zusätzliche Hilfen ihrer Orientierung unterstützen die habituelle Führung durch das motorische Körperschema. In der Schiene der Zeit gelingt der Rückstoß mit Hilfe der unzerrissenen Dauer, die beim Abriß der Gegenwart durch den Andrang des Neuen gleichsam mitgerissen und damit zur Dauer geworden, aber nicht selbst zerrissen, sondern der zerrissenen und ins Vorbeisein verabschiedeten Dauer angeheftet (assoziiert) ist. Aus dem Zusammenwirken des mit der primitiven Gegenwart eingetretenen Bruches und Abschieds mit dem Fortbestand unzerrissener Dauer ergibt sich die Zeit als Konkurrenz von Vergehen und Fortwähren im Wechsel des Entstehens und Vergehens, noch ohne Reihenfolge des Früheren und Späteren und ohne zeitliche Abstände, weilohne Vereinzelung, die erst beim Übergang zur Welt möglich wird. So etwas wie ein Kompromiß von Vergehen und Verweilen ist die zeitliche Gegenwart, die vom Jetzt der primitiven Gegenwart (dem absoluten Augenblick) unterschieden werden muß. Die zeitliche Gegenwart kann vom Zerreißen der Dauer eng zusammengedrückt oder von unzerrissener Dauer gedehnt werden (z. B. in Langeweile), also mehr oder weniger lang sein, wobei Länge nicht metrisch, sondern als mehr oder weniger weit ohne bestimmtes Maß zu verstehen ist; nie aber wird die zeitliche Gegenwart zum bloßen Zeitpunkt, der nur als Gedankending einer Limes-Konstruktion der Verkürzung von Zeitlängen in einer schon bis ins Einzelne gegliederten Zeit höherer Stufe möglich ist.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 254-255).

„Raum, Zeit und Leib sind demnach Gestaltungen desselben Gegensatzes von Enge und Weite, zur absoluten Identität oder zum konfusen Mannigfaltigen hin. Miteinander beruhen sie auf dem plötzlichen Andrang des Neuen in primitive Gegenwart. Die Zeit beruht auf dem Extrem privativer Engung, wodurch das zur Dauer gewandelte Urkontinuum bis an den Rand des Nichtseins und über eisen Rand hinaus ins Vorbeisein verfolgt wird. Dem Raum entspricht dagegen der vitale Antrieb, in dem Enge und Weite als Engung und Weitung ohne Abschied verbunden und durch Richtung vermittelt sind. So gehören Raum, Zeit und Leib zusammen und dürften ein gemeinsames Schicksal haben.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 255).

„Auf dieser Grundlage bildet sich eine sehr fruchtbare und stabile Lebensform, die mit dem Urkontinuum (z. B. in Gestalt des Dösens), der primitiven Gegenwart (z. B. in Gestalt des Aufschreckens), der leiblichen Dynamik und der leiblichen Kommunikation auskommt und im wesentlichen das Leben der Tiere umfaßt, auch das der Säuglinge umfassen würde, wenn diese als Frühgeburten nicht so unselbständig wären. Der Mannigfaltigkeitstyp dieses Lebens ist die diffus chaotische Mannigfaltigkeit mit absoluter Identität und Verschiedenheit, aber höchstens schwachen Spuren von Einzelheit, und statt mit Beziehungen als Form des Zusammenhangs mit unspaltbaren Verhältnissen. die an Ordnungsfähigkeit den Beziehungen nicht sehr nachstehen, aber allerdings weniger wendig in Zerlegung und Zusammensetzung neu er Zusammenhänge sind. Ich nenne dies das Leben aus primitiver Gegenwart. Für Bedeutungen (d.h. Sachverhalte, Programme, Probleme) ist in diesem Leben reichlich gesorgt, sowohl durch das leiblich-affektive Betroffensein als auch durch die Reibungen in der antagonistischen Konkurrenz von Spannung und Schwellung im vitalen Antrieb und in der antagonistischen Einleibung. Diese Bedeutungen werden im Leben aus primitiver Gegenwart aber nicht oder nur wenig und selten vereinzelt; zu Gestalten treten sie zusammen in Form von Situationen, sowohl aktuellen als auch zuständlichen, die dem tierischen Leben Ordnung und Orientierung geben. Tiere sind in Situationen gefangen; sie werden von ihnen ebenso geführt wie wir Menschen beim flüssigen Sprechen von der Sprache, die wir gerade sprechen, geführt werden, ohne Besinnung und Reflexion, eventuell sogar ohne zu merken, daß es diese Sprache ist. An diesem Modell kann man sich die Art des tierischen Bewußthabens recht gut klarmachen. Die tierische Aktivität besteht darin, daß der vitalei Antrieb des Tieres dem Programmgehalt (Nomos) der jeweils maßgebenden Situationen (einschließlich des Zusammenwirkens aktueller und zuständlicher Situationen) zugewendet wird. Der gewaltige Unterschied von Menschen besteht nur darin, daß der Mensch den Gehorsam gegen die Sprache, die er spricht, zur Darstellung und Kombination einzelner Bedeutungen im Interesse der Verfolgung seiner wechselnden Zwecke benützt, während der Gehorsam gegen Situationen im tierischen Leben sozusagen Selbstzweck ist. Besonders große Bedeutung besitzt in diesem Leben die solidarische Einleibung, da die Tiere durch den gemeinsamen Antrieb der Einleibung in gemeinsame Situationen eingehen und nicht eigenwillig aus ihnen ausscheren können. Aktuelle Situationen halten in solidarischer Einleibung Vogelschwärme zusammen, zuständliche Situationen in Insektenstaaten die Bienen und Ameisen. Zur Vereinzelung einzelner Sachen kann es im Leben aus primitiver Gegenwart kommen, nicht ebenso zur Vereinzelung und Kombination von Gattungen, die durch Konstellationen die sporadischen Vereinzelungen auffangen und in stabile Zusammenhänge einordnen könnten. Dies ist freilich nur ein Idealtypus tierischen Lebens, der irgend welche Abweichungen, wenn sie beobachtet werden, nicht ausschließen soll.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 255-257).

Ich spreche noch kurz die Entwicklung der fünf Momente der primitiven Gegenwart im Leben aus primitiver Gegenwart durch. Der tierische Raum ist ein Richtungsraum, in dem sich die unumkehrbaren, leiblichen Regungen des Blickes und des motorischen Körperschemas mit den ebenso unumkehrbaren Richtungen der Bewegungssuggestionen begegnender Reize kreuzen, beide eingehüllt in Situationen. Die Auseinandersetzung erfolgt durch Einleibung als leibliche Verarbeitung vielsagender Eindrücke, etwa so, wie ich es am motorischen Körperschema des Menschen beim geschickten Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse und auf bevölkerten Gehwegen gezeigt habe. Auch abgründige Richtungen, wie der Wind und die reißende Schwere, spielen in den tierischen Richtungsraum hinein; ob Tiere auch von Gefühlen ergriffen werden können, lasse ich offen. Die Zeit des Tieres ist die schon beschriebene, reine Modalzeit mit Entstehen und Vergehen, aber ohne frühere und spätere Daten und Abstände zwischen ihnen. Einen Zukunftshorizont hat das Tier in Gestalt der Programme im Nomos von Situationen, wodurch es auf etwas aus ist, z. B. in Hunger, Durst und Paarungsverlangen; vom menschlichen Erwarten unterscheiden sich diese Programme dadurch, daß sie keine Beziehungen zu einzelnen Gegenständen (oder Bedeutungen) sind, sondern Anweisungen zu antagonistischer Einleibung (z. B. in das zu fressende Beutetier), die mit absoluter Identität ohne Einzelheit auskommt. Das Sein ist im unbegriffenen Gepacktwerden von ihm dem Tier ebenso gegenwärtig wie dem Menschen, aber ohne den weiten Horizont, den diesem die Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein zu voller Breite gibt; daher kennen die Tiere keine Phantasie, Planung, Hoffnung und Furcht mit Export der Einzelheit ins Nichtseiende. Das Dieses der primitiven Gegenwart, die absolute Identität, ist den Tieren vertraut und schützt sie vor Verwechslungen in allen Leistungen flüssiger Motorik ebenso wie den Menschen; dies ist der Bereich, in dem der Mensch, auch der personale, am meisten präpersonal, am meisten Tier ist. Das Ich der primitiven Gegenwart, der affektiv betroffene Bewußthaber, ist bei den Tieren gleichsam nackt, da nicht eingehüllt in eine sich lebenslang entwickelnde persönliche Situation und persönliche Eigenwelt, aus der das Fremde durch Neutralisierung subjektiver Bedeutungen ausgeschieden ist. Solche Neutralisierung ist dem Tier fremd; wenn es etwas Eigenes wie sein Territorium gegen Eindringlinge verteidigt, schützt es seinen Lebensraum, der durch eine es leitende zuständliche Situation seiner Lebensführung zugewiesen ist, in antagonistischer Einleibung gegen Feinde, denen es in gemeinsamem vitalen Antrieb verbunden ist. Tiere haben keine persönlichen Erinnerungen, wohl aber Gedächtnisse, die bei ihnen als spezielle Situationen nicht einer persönlichen Situation, sondern der leiblichen Disposition angeschlossen sind. (Vgl Hermann Schmitz, Bewußsein, 2010, S. 132-136: Erinnerung und Gedächtnis).“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 257-258).

NACH OBEN Übergang zur Welt

„Das Leben aus primitiver Gegenwart, mein Idealtypus vom Leben der Tiere, ist eine sehr stabile und erfolgreiche Lebensform, die keiner Ergänzung bedarf. Man wende nicht ein, zusätzlich zu den Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, in denen die Tiere gefangen sind, müßten weitere Umstände aus der Welt herbeigeschafft werden, um dieses Leben möglich zu machen, etwa Sonne, Erde und Meer und alles, was die Naturwissenschaft mit Hilfe allgemeiner Naturgesetze an zusätzlichen Voraussetzungen bereithält. Damit macht man die Perspektive des vernünftig denkenden und sprechenden Menschen ohne Rechtfertigung zum allgemeingültigen Kanon. In dieser Perspektive gibt es lauter Einzelnes in numerischer Mannigfaltigkeit, das durch Beziehungen verknüpft ist, z. B. einzelne relative Orte, wo etwas ist, einzelne relative Augenblicke, wann etwas ist, einzelne Menschen, Bäume, Gattungen, Zahlen usw.. Das gehört zur Weltform; der Stoff der Welt, der so geformt ist, kann ebensogut in anderer Form vorliegen, so daß z. B. das, was wir »Sonne, Erde, Meer« nennen, nicht so abgeteilt wie für uns in einem einzigen Ganzen (der Welt) zusammensteht, durch Beziehungen verknüpft, sondern aufgeteilt in Situationen eingefangen ist, die durch integrierende binnendiffuse Bedeutsamkeit dem Leben Orientierung geben. Das ist keine Phantasie und auch keine bloße Interpretation des Lebens der Tiere, denn es hat sich schon herausgestellt (2.5), daß einzelne Gattungen, ohne deren Anwendung die breitgestreute Einzelheit in der Welt den Menschen nicht aufgehen könnte, ihnen nicht zu Bewußtsein kämen, wenn solche Gattungen nicht aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen, ursprünglich also aus dem Leben aus primitiver Gegenwart, geschöpft werden könnten.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 258-259).

„Die Bibel und die Stoiker haben das Nachsehen: Das Leben der Tiere, das Leben bloß in Situationen, ist nicht auf den Menschen angelegt. Daß dieser sich der Führung durch den Nomos von Situationen entledigen und eigene Konzepte in Form von Konstellationen dagegensetzen kann, ist ein unvorbereitetes Ereignis, das durch sein satzförmiges Sprechen ausgelöst wird. Nur auf diese Weise können Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen herausgelöst und einzeln identifiziert werden. Dafür bedarf der Mensch einer Sprache, die ihm Sätze zur Verfügung stellt, d. h. Regeln, nach denen handelnd der sprechende Mensch einzelne Bedeutungen explizieren und durch Beziehungen zu Konstellationen vernetzen kann. Ein sehr altes und weit verbreitetes Vorurteil besagt, die Sprache sei in erster Linie zur Verständigung (speziell zur Mitteilung von Gedanken) da. »Der soziale Charakter der Rede und die Übermittlung von Gedanken durch das Wort« behaupten nach Ammann heute »die grundlegende Stellung in der Betrachtung sprachlicher Erscheinungen«. Herrmann Ammann, Die menschliche Rede, 1928, S. 128). So macht man einen Nebeneffekt des menschlichen Sprechens zur Hauptsache. Was dieses zur tierischen Rede hinzubringt, ist nicht die Verständigung, denn dazu bringen es die Tiere mit ihren Rufen und Schreien auch, wenngleich anders, nämlich durch Umgang mit unzerlegten Situationen. Das Neue an der menschlichen Rede ist ihre explikative Leistung, die Entbindung und Vernetzung einzelner Bedeutungen. Dazu gelangt der Mensch aber nicht durch eigene Erfindung, sondern, indem er den Regeln, d. h. den Sätzen, einer Sprache folgt. Dadurch (nicht durch grammatische Gliederung, die üblich, aber prinzipiell entbehrlich ist) wird die menschliche Rede satzförmig. Eine Sprache ist eine Situation, die nur aus ihrer Bedeutsamkeit in Form eines Nomos besteht, nämlich aus Regeln - d. h. Normen (Programmen für möglichen Gehorsam) mit beliebiger Wiederholbarkeit des Gehorsams - für die Darstellung und Kombination einzelner Sachverhalte, Programme und/oder Probleme in der Rede. In diesem Sinn haben die Tiere keine Sprache, wenn auch eine Rede aus unterschiedlichen Lauten mit spezifischer Auslösewirkung.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 259-260).

„Wie kommen die Menschen an die Sprache, den Schlüssel zum Aufschließen der Tür des Gefängnisses der Situationen, in dem die Tiere steckenbleiben, von innen? Das ist das übel beleumdete und schon längst als unlösbar abgetane Problem vom Ursprung der Sprache, ein echtes Problem, da Sprache dem Menschen offenbar nicht angewachsen und auch nicht durch Sprechen, wie Gang durch Gehen, erworben worden ist, weil die Sprache als zuständliche Situation schon da sein muß, damit ihr sprechend gehorcht werden kann. Von dem Ursprung der Sprache zu sprechen, ist freilich unangemessen; es kann mehr als einen Ursprung gegeben haben, vor allem für rudimentäre Sprachen, die nur einen schmalen Bestand einzelner Gattungen freisetzen, und vielleicht auch nur unreifer, erst auf dem Weg zur Vereinzelung befindlicher Gattungen, die trotzdem, wie das »Ich-weiß-nicht-was« der Franzosen (vg. Erich Köhler, a.a.O., 1953/’54, S. 21-59), zur Steuerung des Blickes und des Verhaltens ausreichen können. Vielleicht ist die von Karl v. Frisch entdeckte » Tanzsprache« der Bienen von dieser Art. Hier interessiert nur ein solcher Ursprung der Sprache, der auf so breiter Front einzelne Bedeutungen und unter ihnen einzelne Gattungen freisetzt, daß mit ihrer Hilfe weit ausgreifende und beliebiger Verlängerung fähige Netze von Konstellationen über die Welt geworfen werden können. Über die Gestalt eines solchen, gewissermaßen definitiven, Ursprungs der Sprache konkurrieren zwei gegensätzliche theoretische Ansätze: »Der Hauptunterschied zwischen denjenigen Theorien, die heute als sinnvoll angesehen und diskutiert werden, ist daher das Kriterium, ob Sprache als etwas angesehen wird, was sich langsam und kontinuierlich aus tierischer Kommunikation entwickelt hat (dies vertritt die sogenannte gradualistische Sichtweise), oder ob es sich um eine sprunghafte, ›saltotorische‹ Folge von Genmutationen oder sogar, wie Bickerton vermutet, einen einzigen massiven Mutationsschritt handelt, der mit dem Auftreten der Spezies homo sapiens sapiens einhergeht.« (Andrea Schulz, Sprache aus dem Nichts?, 2000, S. 298). Die erste Hypothese, die von Evolutionsbiologen (wie heute Tomasello) bevorzugt wird, halte ich für unwahrscheinlich, weil sie nicht erklärt, wie es zur Sprache als abgerundeter Situation kommt, die der kompetente Sprecher trotz ihres unerschöpflichen binnendiffusen Reichtums an Sätzen mit einem Schlage inne hat - nicht etwa nach Art eines Kalküls das Sprachverständnis rekonstruierend, wie Chomsky meint. Wahrscheinlicher ist mir die zweite Ansicht, aber ohne die biologische Deutung auf Mutationen, die mir überflüssig zu sein scheint.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 260-261).

„Welcher Vorzug vor den Tieren mag es dem Menschen stattet haben, die Gefangenschaft in Situationen zu verlassen und in die Welt als das Feld beliebiger Vereinzelung überzutreten? Natürlich darf man sich nicht auf das Denken oder vergleichbare Vorzüge berufen, die ihrerseits die satzförmige Rede voraussetzen. Der gesuchte Vorzug muß vor dieser Schwelle liegen, in einem Bereich, der seiner Struktur nach grundsätzlich auch den Tieren zugänglich wäre, ihnen aber verschlossen geblieben ist. Ich finde einen solchen Bereich in der leiblichen Dynamik. Mit dem Menschen teilen die Tiere den vitalen Antrieb und dessen Abspaltung zur Enge hin (privative Engung), denn sie können stutzen und erschrecken. Dagegen fehlt es ihnen, vielleicht bis auf kümmerliche Reste, an privativer Weitung; auch ihre Freuden, wie das Hochgefühl des Hundes bei der Erwartung und Ankunft eines geliebten menschlichen Herren (beiderlei Geschlechts), hat mehr von Schwellung als von Erleichterung. Ludwig Klages sieht den Nachteil des Tieres im Verlust der Ferneempfänglichkeit, die der Mensch mit der Pflanze teile. (Vgl. Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 3 Bände, 1929-1932, 35. Kapitel und anderen Stellen, von mir referiert in: Der Weg der europäischen Philosophie, Band 2, 2007, S. 657). Dabei handelt es sich nicht um eine Ferne großer Abstände, sondern um eine Qualität des Entrückten und Unberührbaren, die sogar dem Raubvogel unzugänglich ist, wenn er aus großer Höhe auf seine Beute blickt, da er auf diese als sein nächstes Ziel in antagonistischer Einleibung fixiert ist. Der Mensch dagegen kann sich in das Unberührbare vertiefen, z. B. in eine Landschaft. Ihm ist, anders als den Tieren, die Ausleibung in die Tiefe des Raumes möglich, oder der Blick nach innen, »das starrende Auge, das nach Art eines Tauchers in die Tiefe geht« nach Aischylos (Hiketiden, Verse 407-409: »Not tut tiefes, Rettung bringendes Nachdenken, das starrende Auge, das nach Art eines Tauchers in die Tife geht«). Daran zeigt sich die Überlegenheit des Menschen über das Tier in privativer Weitung.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 261-262).

„Ich nehme an, daß zur Zeit des Sprachursprungs ein mächtiger Schub privativer Weitung über Menschen kam und sie vom Druck der aktuellen Situationen ständiger Herausforderung in antagonistischer Einleibung entlastete, wozu auch die nachher zu besprechende Begegnung mit der Fläche beigetragen haben dürfte. Außer in aktuellen Situationen lebten die Menschen damals schon in zuständlichen Situationen, die wegen der Entlastung durch privative Weitung mit den aktuellen Situationen nicht mehr so dicht verzahnt waren, daß sie von diesen übertönt wurden. Es kann sich um zuständliche Situationen der Lebensordnung, des Brauchtums, der religiösen oder anderen Feste oder Rituale gehandelt haben. Diese zuständlichen Situationen konnten nun an sich selbst besser zum Vorschein kommen und auf die aktuellen Situationen, von denen sie sich zurückgezogen hatten, in anderer Weise angewendet werden, nämlich zur Analyse, um sie durchsichtig zu machen. Jemand kann dann die Erfindung gemacht haben, eine solche zuständliche Situation als Regelwerk zu benützen, um aktuelle Situationen durch Explikation von Bedeutungen aus ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit zu klären. Damit wäre die erste Sprache, gleich als ganze Situation dem Mensch in die Hand, um nicht zu sagen: in den Mund, gefallen. Daß sie mundgerecht würde, d. h. ein Lautkleid ihrer Sätze erhielt, verdankt sie ihrer Anwendung auf die aktuellen Situationen, wobei die Herausforderungen antagonistischer Einleibung durch stimmliche Reaktionen des vitalen Antriebs in solidarischer Einleibung der Beteiligten erwidert wurden, mit der Folge, daß die Gemeinsamkeit solidarischer Einleibung ein gemeinsames Lautbild der Sprache zustande brachte. Eine allmähliche Sprachentwicklung wäre dann nur der Ausbau und die Verfeinerung einer Sprache, die von Anfang an als ganze als zuständliche Situation, als Nomos - da war. (Vgl. Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 235-249).“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 262-263).

„Die Sprache, einmal da, erwies sich als ein ungeheuer mächtiges Instrument zur redenden Darstellung und Identifizierung von Sachverhalten, Programmen und Problemen, die als einzelne aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen freigelegt wurden, und zur Kombination solcher Bedeutungen zu Konstellationen, mit denen die ausgebeuteten Situationen rekonstruiert und überholt werden konnten. Dieser Prozeß hätte irgendwo steckenbleiben können; ihm kam aber ein anderer Prozeß zu Hilfe, der über das selbständig gewordene Umgehen mit allerlei Einzelnem weit hinausführte und diesem Umgehen einen Rahmen schuf, die Struktur eines Feldes, in dem alle mögliche Vereinzelung unterkommen konnte. Dieser zweite Prozeß lag nicht mehr in der Hand der Menschen, sondern nahm sie mit. Es handelt sich um die Entfaltung der primitiven Gegenwart, anknüpfend bei jedem ihrer fünf Momente, denen die Chance der Vereinzelung zuteil wurde, um Fortsetzungen aus sich hervorwachsen zu lassen, in denen, statt bloß absolut identischer Gegenstände mit unspaltbaren Verhältnissen im Leben aus primitiver Gegenwart, einzelne Gegenstände in Beziehungen zusammenhängen. Das Ergebnis war die Welt, in der ein unabsehbarer, beliebig erweiterbarer Vorrat von Gattungen Gelegenheit gibt, sich an allem mit Vereinzelung zu versuchen, selbst wenn diese nicht zu Ende geführt werden kann, sondern sich - wie beim absolut konfusen Mannigfaltigen, in dem es nicht einmal absolute Identität gibt - mit ganzen Massen begnügen muß, über die nur summarisch quantifiziert werden kann. Die Welt ist für die Menschen also einerseits das fünffach strukturierte Feld der ihnen zugänglichen Einzelheit und andererseits der Vorrat alles dessen, was, weil es unter Gattungen steht, Gelegenheit gibt, sich im Seienden (dem Wirklichen) und dem damit unlöslich verbundenen Nichtseienden daran zu versuchen, wie weit die Vereinzelung sich treiben läßt. Mit dem affektiven Betroffensein (der Subjektivität) und der leiblichen Kommunikation wird die absolute Identität in die Welt übertragen und für die Vereinzelung bereitgestellt. Die Welt ist entfaltete Gegenwart. Mit den fünf Seiten dieser Entfaltung will ich mich nun beschäftigen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 263-264).

NACH OBEN Die Welt als entfaltete Gegenwart

Der Raum
Die Zeit
Das Sein
Die Identität
Die Subjektivität

Die Welt als entfaltete Gegenwart Der Raum

„Die primitive Gegenwart zeichnet nur einen streng absoluten Ort aus, inmitten der Weite, in die dann im anschließenden Leben aus primitiver Gegenwart unumkehrbare leibliche Richtungen führen, die Weite in Gegenden gliedernd. Die Vereinzelung durch Entbindung von Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen macht es möglich, dem absoluten Ort des Leibes (sowie den absoluten Orten von Leibesinseln) einzelne relative Orte anzuschließen, die zu sagen gestatten, wo etwas ist, und sich gegenseitig durch Lagen und Abstände bestimmen (identifizierbar machen). Lagen und Abstände können nur an umkehrbaren Verbindungen abgelesen werden, wobei der Abstand sogar in beiden Richtungen, vor und nach der Umkehrung, derselbe ist. Die leiblichen Richtungen sind aber unumkehrbar. Um zu umkehrbaren Verbindungen übergehen zu können, bedarf es eines leibfremden Mediums. Dieses Medium ist die Fläche, die als unverhofftes, unableitbares Geschenk dem Menschen zuteil wird. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie als glatte Oberfläche des eigenen Körpers besehen und betasten kann. Der leibliche Raum, der Raum des Lebens aus primitiver Gegenwart, ist flächenlos wie der Raum des Schalls oder des Wassers für den Schwimmer. In diesen Räumen gibt es keine umkehrbaren Verbindungen, namentlich keine Strecken und Punkte. Solche werden erst im Abstieg von der Fläche, durch Eintragung in diese oder an Bruchstellen (Kanten bzw. Ecken) möglich. Die Fläche ist dagegen unmittelbar zugänglich, wenn auch nicht ganz ohne Schwierigkeit, da sie dem Sehen durch Glanz und Schatten, dem Tasten durch unglatte Beschaffenheit von Oberflächen verdeckt wird. Erst von der Fläche her erschließt sich der Unterschied der Dimensionen des Raumes. Das gilt auch für dreidimensionale Körper. Wir glauben, sie unmittelbar zu sehen, aber wir sehen eigentlich nur ihre Oberflächen oder die Schnittflächen, wenn sie aufgeschnitten werden, wohinter die dreidimensionale Masse sich weiter unsichtbar verbirgt. Diese Zerlegung des Körpers in eine Fassade (die Oberfläche) und ein ewig unzugängliches Innen hat etwas Paradoxes. Das wird anschaulich an der Abendmahlstheorie von Descartes. Es handelt sich um die mysteriöse Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi, ein Dogma der katholischen Kirche. Descartes erklärt sie sich so: Bei der Konsekration durch den Priester in der Messe verwandelt Gott das Brot in Fleisch, den Wein in Blut, beläßt aber die Oberfläche des Brotes und des Weines, so daß für die sinnliche Wahrnehmung, der das massive Innere entzogen ist, alles beim Alten bleibt. So unzugänglich ist das massive Innere fester Körper, daß sich ein Wunder darin verstecken kann: Das Rätsel verschwindet, wenn man das Volumen der Körper nicht mehr als dreidimensional auffaßt, sondern als dynamisch, wie das Wasser dem sich gegen es vorkämpfenden Schwimmer begegnet. So, ohne Zerlegung in Oberflächen und Inneres, bietet sich das Volumen im Leben aus primitiver Gegenwart dar, und ich zweifle sehr, ob Tiere jemals mit Flächen zu tun haben.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 265-266).

„Das Geschenk der Fläche ist von großem Wert für die personale Emanzipation, die Erhebung des Menschen als Person aus dem Leben aus primitiver Gegenwart. Die sich quer dem Blick und dem Vordringen des berührenden und tastenden Körpers in den Weg stellende Fläche fängt den Druck der Herausforderungen antagonistischer Einleibung mehr oder weniger ab und entlastet so den Menschen von der Befangenheit in aktuellen Situationen der Auseinandersetzung; er gewinnt Spielraum für privative Weitung und mögliche Besinnung, womit ich eben den Ursprung der Sprache in Verbindung gebracht habe. In der begegnenden Fläche gewinnt der Mensch einen Spielraum für das Eintragen umkehrbarer Verbindungen, zwischen den Zielen seines Blickens und Berührens; er lernt, spielerisch zu zeichnen, figürlich oder unfigürlich. So lernt er den Umgang mit umkehrbaren Verbindungen, darunter solchen, die den unumkehrbaren Zug der leiblichen Richtungen in die Weite umkehren, um zum eigenen Körper, wo auch sein Leib zu finden ist, zurückzukehren. Er lernt im buchstäblichen und im übertragenen Sinn, auf sich zu reflektieren, sich als Objekt unter Objekten zu finden und den eigenen Körper wie die Umgebung nach Lagen und Abständen aufzugliedern. Daraus erwächst das perzeptive Körperschema. Ich vermute, daß der Weg dahin dem Menschen durch die Parasiten an seiner Haut gebahnt wurde, die seinen Händen den Weg zur abwehrenden Selbstbetastung wiesen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 266-267).

„Für die Raumform bietet das Geschenk der Fläche mit der Möglichkeit, Netze umkehrbarer paarender Verbindungen zwischen den Zielen der Richtungen leiblicher Zuwendung zu probieren, die Chance der Ergänzung des leiblichen Richtungsraumes aus dem Leben aus primitiver Gegenwart zum Ortsraum aus relativen Orten, die gestatten, zu sagen, wo etwas ist, wo es geblieben ist, wohin es sich bewegt hat. Die einzelnen Richtungsziele können vom Zusammenhang in unspaltbaren Verhältnissen befreit und durch Lagen und Abstände über umkehrbaren Verbindungen zwischen ihnen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Mit Hilfe von Punkten und Strecken, die sinnfällig aus Kanten und Ecken dargestellt werden können, kann von den Flächen zur dritten, voluminösen Dimension aufgestiegen werden, und durch Ansetzen von Flächen an Flächen mit Winkeln lassen sich dreidimensionale Volumina umranden, so daß die geometrische Auffassung der Körper als dreidimensionale Gebilde, statt der dynamischen nach Art des Schall - und Atemvolumens, möglich wird.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 267).

„Die Einführung des Ortsraumes als System relativer Orte muß eine begriffliche Schwierigkeit überwinden, die mit der unerläßlichen Voraussetzung von Ruhe verbunden ist. Innerhalb des Ortsraumes ist Ruhe als Beharren am Ort, Bewegung als Wechsel des Ortes definiert. Das läßt sich nur halten, wenn der Ort durch Lage und Abstand an ihm befindlicher Objekte zu ruhenden Bezugsobjekten identifiziert wird. Wenn diese Bezugsobjekte sich nämlich bewegten, ohne daß die Objekte an dem zu identifizierenden Ort gleichförmig mitliefen, hätten sich deren Lagen und Abstände zu den Bezugsobjekten geändert, ohne daß sie die Stelle gewechselt hätten; sie hätten sich also sowohl bewegt (durch Wechsel des Ortes) als auch geruht (durch Verharren am Ort). Ruhe und Bewegung wären nicht mehr unterscheidbar. So weit darf es nicht kommen, wenn der Ortsraum seine Orientierungsleistung behalten soll. Ruhe der Bezugsobjekte ist also Voraussetzung für die Einführung relativer Orte; andererseits sind relative Orte Voraussetzung für die Einführung der Ruhe, sofern diese als Beharren am Ort verstanden wird. Der Ort setzt Ruhe, Ruhe setzt den Ort voraus; das ist ein Zirkel, der die begriffliche Einführung eines Ortsraumes verhindert, wenn nicht auf ein vorgängiges Ruheverständnis zurückgegriffen wird. Ein solches kann nur den Ortsraum fundierenden Schichten flächenloser räumlicher Organisation abgewonnen werden, dem leiblichen Raum und dem Gefühlsraum. Es gibt ruhige Abendstimmung, ruhige Gelassenheit, ruhiges Wasser, das den Schwimmer in Rückenlage trägt. Aus solchen Erfahrungen weiß man, was Ruhe ist und kann im Raum Gegenstände finden, die einen ruhigen Eindruck machen. An solche Gegenstände kann man bei der Einführung eines Ortsraumes - eines Systems relativer Orte - anknüpfen. Die Feinjustierung, was sich für den planenden und prüfenden Umgang als ruhend bewährt, kann man dann weiteren Erfahrungen und Erprobungen überlassen. Dieses Verfahren ähnelt dem nachher zu besprechenden bei der Einführung von Uhren mit Voraussetzung gleichförmiger Bewegung. Man muß sich zunächst auf den bloßen Eindruck der Gleichförmigkeit verlassen, den man anschließend nach praktischen und wissenschaftlichen Bedürfnissen zurechtrücken kann.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 267-269).

„Das vorgebrachte Argument für die Unselbständigkeit des Ortsraumes, der für zirkelfreie begriffliche Einführung tiefere Schichten der räumlichen Organisation voraussetzt, wird nicht berührt durch das Relativitätsprinzip (von Galilei), wonach die Entscheidung über Ruhe oder Bewegung von dem gewählten Bezugssystem abhängig ist: In einem geschlossenen Raum ruhen Objekte, die beim Blick aus dem Fenster oder von außen als bewegt imponieren. Diese Relativität erfordert höchstens den Wechsel des Ortsraumes, der ja keineswegs für immer derselbe sein muß, oder vielmehr die Verschachtelung von Ortsräumen ineinander, betrifft aber nicht die notwendige Voraussetzung von Ruhe der Bezugsobjekte bei dessen Einführung. Die noch weitergehende Relativierung in der Einstein'schen Relativitätstheorie braucht hier nicht berücksichtigt zu werden. Sie betrifft lediglich die Anpassung sogenannter Naturgesetze an die Zwecke physikalischer Prognose und der dadurch ermöglichten technischen Anwendungen und setzt einen etablierten Ortsraum allein schon für die Zeitmessung - nach Extensivierung der Dauer zur Zeitstrecke - längst voraus. Hier handelt es sich um die Bedingungen für die Einführung von Ortsräumen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 269).

„Der genaue Begriff eines relativen Ortes kann nach dieser Vorbereitung etwa so gefaßt werden: »Wenn F Frist ist und A ein Gegenstand aus der Menge G der Gegenstände, die sich während einer Teilfrist von F (sie kann auch F sein) in Beziehungen der Lage und des Abstandes zu allen während der gesamten Frist F ruhenden Objekten befinden, dann ist der relative Ort von A während einer Teilfrist f von F die Menge aller geordneten Paare, bestehend aus einem Element g von G als erstem und einer Teilfrist von F als zweitem Glied, sofern diese g während der betreffenden Teilfrist zu allen während der gesamten Frist F ruhenden Objekten gleiche Lagen und Abstände haben, wie A während f.« (Die Frist Fist die Zeit der Dauer des betreffenden Ortsraumes, der aus den geordneten Paaren der angegebenen Art besteht.)“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 269).

Die Welt als entfaltete Gegenwart Die Zeit

„Die Entfaltung der Gegenwart im Raum gelingt so gut, daß ihre eben als unerläßlich nachgewiesenen Vorstufen vergessen werden können. Im Raum achten die Menschen fast nur noch darauf, wo etwas ist, wohin und wovon weg etwas ( einschließlich ihrer selbst) sich bewegen muß, um etwas zu erreichen; daß sie mit jeder flüssigen Bewegung in den Richtungsraum des Lebens aus primitiver Gegenwart zurückfallen (4.1), kommt ihnen kaum je zu Bewußtsein. Ähnlich gut gelingt die Verdrängung der Abkunft der Welt aus der Entfaltung der primitiven Gegenwart an deren anderen nicht - zeitlichen Momenten, dem Sein, der Identität, der Subjektivität. Die Unterscheidung des Wirklichen vom Unwirklichen gelingt im Alltag selbstverständlich; niemand fragt, woher er den Maßstab nimmt, da doch eine zirkelfrei fürmulierbare Unterscheidung (ein Kriterium der Wirklichkeit) ausgeschlossen ist. Darüber, daß die Identität, in entfalteter Gestalt als relative Identität, für selbstverständlich gehalten wird, habe ich im Vorstehenden genug geklagt. Die Subjektivität wird fast nur im Zusammenhang mit personaler Selbstzuschreibung beachtet; deren Voraussetzungen hängen vom Leib ab, den ich gerade erst aus der Gletscherspalte jahrtausendelanger Vergessenheit hervorgezogen habe. So gut gelingt nach vier Seiten die Entfaltung der Gegenwart. Mit ihrer zeitlichen Seite steht es anders. Die Entfaltung des Jetzt der primitiven Gegenwart ist auf halber Strecke liegen geblieben. Dadurch werden die Menschen, wenn auch meist ohne Besinnung darauf, an die Abhängigkeit der Welt von ihrem Ursprung, dem Geschehen der primitiven Gegenwart im plötzlichen Andrang des Neuen, erinnert. Sie erfahren unablässig das Vergehen der unter dem Druck dieses Andrangs zerrissenen Dauer. Die Tragödie des unablässigen Abschieds von dem, was nicht mehr ist, wird durch die damit verbundenen anderen tragischen Züge der Zeit - die Flüchtigkeit der Gegenwart, die Auslieferung an eine undurchsichtige Zukunft - zum Zittern des Lebens ausgebaut. Diese Unvollkommenheit der zeitlichen Entfaltung der Gegenwart, die sich auch in theoretischen Aporien bemerkbar macht (*), dürfte damit zusammenhängen, daß es in der Zeit kein Analogon der Fläche gibt, eines leibfremden Geschenks an die Entfaltung, das dieser die Gelegenheit gibt, sich über ihren Ursprung hinwegzusetzen. (* Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, 2014, S. 168-181).“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 270-271).

„Der Fluß der Zeit, daß die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt, verstrickt die Menschen aber nicht nur in die Grausamkeit des Abschieds von dem, was nicht mehr ist, sondern leistet ihnen auch unentbehrliche Hilfe beim Ernten der Früchte der Entfaltung der Gegenwart zur Welt. Es geht um die Hilfe beim Spalten der Verhältnisse in Beziehungen. Wenn das nicht gelänge, hätte der Mensch nicht viel von seiner satzförmigen Rede, die ihm die Konstruktion von Netzen aus Bedeutungen zur Vereinzelung beliebiger absolut identischer Gegenstände als Fälle von Gattungen gestattet. Er könnte dann zwar besser die Situationen, aus denen er bei der Vereinzelung schöpft, durchschauen, sich davon Rechenschaft geben, aber er könnte nicht beweglich mit ihnen umgehen; er müßte sich an die gegebenen Verhältnisse halten, statt sie in Beziehungen zu zerlegen und durch Umknüpfen der Beziehungen andere Verhältnisse auszuprobieren. Er wäre in der Lage des Besitzers einer Landkarte, der die darin enthaltenen Informationen über Lagen und Abstände zwar ablesen, aber nie dazu benützen kann, sich auf den Weg zu machen. Beziehungen unterscheiden sich von Verhältnissen dadurch, daß sie gerichtet sind, von etwas (Referens) auf etwas (Relat), eventuell durch etwas (Zwischenglieder). Wie findet man aus Verhältnissen die Richtung, die man zu ihrer Spaltung einschlagen muß? Das ist nicht so leicht, wie man denken mag. Der Spaltung wird vom Verhältnis kein Ansatzpunkt geboten; alles ist mit allem gleichmäßig verknüpft. Die Wahl einer Richtung zum Eindringen in das Verhältnis setzt voraus, daß schon mehrere Richtungen zur Auswahl vorliegen. Der Spaltende kann aber nicht anders in das Verhältnis eindringen, als indem er eine von mehreren möglichen Richtungen einschlägt. Von sich aus hat er keine Gelegenheit, das vorausgesetzte Angebot dieser Möglichkeiten bereitzustellen. Sein Wählen müßte die Richtung erst finden und schon gefunden haben. In dieser Verlegenheit kommt ihm die Richtung des Flusses der Zeit zu Hilfe. Indem sein Blick - der optische oder der Blick bloßer Vergegenwärtigung - über das Verhältnis gleitet, wächst die Vergangenheit und schrumpft die Zukunft, nicht umgekehrt. Damit hat er schon die Richtung gefunden; der Fluß der Zeit, der seinen Blick in eine Richtung führt, hat sie ihm geschenkt, durch das Wachsen der Vergangenheit, die Spur des Zerreißens der Dauer mit Abschied ins Vorbeisein. Die Tragik der Zeit, die den Menschen in die Rolle des Verlierers gegen das Schicksal bringt, erhebt ihn auch zum Gewinner, indem sie ihm durch das Spalten der Verhältnisse in Beziehungen die Chance gibt, sich vor diesem Schicksal frei zu bewegen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 271-272).

„Die Zeit in der Welt wird von drei Komponenten gebildet: Dauer, Modalzeit, Lagezeit. Die Dauer ist so etwas wie der Stoff der Zeit, der von der Modalzeit und anschließend von der Lagezeit geformt wird. Sie zerfällt, wie schon gesagt wurde, in die im Vergehen (ins Vorbeisein, Nichtmehrsein) zerrissene und die dieser assoziierte unzerrissene Dauer, die hauptsächlich in Gestalt zuständlicher Situationen vorliegt, in kleinteiligen »Paradestücken« auch als Zeitgestalt, musikalisch (z. B. Melodien) oder leiblich (Gang, Atmung). Die Modalzeit ist eine Einteilung von Zeitinhalten in vergangene, gegenwärtige und zukünftige mit dem Fluß der Zeit, daß die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. (Mit den Wörtern »Vergangenheit«, »Gegenwart«, »Zukunft« bezeichne ich im folgenden Massen von Zeitinhalten, die entsprecheneden Eigenschaften, einer solchen Masse anzugehören, dagegen das als Vergangensein bzw. Gegenwärigt bzw. Zukünfigkeit). Vergangen ist, was nicht mehr ist; gegenwärtig ist, was ist in der Weise, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein; das Wort »Zukunft« ist dagegen doppeldeutig: Es bezeichnet einerseits das, was noch nicht ist (aber einmal sein wird), andererseits das, was noch möglich ist. Wie sich beides zueinander verhält, wird gleich erörtert. Die Lagezeit besteht in der Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen. Als Beziehung setzt sie, anders als die Modalzeit, Vereinzelung voraus, ist also erst in der Welt möglich. Sie kommt als modale Lagezeit in der Verbindung mit der Modalzeit vor und ist als reine Lagezeit, abstrahiert von der Modalzeit, die Zeit der theoretischen Physik (nicht der physikalischen, namentlich experimentellen Praxis), ein Abstraktionsprodukt ohne Stütze in der Erfahrung, das die Beziehungen wieder in ein spaltbares Verhältnis zusammenzieht (wie eine Landkarte die Abstände).“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 272-273).

„Ich beginne die Erörterung mit der Dauer. Was die Menschen denken, liegt oft weit ab von dem, was sie erleben. Das trifft besonders auf die Dauer zu. Die Menschen erleben sie im Wechsel entspannten Verweilens unzerrissener Dauer mit dem Druck des bis zum Zerreißen gespannten Geschehens unter dem Andrang des Neuen; sie denken sich die Dauer als gleichmäßiges, vom Pulsieren des Spannungsgrades unberührtes Verfließen wie Newton: »Die absolute Zeit fließt gleichmäßig, und mit einem anderen Namen heißt sie Dauer.« (Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Definition VIII, Scholium) ). Die so verstandene Dauer ist eine extensive Größe, eine solche, die durch Schnitte in Teile zerlegt und aus diesen wieder unversehrt zusammengesetzt werden kann. Sie dient dazu, Veränderungen in der Dimension der Geschwindigkeit, d. h. nach Graden der Schnelligkeit oder Langsamkeit, zu messen. Veränderung hat zwei Dimensionen. Eine davon ist die Phasenfolge. Sie stimmt bei stetiger Veränderung von A nach B (z. B. einer Bewegung auf festgelegter Bahn) für schnellere und langsamere Veränderung überein. Die andere Dimension ist die Dauer. Sie ist bei schnellerer Bewegung kürzer, bei langsamerer länger. Geschwindigkeit ist also die Gestalt der Dauer einer Veränderung. Um diese Dauer so zurechtzumachen, daß sie als extensive Größe zur Bemessung der Geschwindigkeit taugt, ist ihre Projektion in den Raum vermöge der gleichförmigen Bewegung einer Uhr erforderlich. Man versteht dann die Zeit räumlich, nach Art einer Strecke, deren Länge man mit der geraden oder gebogenen Bahn vergleicht, die von der Bewegung der (natürlichen oder künstlichen) Uhr überstrichen wird. Geschwindigkeit ist dann Weg durch Zeit, genauer der Quotient der Division des Maßes der durchlaufenen Strecke durch das Maß der Zeitstrecke; je kürzer diese, je größer also der Quotient (bei gegebener Bahn) ist, desto schneller ist die Bewegung. Das Entsprechende gilt für intensive Veränderungen, die durch räumliche Bewegungen an Meßapparaten gemessen zu werden pflegen. Der Haken in dieser Auffassung der Geschwindigkeit besteht in ihrer Angewiesenheit auf die gleichmäßige Bewegung einer Uhr. Wann ist eine Veränderung gleichmäßig oder gleichförmig? Genau dann, wenn sie weder schneller noch langsamer wird. Anders kann man Gleichförmigkeit nicht bestimmen. Dann aber kann man Geschwindigkeit, also Schnelligkeit oder Langsamkeit, nicht ohne Zirkel mit Hilfe der Gleichförmigkeit einführen. Die Auffassung der Dauer als extensive Größe (Zeitstrecke) ist also ungeeignet, begrifflich zu bestimmen, was als Geschwindigkeit einer Veränderung gemessen werden soll. Um darüber klar zu werden, muß man nach einem von der Verräumlichung zur extensiven Größe unabhängigen Verständnis der Dauer suchen. Wenn dieses gefunden ist, kann sich die Extensivierung als nützlich erweisen, ja als unentbehrlich, um die Geschwindigkeit zu messen. Mit der Dauer verhält es sich wie mit der Wärme. Wärme ist intensiv, aber zwecks Messung wird sie auf eine für gleichförmig gehaltene räumliche Bewegung (des Quecksilbers im Thermometer) abgebildet, in der Hoffnung, daß beide Veränderungen im Ausmaß einander entsprechen. Das ist offensichtlich nicht der Fall, weil die Bewegung laut Voraussetzung gleichförmig variiert, die Wärme aber sprunghaft. Man begnügt sich mit ungefährer Anpassung.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 273-275).

„Die Länge und Kürze der Dauer bei schnellerer oder langsamerer Veränderung ist demnach nicht als extensive, skalierbare Länge und Kürze zu verstehen, sondern als Qualität, die intensiver Mehrung und Minderung fähig ist. Dabei handelt es sich um den schon besprochenen Gegensatz von Vergänglichkeit und Fortwähren, zerrissener oder zerreißender und ins Vorbeisein verabschiedeter Dauer, und unzerrissener Dauer, die den Abschied übersteht. Mit zunehmender Schnelligkeit wird die Veränderung flüchtiger, vergänglicher, hastiger, enger, gepreßter, dichter zusammengezogen; umgekehrt ist die langsamere Veränderung offener zur Weite hin, lockerer, entspannter; sie läßt sich gleichsam mehr Zeit. Hierbei handelt es sich um synästhetische Massencharaktere, die ebenso wie an der Dauer am Schall vorkommen, im Gegensatz heller, hoher Töne und Geräusche zu dunklen und dumpfen, sowie am gespürten, eigenen Leib im Gegensatz von Frische und Müdigkeit. Der dunkle Schall klingt locker, weich, schwerfällig, weit ausladend, dumpf und dröhnend im Gegensatz zum beweglichen, spitzen, festen, kompakten, dabei zarteren Wesen des hellen, hohen Schalls. Ähnlich verhalten sich die Masseneigenschaften einprägsamer Stille, z. B. drückender Mittagsstille gegen zarte Morgenstille. Auf diese Weise sind Länge und Kürze der Dauer einer Veränderung Variationen einer intensiven Größe, eingespannt in den Gegensatz epikritischer Engung in Richtung auf primitive Gegenwart und protopathischer Weitung in Richtung auf das unerschöpfte Urkontinuum.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 275).

„Nun will ich die These von der intensiven Natur der Dauer durch Beispiele bekräftigen. Zunächst wähle ich die Dauer der Töne und Klänge. Eine langgezogene Phrase eines gregorianischen Chorals läßt sich nicht in Teile zerlegen und aus diesen wieder zusammensetzen. Eine Lachsalve Ha-Ha-Ha klingt bei gleicher Uhrdauer ganz anders als die gregorianische Phrase. Zwar mißt man die Länge der Töne mit kurzen Tönen aus, etwa einen Ganzton mit zwei halben Tönen. Dabei muß man sich, wenn man nicht Uhren zu Hilfe nimmt, auf die intuitive Abschätzung zweier sukzessiv gehörter Töne als halb so lang verlassen und prüfen, ob sie zum seIben Zeitpunkt wie der Ganzton begonnen und zum selben späteren Zeitpunkt aufgehört haben. Damit hat man bereits eine extensivierende Umdeutung des Schalls vorgenommen, denn in dessen flächenlosem Raum kommen weder Punkte noch Strecken vor. Nach dieser Umdeutung kann man über extensive oder intensive Größe der Dauer nicht mehr urteilen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 275-276).

„Ebenso intensiv wie die Dauer der Töne ist die Dauer der Bewegung im Raum. Ich denke zunächst an die ungleichförmige Bewegung, die stetig schneller oder langsamer wird. Wäre ihre Dauer eine extensive Größe, so könnte sie in Teile zerlegt werden, von denen jeder eine Geschwindigkeit hätte, da das Ganze, als extensive Größe aufgefaßt, sie als Quotient von Weg durch Zeit meßbar besitzt. Tatsächlich könnte aber kein Teil eine solche Geschwindigkeit haben, weil diese sich beständig ändert. Die Differentialrechnung ersetzt diesen Mangel durch die Momentangeschwindigkeit, die aber keine Geschwindigkeit ist, sondern der Limes konvergenter Geschwindigkeitsänderungen. Die Geschwindigkeit als Dauer einer ungleichförmigen Bewegung kann also keine extensive Größe sein, wohl aber in eine solche umgedeutet werden. Für die Dauer einer gleichförmigen Bewegung besteht dieses Hindernis der Extensivierung nicht, aber sie kann nur begrifflich bestimmt und beobachtet werden, wenn man sie in Teile zerlegt und unter diesen einen Wechsel der Geschwindigkeit ausschließt, und solche Zerlegung in Teile bedarf wieder der Anlehnung an eine räumliche Strecke, wie bei der Uhr.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 276).

„Man kann als weiteren Beleg für die intensive Natur der Dauer diesen Beispielen die erlebte Zeitraffung an die Seite stellen. Manchmal vergeht die Zeit wie im Fluge, manchmal dehnt sie sich uferlos, beglückend als verweilende Gegenwart, quälend als Langeweile. Diese Beispiele zeigen, wie wenig homogen die Dauer ist. Newtons Vorstellung von ihrem gleichförmigen Fluß stammt aus ihrer Umdeutung ins Räumliche und Extensive mit Hilfe der Uhr. Aus derselben Quelle stammt das Vorurteil, die Zeit könne nicht schneller oder langsamer verlaufen, sondern nur im unerbittlichen Gleichtakt. Dieser Gleichtakt ist eine Folge ihrer Egalisierung mit Hilfe der angeblich gleichförmigen Bewegung einer Uhr. Die Zeit, von der dann die Rede ist, ist eine extensivierende Überformung der Dauer, und diese ist als intensive Größe breit gestreut und vieler Tempi fähig; erst das Bedürfnis der Menschen nach einer überall übereinstimmenden Zeitordnung prägt ihr das Gleichmaß auf.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 276-277).

„Näher betrachtet, hat nach dem Gesagten die intensive Dauer nicht nur eine einzige Dimension ihrer Vermehrung oder Verminderung, sondern zwei solche Dimensionen, die aber ineinander verschränkt sind: intensive Länge und intensive Dichte. Sie stehen in umgekehrt proportionalem Verhältnis: Je kürzer, desto dichter, enger und gepreßter ist die Dauer (als intensive, nicht als mit der Uhr gemessene), und je länger und weiter, desto lockerer und entspannter, sei es gelassen oder in schlaffer Passivität wie bei Langeweile, die dann wieder als Frustration bedrängen kann. Diese Polarität wird übergangen und weggewischt, wenn die Menschen daran gehen, die Zeit zwecks Messung zu egalisieren. Sie sind dazu genötigt, weil sie nicht mehr wie die Tiere vom Nomos der Situationen, in denen sie leben, geführt werden, sondern vermöge ihrer satzförmigen Rede aus Situationen ausbrechen, diese in den Griff nehmen und umgestalten können. Dafür brauchen sie eine Orientierung, die sie sich selbst geben können, indem sie das Gegebene geeignet umdeuten. Eines der wichtigsten Einsatzgebiete solcher Umdeutung ist die Dauer. Um überleben zu können, benötigen die Menschen Zeitmessung und Zeiteinteilung und zu diesem Zweck die Egalisierung der Dauer durch Projektion in den Raum mit Hilfe der gleichförmigen Bewegung einer Uhr. Die Natur ist so freundlich, ihnen eine Gelegenheit dazu in Gestalt der als gleichförmig imponierenden Bewegung himmlischer Signale zur Verfügung zu stellen. Die Menschen haben die dadurch ermöglichte Kunst des Umgangs mit der Dauer so perfektioniert, daß sie deren Intensität kaum noch bemerken, gleich als ob sie von der Wärme nur noch dadurch Notiz nähmen, daß sie das Thermometer ablesen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 277-278).

„Ich beschließe nun die Untersuchung der Dauer und wende mich zur Modalzeit und anschließend zur Lagezeit. Die Wirklichkeit der Modalzeit, die ich 1964 (System der Philosophie Band I) wegen ihrer Bestimmung durch die Unterschiede von Sein und Nichtsein so genannt habe, wird von verschiedenen Seiten bestritten: von Metaphysikern, die - im Christentum mit Rücksicht auf Gott - alles sub specie aeternitatis betrachten, neuerdings von Physikern, die im Gefolge der Relativitätstheorie und ihrer Anwendung auf die Quantenphysik aus der Zeit im Rahmen einer Raum - Zeit - Union so etwas wie eine vierte Dimension des Raumes und eine statische Blockzeit machen wollen, und von analytischen Philosophen (wie Mellor), denen Subjektivität zuwider ist und damit die Modalzeit, in der sie eine »bloß subjektive« Abspiegelung der Lagezeit sehen. Gegen solche Einwände setze ich meine Gründe zur Rehabilitation einer voll wirklichen Modalzeit. Diese sind teils ad hominem, teils ad rem gerichtet. Ad hominem gehen die Gründe, die Wissenschaftlern nachweisen, daß ihre eigenen Ansprüche auf wissenschaftliche Tätigkeit mit einer Leugnung der Modalzeit unverträglich sind. Dabei wende ich mich besonders an die Naturwissenschaftler. Für ihre Theorien mag die Leugnung der Modalzeit bequem sein, aber die Theorien sind keine Wissenschaft, wenn es keine Bestätigung für sie gibt, und dazu ist ganz besonders in der Physik - das Experiment erforderlich. Der Experimentator stellt sich aber notwendig auf den Boden der Modalzeit, deren Wirklichkeit er damit anerkennt, denn das Experiment ist nur sinnvoll, wenn er beim Anfang noch nicht weiß, was herauskommen wird, so daß sein Kenntnisstand dann nicht mehr der vorige ist; das aber sind Ausdrücke, die nur im Rahmen einer Modalzeit Sinn haben. Aber auch der Wissenschaftler, der die Bestätigung seiner Aufstellungen nicht erst von einem Experiment erwartet, muß sich zur Modalzeit bekennen, wenn er seiner wissenschaftlichen Haltung treu bleiben will. Zu dieser gehört nämlich die Bereitschaft, seine Aufstellungen kritisch prüfen zu lassen, statt sich von vornherein für unfehlbar zu halten. Damit bekennt er sich zu der Bereitschaft, von der Kritik etwas zu lernen, das er bei der ersten Aufstellung seines Ergebnisses noch nicht weiß, und sei es nur dessen von kompetenten Kritikern bestätigte Stichhaltigkeit, so daß sein Kenntnisstand dann gleichfalls nicht mehr der vorige ist. Auch das impliziert, wie im Fall des experimentellen Naturwissenschaftlers, ein Bekenntnis zur Modalzeit.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 278-279).

„Das wichtigste Argument ad rem, also ohne speziell disponierte Adressaten, geht davon aus, daß ohne Modalzeit nichts jetzt ist; es fehlt dann die ausgezeichnete Gegenwart, die z. B. das dritte Jahrtausend christlicher Zeitrechnung vorläufig allen anderen Jahrtausenden dadurch voraus hat, daß es die Gegenwart beherbergt. Wenn aber nichts jetzt ist, hat auch der einzelne Mensch keinen ihm mit unweigerlicher Einschränkung angewiesenen zeitlichen Standpunkt in seinem Leben, auf den er mit Heideggers Ausdruck - »geworfen« ist. Sein Leben durchläuft zwar frühere und spätere Zustände, die jeweils anders bestimmt sind, aber sie sind gleichmäßig Zustände seiner eigenen Lebensgeschichte, von denen ihm zeitlich keiner nähersteht als ein anderer. Auf seinen Kenntnisstand bezüglich besagt das z. B., daß er als Kind nicht so viel weiß wie der erfahrene Gelehrte, zu dem er später geworden sein mag, aber er hat keinen Anlaß, sich eher für den Gelehrten als für das Kind oder umgekehrt zu halten. Der Unterschied im Kenntnisstand gleicht dem zwischen seinem Kopf und seinen Füßen, wenn ihm im Kopf warm und in den Füßen kalt ist, und beide Körperteile mit ihren Zuständen sind ihm in gleicher Weise zugänglich. Diese Vorstellungsweise kommt mir so wirklichkeitsfremd vor, daß sie mir zu genügen scheint, die Leugnung einer Modalzeit zu widerlegen. Man kann noch das Argument anschließen, daß bei Einebnung des Unterschiedes zwischen Schonsein des Gegenwärtigen und Nochnichtsein des Zukünftigen zwar das Zukünftige so gut wirklich wäre wie das Gegenwärtige, aber doch nicht alles Offenbarsein dieses Zukünftigen, so daß wenigstens ein Rest des Nochnichtseins bliebe. Dieses Argument wird allerdings den nicht überzeugen, der bestreitet, daß er, wenn er weiterlebt, noch irgendetwas lernen kann. Ich glaube nicht, daß ein Vernünftiger so denken wird. Schließlich bezeugen zwei schon gewonnene grundsätzliche Ergebnisse die Wirklichkeit der Modalzeit: der Ursprung der absoluten Identität in der primitiven Gegenwart (3.4), deren Spur in die Weltzeit die Modalzeit ist, und die vorhin nachgewiesene Unentbehrlichkeit des Flusses der Zeit für das Spalten der Verhältnisse in Beziehungen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 279-280).

„Mit der Entfaltung der Gegenwart zur Welt kann der Modalzeit eine Lagezeit aufgeladen werden, weil die Möglichkeit beliebiger Vereinzelung Gelegenheit gibt, den Fluß der Zeit durch einzelne Daten zu gliedern. Ein Datum ist eine Menge gleichzeitiger, d. h. gemeinsam gegenwärtiger Ereignisse, die entlang dem Wachsen der Vergangenheit und entsprechender Verminderung der Zukunft nach Anzeichen der Erinnerung, Berichten und Übereinkunft zu einer Reihenfolge des Früheren und Späteren verbunden werden, wobei sie sich überschneiden. Damit die Überschneidung nicht überhandnimmt, greift man aus der Menge ein charakteristisches Ereignis heraus und beschränkt das Datum als Datum dieses Ereignisses auf die Menge der mit ihm gleichzeitigen Ereignisse. Die Überschneidung wäre nur vermeidbar, wenn man die Daten bis zur Dauerlosigkeit verkürzte; das ist aber eine gedankliche Fiktion. Da die Zukunft durch die Möglichkeit projizierender Vereinzelung für das beziehende Erwarten geöffnet ist, kann die lagezeitliche Reihenfolge in sie hinein, fortgesetzt werden. So ergibt sich eine Reihe vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Gegenwarten in Gestalt von Daten, in der die echte, unmittelbare zeitliche Gegenwart zu einem Datum unter Daten nivelliert ist, mit der Folge, daß die Rede von Gegenwart äquivok wird: Entweder ist die echte, unmittelbare Gegenwart gemeint, die gegenwärtige Gegenwart, wie man tautologisch sagen muß, oder irgendeine Gegenwart, ein Datum, das auch vergangen oder zukünftig sein kann. Diese Doppeldeutigkeit und Tautologie ist ein Zeugnis für die Abkunft der Lagezeit aus der Modalzeit; ohne Orientierung am Fluß der Zeit, am Wechsel der Gegenwart beim Wachsen der Vergangenheit und Schrumpfen der Zukunft, wüßte man gar nicht, welche Zeitinhalte (Dinge, Ereignisse, Zustände usw.) zu einem Datum zusammengestellt werden sollten. Von der Bindung an die (echte ) Gegenwart kann die Lagezeit befreit werden, indem man nach ihrer Aufstellung unter allen Daten ein Datum als die Mitte auszeichnet, von dem die Reihe nach beiden Seiten geordnet wird; es kann sich z. B. um das vermeintliche Datum der Geburt Christi oder der Flucht Mohameds handeln.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 280-281).

„Über das begriffliche Verhältnis von Modalzeit und Lagezeit, die Frage, ob eine durch die andere definiert werden kann und gegebenenfalls welche durch welche, ist in der analytischen Philosophie viel diskutiert worden; das noch lesenswerte Buch von Bieri gibt darüber Aufschluß (vgl. Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, 1973). Die Bevorzugung der Lagezeit führte zu dem Versuch, die Gegenwart und damit die Modalzeit durch die sogenannte Reflexive-token-Analyse lagezeitlich zu definieren, nämlich »gegenwärtig« als »gleichzeitig mit dieser Äußerung«. Obwohl man in England merkwürdig lange diesen (von Reichenbach ausgehenden) Vorschlag gepflegt hat, ist er ersichtlich unlogisch. Das zeigt sich schon bei der Selbstanwendung: Die Äußerung »Diese Äußerung ist gegenwärtig« hätte nach der Token-reflexive Analyse den Sinn von: »Diese Äußerung ist gleichzeitig mit dieser Äußerung«, also mit sich selbst, aber jede Äußerung ist gleichzeitig mit sich selbst, und doch ist nicht jede Äußerung gegenwärtig. Außerdem ist die Analyse zirkelhaft, denn sie setzt voraus, daß diese Äußerung gegenwärtig ist, was nicht selbstverständlich ist, da die Gegenwartsgewißheit trügen kann (wofür Goethe viele Beispiele gibt [vgl. Hermann Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, 1959, S. 212-216; Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II Teil1: Der Leib, 1965, S. 270; Hermann Schmitz, Das Ganz-Andere - Goethe und das Ungeheure, in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hg. v. Peter Matussek, 1998, S. 414-435]). Darüber hinaus ist jede begriffliche Reduktion der Modalzeit auf die Lagezeit unmöglich, weil Vergangensein, Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit (in Sinne von Nochnichtsein) Existenz-Inductiva (2.1) sind, die lagezeitlichen Grundbegriffe des Früheren und Späteren dagegen Attribute; jede Umdeutung von Existenz-Inductiva in Attribute ist unzulässig. Aussichtsreich ist dagegen das umgekehrte Verfahren, die lagezeitlichen Attribute modalzeitlich zu umschreiben, ohne sie in Existenz-Inductiva umzudeuten. Die modalzeitliche Definition des Früherseins kann so lauten: A ist früher als B, wenn A vergangen ist, wenn B gegenwärtig ist. Dieses »wenn« ist zweifach zu verstehen, gemäß einer Fallunterscheidung: Bist wirklich gegenwärtig, dann ist A vergangen, oder B ist nicht gegenwärtig, aber, wenn B gegenwärtig wäre, wäre A vergangen. Dieser grammatische Irrealis hat folgenden Sinn: In jeder möglichen Welt, die sich von der wirklichen Welt nur durch Verschiebung der Gegenwart auf ein anderes Datum und die damit verbundenen Verschiebungen des Vergangenseins und der Zukünftigkeit unterscheidet und in der B gegenwärtig ist, ist A vergangen. Wegen des Irrealis wird durch diese Begriffserklärung das Frühersein nicht zum Existenz-Inductivum gemacht. Die Definitionen von »später« und »gleichzeitig« folgen demselben Schema.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 281-282).

„Aus der Lagezeit filtert die theoretische Physik durch Vernachlässigung des modalzeitlichen Hintergrundes eine reine Lagezeit ab, in der es nichts gibt, das jetzt ist, d. h. keine vor allen anderen Daten (vergangenen und künftigen Gegenwarten) ausgezeichnete zeitliche Gegenwart eines jeweils einzigen, aber wechselnden Datums. Beim Nachweis der Wirklichkeit einer Modalzeit habe ich gezeigt, daß der Physiker zur wissenschaftlichen Bestätigung seiner Theorie in die Modalzeit hinabsteigen muß, wo etwas jetzt im Gegensatz zu noch-nicht (nicht etwa nur zu später) ist. In der Theorie kann es zweckmäßig sein, davon zu abstrahieren. Dann fragt sich aber, woher die Maßgabe für die Anordnung der früheren und späteren Zeitinhalte zu nehmen ist, wenn die Orientierung am Fluß der Zeit ausfällt. Die Relativitätstheorie wählt statt dessen die Richtung der Signalübertragung durch Licht. In der reinen Lagezeit gibt es zwar unterscheidbare Richtungen, aber keine Möglichkeit, eine davon auszuzeichnen. Die reine Lagezeit ist mit allen ihren Inhalten wie eine Landkarte, eine Sammlung spaltbarer Verhältnisse, aus denen Richtungen hervorgehen, von denen keine vor den anderen ausgezeichnet ist. Die Physiker bilden sich zwar ein, mit irreversiblen Prozessen wie dem Wachsen der Entropie der Zeit eine Richtung geben zu können, aber das ist ein Mißverständnis. Jeder in der reinen Lagezeit beschreibbare Ablauf kann durch bloße Umkehr der Reihenfolge in die Gegenrichtung umgewendet werden, ohne daß ein Grund zu finden wäre, eine Richtung vor der anderen zu bevorzugen. Um bei der Entropie zu bleiben: In einer reinen Lagezeit kann man nicht entscheiden, ob Glassplitter aufsteigen und sich zu einem Wasserglas vereinigen, ob Filme rückwärts laufen, Menschen rückwärts gehen und ihre Sprüche von hinten nach vorne sprechen, oder ob das Gegenteil der Fall ist. Für dieses kann sich nur der Physiker als lebender Mensch entscheiden, indem er in die Modalzeit herabsteigt. Die sogenannten irreversiblen Prozesse sind vom Standpunkt einer Theorie, die nur mit der reinen Lagezeit operiert, in Wirklichkeit bloß monotone Funktionen, in denen der Wert der abhängigen Variablen bei Steigerung der unabhängigen niemals absinkt, ohne daß eine Richtung ausgezeichnet würde. Es verhält sich wie bei der Potenzfunktion natürlicher Zahlen, in der trotz der Monotonie die Richtung von der Wurzel zur Potenz so wenig ausgezeichnet ist wie die umgekehrte Richtung. Vorhin wurde darüber hinaus gezeigt, daß sogar die bloße Spaltung eines Verhältnisses, in diesem Fall des Verhältnisses des Früheren und Späteren in einer reinen Lagezeit, des Beistandes der Modalzeit bedarf.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 282-284).

„Die Beschränkung auf eine reine Lagezeit als Zeitform ist also schon deshalb für die Bestimmung des Inhalts der Welt nicht geeignet, weil sich die Richtung des Ablaufs von Prozessen mit ihr nicht fassen läßt. Es handelt sich um ein Kunstprodukt der Abstraktion für spezielle Zwecke theoretischer Prognose. Die Lagezeit ist nicht wirklich von der Modalzeit ablösbar. Im Gegensatz dazu ist eine Modalzeit ohne Lagezeit nicht nur denkbar, sondern wirklich. Ich spreche dann von reiner Modalzeit. Bei personalen Menschen kommt sie wohl nur in hyperkinetischen oder (seltener) hypokinetischen Ausnahmezuständen vor, wie in Wut, Panik, Ekstasen, sowohl in kollektiven als auch in individuellen wie dem »flow« des Motorradfahrers. Sie dürfte aber für Tiere und Säuglinge die normale Zeit sein, in der sie leben. In der reinen Modalzeit taucht die Einzelheit noch nicht oder höchstens labil und sporadisch auf, und statt der Beziehung gibt es unspaltbare Verhältnisse, aber zu Vergangenheit und Zukunft auf verschiedene Weise: Die Perspektive in die Vergangenheit ist durch die Erfahrung des Vorbeiseins im Zerreißen der Dauer geöffnet, aber der Abschied ist gedämpft durch die von Husserl entdeckte, wenn auch singularistisch mißverstandene Retention (*), das intensive Absinken der Gegenwart, und überwölbt durch zuständliche Situationen, die der Abschied nicht angreift. (* Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, 2014, S. 70-74, 241-248). Die Zukunft dringt dagegen im Andrang des Neuen als Appräsenz so unmittelbar in Gegenwart ein, daß sie sich nicht als Spielraum für Erwartungen öffnet, wohl aber in Situationen für Programme und Protentionen zugänglich ist. Protentionen im hier gemeinten Sinn sind Sachverhalte, auf die man unwillkürlich gefaßt ist, in der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen, aus der sie für Personen bei Überraschung und Enttäuschung einzeln hervortreten, während für das Tier die Situation, mindestens die aktuelle, einfach abreißt. Weder die Programme noch die Protentionen beziehen sich in reiner Modalzeit auf Einzelnes, wenn auch schon auf absolut Identisches, das vom Nomos einer Situation zum Zugriff freigegeben wird. Die reine Modalzeit, eine Zeit des Entstehens und Vergehens, bleibt hinter der Lagezeit nur dadurch zurück, daß sie nicht durch einzelne Daten gegliedert ist.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 284-285).

„Die Gliederung durch in Früher-Später-Ordnung gereihte Daten, das Spezifikum der Lagezeit, braucht nicht durch Abstände metrisiert zu sein. Das Bedürfnis zusätzlicher Metrisierung wurde von prominenten Zeitdenkern verkannt, so von Leibniz und in seiner Abhandlung über die Zeit bis fast zum Schluß von Aristoteles. (Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, 2014, S. 276-279, 301-310). Eine prämetrische Lagezeit kommt in der Erfahrung allerdings selten vor. Ein packendes Beispiel ist der Bericht eines Flüchtlings von seinem Abstieg in dem durch einen terroristischen Flugzeugangriff zum Einsturz gebrachten World Trade Center am 11. September 2001: »1 couldn't tell how long we'd been in there. Time has vanished. There was no time. There was only descent. There was only counting and walking and counting, circling around again and again.« Was der Berichterstatter beschreibt, ist eine prämetrische Lagezeit, gegliedert nach Daten im beständig sich wiederholenden Abstieg von Stockwerk zu Stockwerk, aber ohne zeitliche Abstände, die von der auf das Entkommen gerichteten Angst übergangen werden. Die Metrisierung der Zeit durch Abstände zwischen den Daten ist dem Berichterstatter so selbstverständlich, daß er ihren Ausfall als Zeitlosigkeit interpretiert.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 285).

„Die Metrisierung der Zeit wird möglich durch die für gleichförmig gehaltene Bewegung einer Uhr, die es gestattet, einer Strecke im Raum eine entsprechende Zeitstrecke zuzuordnen. Das räumliche Nebeneinander gestattet den Vergleich verschiedener Zeitstrecken, der sonst nur in der Erinnerung an sukzessive Darbietungen möglich wird. Die Dauer, eigentlich eine intensive und ohne Ordnung gestreute Größe, wird auf diese Weise extensiv und gleichförmig, indem ein Maß für die Länge der Abschnitte zwischen den Daten festgelegt werden kann. Die am Sonnenstrand oder am Fixsternhimmel als Uhr abgelesene Zeit wird z. B. in Jahre, Tage, Minuten, Sekunden gegliedert. Mit Hilfe solcher Abstände können die Daten in der metrisierten - anders als in der prämetrischen - Lagezeit ohne Überschneidungen abgegrenzt werden. Die zur Zeitmessung benötigte Raumstrecke kann gerade sein, wie bei Sand- und Wasseruhren, oder eine geschlossene Kurve, am besten ein Kreis. Diese Lösung hat den Vorteil, mit der Längengleichheit der durchlaufenen Einheitsstrecken vom und bis zum Ausgangspunkt, gleichförmige Bewegung vorausgesetzt, die Gleichheit der Dauer der Durchlaufungen zu sichern, während die Längengleichheit der in gerader Bewegung durchlaufenen Teilstrecken mit zusätzlichem Vergleich und Messung gesichert werden muß. Zugleich liefert die periodische Bewegung eine natürliche Skalierung der Zeit. In beiden Fällen wird aber die Konstanz eines zum Start der Bewegung gewählten relativen Ortes vorausgesetzt, so daß die unter 4.3.1 erörterte Problematik der Ruhe bei Einführung eines Ortsraumes auch auf die Zeitmessung abfärbt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 285-286).

„Ob es die egalisierte und extensivierte Dauer als metrisierte Lagezeit »gibt«, ist eine müßige Frage. Es gibt sie so sehr und so wenig wie die Luft und den elektrischen Strom, d. h. die Auffüllung von Halbdingen zu Volldingen im Interesse kausaler Durchordnung und Übersichtlichkeit der Welt. Anders könnten die Menschen nicht überleben, da sie nach Ausbruch aus dem Gefängnis der Situationen nicht mehr instinktiv von Programmen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit aktueller und zuständlicher Situationen gesteuert werden, sondern sich selbst zurechtfinden müssen. Dazu benötigen sie zwecks Zeitmessung und Zeiteinteilung eine extensivierte und egalisierte Dauer. Diese ist zwar von ihnen gemacht, aber nicht willkürlich, sondern in spontaner und danach planmäßig ausgebauter Reaktion auf unabweisbaren Bedarf. Wenn dieser Bedarf befriedigt ist, reizt es die Menschen, die zu seiner Befriedigung erworbene und erprobte Kunst dem Luxus des Wechsels ihrer Bedürfnisse dienstbar zu machen. Den Volldingen als konstanten Ursachen potentieller, absehbarer Einwirkungen werden als weitere Konstanten allgemeine Naturgesetze übergestülpt, die in weit dichterem Zusammenhang voraussehen lassen, was man bei Eingriffen in den Gang des Geschehens zu erwarten hat und wovor man sich hüten sollte. Die Zeitmessung paßt sich diesen aus im Experiment bewährten Regeln der Prognose verallgemeinerten vermeintlichen Naturgesetzen an. Ein Beispiel ist die spezielle Relativitätstheorie, eine Reaktion auf die experimentell erforderlich gewordene Umstellung von Prognosen für die Messung der Geschwindigkeit von Lichtstrahlen. Wenn durch solche Neuerungen die Prognosefähigkeit breiter und sicherer wird, gibt es keinen Grund zum Einhalten auf dem eingeschlagenen Weg naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts. Die Phänomenologie befindet sich im besten Einvernehmen mit der Relativitätstheorie, da es gar keine Reibungsflächen gibt. Die Relativierung durch die Relativitätstheorie betrifft nur die Metrik der extensivierten und egalisierten Lagezeit. Diese läuft nicht mehr einfach parallel zum Fluß der Zeit, sondern muß von diesem aus durch komplizerte Umrechnung gefunden werden, um sie den revidierten Naturgesetzen anzupassen. Von den Hintergründen, für die die Phänomenologie sich interessiert - die intensive Dauer, die Modalzeit, den Fluß der Zeit, das Geschehen der primitiven Gegenwart - nimmt die Physik und mit ihr die Relativitätstheorie keine Notiz.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 286-287).

„Die Modalzeit vereinigt sich mit der extensivierten und metrisierten Lagezeit zur modalen Lagezeit, der Zeit, die die Menschen kennen als die Zeit, in der sie gewöhnlich leben. Dabei gewinnt die Lagezeit von der Modalzeit die Richtung des Wachstums aus dem Wachsen der Vergangenheit dessen, was vorbei ist, die Modalzeit von der extensivierten Lagezeit die Gliederung in Teilstrecken zwischen Daten. Die modale Lagezeit umfaßt das Entstehen und Vergehen, d. h. den Übergang - in nicht bloß zeitlichem Sinn spricht man doch auch von ineinander übergehenden Farben - von Nochnichtsein in Sein und von Sein in Nichtmehrsein, und gibt ihren Inhalten einen zeitlichen Ort, der die Frage wann? zu beantworten erlaubt, wie der räumliche Ort die Frage wo?“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 287-288).

„Die modale Lagezeit kann nicht leer sein: als Modalzeit nicht, weil Entstehen und Vergehen etwas voraussetzen, das entsteht und vergeht; als prämetrische Lagezeit nicht, weil deren Daten Mengen von Zeitinhalten sind; als Dauer nicht, weil diese eine intensive Größe ist wie die Wärme; als metrisierte Lagezeit nicht, weil diese zur intensiven Dauer nur deren Verräumlichung mittels gleichförmiger Bewegung hinzubringt. Die modale Lagezeit ist nicht ein Rahmen, der bloß umfaßt, was sich in ihr abspielt und auch ohne solchen Rahmen auskommt, sondern sie ist ihr eigener Inhalt in der Form der modalen Lagezeit: zuerst das Entstehen und Vergehen, das Zerreißen der Dauer durch den Gegenwart exponierenden Andrang des Neuen, der unzerrissene Dauer übrig läßt, in die das Neue Seiendes nachschiebt, so daß sich Vergehen und Entstehen die Waage halten; sodann die von der Entfaltung der primitiven Gegenwart in die Welt gebrachte Lagezeit mit einzelnen Daten und gegen den Andrang des Neuen der Erwartung geöffneter Zukunft; schließlich die Einführung meßbarer Zeitabstände durch Extensivierung der Dauer. Alles, was diese Ereignisse und Zustände durchmacht, ist in der modalen Lagezeit, und sie ist nichts als das, was sich auf diese Weise abspielt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 288).

„Ein brennendes und für das menschliche Selbstverständnis zentrales Problem betrifft die Zukunft der modalen Lagezeit. Es handelt sich um die Frage, ob und in welchem Maße die Zukunft geschlossen (als Inbegriff dessen, was noch nicht ist, aber sein wird) oder offen (als Inbegriff dessen, was noch möglich ist) ist, insbesondere, ob die offene Zukunft einen Überschuß über die geschlossene hat und, wenn ja, welchen. Wenn die Zukunft nur die geschlossene ist, steht für alles im voraus fest, was sein wird; alles Gegenwärtige ist dann aus der Zukunft determiniert. Man kann nichts mehr daran ändern. Dann lohnt es sich nicht mehr, sich Mühe zu geben, wie Amiel einmal eine Stimmung beschreibt, die ihn ergriffen hat.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 288-289).

„Das Gegenteil, daß die offene Zukunft einen Überschuß über die geschlossene hat, ergibt sich aus dem unter 2.3 bewiesenen Satz, daß der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung für jeden beliebigen Gegenstand falsch ist. Das gilt auch für jeden zukünftigen Gegenstand. Ein solcher ist also immer nur unvollständig bestimmt. Von einem unvollständig bestimmten Gegenstand kann es aber keine genaue, d. h. bezüglich jeder möglichen Bestimmtheit als etwas zutreffende Kopie geben. Eine solche Kopie des Zukünftigen müßte aber das Gegenwärtige sein, wenn sich die Zukunft auf das beschränkte, was (nur) noch nicht ist. Im Gegenteil eröffnet jede unvollständige Bestimmtheit verschiedene Möglichkeiten der Bestimmung. Diese Möglichkeiten sind ein Überschuß der offenen Zukunft über die geschlossene. Es fragt sich nun, wie weit dieser Überschuß geht. Möglich ist alles, was sich ohne Widerspruch denken läßt, genauer gesagt: Jeder Sachverhalt kann eine Tatsache sein, und jeder Spruch einer Behauptung, der keinen Widerspruch zur logischen Folge hat, stellt einen Sachverhalt dar. Demnach ist in der Zukunft alles möglich, denn aus ihr kann man alles wegdenken, ohne daß ein Widerspruch entsteht, wenn auch ein Umräumen ihres Inhalts nötig wird. Der Überschuß der offenen Zukunft über die geschlossene ist also unbeschränkt, abgesehen von trivialen analytischen Tatsachen, die bei Strafe eines Widerspruchs logisch notwendig sind. Die geschlossene Zukunft setzt der offenen keine Schranke; sie ist in dieser enthalten, wird aber erst durch das Entstehen aus dieser ausgesondert. Die geschlossene Zukunft ist insofern eine nachträgliche Zukunft dessen, was vor dem Entstehen noch nicht gewesen ist; was in ihr einzeln ist, läßt sich zwar schon vorher ansprechen, aber erst durch das Entstehen kommt es dazu, daß es vorher zu dem gehört hat, was noch nicht war, aber einmal sein würde.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 289-290).

„Ein altes Argument für den Fatalismus, das von Aristoteles und Cicero überliefert (vielleicht von Aristoteles ausgedacht) ist und bis heute umstritten wird, ist so gebaut: Das Bevorstehen irgendeines zukünftigen Zeitinhaltes kann im voraus, gegenwärtig sowohl als auch in der Vergangenheit, sowohl behauptet als auch bestritten werden, sei es von derselben Person oder von mehreren, die miteinander diskutieren. Dann ist nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten mindestens eine der beiden zueinander kontradiktorischen Behauptungen wahr. Aus der Wahrheit einer Behauptung folgt aber die Tatsächlichkeit des behaupteten Sachverhalts. Mit dem wahren Spruch ist also jetzt schon die Tatsächlichkeit des Bevorstehens des behaupteten Sachverhalts besiegelt, auch wenn noch niemand wissen kann, welcher von beiden Sprüchen wahr ist. Daraus kann man wegen der Beliebigkeit des ausgewählten Falles schließen, daß für gar keinen Inhalt der Zukunft offen ist, ob er entstehen wird oder nicht.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 290).

„Der Fehler des Argumentes besteht darin, nur von der geschlossenen Zukunft Notiz zu nehmen, also von dem, was sich durch wirkliches Entstehen als etwas bewährt, das zuvor noch nicht war, aber einmal sein wird. Man vergleiche die beiden Sätze: »Eine zutreffende Vorhersage dessen, was noch nicht ist, aber sein wird, ist jetzt schon wahr«, » Eine zutreffende Vorhersage dessen, was sein wird oder nicht sein wird, ist jetzt schon wahr.« Der erste Satz ist wahr, und darauf beruft sich das Argument; er betrifft aber nur die geschlossene Zukunft. Der zweite Satz betrifft die offene Zukunft, ist aber sinnlos, weil es eine Voraussage dessen, was sein wird oder nicht sein wird, nicht geben kann; sie müßte je offen lassen, ob es sein wird oder nicht sein wird, und wäre dann keine Voraussage. Das Argument rechnet aber nur mit der erst nachträglich, in der anschließenden Gegenwart und Vergangenheit, ausgesonderten geschlossenen Zukunft, die nachträglich allerdings feststeht, und beweist ganz richtig, daß in dieser geschlossenen Zukunft nichts mehr offen ist. Die nachträgliche Entscheidung darüber, was zu ihr gehört, die erst durch das Entstehen fällt, wird ignoriert und die daraus nachträglich resultierende Zukunft auf die ganze Zukunft projiziert, so daß für die offene Zukunft von vornherein kein Platz mehr bleibt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 290-291).

„Die Offenheit der Zukunft hat eine Folge in der Frage nach einer Strömung des Flusses der modalen Lagezeit. Der Fluß der Zeit hat seine Richtung vom Wachsen der Vergangenheit und Schrumpfen der Zukunft, und dabei bleibt es, gleich ob man ihm eine regressive oder eine progressive Strömung zuschreibt. Regressiv ist der Andrang des Neuen, der Dauer zerreißt und in die Vergangenheit des Nichtmehrseins verabschiedet; daher paßt zur primitiven Gegenwart und zur reinen Modalzeit die regressive Strömung. Progressiv wäre ein Druck von der Vergangenheit her mit der Gegenwart an der Spitze, die sich in die Zukunft hineinfrißt, doch ist dies vielleicht ein Mythos eines naiven Kausaldenkens, das hinter jedem Geschehen einen Motor vermutet, während es sich darum handelt, daß das Fortwähren unzerrissener Dauer dem Andrang des Neuen immer wieder Angriffspunkte für aktuelle Situationen bietet. Jedoch kommt die Offenheit der Zukunft der Vorstellung einer progressiven Strömung entgegen, unter der Voraussetzung, daß die modale Lagezeit ihre eigenen Inhalte ist. Eine Zukunft, die als geschlossene noch nicht ist und sich im Entstehen regressiv in die Gegenwart stürzen könnte, steht in der offenen Zukunft vor dem Entstehen nicht fest; sie wächst mit dem Entstehen im Fluß der Zeit in die Zukunft hinein. Das ist ein Grund, diesem Fluß eine progressive Strömung zuzuschreiben.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 291-292).

Die Welt als entfaltete Gegenwart Das Sein

„Das Sein ist im Geschehen der primitiven Gegenwart und manchmal in der reinen Modalzeit sehr packend gegenwärtig, in leiblicher Enge am Rande des Vorbeiseins deutlich bis zum Gestelltsein von ihm ohne Spielraum. Das Nichtsein steht ihm dann aber nur mit einem schmalen Abschnitt gegenüber, als Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer. In der Welt entfaltet das Sein sich zum Gegenteil des Nichtseins in der vollen Breite des Nichtseienden, verliert dabei aber an Eindringlichkeit, so daß es meist nur noch als Klassifikationsmerkmal des Seienden benützt wird, wenn man sich vor Illusionen hüten will. Mit dieser Lockerung der Eindringlichkeit mag es zusammenhängen, daß es der Einzelheit gelingt, in der Welt die Grenze vom Seienden zum Nichtseienden zu überspringen. Das ist die Voraussetzung für die spezifisch personalen Fähigkeiten des Menschen, sich zu erinnern, zu erwarten, zu hoffen und zu fürchten, zu phantasieren, zu planen und zu wagen. Alles das vermögen die Tiere nicht, da sie nicht zur Emanzipation des Seins in der Welt gelangen und schon gar nicht zur Projektion von Einzelnem ins Nichtseiende.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 292).

„Der Umgang mit Einzelnem im Nichtseienden stößt aber an die Schwierigkeit, daß es sich in den meisten Fällen nicht eindeutig kennzeichnen läßt. Eine Ausnahme macht das Erinnern, da die Vergangenheit mit allem Nichtmehrseienden zur wirklichen Welt gehört. An ein vergangenes Ereignis kann man sich genau so eindeutig erinnern, wie man seine Aufmerksamkeit auf ein gegenwärtiges richten kann. Bei fiktiven Gegenständen und solchen der Zukunft ist das unmöglich. Sie können allerdings im Netz der phantasierten Geschichte oder der auf die Zukunft gerichteten Erwartung eine Stelle haben, an der sie durch eine in diesem Rahmen eindeutig bezeichnende Eigenschaft oder Beziehung eingebunden sind, aber an diese Stelle passen immer unendlich viele Fälle von Gattungen aus möglichen Welten, ohne daß man wissen kann, in welche mögliche Welt der betreffende Gegenstand gehört. Für eine poetische Figur gibt es immer unendlich viele Kandidaten, die nur die Bedingung erfüllen müssen, alle Merkmale zu besitzen, die der Dichter ihnen zuschreibt oder offensichtlich unterstellt. Man kann zwar auch nicht alle Attribute eines gegenwärtigen oder vergangenen Gegenstandes kennen, aber man kann sie eindeutig kennzeichnen, als diejenigen, die er in der wirklichen Welt besitzt; das Entsprechende ist für fiktive Gegenstände nicht möglich, weil man nicht sagen kann, in welche mögliche Welt sie gehören. Gleiches gilt für die Inhalte der offenen Zukunft. Auch sie gehören noch nicht zur wirklichen Welt, weil nicht feststeht, welche von ihnen noch nicht sind, aber einmal entstehen werden. Sie haben unendlich viele Attribute, von denen die wenigsten bekannt sind, während die übrigen, je nachdem, wie sie ausfallen, für unendlich viele verschiedene Gegenstände reichen. Das ist der Grund dafür, daß die Erwartung sich im Gegensatz zur Erinnerung gewöhnlich und legitimerweise auf Sachverhalte und nicht auf Individuen richtet, also z. B. darauf, daß ein Kind mit gewissen Eigenschaften und Beziehungen geboren werden wird, aber nicht auf dieses Kind, das zwar im Netz der Erwartungen seinen festen, eindeutig bestimmten Platz hat, ohne daß man aber wüßte, welches Kind es sein wird.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 292-293).

Die Welt als entfaltete Gegenwart Die Identität

„Die Entfaltung der absoluten Identität in der Welt besteht darin, daß sich die absolute Identität zur relativen Identität von etwas mit etwas ergänzt, indem ein absolut identischer Gegenstand verschiedene Gattungen als ihr gemeinsamer Fall bündelt. Nachdem der erste, entscheidende Schritt zum Übergang in die Welt, die Explikation einzelner Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen mit anschließender Kombination zu Konstellationen, getan ist, bietet schon die Subsumtion (das Fallen) unter eine einzige Gattung der dadurch einzelnen absolut identischen Sache die Gewähr, in einem konsolidierten, nach Unterschieden geordneten Netz von Gattungen aufgefangen und stabilisiert zu werden. Die relative Identität, wodurch sie nicht nur einmal in einem solchen Netz befestigt ist, macht die Sache vielseitig; welcher gewaltige Gewinn für diese daraus abfallen kann, hat sich unter 3.5 daran gezeigt, daß die Selbstzuschreibung und Selbstbestimmung der Person nur auf diese Weise möglich ist. Eine noch höhere Stufe der Wendigkeit und Beweglichkeit wird durch relative Identität erreicht, wenn dieselbe Sache durch ihr Fallsein nicht nur an verschiedene Stellen eines Netzes von Bedeutungen andockt, sondern auch an verschiedene, eventuell gegensätzliche Netze, wodurch sie auf verschiedene Weisen, die gegeneinander ausgespielt werden können, beleuchtet wird. Diese Möglichkeit zu erkennen und auszuarbeiten, war die Leistung der vorplatonischen Sophisten, die von Platon zu Unrecht denunziert worden sind, besonders des Protagoras, der in diesem Sinn »die schwächere Rede zur stärkeren machen«, »über jede Angelegenheit entgegengesetzte Reden führen« wollte und dazu zwei Bücher Antilogien verfaßte. (Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg zur europäischen Philosophie, Band I, 2007, S. 135). Es handelt sich um die Entdeckung der Nuance, die keineswegs einer böswilligen Verdrehungskunst zu dienen braucht, sondern im Gegenteil dazu verhelfen kann, einer von Vorurteilen herabgesetzten Sache eine bessere Würdigung in einer anders konzipierten Sichtweise zu verschaffen. Diese Kunst ist unentbehrlich, wenn es gilt, unverträglich scheinende Überzeugungen und Programme, je aus dem Nomos eigenständiger Situationen der Kultur oder Tradition stammend, aufeinander abzustimmen. Wer die Kunst der Nuance beherrscht, hat einen weiteren Horizont und ist potentiell klüger als der Dogmatiker, der immer gleich die richtige Antwort oder wenigstens die Methode, diese zu finden, zur Hand hat. Zu solcher gehobenen Intelligenz befähigt die relative Identität den Menschen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 293-295).

Die Welt als entfaltete Gegenwart Die Subjektivität

„Der zuvor bloß absolut identische Bewußthaber wird in der Welt zum einzelnen Subjekt und zur Person, indem er sich durch Selbstzuschreibung als Fall verschiedener Gattungen versteht; ob er sich dabei vergreift, z. B. in wahnhafte Selbstverkennung, darauf kommt es nicht an. Die präpersonalen Voraussetzungen dieser Personwerdung sind aus den Abschnitten 1.1 und 3.5 bekannt. Selbstzuschreibung ist nur möglich durch Vorbekanntschaft mit sich in einem identifizierungsfreien Sichfinden, das im affektiven Betroffensein stattfindet, wobei dieses für die Freiheit von Identifizierung auf die primitive Gegenwart angewiesen ist, in der das identifizierende Sichfinden durch unspaltbares Verhältnis zwischen dem affektiv betroffenen Bewußthaber und einem absolut identischen Etwas ersetzt wird. Wer der Bewußthaber ist, darüber geben die objektiven Tatsachen, wie die Polizei sie ermitteln kann, keine Auskunft, wohl aber führt von den subjektiven Tatsachen zu den objektiven ein Weg durch Abschälung der Subjektivität, durch Neutralisierung. Dies sei ins Gedächtnis gerufen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 295).

„Um sich in der Welt zurechtzufinden, benötigt der personale Bewußthaber außer den bisher erörterten Errungenschaften des Fallseins unter einem System einzelner Gattungen, der Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen, der Projektion von Einzelheit ins Nichtseiende - eine weitere Voraussetzung: die Neutralisierung subjektiver Bedeutungen (Tatsachen, untatsächliche Sachverhalte, Programme, Probleme) durch Abfallen der Subjektivität für ihn. Man sieht das an schweren Träumen, wenn sich der Träumer vor Not und Verlegenheit nicht zu helfen weiß und froh ist, wenn er, erwachend, merkt, daß es nichts gewesen ist. In einem solchen Traum sind jene Voraussetzungen erfüllt; er kann sogar hoffen und fürchten, also Einzelnes ins Nichtsein projizieren; und doch ist er gelähmt, weil er sich nicht in Sachlichkeit distanzieren, Möglichkeiten nicht kühl und kritisch abwägen kann, sondern in seiner bedrängten Subjektivität befangen bleibt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 295-296).

„Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen für jemanden subjektiv, so auch im Leben des Säuglings; noch vor Ablauf des ersten Lebensjahres pflegt beim normalen Menschen das Erwachsen zu beginnen, die Entfremdung auf Grund der Entlassung gewisser Tatsachen in Neutralität. Das Kind fühlt sich vom Fremden gestört. Am Gegensatz zu diesem bildet sich allmählich das Eigene heraus, auf der Grundlage der subjektiv gebliebenen Bedeutungen. Das Eigene, das sich lebenslang entwickelt und verschiebt, hat zwei Gestalten; die persönliche Eigenwelt (im Gegensatz zur persönlichen Fremdwelt) und die persönliche Situation. Zur persönlichen Eigenwelt gehören alle für die Person subjektiven Bedeutungen und solche Sachen, für die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, daß sie existieren, für die Person subjektiv ist; es können auch viele Illusionen und Phantasiegebilde dazu gehören, so daß auch untatsächliche Sachverhalte berücksichtigt werden müssen. Volkstümlicher gesagt: Zur persönlichen Eigenwelt gehört alles, woran die Person in Zuneigung oder Abneigung (Abwehr) »hängt«. Zur persönlichen Fremdwelt gehören alle Bedeutungen, die aus der persönlichen Eigenwelt durch Neutralisierung ausgeschieden sind, und alle Sachen, für die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, daß sie existieren, von dieser Art ist. Zur persönlichen (zuständlichen) Situation gehört, was die Person innerhalb ihrer persönlichen Eigenwelt sich selbst zurechnet, insbesondere also die für sie subjektiven Bedeutungen. In der persönlichen Situation treiben und reiben sich, gleitend wie zähflüssige Massen, viele partielle Situationen, teils retrospektive wie Kristallisationskerne der Erinnerung, die wie Halbdinge vergessen werden und (auch mit Modifikationen) wieder auftauchen, teils präsentische Situationen wie Standpunkte, habituelle Interessen, der Sprachschatz, die Gesinnung, die Fassung, die Lebenstechnik, und prospektive Situationen, die (oft schwer faßbar) andeuten, worauf die Person hinaus oder wovon sie weg will; diese können auch im Streit liegen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 296-297).

„Die Herausschälung des Eigenen am Gegensatz zu dem durch Neutralisierung und Entfremdung in die persönliche Fremdwelt Verwiesenen ist personale Emanzipation. Da aber die Person ohne die Verankerung in der leiblichen Dynamik (vitaler Antrieb, primitive Gegenwart) nicht einmal zur Selbstzuschreibung käme, bedarf sie einer zur personalen Emanzipation gegenläufigen personalen Regression, die die Neutralisierung und Verfremdung resubjektivierend zurückfährt und sich dem Leben aus primitiver Gegenwart wieder annähert. Bloße personale Regression würde zur Fassungslosigkeit mit Verlust der Selbstbestimmung führen, personale Emanzipation ohne das Gegengewicht personaler Regression dagegen zur Verflüchtigung der Selbstgewißheit, weil das Eigene am Gegensatz zum Fremden festgemacht bliebe, statt an der Unmittelbarkeit des Sichspürens im leiblich - affektiven Betroffensein. Tatsächlich gehen beide Tendenzen im allgemeinen - mit exzentrischen Ausnahmen - Kompromisse ein. Deswegen verläuft die personale Emanzipation nicht gleichmäßig, sondern in Stufen. Ich spreche von Niveaus der personalen Emanzipation. Ein Niveau ist höher als das andere, wenn es auf Grund von mehr Neutralisierung eine deutlichere Abhebung des Eigenen vom Fremden (Entfremdeten) ermöglicht. Von jedem höheren Niveau der personalen Emanzipation aus ist jedes niedrigere ein Niveau personaler Regression.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 297).

„Der Nachweis von Niveaus der personalen Emanzipation gelingt besonders klar am Beispiel der zuerst von Aristoteles und heute wieder in der analytischen Philosophie diskutierten Akrasie. Ein Musterbeispiel ist der faule Bettgenießer, der morgens mit der Einsicht, wegen einer wichtigen Erledigung sofort aufstehen zu sollen, erwacht, es aber so schön wohlig und warm im Bett findet, daß er dennoch liegen bleibt. Das ist keine »Willensschwäche«, wie die analytischen Philosophen meinen. Sein Wille wäre schwach, wenn er entweder keine Absicht bildete oder dieser nicht seinen vitalen Antrieb zuwendete. Tatsächlich bildet er sogar zwei entgegengesetzte Absichten, von denen die eine, der Subjektivität des affektiven Betroffenseins nähere, den Zuschlag des vitalen Antriebs erhält. Er steht auf zwei Niveaus personaler Emanzipation, von denen das niedere, als Niveau personaler Regression, sich durchsetzt. Der Übergang zu einem höheren Niveau findet im umgekehrten Fall statt, wenn jemand mit einem Ruck seines vitalen Antriebs eine Hemmung, Bequemlichkeit oder Widerwärtigkeit überwindet. Zwei Niveaus personaler Emanzipation vereinigt ein Mensch, der sich selbst Mut zuspricht, seine Scham oder seinen Zorn belächelt oder beschämt oder einer lustigen Laune ein bemessenes Stück weit die Zügel schießen läßt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 297-298).

„Die Person hat von sich aus keinen festen Stand zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression. Für die Selbstzuschreibung bedarf sie der Vereinzelung und Neutralisierung, zu der dafür vorausgesetzten identifizierungsfreien Kenntnis von sich aber der Resubjektivierung mit mehr oder weniger weit getriebener Einschmelzung der Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Sie bedarf der Integration beider Tendenzen. Diese gelingt gelegentlich durch zwei darauf angelegte Abläufe einer natürlichen Technik, durch Lachen und Weinen. (Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV, 1980, S. 114-131; Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990, S. 159-166; Hermann Schmitz, Selbst sein, 2015, S. 138-155). Das reicht aber nicht aus. Um sich im Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression dauerhaft zu stabilisieren, gibt sich die Person eine Fassung. Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. Sie ist spielerische Identifizierung der Person durch sich selbst mit etwas, das eindeutiger ist als sie. Spielerische Identifizierung besteht darin, etwas ohne Verwechslung und ohne Fiktion als etwas anderes zu nehmen. Das einfachste Beispiel ist die Bildnahme. Wenn man nicht auf das Bild als Bild reflektiert, sieht man es nicht als Bild, sondern als das Abgebildete, etwa als Landschaft oder, wenn es sich um ein gelungenes Porträt handelt, als das fesselnde Gesicht eines Menschen. Ebenso nimmt man den Schauspieler als die gespielte Figur, sowohl auf der Bühne als auch besonders im Film, wo nicht einmal der Schauspieler als Mensch zugegen ist. Daß in solchen Fällen keine Verwechslung vorliegt, sollte klar sein. Kein Kinobesucher wird in einem Hitlerfilm den Schauspieler mit Hitler verwechseln, als triebe dieser in nächster Nähe sein Unwesen. Daß aber auch keine Fiktion vorliegt, ergibt sich aus einer Abnormität spielerischer Identifizierung. Echte Identifizierungen sind umkehrbar, und das gilt auch für fiktive. Wenn ich sage, als Kaiser Wilhelm II hätte ich eine andere Flottenpolitik gemacht, fingiere ich mich als den Kaiser und den Kaiser als mich. Die Identität spielerischer Identifizierung ist dagegen unumkehrbar. Der Schauspieler in der Rolle Hitlers wird als Hitler gesehen, aber Hitler doch nicht als dieser Schauspieler, sondern als die bekanntlich verstorbene geschichtliche Persönlichkeit. Niemand wird der Meinung sein, die im Bild gesehene Landschaft mit weitem Horizont habe auf der schmalen Bildtafel Platz. Jesus, ein Stück Brot brechend, sagt beim Abendmahl: »Das ist mein Leib.« Er hütet sich vor der Umkehrung, zu sagen: »Mein Leib ist das.« Dann läge nämlich die Frage allzu nah: »Weiter nichts?«.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 298-299).

„Die Fassung ist von dieser Art. Ein Mensch, der sich nicht nur mit seiner Fassung identifizierte, sondern auch umgekehrt diese mit sich verwechselte, wäre eine unflexible Karikatur wie aus den Komödien von Moliere. Zur Fiktion wird die Fassung, wenn sie bloß aufgesetzt ist; so etwas ist aber nur ein Zusatz zu einer unwillkürlichen Fassung, die der Kenner unter dem Spiel entdecken kann. Die volllebendige Person schöpft aus einer Fülle von Möglichkeiten mit unwillkürlichem Einsatz ihrer Fassung und behält bei dieser Schöpfung eine Wendigkeit, die sich den Umständen nicht verschließt. Die Fassung kann auch wechseln. Jugendliche identifizieren sich schwärmerisch mit wechselnden Vorbildern, aber nur spielerisch, denn der würde für verrückt gehalten, der auch umgekehrt glaubte, das Vorbild sei er. Oft besteht der Wechsel der Fassung in einem Wechsel des Niveaus personaler Emanzipation bzw. Regression. Der sogenannte Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., der Vater Friedrichs des Großen, vereinigte auf solche Weise Pflichteifer und Verantwortungsgefühl mit brutaler Rücksichtslosigkeit, Herrschsucht und Jähzorn, Verzagtheit und Tatenscheu in der Außenpolitik mit expansiver Triebhaftigkeit als Familientyrann und derber Gemütlichkeit ohne Schroffheiten im Kreis seiner Kameraden im Tabakskollegium. (Vgl. Hermann Hoffmann, Das Problem des Charakteraufbaus, 1926, S. 130-135). Oft ist solcher Wechsel des Niveaus der Fassung und personaler Regression an das soziale Umfeld gebunden und bleibt dann abgestimmt auf die persönliche Situation, wie programmiert. Wenn er sich ganz unvorhersehbar verselbständigt, entsteht das Krankheitsbild der Hysterie (eventuell bis zum Anschein der Persönlichkeitsspaltung). Etwas anderes als dieser ruckartige Wechsel der Fassung ist ihre geschmeidige Anpassung, die ihrer stabilisierenden Leistung nicht im Wege steht. Dadurch entwickelt sie sich dem Mitmenschen gegenüber zu einem intelligenten Fingerspitzengefühl des Eingehens. Sie ist immer auch leiblich, da sie zwischen personaler Emanzipation und leiblicher Dynamik vermittelt. Durch ihre Anpassungsfähigkeit wird sie zum feinsten Fühler der Einleibung. Ihr Schwingen macht es möglich, den Anderen am eigenen Leib zu spüren und dadurch einen vielsagenden Eindruck zu empfangen. Man sagt dann, man habe sich eigentümlich berührt gefühlt. Wer auf den Anderen eingeht, muß seiner Fassung Spiel lassen, ohne sie aufzugeben; wer sie starr festhält, sieht am Mitmenschen vorbei.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 299-301).

„Die Fassung stabilisiert nicht nur zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression, sondern auch im Verhältnis von persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt. Zwischen beiden Teilwelten gibt es breite Grauzonen, in denen die Subjektivität in Neutralität gleichsam ausläuft, so daß die Grenze zwischen dem Bekenntnis des Nahegehens und der sachlichen, distanzierten Feststellung verschwimmt. Um sich in diesen Grauzonen zu behaupten, benötigt die Person eine Projektion ihrer Fassung, die von den für sie subjektiven Bedeutungen hinlänglich gelöst ist, um auch noch in ihrer persönlichen Fremdwelt Aufnahme zu finden. Sie gibt sich eine objektivierbare, neutralisierbare Form. Insbesondere stabilisiert sie sich nach dem Vorbild etablierter Menschentypen, z. B. als preußischer Offizier, Gentleman, Kavalier, kokette Verführerin, treusorgende Mutter usw.. Der Mensch gibt sich eine Form, indem er sich behauptet und zugleich in die Objektivität entläßt. Auch das ist ein Gelingen seiner Fassung, kein falsches Spiel.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 301).

„Eine weitere stabilisierende Leistung vollbringt die Fassung im Verhältnis zum Mitmenschen. Dieser gewinnt von der Person, die er erblickt, oft schon bei der ersten Begegnung einen vielsagenden Eindruck, in dem sich die ganze Persönlichkeit des Anderen wie in einem Plakat zusammenzuziehen scheint. Dieser erste Eindruck kann täuschen, aber er gewährt dem Mitmenschen einen analytischen Zugang zur persönlichen Situation des Anderen, vom Ganzen zum Detail weiterer Erfahrungen, mit denen er den ersten Eindruck abklärt, ergänzt, korrigiert oder bestätigt. Durch diesen analytischen Zugang hat der Mitmensch einen uneinholbaren Vorzug vor der erblickten Person. Diese kann von sich selbst keinen vielsagenden Eindruck haben, im Sinn einer impressiven Situation, die die ganze binnendiffuse Bedeutsamkeit ihrer persönlichen, segmentierten Situation mit einem Schlage zum Vorschein bringt. Sie kann einem solchen vielsagenden Eindruck nur synthetisch näher kommen, indem sie aus einzelnen Erfahrungen mit sich lernt. Der Vorteil des Mitmenschen vor ihr zeigt sich daran, daß er eher als sie zu pauschalen Urteilen über sie befähigt ist, indem er sie z. B. als zuverlässigen Menschen oder als Leichtfuß, als Streber, kurzentschlossen, kühn, Feigling, edelgesinnt, vornehm tuend usw. charakterisiert. Wer sich selbst solche pauschalen Urteile über sich herausnimmt, überzieht seine Kompetenz. Um diese Überlegenheit des Mitmenschen zu kompensieren, hält ihm die Person ihre Fassung als ein Ganzes von sich entgegen. Da sie aber ebenso den Mitmenschen erblickt wie er sie, entwickelt sich in der Begegnung ein nach beiden Seiten prinzipiell ausgewogener Konflikt von Blick und Fassung, der aber für Dominanz einer Seite offen ist.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 301-302).

„Diese vierte Funktion der Fassung, die Stabilisierung im Verhältnis zum Mitmenschen, gibt noch am Ehesten Anlaß zu Angeberei und Auftrumpfen, aber sie ist im Kern so urwüchsig und so wenig aufgesetzt wie die drei anderen Funktionen, die Vermittlung zwischen Emanzipation und Regression, die Formfindung und die elastische Aufgeschlossenheit. Man darf in den Ausdruck »spielerische Identifizierung« nichts Verspieltes hineinhören. Spielerische Identifizierung kann tödlicher Ernst sein. Ich habe den Ausdruck im Hinblick auf den Schauspieler gewählt, der eine Figur spielt und dabei im Allgemeinen ganz bei der Sache ist.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 302).

„Der Inhalt der Fassung wird teilweise von der Berufs- und Familienrolle bestimmt. Wichtiger noch ist, was der Psychiater Jürg Zutt als innere Haltung herausgearbeitet hat. (Vgl. Jürg Zutt, Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie, 1983, S. 1-81: Die innere Haltung). Sie ist gleichsam die Geste, womit die Person entgegennimmt, was auf sie zukommt. Zutt gibt folgendes Beispiel: »Manche Haltungen, die aus bestimmten Wesenszügen hervorgehen, können fast dauernd die innere Haltung und damit das Handeln eines Menschen bestimmen, so Aufrichtigkeit, Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit. Aus diesen Grundhaltungen heraus entwickeln sich die Nuancen von Einzelhaltungen, wie z. B. Entgegenkommen, Abweisen, Begrüßen, Verabschieden.« (Ebd., S. 14). Andere Beispiele sind mißtrauische Vorsicht, sanfte Bestimmtheit, Jovialität oder Komplexe wie Freuds analer Charakter (ordentlich, sparsam, eigensinnig) oder der von Tellenbach beschriebene Typus melancholicus von Menschen, die vitale Unsicherheit durch ein Übermaß von Gewissenhaftigkeit, Fürsorge, Dienstbarkeit und Einordnung kompensieren, dabei aber der Mutlosigkeit und Selbstvorwürfen ausgesetzt sind. (Vgl. Hubert Tellenbach, Melancholie, 1961).“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 302-303).

„Mit ihrer Fassung steht die Person an verschiedenen Fronten der Auseinandersetzung im Bemühen um Stabilisierung und Selbstbehauptung. Die Fassung gehört zur persönlichen Situation, die sich in den aktuellen Situationen solcher Auseinandersetzung lebenslang in Bewegung befindet und Verschiebungen durchmacht. Daran sind die Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, der Explikation aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der persönlichen Situation und der Implikation in diese beteiligt. Sie können sich überschneiden. Die personale Emanzipation pointiert das Eigene und das Fremde und übergeht dabei Nuancen des affektiven Betroffenseins, die in die binnendiffuse Bedeutsamkeit zurücksinken; die personale Regression verwischt die Konturen des Eigenen und Fremden, wirkt aber explizierend durch starke Eindrücke, auf die der Mensch im leiblich-affektiven Betroffensein gestoßen wird. Darüber hinaus, und hauptsächlich, geschieht die Implikation durch Einheilen des Einzelnen in das Ganze der persönlichen Situation im Wege des Vergessens, das ein Wechsel des Mannigfaltigkeitstyps vom numerischen zum chaotischen Mannigfaltigen ist, mit der Chance für das Einzelne, aus dieser Verschwommenheit wie ein Halbding mit unterbrechbarer Dauer in derselben oder einer gewandelten Gestalt wieder aufzutauchen. Dazu kommt eine weitere Front der Auseinandersetzung, an der die persönliche Situation, nicht unmittelbar, aber die Fassung beteiligt ist: die Auseinandersetzung der Person mit ihrer eigenen persönlichen Situation. Sie beherrscht die erste Phase des WoIlens, die Absichtbildung. Es ist ein großes Verdienst von Hans Thomae, mit guten empirischen Gründen die alte und in der älteren Phänomenologie seit Husserl erneuerte Mißdeutung des Willens als zwischen Motiven eigenmächtig entscheidende Instanz widerlegt zu haben.199 Viel eher ist das Wollen in seiner ersten Phase, der Absichtbildung angesichts einer Herausforderung, ein intelligenter Umgang der Person mit ihrer eigenen persönlichen Situation, um dieser ein einstimmiges Programm abzugtlwinnen, manchmal in der Rolle eines diplomatischen Vermittlers zwischen divergierenden Stimmen, manchmal (im Fall der Willensleichtigkeit nach Klages [vgl. Ludwig Klages, Grundlagen der Charkterkunde, 1926, S. 29]) durch einfaches Ablesen. Hier zeigt sich besonders deutlich der Unterschied zwischen der persönlichen Situation und der Seele (oder dem Bewußtsein) im alten Sinne, die (das) als Wohnsitz oder Zubehör des Subjektes gedacht wurde, nicht in Gegenstellung. Nach diesem ersten Schritt des Wollens, den ich sowohl für wichtige Lebensentscheidungen wie auch für banale Entschlüsse wie das Wählen von der Speisekarte nachgewiesen habe (vgl. Hermann Schmitz, Bewußtsein, 2010, S. 99-107)), muß noch der vitale Antrieb zur Zuwendung zu der gebildeten Absicht gewonnen werden, damit aus der Absicht Wollen wird; so steht die wollende Person in der Mitte zwischen ihrer persönlichen Situation und ihrer leiblichen Disposition (3.5). Sie wird ihre persönliche Situation niemals los, taucht aber beständig unter sie ab ins Leben aus primitiver Gegenwart, schon in allen routinierten Verrichtungen wie dem Sprechen als Sprach- und Mundgebrauch und der gesamten flüssigen Motorik, z. B. beim Gehen, Greifen, Kauen und Tanzen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 303-305).

NACH OBEN Anfang und Ende der Welt

„Die Welt ist kein Komplex, der von sich aus bestünde, sondern ein Gesicht, das mit Nichtseiendem vermischtes Seiendes dem Menschen zeigt, wenn er es mit satzförmiger Rede anspricht. Dadurch werden einzelne Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen herausgeholt und zu Netzen ausgestaltet, von denen beliebige absolut identische Gegenstände als Fälle von Gattungen eine stabile und zusammenhängende Einzelheit erlangen können. Diese kann ins Nichtseiende verlängert werden, und Verhältnisse können so in Beziehungen gespalten werden, daß das Denken sich unter dem Einzelnen mit veränderlichen Konstellationen frei bewegen kann. Wenn aber die Fähigkeit satzförmiger Rede erlischt, ist auch die Welt nicht mehr da, weil sie nichts als eine Erscheinung ist, die auf diese Rede eingeht. Da aber die Menschen hoffen können, daß ihnen ihr Vermögen nicht abhanden kommt, macht es für sie keinen Unterschied, ob die Welt immer da ist oder nur, wenn sie auf ihre Art reden können. Wenn dies nicht mehr der Fall sein sollte, wären zwar Raum und Zeit, einzelne Sachen und Personen in ihnen, mit etwas identische Gegenstände nicht mehr da, aber nichts spricht dagegen, daß es noch Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit und Leben aus primitiver Gegenwart geben könnte, auch mit rudimentären Formen von Raum und Zeit wie Richtungsraum und reine Modalzeit. Viel drastischer wäre das Verschwinden, wenn auch noch der Andrang des Neuen ausfiele und mit ihm das Geschehen der primitiven Gegenwart. Dann wäre nicht einmal mehr absolute Identität möglich und alles, mit Ausnahme absolut konfus chaotischer Mannigfaltigkeit, wäre mit einem Schlage weg. Es braucht ja nicht immer etwas Neues zu passieren, aber die Dimension des Betroffenwerdens vom plötzlichen Andrang des Neuen muß offen bleiben, um mit der primitiven Gegenwart den Urakzent zu setzen, aus dem absolute Identität herstammt. Entstehen muß möglich bleiben. Die leibliche Dynamik, in der als vitaler Antrieb nach der Seite der Engung das Geschehen der primitiven Gegenwart sich fortsetzt, dürfte die Gewähr dafür geben.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 305-306).

„Unter denselben Bedingungen wie das Ende der Welt steht ihr Anfang. Deswegen ist es naiv, einfach vorauszusetzen, sie habe immer bestanden, soweit man zurückrechnen kann, und es gelte nur noch, ihren früheren Zustand zu ermitteln. Es ist naiv, das Geschehen in den ersten Sekunden nach dem Urknall untersuchen zu wollen, wenn man nicht sicher ist, daß jemand mit satzförmiger Rede dabei gewesen ist. Die Einzelheit dürfte knapp werden und versiegen, ehe so viele einzelne Sekunden beisammen sind, wie man bis zum Urknall braucht. Die Zeit, wie wir sie kennen, die modale Lagezeit, überhaupt eine Lagezeit mit der Dimension des Früheren und Späteren, kann es so wenig wie einen Ortsraum gegeben haben, ehe der Mensch satzförmig reden lernte; und selbst dann wird es noch gedauert haben, bis er die Uhr und damit die Möglichkeit metrischer Extensivierung der intensiven Dauer entdeckte.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 306).

„Vielleicht hat ihm die Begegnung mit der Fläche (4.3.1) dabei geholfen; das könnte geschehen sein, als er anfing, in der Fläche zu zeichnen. Dann wäre die Zeit vielleicht etwas mehr als 30000 Jahre alt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 306).

NACH OBEN Das naturwissenschaftliche Weltbild

„Seit etwa 1600 wird das seit der Spätantike herrschende christliche Weltbild auf dem Boden des durch die germanischen völker erweiterten weströmischen Reiches vom naturwissenschaftlichen Weltbild abgelöst, zunächst mit dem Begriffsapparat des Mechanismus, dem sich im 19. Jahrhundert die Elektrooptik und auf deren Basis im frühen 20. Jahrhundert die Revolution durch die auseinanderstrebenden Systeme der Relativitätstheorie und Quantenphysik anschließen. Das naturwissenschaftliche Weltbild beruht auf der Weltspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Der Psychologismus dient ihm dazu, naturwissenschaftlich nicht beherrschbare Erfahrungsmassen in die abschließbaren Gefängnisse der Seelen abzuschieben. Der Reduktionismus erlaubt den für den Erfolg der Naturwissenschaft an der Wurzel entscheidenden Kunstgriff: die Reduktion der aus der Außenwelt aufzusammelnden Daten auf solche Sorten, die für statistische und experimentelle Zwecke durch intermomentane und intersubjektive Identifizierbarkeit, Meßbarkeit und selektive Variierbarkeit optimal geeignet sind, nämlich die unspezifischen Sinnesqualitäten. Damit greift die Naturwissenschaft (um 1600 über Epikur, Lukrez und Gassendi, von dem Locke abhängt) auf Demokrit zurück, der nach Aristoteles (Metaphysik, 1042b, 11-15) nur Gestalt, Anordnung und Lage im Raum zuließ; man (vielleicht er selbst) hat die Liste noch etwas verlängert, aber die Reduktionsidee blieb dieselbe. Die Introjektion verhilft dazu, den Abfall der reduktionistischen Abschleifung, der aber zum größten Teil vergessen und übersehen wurde (3.1), in den Seelen abzuladen. Auf dieser stark verkürzten Abstraktionsbasis errichtet die Naturwissenschaft, geführt von der Physik als Leitwissenschaft, ihr zum Lohn für großen Scharfsinn und gewissenhafte Sorgfalt unerhört erfolgreiches Lehrgebäude bewährter Vorhersagen, die der Menschheit durch die Maschinentechnik die seit Jahrtausenden vergeblich gesuchte Kunst geregelten Zauberns ermöglichen. Die Naturwissenschaft erreicht das teils mit Beobachtung (z. B. der Himmelskörper), hauptsächlich aber durch gezielte Versuche mit selektiver Variation von Variablen (Experimenten), die durch Auswertung der Ergebnisse immer breitere und feinere Vorhersagen gestatten. Mit Zusatz von Gedankendingen, die aus anschaulichen Modellvorstellungen (Partikeln, Strömen usw.) gewonnen sind, und mathematischer Kalküle gewinnen die Physik und die ihr durch Gebrauch ihrer Untersuchungsinstrumente zur Begründung sich anschließenden Naturwissenschaften einen Kanon bewährter, aber stets der Revision und Verbesserung ausgesetzter Regeln für die Prognose des von den natürlichen Abläufen und nach Eingriff in diese vernünftig Erwartbaren. Die Güte der Prognose entscheidet über den Erfolg der Naturwissenschaft. Deshalb sind die im Unrecht, die durch die Entdeckung von Kuhn, daß die Physik ihre großen Fortschritte durch sprunghaften Wechsel des Paradigmas macht, an der Idee eines stetigen Fortschritts der Naturwissenschaft irre geworden sind. Auf die theoretischen Ansätze kommt es dafür nicht an, sondern nur darauf, daß die Prognosen besser werden.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 306-308).

„So weit ist die Arbeit der Naturwissenschaft theoretisch sauber legitimiert. Das wird anders, sobald die bislang bewährten Regeln der Prognose in allgemeine Naturgesetze umgedeutet werden. Das hat den Vorteil, daß die Prognose durch eine Retrospektive ergänzt werden kann, da allgemeine Naturgesetze auch für die Vergangenheit gelten, sowohl über lange Zeitabstände (Millionen oder Milliarden Jahre) als auch über ganz kurze (Milli- oder Femtosekunden). Auf diese Weise kann man die menschliche Neugierde durch Belehrung darüber, wie es zu dem gekommen ist, was die Menschen gegenwärtig erfahren, befriedigen, und die Naturwissenschaft gewinnt eine zweite, historische Kompetenz über die Belehrung über das Erwartbare hinaus. Sie wird zum naturwissenschaftlichen Weltbild.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 308).

„Der Überstieg von bislang bewährten Regeln der Prognose zu allgemeinen Naturgesetzen ist illegitim. Es kann keine allgemeinen Naturgesetze geben, wenn die Zukunft, wie unter 4.3.2 nachgewiesen wurde, unbeschränkt offen ist. Durch allgemeine Naturgesetze würde aus der offenen Zukunft die geschlossene zum Teil abgelöst werden, obwohl die ganze geschlossene Zukunft zwar in der offenen enthalten ist, aber sich erst nach dem Entstehen ablöst, als das, was dann nachträglich noch nicht gewesen sein wird. Aber auch abgesehen von dieser (außer logischen Trivialitäten) grenzenlosen Offenheit der Zukunft entbehrt jedes allgemeine Naturgesetz insofern der empirischen Grundlage, als es höchstens bis zur Gegenwart bestätigt werden kann, so daß diese Bestätigung ebenso wie für das aufgestellte Gesetz für jedes andere verwendet werden kann, das von einem beliebigen Zeitpunkt an, der frühestens der gegenwärtige ist, irgend etwas anderes vorhersagt. Diese beliebige Vorhersagbarkeit bei gleichem empirischem Fundament zeigt, was allgemeine Naturgesetze eigentlich sind: Regeln der Vorhersage, die sich bisher bewährt haben und an denen man bis auf weiteres festhält, weil man sich nicht planlos einer ungewissen Zukunft überlassen will und für die Vernünftigkeit von Plänen keine andere Grundlage hat als die Erwartung nach den bisher bewährten Regeln. Ob und ab wann diese nicht mehr gelten, kann man nur abwarten. Die retrospektive Verwendung der Regeln als allgemeine Naturgesetze hat wegen des großen Aufwands an Scharfsinn und Sorgfalt und der Übereinstimmung der Ergebnisse verschiedener Zugänge der Erforschung hohe Plausibilität, aber auf einer brüchigen Grundlage in Logik und Erkenntnistheorie.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 308-309).

„Vor allem zwei Schwachstellen sind es, die eine zureichende Begründung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes vereiteln. Die erste ist der Singularismus. Ihn hat die Naturwissenschaft aus dem spätmittelalterlichen Nominalismus (Wilhelm von Ockham) geerbt, wie die Weltspaltung aus der Antike. Die Naturwissenschaft geht wie selbstverständlich von einzelnen Gegebenheiten aus, von Meßdaten, die an einzelnen Befunden aus den privilegierten Merkmalsorten erhoben werden, und abstrahiert daraus unter Zusatz theoretischer Terme ihre Begriffe (Gattungen) und Theorien, während doch das Einzelne nur unter Voraussetzung einzelner Gattungen, von denen es Fall ist, den Halt hat, der für theoretische Bearbeitung nötig ist. Die Naturwissenschaftler müssen also, um zu Einzelnem (wie einzelnen Meßwerten) zu kommen, von vorausgesetzten Gattungen ausgehen, die ihrerseits wieder aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen geschöpft werden müssen. Sie müßten also von Situationen ausgehen, wie der Historiker, der eine vergangene Zeit im Licht ihrer eigenen Denkweise statt der heute gewohnten darstellt. Damit würde die Naturwissenschaft aber den Trick Demokrits preisgeben, auf dem ihre Exaktheit beruht: die Beschränkung auf die Stützung der Theorie durch einzelne Exemplare aus besonders handlichen Merkmalsorten, deren Vereinzelung zu solchen Exemplaren ganz naiv als ursprüngliche Gegebenheit vorausgesetzt wird.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 308-309).

„Die zweite Schwachstelle ist noch leichter evident zu machen. Es handelt sich um die Zeit. Die Naturwissenschaft hat keinen Begriff von Modalzeit. Sie kann nicht sagen, was es bedeutet, daß etwas jetzt ist, also nicht nur an einem datierten Zeitpunkt in der Früher-Später-Ordnung, sondern an dem, der gerade jetzt ist. Andererseits ist sie, um überhaupt eine wissenschaftlich ansehnliche Begründung ihrer Aufstellungen zu erhalten, genötigt, in die Modalzeit hinabzusteigen und sich mit dem Unterschied dessen, was jetzt, nicht mehr und noch nicht ist, zu befassen. Das gilt besonders für das Experiment, aber allgemeiner für jedes Lernen. Lernen ist nur in der Modalzeit möglich, nicht in der bloß lagezeitlichen Ordnung des Früheren und Späteren, weil diese keinen zeitlichen Standpunkt zur Unterscheidung des Anfängers, der den Kursus noch vor sich hat, vor dem danach geprüften bereithält. Zwar gibt es in der bloßen Lagezeit einen Zeitpunkt vor dem Lernerfolg und einen Zeitpunkt danach, aber unter diesen Zeitpunkten keinen, auf den der Lernende eher als auf einem anderen angesiedelt wäre, weil keiner derjenige ist, auf dem er gerade jetzt (in seiner modalzeitlichen Geworfenheit) steht. Der Naturwissenschaftler will aber über die Richtigkeit seiner Annahmen etwas lernen. Deshalb muß er in die Modalzeit hinab- oder herabsteigen, obwohl er für sie keinen Begriff hat. Die Modalzeit aber gehört zur Welt. Dann kann aber der Naturwissenschaftler die Welt nicht erklären. Er muß ja, um als Wissenschaftler bestehen zu können, etwas in der Welt sich zu eigen machen, wovon er mit den Mitteln seiner Theorie keinen Begriff hat. Er müßte also erstens etwas erklären, was er als Teil des zu Erklärenden schon voraussetzen muß, um seiner Erklärung Gewicht zu geben, und zweitens eben dies voraussetzen, ohne sagen zu können, worum es sich handelt, wenn er nicht aus seiner Theorie herabsteigt und als lebendiger Mensch von seiner Vertrautheit mit dem Leben Gebrauch macht.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 310-312).

„Das naturwissenschaftliche Weltbild taugt also nicht zur Erklärung der Welt. Darüber hinaus scheint es an mindestens einer Stelle inkonsistent zu sein. Es handelt sich um die Konservierung von Information bei ihrer Übertragung in der sinnlichen Wahrnehmung. Ein Mensch sieht z. B. einen Baum auf einer Wiese. In der physikalischen Erklärung dieses Vorgangs kommt weder der Baum noch das Sehen vor, sondern ein Transport von Lichtwellen oder Photonen, die etwa von Quantenfeldern abgestrahlt werden und nach Auftreffen auf ein Sinnesorgan (die Netzhaut) durch elektrische Ströme ersetzt werden, die zum Gehirn wandern und dort Nervenzellen anregen. Wie die nach allen Richtungen strahlenden Photonen in so starker Konzentration auf die winzigen Netzhäute treffen können, daß sie die für den Baum auf der Wiese nötige Information vermitteln, ist schon kaum einzusehen. Aber danach wird es noch rätselhafter. Johannes v. Müller hat im 19. Jahrhundert das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien aufgestellt, wonach die Sinnesempfindung nicht von der Art des ursprünglichen Reizes, sondern von dem davon getroffenen Sinnesorgan bestimmt wird. Der Hirnforscher Gerhard Roth hat dieses Gesetz auf die Übertragung von den Sinnesorganen ins Gehirn ausgedehnt. Für den wahrgenommenen Inhalt kommt es demnach nicht mehr spezifisch auf das beteiligte Sinnesorgan und die Art der Übermittlung zum Gehirn an, denn die sei in allen Fällen gleichartig elektrisch, wobei die Differenzierungen, die noch beim Auftreffen des Reizes auf das Sinnesorgan und die erste Verarbeitung dort vorhanden seien, verloren gingen. Entscheidend sei vielmehr die Stelle der Verarbeitung im Gehirn, wie nach v. Müller das Sinnesorgan. (vgl. Gerhard Roth, Erkenntnis und Gehirn, 1994, S. 229-255, hier 234). Wenn das zutrifft, enthält das naturwissenschaftliche Weltbild drei Axiome, die miteinander eine Erklärung der Wahrnehmung vereiteln: 1. Informationen aus der Umwelt kommen zum Wahrnehmen nur auf dem Weg über Rezeptoren (Sinnesorgane), deren Informationsertrag über Nerven zum Gehirn geleitet wird. 2. Bei dieser Leistung werden die betreffenden Botschaften ihrer Differenzierung beraubt. 3. Wahrnehmen entsteht nur im Gehirn oder auf dem Weg über das Gehirn. Wenn es sich so verhält, fehlt im Gehirn für die Wahrnehmung eines Baumes auf einer Wiese diejenige Information, die der Wahrnehmende braucht, um mit dem, was er wahrnimmt - sei dieses nur ein Baum oder etwas physikalisch definiertes anderes - so gedeihlich umzugehen, wie es im Leben zu gelingen pflegt. Vor allem aber verliert dann das Vertrauen der Naturforscher auf ihre eigenen Beobachtungen seine Berechtigung. Der Gehirnforscher z. B. muß doch an Apparaten einigermaßen zuverlässig Zahlen für Meßdaten ablesen. Wenn aber auf dem Weg ins Gehirn die dafür erforderliche Information verlorengeht, wie soll er dann noch sicher sein, richtig abgelesen zu haben? So macht durch die drei Axiome die Naturwissenschaft sich selbst unmöglich. Das ist die Inkonsistenz, auf die ich hinweisen wollte.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 310-312).

 

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Johann Sebastian Bach, Leipzig

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