Zynismus ist das aufgeklärte falsche
Bewußtsein. * (* Die erste »Aufhebung« dieser Definition
findet sich in der fünften Vorüberlegung: die zweite Aufhebung
im Phänomenologischen Hauptstück.)
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 37 |
Die Existentialontologie, die vom Man und seinem Dasein in der
Alltäglichkeit handelt, versucht etwas, was früherer Philosophie
nicht im Traum eingefallen wäre: Trivialität zum Gegenstand
»hoher« Theorie zu machen. Schon dies ist eine Geste, die
unweigerlich den Kynismus-Verdacht auf Heidegger lenkt. Was Kritiker der
Heideggerschen Existentialontologie als einen »Fehler« vorgeworfen
haben, ist vielleicht ihr besonderer Witz. Sie treibt die Kunst der Platitüde
in die Höhen des expliziten Begriffs. Man könnte sie lesen wie
eine umgekehrte Satire, die nicht das Hohe heruntersetzt, sondern das
Niedere hinauf. Sie versucht, das Selbstverständliche so ausdrücklich
und ausführlich zu sagen, daß sogar Intellektuelle es »eigentlich«
verstehen müßten. In gewisser Hinsicht verbirgt sich im Heideggerschen
Diskurs mit seinen skurrilen Verfeinerungen der Begriffsabschattungen
eine logische Eulenspiegelei großen Stils - der Versuch, mystisch
einfaches Wissen vom einfachen Leben, »wie es ist«, in die
fortgeschrittenste europäische Denktradition zu übersetzen.
Heideggers Habitus eines Schwarzwaldbauern, der gern von der Welt zurückgezogen
in seiner Hütte sitzt und grübelt, die Zipfelmütze auf
dem Kopf, war nicht nur eine Äußerlichkeit. Er gehört
wesentlich zu dieser Art zu philosophieren. Es steckt dieselbe anspruchsvolle
Schlichtheit darin. Es zeigt, wieviel Mutwille dazu gehört, unter
modernen Bedingungen überhaupt noch so etwas Einfaches und »Primitives«
zu sagen, daß es sich gegen die komplexen Verschraubungen des »aufgeklärten«
Bewußtseins durchsetzen kann. Wir lesen die Aussagen Heideggers
über das Man, das Dasein in der Alltäglichkeit, über Gerede,
Zweideutigkeit, Verfallensein und Geworfenheit etc. vor dem Hintergrund
der vorangehenden Porträts von Mephisto und dem Großinquisitor:
als eine Reihe von Etüden in höherer Banalität, mit der
sich die Philosophie hinaustastet in das, »was der Fall ist«.
Gerade in dem Heideggers existential-hermeneutische Analyse mit dem Mythos
der Objektivität aufräumt, erzeugt sie den härtesten »Tiefenpositivismus«.
So tritt eine Philosophie auf, die ambivalent teilhat an einem ernüchterten,
säkularisierten und technisierten Zeitgeist; sie denkt jenseits von
Gut und Böse und diesseits der Metaphysik; nur auf dieser dünnen
Linie kann sie sich bewegen.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 370-371 |
Der theoretische Neo-Kynismus unseres Jahrhunderts - die Existenzphilosophie
- demonstriert in seiner Denkform das Abenteuer der Banalität. Was
er vorführt, sind die Feuerwerke der Sinnlosigkeit, die sich selbst
zu verstehen beginnt. Man muß sich die verächtliche Wendung
verdeutlichen, mit der Heidegger im oben zitierten Motto seine Arbeit
in weite Ferne von jeder »moralisierenden Kritik« (Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 167) rückt, als wolle er
betonen, daß zeitgenössisches Denken ein für allemal die
Sümpfe des Moralismus hinter sich gelassen und nichts mehr gemeinsam
habe mit »Kulturphilosophie« (ebd). Die kann ja nicht mehr
sein als »Aspiration« (ebd.): vergeblicher Anspruch, Großdenkerei
und Weltanschauung im Stil des nicht enden wollenden 19. Jahrhunderts.
Dagegen wirkt in der »rein ontologischen Absicht« die brennende
Kühle der realen Modernität, die keiner bloßen Aufklärung
mehr bedarf und mit aller je möglichen analytischen Kritik schon
»durch« ist. Ontologisch denkend, positiv sprechend die Struktur
der Existenz freilegen: zu diesem Zweck stürzt sich Heidegger, um
die Subjekt-Objekt-Terminologie zu umgehen, mit beachtlichem sprachlichen
Mutwillen in einen alternativen Jargon, der aus der Ferne betrachtet gewiß
nicht glücklicher ist als der, den Heidegger meiden wollte, in dessen
Neuartigkeit jedoch etwas vom Abenteuer des Modern-Primitiven hindurchscheint:
eine Verknüpfung von Archaik und Spätzeit, eine Spiegelung des
Frühesten im Letzten. In der »Ausgesprochenheit« der
Heideggerschen Rede kommt das zur Sprache, was ansonsten keiner Philosophie
der Rede wert ist. Eben in dem Augenblick. wo das Denken - explizit »nihilistisch«
- Sinnlosigkeit als Folie jeder möglichen Sinnaussage oder Sinngebung
erkennt, wird zugleich die höchste Entfaltung der Hermeneutik. d.h.
der Kunst des Sinn verstehens, nötig. um den Sinn der Sinnlosigkeit
philosophisch zu artikulieren. Das kann. je nach den Voraussetzungen des
Lesers. ebenso aufregend wie frustrierend sein - ein Kreisen in begriffener
Leere. Schattenspiel der Vernunft.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 371-372 |
Was ist dieses seltsame Wesen, das Heidegger unter dem Namen
Man vorführt? Es gleicht auf den ersten Blick modernen Plastiken,
die keinen bestimmten Gegenstand darstellen und in deren polierte Oberflächen
sich keine »besondere« Bedeutung hineinlesen läßt.
Dennoch sind sie unmittelbar wirklich und zum Anfassen konkret. In diesem
Sinn betont Heidegger, daß das Man keine Abstraktion sei - etwa
ein Allgemeinbegriff, der »alle Iche« umfaßt, sondern
möchte es, als ens realissimum, auf etwas beziehen, was in
jedem von uns präsent ist. Aber es enttäuscht die Erwartung
nach Personhaftigkeit, individueller Bedeutung und existentiell entschiedenem
Sinn. Es existiert, aber es ist bei ihm »nichts dahinter«.
Es ist da wie die moderne, nichtfigürliche Plastik: real, alltäglich,
konkreter Teil einer Welt; jedoch zu keiner Zeit auf eine eigentliche
Person, eine »wirkliche« Bedeutung verweisend. Das Man ist
das Neutrum unseres Ich: Alltagsich, aber nicht »ich-selbst«.
Es stellt gewissermaßen meine öffentliche Seite dar, meine
Mediokrität. Das Man habe ich mit allen anderen gemeinsam, es ist
mein öffentliches Ich, und in bezug auf es hat die Durchschnittlichkeit
immer recht. Als uneigentliches Ich entlastet sich das Man von jeglicher
eigener, höchst persönlicher Entschiedenheit; seiner Natur nach
will es sich alles leicht machen, alles von der äußerlichen
Seite nehmen und sich an den konventionellen Schein halten. In gewisser
Hinsicht verhält es sich so auch zu sich selbst, denn was es »selbst«
ist, das nimmt es ja auch nur so eben hin wie etwas Vorgefundenes unter
anderem Gegebenem. So läßt sich dieses Man nur als etwas Unselbständiges
verstehen, das nichts von sich selbst und für sich allein hat. Was
es ist, wird ihm durch die andern gesagt und gegeben; das erklärt
seine wesentliche Zerstreutheit; ja es bleibt verloren an die Welt, die
ihm zunächst begegnet. Heidegger:
»Zunächst bin
nicht ich im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen
in der Weise des Man. Aus diesemherundalsdieseswerde ich mir selbst
zunächst gegeben. Zunächst ist das Dasein
Man und zu meist bleibt es so.« (Martin Heidegger, Sein
und Zeit, S. 129). »Als Man lebe ich immer schon unter
der unauffälligen Herrschaft der Anderen.« »Jeder
ist der Andere und keiner er selbst. Das Man ... ist das Niemand
....« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 128). |
Diese Man-Beschreibung , mit der Heidegger eine Möglichkeit erobert,
philosophisch vom Ich zu sprechen, ohne es im Stil der Subjekt-Objekt-Philosophie
tun zu müssen, wirkt wie eine Rückübersetzung des Ausdrucks
Subjekt in die Umgangssprache, wo es »das Unterworfene« bedeutet.
(Im Logischen Hauptstück gehe ich dieser »übersetzung«
weiter nach und untersuche, was Unterwerfen und Unterworfenwerden für
die Erkenntnistheorie bedeutet. Vgl. S. 639-641; 652-659.) Wer »unterworfen«
ist, meint, sich »selbst« nicht mehr zu besitzen. Nicht einmal
die Sprache des Man sagt etwas Eigenes, sondern nimmt nur teil am allgemeinen
»Gerede«. In dem Gerede - mit dem man Sachen sagt, die man
eben sagt - verschließt sich das Man gegen das wirkliche Verstehen
des eigenen Daseins sowohl wie auch der besprochenen Dinge. Im Gerede
verrät sich die »Entwurzelung« und »Uneigentlichkeit«
des alltäglichen Daseins. Ihm entspricht die Neugier, die flüchtig
und »aufenthaltlos« dem jeweils Neuesten sich hingibt. Dem
neugierigen Man geht es, soviel es auch »Kommunikation betreibt«,
niemals um wirkliches Verstehen, sondern um dessen Gegenteil, Vermeidung
von Einsicht, Ausweichen vor dem »eigentlichen« Blick ins
Dasein. Dieses Vermeiden belegt Heidegger mit dem Begriff Zerstreuung
- einem Ausdruck, der aufhorchen läßt. Wenn auch alles Bisherige
durchaus überzeitlich und allgemeingültig klingen wollte, so
wissen wir mit diesem Wort auf einmal, an welcher Stelle der modernen
Geschichte wir stehen. Kein anderes Wort ist so vollgesogen vom spezifischen
Geschmack der mittleren zwanziger Jahre - der ersten deutschen Moderne
im Breitenmaßstab. Alles, was wir über das Man gehört
haben, wäre letztlich unvorstellbar ohne die Realvoraussetzung der
Weimarer Republik mit ihrem hektischen Nachkriegs-Lebensgefühl, ihren
Massenmedien, ihrem Amerikanismus, ihrer Kultur- und Unterhal tungsindustrie,
ihrem fortgeschrittenen Zerstreuungsbetrieb. Nur im zynischen, demoralisierten
und demoralisierenden Klima einer Nachkriegsgesellschaft, in der die Toten
nicht sterben dürfen, weil aus ihrem Untergang politisches Kapital
geschlagen werden soll, kann sich aus dem »Zeitgeist« ein
Impuls in die Philosophie abzweigen, das Dasein »existential«
zu betrachten und die Alltäglichkeit in Gegensatz zu stellen zu dem
»eigentlichen«, bewußt-entschlossenen Dasein als »Sein
zum Tode«. Nur nach der militärischen Götterdämmerung,
nach dem »Zerfall der Werte«, nach der coincidentia oppositorum
an den Fronten des Materialkrieges, wo sich »Gut« und »Böse«
gegenseitig ins Jenseits beförderten, wurde eine solche »Besinnung«
auf »eigentliches Sein« möglich. Erst diese Zeit wird
in radikaler Weise auf die innere Vergesellschaftung aufmerksam; sie ahnt,
daß die Wirklichkeit beherrscht wird von den Gespenstern, den Imitatoren,
den außengeleiteten Ich-Maschinen. Jeder könnte ein Wiedergänger
sein statt seiner selbst. Doch wie soll man es erkennen? Wem sieht man
noch an, ob er »er selbst« ist oder nur Man? Das erregt die
penetrante Sorge der Existentialisten um die so wichtige wie unmögliche
Unterscheidung zwischen dem Echten und Unechten, dem Eigentlichen und
dem Uneigentlichen, dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem
Entschiedenen und dem Unentschiedenen (das halt »nur so« ist):
»Alles sieht aus wie echt verstanden,
ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es
sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch.« (Martin Heidegger,
Sein und Zeit, 1927, S. 173). |
Die Sprache, scheint es, hält mühevoll das, was bloß »so
aussieht«, und das, was wirklich »so ist«, noch auseinander.
Doch die Erfahrung zeigt, wie alles sich verwischt. Alles sieht aus wie.
An diesem Wie beißt der Philosoph herum. Für den Positivisten
wäre alles, wie es ist; keine Differenz zwischen Wesen und Erscheinung
- das wäre nur wieder der alte metaphysische Spuk, mit dem man Schluß
machen will. Doch Heidegger beharrt auf einer Differenz und hält
an dem Anderen fest, das nicht nur ist »wie«, sondern das
Wesentliche, Echte, Eigentliche für sich hat. Der metaphysische Rest
bei Heidegger und sein Widerstand gegen den reinen Positivismus verraten
sich im Willen zur Eigentlichkeit. Es gibt noch eine andere Dimension«
- auch wenn sie sich dem Aufweis entzieht, weil sie nicht zu den aufweisbaren
»Dingen« gehört. Das Andere läßt sich zunächst
nur behaupten, indem zu gleich versichert wird, es sehe genau so aus wie
das Eine; für die äußerliche Sicht hebt sich das »Eigentliche«
vom »Uneigentlichen« in keiner Weise ab.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 372-378 |
Der Unterschied eigentlich-uneigentlich gibt sich rätselhafter,
als er in Wahrheit ist. Soviel steht von vornherein fest: es kann nicht
der Unterschied in irgendeiner »Sache« sein (schön-häßlich,
wahr-falsch, gut-böse, groß-klein, wichtig-unwichtig), weil
die existentiale Analyse vor diesen Unterschieden operiert. So bleibt
als letzte denkbare Differenz jene zwischen dem entschlossenen und dem
unentschlossenen Dasein, ich möchte sagen: zwischen dem bewußten
und dem unbewußten. Doch darf man den Gegensatz bewußt-unbewußt
nicht im Sinne der psychologischen Aufklärung nehmen (der Unterton:
entschlossen-unentschlossen deutet eher in die gemeinte Richtung); bewußt
und unbewußt sind hier nicht kognitive Gegensätze, auch nicht
solche der In formation, des Wissens oder der Wissenschaft, sondern existentiale
Qualitäten. Wäre es anders, so wäre das Heideggersche Pathos
der »Eigentlichkeit« nicht möglich.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 380 |
Die Konstruktion des Eigentlichen mündet - endlich - aus
in das Theorem vom »Sein zum Tode«, für Heideggers Kritiker
ein Vorwand zur billigsten Empörung: zu mehr als zu morbiden Todesgedanken
kann sich die bürgerliche Philosophie nicht mehr aufraffen! Aschermittwochsphantasien
in parasitären Köpfen! Nehmen wir :von solcher Kritik das Wahrheitsmoment
auf, so besagt sie, daß sich in Heideggers Werk, gegen dessen Intentionen,
der historisch-gesellschaftliche Augenblick spiegelt, in dem es verfaßt
wurde; auch wenn es noch so sehr beteuert, ontologische Analyse zu sein,
liefert es eine unfreiwillige Gegenwartstheorie. Insofern sie dies unfreiwillig
ist, hat der Kritiker wohl ein Recht, eine unfreie, ja verblendete Seite
an ihr zu benennen, ohne daß er von der Aufgabe entbunden wäre,
die erleuchtete Seite zu würdigen. Kein Gedanke ist so intim in seine
Zeit eingebettet wie der des Seins zum Tode; es ist das philosophische
Schlüsselwort im Zeitalter der imperialistischen und faschistischen
Weltkriege. Heideggers Theorie fällt in die Atemwende zwischen dem
Ersten und Zweiten Wel krieg, die erste und zweite Modernisierung des
Massentodes. Sie steht auf halbem Weg zwischen dem ersten Dreigestirn
der Destruktionsindustrie: Flandern, Tannenberg, Verdun und dem zweiten:
Stalingrad, Auschwitz, Hiroshima. Ohne Todesindustrie keine Zerstreuungsindustrie.
Liest man Sein und Zeit nicht »bloß« als Existentialontologie,
sondern auch als verschlüsselte Sozialpsychologie der Moderne, so
öffnen sich Einsichten in Strukturzusammenhänge von größter
Perspektive. Heidegger hat den Zusammenhang zwischen moderner »Uneigentlichkeit«
der Existenz und moderner Todesfabrikation in einer Weise getroffen, die
sich allein dem Zeitgenossen industrieller Weltkriege erschließen
kann. Lockern wir den Bann, den der Faschismusverdacht auf Heideggers
Werk geworfen hat, so verraten sich in der Formel vom »Sein zum
Tode« explosive kritische Potentiale. Dann wird verständlich,
daß Heideggers Todestheorie die größte Kritik des 20.
Jahrhunderts am 19. birgt. Das 19. Jahrhundert nämlich hatte seine
besten theoretischen Energien in den Versuch gesteckt, durch realistische
Groß-Theorien den Tod der anderen denkbar zu machen. (Ich
nehme hier ein Motiv Michel Foucaults auf.) Die großen evolutionistischen
Entwürfe nahmen das Weltböse, soweit es andern zustößt,
hinweg und hinauf in die höheren Zustände späterer, erfüllter
Zeiten: hierin gibt es formale Äquivalenzen zwischen der Vorstellung
von Evolution, dem Begriff der Revolution, dem Begriff der Auslese, des
Kampfs ums Dasein und des Überlebens des Tüchtigeren, der Idee
des Fortschritts und dem Mythos der Rasse. Mit all diesen Konzepten wird
eine Optik erprobt, die den Untergang der anderen objektiviert. Mit Heideggers
Todestheorie kehrt das Denken des 20. Jahrhunderts diesen hybriden, theoretisch
neutralisierten Zynismen des 19. Jahrhunderts den Rücken. Äußerlich
gesehen wechselt nur das Personalpronomen: »Man stribt« wird
zu: »Ich sterbe«. Im bewußten Sein zum Tode revoltiert
die Heideggersche Existenz gegen die »ständige Beruhigung über
den Tod«, auf die eine überdestruktive Gesellschaft unbedingt
angewiesen ist. Der totale Militarismus des Industriekrieges erzwingt
in den Alltagszuständen eine mögliche lückenlose narkotische
Todesverdrängung - oder die Abwälzung des Todes auf die andern:
das ist das Gesetz der modernen Zerstreuung. Die Weltlage ist eine solche,
daß sie den Menschen, würden sie aufmerken, zuflüstert:
Eure Vernichtung ist bloß eine Frage der Zeit, und die Zeit, die
die Vernichtung braucht, bis sie euch erreicht, ist zugleich die Zeit
eurer Zerstreuung. Die kommende Vernichtung setzt ja eure Zerstreuung,
eure Nichtentschlossenheit zum Leben voraus. Das zerstreute Man ist der
Modus unseres Existierens, durch den wir selber in den allgemeinen
Todeszusammenhängen stecken und mit der Todesindustrie kooperieren.
Ich möchte behaupten, daß Heidegger den Anfang des Fadens zu
einer Philosophie der Aufrüstung in Händen hält: denn Aufrüsten
heißt, sich dem Gesetz des Man unterwerfen. Einer der eindrucksvollsten
Sätze aus Sein und Zeit lautet: »Das Man läßt
den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen« (Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 254). Wer aufrüstet,
ersetzt den »Mut zur Angst vor dem eigenen Tod« durch militärischen
Betrieb. Das Militär ist der größte Garant dessen, daß
ich nicht meinen »eigenen Tod« sterben muß; es verspricht
mir Hilfe beim Versuch, das »Ich sterbe« zu verdrängen,
um an seiner Stelle einen Man-Tod zu bekommen, einen Tod in absentia,
einen Tod in politischer Uneigentlichkeit und Betäubung. Man rüstet,
man zerstreut sich, man stirbt.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 380-383 |
Ich finde in Heideggers »Ich sterbe« den Kristallisationskern,
um den sich eine Realphilosophie des erneuerten Kynismus entfalten kann.
Kein Weltzweck darf sich je von diesem kynischen Apriori: »Ich sterbe«
so weit entfernen, daß unsere Tode Mittel zum Zweck werden. Die
Sinnlosigkeit des Lebens - um die sich soviel dummes Nihilismusgeschwätz
schlingt - begründet ja erst dessen volle Kostbarkeit. Dem Sinnlosen
ist nicht nur die Verzweiflung und der Alptraum eines bedrückten
Daseins zugeordnet, sondern auch sinnstiftende Lebensfeier, energetisches
Bewußtsein im Hier und Jetzt und ozeanisches Fest.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 383 |
Was die Gesellschaft uns als Zwecke in ihrem Betrieb vorgibt,
bindet uns immer schon ins uneigentliche Dasein. Der Weltbetrieb tut alles,
um den Tod zu verdrängen - während doch »eigentliches«
Existieren sich erst daran entzündet, daß ich wach erkenne,
wie ich in der Welt stehe, Aug in Aug mit der Todesangst, die sich meldet,
wenn ich im voraus radikal den Gedanken vollziehe, daß ich es bin,
auf den am Ende meiner Zeit mein Tod wartet. Heidegger folgert hieraus
eine ursprüngliche Un-heimlichkeit des Daseins; die Welt könne
ja niemals das sichere, Geborgenheit spendende Zuhause des Menschen werden.
Weil das Dasein von Grund auf unheimlich ist, spürt der »unbehauste
Mensch« (...) einen Drang, sich in künstliche Behausungen und
Heimaten zu flüchten und sich aus der Angst in die Gewöhnungen
und Wohnungen zurückzuziehen.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 384 |
Heidegger ist nicht umsonst ein Zeitgenosse des Bauhauses, des
Neuen Wohnens, des frühen Urbanismus, des Sozialwohnungsbaus, der
Siedlungstheorie und der ersten Landkommunen. Sein philosophischer Diskurs
hat verschlüsselt Anteil an der modernen Problematisierung der Wohngefühle,
des Mythos Haus, des Mythos Stadt. Wenn er von der Unbehaustheit des Menschen
redet, so ist das nicht nur gespeist aus dem Grauen, das der unverbesserliche
Provinzler angesichts moderner großstädtischer Lebensformen
empfindet. Es ist geradezu eine Absage an die häuserbauende, städtebauende
Utopie unserer Zivilisation. Tatsächlich bedeutet der Sozialismus,
sofern er lndustriebejaher sein muß, eine Verlängerung des
städtischen »Geistes der Utopie«; er verspricht ja, aus
der »Unwirtlichkeit der Städte« hinauszuführen,
jedoch mit städtischen Mitteln, und hat eine neue Stadt, die endgültige
Menschenstadt und Heimat vor Augen. So steckt im Sozialismus dieses Typs
immer schon ein von städtischer Misere mitgenährter Traum. Heideggers
Provinzialismus hat dafür kein Verständnis. Er blickt auf die
Stadt mit den Augen einer »ewigen Provinz«, die sich nicht
einreden läßt, daß je etwas Besseres an die Stelle des
Landes treten könnte. Heidegger, so darf der gutwillige lnterpret
sagen, durchbricht die modernen Raumphantasien, wobei die Stadt vom Land
träumt und das Land von der Stadt. Beide Phantasmen sind gleich bedingt
und gleich verzerrt. Heidegger vollzieht, teils buchstäblich, teils
metaphorisch verstanden, eine »posthistorische« Rückkehr
aufs Land.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 384-386 |
Gerade in den Jahren der wüstesten Modernisierung - den
sog. goldenen Zwanzigern - beginnt die Stadt, einst der Ort der Utopie,
ihren Zauber einzubüßen, und vor allem Berlin, Hauptstadt des
frühen 20. Jahrhunderts, trägt das Seine dazu bei, die Metropoleneuphorie
in ein ernüchterndes Licht zu tauchen. Als Brennpunkt der Industrie,
der Produktion, des Konsums und des Massenelends ist sie zugleich der
Entfremdung am meisten ausgeliefert; nirgendwo läßt sich Modernität
so teuer bezahlen wie in den Massenstädten. Das Vokabular der Heideggerschen
Man-Analyse scheint wie geschaffen, dem Unbehagen gebildeter Städter
an der eigenen Lebensform Ausdruck zu geben. Zerstreuungskultur, Gerede,
Neugier, Unbehaustheit, Verfallenheit (an alle möglichen Laster dürfte
man mitdenken), Obdachlosigkeit, Angst, Sein zum Tode: das klingt alles
wie Großstadtmisere, in einem etwas trüben, etwas zu feinen
Spiegel eingefangen. Heideggers Provinzkynismus hat eine heftige kulturkritische
Tendenz. Aber es bezeugt nicht nur einen hoffnungslosen Provinzialismus,
wenn ein Philosoph seines Ranges sich von den bürgerlich-städtischen
und sozialistischen Utopien abkehrt, sondern deutet auf eine kynische
Kehre, in dem Sinne, daß sie die großen Ziele und Projektionen
des städtischen Gesellschaftstraums außer Kraft setzt. Die
Wendung zur Provinz kann auch eine Wendung zu wirklicher Makrohistorie
sein, die von den Regulierungen des Lebens im Rahmen von Natur, Agrikultur
und Okologie präziser Notiz nimmt, als alle bisherigen Industriewelt
bilder es konnten. Die Geschichte, die ein Industriehistoriker schreibt,
wird notgedrungen Mikrohistorie. Die Geschichte des Landes kennt den Puls
einer viel gröeren Zeitlichkeit. Auf kurze Formeln gebracht: die
Stadt ist nicht die Erfüllung der Existenz; die Ziele des Industriekapitalismus
sind es auch nicht; wissenschaftlicher Fortschritt ist es auch nicht;
mehr Zivilisation, mehr Kino, schöner Wohnen, länger Autofahren,
besser Essen: das alles ist es nicht. Das »Eigentliche« wird
immer etwas anderes sein. Du mußt wissen, wer du bist. Bewußt
mußt du das Sein zum Tode erfahren als höchste Instanz deines
Seinkönnens; in der Angst fällt es dich an, und dein Augenblick
ist gekommen, wenn du mutig genug bist, der großen Angst standzuhalten.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 386-387 |
»Eigentliche Angst ist ... bei der Vorherrschaft des Verfallens
und der Öffentlichkeit selten« (Martin Heidegger, Sein und
Zeit, 1927, S. 190). Wer auf das Seltene setzt, trifft eine elitäre
Wahl. Eigentlichkeit sei also eine Sache der wenigen. Woran erinnert das?
Hören wir nicht wieder den Großinquisitor, wie er zwischen
den wenigen und den vielen unterscheidet - den wenigen, die die Last der
großen Freiheit ertragen, und den vielen, die als rebellische Sklaven
leben wollen und nicht bereit sind, wirklicher Freiheit, wirklicher Angst,
wirklichem Sein zu begegnen? Dieser völlig apolitisch gemeinte Elitismus,
der eine Elite der wirklich Existierenden annimmt, mußte fast unweigerlich
ins Gesellschaftliche hinübergleiten und politische Optionen lenken.
Der Großinquisitor besaß hierbei den Vorsprung eines illusionslosen
und zynischen politischen Bewußtseins. Heidegger hingegen war ein
Naiver geblieben, ohne klares Bewußtsein dessen, daß aus dem
traditionellen Gemisch von akademischem Apolitismus, Elitebewußtsein
und heroischer Stimmung fast mit blinder Notwendigkeit unbegriffene politische
Entscheidungen hervorgehen. Eine Zeitlang fiel er - man möchte sagen
also - auf den Zynismus des völkischen Großinquisitors
herein. Seine Analyse bewahrheitete sich unfreiwillig an ihm selbst. Alles
sieht aus wie. Es klingt wie »echt verstanden, ergriffen
und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht«. Der Nationalsozialismus
- »Bewegung«, »Aufstand«, »Entscheidung«
- schien Heideggers Vision von Eigentlichkeit, Entschlossenheit und heroischem
Sein zum Tode zu ähneln, als wäre der Faschismus die Wiedergeburt
des Eigentlichen aus der Verfallenheit, als wäre diese moderne Revolte
gegen die Modernität der wirkliche Beweis einer zu sich selbst entschlossenen
Existenz. Man muß an Heidegger denken, wenn man Hannah Arendts souveräne
Bemerkung über jene Intellektuellen im Dritten Reich zitiert, die
zwar keine Faschisten waren, sich aber zum Nationalsozialismus »etwas
einfallen ließen«. Tatsächlich hat sich Heidegger allerhand
einfallen lassen, bis er merkte, was es »eigentlich« mit dieser
politischen Bewegung auf sich hatte. Der Trug konnte nicht lange dauern.
Gerade die NS-Bewegung sollte klarmachen, was das völkische Man alles
in petto hat - das Man als Herrenmensch, das Man als zugleich narzißtische
und autoritäre Masse, das Man als Lustmörder und Tötungsbeamter.
Die »Eigentlichkeit« des Faschismus - seine einzige - bestand
darin, daß er latente Destruktivität in manifeste verwandelte
und somit in höchst zeitgemäßer Weise teilnahm an dem
Zynismus offener »Ausgesprochenheit«, die mit nichts mehr
hinterm Berg hält. Faschismus, vor allem in der deutschen Spielart,
ist die » Unverborgenheit« der politischen Destruktivität,
auf die nackteste Form gebracht und durch die Formel vom »Willen
zur Macht« zu sich selbst ermutigt. Es geschah, als ob Nietzsche
in der Art eines Psychotherapeuten zur kapitalistischen Gesellschaft gesagt
härte: »Vom Willen zur Macht seid ihr im Grund ja zerfressen,
also laßt es endlich offen heraus und bekennt euch zu dem, was ihr
ohnehin seid!« * - woraufhin die Nazis tatsächlich
dazu übergingen, »es« heraus zulassen, jedoch nicht unter
therapeutischen Bedingungen, sondern inmitten der politischen Realität.
* Eine Würdigung Nietzsches wird immer stark davon abhängen,
wie man den » Willen zur Macht« auffaßt. Ermunterung
zu imperialem Zynismus? Kathartisches Geständnis ? Ästhetisches
Motto ? Selbstkorrektur eines Gehemmten ? Vitalistischer Slogan?
Metaphysik des Narzißmus? Enthemmungspropaganda? |
Vielleicht war es Nietzsches theoretischer Leichtsinn, der ihn glauben
ließ, daß Philosophie sich in provokativen Diagnosen
erschöpfen dürfe, ohne zugleich verbindlich an Therapie
zu denken. Den Teufel darf nur beim Namen nennen, wer eine Abreaktion
für ihn weiß; ihn nennen (sei es Wille zur Macht, sei es Aggression
etc.) heißt, seine Realität anerkennen, sie anerkennen heißt,
sie »entfesseln«.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 387-390 |
Seit Heidegger ist, stark chiffriert, aber doch schon lesbar,
ein Abkömmling des antiken kynischen Impulses wieder dabei, zivilisationskritisch
ins soziale Geschehen einzugreifen; er führt letztendlich das moderne
Technik- und Herrschaftsbewußtsein ad absurdum. Vielleicht
nimmt man der Existentialontologie viel von ihrer anmaßenden Düsterkelt,
wenn man sle als phllosophlsche Eulenspiegelei versteht. Sie macht den
Leuten allerhand vor, um sie dahin zu bringen, wo sie sich nichts mehr
vormachen lassen; sie gibt sich furchtbar spröde, um das Emfachste
zu vermltteln. Ich nenne es: Kymsmus der Zwecke. Inspiriert vom Kynismus
der Zwecke könnte einem Leben wieder warm werden, das am Zynismus
der Mittel die Kälte des Machens, Herrschens und Zerstörens
erlernt hat. Die Kritik der instrumentellen Vernunft drängt darauf,
als Kritik der zynischen Vernunft zuendegeführt zu werden. In ihr
geht es darum, Heideggers Pathos zu entkrampfen und es von der Anklammerung
an das bloße Todesbewußtsein zu befreien. »Eigentlichkeit«,
wenn der Ausdruck überhaupt Sinn geben soll, erfahren wir eher in
Liebe und sexuellem Rausch, in Ironie und Gelächter, Kreativität
und Verantwortung, Meditation und Ekstase. Bei dieser Entkrampfung verschwindet
jener existentialistische Einzige, der am eigenen Tod sein eigenstes Eigentum
zu haben meint. Auf dem Gipfel des Seinkönnens erfahren wir nicht
nur den Weltuntergang im einsamen Tod, sondern mehr noch den Ich-Untergang
in der Hingabe an die gemeinsamste Welt.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 390 |
Zugegeben, der Tod hat zwischen den Weltkriegen die philosophische
Phantasie überschattet und das ius primae noctis mit dem Kynismus
der Zwecke für sich beansprucht, zumindest in der Philosophie. Doch
sagt es nichts Gutes über das Verhältnis der Existenzphilosophie
zur realen Existenz, wenn ihr nur der »eigene Tod« in den
Sinn kommt, wenn man sie fragt, was sie zum wirklichen Leben zu sagen
habe. Eigentlich sagt sie, daß sie nichts zu sagen hat - und zu
diesem Zweck muß sie nichts mit großem N schreiben. Dieses
Paradox kennnzeichnet die gewaltige Denkbewegung des Buches Sein und
Zeit: ein so großer Begriffsreichtum wurde kaum je eingesetzt,
um einen im mystischen Sinne so »armen« Inhalt zu transportieren.
Das Werk dringt auf den Leser ein mit einem pathetischen Aufruf zur eigentlichen
Existenz, hüllt sich aber in Schweigen, wenn man fragen wollte: wie
denn? Die einzige, allerdings fundamentale Antwort, die sich herausziehen
ließe, müßte, entschlüsselt (im obigen Sinne) lauten:
bewußt. Das ist keine konkrete Moral mehr, die Anweisungen
zum Tun und Lassen gibt. Aber wenn der Philosoph nichts mehr an Direktiven
zu geben vermag, so doch eine eindringliche Suggestion zur Eigentlichkeit.
Also: Du magst tun, was du willst, du magst tun, was du mußt; aber
tu es in einer Weise, daß du dir dessen, was du tust, intensiv bewußt
bleiben kannst. Moralischer Amoralismus - das letzte mögliche Wort
der Existentialontologie zur Ethik? Es scheint, das Ethos bewußten
Lebens wäre das einzige, das in den nihilistischen Strömungen
der Moderne sich behaupten kann, weil es im Grunde genommen keines ist.
Es erfüllt nicht einmal die Funktion einer Ersatzmoral (von der Art
der Utopien, die das Gute in die Zukunft legen und das Böse auf dem
Weg dorthin relativieren helfen). Wer wirklich im Jenseits von Gut und
Böse denkt, findet nur noch einen einzigen für das Leben belangvollen
Gegensatz, der zugleich der einzige ist, über den wir ohne idealistische
Überanstrengungen aus unserem eigenen Dasein heraus Macht haben:
den zwischen bewußtem und unbewußtem Tun. Wenn Sigmund Freud
in einer berühmten Forderung den Satz aufstellte: Wo Es war, soll
Ich werden, würde Heidegger sagen: Wo Man war, soll Eigentlichkeit
werden. Eigentlichkeit wäre - frei interpretiert - jener Zustand,
den wir erlangen, wenn wir in unserem Dasein ein Kontinuum der Bewußtheit
herstellen. (Dies ist ein modemes Äquivalent für das Delphische
Erkenne-Dich-Selbst. Das Freudsche Ich fällt eher ins Man. Ist der
Psychoanalysierte ein Angepaßter, Nivellierter?) Nur das bricht
den Bann der Unbewußtheit, unter dem menschliches Leben, zumal als
vergesellschaftetes, lebt; das zerstreute Bewußtsein des Man ist
dazu verurteilt, diskontinuierlich, impulsiv-reaktiv, automatisch und
unfrei zu bleiben. Das Man ist das Müssen. Demgegenüber erarbeitet
sich bewußte Eigentlichkeit - wir akzeptieren provisorisch diesen
Ausdruck - eine höhere Qualität von Wachheit. Sie legt in ihr
Tun den ganzen Nachdruck ihrer Entschiedenheit und Energie. Der Buddhismus
spricht davon in vergleichbaren Wendungen. Während das Man-Ich schläft,
ist das Dasein des eigentlichen Selbst zu sich erwacht. Wer sich selbst
in einem kontinuierlichen Wachsein erforscht, findet aus seiner Situation,
jenseits der Moralen, was für ihn zu tun ist.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 390-392 |
Wie tief Heideggers systematischer Amoralismus ** reicht,
zeigt sich an seiner Umdeutung des Begriffs Gewissen: er konstruiert,
zugleich vorsichtig und revolutionär, ein »gewissenloses Gewissen«.
** Dieser reflektierte Amoralismus, der paradoxerweise
das stumme Versprechen einer authentischen Sittlichkeit in sich
trägt, hat seinen Gegner im sozialistischen Moralismus gefunden.
Auch die jüngere kritische Theorie hat sich von dem sensibilistischen
Quasi-Amotalismus der ästhetischen Theorie Adornos losgesagt
und steuert in direkter Argumentation auf eine positive Ethik zu.
Das mag in gewisser Hinsicht einen Fortschritt bedeuten - wenn es
nur der Gefahr entgeht, hinter die radikale Modernität des
existentialistischen und ästhetischen Amoralismus zurückzufallen.
Dieser verarbeitet ja bereits die modernen Erfahrungen mit jeglicher
Moral und allen Kategorischen Imperativen: weil diese Formen des
»Sollens« in idealistischen Überanstrengungen enden,
gebiert die imperative Ethik ihre eigenen Totengräber - Skepsis,
Resignation, Zynismus. Der Moralismus treibt uns mit seinem Du-sollst
unweigerlich in ein Ich-kann-nicht. Der Amoralismus hingegen, der
vom Du-kannst ausgeht, rechnet realistisch mit der Chance, daß
das, was »ich kann«, am Ende auch das Richtige sein
wird. Die Wendung zur praktischen Philosophie, die jedes heutige
halbwegs weltgängige Grundlagendenken erfreulich auszeichnet,
darf uns nicht in Versuchung bringen, wieder mit einem kategorischen
Imperativ auf das Sein loszugehen. Kynische Vernunft entwickelt
daher eine nichtimperative Ethik, die zum Können ermutigt,
statt uns in die depressiven Komplikationen des Sollens zu verstricken. |
Galt Gewissen in den Jahrtausenden der europäischen Moralgeschichte
als innere Instanz, die mir sagt, was Gut und Böse seien, so versteht
Heidegger es nun als ein leeres Gewissen, das keine Aussagen macht.
»Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens.«
(Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 273) Wieder erscheint
Heideggers charakteristische Denkfigur, die nichts-sagende Intensität.
Jenseits von Gut und Böse gibt es nur das »laute« Schweigen,
das in tensive nicht-urteilende Bewußtsein, das sich darauf beschränkt,
wach zu sehen, was der Fall ist. Gewissen - einst als inhaltliche moralische
Instanz verstanden - nähert sich nun dem puren Bewußt-Sein.
Moral, als Teilhabe an sozialen Konventionen und Prinzipien, betrifft
nur das Verhalten des Man. Als Domäne des eigentlichen Selbst bleibt
nur reines entschlossenes Bewußtsein zurück: vibrierende Präsenz.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 392-393 |
In einem pathetischen Gedankengang entdeckt Heidegger, daß
dieses »gewissenlose Gewissen« einen Aufruf enthalte, der
an uns ergeht - einen »Aufruf zum Schuldigsein«. Schuldig
woran? Keine Antwort. Ist »eigentliches« Leben in irgendeiner
Hinsicht denn a priori schuldig? Kehrt hier die christliche Erbsündenlehre
heimlich wieder? Dann hätten wir den Moralismus nur zum Schein verlassen.
Wenn aber das eigentliche Selbst sein als das Sein zum Tode beschrieben
wird, so liegt der Gedanke nahe, daß dieser »Aufruf zum Schuldigsein«
eine existentielle Verbindung herstellt zwischen dem eigenen Noch-am-Leben-Sein
und dem Tod der anderen. Leben als Sterbenlassen; der eigentlich Lebende
ist einer, der sich als Überlebenden versteht, als jemand, an dem
der Tod eben noch vorübergegangen ist und der den Zeitraum bis zur
erneuten, definitiven Begegnung mit dem Tod als Aufschub begreift.
In diese äußerste Grenzzone amoralischer Reflexion dringt Heideggers
Analyse sinngemäß vor. Daß er sich bewußt ist,
auf explosivem Boden zu stehen, verrät seine Frage: »Aufrufen
zum Schuldigsein, sagt das nicht Aufruf zur Bosheit?« Könnte
es eine »Eigentlichkeit« geben, in der wir uns als entschiedene
Täter des Bösen zeigen? So wie die Faschisten sich auf Nietzsches
Jenseits von Gut und Böse beriefen, um äußerst
diesseitig das Böse zu tun? Heidegger schreckt vor dieser Konsequenz
zurück. Der Amoralismus des »gewissenlosen Gewissens«
ist nicht als Aufruf zur Bosheit gemeint, so wird versichert. Immerhin
macht sich der Heidegger von 1927 noch diese ahnungsvolle Sorge, versäumte
aber 1933 den Augenblick der Wahrheit - und so ließ er sich von
der aktivistischen, dezisionistischen und heroischen Phrasenhülle
der Hitlerbewegung täuschen. Der politisch Naive glaubte, im Faschismus
eine »Politik der Eigentlichkeit« zu finden und gestattete
sich, ahnungslos wie nur ein ... Universitätsprofessor sein konnte,
eine Projektion seiner Philosopheme auf die nationale Bewegung.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 393-394 |
Doch es gilt zu sehen: Heidegger wäre, seiner zentralen,
Denkleistung nach, auch dann kein Mann der Rechten, wenn er politisch
noch verworrenere Sachen gesagt hätte, als es der Fall ist. Denn
er sprengte mit seinem, wie ich es nenne, Kynismus der Zwecke als erster
die utopisch-moralistischen Großtheorien des 19. Jahrhunderts. Er
bleibt mit dieser Leistung einer der Ersten in der Genealogie einer Neuen
und Anderen Linken: einer Linken, die sich nicht mehr an die hybriden
geschichtsphilosophischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts klammert;
die sich nicht im Stil der dogmatisch-marxistischen Großtheorie
(ich ziehe diesen Ausdruck dem Wort Weltanschauung vor) für die Komplizin
des Weltgeistes hält; die nicht auf die Dogmatik der industriellen
Entwicklung ohne Wenn und Aber eingeschworen ist; die die borniert materialistische
Tradition, die sie belastet, revidiert; die nicht nur davon ausgeht, daß
die anderen sterben müssen, damit die »eigene Sache«
durchkommt, sondern die aus der Einsicht lebt, daß es dem Lebendigen
nur auf sich selbst ankommen kann; die in keiner Weise mehr an dem naiven
Glauben hängt, Vergesellschaftung wäre das Allheilmittel gegen
die Mißstände der Modernität. Ohne es zu wissen und zum
guten Teil sogar ohne es wissen zu wollen (hierzulande sogar mit wütender
Entschlossenheit, es nicht wahrzuhaben), ist die Neue Linke eine existentialistische
Linke, eine neo-kynische Linke ich riskiere den Ausdruck: eine Heideggersche
Linke. Das ist, besonders im Land der Kritischen Theorie, die ein
schier undurchlässiges Tabu über den »faschistischen«
Ontologen verhängt hat, ein ziemlich pikanter Befund. Doch wer hat
die Abstoßungsvorgänge zwischen den existentialistischen Richtungen
und der links-hegelianischen kritischen Sozialforschung gründlich
und genau untersucht? Gibt es nicht eine Fülle geheimer Ähnlichkeiten
und Analogien zwischen Adorno und Heidegger? Welche Gründe beherrschen
die augen fällige Kommunikationsverweigerung zwischen ihnen? (Dieser
Fragen hat sich jüngst Hermann Mörchens große Studie über
Heidegger und Adorno angenommen.) Wer könnte sagen, welcher von beiden
die »traurigere Wissenschaft« formuliert hat?
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 394-396 |
Wir haben den Zynismusbegriff bisher in zwei Fassungen vorgetragen,
und eine dritte zeichnet sich nach dem Kabinett der Zyniker ab. In der
ersten heißt es: Zynismus ist das aufgeklärte falsche
Bewußtsein - das unglückliche Bewußtsein in modernisierter
Form. Der Ansatz ist hierbei ein intuitiver, bei einem Paradox beginnend;
er artikuliert ein Unbehagen, das die moderne Welt durchtränkt sieht
von kulturellen Wahnwitzigkeiten, falschen Hoffnungen und deren Enttäuschung,
vom Fortschritt des Verrückten und vom Stillstand der Vernunft, von
dem tiefen Riß, der durch die modernen Bewußtseine geht und
der für alle Zeiten das Vernünftige und das Wirkliche, das,
was man weiß, und das, was man tut, voneinander zu trennen scheint.
Bei der Beschreibung gelangten wir zu einer Pathographie, die schizoide
Phänomene abtastete; sie versuchte, Worte zu finden für die
pervers komplizierten Strukturen eines reflexiv gewordenen, fast mehr
tristen als falschen Bewußtseins, das unter Zwängen der Selbsterhaltung
in einem permanenten Selbstdementi abgewirtschaftet weiterwirtschaftet.
In der zweiten Fassung bekommt der Begriff Zynismus
eine historische Dimension; eine Spannung zeigt sich, die in der antiken
Zivilisationskritik unter dem Namen Kynismus erstmals Ausdruck gefunden
hatte. der Drang von Individuen, gegen die Verdrehungen und Halbvernünftigkeiten
ihrer Gesellschaften sich selbst als vollvernünftig-lebendige Wesen
zu erhalten, Dasein im Widerstand, im Gelächter, in der Verweigerung,
in der Berufung auf die ganze Natur und das volle Leben .... Den Begriff
Zynismus reservieren wir für die Replik der Herrschenden und der
herrschenden Kultur auf die kynische Provokation; sie sehen durchaus was
Wahres daran, fahren aber mit der Unterdrückung fort. Sie wissen
von nun an, was sie tun. Der Begriff erfährt hier eine Aufspaltung
ins Gegensatzpaar: Kynismus - Zynismus, das sinngemäß korrespondiert
mit Widerstand und Repression, genauer: Selbstverkörperung im Widerstand
und Selbstspaltung in der Repression. Vom historischen Ausgangspunkt wird
damit das Phänomen Kynismus abgelöst und zum Typus stilisiert,
der historisch immer wieder auftaucht, wo in Krisenzivilisationen und
Zivislisationskrisen die Bewußtseine aufeinanderstoßen. Kynismus
und Zynismus sind demnach Konstanten unserer Geschichte, typische Formen
eines polemischen Bewußtseins »von unten« und »von
oben«. In ihnen kommt das Widerspiel von Hoch- und Volks-Kulturen
als die Enthüllung der Paradoxien im Innern der hochkulturellen Ethiken
zur Entfaltung. Hier wird nun die dritte Fassung
des Zynismusbegriffs weitergehen zu einer Phänomenologie polemischer
Bewußtseinsformen. Die Polemik dreht sich allemal um die richtige
Erfassung der Wahrheit als »nackter« Wahrheit. Das zynische
Denken nämlich kann nur erscheinen, wo von den Dingen zwei Ansichten
möglich geworden sind, eine offizielle udn eine inoffizielle, eine
verhüllte und eine nackte, eine aus der Sicht der Helden und eine
aus der Sicht der kammerdiener. In einer Kultur, in der man regelmäßig
belogen wird, will man nicht bloß die wahrheit wissen, sondern die
nackte Wahrheit. Wo nicht sein kann, was nicht sein darf, muß
man herausbringen, wie die »nackten« Tatsachen ausehen, egal,
was die Moral dazu sagen wird. In gewisser Weise sind »herrschen«
und »lügen« synonyme. Herrscherwahrheit und Dienerwahrheit
lauten verschieden. In dieser phänomenologischen Sichtung streitbarer
Bewußtseinsfromen müssen wir die Parteinahme zugunsten des
kynischen Standpunktes »aufheben« ....
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 399-401 |
Ich plädiere für eine Fortsetzung des phänomenologischen
Weges.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 601 |
Die Neugier nach den Gründen der Neugier sucht - auch sie
sucht (!) - nach Aufklärungen über die Aufklärung und muß
sich darum ihrerseits nach den Gründen ihrer Neugier befragen lassen.
Die Säkularisation der Erbsündeklärerische Neigungen? Reaktion?
Unbehagen in der Aufklärung? Wir wollen wissen, was es mit dem Wissenwollen
auf sich hat. Zuviel »Wissen« gibt es, von dem man aus den
verschiedensten Gründen wünschen dürfte, wir hätten
es nicht gefunden und keine »Aufklärung« darüber
gewonnen. Unter den »Erkenntnissen« sind allzu viele angsterregende.
Wenn Wissen Macht ist, so begegnet uns heute das einstige Unheimliche,
die undurchschaute Macht in der Form von Erkenntnissen, von Transparenz,
von durchschaubaren Zusammenhängen. Wenn einst Aufklärung -
in jedem Wortsinn - der Angstminderung durch Mehrung von Macht diente,
so ist heute ein Punkt erreicht, wo Aufklärung in das einmündet,
was zu verhindern sie angetreten war, Amngstmehrung. Das Unheimliche,
das abgewendet werden sollte, kommt aus dem Schutzmittel wieder zum Vorschein.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 602-603 |
Rationalismus und Mißtrauen sind verschwisterte Impulse,
beide eng mit der gesellschaftlichen Dynamik der aufsteigenden Bourgeosie
und des neuzeitlichen Staates verbunden. Im Ringen verfeindeter und konkurrierender
Subjekte und Staaten um Selbsterhaltung und Hegemonie wird eine neue From
von Realismus hervorgetrieben - eine, die ihren Motor in der Sorge besitzt,
Opfer von Täuschung oder Überwältigung zu werden. Alles,
was uns »erscheint«, könnte ja ein Täuschungsmanöver
eines überwältigenden, bösen Feindes sein. Descartes geht
in seinem Zweifelsbeweis bis zu der monströsen Erwägung, es
möchte vielleicht die ganze Erscheinungswelt nur ein zu unserer Täuschung
berechnetes Blendwerk des genius malignus sein.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 603 |
Aufklärung besitzt in ihrem Kern einen polemischen Realismus,
der den Erscheinungen den Krieg erklärt: nur noch die nackten
Wahrheiten, die nackten Tatsachen sollen gelten. Denn die Täuschungen,
mit denen der Aufklärer rechnet, werden als zwar raffinierte, aber
doch durchschaubare, entlarvbare Manöver eingeschätzt. Verum
et fictum convertuntur. Die Täuschungen sind durchschaubar, weil
sie selbstgemacht sind. Was sich in dieser Welt von selbst versteht, sind
Betrogenwerden, Drohung, Gefahr, nicht Offenheit, Angebot, Sicherheit.
Wahrheit ist also nie »einfach so« zu haben, sondern nur im
zweiten Anlauf, als Produkt der Kritik, die zerstört, was zuvor der
Fall zu sein schien. Wahrheit wird nicht harmlos und kampflos »entdeckt«,
sondern errungen in einem mühseligen Sieg über ihre Vorgänger,
die ihre Maskierung und ihr Gegenteil sind. Die Welt platzt aus den Nähten
vor Problemen, Gefahren, Täuschungen und Abgründen, sobald der
Blick mißtrauischer Forschung sie durchdringt.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 603-604 |
Wir folgten im Groben der Reihe der Kardinalzynismen, um
in sechs Schritten die wesentlichen Manifestationen und Dimensionen von
»Aufklärung« asl polemischer Empirie abzuhandeln: Krieg
und Spionage; Polizei und Aufklärung im Klassenkampf; Sexualität
und Selbstverfeindung; Medizin und Krankheitsverdacht; Tod und Metaphysik;
Naturwissenschaft und Waffentechnik. Daß diese polemische Phänomenologie
einen Zirkel vom Kriegswissen zur Naturwissenschaft von der Waffe schlägt,
ist nicht zufällig; wir bereiten hier »Transzendentale Polemik«
des nächsten Abschnitts vor; sie beschreibt, wie hinter einer Reihe
von Neugierden Kampfzwänge wirken, die die »Erkenntnisinteressen«
steuern. In dieser Phänomenologie vollziehen wir die charakteristischen
Tastbewegungen einer sich selbst noch suchenden »Vollmoderne«,
die es lernt, die Produktivität des cartesischen Zweifels zu bezweifeln
und den Maßlosigkeiten des aufkläreroischen Mißtrauens
zu mißtrauen.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 604-605 |
Wenn die Gespenster herrschen, beginnt die
Epoche der Psychologie. Psychologie ist selbst nichts anderes als eine
Philosophie, die Buße tut - Buße für die gespenstischen
Folgen des Ich-bin-Sagens.
Peter
Sloterdijk, Der Zauberbaum, 1985, S. 284 |
Der Mensch ist ein offenes Tier. Er trägt alle Züge
eines unvollendeten Lebewesens, das durch Anlage und Erziehung nur eine
rohe Skizze seiner Werdensrichtung mit auf den Weg bekommt.
Peter
Sloterdijk, Der Zauberbaum, 1985, S. 288-289 |
In Wahrheit gibt es aber gar keine Psychologie vom Menschen im
status quo. Psychologie kann es eigentlich nur vom Tier geben oder
von einem Gott. Für den Menschen kommt die Psychologie immer zur
falschen Zeit, zu spät, weil er die einfache Beseeltheit des Tieres
nicht mehr besitzt, zu früh, weil er die Psyche des vollendeten Menschen
nicht erreicht hat.
Peter
Sloterdijk, Der Zauberbaum, 1985, S. 290 |
Der Zwang zur Lüge gründet in der
Natur der Wahrheit selbst, so wie der junge Nietzsche sie mit der unbefangenen
Bekenntniswilligkeit des ungebrochenen Genius hinzuschreiben wagt; auch
mit der gelösten Rezeptivität eines Mannes, der es für
eine Auszeichnung hält, Schüler eines bedeutenden Geistes -
Schopenhauers - zu sein. Aber was ist Wahrheit, in deren Natur es liegt,
uns lügen zu machen? Nietzsche spricht es frei nach Schopenhauer
aus: die Wahrheit besteht im Urschmerz, den das Faktum der Individuation
über jedes Leben verhängt.
Peter
Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, S. 80-81 |
Der Wille zur Macht - ich lese ihn als eine selbsttherapeutische,
wenn man will: allopathische Rezeptur, die mit den Mitteln des radikalsubjektivistischen
Jargons bereits das fundamentalontologische Motiv der Gelassenheit verfolgt.
Denn der Willenskern des Willens zur Macht meint ja etwas, was aus dem
Willen herausführte; er will Gelassenheit - im Sinne eines
Sichüberlassenkönnens an die Bedingtheiten seines Lebens und
im Sinne eines Sichgehenlassendürfens, das in ein pures intelligentes
Seinkönnen mündet. Um aber zu dürfen, was er will, braucht
er - aus Erfahrung böse geworden - die Aufrüstung einer subjektivistisch
geprägten Souveränität, die es nicht mehr nötig hätte,
sich Urteilen und Hemmungen auszusetzen.
Peter
Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, S. 101 |
Apollo und Dionysos vertragen sich, wie Nietzsche darlegt, so
ausgezeichnet, daß ihr historischer Kompromiß synonym werden
könnte mit jeder Form von höherer Kultur; die Freudsche
Kultur- und Neurosentheorie ist ja nur die Fortschreibung des Nietzscheschen
Kompromißgedankens. Jedoch: Dionysos, die göttliche Leibhaftiggkeit,
verträgt es nicht, ausschließlich auf den Altären der
höheren Kultur verehrt zu werden. Seit jeher nimmt er auch die wilde
Seite für sich in Anspruch und heißt nicht zuletzt deswegen
der kommende Gott, weil er so mitreißend ist wie die sexuelle Ekstase,
die das kommendste ist, was Menschen kennen. Sein Herrschaftsbezirk ist
die rauschhafte Wildnis - sofern diese auch für Menschen in der
Kultur eine lebensnotwendige Erfahrung darstellt; Kultur ist nur dann
möglich, wenn das, was älter ist als sie und sie trägt,
in ihr aufbewahrt bleibt.
Peter
Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, S. 110 |
Ich habe vor kurzem den Versuch unternommen, einen der verwickelten
Fäden der Moderne in einer philosophischen Erzählung aufzurollen
(gemeint ist: Der Zauberbaum, 1985; HB);
ich wollte zeigen, wie die tiefenpsychologische Vermittlung von Leib und
Welt nicht erst mit den Entwürfen von Nietzsche, Freud und Jung für
neuzeitliche Individuen verbindlich geworden ist .... (Vgl.
Peter Sloterdijk, Der Zauberbaum. Die Entstheung der Psychoanalyse
im Jahr 1785, 1985). Das Unbewußte ist der Name für
die Quellen, an welche die modernen, das heißt postreligiösen
Rückbindungen der Subjektivität an das, was älter ist als
sie, zurückführen. Der Leib und das Drama sind die materielle
Grundlage dieses neuartigen Rückbindungsbewußtseins; im Leib
und im Drama erfahren wir, wie die Enge des Subjekts aufbricht, wenn es
sich nolens volens in den Weltenzusammenhang begibt, zu welchem
es unbewußt längst gehörte und dem es ohnedies nie zu
entgehen vermag. Jede Innerlichkeit ist tiefensomatisch verwoben in den
Magnetismus des Allgemeinen (vgl. Mesmerismus;
HB).
Peter
Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, S. 176-177 |
Ich weiß nicht, ob Sie sich an die
Zeit erinnern, meine Damen und Herren, in der die meisten von uns noch
den physiognomischen Blick haben - ich denke an das grausam hellsichtige
Alter vor dem Einsetzen der Geschlechtlichkeit und des Vorstellens, ein
Alter, in dem man mit einem Blick sieht, was einer ist: seinen Charakter,
seine Launen, seine Geschichte, sein Wesen, seine Zukunft, alles zusammengedrängt
in einer körperlichen Hieroglyphe, die vollkomen lesbar vor uns steht;
über sie ist kein weiteres Wort zu verlieren, weil sie das Konzentrat
all dessen darstellt, was sich selbst bedeutet und verrät.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
13 |
Meine Damen und Herren, ich spiele gern mit der Vorstellung, daß
jeder Mensch eine Silbe verkörpert, ein einmaliges unverwechselbares
Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs
zu Wort, zum Text.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
13-14 |
Wäre unser Leben ein normales endliches Buch, so verbleiben
bei ihm ... zwischen dem vorderen Einband und der Stelle, wo wir für
uns selbst zu reden beginnen ein Bündel nicht aufzuschlagender Seiten.
Das besagt nichts anderes, als daß für Menschen, als endlich
sprechende Wesen, der Seinsanfang und der Sprachanfang unter keinen Umständen
zusammenfallen. Denn fängt die Sprache an, so ist das Sein schon
da; will man mit dem Sein beginnen, versinkt man im schwarzen Loch der
Sprachlosigkeit.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
38 |
Ich war schon zur Zeit meines Universitätsstudiums stark
angezogemn vom Werk Wilhelm Diltheys, eines der Begründer der modernen
Geisteswissenschaften. Dilthey war nicht nur der große Denker der
geschichtlichen Tatsachen, der es sich vorgenommen hatte, eine Kritik
der historischen Vernunft zu schaffen; er war auch der erste bemerkenswerte
Theoretiker der Autobiographie. Dilthey ging an der Autobiographie ein
philosophisches Problem ersten Ranges auf. Sehr vereinfacht gesprochen:
Er gab sich auf die Frage: wie ist historische Erkenntnis überhaupt
möglich? die Antwort: so wie autobiographische Selbstkenntnis möglich
ist.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
40 |
Ich komme auf die Idee einer radikalen Autobiographik zurück
und erinnere an das Pathos des Zuständigseins für das ganze
eigene Leben, einschließlich seiner dunklen Anfangsprägungen.
.... Ist nicht die Anfangsvergessenheit, die fast alle natürlich
vorkommenden Formen von Selbstbewußtsein prägt, selbst eine
Tatsache, die im höchsten Grad zu denken geben müßte?
Ist nicht die Enteignung des Selbstbewußtseins von seinem Beginn
nicht auch ein verräterisches Faktum, das auf ein Fehlen deutet und
so eloquent ist wie das Schweigen, mit denen in manchen Familien die Existenz
gewisser Verwandter umgeben wird? Ich muß, wenn ich die Idee der
Autobiographie an ihrer dunkelsten Stelle verteidigen will, daran festhalten,
daß mein realer Seinsanfang zu mir gehört, auch wenn mein Erzählenkönnen
nicht an ihn heranreicht.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
49 |
Erst wenn er (Sokrates)
selbst es soweit gebracht hat, keine Meinungen und keine Theorien mehr
in die Welt zu setzen, kann er die Aufgabe übernehmen, die Meinungsschwangeren
und Theoriegeblähten zu entbinden.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
83 |
Damit die Seele zur Welt und unser Bestes zu sich und anderen
komme, dürfen sich keine bestimmenden Vorstellungen und keine positiven
Überzeugungen in ihr eingenistet haben. Um solchen Einnistungen auf
die Spur zu kommen, verfährt die sokratische Maieutik konsequent
aufdeckend und destruktiv. Ihr Ziel ist es, die Gesprächspartner
in den Lichthof eines allbefassenden hellen Nichtwissens zu führen
und sie zum Gewahrwerden der Unhaltbarkeit und Überflüssigkeit
aller vorgefundenen fixen Meinungen zu bringen. .... Für diesen Vorgang
(des Wissens, als wüßte man nicht)
halten die Ideenhistoriker die mißverständliche Redensart vom
Wissen des Nichtwissens bereit, durch die der Akzent auf Wissen sich wiederum
einschleicht ....
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
85-86 |
Die Geburtshilfe für die Seele wird dadurch
wirksam, daß diese mit Hilfe von Widerlegungen und Beschämungen
in ausweglose Lagen gebracht wird, durch die sie in den Schwebezustand
des Nichtwissens zurückfällt. Wenn der Denkende nicht mehr ein
noch aus weiß, ist er nicht mehr weit von der Weisheit. Paradoxerweise
kommt die Seele der Denkenden nur dann rein zur Welt, wenn sie in eine
fötale Negativität versetzt wird, in der sich keine weltseitigen
Meinungen festhalten können. Die Maieutik ist somit ein Fötalisierungsverfahren
(wie negativ müssen dann erst die Embryonisierungs-
und Zygotisierungsverfahren sein? HB).
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
86 |
Während die positiven Argumentationen im besten Fall heiße
Köpfe machen, im schlimmsten zum Krieg führen, erzeugt der Durchbruch
durch die Schale der Positivität eine integrale Erinnnerung an die
Wehen. Denn man muß erst an der Barriere der Geburtsvergessenheit
vorbeidenken und -fühlen, ehe sich das fötale Kontinuum auch
im taghellen bewußten Leben wiederherstellt. Über die Art von
Schülern, die sich ins Abenteuer der erotischen Anamnesis tief einlassen,
weiß Sokrates mit Kennerschaft zu sagen: »darin ergeht
es denen, die mit mir umgehen wie den Gebärenden: sie haben nämlich
Wehen und wissen sich nicht zu lassen bei Tag und Nacht, weit ärger
als jene. Und diese Wehen kann meine Kunst erregen sowohl als stillen«
(Platon, Sämtliche Werke, II, S. 572 ff., Übersetzung:
Friedrich Schleiermacher). Die mit mir umgehen - das enthält
einen Hinweis auf die Besonderheit des philosophischen Rapports, in dem
sich der Psychagoge wie ein Psychoanalytiker ante litteram als
Spezialist für unmögliches Begehren profiliert. Weit ärger
als jene - das deutet an, daß in den Wehen der Frauen nur ein
Teil der Qualen auftritt, die sich einstellen können, wenn in der
Bewußtseinsnot der männlichen Erwachsenen das Zurweltkommen
sich im ganzen und wie von innen her reproduziert. Während Frauen
(in der Regel!) seit jeher zum Zurweltbringen
von Kindern Zuflucht nehmen konnten ..., ist das männliche Bewußtsein
vom Zwang, selbst zur Welt zu kommen, gekennzeichnet.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
87 |
In der Hochkultur ist die Lage der Söhne allemal aussichtsreich
ausweglos - im übrigen zeigt sich erst heute auch die Tragödie
der Schwestern, seit die Frauen ihrerseits anfangen, sich der Unmöglichkeit,
eine Tochter zu sein, zu stellen.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
93 |
Der sich ins helle Nichtwissen zurücknehmende
sokratische Weise übt erwachsen-kindliche Enthaltung von der Verursachung
neuer weltlicher Wirkungsketten. Seine Negativität hat keinen anderen
Sinn als den, die Seele aus der positivierten Welt als dem Schauplatz
des Krieges zwischen Identitäten zurückzuziehen. Seine Weisheit
ist die eines profanen Weltvorbehalts. Dieser appelliert jedoch an kein
Jenseits, keine Transzendenz, sondern an die Fülle der Negativität,
die zu den Geburtsrechten jedes Individuums gehört. Die sokratische
Differenz zum Verblendungs- und Gewaltzusammenhang der positiven Meinungen
wird nicht durch Lebensverzicht gewonnen, sondern durch die Erkenntnis,
daß das für uns Beste nicht auf der Linie des Wissens, Wollens
und Könnens liegt, sondern in der Zuwendung zu dem allbefassenden
Nichtwissen, in dem auch das Können und Wollen zur Ruhe und zur Schwebe
finden. Für Sokrates steht darum der Wg der Negativität allein
noch offen.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
93-94 |
Die Idee des Weltvorbehalts selbst, die, um philosophisch zu gelten,
keine theologische sein darf, hängt ... ebenso in der Luft wie die
Kriterien von Dissidenz und Konstruktivität, von Verweigerung und
Teilhabe.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
95-96 |
Entbindungsapriori .... Nicht Sprache und Kommunikation
bilden die ersten Bedingungen der Möglichkeit, daß Menschen
sich zu einer gemeinsamen Welt bringen, sondern die Entbindung jedes einzelnen
Individuums aus der fötalen Kommunion mit der Mutter. Erst nach dieser
kommunionellen »Grundlegung« und nach ihrer Sprengung kann
es irgendwann einmal auch Kommunikation geben - aber nicht als erste Voraussetzung,
sondern als spätes Resultat. Die deutsche Sprache ist in Entbindungssachen
förmlich: die Mütter werden entbunden, die Kinder kommen zur
Welt. Was auffällt, ist der konsequent privative Sinn der Vorsilbe
»Ent« im Wort »Entbindung«. Eine Bindung wird
aufgehoben, ..., Entbindung hat stattgefunden. Das Kind ... wird erst
durch die Geburt ... an die Welt angeheftet.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
109-110 |
Hier denkt Heidegger letztlich revolutionärer
als die offiziellen Revolutionäre.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
122 |
Wenn die paradoxe Redensart von einer »konservativen
Revolution« einen Sinn haben soll, den wir bejahen können,
weil er die dubiosen Konstruktionen, die im Deutschland der zwanziger
Jahre unter diesem Titel zirkulierten, hinter sich gelassen hat, dann
eben diesen: man muß radikal an der Vergegenwärtigung von Vergangenem
festhalten, um eine Revolution im Vergangenen, das wir auf unbewußte
Weise noch sind, als anderen Anfang möglich zu machen. Die Richtung
dieser Revolution ist offenkundig: sie führt, wenn sie gelingt, vom
Weltkrieg der namentlich gepanzerten Sekundärsubjektivität in
die anonyme Innigkeit weltlöslicher Bewußtseine.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
128 |
Unter den fünf bisher genannten Gesten
oder Funktionen a priori (1. Entbindung,
2. Dringlichkeit, 3. Initiative, 4. Zurückstellung/Aufschub, 5. Bühne;
HB) dieser Skizze einer kleinen Weltpoetik sind die geradzahligen
ebenso zusammengehörig wie die ungeradzahligen. Die zweite (Dringlichkeit
als 2. Funktion apriori; HB) und die vierte (Zurückstellung/Aufschub
als 4. Funktion apriori; HB) richten die Welt als Zweithöhle
für geborene Wesen ein, sie bauen an dem sekundären Uterus,
der das Wesen von Zivilisation ausmacht, sie stiften durch Sorge fürs
Dringende und durch Abfangen von Frontspannungen eine Innenwelt, in der
sichs mit Pflichten und Gewichten leben läßt. Sie sichern
den Nachtschlaf und bringen Gleichmäßigkeit in die Tagesläufe.
.... Ganz anders die ungeradzahligen Apriori. Was das Bewußtsein
des »Subjekts« von seiner Befindlichkeit in der Entbindung
(Entbindung als 1. Funktion apriori;
HB) angeht, so geben über seinen realen Inhalt nur psychoseanaloge
Zustände abgründige Auskunft. Bei der Vergegenwärtigung
von perinataler Erfahrung handelt es sich stets um Ausnahmezustände
der Psyche .... Bedingung für lebendige Erwachsenheit, die nur durch
Abschied von der Kindertraumzeit zu erreichen ist - das heißt durch
Austritt aus der Geburts- und Todesvergessenheit, die in der Moderne den
Normalzustand auch bei Erwachsenen darstellt. Doch wer kein Baron Münchhausen
ist und reale Elemente seiner Geburt bei sich selbst wiedererlebt, der
kommt am Ende auch heute noch zur Welt, aber es vergeht ihm über
seinen Eindrücken Hören, Sehen und Reden. Das Gegenteil hiervon
gilt vom dritten, dem Intiativapriori (Initiative
als 3. Funktion apriori; HB). Denn sobald es Menschen
gelingt, an einen Selbstanfang zu kommen, wo sie sich setzen, entwerfen,
übernehmen, so sind sie an einem Kraftpunkt von Aktion und Äußerung.
.... Die fünfte Funktion schließlich, das Bühnenapriori
(Bühne als 5. Funktion apriori;
HB), ist unter den bisher genannten (es folgen
nämlich noch die Sprachweitergabe als 6. Funktion apriori
und der Freispruch bzw. das Versprechen als 7. Funktion
apriori; HB) die im Weltbildungsprozeß wichtigste und
anspruchsvollste. .... Wenn Entbindung schlechthin eröffnend ist
und Initiative eröffnender, so ist das Sichaussetzen in das, was
dadurch Bühne wird, das Eröffnendste.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
135-138 |
Ich möchte das Zursprachekommen, das in
unserem weltpoetischen Gedankengang nach wie vor fehlt, mit dem Phänomen
Entbindung verknüpfen, mit dem die Reihe der welterzeugenden Gesten
beginnt (siehe oben: Entbindung als 1.
Funktion apriori; HB). Mütter ... werden entbunden, Kinder
kommen zur Welt. Wenn Zuweltkommen für uns immer auch Zursprachekommen
bedeutet, so drückt dies aus, daß wir als Weltankömmlinge
uns zunächst alternativlos an eine Sprachwelt binden, in der das
Gewicht der Welt auf jeden neuen Sprecher drückt. Wer auf eine Bühne
geht, um das Seine zu sagen, bewegt in seiner Rede die Sorgenmasse eines
konkreten Lebens. Zwischen einem, der spricht, und einem, der hört,
werden stets Verhältnisse im Gewicht der Welt geklärt und verschoben.
Um über das Wesentliche, das ich Sprache nenne, zu sprechen, müssen
wir also eine weitere welteröffnende Funktion einführen, durch
die wir als Angehörige einer Gemeinschaft von Trägern des Weltgewichts
miteinander verbunden sind: ich bezeichne sie als das Weitergabeapriori
(Sprachweitergabe als 6. Funktion apriori;
HB). Aber indem wir uns illusionslos in diese Funktion der Sprache
vertiefen, tut sich eine letzte welteröffnende Geste auf, die uns
bis in die Atemzüge dieses Augenblicks bringt - ich nenne sie das
Apriori des Freispruchs oder des Versprechens (Freispruch
bzw. Versprechen als 7. Funktion apriori; HB). Die
Tatsache, daß hier und jetzt so gesprochen werden kann, wie es geschieht,
verdankt sich einerseits dem sechsten Element unserer Weltpoetik, das
dem Sprachgeschehen vom Weitergabeapriori her nachgeht, andererseits der
siebenten weltpoetischen Funktion, die ich das Apriori des Versprechens
nenne und in der der Geist der Entbindung mit dem Atem des Freispruchs
zusammenweht. Wenn es gelingt zu sagen, was es mit der Sprache als Freispruch
auf sich hat, so müßten wir in das atemberaubende Feld gelangen,
in dem der Blitz der Geburt im nicht mehr dunklen gelebten Augenblick
einschlägt.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
153-154 |
Ich füge hier die Bemerkung an, daß
diese sieben welterzeugenden Gesten ... - Entbindung, Dringlichkeitsverarbeitung,
Initiative, Zurückstellung, Bühneneröffnung, Sprachweitergabe
und Freispruch - das Minimum an Komplexität enthalten, das nötig
ist, um ein luzides Verhältnis zwischen Bewußtseinen und Welten
überhaupt zu artikulieren.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
154 |
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zuerst das Weitergabeapriori
kommentieren. An ihm wird sofort deutlich, warum die meisten bekannten
Sprachtheorien in der Regel nur Oberflächlichkeiten erfassen. Die
Sprache, die uns auf dem Weg der unmittelbaren Weitergabe nahegegangen
ist, ist immer schon die Sprache unser politischen Geburtsgemeinschaft.
Zu Recht gibt es bei uns die Redewenung, man werde in eine Gesellschaft
»hineingeboren«. Im Licht des Weitergabeaprioris gesehen,
muß die menschliche Geburtlichkeit fast unvermeidlich zur Fixierung
an eine Nationalität führen. Nationen haben ihren Namen freiwillig-unfreiwillig
von den Umstand her, daß sie Ordnungen von Natalitätsverhältnissen
darstellen. In diesem Sinn müssen alle sozialen Verbände, seien
sie politisch oder unpolitisch konstituiert, die auf dem Prinzip des Hineingeborenwerdens
beruhen, als »Nationen« gelten - auch Stammeskulturen sind
somit schon protonationale Gebilde, und selbst ein Weltstaat, dessen Mitgliedschaft
man durch Hineingeborenwerden erwirbt, wäre noch eine natio.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
154 |
Die Sprache, unter dem Aspekt der Weitergabe betrachtet, fügt
sich bruchlos den beiden vorherigen geradzahligen Welterzeugungsgesten
an. Wie die Sorge um Dringliches und wie die Entlastung der Gegenwart
durch Zurückstellung von zu schweren Aufgaben gehören auch die
Weitergabegesten, die sich als Sprache vollziehen, zu den urkonservativen
Akten, durch die vom Beginn der Kulturen an der Welthöhlenbau betrieben
wird.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
160-161 |
Was die Weitergabegewalten zuletzt immer über den Geist der
Freisprüche siegen läßt, ist die Positivierung der Versprechen
und die Nationalisierung der Universalien. Eben dies ist das Prinzip der
magischen Nationen, die Oswald Spengler entdeckt und benannt hat - und
die man auch Taufnationen oder Religionsnationen nennen könnte. ....
Aus dem positven Besitz der unbesitzbaren Befreiungssprachen ist in allen
Hochkulturen ein Übermaß an Unheil erwachsen. Es könnte
wohl sein, daß durch positivierte Erlösungsideen und Befreiungsversprechen
mehr Leid in der Welt hervorgerufen wurde, als vor dem Auftreten solcher
Ideen vorhanden war.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
172-173 |
Vormoderne Mentalitäten waren von keiner anderen Evidenz
so tief durchdrungen wie von der: daß es immer anders kommt, als
man denkt.
Peter
Sloterdijk, Eurotaoismus, 1989, S. 21 |
Die Kinetik ist die Ethik der Moderne.
Peter
Sloterdijk, Eurotaoismus, 1989, S. 33 |
Es ist eine Spezialität der postfaschistischen Deutschen,
bewußt kein auserwähltes Volk mehr zu sein. Auf diese Weise
präsentieren sie sich erneut als negatives Unikum.
Peter
Sloterdijk, Eurotaoismus, 1989, S. 296 |
Die Menschen haben die Welt inzwischen immer
nur verschieden verändert, es kommt darauf an, sie zu schonen.
Peter
Sloterdijk, im Film: Zur Welt kommen (Film), 1990 |
Postmodernität ist Epoche »nach
Gott« und nach den klassischen Imperien samt ihren lokalen Welteröffnungen.
.... Lassen wir den theologischen Code beiseite, so hat Nietzsche in der
Sache von dem gesprochen, was unsere Zeit mit Hoffnung und Schrecken inspiriert;
irgend etwas ist tot und kann nur schneller oder langsamer zerfallen,
irgendwie aber schreiten Leben und Zivilisation voran und steigern sich
in übergriffene Neuheiten.
Peter
Sloterdijk, Im selben Boot, 1993, S. 51 |
Aus den verwüsteten imaginären Sozial-Uterus-Konstruktionen
stürzen Unzählige in nachpolitische Paniken und diffuse Verwahrlosungen
ab, für die der Sammelname Postmodernität noch der zivilisierte
Ausdruck ist. Dasselbe Phänomen kann im unteren Drittel der reichen
Nationen wie in fast allen Schichten der armen auftreten. Beim Weltformwechsel
erleben sich mit einem Male große Zahlen von Individuen und Familien
als von allen guten politischen Geistern verlassen.
Peter
Sloterdijk, Im selben Boot, 1993, S. 58 |
Man mag dies systemisch deuten als einen Effekt,
der notwendigerweise auftritt, wenn der postmoderne Geist der Bodenlosigkeit
das politische Feld erfaßt. Der Staat wird eine Sandburg, der Absentismus
frißt sich in alle solide scheinenden Strukturen hinein, die sozialen
Bänder schleifen im Leeren - das Zeitalter »ohne Synthese«,
von dem Robert Musil einst sprach, beginnt seine Forderungen zu erklären.
Wenn nicht das westliche Wohlfahrts-System als Hilfs-Sozial-Uterus sich
durch eine gewisse Funktionstüchtigkeit Anerkennung verschafft hätte,
würde die Abwesenheit eines evidenten gemeinsamen Werks die Großgesellschaften
industriezeitalterlichen Typs im Nu zerbröckeln lassen. Das aktuelle
Ringen um Europa nach Maastricht macht erkennbar, wie die Reise in die
zeitgemäße Hyperpolitik von den Zeitgenossen erlebt wird -
als überschnelle Fahrt in ein Konfusions-Imperium, in dem man vor
lauter Behörden den Staat nicht mehr sieht. Politik erscheint wie
das Äquivalent zu einem chronischen Beinahe-Massen-Auffahrunfall
auf einer nebeltrüben Autobahn. Von einer Lust am Zusammengehören
kann in einer solchen Lage nicht die Rede sein. Das neue Große steigt
nun hinter dem Horizont auf als die Monster-Internationale der Endverbraucher.
Peter
Sloterdijk, Im selben Boot, 1993, S. 59 |
Erst durch die Ereignisse von 1945 ist Europa
wirklich zu dem geworden, was es nach der Entdeckung des neuen Westens
durch Kolumbus in geographischer Hinsicht schon früher, zumindest
dem Namen nach, geworden schien: Alte Welt.
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 13 |
Der Zeitraum von 1945 bis 1989 tritt
heute als eine kohärente psychohistorische Einheit vor Augen; deren
Zusammenhang besteht, wie man zögernd begreift, im Eintreten und
Ausklingen des europäischen Dezentrierungs-Schocks. Wir erreichen
- noch immer ungläubig und gezeichnet von dem allesdurchdringenden
Unwirklichkeits-Klima eines halben Jahrhunderts - das Ende unseres klinischen
Zeitalters. Man darf sogar daran zweifeln, ob es für Menschen nach
einer so langen Rekonvaleszenz überhaupt noch eine Entlassung in
die Wirklichkeit geben kann. Europas traumatische Lektion von 1945 lag
ohne Zweifel in der Demütigung durch seine Befreier.
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 15 |
Seither mußte europäische Politik immer auch eine Art
Kur für überreizte Patienten bedeuten, die es nie gänzlich
wahrhaben wollten, daß sie Rettung von außen nötig gehabt
hatten (hatten sie doch gar nicht! HB). Wer
unter Schock lebt, scheint den Faden seines Daseins verloren zu haben
und wird bei seinen Versuchen, die Normalität wiederzufinden, den
Eindruck machen, er tue nicht, was er möchte, sondern etwas statt
dessen. Die Schockierten von 1945 (wer? HB)
bilden keine Ausnahme von dieser Regel. Mit einem System von Ersatzhandlungen
baut sich der alte Kontinent wider auf. Für seine Bewohner beginnt
eine Ära der Vakuum-Ideologien, die allesamt die Aufgabe haben, den
Absturz aus der Mitte der politischen Welt zu interpretieren und zu rechtfertigen.
Unter diesem Gesichtspunkt gehören die rechten Doktrinen vom heilsamen
Rückgang zu den Quellen der christlichen Demokratie im altabendländischen
Humanismus mit den linken Theorien vom absurden Engagement freier Wesen
in zufälligen »Situationen« (ja,
grausam! HB) enger zusammen, als es ihren damaligen Vertretern
bewußt sein konnte; solche katholisierenden und nihilisierenden
Strömungen stehen ihrerseits in einer Linie mit den neuen Pragmatismen,
die Europa endlich auf den Kurs einer ideologiefreien Marktwirtschaft
anglo-amerikanischen Typs bringen wollen.
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 15-16 |
Beim Übergang vom Existentialismus zum
Konsumismus erreichten die Europäer die noch immer anhaltende Nachkriegs-Nichtigkeit.
Durch ihren Aufenthalt im chronischen Nuklearismus hatte sich bei vielen
von ihnen ein extremer Grad der Empfindung für die Entwertung aller
Dinge eingespielt. .... Jeder Zeitgenosse jener Jahre wird für den
Rest seiner Lebenszeit vom nuklearen Nihilismus imprägniert bleiben.
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 18-19 |
Nicht weil, wie nach dem europäischen Massaker,
die Toten in der Mehrheit zu sein schienen, fühlen wir den leeren
Raum um uns herum aufklaffen und alle Institutionen wie auf Treibsand
stehen - nein, haltlos sind wir geworden, weil die überall aufgelegten
Listen von Optionen uns schwindeln machen. Welches Leben sollen wir probieren?
Welchen Flug sollen wir buchen? Wir sind bodenlos, weil wir zwischen vierzehn
Arten von Dressings wählen müssen. Die Welt ist eine Speisekarte,
da heißt es bestellen und nicht verzweifeln. Dies ist der Grund
der postmodernen Kondition. Du hast nur dieses eine Leben, also friß
dich selber auf, laß nichts von dir übrig, die Reste kommen
in den schwarzen Plastiksack.
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 20-21 |
Die maßgeblichen europäischen Mächte unternahmen
immer neue Anläufe, ein Reich nachzuspielen, das ihrer politischen
Phantasie als unverlierbares Paradigma vorgeordnet blieb. So könnte
man geradezu sagen, daß Europäer ist, wer in eine Übertragung
des Reiches verwickelt wird. Dies gilt besonders für Deutsche, Österreicher,
Spanier, Engländer und Fransosen, in manchen Hinsichten auch für
Italiener und Russen. Der Ausdruck translatio Imperii ist also
nicht nur eine mittelalterliche fixe Idee; er bedeutet mehr als die staatsrechtliche
Konstruktion, mit der die sächsischen Kaiser nach der Krönung
Ottos I. im Jahre 962 ihre Herrschaftsprogrammatik vortrugen; es ist nicht
weniger als die ideo-motorische oder mytho-motorische*
Zelle aller kulturellen, politischen und psychosozialen Prozesse, aus
denen die Europäisierung Europas hervorgegangen ist. (*
Den Ausdruck Mythomotorik hat m.W. Jan Assmann ... eingebracht. Vgl. Jan
Assmann, Das kulturelle Gedächtnis - Schrift, Erinnerungen und
politische Identität in den frühen Hochkulturen, 1992.)
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 34-35 |
Bei Hitlers Anlauf zu einer kontinentalen großdeutschen
Weltmachtstellung fusionierten zuletzt überständige Reste österreichischer
und reichskatholischer Imperialität mit hochvirulenten Faktoren des
protestantisch-preußischen kapitalistischen Neo-Imperialismus. Zugleich
machten sich in der Errichtung des Sowjetimperiums nach 1917 Motive einer
Reichsübertragung von Rom über Byzanz nach Moskau geltend. Im
selben Jahr beschloß der us-amerikanische Präsident Woodrow
Wilson - in eklatantem Bruch mit der isolationistischen Tradition seines
Landes -, das imperial Erbe der Vereinigten Staaten anzunehmen und den
Kreuzzug nach Europa zu tragen. (Noch die Darstellung
des Generals Eisenhower von Amerikas Mission im 2. Weltkrieg spricht dieselbe
Sprache: »Kreuzzug in Europa«.) Daher ist 1917 das
Schlüsseljahr, in dem die europäische Mythomotorik zu stocken
begann.
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 40 |
»Europa muß heute eine andere Form der Einheit erfinden
als die eines Reiches«. (Jacques Le Goff, Das alte Europa
und die Welt der Moderne).
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 50-51 |
Bei Vergils Idee, daß das Reichsganze seine Entstehung aus
dem jahrhundertelangen römischen Kriegsglück einer politischen
Vorsehung verdanke, mußten die nachfolgenden europäischen Universal-
und Regionalimperien unvermeidliche Anleihen aufnehmen. Deswegen konnte
man Vergil einen Vater des Abendlandes nennen. Die europäische Mythomotorik
übernimmt mit der politischen Formidee Imperium von den Römern
zugleich eine Neigung zur politischen Theologie des Reichserfolges.
Peter
Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 50-51 |
Der vorliegende Rechenschaftsbericht
vom Anfang und Gestaltwandel der Sphären ist unseres Wissens der
erste Versuch, nach dem Scheitern von Oswald Spenglers sogenannter Morphologie
der Weltgeschichte wieder einem Formbegriff eine höchstrangige Stellung
in einer anthropologischen und kulturtheoretischen Untersuchung zuzuweisen.
Spenglers morphologische Prätentionen, mochten sie auch das Patronat
Goethes bemühen, waren zum Mißerfolg verurteilt, weil sie an
ihre Gegenstände einen Begriff von Form herantrugen, der deren Eigensinn
und ihrer Geschichte unmöglich gerecht werden konnte. Es war bereits
ein genialischer Gewaltstreich, Kulturen insgesamt als »Lebewesen
höchsten Ranges« zu isolieren und diese zu fensterlosen Einheiten
zu erklären, die ganz nach immanennten Gesetzen aufgehen und verfallen,
und erst recht konnte es nicht ohne Forcierung abgehen, wenn Spengler
seine Kulturen als jeweils tausendjährige Reiche einer regionalen
Seelenstimmung deuten wollte - gewissermaßen als Seifenblasen höchster
Ordnung, die durch Innenspannungen okkulter Natur in Form gehalten würden.
Die unter dem Zeichen der Morphologie präsentierten Lebensbeschreibungen
der acht von ihm anerkannten Kulturen mögen als Monument einer großen,
vielleicht unvergleichlichen spekulativen und kombinatorischen Energie
ihren Ehrenplatz in der Geschichte der Kulturphilosophien behaupten; doch
wird man dieses Denkmal am besten in eine stille Nische stellen. Was die
Anwendung morphologischer Begriffe in den Kulturwissenschaften anbelangt,
so gehen von Spenglers Exempel bislang eher entmutigende Wirkungen aus.
Unser eigener Versuch kann daher einem solchen Modell nicht allzuviel
verdanken - es sei denn eine eindrucksvolle Belehrung über das, was
in Zukunft zu meiden ist.
Peter
Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 78-79 |
Wenn hier von Sphären als Formen, die sich selbst realisieren,
die Rede ist, dann in der Überzeugung, keine herangetragenen Begriffe
zu benutzen, und wenn sie in gewisser Hinsicht doch herangetragen
wären, dann auf eine Weise, zu der das Entgegenkommen der Sachen
selbst ermuntert.
Peter
Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 79 |
Über den Begriff Ortsraum und seine konstitutive
Rolle in der neuzeitlichen Weltvorstellung vgl. Sphären II,
8. Kapitel, Die letzte Kugel ..., dort auch die nötigen Hinweise
auf die Explikation des Begriffs im »System der Philosophie«
von Hermann Schmitz.
Peter
Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 137 |
Der Mensch stammt vom Werfen ab.
Peter Sloterdijk,
in: Geo-Wissen, September 1998, S. 43 |
Der Mensch ist das Tier, das nach seiner Herkunft fragt.
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 44 |
Das Unwahrscheinlichste ... am Menschen, wie wir ihn kennen, ist
dessen offensiv gewordene Gegennatürlichkeit, die wir unter den Titeln
»Intelligenz« oder »Kultur« oder »Symbolkompetenz«
diskutieren. Homo sapiens ist ohne Zweifel ein hybrides Tier, das
auf eine mehr oder weniger dunkle Weise den Sprung aus der animalischen
Umweltbefangenheit geschafft hat, um sich im Lauf seiner Kulturentwicklung
aufzurichten ....
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 44 |
Die wichtigste Innovation auf dem Weg zum Homo sapiens dürfte
ein Mechanismus gewesen sein, der dafür sorgte, daß beim Menschen
die Selektion nicht länger, wie bei Tieren, über das Körperanpassungsprinzip
verlief, sondern über das Körperausschaltungsprinzip - ein Theorem,
das Paul Alsberg 1922 in seinem Buch »Das Menschheitsrätsel«
vortrug. Alsberg erklärte den menschlichen »Ausbruch aus dem Gefängnis«
der biologischen Determination durch die Emanzipation von dem quasi allmächtigen
Fluchtzwang, der die Prä-Sapiens angesichts gegenwärtiger Gefahren
geprägt hatte. Der Weg zur Sapiens-Evolution wurde demnach dadurch
frei, daß die frühen Hominidengruppen zunehmend vom Druck der Organanpassung
entlastet wurden. Alsberg zufolge war es die Entdeckung der ersten Waffen und
Werkzeuge - Stöcke und Steine -, deren zunehmender Einsatz um die Urmenschengruppen
eine unsichtbare Demarkationslinie zog. Durch elementaren Waffengebrauch wurde
das Prinzip Distanz zur Leitschiene aller späteren Hominisierungsprozesse.
Aus dem Fluchttier entwickelte sich das Distanztier, aus dem Läufer der
Werfer, aus dem Sammler und Ausweicher der Jäger und Angreifer.
Peter Sloterdijk,
in: Geo-Wissen, September 1998, S. 44-45 |
Man könnte so weit gehen zu sagen, daß die Menschen vom Werfen
abstammen und daß sich in dieser raumschaffenden Urhandlung das Geheimnis
der spezifisch menschlichen Umweltbeziehungen verbirgt. Im Homo sapiens
verbirgt sich noch immer der Homo iactans - der Werfer-Mensch. Es ist
nicht ausgeschlossen, daß die Faszination der Schußwaffen, die in
der modernen Menschenkultur kultisch gefeiert werden, auf Reste alter stammesgeschichtlicher
Prägungen zurückverweist. Die Verben des Werfens klingen bis in Grundwörter
der philosophischen Terminologie nach, vor allem in den lateinischen Ausdrücken
Subjekt, Objekt, Projekt - das Nach-unten-Geworfene, das Entgegengeworfene,
das Nach-vorn-Geworfene - und in den griechischen Wörtern »symbolisch«
und »diabolisch«, die auf die Gesten des Zusammenwerfens bzw. Durcheinanderwerfens
deuten. Der Verzicht auf Würfe überhaupt wiederum erzeugt die Möglichkeit
von Gelassenheit.
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46 |
Distanzierungsmittel - Wurfmittel, Schlagmittel, Berührungsmittel
- sind also die ersten Medien des Menschen. Mit deren Gebrauch beginnt zugleich
die Selbsterzeugungsgeschichte der Gattung. Sobald das Prinzip Abstand zu wirken
beginnt, tritt der Vorgang der gruppeninternen Evolutionsfaktoren vor den Umwelt»einflüssen«
in Kraft.
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46 |
In engem Zusammenhang mit dem Alsberg-Theorem steht auch der kollektive
Selbstschutz-Effekt, der den in Horden lebenden Hominiden einen evolutionären
nachhaltigen internen »Klima«vorteil verschaffte. Der permanente
Gruppenschutz verbindet seine Wirkungen mit den archaischen Distanzmechanismen
(Werfen, Schlagen, Laufen) zu einem hominisierenden auf humanisierenden Treibhauseffekt.
Durch ihn werden die Prähominiden reif für die Insel des Menschseins.
Hier werden erstmals kognitive und affektive Ruhezonen und Spielräume ausgebaut,
hier wird Abstand zu Instinktprogrammen eingeschliffen, hier haben Probehandlungen
und symbolische Ausdrucksgebärden erstmals Raum, hier vollzieht sich der
Übergang von einfacher Lautproduktion zu Sprache, hier werden die weiblichen
Funktionen und Formen in bio-ästhetische Luxusevolutionen emporgetrieben,
hier vollzieht sich der Übergang von den biologischen Statusbeziehungen
zu den symbolisch codierten Strukturen der Verwandtschaft.
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46 |
Ohne die ... »Insulation« gäbe es den spezifischen
Sapiens-Raum nicht, in dessen Inneren das menschentypische Luxurieren
von Sprache, Sexualität und Emotionalität freigesetzt worden ist.
Allein in solchen Insulationsräumen wurde das biologische Wagnis möglich,
Menschengeburten sozusagen »vorzuverlegen« und unvergleichlich unfertige,
nachreifungsbdürftige Säuglinge an ein verfrühtes Licht der Welt
zu bringen - ein Sachverhalt, den die Experten mit dem Ausdruck Neotenie umschreiben
und der auf eine biologische Bedingung menschlicher Weltoffenheit hinweist.
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46 |
Es wird den Menschen zu allen Zeiten schwerfallen, völlig zu ermessen,
in welchem Ausmaß ihre Kultur, ihre Solidarität und ihre Verwundbarkeit
aus den Abenteuern der Frühgeburtlichkeit entspringen - und auch Anthropologen
neigen dazu, die Bedeutung dieses Dramas zu unterschätzen, zummal es ein
Verhältnis darstellt, das sich in fossilen Funden in keinerlei Weise materialisiert.
Und schließlich hat sich in den Freiräumen und Entlastungsinseln,
die aus der Körpererausschaltung entsprungen sind, auch die Luxusevolution
des Menschengehirns vollzogen, die den Homo sapiens als das »nicht
festgestellte Tier« erscheinen läßt.
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46 |
Mit ihrem »vorauseilenden Gehirn« haben die Sapientes aus
ihrer Frühzeit eine evolutionäre Reserve geerbt, bei deren Entfaltung
sie ohne Zweifel erst am Anfang stehen. Die historische und ökologische
Chance der Menschheit besteht darin, daß sie sich eines Tages auf die
Höhe ihrer evolutionären Ausstattungen heben könnte. Die Menschen
der künftigen technologischen Kulturen sind herausgefordert, eine neuronale
Ethik zu schaffen, die von dem Axiom ausgeht, daß der Besitz eines Gehirns
verpflichtet, sobald man zu ahnen beginnt, was es zu leisten vermöchte.
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46 |
Vielleicht kann sich bei der überfälligen Hebung des menschlichen
Entwicklungsniveaus auch die philosophische Anthropologie nützlich machen.
Sie fördert das exakte Staunen über das Tier, das nicht nur nach seiner
Herkunft, sondern mehr noch nach seiner Zukunft fragt.
Peter
Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46 |
(Volker Panzer: »Bei Luhmann ist der
Zufall - sozusagen - auch eine Form der Reproduktion der Komplexität«.)
Solange Systeme dies schaffen, gelingt ihnen ihre Erfolgsgeschichte. Sobald
sie an einen Zufall geraten, der stärker ist als ihre Reduktionskapazität,
gehen sie im Zufall zugrunde.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Nachtstudio, 02.12.1998 |
Es ist anthropologisch falsch, davon
auszugehen, daß der Mensch ein Individuum ist; er ist ein historisches
Tier; er ist ein Paarwesen. .... Ich sage, Individuen gibt es nicht, sondern
es gibt nur Beziehungen. Es gibt keine Individuen!
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput,
09.12.1998 |
Der Mensch ist ein Wesen, das immer von seinem Alliierten her
gedacht werden muß und nicht nur von seinem Selbsterhaltungsimpuls.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput,
09.12.1998 |
Es gibt keine Individuen, es gibt nur Paare und ihre Entfaltungen.
Und dann hat man ein anderes Rechtssubjekt, und man hat dann nur Gruppen
- die Minimalgruppe ist das Paar. Dann kommt man zu einer ganz anderen
Beschreibung des Rechtssubjekts; ... die Rechte entstehen aus der Tatsache,
daß man an etwas teilhat.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput,
09.12.1998 |
Ich glaube, das moderne Recht ist der intimste Partner des modernen
Individualismus und von daher auch Handlanger dieser entsetzlichen Auswüchse,
die der Kapitalismus in seinen übelsten Gestalten weltweit hervorruft.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput,
09.121998 |
Wir kommen in einen mörderischen Anthropozentrismus hinein,
der letztlich selbstmörderisch ist .... Und es stellt sich heraus,
daß letzten Endes auch unter dem Schein der Allgemeinheit die modernen
Menschenrechte Privilegien gewesen sind: es waren wieder Gattungsprivilegien,
die nun in Form einer ermächtigten Herrengattung gegenüber dem
Rest der Natur durchgesetzt werden, und das führt notwendigerweise
in einer vernetzten Welt zu einer selbstmörderischen Entwicklung.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput,
1998 |
Es macht einen ungeheuren Unterschied - das geht bis zu der notwendigen
Neuformulierung der Menschenrechte hin -, ob man in einem Verwüstungsprozeß
lebt oder in einem Schonungsvorgang. .... Der Ausdruck Schonungen in dieser
Verwendung geht übrigens auf Martin Heidegger zurück - ein Ausdruck,
der den Vorzug hat, daß er Philosophen und Förster gleichzeitig
zufrieden stellt und dabei sehr schön zum Ausdruck bringt, worum
es geht: Menschen können sich auf der Erde nicht aufhalten, wenn
sie nicht zugleich Verantwortung nehmen für die Biotope, in denen
sie angesiedelt sind - ... sie müssen sich zur Schonung bekennen
..., sie können anfangen, als neue Nomaden über die Oberflächen
hinwegzuziehen, ... aber sie müssen auch wieder lernen zu wohnen,
und im Wohnen ist natürlich der Imperativ, Schonungen anzulegen,
mitenthalten und damit, die Wüstungen zu korrigiere.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput,
1998 |
Immerhin sind atmosphärische »Phänomene«
als oslche für die ästhetische Theorie, für die Neu-Phänomenologie
und die Theologie in jüngster Zeit interessant geworden, besonders
unter Heideggers Anregung, zuweilen sogar mit grundbegrifflichen Ansprüchen
- was wohl als Zeichen einer punktuellen Öffnung zu lesen ist. (Hermann
Schmitz hat in § 149 seines Systems der Philosophie, Dritter
Band, Zweiter Teil, Der Gefühlsraum, 1969, S. 98 f., eine
eindrucklsvolle Deutung der »Gefühle als Atmosphären«
vorgelegt. Unter seinen Anregungen entwickelt Gernot Böhme in seinem
Buch Atmosphäre - Essays zur neuen Ästhetik, 1995, ein
Konzept von ästhetischer Tätigkeit als Atmosphärenproduktion;
Varianten hierzu bietet ders., Anmutungen - Über das Atmosphärische,
1998. Vgl. daneben auch Michael Hauskeller, Atmosphären erleben
- Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehumng, 1995; Reinhard
Knoth, Atmosphären - Über einen vergessenen Gegenstand des
guten Geschmacks, in: R. K., Ästhetische Korrespondenten -
Denken im technischen Raum, 1994. Als Link
zwischen den Heideggerschen und den Schmitzschen Raum- und Atmosphärentheorien
vermittelt unverwüstlich Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum,
1963, besonders die Kapitel »Der gemeinsame Raum«,
»Der präsentische Raum«, »Der Raum des
menschlichen Zusammenlebens, S. 229-270.«
Für eine theologische Atmosphärologie hat Hermann Timm in seinem
Buch Das Weltquadrat - Eine religiöse Kosmologie, 1985, einen
paradigmatishen Versuch vorgelegt.) Mit Recht hat die
moderne Philosophie - besonders die Fundamentalontologie -, als sie anfing,
nach ihrem zweitausendjährigen Exil im Übersinnlichen, wieder
im In-der-Welt-Sein Grund zu fassen, die Stimmung als die erste Öffnung
des Daseins zum Wie und Worin der Welt beschrieben. Man könnte Heideggers
frühes Werk als die Magna Charta einer nie zuvor versuchten Onto-Klimatologie
ansehen. (Und die Arbeit von Hermann Schmitz als den partiell gelungenen
Versuch, Heideggers (und Bollnows) Vorgaben zu überbieten.) Es läßt
sich plausibel machen, warum die Entfaltung von Heideggers Anregungen
in der Phänomenologie der Stimmungen und in der Existentialpsychiatrie
zu den fruchtbarsten Aspekten seiner Wirkung gehört.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 146 |
Alle primären kulturellen
Einheiten lassen sich nur als sich selbst erzeugende morphogenetische
Prozesse verstehen. Das unmittelbare Projekt jeder Gemeinschaft ist die
fortgesetzte Selbstbergung der Gruppe in ihrer morphologischen Hülle:
Alle konkreten »Gesellschaften«, die primitiven wie die komplexen,
sind sphäro-poietische Projekte. Die Feststellung ist trivial, daß
die weitaus größte Zahl der Sphärenbildungen in der Geschichte
der menschlichen Gattung kleine clanartige und stammeskulturelle Ensembles
geblieben sind, von denen nur wenigen die Fortbildung zu ethnischen Gebilden
mittleren Formats gelingt - tatsächlich ist schon ein Volk
ein morphologischer Effekt, der, von den Hordenanfängen her gedacht,
ans Unmögliche grenzt, denn er setzt die kulturelle und meist auch
politische Synthesis von Tausenden von Horden (nunmehr: Familien oder
Geschlechtern) voraus. Nur in den seltensten Fällen sind diese Gebilde,
über Volkseinheiten hinausgehend, zu Makrosphären höchster
Ordnung herangewachsen - daß heißt zu Stadtstaaten und multi-ethnischen
Imperien, im Sinne von Spengler ... sogar zu »Kulturen«, die
sich politisch und ontologisch die Form von Welten zu geben vermochten.
Der Ausdruck Welt bezeichnet dann nicht »alles, was der Fall ist«,
sondern alles, was von einer Form oder einer gewußten Grenze
enthalten werden kann.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 200-201 |
Wenn Gunnar Heinsohn ... die jüdische Kontraktualisierung
der nachsintflutlichen Natur durch den Bund als Zeichen eines »kosmischen
Optimismus« charakterisieren zu dürfen glaubt, so gehört
dies zu den merkwürdigen Bildern, die ein hilfloser Philosemitismus
zu treiben imstande ist.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 256 |
Ein Gestalt-Historiker Spenglerschen Typs, der die Stadt als von
Grund auf erstaunliche Erscheinung betrachtet, müßte ein Phänomenologe
sein, der die begnadete Angst eines Denkens von außen auf sich nimmt
- hierin ist Spengler der unmittelbare Vorgänger von revolutionären
Strukturhistorikern wie Foucault, Deleuze und Guattari. Wenn er vorschlägt,
sich zurückzuversetzen in das Staunen des Frühmenschen, der
das unfaßbare Riesengehäuse mit seinen Mauern und Türmen
am Horizont aufragen sieht, so folgt er der Intuition, daß die Wahrheit
über alles, was im äußeren Raum erscheint, nur durch eine
initiatische Raum-Angst erfahren werden kann. Diese Angst schlägt
die Brücke zwischen archaischer Welt und Moderne, weil sie den zu
keiner Zeit ganz absorbierbaren Überschuß der Ekstase über
die Geborgenheit bezeugt. Wird dieser Überschuß für die
Theorie fruchtbar gemacht, so liegt das Feld des genuin modernen Denkens
offen. In dem Maß, wie Spengler aus diesem Überschuß
oder dieser Ekstase - man könnte auch schlichter sagen aus dieser
Unsicherheit - denkt, ist seine Zugehörigkeit zum Abenteuer des wesenhaft
zeitgenössischen Denkens unbestreitbar. Die Sehkraft, die er in seiner
Kulturen-Phänomenologie aufbietet, entstammt der Erfahrung entsicherten
Existierens in einer überdehnten, nie mehr im ganzen heimatlich verklärbaren
Welt.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 267-268 |
Spenglers Morphologie der Weltgeschichte hat ihr philosophisches
Momentum in einer Theorie der schöpferischen Raum-Angst, die den
Menschen der Hochkulturen eine Offenbarung der dritten Dimension als »Tiefe«,
das heißt als Herkunftsraum des Unumgänglichen, gewährt.
Der kühle Morphologe und sein Schatten, der dem verstörten Urmenschen
ähneln will, sollen sich einig werden in einem Staunen, das in Wahrheit
ein Nicht-ganz-glauben-Können, ein Entsetzen ist. Tatsächlich,
was wäre eine mit Urmenschen-Augen angeschaute Stadt vom Typus der
mesopotamischen Gott-Königs-Metropolen anderes als eine Erläuterung
zu der These, daß in den Hochkulturen das Ungeheure als Menschenwerk
in Erscheinung tritt? Und was sind diese Gehäuse von seltsamster
Form, von außen gesehen, anderes als Bergungsmaschinen, mit denen
Menschen ihre spezifische Offenbarung von Weltangst abgearbeitet und ihrem
Willen zum Nicht-außen-Sein monströse Denkmäler errichtet
haben?
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 268 |
Spenglers Schritt zurück vor die Stadt hat also nichts zu
tun mit neuzeitlicher Zivilisationskritik, auch nichts mit dem anti-babylonischen
Ressentiment der Juden, das von den Christen kopiert wurde und seit der
Marginalisierung des Christentums als anonymes Ferment in der Niveaumüdigkeit
der Gegenwartskulturen allgegenwärtig umherspukt. Er bedeutet vielmehr
einen Akt der theorie-ermöglichenden epoché im Hinblick
auf ein kaum noch distanzierbares Milieu und dient der Abstandnahme des
Denkenden von den Blendungen des immer schon städtisch gelebten Lebens,
mitsamt seinen unthematisierten Ansprüchen an Selbsterhöhung,
Raumangst-Überwindung, Entlastung und Reizzufuhr. Die Theorie der
Stadt kann nur beginnen mit der Entwöhnung von den Verwöhnungen,
die durch die Stadt erst möglich geworden sind. Die Stadt denken
heißt also über das verwöhnende Wohnen in ihr so reflektieren,
als könnte man anderswo als in ihr zu Hause sein, ja, als ließe
sich das Verlangen, überhaupt irgendwo Wurzeln zu schlagen, im ganzen
einklammern. Wohnen, als wohnte man nicht. Leben, als hätte man weder
Haus noch Stadt im Rücken. Denken wie im freien Fall.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 269 |
»Globuszeit. Auch für die extraterrestrischen
Dimensionen wird ... festgeschrieben, was für die Erde seit der Kolumbusfahrt
wahr geworden war: Im umrundeten Raum gelten alle Punkte gleich viel.
Durch die Neutralisierung erfährt das Raumdenken in der Neuzeit einen
radikalen Sinnwandel. Das traditionelle »Leben, Weben und Sein«
in regionalen Orientierungen, Strebungen und Attraktionen wird überflügelt
von einem System der Lokalisierung von beliebigen Ortspunkten in einem
homogenen Vorstellungsraum. (Vgl. hierzu die phänomenologischen Klärungen
von Hermann Schmitz in seinem System der Philosophie, Dritter Band,
Der Raum, Erster Teil, Der leibliche Raum, 1967, §
119, Der Richtungsraum (sowie §§ 219-231), und §
120, Der Ortsraum (sowie §§ 132-135).) Wo das moderne,
ortsräumliche Denken mit seinem neutralisierenden und homogenisierenden
Zugriff auf beliebige Punkte der Erdoberfläche die Oberhand gewinnt,
dort können die Menschen nicht mehr in ihren traditionellen Weltinnenräumen
und deren phantasmatsichen Ausdehnungen und Arrondierungen zu Hause bleiben.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 819-820 |
Nachdem die portugiesischen Seefahrer von der Mitte des
15. Jahrhunderts an die magischen Hemmungen durchbrochen hatten, die den
Blick nach Westen an den Säulen des Herkules aufhielten, gab die
Kolumbusfahrt endgültig das Signal für die »Desorientierung«
der europäischen Interessen. Nur diese revolutionäre Ent-Ostung
konnte den neu-indischen Doppelkontinent, der Amerika heißen sollte,
zum Auftauchen bringen, und ihr allein ist es zuzuschreiben, daß
seit einem halben Jahrtausend die Prozesse der Globalisierung ihrem kulturellem
und topologischem Sinn nach auch immer »Westung« und Verwestlichung
bedeuten. Warum dies nicht anders sein konnte, hat der Initiator der Neuen
Phänomenologie, Hermann Schmitz, in den raumphilosophischen Ausführungen
seines »Systems der Philosophie« mit glücklicher Pointierung
auf den Begriff gebracht. Über Kolumbus heißt es dort:
»Im Westen entdeckte er für
die Menschheit Amerika und damit den Raum als Ortsraum. Diese absichtlich
überspitzte Formulierung soll besagen, daß Kolumbus - und
später der Weltumsegler Magellan als Vollstrecker seiner Initiative
- durch ihre Erfolge auf der Westroute eine chocartige Umwälzung
der menschlichen Raumvorstellung erzwangen, die m.E. den Eintritt
in die spezifisch neuzeitliche Bewußtseinsweise tiefer als irgendein
anderer Übergang markiert.« (Hermann Schmitz, System
der Philosophie, Dritter Band, Der Raum). |
Die Wendung nach Westen induziert die Geometrisierung des europäischen
Verhaltens in einem globalisierten Ortsraum. Auch die summarischste Darstellung
der noch weithin unerschlossenen Erdzonen folgt darum von Anfang an dem
neuen methodischen Ideal: dem einer gleichmäßigen Erfassung
aller Punkte auf der Oberfläche des Planeten unter dem Aspekt ihrer
Erreichbarkeit für europäische (und das heißt zunächst
iberische) Interessen und Operationen ....
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 833-834 |
»Ausdehnung ist alles« - Oswald Spengler hat diesen
Satz zum Axiom der zivilisatorischen Epochen erklärt: »Expansion
ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures, das den
späten Menschen des Weltstadiums packt, in seinen Dienst zwingt und
verbraucht ....«
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 850 |
Es ist dies ein Typus, der in der neuen Eigentums- und Geldwirtschaft
die Erfahrung gewonnen hat, daß Schaden zwar klug macht, doch Schulden
klüger. Die Schlüsselfigur des neuen Zeitalters ist der »Schuldner-Produzenten«
- besser bekannt unter dem Begriff Unternehmer -, der seine Geschäftsverfahren,
seine Meinungen und sich selbst fortwährend flexibilisiert, um mit
allen erlaubten und unerlaubten, erprobten und unerprobten Mitteln an
die Gewinne zu kommen, die ihn befähigen, aufgenommene Kredite rechtzeitig
zu tilgen. Diese Schuldner-Produzenten geben der Idee der geschuldeten
Schuld eine revolutionäre, neuzeitliche Bedeutung: Aus einem moralischen
Makel wird ein ökonomisch sinnvolles Anreizverhältnis. Ohne
die Positivierung von Schulden kein Kapitalismus. Die Schuldner-Produzenten
sind es, die das Rad der permanenten Geldrevolution in der »Bourgeois-Epoche«zu
drehen beginnen. (Die Bestimmung des Unternehmens
als Schuldner-Produzent verdanken wir Gunnar Heinsohn und
Otto Steiger, die mit ihrem Buch Eigentum, Zins und Geld [1996]
ein suggestives Modell für die Erklärung der Innovationsdynamik
der neuzeitlichen Wirtschaft als Eigentumswirtschaft vorgelegt
haben.). Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, daß die
Erde um die Sonne, sondern das Geld um die Erde läuft
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 855-856 |
Wer übernähme die Verteidigung Leopolds II. von Belgien,
der seine Privatkolonie Kongo in das »schlimmste Zwangsarbeitslager
der Neuzeit« (Peter Scholl-Latour) verwandelt hatte - mit zehn Millionen
Massakrierten?
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 947 |
Vielleicht ist die Globalisierung, wie die Geschichte überhaupt,
das Verbrechen, das nur einmal begangen werden kann.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 950 |
Globalisierung ist ein ... von Protest begleiteter Vorgang. Aber
der Protest gegen die Globalisierung ist auch die Globalisierung selbst
- er gehört zur unvermeidlichen und unentbehrliche Immunreaktion
der lokalen Orte gegen die Infektionen durch das große Weltformat.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 1002-1003 |
Die neuen Immunitätstechniken empfehlen
sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen,
bei denen der Lange Marsch in die Fexibilisierung, die Schwächung
der »Objektbeziehungen« und die generelle Lizensierung von
untreuen oder reversiblen Verhältnissen zwischen Menschen zum Ziel
geführt hat - zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten
Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden,
ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich
dekadent sind. Jenseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische
Differenz, die von Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit
und Gemeinheit, ihre Kontur, und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und
groß erschien, verschwände wie am Meeresufer ein Gesicht im
Sand.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 1004-1005 |
Indem Heidegger in dieser Schrift (dem Brief über
den Humanismus; HB) die der Form nach ein Brief sein wollte, Bedingungen
des europäischen Humanismus offenlegte und überfragte, eröffnete
er einen trans-humanistischen oder post-humanistischen (*)
Denkraum, in dem sich seither ein wesentlicher Teil des philosophischen Nachdenkens
über den Menschen bewegt hat. (* Diese Geste
wird von denen verfehlt, die in Heideggers OntoAnthropologie etwas wie einen»
Antihumanismus« sehen möchten, eine törichte Formulierung, die
eine metaphysische Form der Misanthropie suggeriert.)
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 21-22 |
Heidegger nimmt aus einem Schreiben Jean Beaufrets vor allem eine Formulierung
auf: Wie kann man dem Wort »Humanismus« eine neue Bedeutung geben?
Der Brief an den jungen Franzosen enthält eine leise Zurechtweisung des
Fragestellers, die sich am deutlichsten in den beiden unmittelbaren Repliken
verrät:
»Diese Frage kommt aus der Absicht, das
Wort Humanismus« festzuhalten. Ich frage mich, ob das
nötig ist. Oder ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten,
nicht schon offenkundig genug?« »Ihre Frage setzt nicht
nur voraus, daß sie das Wort Humanismus festhalten
wollen, sondern sie enthält auch das Zugeständnis, daß
dieses Wort seinen Sinn verloren hat.« (Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 315 und 344-345). |
Damit wird schon ein Teil von Heideggers Strategie manifest: Das Wort Humanismus
muß aufgegeben werden, wenn die wirkliche Denkaufgabe, die in der
humanistischen oder metaphysischen Tradition bereits als gelöste
erscheinen wollte, in ihrer anfänglichen Einfachheit und Unausweichlichkeit
wiedererfahren werden soll. Zuspitzend gesprochen: Wozu erneut den Menschen
und seine maßgebliche philosophische Selbstdarstellung im Humanismus
als die Lösung anpreisen, wenn sich gerade in der Katastrophe der
Gegenwart gezeigt hat, daß der Mensch selbst mitsamt seinen Systemen
metaphysischer Selbstüberhöhung und Selbsterklärung das
Problem ist? Diese Zurechtrückung der Frage Beaufrets geschieht nicht
ohne meisterliche Bosheit, denn sie hält, in sokratischer Manier,
dem Schüler die in der Frage enthaltene falsche Antwort vor. Sie
geschieht zugleich mit denkerischem Ernst, denn es werden die drei kuranten
Hauptheilmittel in der europäischen Krise von 1945: Christentum,
Marxismus und Existentialismus Seite an Seite als Spielarten des Humanismus
charakterisiert, die sich nur in der Oberflächenstruktur voneinander
unterscheiden -schärfer gesagt: als drei Arten und Weisen, der letzten
Radikalität der Frage nach dem Wesen des Menschen auszuweichen.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 22-23 |
Heidegger bietet sich an, der unermeßlichen Unterlassung
des europäischen Denkens - nämlich der Nicht-Stellung der Frage
nach dem Wesen des Menschen in der einzig angemessenen, er meint: existential-ontologischen
Weise - ein Ende zu bereiten; zumindest aber deutet der Autor seine Bereitschaft
an, in wie auch immer vorläufigen Wendungen der Heraufkunft der endlich
sich richtig stellenden Frage zu dienen. Mit diesen scheinbar bescheidenen
Wendungen legt Heidegger bestürzende Konsequenzen offen: Dem Humanismus
- in seiner antiken, in seiner christlichen wie in seiner aufklärerischen
Gestalt - wird bescheinigt, der Agent eines zweitausendjährigen Nichtdenkens
zu sein; es wird ihm vorgehalten, mit seinen schnell gegebenen, scheinbar
evidenten und unabweislichen Deutungen des Menschenwesens die Heraufkunft
der eigentlichen Menschenwesensfrage versperrt zu haben. Heidegger erklärt,
es werde in seinem Werk von Sein und Zeit an gegen den Humanismus
gedacht, nicht weil dieser die Humanitas überschätzt habe, sondern
weil er sie nicht hoch genug ansetze (vgl. Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946,
in: Ders., Wegmarken, S. 330). Aber was heißt
das Wesen des Menschen hoch genug ansetzen? Es bedeutet fürs erste,
auf eine habituelle falsche Herabsetzung zu verzichten. Die Menschenwesensfrage
komme nicht eher auf die richtige Bahn, als bis man Abstand nehme von
der ältesten, hartnäckigsten und verderblichsten Übung
der europäischen Metaphysik: den Menschen als animal rationale
zu definieren. In dieser Deutung des Menschenwesens bleibt der Mensch
verstanden von einer durch geistige Zusätze erweiterten Animalitas
her. Hiergegen revoltiert Heideggers existential-ontologische Analyse,
denn für ihn kann das Wesen des Menschen niemals in zoologischer
oder biologischer Perspektive ausgesagt werden, auch wenn zu dieser regeImäßig
ein geistiger oder transzendenter Faktor hinzugerechnet wird.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 23-25 |
In diesem Punkt ist Heidegger unerbittlich, ja er tritt wie ein
zorniger Engel mit gekreuzten Schwertern zwischen das Tier und den Menschen,
um jede ontologische Gemeinschaft zwischen beiden zu verwehren. Er läßt
sich in seinem anti-vitalistischen und anti-biologistischen Affekt zu
nahezu hysterischen Äußerungen hinreißen, etwa wenn er
erklärt, es scheine, »als sei das Wesen des Göttlichen
uns näher als das Befremdende der Lebe-Wesen« (Martin
Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret],
1946, in: Ders., Wegmarken, S. 326). Im Kern dieses
anti-vitalistischen Pathos wirkt die Erkenntnis, daß der Mensch
zum Tier in ontologischer, nicht in spezifischer oder generischer Differenz
steht, weswegen er unter keinen Umständen als Tier mit einem kulturellen
oder metaphysischen Plus aufgefaßt werden darf. Vielmehr ist die
Seinsart des Menschlichen selbst von der aller übrigen vegetabilischen
und animalischen Wesen essentiell und dem ontologischen Grundzug nach
verschieden; denn der Mensch hat Welt und ist in der Welt, während
Gewächs und Getier nur in ihre jeweiligen Umwelten verspannt sind.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 25 |
Wenn philosophisch Grund gegeben ist für eine Rede von der
Würde des Menschen, dann deswegen, weil eben der Mensch der vom Sein
selbst Angesprochene und, wie Heidegger als pastoralphilosoph zu sagen
beliebt, zu seiner Hütung Bestellte ist. Deswegen haben Menschen
die Sprache -aber sie besitzen diese, nach Heidegger, nicht in erster
Linie nur, um sich untereinander zu verständigen und sich in diesen
Verständigungen gegenseitig zu zähmen.
»Vielmehr ist die Sprache das Haus des
Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit
des Seins, sie hütend, gehört. So kommt es bei der Bestimmung
der Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß
nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension
des Ekstatischen der Ek-sistenz.« (Martin Heidegger, Brief
über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in:
Ders., Wegmarken, S. 333-334). |
Im Hinhorchen auf diese zunächst hermetischen Formulierungen kommt
eine Ahnung auf, wieso Heideggers Humanismuskritik sich so sicher wähnt,
nicht in einen Inhumanismus zu münden. Denn indem er die Ansprüche
des Humanismus, das Menschenwesen schon zureichend ausgelegt zu haben,
zurückweist und seine eigene Onto-Anthropologie dagegensetzt, so
hält er doch an der wichtigsten Funktion des klassischen Humanismus,
nämlich der Befreundung des Menschen mit dem Wort des Anderen, auf
indirekte Weise fest - ja er radikalisiert dieses Befreundungsmotiv und
versetzt es aus dem pädagogischen Feld ins Zentrum der ontologischen
Besinnnung.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 25-27 |
Das ist der Sinn der oft zitierten und viel verlachten Redeweise
vom Menschen als dem Hirten des Seins. Unter Verwendung von Bildern aus
dem Motivkreis der Pastorale und der Idylle spricht Heidegger von der
Aufgabe des Menschen, die sein Wesen ist, und von dem Menschenwesen, aus
dem seine Aufgabe entspringt: nämlich das Sein zu hüten und
dem Sein zu entsprechen. Gewiß, der Mensch hütet nicht das
Sein wie der Kranke das Bett, eher wie ein Hirt seine Herde auf der Lichtung,
mit dem gewichtigen Unterschied, daß hier statt einer Herde Viehs
die Welt als offener Umstand gelassen zu gewahren ist -und weiter noch,
daß dieses Hüten keine frei gewählte Bewachungsaufgabe
im eigenen Interesse darstellt, sondern daß die Menschen vom Sein
selbst als Hüter angestellt werden. Der Ort, an dem diese Anstellung
gilt, ist die Lichtung oder die Stelle, wo Sein aufgeht als das, was da
ist.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 27 |
Was Heidegger die Gewißheit gibt, mit diesen Wendungen den
Humanismus überdacht und überboten zu haben, ist der Umstand,
daß er den Menschen, als Lichtung des Seins begriffen, in eine Zähmung
und eine Befreundung einbezieht, die tiefer gehen als jede humanistische
Entbestialisierung und jede gebildete Liebe zu dem Text, der von Liebe
spricht, jemals reichen könnten. Indem er den Menschen als Hirten
und Nachbarn des Seins bestimmt und die Sprache als Haus des Seins bezeichnet,
bindet er den Menschen in eine Entsprechung zum Sein, die ihm eine radikale
Verhaltenheit auferlegt und ihn - den Hirten - in die Nähe oder den
Umgriff des Hauses bannt; er exponiert ihn einer Besinnung, die mehr Stillhalten
und Stille- Hörigkeit in Anspruch nimmt, als die umfassendste Bildung
es je vermöchte. Der Mensch wird einer ekstatischen Verhaltenheit
unterworfen, die weiter reicht als das zivilisierte Innehalten des textfrommen
Lesers vor dem klassischen Wort. Das Heideggersche an sich haltende Wohnen
im Haus der Sprache ist bestimmt als ein abwartendes Lauschen auf das,
was vom Sein selbst her zu sagen aufgegeben werden wird. Es beschwört
ein In-die-Nähe-Horchen, bei dem der Mensch stiller und gezähmter
werden muß als der Humanist beim Lesen der Klassiker. Heidegger
will einen Menschen, der höriger wäre als ein bloßer guter
Leser. Er möchte einen Befreundungsprozeß stiften, in welchem
auch er selbst nicht mehr nur als Klassiker oder als Autor unter anderen
rezipiert würde; am besten wäre es fürs erste wohl, wenn
das Publikum, das naturgemäß nur aus ahnungsvollen Wenigen
bestehen kann, zur Kenntnis nähme, daß das Sein selbst durch
ihn, den Mentor der Seinsfrage, von neuern zu reden begonnen hat.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 27-28 |
Damit erhebt Heidegger das Sein zum alleinigen Autor aller wesentlichen
Briefe und setzt sich selbst als dessen aktuellen Schriftführer ein.
Wer in solcher Position redet, darf auch Stammeln aufzeichnen und Schweigen
publizieren. Das Sein also schickt die entscheidenden Briefe, genauer
gesagt, es gibt Winke an geistesgegenwärtige Freunde, an empfängliche
Nachbarn, an gesammelt stille Hirten, doch soweit wir sehen, lassen sich
aus dem Kreis dieser Mithirten und Freunde des Seins keine Nationen, ja
nicht einmal alternative Schulen bilden - nicht zuletzt deswegen, weil
es keinen öffentlichen Kanon der Seins-Winke geben kann -, es sei
denn, man ließe Heideggers opera omnia bis auf weiteres als
Maßstab und Stimme des namenlosen Über-Autors gelten.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 28-29 |
Es bleibt angesichts dieser dunklen Kommunionen bis auf weiteres
völlig unklar, wie eine Gesellschaft aus Nachbarn des Seins verfaßt
sein könnte - sie muß wohl, bevor sich Deutlicheres zeigt,
als eine unsichtbare Kirche von verstreuten Einzelnen aufgefaßt
werden, von denen jeder auf seine Weise ins Ungeheure lauscht und die
Worte erwartet, in denen laut wird, was dem Sprecher von der Sprache selbst
zu sagen gegeben wird. (Im übrigen ist ebenso unklar, wie eine Gesellschaft
aus lauter Dekonstruktivisten aussehen könnte oder eine Gesellschaft
aus lauter Levinas-Schülern, die jeweils dem leidenden Anderen den
Vorrang gäben.) Es ist müßig, hier näher auf den
kryptokatholischen Charakter der Heideggerschen Meditationsfiguren einzugehen.
Entscheidend ist jetzt nur, daß durch Heideggers Humanismuskritik
hindurch ein Haltungswandel sich propagiert, der den Menschen auf eine
über alle humanistischen Erziehungsziele weit hinausweisende besinnliche
Askese hinweist. Nur kraft dieser Askese würde eine Gesellschaft
der Besinnlichen jenseits der humanistischen literarischen Sozietät
sich formieren können; es wäre dies eine Gesellschaft aus Menschen,
die den Menschen aus der Mitte rückten, weil sie begriffen hätten,
daß sie nur als »Nachbarn des Seins« existieren - und
nicht als eigensinnige Hausbesitzer oder als möblierte Herren in
unkündbarer Hauptmiete. Zu dieser Askese kann der Humanismus nichts
beitragen, solange er am Leitbild des starken Menschen orientiert bleibt.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 29-30 |
Die humanistischen Freunde der menschlichen Autoren verfehlen
die begnadete Schwäche, in der das Sein sich den Angerührten,
Angesprochenen zeigt. Für Heidegger führt vom Humanismus kein
Weg zu dieser verschärften ontologischen Demutsübung; er meint
in ihm vielmehr selbst einen Beitrag zur Aufrüstungsgeschichte der
Subjektivität zu sehen. Tatsächlich deutet Heidegger die geschichtliche
Welt Europas als das Theater der militanten Humanismen; sie ist das Feld,
auf dem die menschliche Subjektivität ihre Machtergreifung über
alles Seiende mit schicksalhafter Folgerichtigkeit ausagiert. Unter dieser
Perspektive muß sich der Humanismus als natürlicher Komplize
aller nur möglichen Greuel anbieten, die im Namen des menschlichen
Wohls begangen werden können. Auch in der ragischen Titanomachie
der Jahrhundertmitte zwischen Bolschewismus, Faschismus und Amerikanismus
standen sich - aus Heideggers Sicht - lediglich drei Varianten derselben
anthropozentrischen Gewalt und drei Kandidaturen für eine humanitär
verbrämte Weltherrschaft gegenüber ....
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 30-31 |
Was zähmt noch den Menschen, wenn der
Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt
den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung
in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende
geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen
Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben
ist, wer oder was als Erzieher wozu erzieht?
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 31-32 |
Es ist hier zum einen von einer Naturgeschichte der Gelassenheit
zu sprechen, kraft deren der Mensch das weltoffene, weltfähige Tier
zu werden vermochte, zum anderen von einer Sozialgeschichte der Zähmungen,
durch die die Menschen sich ursprünglich als die Wesen erfahren,
die sich zusammennehmen, um dem Ganzen zu entsprechen. Die Realgeschichte
der Lichtung - von der eine über den Humanismus hinaus vertiefte
Besinnung über den Menschen ihren Ausgang nehmen muß - setzt
sich also aus zwei größeren Erzählungen zusammen, die
in einer gemeinsamen Perspektive konvergieren, nämlich in der Darlegung,
wie aus dem Sapiens-Tier der Sapiens-Mensch wurde. Die erste dieser beiden
Erzählungen gibt Rechenschaft von dem Abenteuer der Hominisation.
Sie berichtet davon, wie in den langen Perioden vormenschlich-menschlicher
Urgeschichte aus dem lebendgebärenden Säugetier Mensch eine
Gattung von frühgeburtlichen Wesen wurde, die - wenn man so paradox
reden dürfte - mit einem wachsenden Überschuß an animalischer
Unfertigkeit in ihre Umwelten heraustraten. Hier vollzieht sich die anthropogenetische
Revolution - die Aufsprengung der biologischen Geburt zum Akt des Zur-Welt-Kommens.
.... Denn daß der Mensch das Wesen, das in der Welt ist, werden
konnte, hat gattungsgeschichtliche Wurzeln, die sich andeuten lassen durch
die abgründigen Begriffe der Frühgeburtlichkeit, der Neotonie
und der chronischen animalischen Unreife des Menschen. Man könnte
so weit gehen, den Menschen zu bezeichnen als das Wesen, das in seinem
Tiersein und Tierbleiben gescheitert ist. Durch sein Scheitern als Tier
stürzt das unbestimmte Wesen aus der Umwelt und erwirbt so die Welt
im ontologischen Sinn. Dieses extatische Zur-Welt-Kommen und diese »Übereignung«
an das Sein sind dem Menschen aus gattungsgeschichtlichem Erbe in die
Wiege gelegt. Wenn der Mensch in-der-Welt ist, dann weil er einer Bewegung
gehört, die ihn zur Welt bringt und ihn der Welt aussetzt. Er ist
das Produkt einer Hyper-Geburt, die aus dem Säugling einen Weltling
macht.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 33-34 |
Dieser Exodus würde nur psychotische Tiere erzeugen, wenn
nicht mit dem Hervorgang in die Welt zugleich ein Einzug vonstatten ginge
in das, was Heidegger das Haus des Seins nannte. Die traditionellen Sprachen
des Menschengeschlechts haben die Ekstase des In-der-Welt-Seins lebbar
gemacht, indem sie den Menschen zeigten, wie ihr Sein bei der Welt zugleich
als Bei-sich-selbst-Sein erfahren werden kann. Insofern ist die Lichtung
ein Ereignis an den Grenzen von Natur- und Kulturgeschichte, und das menschliche
Zur-Welt-Kommen nimmt von früh auf die Züge eines Zur-Sprache
Kommens an. (Ich habe andernorts dargestellt, inwiefern
auch und mehr noch mit einem Ins-Bild-Kommen des Menschen zu rechnen ist:
Peter Sloterdijk, Sphären I, Blasen, 1998; Sphären
II, Globen, 1999.)
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 34-35 |
Aber die Geschichte der Lichtung kann nicht nur als Erzählung
vom Einzug der Menschen in die Häuser der Sprachen entwickelt werden.
Denn sobald die sprechenden Menschen in größeren Gruppen zusammenleben
und sich nicht nur an Sprachhäuser, sondern auch an gebaute Häuser
binden, geraten sie ins Kraftfeld der seßhaften Seinsweisen. Sie
lassen sich nunmehr nicht mehr nur von ihren Sprahen bergen, sondern auch
von ihren Behausungen zähmen. Auf der Lichtung erheben sich - als
deren auffälligste Markierungen - die Häuser der Menschen (mitsamt
den Tempeln ihrer Götter und den Palästen ihrer Herren). Kulturhistoriker
haben klargemacht, daß mit der Seßhaftwerdung zugleich das
Verhältnis zwischen Mensch und Tier insgesamt unter neue Vorzeichen
geriet. Mit der Zähmung des Menschen durch das Haus beginnt zugleich
das Epos von den Haustieren. Deren Bindung an die Häuser des Menschen
jedoch ist nicht bloß eine Sache von Zähmungen.
Der Mensch und die Haustiere - die Geschichte dieser ungeheuerlichen Kohabitation
ist noch nicht auf angemessene Weise zur Darstellung gebracht worden,
und erst recht haben die Philosophen bis heute nicht wahrhaben wollen,
was sie selbst inmitten dieser Geschichte zu suchen haben.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 35-36 |
Doch diese Herleitung der Lichtung aus der gesicherten Häuslichkeit
trifft nur den harmloseren Aspekt der Menschwerdung in Häusern. Die
Lichtung ist zugleich ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und
der Selektion.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 37 |
Nietzsche .... wittert einen Raum, in dem unvermeidliche Kämpfe
über Richtungen der Menschenzüchtung beginnen werden - und dieser
Raum ist es, in dem sich das andere, das verhüllte Gesicht der Lichtung
zeigt.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 39 |
Die Schriftkultur selbst hat bis zu der kürzlich durchgesetzten
allgemeinen Alphabetisierung scharf selektive Wirkungen gezeitigt; sie
hat ihre Wirtsgesellschaften tief zerklüftet und zwischen den literaten
und den illiteraten Menschen einen Graben aufgeworfen, dessen Unüberbrückbarkeit
nahezu die Härte einer Spezies-Differenz erreichte, Wollte man ...
noch einmal anthropologisch reden, so ließen sich die Menschen historischer
Zeiten definieren als die Tiere, von denen die einen lesen und schreiben
können und die anderen nicht. Von hier aus ist es nur ein Schritt,
wenn auch ein anspruchsvoller, zu der These, daß Menschen Tiere
sind, von denen die einen ihresgleichen züchten, während die
anderen die Gezüchteten sind - ein Gedanke, der seit Platos Erziehungs-
und Staatsreflexionen zur pstoralen Folklore der Europäer gehört.
Etwas hiervon klingt auf in Nietzsches oben zitierten Satz, daß
von den Menschen in den kleinen Häusernn wenige wollen, die meisten
aber nur gewollt sind. Nur gewollt sein heißt, bloß als Objekt,
nicht als Subjekt von AUslese existieren.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 43-44 |
Es ist die Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters,
daß Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite
der Selektion geraten, auch ohne daß sie sich willentlich in die
Rolle des Selektors gedrängt haben müßten. Man darf zudem
feststellen: Es gibt ein Unbehagen in der Macht der Wahl, und es wird
bald eine Option der Unschuld sein, wenn Menschen sich explizit weigern,
die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben. (Vgl.
Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik,
1989 [Ausführungen über Ethiken des Unterlassungshandelns und
»Bremsen« als progressive Funktion].)
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 44 |
Da bloße Weigerungen oder Dimensionen an ihrer Sterilität
zu scheitern pflegen, wird es in der Zukunft wohl darauf ankommen, das
Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren.
Ein solcher Codex würde rückwirkend auch die Bedeutung des klassischen
Humanismus verändern - denn mit ihm würde offengelegt und aufgeschrieben,
daß Humanitas nicht nur die Freundschaft des Menschen mit dem Menschen
beinhaltet; sie impliziert auch immer - und mit wachsender Explizitheit
-, daß der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 45 |
Es genügt, sich klarzumachen, daß die nächsten
langen Zeitspannen für die Menschheit Perioden der gattungsspezifischen
Entscheidung sein werden. In ihnen wird sich zeigen, ob es der Menschheit
oder ihren kulturellen Hauptfraktionen gelingt, zumindest wieder wirkungsvolle
Verfahren der Selbstzähmung auf den Weg zu bringen.Auch in der Gegenwartskultur
vollzieht sich der Titanenkampf zwischen den zähmenden und den bestialisierenden
Impulsen und ihren jeweiligen Medien. Schon größere Zähmungserfolge
wären Überraschungen angesichts eines Zivilisationsprozesses,
in dem eine beispiellose Enthemmungswelle anscheinend unaufhaltsam rollt.
(Ich verweise hier auf die Gewaltwelle, die z. Zt.
in der ganzen westlichen Welt in die Schulen einbricht, insbesondere in
den USA, wo die Lehrer damit beginnen, Schutzsysteme gegen Schüler
aufzubauen. So wie in der Antike das Buch den Kampf gegen das Theater
verlor, so könnte heute die Schule den Kampf gegen die indirekten
Bildungsgewalten, das Fernsehen, das Gewaltkino und andere Enthemmungsmedien
[leider hat hier der Autor Peter Sloterdijk vergessen,
das Internet zu nennen, das auch schon damals - 1999 - an erster Stelle der indirekten Bildungsgewalten stand oder kurz davor war, die erste Stelle zu übernehmen; HB] verlieren, wenn
nicht eine neue gewaltdämpfende Kultivierungsstruktur entsteht.)
Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform
der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie
bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit
eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen
Selektion (allgemeiner gesprochen: zur Manipulation
biologischer Risiken; eine ergänzende Formulierung) wird vollziehen
können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen
und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 45-47 |
Plato hat in seinem Dialog Politikos - man übersetzt
gern: Der Staatsmann - die Magna Charta einer europäischen
Pastoralpolitologie vorgelegt. Diese Schrift ist nicht nur von Bedeutung,
weil sich in ihr klarer als irgendwo sonst zeigt, was die Antike wirklich
unter Denken verstanden hat - die Gewinnung der Wahrheit durch sorgfältige
Einteilung oder Zerschneidung von Begriffs- und Sachmengen; ihre inkommensurable
Stellung in der Geschichte des Denkens über den Menschen liegt vor
allem darin, daß sie gleichsam wie ein Arbeitsgespräch unter
Züchtern geführt wird ....
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 47 |
Mit diesem Projekt bezeugt Plato eine intellektuelle Unruhe im
Menschenpark, die nie wieder ganz beschwichtigt werden konnte. Seit dem
Politikos und seit der Politeia sind Reden in der Welt,
die von der Menschengemeinschaft reden wie von einem zoologischen Park,
der zugelich ein Themen-Park ist: die Menschenhaltung in Parks oder Städten
erscheint von jetzt an als eine zoopolitische Aufgabe. Was sich als Nachdenken
über Politik präsentiert, ist in Wahrheit eine Grundlagenrefexion
über Regeln für den Betrieb von Menschenparks.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 48 |
Diese vorsorgende Hütekunst muß nun ihrerseits noch
einmal eingeteilt werden in gewaltsam-tyrannische oder in freiwillige.
Wird die tyrranische Form wiederum als unwahre, trugbildhafte ausgescheiden,
so bleibt die eigentliche Staatskunst zurück: Sie wird bestimmt als
die »freiwillige Herdenwartung ... über freiwillige lebendige
Wesen« (276e). (Plato-Interpreten wie Popper
überlesen gern dieses zweimalige »freiwillig«.)
Bis an diesem Punkt hat Plato es verstanden, seine
Lehre von der Kunst des Staatsmanns ganz in Hirten-und Herdenbildern unterzubringen
- und er hat aus Dutzenden von Trugbildern dieser Kunst das einzig wahre
Bild, die gültige Idee der in Frage stehenden Sache ausgewählt.
Nun aber, da die Definition vollendet scheint, springt mit einemmal der
Dialog in eine andere Metaphorik über - dies geschieht jedoch, wie
wir sehen werden, nicht, um das Erreichte preiszugeben, sondern um das
schwierigste Stück der Menschenhüte-Kunst, die züchtersiche
Steuerung der Reproduktion, aus einem verschobenen Blickwinkel um so energischer
anzugreifen. Hier hat das berühmte Weber-Gleichnis vom Staatsmann
seinen Platz. Der wirkliche und wahre Grund der königlichen Kunst
läßt sich nach Plato nämlich nicht im Votum der Mitbürger
finden, die dem Politiker nach Belieben ihr Vertrauen zuwenden oder entziehen;
er liegt auch nicht in ererbten Privilegien oder enuen Anmaßungen.
Der platonische Herr findet die Raison seines Herrseins allein in einem
züchterischen Königswissen, also einem Expertenwissen der seltensten
und besonnenensten Art. Hier taucht das Phantom eines Expertenkönigtums
auf, dessen Rechtsgrund die Einsicht ist, wie Menschen - ohne je ihrer
Freiwilligkeit Schaden anzutun - am besten zu sortieren und zu verbinden
wären. Die königliche Anthropotechnik verlangt nämlich
von dem Staatsmann, daß er die für das Gemeinwesen günstigten
Eigenschaften freiwiilig lenkbarer Menschen auf die wirkungsvollste Weise
ineinanderzuflechten versteht, so daß unter seiner Hand der Menschenpark
zur optimale Homöostase gelangt. Dies geschieht, wenn die beiden
relativen Optima der Menscheartung, die kriegerische Tapferkeit einerseits,
die philosophisch-humane Besonnenheit andererseits gleichkräftig
in das Gewebe des Gemeinwesens eingeschlagen werden.
Weil aber beide Tugenden in ihrer Vereinseitigung spezifische Entartungen
hevorbringen können ..., darum muß der Staatsmann die ungeeigneten
Naturen auskämmen, bevor er daran geht, mit den geeigneten den Staat
zu weben.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 51-53 |
Für den moderne Leser - der zurückblickt auf die humanistischen
Gymnasien der Bürgerzeit und auf die faschistische Eugenik, zugleich
auch schon vorausschaut ins biotechnologische Zeitalter - ist die Explosivität
dieser Überlegungen unmöglich zu verkennen. Was Plato durch
den Mund seines Fremden vortragen läßt, ist das Programm einer
humanistischen Gesellschaft, die sich in einem einzigen Voll-Humanisten,
dem Herrn der königlichen Hirtenkunst, verkörpert. Die Aufgabe
dieses Über-Humanisten wäre keine andere als die Eigenschaftsplanung
bei einer Elite, die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden
muß.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 54 |
Der hiermit als selbständige Publikation vorgelegte Text
hat in der deutschen Öffentlichkeit während der Monate September
und Oktober 1999 das prekäre Privileg erfahren, als Ausgangspunkt
einer erregten Debatte zu dienen.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 57 |
Der Leser sollte darüber informiert sein,
daß diese Rede zuerst als ein Beitrag zu einem Vortragszyklus über
die Aktualität des Humanismus am 15. Juni 1997 zu Basel ... gehalten
wurde.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 58 |
In einem Punkt nur will ich auf eine schamlose
Strategie der Falschleser aufmerksam machen: Ich habe an einer stark wahrgenommenen
Stelle (S. 46) auf einige Probleme hingewiesen, die sich durch das Auftauchen
der neuen biotechnischen Eingriffsmöglichkeiten für den künftigen
Gattungsprozeß stellen könnten. Ich frage dort, ob auf lange
Sicht so etwas wie eine explizite Merkmalsplanung auf Gattungsebene überhaupt
möglich sei und ob die optionale Geburt (mit ihrer Kehrseite: der
pränatalen Selektion) gattungsweit zu einem neuen Habitus in Fortpflanzungsdingen
werden könnte (...) - und an derselben Stelle füge ich hinzu,
daß in nicht geheuren Fragen dieser Art sich vor uns der evolutionäre
Horizont auftut. Aus diesen Fragesätzen haben einzelne Publizisten
Präskriptionen gemacht.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 59-60 |
Zwischen Mitte September und dem 1. Oktober 1999 ist die Internetadresse,
die neben dem Redetext einige Zusatzdokumente zum Hintergrundverständnis
anbot, über 60000mal abgefragt worden. Ab Mitte Oktober 1999 wird
auch unter derselben Adresse (*www.rightleft.net) ein Informtionsservice
zur Chronologie des Skandals verfügbar sein.
Peter
Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 60 |
Die Kritische Theorie ist
tot.
Peter
Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.09.1999, S. 35 |
Das demokratische Projekt beruht auf dem Entschluß,
die Andersheit der Menschen anders zu deuten und zwar so, daß
die gefundenen Unterschiede zwischen ihnen verworfen und durch gemachte
ersetzt werden. Zwischen finden und machen verlaufen künftig die am häufigsten umkämpften Grenzen: die zwischen Bewahrungsinteresse
und Fortschrittlichkeit ....
Peter
Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 76 |
Wenn Jaspers zu Beginnn der dreißiger Jahre von einem letzten
Feldzug gegen den Adel sprechen konnte, drückte er damit seine realistische
Einschätzung aus, daß von nun an die Unterschiedemacher so
weit sind, den vermeintlichen Unterschiedefindern ihre verbliebenen Rückzugsstellungen
zu entwinden - in der Philosophie, in der Pädagogik, in den Geschlechterverhältnissen
und schließlich und vor allem in der Kunst, der Hochburg des alt-neuen
Unterschieds. Sie sind so weit, weil sie das Generalargument gegen das
Finden von Differenzen in der Natur bis zu dem Punkt abgeklärt haben,
wo jeder Anwender es nach wenigen Übungen einsetzen kann: Was auch
immer als in der Natur Gefundenes präsentiert wird, läßt
sich als von den Interessenten selbst Gemachtes oder Gedeutetes entlarven;
jede Unterscheidung fällt auf den Unterscheider zurück. Es gibt
von jetzt an wirklich keine Tatsachen mehr, es gibt jetzt nur noch Interpretationen.
Pluralität von Interpretationen bedeutet chronischen Streit an der
Basis über den Sinn dessen, was überhaupt als das Basale gelten
soll - denn es gibt auch keine exterenen Bedingungen aus der Natur mehr,
es gibt nur noch »soziale Konstrukte«. Es gibt nur noch konstruierte
Parteien in dem Parlament der Fiktionen, die wir die Öffentlichkeit
nennen.
Peter
Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 76-77 |
Daran hängt die Kette der durchsetzenden revolutionären
Revisionen: Es gibt keine Herren, es gibt nur Unterwerfungsprozesse; es
gibt kein Talent, es gibt nur Lernprozesse; es gibt kein Genie, es gibt
nur Produktionsprozesse. Es gibt keine Autoren, es gibt nur Programmierungsprozesse
- und programmierte Programmierer.
Peter
Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 77 |
Unsere politische Kultur als ganze ist auf der Negation der ersten
anthropologischen Differenenz aufgebaut - wir wollen nichts mehr von Göttern
hören, die in Menschen nachhaltig anwesend sein könnten und
die inmitten der Gattung einen Unterschied zwischen Gottmenschen und bloßen
Menschen zu bedingen vermöchten.
Peter
Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 77-78 |
Auch mit der zweiten Form der anthropologischen Differenz, der
zwischen dem Heiligen und der profanen Menge, haben wir Moderne nicht
mehr viel Geduld.
Peter
Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 78 |
Die moderne Gesellschaft hat ihrer Logik gemäß
ganz recht daran getan, die Heiligen durch die Spitzensportler zu ersetzen
- und die sündige Mehrheit durch die Zuschauer. Überdies hatte
schon das Christentum die Idee des Heiligen ins Kollektive entwickelt
und in der communio sanctorum die Denkfigur jener »christlichen
Demokratie« vorbereitet, die in der Moderne zu einer Fraktion unter
anderen werden sollte. In ihr ist jene »gute Masse« als Ensemble
von gehorsamen Einzelnen vorgedacht, die als die wahre Masse aus revolutionären
Kooperateuren in den kanonischen Schriften der Linken wiederkehren sollte.
Die Maler der Renaissance haben den Übergang ins homogen Menschliche
vorweggenommen, als sie im 15. Jahrhundert damit begannen, die Personen
der Heiligen Geschichte ohne die bis dahin obligaten Heiligenscheine darzustellen.
Wer vom Verlust der Aura redet, handelt von dieser Ebbe der Transzendenz.
Das Jenseits ist in der Moderne bis zur Unkenntlichkeit diskret geworden:
Gott verzichtet jetzt nicht nur auf seine Fähigkeit, sich in
einem singulären Menschen zu verkörpern, er verliert offenbar
auch das Interesse daran, durch gewisse Einzelne hindurchzuleuchten.
Peter
Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 79 |
Was die universellste Figur der anthropologischen
Differenz angeht, die zwischen dem Weisen und der Menge - eine Differenz,
ohne welche keine der historischen Hochkulturen auskam -, so ist sie auf
dem Boden Europas und der USA in kaum zweihundert Jahren durch eine doppelte
Aufklärung ausgelöscht worden: Der erste Schlag gegen das Konzept
des Weisen wurde von der Evolutionstheorie geführt, die das Prädikat
sapiens aus der Opposition zum Terminus insipiens vulgus
herausgenommen hat, um es geradewegs und ohne pädagogische Skrupel
zum Gattungsnamen zu machen: homo sapiens sapiens. Man sieht hier,
wie der szientistische Egalitarismus den elitären Philosophen mit
einem Ausdruck zweimal vor die Füße spuckt. Den anderen Schlag
führte die moderne Kritikkultur, indem sie den Weisen durch den Intellktuellen
ersetzte ....
Peter
Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 79-80 |
Die Sonne ist der absolute Sponsor; und deswegen
muß ein Aufklärer die Sonne nachahmen, weil eine Aufklärung,
die mehr nimmt als gibt, letzten Endes gar keine ist - mit anderen Worten:
Aufklärung ist nur als angewandte Großzügigkeit möglich.
Peter
Sloterdijk, Die Sonne ist der absolute Sponsor, DCTP.TV (Gespräch
vor dem Schloß Elmau), 15.10.2000 |
Wenn ich von Selbstversuch
spreche, denke ich an ... die homöopathische Bewegung, die auf Samuel
Hahnemann zurückgeht. Dieser erstaunliche Kopf hat im Jahr 1796 ...
erstmals das Primzip des effektiven Heilmittels formuliert. Zudem war
er einer der ersten Heiler, die auf die moderne Ungeduld der Patienten
mit adäquaten ärztlichen Angeboten zukamen. Seiner Überzeugug
nach bestand für den Arzt die Notwendigkeit, sich selbst mit allem
zu vergiften, was er später den Kranken zu verordnen gedenkt. Von
dieser Überlegung stammt das Konzept des Selbstevrsuchs: Wer
Arzt werden möchte, muß Versuchstier sein wollen.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 8 |
Der tiefere Grund für diese Wendung zum Experimentieren am
eigenen Leib ist in der romantischen Idee des aktiven Bezugs zwischen
Bild und Sein zu finden. Hahnemann war der Ansicht, daß die Wirkungen
der Dosis beim Gesunden und beim Kranken sich spiegelbildlich zueinander
verhalten. Dem liegt eine anspruchsvolle Semiotik des Arzneimittels zugrunde:
Der große optimistische Gedanke der romantischen Medizin, zu der
die Homöopathie wesentlich gehört, besteht ja darin, daß
eine Abbildbeziehung zu unterstellen sei zwischen dem, was die Krankheit
als Phänomenganzheit ist, und den Effekten, die ein pures Mittel
am gesunden Körper hervorruft. Die Homöopathie denkt auf der
Ebene einer spekulativen Immunologie. Und insofern Immunprobleme immer
mehr ins Zentrum der künftigen Therapeutik und Systemik rücken
werden, haben wir es mit einer sehr aktuellen Tradition zu tun, obschon
die Wirkungsweise der homöopathischen Dosen weiterhin im dunkeln
bleibt.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 8-9 |
So gesehen gehört die Formulierung meines
Buchtitels eher in die Traditon der romantischen Naturphilosophie, genauer
der deutschen Krankheitsmetaphysik, als in die Linie der französischen
Diskurse über den zerstückelten Körper. Aber mehr noch
geht er natürlich auf Nietzsche zurück, der gelegentlich mit
homöopathischen und häufig mit immunologischen Metaphern gespielt
hat. Nicht umsonst läßt Nietzsche seinen Zarathustra zur Menge
sagen: »Ich impfe Euch mit dem Wahnsinn«; auch das ominöse
»Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, hat einen
durch und durch immuntheoretischen Sinn. Nietzsche sah sein ganzes Leben
als eine Impfung mit Dekadenzgiften an und versuchte, seine Existenz als
integrale Immunreaktion zu organisieren. Er konnte sich nicht mit der
gepanzerten Harmlosigkeit des letzten Menschen abfinden, durch die sich
dieser gegen die Infektionen der Zeitgenossenschaft und der Geschichte
abschirmt. Daher trat er in seinen Schriften als ein Provokationstherapeut
auf, der mit gezielten Vergiftungen arbeitet. Diese Konnotationen klingen
in meinem Titel mit.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 9 |
Auch muß man zugeben, daß die Homöopathie aufgrund
ihres Zusammenhangs mit den reformistischen Lebensphilosophien des Kleinbürgertums
eine Imago besitzt, die mit gewagtem Denken schelcht verträglich
ist. Dennoch zeigen sich im Hinblick auf Hahnemanns Person auch andere
Züge. Er war ein Virtuose der Selbstvergiftung. Er hat seinen Körper
geprüft, getestet belastet, aufs Spiel gesetzt in einer Weise, die
aus ihm eine große Orgel der Krankheitszustände gemacht hat.
Er hat die Dekonstruktion der Gesundheit als psychosomatisches Experiment
an sich selber durchgeführt. Das hat eine Dämonie eigenen Ranges,
die sich schwerlich vergleichen läßt mit den zum großen
Teil geborgten Unheimlichkeiten, aus denen die Autoren der Moderne ihre
Exzesse geschöpft haben. Ich warne vor der Unterschätzung des
Gefährdungspotentials der homöopathischen Medizin. Es ist ein
sehrkomplexer und durchaus nicht harmloser Ansatz, der sich unter einer
biederen Maske verbirgt.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 10 |
In Indien ist ein neues Kapitel aufgeschlagen
worden, ich habe eine radikale Umstimmung erlebt, ich habe Impulse aufgenommen,
von denen ich bis auf den heutigen Tag lebe, besser gesagt: von den Metamorphosen
dieser Impulse, denn die Anregungen von damals sind längst wieder
anonym geworden, sie haben sich ein paarmal gedreht und sich in eine eigensinnige
Richtung entwickelt. - Eines ist sicher: In Indien war ich einer Einstrahlung
ausgesetzt, die lange nachwirkte. Ohne die Alchemie, die dort vor sich
gegangen ist, dieses Herausspringen aus der alteuropäischen Melancholie
... wäre meine Schriftstellerei in ihrer Anfangszeit nicht zu denken.
Es gibt in ihr, besonders in den Büchern der achtziger Jahre, eine
Art von Hintergrundstrahlung, ein Echo auf den vitalen Urknall, der damals
passiert ist.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 16-17 |
Was Kritische Theorie im Habermas-Stil eigentlich ist und seit seit
jeher war: der Entwurf einer Zivilreligion für die deutsche Nachrkriegsgesellschaft
auf der Basis eines intersubjektiven Idealismus. Zivilreligionen sind
Entwürfe für erwünschte Illusionen.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 64 |
Zwischen symbolischen Operationen und Wahrnehmungsakten
klafft ein Graben, den man im allgemeinen unbemerkt überwindet, weil
er von der alltäglichen Sprachroutine zugeschüttet wird. Die
einfachste Meditation, die elementarste Sensibilisierungsübung bringt
zu Bewußtsein, daß zwischen der sinnlichen Gewißheit
- besser gesagt zwischen der »primitiven Gegenwart«, ein Ausdruck,
der sich bei dem Neu-Phänomenologen Hermann Schmitz findet - auf
der einen Seite und den symbolischen Operationen, die wir in Sätzen
ausführen, auf der anderen kein Kontinuum besteht.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 88-89 |
Zunächst sind Menschen einbezogen in eine bipolare Sphäre,
einen intim getönten Beziehungsraum, den es nur geben kann kraft
der Zugehörigkeit und der Zugewandtheit von Zusammenlebenden zueinander
- einen Nähe-Raum also, den man kaum bemerkt, solange man ihm angehört,
und den man vermißt, wenn man ihn verloren hat. Damit Sphären
als solche auffallen, müssen sie zerplatzt sein, und erst als verlorene
werden sie theoriefähig.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 143 |
Mir geht es ... darum, Menschen als Teile eines akuten Beziehungsgeheimnisses
zu beschreiben. Darum sage ich, es gibt keine Individuen, sondern nur
Dividuen es gibt die Menschen nur als Partikel oder Pole von Sphären.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 144 |
Ich lasse die ganze Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen. ....
Der Spuk fällt weg, wenn wir mit der Zwei beginnen. Mit dem Denken
der Zwei beziehe ich den Standpunkt einer minimalpluralistischen Ontologie.
Was ich die Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische Form,
als Zweieinigkeitsstruktur gegeben.
Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod,
2001, S. 147 |
Man muß das Vorurteil überwinden, das in den Köpfen
des veralteten Kritizismus festsitzt, das Interesse am Raum sei konservativ
und gegenmodern, das an der Zeit dagegen progressiv und emanzipatorisch.
Peter
Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 256 |
Ich möchte im folgenden einige Argumente
dafür zusammentragen, daß Niklas Luhmanns Werk eine reale und
radikale Vermehrung des Patrimoniums moderner Theoriekultur verkörpert.
Luhmann ist darum ... ein Autor im präzisen Sinn des Wortes, weil
er sich einen Namen gemacht hat als ein Vermehrer des vor ihm erreichten
Bestands der Kunst. Deswegen wird der Ausdruck »nach Luhmann«
nicht eine von den üblichen Verabschiedungen vergangener Positionen
im Namen des bloßen Zeitfortgangs bedeuten, sondern - dessen bin
ich mir sicher - eine authentische Schwellenformel. Nach Luhmann - das
ist der Name für einen Einschnitt, eine epoché, im
traditionellen Sinn des Wortes, die sowohl die Zäsur als auch die
Zeit nach ihr bezeichnet. Wer nach einem Vermehrer lebt, muß als
Nachkomme Zusätzliches leisten. Man wird in Zukunft, um auf der Höhe
der Kunst zu sein, asich die Luhmannsche Lektion anmerken lassen müssen
....
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 82-83 |
Ich habe soeben den Ausdruck Luhmansche Lektion gebraucht, ohne
zu verkennen, daß ich damit eine kaum abzuleistende Hypothek auf
die folgenden Überlegungen genommen habe. Es ist bei einem Werk vom
Umfang des hier behandelten von vorneherein klar, daß auch ein geduldiger
Rezipient nur mehr oder weniger privare Exzerpte aus einem kaum überschaubaren
Diskursuniversum kommentieren kann. Es bleibt uns hier nur die Zuflucht
zu einer Analogie, von der ich hoffe, daß sie Luhmann ehrt, ohne
seine Leser zu kränken, nämlich der Hinweis auf das Phänomen
des Sprachenlernens: Es ist eine Trivialität, daß nicht zwei
Kinder in einer Population beim Spracherwerb mit genau denselben Satzvorkommnissen
konfrontiert sind, weil jede natürliche Sprache von ihren Benutzern
unvorhersehbar variantenreich und ideolektalisch gefärbt verwendet
wird, zudem nicht selten fehlerhaft; und doch abstrahieren fast alle Kinder
aus den verschiedensten Kollektionen von Mustersätzen mehr oder weniger
präzise die Grammatik ihrer Muttersprache, so daß sie zumindest
innerhalb ihres Milieus oder ihrer Schicht eines Tages als linguistische
Erwachsene aufeinander zugehen können. Ganz ähnlich steht es
um die Dinge im Archipel Luhmann, wo man aufgrund nicht-identischer Lektüremengen
irgendwann zu einer Art Luhmanngrammatik findet, aufgrund welcher man
sich mit anderen Touristen in Luhmannland - und wohl auch mit den wenigen
wirklichen Einwohnern, sollte man sie treffen, doch halbwegs konsonant
verständigen kann.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 83-84 |
In Anerkennung dieser Schwierigkeiten und nur gestützt auf
die genannten Gründe für hermeneutischen Optimismus, möchte
ich einige Bemerkungen zu Protokoll geben über das, was in eminen
Augen im Feld der Sozial- und Humanwissenschaften das Ereignis Luhmann
ausmacht und dessenthalben die Formel »nach Luhmann« ein Niveau
bezeichnet und nicht nur einen zufälligen Zeitraum nach dem Tod eines
Gelehrten.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 84 |
Ich spreche also über Luhmann als Anwalt des Teufels - eine
Formulierung, die ahnen läßt, daß ich vorhabe, den Luhmannschen
Impuls in eine moral- und metaphysikgeschichtliche Perspektive einzuzeichnen,
genauer in eine mit dem Beginn der Moderne zwar unterbrochene, jedoch
keineswegs beendete Geschichte theologisch determinierter Weltbildkonstruktionen,
deren Sinn es war - wie zu zeigen bleibt -, durch eine Überinterpretation
der menschlichen Freiheit und die damit gesetzte moralische Überbelastung
des Menschen die Zurückführung weltlicher Übel auf die
Sphäre göttlicher Erstursachen zu verhindern.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 84-85 |
Der bipolar ausgestrittene Prozeß vor dem Gerichtshof der
gläubigen Parteien ist eine Falle, in die der solchermaßen
verflüssigte Heilige Geist nicht nicht gehen kann. Er geruht jedesmal,
im Ergebnis eines Prozesses zu wehen, ganz so, als wehte er nicht länger,
wo er will, sondern wo das Verfahren es erlaubt. (Vgl.
G. M. Simpson, Die Versprachlichung (und Verflüssigung?)
des Sakralen. Eine theologische Untersuchung zu Jürgen Habermas'
Theorie der Religion, in: Habermas und die Theologie, hg. von
Edmund Arens, 1989, S. 145f.). Deswegen dürften wir uns. wären
wir katholische Gläubige, der Gewißheit erfreuen, niemals an
Unwürdige zu geraten, wenn wir die Fürbitte von kanonnisierten
Heiligen bei Gott zu unseren Gunsten in Anspruch nähmen. Der prozedurale
Filter garantiert ja, daß in den Rängen der offiziell aufgezählten
communio sanctorum keine Scheinheiligen auftreten und uns diabolische
Simulakren erspart bleiben, genauso wie man bei Kommunikationen gemäß
Habermasschen Spielregeln die Gewißheit genießen darf, daß
nach der Endausscheidung kein Dissenstheoretiker, kein Pluralist, kein
Konstruktivist und vor allem kein Künstler im Kreis der wahrhaft
vernünftig Kommunizierenden mehr dabei sein kann. (Vgl.
Niklas Luhmann, Ich sehe was, was du nicht siehst, in: ders.: Soziologische
Aufklärung, 5, Konstruktivistische Persepektiven, 1970,
S, 228-234; Luhmann führt die strukturelle Intoleranz der Kritischen
Theorie auf ihr Festhalten an alteuropäischen ontologischen Prämissen
zurück; sie ist an einen obsoleten Wahrheitsbegriff fixiert, der
Konvergenz im Objektiven verlangt, weil er von ontologischer Einwertigkeit
[Sein ist] ausgeht und den zweiten Wert [Negation] für die Sphäre
der Reflexion und der intersubjektiven Verständigung über das
eine Wahre reserviert. Die unvermeidliche Folge hieraus ist Zwangskonsensualismus;
dieser drängt den Anderen zwar nicht direkt die eigene Meinung auf,
aber doch ein Verfahren, von dem man dasselbe Resultat erhofft. Die Aussichtslosigkeit
dieser Position hat Gotthard Günther bereits 1968 in einer Renzension
über Habermas Logik der Sozialwissenschaften klar bezeichnet.
Vgl. Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen
Dialektik, 1968, S. 169: »Habermas steht in einer ehrwürdigen,
aber unwiderruflich dem Verfall preisgegebenen Tradition, die nur dort
ihr Leben fristet, wo sie mit längst veralteten Denkweisen arbeiten
kann ....«).
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 87 |
Es bedarf keines großen Aufwands, um plausibel zu machen,
warum ich im folgenden das Muster des Teufelsanwalts von seiner historischen
Quelle abziehe, um es für eine Rolle in einem historisch und sachlich
anders beschriebenen Problemraum neu zu definieren. Es geht hierbei um
das gegenteil von Heiligsprechungsprozeduren gegen das Adamsgeschlecht
im ganzen -, Prozeduren, bei denen die Angehörigen der problematischen
Gattung von alters her in die Position von überforderten Angeklagten
gedrängt wurden. Der Prozeß, um den es in der Geschichte der
christlich-abendländischen Ideen zu tun ist und in dessen Revisionsphase
ich Luhmann als einen assoziieretn Anwalt der Verteidigung auftreten sehe,
ist kein anderer als derjenige, den das paulinische und vornehmlich das
augustinische Christentum gegen den Menschen und seinen transzendenten
Verderber, den Teufel, angestrengt hat, indem es die Gattung der Sterblichen
als Wesen beschrieb, die von einem frühen Moment ihrer Geschichte
an unter die Knechtschaft des peccatum originale (oder der Ersten
Sünde) geraten seien. .... Von augustinischen Tagen an ist die christliche
Anthropologie von einer gravierenden Tendenz zur Überkulpabilisierung
gezeichnet - das kann man längst gelassenen Tons konstatieren, ohne
religionsfeindlicher Gesinnung oder neuheidnischer Lockerungen geziehen
zu werden -, Momente neurotischer Apologetik ausgenommen. Wenn man neben
all den bekannten Gründen für die Loslösung der Moderne
von der alteuropäischen Tradition einen weniger beachteten und doch
sehr triftigen angeben sollte, so läge er ohne Zweifel in dem Umstand,
daß die seit dem 18. jahrhundert sich selbst so nennende Aufklärung
ein permanentes Referndum zur Dekulpabilisierung des Menschen angestrengt
hat - oder doch zumindest so etwas wie eine genartionenübergreifende
Unterschriftensammlung initiiert hat, die auf eine neue Abstimmung über
die menschliche Fundamentalschuld hinarbeitet, eine Sammlung, die wir
inzwischen als die moralkritische Bibliothek der Moderne überblicken
- mit Beiträgen, die von Monatigne bis Cioran und von Bacon bis Luhmann
reichen. Es sei en passant notiert, daß es Odo Marquard ist, der
die Logik dieser Sammlung formuliert hat. (Vgl.
Odo Marquard, Der angeklagte und entlastete Mensch in der Philosophie
de 18 Jahrhunderts, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen,
1981, S. 39-66).
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 88-89 |
In der diskursiven Grundordnung Alteuropas ... ist es daher nicht
so sehr der Teufel, der sich in Verfahren anwaltlich vertreten lassen
müßte, sondern es ist der Mensch, der seinen Anwalt braucht
angesichts der unermeßlichen Schuldbürden, die ihm von seinen
christlichen Anklägern zwischen Paulus und Augustinus bis hin zu
Pascal, Dostojewski und neuerdings von Levinas aufgeladen werden. Denn
wie die europäische Ideen- und Kultgeschichte zeigt, findet sich
die menschliche Gattung insgesamt nach der Vertreibung aus dem Paradies
und dem Kreuzestod des Gottemenschen in einer doppelten Verlegenheit;
zunächst jener, sich mit den Adamskindern für immer in der ersten
Rebellion gegen das Gebot verfangen, und sodann jener, mit den Römern
und anderen Reichs- und Machtmenschen am Gottesmord partizipiert zu haben.
Beides genügt, um die kulpabilisierte Gattung heilsökonomisch
ins Defizit zu bringen, und zwar in so gewaltigem Umfang und bei so aussichtsloser
Überziehung aller Konten, daß die Menschen ohne eine Schuldenerlaß-Aktion
seitens der Gläubigerinstanz nie mehr aus der metaphysischen Schuldenfalle
herausgelangen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 89-90 |
Wenn der Teufel für sich in bezug auf das unübertrefflich
gute Eine und seine Welt überhaupt noch einen Unterschied markieren
will, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Standpunkt
des Bösen zu begeben. (.... Luhmann bemerkt
hierzu, daß es genügt, das Privileg des Einen aufzuheben, um
die moralische Grundevidenz der Moderne zu gewinnen: daß der Beobachter
einer Einheit nicht per se als teuflischer Dissident derselber
gelten muß.) - Bei dieser Lage der Problementwicklung ist
es nützlich, sich an die Formulierungen zu erinnern, mit denen Augustinus
die Kondition der gefallenen Menschheit ausgelegt und für die Jahrhunderte
festgeschrieben hat. (Für das Folgende: De
civitate Dei, Liber XI, 15-17, XII, 1-9, XIV, 11-14.) In ihnen
finden wir erste Zugänge zu einer Problematik, die erst im Scheitelpunkt
der Moderne mit dem erneuten Auftauchen der Frage, ob Selbstbezüglichkeit
bei Mensch und System gut oder böse sei, auf eine neue Antwort drängen
werden. Augustinus hat die strategische Bedeutsamkeit des Sündenbegriffs
für die Stabilisierung des katholischen Universums gegenüber
der antiken Skepisis erkannt und daher mit großem Scharfsinn eine
ontologische Deduktion dessen, was nicht von Gott stammt und von ihm wegführt,
unternommen. Es ... geht ... darum, die Bedingungen der Möglichkeit
des Widerstands gegen das göttloiche Gesetz zu begreifen und in dieser
die metaphysischen Anfangsgründe der sündhaften Dissidenz offenzulegen.
Hier gelangt die augustinische Analyse - ob scheinhaft oder substantiell,
das sei dahingestellt - bis in die Nachbarschaft zu modernen Aussagen,
denn sie bringt es zu einer Art von Tiefendiagnostik über Strukturen
korrupter menschlicher Subjektivität und eo ipso zu Formulierungen,
die man bis heute bei Dialogphilosophen protestantischer, katholischer,
jüdischer und psychoanalytischer Provenienz sowie in Begründungsdiskursen
einer anthropologischen Psychiatrie in bestätigenden Wiederholungen
hören kann. Da die Form der gefallenen menschlichen Subjektivität
in der satanischen präfiguriert ist, genügt es für alles
weitere, beim Ersten Verneiner anzusetzen und ihm bei seiner Sezession
aus dem göttlichen Ganzen zuzusehen. Hier wird die metaphysische
Deduktion der Äußerlichkeit gewonnen.Luhmann fängt als
gewöhnlicher Konservativer an, um mit der Zeit zu dem zu werden,
was eine italiensiche Kolumne einen Avantgarde-Konservativen genannt hat
- man könnte auch sagen zu einem Vertreter eines Genres von Denkern,
die sich der Kunst, kein Priester zu sein, in einer bisher nicht gekannten
Konsequenz gewidmet haben. Intellektuelle, die Luhmann nahestanden, haben
hierzu bemerkt, er habe die klassische Linke methodisch längst links
überholt.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 94-96 |
Der augustinische Satan ... findet alles, was zum Aufruhr nötig
ist, in sich selbst - genauer gesagt: in seinem Vermögen der Freiheit,
seiner wichtigsten Begabung. Kraft dieser kann er, die göttliche
Schöpfung ex nihilio parodierend, sein Nein aus dem Abgrund
eines unmotivierten Willens hervorbringen. Man darf deshalb hier nicht
fragen, warum und woher er den bösen Willen hat. Er will, wie er
will, und weiter nichts. Der Wille ... richtet sich auf sich selbst ...
So beginnt er auf eine freie, ungenötigte und daher allein ihm zurechenbare
Weise für diesmal und für immer mit sich selbst. Und eben dies:
Mit sich selbst den Anfang zu machen, obwohl ein anderer, ein älterer,
ein würdevollerer Anfang zu respektieren gewesen wäre - das
ist nach der Einsicht des Augustinus, und aller Konservativen nach ihm,
der Anfang der Sünde. Das Sündigen ist eine inchoative Operation,
in welcher Originalität und Negativität ineinander verschlungen
sind. Sündigen ist letztlich immer Anfangen mit dem Falschen - auch
wo es nur wie ein Weitermachen erscheint. Es trägt den Charakter
einer »Tathandlung« der Spaltung.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 97 |
Was platonisch als bloßes malum privativum beginnt,
verdichtet sich christlich im Teufels-Ego zu einer malignen Privatheit
von eigenmächtiger und untherapierbarer Intensität. Der Böse
zieht einen eigenen Kreis um die Zwei; sein Kreis steht für die systemische
Geschlossenheit. So wird der Teufel der Herr dieser Welt, zum Herrn der
Selbstbezüglichkeit.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 98 |
An dieser Fehlhaltung erkennen die alteuropäischen Beschuldigungsspezialisten
bis heute ihre Klienten, auch längst nachdem man vom Sündentadel
zur Narzißmuskritik übergegangen ist.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 99 |
Während es seit langem unter Gebildeten zum guten Ton gehört,
sich zu einem methodischen und eventuell zu einem existentiellen Atheismus
zu bekennen, bleibt der entsprechende Asatanismus merkwürdig unterentwickelt.
Der Grund hierfür ist nur scheinbar in dem Umstand zu finden, daß
unter den Modernen ohnedies niemand mehr an den Widersacher glaubt. In
Wahrheit hat die Aufklärung die Kategorie des Widersacherischen in
solchem Maße verallgemeinert, daß deren religiöse Herkunft
okkultiert und durch eine weltliche Besetzung der bösen Funktionsstelle
überformt werden konnte. .... Folgerichtig bleibt im modernen Ansatz
die kulpabilistische Matrix weiter in Gebrauch, die offensichtlich mächtiger
ist als die Differenz zwischen mittealterlicher und neuzeitlicher Metaphysik.
Indessen kommen neue Instanzen und originelle Kandidaten für die
Stelle des Ersten Übels ins Spiel, auf welche die Last des nach wie
vor imposanten Weltbösen verteilt wird: die bürgerliche Eigentumsordnung,
die Klassenherrschaft, der Kapitalsprozeß, die Identitätslogik,
die Tauschabstraktion, der Todestrieb, die perverse Rebellion des Subjekts
gegen die symbolische Ordnung, der objektivistische Subjektivismus der
Neuzeit, der Logozentrismus, die Weigerung, den Vorrang des Anderen zuzugestehen,
die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Macht- und Geldsysteme - und
einiges mehr.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 100-102 |
Nicht nur gilt in der Moderne weiter der Satz, daß groß
irren muß, wer groß denkt; es gilt noch mehr, daß groß
wegräumen muß, wer sich groß behindert sieht. Sobald
das Beiseiteräumen und Umwälzen in großem Stil auf die historiche Tagesordnung gesetzt wurden, entstanden Theorien und Praxen
dessen, was man die Revolutionen (im nicht-astronomischen Wortsinn) nannte,
Bewegungsprojekte mithin, die strukturell nichts anderes bedeuten als
Versuche, Hindernisse zu beseitigen, die sich der Entfaltung einer nach
Vollmacht strebenden Subjektivität in den Weg stellen. Solche Unternehmen
präsentieren sich als Aktivismus des Guten. Modern ist an den Beseitigungsphantasien
dieser Art, daß sie die vormoderne Dämpfung der Gewalt durch
die Gnade nicht mehr kennen. Die Maxime der neuartig verschärften,
radikal-humanistisch motivierten Beseitigungskritik hat Marx frühzeitig
formuliert: »Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht
widerlegen, sondern vernichten will.« (Karl Marx, Zur
Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, 1843/44).
Man kann die Meinung vertreten, daß Luhmanns Werk im ganzen eine
therapeutische Konfession gegen die Versuchung der Intellektuellen durch
die wegräumende Gewalt darstellt. Die lakonischste seiner Antworten
hat er in einem Pressegespräch gegeben: »Es geht doch einfach
nicht, daß man die andere Hälfte beseitigt und sich selbst
an ihre Stelle setzt.« (N. Luhmann, Archimedes und wir, Interviews,
Berlin, 1987, S. 104).
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 102-103 |
Die Stelle der Anwaltschaft muß im Prozeß der Moderne
also ganz anders ausgelegt werden als im katholischen Heiligsprechungsverfahren.
Unter den gegebenen Bedingungen tritt der advocatus dei auf die
Seite des in seiner Entfaltung noch behinderten Subjekts, während
der advocatus diaboli die Partei der Hindernisse ergreift, die
der Gefahr ausgesetzt sind, von den Agenten der expansiven Subjektivität
weggeräumt zu werden. Dies scheint während der Hochzeit aufklärerischer
Publizistik ein hinreichend klares Szenario zu ergeben, das auf der Seite
Gottes den Fortschritt zeigt und auf der Seite des Teufels die Reaktion.
Tatsächlich verstehen sich zahlreiche progressive Intellektuelle
in modernisierten Gesellschaften als parakletische Funktionäre, indem
sie agitierend und stellvertretend das Vorsprecheramt in bezug auf noch
nicht ausreichend zur Selbstvertretung befreite Gruppen wahrnehmen. Hingegen
plädieren die Sprecher der sogenannten Reaktion für etablierte
Interessen, von denen sie behaupten, sie seien mit den Ordnungsaufgaben
des Ganzen enger verwoben als die progressive Frivolität zu begreifen
vermag.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 103 |
Die Denkform, die diesen Schematisierungen zugrundeliegt, ist,
wie man sieht, auch in den modernen Konflikszenarien kulpabilistisch und
prozessualistisch geprägt, obschon die Rollen anders verteilt sind
als in der mittelalterlichen Prozeßordnung. Insbesondere ist sie
nach wie vor an einer starken Konzeption von Freiheit interessiert - jetzt
aber unter dem Triumphtitel des Subjekts. Gefragt bleibt eine Täterposition,
die hohe und höchste Schuldzurechnungen aushält. Der Übertreibung
der Subjektivität korrespondiert die Zustellung übertriebener
Anklagen wegen unterlassener oder verhinderter Weltverbesserung. Darum
ist es plausibel, wenn die in solchen Prozessen engagierten Intellektuellen
nicht nur an Rhetoriken und Routinen alteuropäischer Rechtsstreitigkeiten
anknüpfen, sondern ebensosehr am Habitus des priesterlichen Mittlertums
und mehr noch an der Sorge um die Abwehr von Häresien.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 104 |
Ich möchte nun zeigen oder zumindest andeuten, wie die Interventionen
Niklas Luhmanns in diesen Szenarien eine radikal veränderte Wahrnehmung
herbeiführt. Dabei braucht nicht verschwiegen zu werden, daß
Luhmanns Ausgangspunkt, lebensgeschichtlich und vortheoretisch, wohl eher
auf der Seite zu suchen ist, der ich soeben als leitendes Interesse die
Verteidigung der Hindernisse gegen ihre Beseitiger zugesprochen habe.
Luhmann fängt als gewöhnlicher Konservativer an, um mit der
Zeit zu dem zu werden, was eine italiensiche Kolumne einen Avantgarde-Konservativen
genannt hat - man könnte auch sagen zu einem Vertreter eines Genres
von Denkern, die sich der Kunst, kein Priester zu sein, in einer bisher
nicht gekannten Konsequenz gewidmet haben. Intellektuelle, die Luhmann
nahestanden, haben hierzu bemerkt, er habe die klassische Linke methodisch
längst links überholt. Gerade weil Luhmann der rebellische oder
revolutionäre Impuls existentiell fremd geblieben ist; weil ihm das
Wegräumenwollen von expansiven Ansprüchen einer aufsteigenden
Gruppensubjektivität entgegenstehenden Hindernissen auf vitaler Ebene
unzugänglich war; weil er durch eine unerklärliche Bescheidenheit
für sich selbst und seine Umgebung nichts finden konnte, was unter
allen Umständen umgewälzt und ausgeräumt werden sollte,
war er dazu disponiert, sich freizumachen von allen positiv oder hypokritisch
parakletischen Rollen. Er ist darum vielleicht der einzige wirkliche Asatanist
dieses Jahrhunderts, weil er sich an keinem Sektor oder, wie er selbst
sagen würde, an keinem Subsystem des sozialen Multiversums als solchem
stößt, sondern jedem Bereich das Seine zu geben bereit ist,
ohne von Beseitigungsphantasien bedrängt zu werden.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 104-105 |
Die Konsequenzen aus diesem Ansatz reichen außerordentlich
weit. Man greift sie am deutlichsten in der für Luhmann charakteristischen
Wahl einer Schlüsselunterscheidung: der von System und Umwelt - einer
Differenz, die eben eine Relation bezeichnet, an der sich keine Seite
für Eliminierungen eignet. In dieser ersten Distinktion ist ein Aufeinanderbezogen-Sein
der Pole mit ausgesagt, dem man durch Reflexe des Wegräumens eines
vermeintlich widersacherischen Teils nicht gerecht werden kann. Aber auch
der Systembegriff für sich trägt schon die Spuren einer gegen-parakletischen
Ironie an sich, denn wer nach 1960 ... als Systemtheoretiker aufzutreten
wagte, mußte sich mit einer Semantik auseinandersetzen, nach welcher
Systeme den Inbegriff von entfernungswürdigen Hindernissen bezeichneten
- von der Weimarer Republik an, in der die Abschaffung des »Systems«
im rechten wie im linken Jargon als eine Heilsbedingung galt, bis in die
siebziger und achtziger Jahre der Bundesrepublik (Bonner
Republik; HB), in der die Terminologie der Frankfurter Schule und
des Neomarxismus in all seinen Spielarten mehr oder weniger diskrete Beseitigungsphantasien
in bezug auf das hervorrief, was man dem Kapitalsystem, der Tauschlogik,
den nicht-idealen Gesprächssituationebn und ähnlichen Auskristallisierungen
des Widersacherischen zur Last legen wollte. Am deutlichsten trat der
parakletische Exterminismus am radikalen Flügel der Studentenbewegung
hervor, der mit dem Phantom des bewaffneten Widerstands rang. Widerstandsmotive
sind strukturell auch präsent im Theoriedesign der Habermasschen
Kommunikationstheorie, sofern in dieser zwischen der »Lebenswelt«
und den sie belagernden »Systemen« fast wie zwischen Heil
aus Eigenem und Unheil durch Fremdes unterschieden wurde. (Im
wesentlichen ist die Krudität des Gegensatzes von Lebenswelt und
System auf das nur abgedrängte, nie geklärte Verhältnis
von Habermas zu Heidegger zurückzuführen, der seinerseits schon
zwischen der Sphäre des dichterischen Wohnens und jener der Verwüstung
durch das Ge-stell unterschieden hatte. Wer diese Differenz unbewußt
übernimmt, erbt damit nicht allein neu-mythische Figuren, sondern
auch das moralische Dilemma des Dualismus zwischen den Seinsregionen des
eigentlichen und des uneigentlichen Daseins.)
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 105-106 |
Gegenüber diesen Vorgaben, in denen unter dem selbstehrenden
Titel der Kritik eine okkultierte Lehre vom Widersacherischen sich akademisch
etabliert hatte, und zwar bezeichnenderweise nicht in den theologischen
Fakultäten, sondern in den soziologischen Fachbereichen, mußte
Luhmann seine primäre Intuition in langwierigen Prozessen durchsetzen;
daß man, um Systeme wirklich zu untersuchen, diesen die Toleranz
entgegenzubringen hat, als das erscheinen zu dürfen, was sie sind,
ohne ihnen ihr So-Sein oder So-Funktionieren vorzuwerfen und ohne ihnen
entgegenzuhalten, daß sie nicht sind, was sie nicht sein können.
In diesem Sinn bezeichne ich Luhmann als einen advocatus diaboli
von einer bisher nicht gekannten Qualität. Die Pointe seiner Anwaltschaft
für das Systemische liegt darin, daß er den Bereich des Systemhaften
als solchen entsatanisiert und ihn freihält von der parakletischen
Ungeduld, die beseitigen möchte, was dem Begehren des Subjekts nicht
unmittelbar und dem langen Marsch der vorgeblich höherstufigen Subjektivitäten
zur Weltvernunftherrschaft auch nicht so leicht mittelbar eingeordnet
werden kann. Ich will damit nicht sagen, Luhmanns Ansatz sei ganz ohne
Beispiel gewesen, denn etwa beim frühen Plessner, als er die »Grenzen
der Gemeinschaft« herausstellte, oder bei Gehlen, als er von der
»Geburt der Freiheit aus der Entfremdung« (Arnold Gehlen,
Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: Archiv
für Rechts- und Sozialphilosophie, 40, 1952) handelte, waren
analoge subjektivitätskritische Denkbewegungen an den Tag getreten
- im übrigen mit einer ähnlichen Ironie gegen die Bedürfnisse
der politisierenden Unmittelbarkeit und mit einer vergleichbaren Aufmerksamnkeit
für den systemischen Eigensinn von sozialen Großstrukturen.
Aber nie zuvor ist der methodische Atheismus der neuzeitlichen Wissenschaften
von einem so weit gehenden Asatanismus ergänzt worden. Es ist ein
nahezu neuer Ton in den Sozialwissenschaften, daß nicht mehr mit
einem peccatum originale, mit einem Ersten Verbrechen, oder einem
anfänglichen Sturz in die Entfremdung begonnen wird. Etwas hiervon
klingt an im Titel eines Luhmann-Aufsatzes über den Wandel juristischer
und geschichtsphilosophischer Deutungen zum Ursprung des Privateigentums
zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert: »Am Anfang war kein Unrecht«.
Zieht man in Betracht, wie zurückhaltend Luhmann die Überschriften
seiner Bücher und Aufsätze zu formulieren pflegte, wird die
Vermutung legitim, daß im Titel dieser rechtssemantischen Spezialuntersuchung
wohl auch ein Hauch von Bekenntnis mitspielt. Mehr noch macht sich in
dem zweiten Primärgedanken Luhmanns, dem Theorem von der Ausdifferenzierung
der Subsysteme, die Sorge des Autors um den Schutz der Theorie vor Übergriffen
des Ressentiments bemerkbar: Ihm standen angesichts einer hundertjährigen
Geschichte aufgebrachter Soziologien die Risiken vor Augen, die von ökonomistisch
totalisierenden Beschreibungen der Beziehungen zwischen den sozialen Teilsystemen
ausgehen. Das Ausdifferenzierungstheorem dient auch als eine Hygienemaßnahme,
die vor erneuten wilden Anwendungen des Schemas von Basis und Überbau
schützen soll.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 106-108 |
Die methodische Unschuldsunterstellung in bezug
auf Systeme in ihren Umwelten läßt sich nur durchhalten, wenn
auf der Seite des Analytikers eine spezifische Abstinenz gewahrt wird
- ich möchte sie als eine systemtheoretische Gelassenheit bezeichnen,
auf die Gefahr hin, daß eine Versuchung aufkommen könnte, den
Namen Luhmanns mit dem von Meister Eckhart und Heidegger in einem Atemzug
zu nennen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 108 |
Wenn gelegentlich die These zu hören war, Luhmann sei »eigentlich«
kein Soziologe, sondern ein Philosoph in der Maske des Sozialwissenschaftlers,
so ist an dieser Feststellung soviel wahr, daß Luhmann die theorieasketische
Grundlage der Phänomenologie mit seinen Mitteln wiederholt: die Einklammerung
der vitalen Intentionen und der existentiellen Stellungnahmen des Theoretikers,
damit »die Welt und alles, was ich von ihr weiß, zu bloßem
Phänomen werden kann« (Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen
und Pariser Vorträge, 1931, S. 176). Man könnte auch sagen,
daß er die epoché in bezug auf eine andere Phänomen-Menge
erneut erfunden hat. Handelt es sich bei der ersten Menge um das Bewußtseinsleben
eines »Subjekts«, das seine Vorstellungstätigkeit untersucht,
als wäre es nicht seine eigene, so bei der zweiten um das Systemleben
im allgemeinen, das in neutraler Einstellung durchgenommen wird, als käme
es den Agenten der Systemanalyse nicht auf sich selber an. Dazu gehört
jene Unschuldsvermutung gegen Systeme als solche, die deren nicht-zelotisches
Studium allererst möglich macht.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 108-109 |
In diesem doppelt »eopochalen« Entübelungsmanöver
gilt es nun, die heiße Stelle genauer ins Auge zu fassen - ich meine
die Frage nach der Selbstbezüglichkeit, von der wir durch die oben
gemachten Andeutungen wissen, daß sie für die metaphysische
Verübelungsprozedur in bezug auf den Menschen und seine irdische
Civitas von ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist. Ich muß mich
hier mit dem Hinweis begnügen, daß das Verdikt gegen menschliche
Selbstbezüglichkeit zu den Konstanten der moralkritischen Diskurse
in Europa von der Spätantike bis in die Gegenwart gehört und
hier ein wie immer zerklüftetes und in sich gedrehtes Kontinuum von
Anti-Narzißmus-Optionen anzunehmen ist.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 109-110 |
Angesichts dieser durchgehaltenen Serie von Schelten gegen überwertige
und schädliche menschliche Selbstreferentialität scheint der
Anteil des Teufels auch in moderner Zeit klar der Subjektseite zugewiesen
zu sein. Gegen diese Distribution des Teufelsanteils mußte nun ein
Asatanismus zweiten Typs seine Mittel ansetzen und den Nachweis führen,
es habe mit dem viel geschmähten Selbstbezug des Subjekts oder anderer
armer Teufel eine so durchaus üble Bewandnis doch nicht. Man darf
behaupten, daß gerade an dieser Stelle die für Luhmann typische
Abstinenz von moralisierenden Begriffsbildungen ihre besten Effekte zeigt.
Indem Luhmann das gesamte Feld des Relationsverhaltens von Systemen zwischen
Selbstreferenz und Fremdreferenz nüchtern exponiert und zur Neubeschreibung
freigibt, bewirkt er eine erheiternde De-Eskalation in allem, was die
Kulpabilisierung des Menschen anbelangt. Die Ironie des Verfahrens besteht
darin, die Menschen von der weltbildarchitektonisch motivierten Überbelastung
als angeblich unmäßig in sich eingekrümmte Subjekte zu
emanzipieren und sie teilnehmen zu lassen an der Quasi-Unschuld naturwüchsiger,
systemisch bedingter Selbstreferentialität, von der wir wissen, daß
sie nur eine notwendige und unvermeidliche Ausschlagrichtung eines allgemeinen
Referenzverhaltens darstellt, das nicht anders kann, als ständig
zwischen Selbstpol und Fremdpol zu oszillieren - und dies bei einem systemnotwendigen
Primat des Inneren.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 111-112 |
Der Abbau der Subjektüberlastung hat also eine zugleich epistemologische
und moraltheoretische Implikation, weil nun Selbstreferentialität
- als allgemeiner Systemaspekt aufgefaßt - weder exklusiv der menschlichen
Subjektivität zugeschrieben werden muß noch mit einem Narzißmusverdacht
a priori zu belegen ist.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 112 |
Das wichtigste Entlastungsmotiv wird von Luhmann aus der modernen
Biologie und Metabiologie übernommen, in der sich zeigt, daß
Selbstbezüglichkeit nicht etwas ist, was erst nach der Entstehung
von Ich-Bewußtsein ins Spiel käme - als wäre sie ein parasitärer
Zusatz zu einem vorgängig reflexionsfrei eingerichteten organismischen
Sein, gewissermaßen eine unberechtigte, genießende Introversion,
die sich von einer älteren selbstlosen Norm entfernte. Vielmehr treten
Selbstverhältnisse schon auf der ersten Stufe des Lebens auf, insofern
dieses als Inbegriff selbstschöpferischer Prozeßordnungen beschrieben
werden muß. Das Selbst der Autopoiesis lebendiger Systemeinheiten
spiegelt eher die Güte der gelungenen Schöpfung als eine narzißtische
Revolte wider - denn Organismen sind als Intelligenzverkörperungen
verfaßt, an denen sich die Doppelbewegung des Selbst- und Fremdbezugs
von Anfang an beobachten läßt. In höheren Organismen kann
Selbstbezug auch die Form von Sich-Erleben und symbolvermitteltem Selbstbewußtsein
annehmen. Doch wenngleich Organismen Materialisationen ihres Intelligenz-
und Erfolgdesigns darstellen und, dementsprechend, auf die permanente
Abtastung und Nachregelung von eigenen Zuständen angelegt sind, so
sind sie nirgends darauf eingerichtet, sich in sich selbst vollständig
zu reflektieren oder zu repräsentieren. Sie sind, um es anders auszudrücken,
nicht darauf ausgelegt, die Wahrheit über sich in sich zu haben.
Dieser Sachverhalt läßt sich im Blick auf das anspruchsvollste
Beispiel am populärsten erklären: Es gibt kein menschliches
Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis
ins einzelne wüßte, wie es selbst funktioniert, geschweige
denn eines, das sich bei laufendem Betrieb eine komplette Repräsentation
seiner historischen und strukturellen Betriebsbedingungen - im Sinne eines
hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes -
gegenwärtig halten könnte. .... Es existiert in dieser Hinsicht
weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt noch ein
freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuß prädisponiertes
Ego, das als Zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mirt
allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber
es exstieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder mißlungene Autopoiesen,
die - wenn man ihnen abhelfen will - in therapeutischer Einstellung studiert
werden müssen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 113-115 |
Luhmann ist also ein Anwalt des Teufels in dem paradoxen Sinn,
daß er die Diabolizität des potentiell Diabolischen als solche
in Frage stellt. Wenn das »Subjektive« nicht das Willkürliche
ist, ist die Subjektwillkür nicht per se das Böse. »In
der Realität gibt es keine Willkür, die gleichsam am Subjekt
haftet.« (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft,
1997, S. 876). Luhmann verteidigt die Selbstbezüglichkeit der Systeme,
indem er an ihnen nicht die schuldhafte Selbsteinkrümmung und ihre
unmoralische Abwendung vom Anderen betont, sondern sich in Ruhe dem Nachweis
widmet, daß es anders als vorrangig selbstbezüglich bei Systemen
ohnedies nicht geht. Er empfiehlt sich infolgedessen als der Anwalt einer
naturalisierten oder besser: systemisch neutralisierten Selbstreferentialität,
welche für ihn schlicht eine Phase in einer permanenten Schwingung
darstellt - einen Sachverhalt, den er in seiner im avanciertesten Sinn
des Wortes philosophischen Wiener Vorlesung vom Mai 1995 über Husserls
Wiener Vorlesung vom Mai 1935 Die Krisis des europäischen Menschentums
und die Philosophie als eine »bistabile Oszillation« beschrieben
hat. Die Pointe dieser Auffassung besteht darin: Sie ersetzt das philosophie-intern
übliche Ausgehen von einem Prinzip, es heiße Gott oder Subjekt
oder Verständigungsprozeß, durch eine gedächtnisgestützte
Pendelbewegung in einem System - Luhmann nennt sie das bistabile Schwanken
zwischen Innen- und Außenreferenz -, bei der das Problem einer »Erbsünde«
schlechterdings nicht auftaucht. Die kontinuitätsermöglichende
Oszillation stellt aus ihrem Eigenablauf heraus sicher, daß das
System sich von den beiden Gefährdungen zurückzieht, die bei
einer einpoligen Orientierung drohten. Ein korrekt funktionierender Referenz-Oszillator
... verliert sich weder ganz an die Welt als den Fremdreferenzpol, noch
versinkt er ganz in sich selbst als den Selbstreferenzpol. Vielmehr weicht
er kraft einer permanenten Selbstjustierung sowohl vor dem Positivismus
als auch vor dem Autismus zurück, und zwar gerade dann, wenn er sich
einem der Pole aufgrund einer internen Unbalance seiner Lerngeschichte
allzu weit angenähert haben sollte.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 115-116 |
Ich darf mir hier die Anmerkung gestatten, daß Luhmanns
Wendung vom »bistabilen Schwanken« bei all ihrer technischen
Kühle ein gewisses Pathos an sich trägt, das sich verdeutlicht,
wenn man sich bewußt macht, daß sie formal konvergiert mit
Heideggers Ausführungen über den Unterschied zwischen der metaphysisch
ausgelegten Bewegung in der Ruhe und der nachmetaphysisch überdachten
Ruhe in der Bewegung - mehr noch, daß hier sich auf die diskreteste
Weise ein gleichsam buddhistischer Zug in die Prämissen systemtheoretischer
Vernunft einprägt. .... Wenn Heidegger sich für sein metaphysikverwindendes
Denken reklamierte, die Antwort auf Platons im Sophistes gestellte
Frage zu kennen, wie das Sein oder das Ganze zugleich in Ruhe und in Bewegung
sein könne, indem er das Wort von der Gelassenheit neu ins Spiel
brachte - ein Ausdruck, der eine Abdankungsform des absoluten Wissens
bezeichnet -, so hat Luhmann die Gelassenheit noch weiter aus der Pathoszone
herausgesteuert, indem er Wert legte auf die Feststellung, daß einem
Bewußtsein ohnehin nichts anderes übrigbleibt, als von jedem
seiner intern erreichten Zustände aus weiterzumachen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 116-117 |
Ich habe anfangs den etwas verfänglichen Ausdruck »Luhmanns
Lektion« gebraucht und gleichzeitig vor möglichen Implikationen
dieser Wendung gewarnt. Inzwischen scheint es, daß zumindest ein
Fragment oder eine Sinnschicht dessen, was damit gemeint ist, ein wenig
deutlicher geworden sein könnte. Luhmann, als resolut moderner, asatanistischer
Anwalt des Teufels, ist der Verteidiger einer komplexer als je zuvor beschriebenen
sozialen Normalität - einer Normalität, von der nun von vorneherein
ausgemacht ist, daß sie durch hohe Komplexität und Verfangenheit
aller Systeme in immanent unausweichlichen Paradoxien charakterisiert
ist. Die Luhmannsche Normalität ist die Normalität des Ungeheuren,
das sich in Selbstordnungen des Lebendigen eine Verfassung gibt - vielmehr
zahlreiche lokale Verfassungen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 117 |
Wenn ich also für Luhmanns Lektion einen zusammenfassenden
Ausdruck bilden sollte, so würde ich vorschlagen, seinen Beitrag
zur Theoriekultur der Zukunft als einen Fundamentalinnozentismus zu bezeichnen
- ein Worthybrid, der einen juristischen und einen philosophischen Anteil
enthält. Innozentismus meint eine unter guten Anwälten und Therapeuten
anzutreffende Grundhaltung, die von der Unschuldsvermutung gegenüber
Subjekten und Systemen welcher Art auch immer geprägt ist. Diese
Vermutung wird von der Einsicht unterstützt, daß Systeme und
andere Verdächtige üblicherweise nichts Besseres zu tun haben,
als zu funktionieren, wie sie funktionieren, die möglichen funktionalen
Varianten mitgerechnet, und das die Beweislast für die These, sie
sollten und könnten anders funktionieren, als sie es tun, beim Ankläger
liegt - ein Anliegen, das keinen allgemeinen Beifall genießt, denn
alle Formen von kritischer Theorie gehen vom Vorrang der Beschuldigung
aus und muten den angeklagten Zuständen zu, sich vor ihren Anklägern
zu rechtfertigen. Dieses Verfahren, das man jakobinisch oder fundamentalistisch
nennen kann, ist zugleich immer immer auch hypokritisch, weil es von der
Überzeugung gesteuert ist, der als Mißstand beschriebene Zustand
sei niemals in der Lage, seine Apologie zu leisten.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 117-118 |
Luhmanns Fundamentalinnozentismus entzieht diesem Arrangement
die Voraussetzungen, indem er seine analytische Prozeduren in einer ganz
anders ausgelegten Szene ansiedelt. Er operiert in einem Raum. in dem
gelassene Schwankungen zwischen Distanz und Partizipation möglich
sind und in dem vorausgesetzt werden darf, daß auch Kritiker an
dem teilnehmen, woran sie doch teilhaben -oschon sie sich irgendwelche
Rückzüge und Reinheitsreserven einbilden. Damit wird die Heuchelei
der Kritik als das beschrieben, was sie ist: als Koinzidenz von Hypokrisie
udn Utopie im buchstäblichen Wortsinn - das heißt als Schauspielerei
auf eine Bühne, die an einem Nicht-Ort steht und die sich dennoch
Beachtung verschafft aufgrund ihres Vermögens, mit aggressiven Sprechakten
zu faszinieren. Denn weil die kritischen Theorien über die Anklage,
den Alarm und die Geste der Exkommunikation verfügen, spielen sie
ständig an auf den Ernstfall, der die ,oralische Auslöschung
des Gegners fordert: »Wem solche Lehren nicht erfreun / Verdient
es nicht, ein Mensch zu sein«
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 118 |
Der Innozentismus wird als »fundamental« qualifiziert,
nicht um auch der Systemtheorie fundamentalistische Züge anzuhängen,
sondern um darauf hinzuweisen, daß sie, sobald sie auf Augenhöhe
mit traditionellen parakletischen Philosophien und Theologien operiert,
nicht anders kann, als gleich tief anzusetzen wie die Funadamentalkulpabilismen,
in denen die alteuropäische Menschenüberlastungstradition sich
manifestiert, mitsamt ihren Nachzündungen in der Existentialontologie,
in der Kritischen Theorie und, wenn nicht alles trügt, auch in einem
Zweig der Dialogtheorien, die neuerdings einen bemerkenswerten Teil der
diskursiven Energie von der Sozialphilosophie und Pastoraltheologie zur
Ethik abziehen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 119 |
Während die Fundamentalkulpabilismen ihre Erfolge erzielen
durch den Reiz des Bösen, das sie so kritisch wie hypokritisch herausstellen,
arbeitet der Fundamentalinnozentismus mit der Diskretion des Nicht-Bösen.
Ihm ist an dem Nachweis gelegen, daß menschliche Selbstbezüglichkeit
eine zu schwache Adresse ist, um ihr das ganze Dossier der Anklage gegen
die Wltmißstände zuzustellen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 119 |
Es gibt, nach Luhmann, zwar weite Spielräume des Zufälligen
im Aufbau von Systemen, aber nirgendwo kann von so viel Freiheit die Rede
sein, daß so viel Schuldfähigkeit und Berechtigung, Anklagen
zu erheben, aus ihr folgen könnten. Es ist Luhmanns große theoriestrategische
Intuition, das metaphysisch überspannte Freiheitsmotiv im Aufbau
von Handlungssystemen samt ihrer ethischen Begründungen auf ein Maß
zurückzuführen, das zu einer vernünftigen Zurücknahme
der Beschuldigungsdisposition geneigt macht.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 119 |
Dieser Einspruch könnte auf längere Sicht einen wichtigen
Akzentwechsel im moralkritischen Haushalt moderner Gesellschaften herbeiführen,
weil dabei die alteuropäische Übung, das Böse als Synthese
aus egoistischer Täterbosheit und widersacherischer Sachverhaltsbosheit
zu verstehen, ersetzt würde durch eine diskrete Ermittlung dessen,
was Florain Rötzer mit einem glücklichen Ausdruck das Systemböse
genant hat. (Vgl. Florian Rötzer, Reflexionsschleifen
über Zumutungen oder: Was heißt es, sich in komplexen Systemen
zu orientieren?, in: Ders., Das Böse. Jenseits von Absichten
und Tätern oder: Ist der Teufel ins System ausgewandert?, 1995,
S. 32. Luhmanns moralismuskritische Intuitionen konvergieren bemerkenswert
mit den Überlegungen Michel Serres zum un- und überpersönlichen
Charakter der Übel und zu der tragischen Konstante in der menschlichen
Kondition; Serres empfiehlt, das aktive Übel wie ein unpersönliches
Verbum zu konjugieren: »Es regnet, es friert, es donnert«.
»Aus eine flukturierenden permanenten Wolke fallen indifferente
Schadensniederschläge auf die Köpfe aller und auf einzelne.«
Vgl. a.a.O., S. 278. Diese Bemerkungen richten sich gegen die »Philosophien
des Verdachts«, deren Präsenz in den Intellektuellenkulturen
Frankreichs kaum weniger massiv ist als in Deutschland.)
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 119-120 |
Es ist kein Zufall, daß in die Ironie erst wieder Bewegung
kommt, als mit der transzendentalen Wende zum Deutschen Idealismus die
Philosophie selbst unter neue Vorzeichen tritt. Infolge des erhöhten
Reflexionseinsatzes nach Kant und Fichte entsteht in den gleichzeitigen
Poetiken eine potenzierte Form der Ironie, die unter dem Titel der romantischen
entworfen, rezipiert und verteidigt wurde - eine Ironie, mit der die Kunst,
es anders zu meinen, als es dasteht, mehr noch die Kunst, dem, was dasteht,
überhaupt den Boden zu entziehen, eine neue Höhe erreicht. Die
provozierte Ironie antizipiert eine Bewußtseinslage, die wir heute
mit dem Ausdruck Konstruktivismus assoziieren. Sie akzentuiert die Souveränität
des setzenden und aufhebenden Subjekts, das seiner Schwebe zwischen Produktivität
und Destruktivität bewußt ist - in teils genießender,
teils depressiver Haltung.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 124 |
Die modernisierte Ironie zeichnet sich vor allem dadurch aus,
daß sie die Abwendung des Subjekts von seinen vorübergehenden
Engagements als eine legitime Weise, mit Dingen und Personen zu spielen,
freigibt.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 125 |
Wenn ich es mir erlauben darf, eine ironiegeschichtliche Situierung
Niklas Luhmanns vorzuschlagen, so kann dies nur durch den Hinweis geschehen,
daß sich in seinem Werk die Heraufkunft eines dritten Ironietyps
andeutet, den ich den kybernetischen nennen will. Die kybernetische Ironie
setzt die romantische voraus, so wie diese die sokratische zur Prämisse
hatte. Aber sie bereitet dem Subjekt der romantischen Ironie, dem zwischen
seinen Setzungen und deren Aufhebung schwebenden Subjekt, ein subversives
Schicksal, indem sie ihm zumutet, sich selbst als Epiphänomen in
einem System aus Systemen zu verstehen, das viel zu komplex und eigensinnig
ist, um von einem Subjekt gesetzt oder aufgehoben zu werden.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 126 |
Der ironische Code antizipierte die Mehwertigkeit vom Beginn des
Zeitalters an, in dem die Zweiwertigkeit das Schicksal des Denkens für
immer zu bestimmen schien. Es gab sich selbst als jenes Dritte, das auf
der Ebene der Aussagenlogik nicht gegeben werden konnte.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 128 |
Die Möglichkeit von dritter Ironie steht und fällt mit
der Ironisierbarkeit von Immersionen. Deren bisher mächtigste philosophische
Antizipation findet sich in Heideggers Man-Kapitel aus Sein und Zeit,
sofern dort das Existieren im Modus des Verfallens an die Mitwelt ausgelegt
wird als Immersion in eine Vulgarität, die scheinbar ohne Alternative
ist und doch - gleichsam ekstatisch von innen her - radikal gegen sich
selbst gekehrt werden kann. Beim Gang durch die totale Installation des
Daseins ist ein Heideggerianer doch irgendwie zu einem entschlosseneren
und vornehmeren Benehmen fähig als die unschlüssigen und massenhaften
Besucher - zumindest erwartet er dies von sich selbst. Noch eine Stufe
ironischer ist Luhmanns Diskretion, mit der er aufzuzeigen versucht, daß
ein Individuum ohnehin nie wirklich ganz in seine Umwelt oder sein Anderes
eintauchen und darin untergehen kann - es sei denn, es benutzte die Umwelt
wie eine Droge oder einen Cyberspace, aus dem es keinen Rückzug gäbe.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 131 |
Die Systemtheorie ... spricht eine Sprache, bei der es zunehmend
unwichtiger wird, ob sie von Personen oder höheren Mechanismen handelt.
Als Cyberspace ist sie das Organon einer polyvalenten Ontologie, die sich
von der alteuropäischen Unterscheidung des Seins, welches ist, vom
Nichts, welches nicht ist, abgestoßen hat, um höhere Komplexitätem
aufzubauen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 133 |
Wenn die moderne Welt als ganze denken könnte, es müßte
Luhmann dabei entstehen - vorausgesetzt, daß seine Version von Systemtheorie
die autotherapeutische Konsequenz der Moderne artikuliert, sich den Zwangskonstruktionen
der Vernunft-Paranoia und ihrer Totalisierungen in großer Politik
und großem Konsensus zu entziehen. Die wichtigsten Agentien der
Luhmann-Therapie gegen monomanische Risiken und Nebenwirkungen alteuropäischer
Denkformen haben wir im Gang unserer Überlegungen bereits angesprochen:
die Wiederholung der phänomenologischen epoché in bezug
auf die systemischen Größen; die Ergänzung des methodischen
Atheismus durch den methodischen Asatanismus; den Einsatz hoher Ironien
gegen hohe Prätentionen totalisierender Subjektivität; die Offenlegung
des polemogenen Charakters von vorgeblich kritischen Theorien und guten
Moralen; die Ersetzung von eingespielten Beschreibungsroutinen durch neue,
inkongruente Zugänge. Der bedeutendste Zug in diesem Programm ist
... die Einklammerung dessen, was traditionell unter Normalität verstanden
wurde - und mehr noch die Suspension des Realitätsglaubens als solchem.
Erst hier wird begreiflich, was mit der ... Forderung besagt ist, die
Vernunft müsse sich künftig eine von Grund auf selbstkritische
Verfassung geben. Luhmann merkt dazu an: »Selbstkritisch ist die
Vernunft nicht aufgrund ihres europäischen Erbes, sondern nur wenn
und nur insofern, als sie ihren eigenen Realitätsglauben auswechseln
kann, also nicht an sich selber zu glauben beginnt. Die Bewährungsproben
liegen in der Therapie, die weniger schmerzhafte Lösungen zu erreichen
versucht und selbst ein Desengagement in Sachen Realität pflegt.
Und sie liegen in Ansprüchen an Kommunikation, in Ansprüchen
an eine subtilere Sprache ..., die auch unter polykontexturalen Bedingungen
noch funktioniert. Selbstkritische Vernunft ist ironische Vernunft.«
(N. Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie,
1996, S. 45-46). Den Realitätsglauben als eine
auswechselbare Größe beschreiben: Mir scheint, mit
dieser Wendung hat Luhmann die expliziteste Annäherung an das Konzept
der dritten Ironie als Umgangsform mit auflösbaren Immersionen erreicht.
Es ist sicher kein Zufall, daß diese Wendung im Kontext von therapeutischen
Grundlagenforschungen fällt. Luhmann sagt hier in Übereinstimmung
mit Leitsätzen des Radikalen Konstruktivismus, therapeutische Praxis
dürfe nicht länger als erfolgreiche Anpassung des Subjekts an
eine vorgeblich objektive Realität verstanden werden, sondern als
Austausch eines unlebbaren Realitätskonstrukts gegen ein weniger
unerträgliches. In dieser Annäherung erscheint Ironie keineswegs
als Überhebung des Subjekts über die Tugend und die Realität,
Ironie wird vielmehr selbst zur Tugend und modifiziert das Reale, sofern
sie die Mechanismen aufhebt, die den Realitätseffekt, das Einrasten
in einer Elendsimmanenz und einer Kampftotalität, produzieren. Dieser
Effekt ist anderswo auf »Selbstrelativierungsdefizite« bei
starren Subjektbildungen zurückgeführt worden.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 134-136 |
Besonders scharf nimmt Luhmann die konfliktuellen Effekte in den
Blick, die von der Diabolisierung der geldwirtschaft in den sozialistischen
Ländern ausgegangen sind. Diesen hält er entgegen:
Geld wendet für den Bereich,
den es ordnen kann, Gewalt ab - und insofern dient eine funktionierende
Wirtschaft immer auch der Entlastung von Politik. Geld ist der Triumph
der Knappheit über die Gewalt. (Niklas Luhmann, Die
Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 85) |
Luhmann verkennt nicht, daß Geld, wo es vorhanden ist, Verbindungen
stiftet, die sein Lob als Medium symbolischer Verallgemeinerungen rechtfertigen,
im Falle des Mangels jedoch Trennungen bewirkt, die es als Medium diabolischer
Generalisierung erscheinen lassen. Mit diesen Wendungen begegnet Luhmann
der marxistischen Tradition - in einem Abstand, der die Katastrophe des
Marxismus als einer Höchstform der kulpabilisierenden, parakletischen
und aggresiv-naiven Gesellschaftstheorie bereits mitbeobachtet. Man meint
die Wiederholung weisheitlicher Denkformen auf der Höhe der Modernität
zu vernehmen, wenn man Zeuge dessen wird, wie nachdrücklich und vorsichtig
zugleich Luhmann darauf hinweist, daß keine Inklusion ohne Exklusion
geschieht und kein System der Verlegenheit entgeht, die Vorteile einer
Leistung, die es erbringt, an anderer Stelle mit Nachteilen zu bezahlen.
Geschieht hier nicht doch ein Übergang von operativer zu kontemplativer
Theorie - und stellt dies nicht eher einen Fall der von Heidegger angesichts
der technischen Welt angemahnten philosophischen Besinnung dar als nur
eine Form von Selbstreflexion im komplex gewordenen soziologsichen Diskurs?
- Im wesentlichen läßt sich gegen Luhmanns Argument kaum etwas
einwenden ....
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 137-138 |
Die Ausschaltung von Ressentiment als Antrieb von Urteilen und
Theoriebildungen ist ein um vieles mühsameres Geschäft, als
die bisherigen Leser Nietzsches vermuteten. Die Überwindung des Ressentiments
ist ein Kulturprojekt, das seinem logischen und psychologischen Volumen
nach kaum weniger Aufwand fordert als das buddhistische Dharma, diese
bisher größte Anstrengung zu einer mentalen Hygiene.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 139 |
Ein sprachphilosophisches Defizit in Luhmanns Denken ist jedem
aufmerksamen Leser deutlich, daß die sozial oder systemnaturalisierten
Optionen dieses Ansatzes ihre Bewährungsprobe in realen politischen
Krisen noch nicht bestanden haben, gilt ebenfalls für die Zukunft
zu denken. Und daß Luhmann mit seinem Konstrukt »Weltgesellschaft«
eine Idealisierung in eigener Sache in die Welt gesetzt hat, wird jedem
kalr sein, der einen mehr empirisch bestimmten Zugang zu Phänomenen
wie Sprachen, Kulturen, Völkern und Negationen gewählt hat;
kein Zufall also, wenn in den Sachregistern zu Luhmanns Hauptwerken diese
Einträge kaum oder gar nicht zu finden sind. .... Daß die Systemtheorie
als Zivilreligion eher unbrauchbar ist, stellt in meinen Augen einen ihrer
Vorzüge dar.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 139-140 |
Wichtiger ist es aus meiner Sicht zu zeigen,
wie existentialistische Motive und anthropologische Themen sich präsentieren,
nachdem sie eine Verfremdung durch systemische Beobachtungen durchlaufen
haben. Es spricht alles dafür, daß die Anthropologie erst wieder
zu einer Disziplin oder sogar einer Denkweise von Gewicht werden kann,
wenn sie zu einer Anthropologie zweiter Ordnung unformuliert wird - ein
Gedanke, den meines Wissens Dirk Baecker zuerst artikuliert hat.
Wenn Luhmann wirklich, wie manchmal behauptet wird,
der Hegel des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dann wird sich das nicht zuletzt
durch das Auftreten von Jungluhmannianern bewahrheiten, die sich mit einer
erneuten existentialistischen Abweichung vom Systemdenken bemerkbar machen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 140-141 |
Skepsis ist der Habitus, das Überzogene
am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse
stets als vorläufige hinzustellen. .... Anders als der Kritizismus,
der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien
für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht
erliegen zu müssen. Die Voraussetzung hierfür schafft der freie
Geist, der zur Verführung Abstand hält.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 263, 273 |
Heideggers Aletheiologie oder Unverborgenheitslehre sorgt dafür,
daß alle Neuwahrheiten »eigentlich« nur als Zusatzwahrheiten
gelesen werden müssen, die innerhalb eines epochalen Rahmens zum
Bestand hinzukommen können; diese Epochenrahmen sind bei ihm gleichsam
große Konjukturen, die den Sinn von Wissen und Wahrheit mit jeweils
verschiedenen Vorzeichnungen umreißen. In vorplatonischer Zeit habe
es demnach ... ein Urkonjunktur gegeben, die der das Wesen der Wahrheit
als Aufgehen in den phänomenalen Tag und als Zurücksinken in
die trächtige Verborgenheit am reinsten gedacht worden sei: ein Sachverhalt,
dem der richtig verstandene frühe griechische physis-Begriff
entspräche ...; dann bricht die platonisch-aristotelische, vom Denken
in Wesens- und Substanzbegriffen bestimmte Konjunktur an, die wir gewöhnlich
die klassische Antike oder Erste Aufklärung (nach
meiner Geschichts-/Kulturtheorie: antik-griechischer Idealismus! HB)
nennen; danach meint »Wahrheit« nun vorwiegend Teilhabe am
Immerseienden;auf sie folgt die christliche-mittelalterliche Konjunktur
mit ihrem Zurückschwingen zu einem Verständnis von Wahrheit
als gnadenhafter Offenbarung, woraus sich ein vorwiegendes Interesse an
Heilsfragen und eine weitgehende Neutralisierung des Interesses an Naturerkenntnis
ergeben mußten; schließlich die neuzeitliche subjektphilosophische
Konjunktur, die in die kälteste, von den Gigantenkämpfen der
Willen zur Macht beherrschte Weltnacht mündet. In deren verlorensten
Morgenstunden endlich zeigt sich das erste Grau eines möglichen neuen
Epochetages, in dem sich der Sinn von Sein, Wahrheit und Wissen noch einmal
nach-neuzeitlich, nach-gestellhaft, nach-subjektivistisch, vielleicht
sogar neu-frühgriechisch gewandelt hätte.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 287-288 |
Unterzieht man Heideggers großes Panorama von den quasi-anarchischen
Schickungen der Konjunkturen der Wahrheit oder der unverfügbaren
Drehungen des Sinnes von Sein einer näheren Prüfung, so zeigt
sich, daß die Serie der fünf Konjunkturen (besser viereinhalb
Phasen, sofern die von Heidegger selbst eingeleitete oder herbeigewartete
noch nicht scharf genug abgehoben sein kann) in Wirklichkeit nur eine
einzige authentische Zäsur aufweist - nämlich die an der Schwelle
vom frühgriechischen zum hochgriechischen (nach
meiner Geschichts-/Kulturtheorie: vom hochgriechischen zum spätgriechischen!
HB) Denken. Von ihr an herrschen die Bedingungen der Seinsvergessenheit
oder, wie man auch sagen könnte, des Physismißverständnisses:
sie geben der Zeitengruppe von Antike, Mittelalter und Neuzeit trotz aller
tiefen Verschiedenheiten (auf die Heidegger immer
wieder hingewiesen hat! HB) ihre »wahrheitsgeschichtliche«
Einheit, die in der verhüllten Identität von Metaphysik und
Nihilismus besteht (auf die Heidegger ebenfalls
immer wieder hingewiesen hat! HB). Nur darum kann auch schon Platon
als Agent der Seinsvergessenheit enttarnt und in eine Linie eingeordnet
werden, die die cartesische Programmatik vorausahnen läßt:
den Menschen zum maître et possesseur de la nature zu machen.
Innerhalb des Nihilismus brennt die Lunte der Wahrheit auf Epiphanie des
großen Knalls hin ab. Die finale Vernichtung wäre die Offenlegung
des Nichts, das alles Werdende »eigentlich« schon ist.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 288-289 |
Nimmt man die kühne Zusammenfassung von Antike, Mittelalter
und Neuzeit unter dem Titel Nihilismus ernst, so gibt es bei Heidegger,
diesem robusten Resümee zufolge, in der bsiherigen Geschichte im
grunde nur zwei Wahrheitsepochen, die ursprüngliche und die verfallene.
Nach diesen beiden zeichnet sich allerdings, wie in Großen Erzählungen
üblich, schon der Hinweis auf den Beginn einer dritten ab, in welcher
die Anfangswahrheit widergewonnen wäre - warum nicht auf einer höheren
Stufe (... auch Heidegger würde wie Hegel zugeben und beanspruchen,
daß er aufs Ganze gesehen doch mehr weiß als Heraklit). Die
translatio philosophiae ad Germano ist eine Teilbedingung für
die Wiederkehr der griechischen Wahrheit dank dem deutschen Beitrag.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 289 |
Heidegger ist mit diesem ... Narrativ von den Epochen und Primärsprachen
der Wahrheit nichts anderes als ein klassischer Erzähler und ein
exemplarischer Therapeut. Wie alle vormodernen Erzähler verwendet
er eint riadisches Schema von ungestörtem Primärzustand, gestörtem
Mittelzustand und wiederhergestelltem, allenfalls angereichertem, Neo-Primärzustand:
anfängliches Seinsverstehen, Seinsvergessenheit, Seinswiederverstehen.
Heideggers Vorsokratismus entspricht dem therapeutischen Habitus, aus
der aktuellen Krise heraus bis in den Zustand vor der Störung zurückzugehen
und von dem her ein zweites Mal in die Gegenwart vorzulaufen, diesmal
quasi an den Störungen des Mittelzustandes vorbei, und wenn dieser
zweieinhalb Jahrtausende tief wäre. DasVerfahren gründet in
der therapieüblichen Erwartung eines anderen Anfangs: Wie Lebensgeschichten
nicht notwendigerweise scheitern müssen, müssen sich auch Zivilisationsprozesse
nicht ein für allemal so verrennnen wie der euro-amerikanische (abendländische!
HB). Wie es inmitten von Biographien gelegentliche Neuanfänge
gibt, so ist auch für die Neuzeitkultur im ganzen ein angemessenes
Neuansetzen zwar unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar. Der Neubeginn
wäre der Gott, der uns noch rettet - nicht zuletzt vor unserer falschen
Selbstbeschreibung als Subjekte und unserer Fixierung an die Gadget-Ontologie
der technischen Welt.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 289-290 |
Der Neubeginn wäre der Gott, der uns noch rettet ....
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 290 |
Der regenrative Vorsokratismus empfiehlt eine Primärtherapie
der Vernunft: den Rückgang hinter die starre Abwehr, mit welcher
der metaphysische eidetische Idealismus das Ereignis ungeschehen machen
wollte. Die Therapieempfehlung kommt nicht ohne Drohung aus: Wer das Ereignis
nicht fühlen will, bekommt das Gestell zu spüren.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 290 |
Seit der achsenzeitlichen Revolution sitzt die euro-amerikanische
(abendländische! HB) Menschheit ...
auf einer wahrheitsgeschichtlichen Zeitbombe, die dem Moment entgegentickt,
in dem nicht mehr nur einzelne neue Wahrheiten ans Licht kommen, sondern
die Wahrheit über die Wahrheit selbst sich explosiv enthüllt.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 290 |
Um im Bild vom Prozeß des luntenartig auf die »Explosion«
zulaufenden Wissens zu bleiben: Es handelt sich bei ihm ohne Zweifel um
eine Zwei- bis Dreiphasenzündung, an deren Anfang in keiner Weise
absehbar ist, was das Ende bringt. Demokritos und Leukippos sind keine
direkten Lehrer von Max Planck und Niels Bohr, und doch stoßen sie
die erste Phase eines Verfahrens an, dessen kognitive Mächtigkeit
bis ins späte Mittelalter Wirkungen zeitigt; dann tritt mit Galilei
und seinesgleichen eine neue Generation von Physikern auf den Plan,über
die Carl friedrich von Weizsäcker zu Recht hat sagen können,
daß von ihnen bis zur Atombombe eine schnurgerade Linie führt.
In diesem Sinn darf man behaupten, daß die Lunte der Wahrheit (in
ihrer langen Ausführung) von Ionien nach Los Alamos (erst:
Berlin! HB) läuft.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 290-291 |
Man erkennt leicht, daß ... das Theorem vom kognitiven Willen
zur Macht ins Spiel kommt, und ebenso leicht versteht sich, warum diese
Formel in fast allen Deutungen des neuzeitlichen Mensch-Natur-Verhältnisses
die entscheidende Rolle spielt.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 292 |
Paläoanthropologie läßt sich geradezu als die
Wissenschaft von der Naturgeschichte des Gegennatürlichen im Menschen
charakterisieren. Sie handelt vom Menschen als dem Disanztier, das sich
aufgrund seiner Spezialevolution von Abstand-Techniken zu einem Luxusmitglied
der natürlichen Lebensgemeinschaften hat ausformen können.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 292-293 |
Die Objektivierung der Natur durch die neuzeitlichen Naturwissenschaften
erfüllt nicht den Tatbestand des ontologischen Unrechts - wie ein
verengt katholisches und ökopietistisches Denken meint -, sondern
ist eine wie immer späte, doch folgerichtige Explikation der naturdissidenten
Potentiale, mit denen die exzentrische Gattung von den frühesten
Tagen ihrer Sonderentwicklung an schwanger ging. Die Naturgeschichte der
Naturvergegenständlichung ist die eigentliche Affäre des Menschen
- von ihr machen auch die Vorsokratiker keine Ausnahme. Ihre heiße
Phase bricht an in dem zeitbombenhaften Abschnitt der enuwahrheitlichen
Wissensdurchbrüche, die nach der Erfindung des Erfindens in den modernen
Ingenieurwissenschaften unseren Weltkalender dramatisiert haben und bis
auf weiteres in eine immer überstürztere Bewegung ziehen.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 293-294 |
Das Projekt »Sphären« läßt
sich auch als Versuch verstehen, das in Heideggers Frühwerk subthematisch
eingeklemmte Projekt Sein und Raum - in einem wesentlichen Aspekt
zumindest - aus seiner Verschüttung zu bergen. Wir sind der Meinung,
daß von Heideggers Interesse an Verwurzelung durch eine Theorie
der Paare, der Genien, der ergänzten Existenz soviel zu seinem Recht
kommt, wie überhaupt von ihm gerettet werden kann.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 403 |
In der monotonen War-on-Terror-Kampagne
der us-amerikanischen Fernsehgesellschaften, die sich in ihren Sprachregelungen
mit den Pentagon-Programmen kurzgeschlossen hatten, kam nicht ein einziges
Mal die elementare Erkenntnis zur Sprache, daß Terrorismus kein
Gegner, sondern ein modus operandi, eine Kampfmethode, ist, die
sich sofort über beide Seiten eines Konflikts verteilt - weswegen
»Krieg gegen den Terrorismus« eine Nonsensformulierung darstellt.
Sobald man die Kriegsregel, Partei zu ergreifen, einklammert und die Friedensprozeßregel
befolgt, auch die andere Seite zu hören, wird evident, daß
der einzelne Terrorakt nie einen absoluten Anfang bildet. Jeder Terroranschlag
versteht sich als Gegenangriff in einer Serie, die jeweils als vom Gegner
eröffnet beschrieben wird. Deswegen ist Terrorismus selbst antiterroristisch
verfaßt ....
Peter
Sloterdijk, Luftbeben, 2002, S. 24-25 |
Der Anfang des Terrors ist nicht das ausgeführte Einzelattentat
der einen Seite, sondern der Wille und die Bereitschaft von Konfliktpartnern,
in der ausgeweiteten Kampfzone zu operieren.
Peter
Sloterdijk, Luftbeben, 2002, S. 25 |
Das Ende des Kalten Krieges mag ein vorläufiges Abklingen
der nuklearen Einschüchterung mit sich gebracht haben; was die Eibeziehung
von bislang unentfalteten, klimatischen, radiophysikalischen und neurophysiologischen
Hintergrunddimensionen in explizierende militärische Projekte der
Eltmacht angeht, bedeutet die Schwelle der neunzigerJahre eher einen Neubeginn.
Von diesem Zeitpunkt an vollzieht sich, von der Öffentlichkeit weitgehend
unbemerkt. der Sprung auf eine bisher nicht für möglich gehaltene
Stufe der Eskalation atmoterroristischer Eingriffschancen. In einem am
17. Juni 1996 präsentierten und ungeachtet der sensitiven Thematik
zur Freigabe für die Öffentlichkeit genehmigten Papier des Department
of Defense haben sieben Offiziere einer wissenschaftlichen Forschungsabteilung
des Pentagon Umrisse einer künftigen Ionosphärenkriegführung
erläutert. Das Projektpapier, vorgestellt unter dem Titel: »Wetter
als Kampfkraftmultiplikator: Wetterherrschaft im Jahr 2025« (Weather
as a Force Multiplier: Owning the Weather in 2025), wurde im Auftrag
des Air-Force-Generalstabs verfaßt mit der Direktive, Bedingungen
zu nennen, unter denen die Vereinigten Staaten im Jahr 2025 ihre Rolle
als dominierende Luft- und Raumwaffenmacht behaupten können. Die
Autoren des Papiers gehen davon aus, daß es in dreißigjähriger
Entwicklungszeit gelingen wird, die Ionosphäre als eine der für
menschliche Wahrnehmung unsichtbaren Komponenten der äußeren
physikalischen Erdhüllen in kriegsrelevanter Weise beherrschbar zu
machen, vor allem durch die willkürliche Produktion und Beseitigung
von gewittrigen Wetterverhältnissen, die dem Besitzer der Ionosphärenwaffe
die Schlachtfeldkontrolle (battlefield dominance) garantieren.
.... Über das deklarierte Interesse an der Wetterwaffe hinaus arbeiten
die USA seit 1993 an einem Programm zur Erforschung der Aurora, dem »High-frequency
Active Auroral Research Programm«, HAARP, aus dem die wissenschaftlichen
und technologischen Prämissen einer potentiellen Super-Wellenwaffe
abgeleitet werden könnten. .... Ein System dieser Art wäre hypothetisch
imstande, gewaltige physikalische Wirkungen hervorzurufen - bis hin zur
Auslösung von Klimakatastrophen und Erdbeben in ausgewählten
Gebieten. .... Da aber ELF-Wellen (Extremely Low Frequencies) oder
Infraschallwellen nicht nur auf anorganische Materie, sondern auch auf
lebende Organsimen Einfluß nehmen, insbesondere auf das menschliche
Gehirn, das in tiefen Frequenzbereichen arbeitet, ergeben sich bei HAARP
Aussichten auf die Produktion einer quasi neurotelepathischen Waffe, die
menschliche Populationen durch Fernangriffe auf ihre zerebrale Funktionen
destabilisieren könnte. Es versteht sich von selbst, daß eine
Waffe dieses Typs selbst in spekulativer Form nur konzipiert werden kann,
wenn das moralische Gefälle zwischen den Gehirnen, die sie entwickeln,
und den Gehirnen, die mit ELF-Wellen bekämpft werden sollen, für
die Gegenwart völlig eindeutig scheint und für die Zukunft stabil
gehalten werden kann. Sie ließe sich - selbst wenn es sich um eine
nicht-letale Waffe handelte - ausschließlich gegen das schlechthin
Fremde oder das absolut Böse und seine menschlichen Inkarnationen
einsetzen.
Peter
Sloterdijk, Luftbeben, 2002, S. 63-68 |
Der Terror expliziert die Umwelt unter dem Aspekt der Verletzbarkeit;
der Ikonoklasmus expliziert die Kultur aus der Erfahrung ihrer Parodierbarkeit;
die Wissenschaft expliziert die erste Natur unter den Gesichtspunkten
ihrer Ersetzbarkeit durch prothetische Geräte und ihre Integrierbarkeit
in technische Verfahren.
Peter
Sloterdijk, Luftbeben, 2002, S. 107 |
Sphären I schlägt
eine (der Autor meint: stellenweise neue) Beschreibung des menschlichen
Raumes vor, die betont, daß durch das nahe Zusammen-Sein von Menschen
mit Menschen ein bisher zu wenig beachtetes Interieur gestiftet wird.
Wir nennen dieses Innen die Mikrosphäre und charakterisieren es als
ein sehr empfindliches und lernfähiges seelenräumliches (wenn
man will moralisches) Immunsystem. Der Akzent wird auf die These gesetzt,
daß das Paar gegenüber dem Individuum die wirklichere Größe
darstellt - was zugleich bedeutet, daß die Wir-Immunität gegenüber
der Ich-Immunität das tiefere Phänomen verkörpert. In einer
Zeit, die auf die Elementarteilchen und die Individuen schwört, versteht
sich eine solche These nicht von selbst.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 13 |
Der Humanraum ist buchstäblich ab utero,
zunächst bipolar, auf entwickelteren Stufen pluripolar geformt; er
besitzt die Struktur und Dynamik eines beseelten Ineinandergreifens von
Lebewesen, die auf Nähe und Teilhabe aneinander angelegt sind ....
Der Mensch, sofern er das Wesen ist, das »existiert«, ist
das Genie der Nachbarschaft. Heidegger hat das in seiner kreativsten Zeit
auf den Begriff gebracht: Sind Existierende zusammen da, halten sie sich
»in derselben Sphäre von Offenbarkeit«. Sie sind füreinander
erreichbar und doch einander transzendent - eine Beobachtung, die zu unterstreichen
die Denker des Dialogs nicht müde werden. Aber nicht nur Personen,
auch die Dinge und die Umstände werden auf ihre Weise vom Prinzip
Nachbarschaft erfaßt. Deswegen bedeutet »Welt« für
uns den Zusammenhang von Zugangsmöglichkeiten. »Dasein bringt
schon die Sphäre möglicher Nachbarschaft mit sich; es ist von
Hause aus schon Nachbar zu ....« (Martin Heidegger, Einführung
in die Metaphysik, 1935, S. 138). Steine, die nebeneinander liegen,
kennen das ekstatische Offensein füreinander nicht. Nicht alle geben
das zu.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 14-15 |
In Sphären II werden aus Einsicht
in die ekstatisch-surreale Natur des erlebten und bewohnten Raums Konsequenzen
gezogen. Dies geschieht in Form einer großen Erzählung über
die Expansion des Seelischen im Zuge von imperialen und kognitiven Weltbesetzungen.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 15-16 |
Sphären III, Schäume, bietet
eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters unter dem Gesichtspunkt,
daß das »Leben« sich multifokal, multiperspektivisch
und heterarchisch entfaltet. Ihr Ausgangspunkt liegt in einer nicht-metaphysischen
und nicht-holistischen Definition des Lebens: Seine Immunisierung kann
nicht mehr mit Mitteln der ontologischen Simplifikation, der Zusammenfassung
in der glatten Allkugel, gedacht werden. Wenn »Leben« grenzenlos
vielfältig räumebildend wirkt, so nicht nur, weil jede Monade
ihre je eigene Umwelt hat, sondern mehr noch, weil alle mit anderen Leben
verschränkt und aus zahllosen Einheiten zusammengesetzt sind. Leben
artikuliert sich auf ineinander verschachtelten simultanen Bühnen,
es produziert und verzehrt sich in vernetzten Werkstätten. Doch was
für uns das Entscheidende ist: Es bringt den Raum, in dem es ist
und der in ihm ist, jeweils erst hervor.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 23-24 |
Wenn Modernität an Ernst-Verschiebungen erkannt
wird: Wie steht es um die andere Seite der Gleichung von Träumen
und Schäumen? Wie ernst hat das 20. Jahrhundert den Schaum zu nehmen
verstanden? Welchen Stellenwert hat es der »Luft an unerwarteter
Stelle« beigemessen? In welcher Weise hat es an der Rehabilitation
dieses Flüchtigen, des dem Zerfall Gewidmeten, gearbeitet? Mit welchen
Mitteln hat es den selbstbezüglichen Hohlräumen, den von Eigenwerten
erfüllten Binnensphären, den atembaren Interieurs und den klimatischen
Tatsachen gerecht zu werden versucht? Die adäquate Beantwortung dieser
Fragen, sollte sie in unserer Zeit schon möglich sein, ergäbe
eine Synopse der Modernisierung. Sie beschriebe ein weitläufiges
Zulassungsverfahren für das Zufällige, Momentane, Vage, Vergängliche
und Atmosphärische - ein Verfahren, an dem die Künste, die Theorien
und die experimentellen Lebensformen mit jeweils eigenen Einsätzen
beteiligt sind. Zu seinen Ergebnissen zählt eine grundlegend neue,
postheroische Abfassung des Dekorum - des Regelwerks, nach dem die Kulturen
im ganzen geeicht sind. Wer eine umfassende Nacherzählung dieser
Vorgänge unternehmen wollte, müßte von den Intentionen
eines nicht verfälschten Nietzsche ebenso reden wie von der Entfaltung
des Husserlschen Impulses; vom Perspektivismus um 1900 wie von der Chaostheorie
um 2000; von der Promotion des Surrealen zu einer eigensinnigen Sektion
des Realen ebenso wie von der Erhebung des Atmosphärischen zur Theoriewürde,
von der Mathematisierung des Unscharfen wie von der begrifflichen Durchdringung
der gekerbten Strukturen und der unregelmäßigen Mengen. (Zum
Dekorum: vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen, 1996;
zur Erhebung des Atmosphärischen zur Theoriewürde, insbesondere
im Werk des Begründers der Neu-Phänomenologie Hermann Schmitz,
vgl. u.a. ders., Leib und Gefühl - Materialien zu einer philosophischen
Therapeutik, 1989, S. 135 f.; zur Mathematisierung des Unscharfen
vgl. Bart Kasko, Die Zukunft ist fuzzy - Unscharfe Logik verändert
die Welt, 2001; zu den unregelmäßigen Mengen vgl. Gilles
Deleuze / Felix Guattari, Milles plateaux, 1980.)
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 34-35 |
Jede Lage im Schaum bedeutet eine auf die eigene Blase bezogene
relative Verschränkung von Umsicht und Blindheit; jedes In-der-Welt-Sein,
als Im-Schaum-Sein verstanden, eröffnet eine Lichtung im Undurchdringlichen.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 63 |
Man darf bezweifeln, ob Heideggers evokative Rede vom »Wohnen«
des Menschen in einer sie ermöglichenden und berufenden »Gegend«
das letzte Wort in Fragen der unter Explikationszwang geratenen Existenz
und ihres Selbstgestaltungsauftrags bleiben kann. Als der Philosoph das
besonnene Sichaufhalten in der »Gegend« lobte, sprang er etwas
zu schnell (oder auch nicht! HB) voraus zu
dem Ideal eines wiedergutzumachenden, alt- und neu-implizierenden Raums.
»Gegend« lautet bei ihm der Name des Bereichs, an dem noch
ein authentisches Dasein gelingen könnte. Von ihm wäre nicht
leicht zu sagen, wie man zu ihm gelangt, hielte man sich nicht bereits
an ihm auf. Es müßte ein Ort sein, über den die Explikation
hinweggegangen ist, als gelte sie nur anderswo; ein Ort, der zwar vom
kalten Wind des Außen, dem Standortrisiko Modernisierung, berührt
worden und gleichwohl Heimat geblieben wäre. Seine Bewohner wüßten,
daß die Wüste wächst, und dürften sich doch, gerade
dort, wo sie sind, einer wundersam immunisierenden »Weite und Weile«
(Martin Heidegger, Zur Erörterung der Gelassenheit - Aus einem
Feldweggespräch über das Denken, 1944-45, in Gesammelte
Werke, 13, S. 47) verpflichtet fühlen. Man mag da von hoher Idylle
reden. Dem Wort von der »Gegend« kann man gleichwohl, bei
all seiner Vorläufigkeit und seinen provinziellen Konnotaionen zum
Trotz eine hinweisende Kraft auf die therapeutische Dimension in der Raumbildungskunst
nicht absprechen. (Am possitiven Gehalt des Begriffs »Wohnen«
hat Hermann Schmitz in seiner Doktrin von den »einbettenden Situationen«
angeknüpft; vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte,
1999.)
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 145-146 |
Die Natur, könnte man unter ... Vorbehalt sagen,
ist eine Autorin, die im Selbstverlag publiziert (wobei sie wohl auf ein
menschliches Lektorat angewiesen ist). Begreiflicherweise steht diese
Auslegung des Wahrheitsgeschehens im Gegensatz zur dualistischen Dogmatik
des von Platon und anderen Nachsokratikern inaugurierten metaphysischen
Weltalters und seiner technisch-wirtschaftlichen Erben, für deren
Betrachtung die Natur - alias das Seiende im ganzen - als Block aus stummen,
sinnfreien, zeichenfernen Dinglichkeiten vorliegt. Es wäre aus dieser
Sicht allein der menschliche Geist, der im Besitz seines Monopols auf
Sprache, Sinngebung und Interesse an die nichtentgegenkommende Naturmasse
wie von außen heranträte und sie zwänge, ihre Geheimnisse
preiszugeben. Die tragische Ironie dieser Fehlauslegung von Naturerkenntnis
durch die Metaphysik sowie ihre Fortsetzer in den modernen Naturwissenschaften
und Technologien besteht nun Heidegger zufolge darin, daß ihre extrem
reduktionistischen, das Wahrheitsgeschehen entstellenden und verarmenden
Begriffe so erfolgreich waren, daß sie im Modus einer sich selbst
wahrmachenden Prophezeiung über mehr als zweitausend Jahre hin für
die europäische Rationalitätskultur bestimmend wurden. Dieser
Zeitraum wäre daher ausdehnungsgleich mit der Ära der Seinsvergessenheit.
Man erinnere sich, daß eine verwandte Sicht der Dinge mit dem Satz:
»Das Ganze ist das Unwahre« ausgesprochen wurde - was historisch
gewendet bedeutet: Auch das Unwahre hat schon ein Altertum. Wer dessen
Anfänge fassen will, um vor sie in unverzerrte Zustände zurückzugehen,
muß sich mit Platons Verformelung der Wahrheit zur »Idee«
oder noch früher mit Demokrits Aufspaltung der menschlichen Realität
in Körper und Seele befassen. Fehlbeschreibungen dieser Größenordnung
gehen, wie Heidegger sah, über die Bezeichnungskraft des gewöhnlichen
Irrtumsbegriffs hinaus; sie zwingen den Betrachter, zu Ausdrücken
wie »Geschick«, vielleicht sogar »Verhängnis«
zu greifen. (Vgl. Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl
und Heidegger, 1967: diese Arbeit, die hinsichtlich Heideggers zu
einem negativen Ergebnis kommt, bietet ein anschauliches Beispiel dafür,
wie die Rituale der Gründlichkeit dazu dienen können, die bessere
Einsicht durch die schlechtere zu verhindern. - In adäquater Weise
hat Hermann Schmitz aus kritischer Nähe zu Husserl und Heidegger
die allzu massive These von »Seinsvergessenheit« in eine diskrete
Liste von fundamentalen »Verfehlungen« des abendländischen
Geistes umformuliert [interessanterweise auch in
»Leibvergesseneheit«! HB]; er kommt dabei (anders als
Husserl, der in seiner »Krisis«-Schrift zwei Großfehlentwicklungen,
den transzendentalen Subjektivismus und den objektiven Physikalismus,
benannte [aber anfangs auch und besonders, noch
deutlicher: den Psychologismus! HB]) auf die Zahl vier: die psychologistisch-reduktionistische,
die dynamistische, die ironistische, die autistische Verfehlung. Für
jede skizziert der Autor eine kulturtherapeutische Korrektur aus dem Geist
der erneuerten Phänomenologie.)
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 223-226 |
Der Prozeß der Moderne richtet seine
explizitmachende Gewalt auch auf das Grundverhältnis des In-der-Welt-Seins,
das Wohnen, das jetzt als die ursprünglich isolierende Tätigkeit
des Menschen zu gelten hat - oder, um die Formel des Phänomenologen
Hermann Schmitz zu zitieren, als »Kultur der Gefühle im umfriedeten
Raum«.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 316 |
Heidegger, dem die Phänomenologie des Wohnens (zusammen mit
seinen Nachfolgern Bollnow und Schmitz) noch immer am meisten verdankt,
hat den Zusammenhang zwischen dem Wohnen und dem Warten auf Zeichen des
Ungewöhnlichen als Matrix der religiösen oder besinnlichen Rezeptivität
erläutert:
»Die Sterblichen wohnen, insofern sie
die Göttlichen als die Göttlichen erwarten. Hoffend halten
sie ihnen das Unverhoffte entgegen. Sie warten der Winke ihrer Ankunft
und verkennen nicht die Zeichen ihres Fehls .... Im Unheil noch
warten sie des entzogenen Heils.« (Martin Heidegger, Bauen,
Wohnen, Denken, 1951, S. 145). |
In profanere Ausdrücke übersetzt (und unter Absehung davon,
daß man es mit Paraphrasen zu Hölderlins poetischer Theologie
zu tun hat), ergibt das die Aussage, daß wohnende Menschen sich
in einer Trivialität einhausen, die es ihnen erst erlaubt, das Nicht-Triviale
zu unterscheiden.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 516-517 |
Die Untersuchung des menschlichen Aufenthaltswesens kann
einen analytisch befriedigenden und hinreichend befremdlichen Grad an
Ausdrücklichkeit erst erreichen, wenn sie zu einer Analytik der einbettenden
Situation vorangetreiben wird - ein Unternehmen, zu dem, neben den singulären
Vorstößen des jungen Heidegger, die Refexionen Paul Valerys
über das Wesen der Baukunst als Immersions-Modulierung aus dem Jahr
1921 unseres Wissens am meisten beigetragen haben, vergleichbar nur mit
den viel späteren Versuchen von Hermann Schmitz zur Neubegründung
eine phänomenologischen Situationismus ....#147;
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 523 |
Was man den Geist der Utopie genannt hat, entspringt
aus der unaussprechlichen Forderung nach der Gleichgewöhnung aller;
sie wäre die Wiederherstellung der sozialen Synthese aus dem geist
der Geschwisterlichkeit jenseits des Neides. Das von Freud betonte Motiv
des Vatermords ist in Wahrheit akzidetieller Natur. Was dem effektiven
Unbewußten Inhalt gibt, ist die so heftig begehrte wie uneingestehbare
Vernichtung des Bruders oder der Schwester, die an deiner Verarmung und
Zurücksetzung direkt schuld sind. Kein Zufall also, daß die
biblische Erzählung den Brudermord behandelt - der Gedanke, daß
es der Vater sein könnte, der dir etwas von der geschuldeten Bevorzugung
wegnimmt, war in diesem Kontext unmöglich.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 770 |
Die Luxusviktimologien beruhen auf der Entdeckung,
daß die moralische Sensibilität der Öffentlichkeit in
der Superinstallation eine symbolische Ressource ist, die sich materiell
bewirtschaften läßt. Weil Helden nach der Aufklärung nur
noch als Opfer möglich sind, muß der Ehrgeiz den Umweg über
den Viktimismus nehmen. Dies gilt für Einzelne wie für Korporationen
und Staaten. Unzählige wetteifern mit amateurischen und professionellen
Mitteln um den Vorzug, sich auf diversen Bühnen als Opfer präsentieren
zu dürfen - besser noch als Super-Opfer, als Angegriffener der Angegriffenen,
als Jude der Juden, als Paria der Parias, als Verdammter der Verdammten
dieser Erde. .... Aber es versteht sich, daß diese Phänomene
außer psychologischen Motiven massive ökonomische Gründe
haben.
Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 841,
842 |
Ich war ein lyrischer Radikaler. Das
ist ein Flügel der Bewegung, der von der Geschichtsschreibung kaum
erfaßt ist. Ich würde, äußerlich gesehen, am ehesten
subsumiert unter eine Teilmenge der 68er, genaugenommen 67er Bewegung,
die man seinerzeit als hedonistische Linke bezeichnete. Das waren diejenigen,
die den Glauben hegten, es sei der Sinn der Menschheitsgeschichte, die
Verkindlichung des Menschen voranzutreiben. Folglich sollten ab sofort
die historisch erworbenen körperlichen und mentalen Verpanzerungen
des bürgerlichen Subjekts aufgehoben werden. Und wir können
sagen, wir sind bei diesem Experiment dabei gewesen. .... Man hatte Sinn
für Prioritäten. Wir sagten zum Beispiel: »Was geht mich
der Vietnamkrieg an, wenn ich Orgasmusprobleme habe?« .... Die Gewaltneigung
der 68er, von der man heute, glaube ich, zu viel Aufhebens macht, war
insgesamt eher metaphorisch. Die Formel, die für die aktiven Zuspitzungen
verantwortlich zeichnete, war jenes berüchtigte: Macht kaputt, was
euch kaputtmacht die doppelte Verneinung für Anfänger.
.... Das Projekt der 68er war natürlich grandios illusionär.
Sie haben das Prinzip Umsonst auf breiter Front inthronisiert und behauptet,
die entscheidenden Dinge dürfen nichts kosten. .... Aus heutiger
Sicht lag die 68er Bewegung exakt in dem Trend, der zur Konsumgesellschaft
führt. Ohne es zu ahnen, waren wir, die westdeutschen Früh-Hedonisten,
die Labormäuse des totalen Konsumismus. .... Unter der totalen Versorgungsgarantie
war Radikalität eine romantische Zugabe. .... Damals schien Sex ein
leerer Kontinent zu sein, der auf die Einwanderung von netten Kolonisten
wartete. Ein paar abenteuerliche sexual-politische Dogmen genügten,
und man konnte dieses »wahre innere Afrika« in Besitz nehmen.
Inzwischen ist Eros-Land nichts mehr für naive egalitaristische Siedler.
Zwar haben sich die Verführungsmittel gewaltig entwickelt, die Verführungsverhältnisse
insgesamt jedoch sind kompliziert geworden. Auch da hat das Prinzip Umsonst
einen fürchterlichen Rückschlag erlitten. .... Die Wortführer
von damals waren politische Romantiker, wie überhaupt die Ära
total romantisch war. Das Sonderklima der Bundesrepublik um 1960 bis 1970
zeigte sich gerade darin, daß man milieugeschützt die radikalismusfrommen
Sprachspiele benutzen konnte.
Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005,
S. 54 |
Die Demokraten nach 1945 haben in ihrem antifaschistischen Eifer
das Faschismusphänomen in seiner globalen Ausdehnung chronisch unterschätzt.
Die Wahrheit ist, daß der Faschismus von Lissabon bis nach Shanghai
reichte. Das ganze 20. Jahrhundert ist vom faschistischen Affekt, vom
Enthusiasmus des Ressentiments durchzogen.
Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005,
S. 54 |
Daß sich der linke Faschismus als Kommunismus zu präsentieren
beliebte, war eine Falle für Moralisten. Mao Tse-tung war nie etwas
anderes als ein linksfaschistischer chinesischer Nationalist, der anfangs
den Jargon der Moskauer Internationale pflegte. Gegen Maos fröhlichen
Exterminismus gehalten, erscheint Hitler wie ein rachitischer Briefträger.
Doch man scheut noch immer den Vergleich der Monstren.
Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005,
S. 54 |
Das massivste ideologische Manöver des Jahrhunderts bestand
ja darin, daß der linke Faschismus nach 1945 den rechten lauthals
anklagte, um ja als dessen Opponent zu gelten. In Wahrheit ging es immer
nur um Selbstamnestie. Je mehr die Unverzeihlichkeit der Untaten von rechts
exponiert wurde, desto mehr verschwanden die der Linken aus der Sichtlinie.
Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005,
S. 54 |
In dem Zusammenhang muß man die Mao-Plakate über den
Köpfen der Revoltierenden von damals verstehen. Die radikale Linke
hatte sich selbst die Absolution erteilt, und die Ikone Mao war ein Garant
ihres Verständnisses für den guten Terror. Die Zersetzungsprodukte
dieser Hyperlüge gehen uns bis heute auf die Nerven.
Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005,
S. 54 |
Vom Effekt her gesehen bedeutet die Jugendkultur von 1968 die
Einstiegsphase in den psychedelischen Kapitalismus. Die linksromantischen
Sprachspiele haben nicht so sehr die Delegitimierung des politischen Systems
der Bundesrepublik vorbereitet, sondern den Verzehr aller Dinge. ....
Vom Effekt her gesehen bedeutet die Jugendkultur von 1968 die Einstiegsphase
in den psychedelischen Kapitalismus. Die linksromantischen Sprachspiele
haben nicht so sehr die Delegitimierung des politischen Systems der Bundesrepublik
vorbereitet, sondern den Verzehr aller Dinge.
Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005,
S. 54 |
Eine bleibende Kulturleistung der »68er« besteht darin,
daß sie die ... Gesellschaft in ein Kollektiv von Halbkranken umgeschaffen
haben. Damals wurde die Therapiegesellschaft auf den Weg gebracht, in
der jeder seine verunglückte Libido erforschen und dem Echo seiner
»verbrecherischen« Familiengeschichte nachhorchen konnte.
Doch seit der Sport als Alternative zur ewigen Therapie aufkam ..., hat
sich die Lage an der inneren Front entspannt.
Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005,
S. 54 |
Kaum treten bei Individuen
oder Gruppen »Symptome« wie Stolz, Empörung, Zorn, Ambition,
hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft auf, nimmt der
Parteigänger der thymós-vergessenen Kultur Zuflucht
zu der Vorstellung, diese Leute müßten Opfer eines neurotischen
Komplexes sein. Die Therapeuten stehen hier in der Tradition der christlichen
Moralisten, die von der natürlichen Dämonie der Selbstliebe
sprechen, sobald die thymotischen Energien sich offen zu erkennen geben.
Haben die Europäer über den Stolz wie den Zorn nicht von den
Tagen der Kirchenväter an zu hören bekommen, solche Regungen
seien es, die den Verworfenen den Weg in den Abgrund weisen?
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 32 |
Die Aufgabe lautet also, eine Psychologie des Eigenwertbewußtseins
und der Selbstbehauptungskräfte wiederzugewinnen, die den psychodynamischen
Grundgegebenheiten eher gerecht wird. Das setzt die Korrektur des erotologisch
halbierten Menschenbildes voraus, das die Horizonte des 19. und 20. Jahrhunderts
umstellt. Zugleich wird eine empfindliche Distanzierung von tief eingeschliffenen
Konditionierungen der westlichen Psyche notwendig, in ihren älteren
religiösen Ausprägungen ebenso wie ihren jüngeren Metamorphosen.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 34-35 |
Zunächst und vor allem ist Abstand zu gewinnen von der unverhüllten
Bigotterie der christlichen Anthropologie, nach welcher der Mensch in
seiner Eigenschaft als Sünder das hochmutkranke Tier abgibt, dem
nur durch Glaubensdemut geholfen werden kann. Man soll sich nicht einbilden,
eine hiervon Distanz schaffende Bewegung wäre leicht auszuführen
oder gar schon vollzogen. Wenngleich die Phrase »Gott ist tot«
jetzt schon von Journalisten geläufig in den Computer eingegeben
wird, bestehen die theistischen Demutsdressuren im demokratischen Konsensualismus
nahezu ungebrochen fort. Es ist, wie man sieht, ohne weiteres möglich,
Gott sterben zu lassen und doch ein Volk von Quasi-Gottesfürchtigen
zu behalten. Mögen die meisten Zeitgenossen von anti-autoritären
Strömungen erfaßt sein und gelernt haben, eigene Geltungsbedürfnisse
auszudrücken, so halten sie doch in psychologischer Sicht an einem
Verhältnis semirebellischer Vasallität gegenüber dem versorgenden
Herrn fest. Sie verlangen »Respekt« und wollen auf die Vorteile
der Abhängigkeit nicht verzichten. Noch schwieriger dürfte es
für viele sein, sich von der verhüllten Bigotterie der Psychoanalyse
zu emanzipieren, nach deren Dogmatik auch der kraftvollste Mensch nicht
mehr sein kann als der bewußte Dulder seiner liebeskranken Kondition,
die Neurose heißt. Die Zukunft der Illusionen ist durch die große
Koalition gesichert: Das Christentum wie die Psychoanalyse können
ihren Anspruch, die letzten Horizonte des Wissens vom Menschen zu umschreiben,
mit Aussicht auf Erfolg verteidigen, solange sie sich darauf verstehen,
ein Monopol für die Definition der menschlichen Kondition durch den
konstitutiven Mangel, vormals besser bekannt als Sünde, aufrechtzuerhalten.
Wo der Mangel an der Macht ist, führt die »Ethik der Würdelosigkeit«
das Wort.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 35 |
Solange also die beiden klugen Bigotteriesysteme die Szene beherrschen,
ist die Sicht auf die thymotische Dynamik menschlicher Existenz verstellt,
in bezug auf Individuen nicht weniger als in bezug auf politische Gruppen.
Folglich ist der Zugang zum Studium der Selbstbehauptungs- und Zorndynamik
in psychischen und sozialen Systemen praktisch blockiert. Stets muß
man mit den ungeeigneten Konzepten der Erotik auf die thymotischen Phänomene
zugreifen. Unter der bigotten Blockade kommt die direkte Intention nie
wirklich zur Sache, da man sich nur noch mit schrägen Zügen
den Tatsachen nähern kann - immerhin sind diese, ihrer erotischen
Fehlauffassung zum Trotz, nie ganz zu verdunkeln. Ist diese Verlegenheit
beim Namen genannt, wird klar, daß ihr allein durch die Umstellung
des grundbegrifflichen Apparats abzuhelfen ist.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 35-36 |
Geht man von dem natürlichen Pluralismus
thymotischer Kraftzentren aus, muß mna ihre Beziehungen gemäß
deren spezifischen Feldgesetzlichkeiten untersuchen. Wo reale Kraft-Kraft-Beziehungen
gegeben sind, hilft der Rekurs auf die Selbstliebe der Akteure nicht weiter
- oder doch nur in übergeordneten Aspekten. Statt dessen ist zunächst
zu statuieren, daß politische Einheiten (konventionell als Völker
und deren Untergruppen aufgefaßt) in systemischer Sicht metabolische
Größen sind. Sie haben allein als produzierende und konsumierende,
streßverarbeitende, mit Gegnern und anderen entropischen Faktoren
kämpfende Entitäten Bestand. Bemerkenswerterweise haben christlich
und psychoanalytisch geprägte Denker bis heute Mühe zuzgeben,
daß Freiheit ein Begriff ist, der nur im Rahmen einer thymotischen
Menschensicht Sinn ergibt. Ihnen sekundieren mit hohem Eifer die Ökonomen,
die den Menschen als das konsumierende Tier ins Zentrum ihrer Appelle
stellen - sie wollen dessen Freiheit nur bei der Wahl der Futternäpfe
am Werk sehen.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 37 |
Durch Stoffwechseltätigkeiten werden in einem vitalen System
erhöhte Innenleistungen stabilisiert, auf der physischen wie der
psychischen Ebene. Das Phänomen Warmblütigkeit ist hiervon die
eindrucksvollste Verkörperung. Mit ihm vollzog sich, etwa zur »Halbzeit
der Evolution«, die Emanzipation des Organismus von den Umgebungstemperaturen
- der biologische Aufbruch in die Freibeweglichkeit. Von ihr hängt
alles ab, was später in den unterschiedlichsten Sinnabschattungen
Freiheit heißen wird. Biologisch betrachtet, bedeutet Freiheit das
Vermögen, das gesamte Potential spontaner Bewegungen zu aktualisieren,
die einem Organismus eigentümlich sind.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38 |
Die Lossagung des warmblütigen Organismus vom Primat des
Milieus findet ihr mentales Gegenstück in den thymotischen Regungen
der Einzelnen wie der Gruppen. Als moralischer Warmblüter ist der
Mensch auf die Aufrechterhaltung eines gewissen internen Selbstachtungsniveaus
angewiesen - auch dies setzt eine Tendenz zur Loslösung des »Organismus«
vom Vorrang des Milieus in Gang. Wo sich die stolzen Regungen geltend
machen, entsteht auf der psychischen Ebene ein Innen-Außen-Gefälle,
in dem der Selbstpol naturgemäß den höheren Tonus aufweist.
Wer die untechnischen Ausdrucksweisen bevorzugt, kann dieselbe Vorstellung
durch die These wiedergeben, die Menschen besäßen einen angeborenen
Sinn für Würde und Gerechtigkeit. Dieser Intuition hat jede
politische Organisation gemeinsamen Lebens Rechnung zu tragen.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38 |
Zum Betrieb moralisch anspruchsvoller Systeme, alias Kulturen,
gehört die Selbststimulierung der Akteure durch die Hebung thymotischer
Ressourcen wie Stolz, Ehrgeiz, Geltungswille, Indignationsbereitschaft
und Rechtsempfinden. Einheiten dieser Art bilden in ihrem Lebensvollzug
lokalspezifische Eigenwerte aus, die bis zum Gebrauch universalistischer
Dialekte führen können. Es läßt sich durch empirische
Beobachtung schlüssig nachweisen. wie erfolgreiche Ensembles durch
einen höheren inneren Tonus in Form gehalten werden - an dem im übrigen
häufig der aggressive oder provozierende Stil des Umweltbezugs auffällt.
Die Stabilisierung des Eigenwertbewußtseins in einer Gruppe obliegt
einem Regelwerk, das die jüngere Kulturtheorie als das Decorum bezeichnet.
(Vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen - Entwurf einer
kulturdynamischen Theorie, 1996). In Siegerkulturen wird das Decorum
verständlicherweise an den polemischen Werten geeicht, denen man
die bisherigen Erfolge verdankt. Daher die enge Liaison zwischen Stolz
und Sieg in allen aus erfolgreich geführten Kämpfen hervorgegangenen
Gemeinwesen. Stolzdynamisch bewegte Gruppen haben es manchmal sogar nicht
ungern, bei ihren Nachbarn und Rivalen unbeliebt zu sein, solange das
ihrem Souveränitätsgefühl Auftrieb gibt.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38-39 |
Sobald die Stufe der anfänglichen Interignoranz zwischen
mehreren metabolischen Kollektiven überschritten ist, das heißt,
wenn die gegenseitige Nichtwahrnehmung ihre Unschuld verloren hat, geraten
sie unvermeidlich unter Vergleichsdruck und Beziehungszwang. Dadurch wird
eine Dimension erschlossen, die man im weiteren Sinn als die der Außenpolitik
bezeichnen kann. Infolge ihres Füreinanderwirklich-Werdens fangen
die Kollektive an, sich gegenseitig als koexistierende Größen
zu begreifen. Durch Koexistenzbewußtsein werden die Fremden als
chronische Stressoren wahrgenommen, und die Beziehungen zu ihnen müssen
zu Institutionen ausgebaut werden - in der Regel unter der Form von Konfliktvorbereitungen
oder der diplomatischen Bemühung um das Wohlwollen der anderen Seite.
Von da an reflektieren die Gruppen ihr eigenes Wertverlangen in den manifesten
Wahrnehmungen der anderen. Die Gifte der Nachbarschaft sickern in die
aufeinander bezogenen Ensembles ein. Diese moralische Reflexion ineinander
hat Hegel mit dem folgenreichen Begriff der Anerkennung bezeichnet. Er
weist damit hellsichtig auf eine mächtige Quelle von Satisfaktionen
oder Satisfaktionsphantasien hin. Daß er damit zugleich den Ursprung
zahlloser Irritationen benannt hat, versteht sich aus der Natur der Sache.
Auf dem Feld des Kampfs um Anerkennung wird der Mensch zu dem surrealen
Tier, das für einen bunten Fetzen, eine Fahne, einen Kelch sein Leben
riskiert.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 39-40 |
Wir sehen im gegebenen Kontext, daß Anerkennung besser als
eine Hauptachse interthymotischer Beziehungen neu beschrieben werden sollte.
Was die zeitgenössische Sozialphilosophie mit wechselndem Erfolg
unter dem Stichwort Intersubjektivität verhandelt hat, meint häufig
nichts anderes als das Gegeneinanderwirken und Ineinanderspielen von thymotischen
Spannungszentren. Wo der landläufige Intersubjektivismus die Transaktionen
zwischen Akteuren in psychoanalytischen und somit letztlich erotodynamischen
Begriffen darzustellen gewohnt ist, empfiehlt es sich künftig eher,
zu einer thymotologischen Theorie des Aufeinanderwirkens mehrerer Ambitionsagenturen
überzugehen. Ambitionen sind zwar durch erotische Abschattungen modifizierbar,
für sich genommen gehen sie jedoch aus einem Regungsherd ganz eigenen
Typs hervor und sind nur von diesem her zu durchleuchten.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 40 |
Sofern der bürgerlich konditionierte Thymos der psychologische
Sitz des von Hegel dargestelletn Strebens nach Anerkennung ist, wird verständlich,
warum ausbleibende Anerkennung durch relevante Andere Zorn erregt.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 42-43 |
Vor allem muß heute, gegen Nietzsches ungestümes Resümee,
bedacht werden, daß die christliche Ära, im ganzen genommen,
gerade nicht das Zeitalter der ausgeübten Rache war. Sie stellte
vielmehr eine Epoche dar, in der mit großem Ernst eine Ethik des
Racheaufschubs durchgesetzt wurde. Der Grund hierfür muß nicht
lange gesucht werden: Er ist gegeben durch den Glauben der Christen, die
Gerechtigkeit Gottes werde dereinst, am Ende der Zeiten, für eine
Richtigstellung der moralischen Bilanzen sorgen. Mit dem Ausblick auf
ein Leben nach dem Tode war in der christlichen Ideensphäre immer
die Erwartung eines überhistorischen Leidensausgleichs verbunden.
Der Preis für diese Ethik des Verzichts auf Rache in der Gegenwart
zugunsten einer im Jenseits nachzuholenden Vergeltung war hoch -hierüber
hat Nietzsche klar geurteilt. Er bestand in der Generalisierung eines
latenten Ressentiments, das den aufgehobenen Rachewunsch selbst und sein
Gegenstück, die Verdammnisangst, ins Herzstück des Glaubens,
die Lehre von den Letzten Dingen, projizierte. Auf diese Weise wurde die
Bestrafung der Übermütigen in alle Ewigkeit zur Bedingung für
das zweideutige Arrangement der Menschen guten Willens mit den schlimmen
Verhältnissen. Die Nebenwirkung hiervon war, daß die demütigen
Guten selbst vor dem zu zittern begannen, was sie den übermütigen
Bösen zudachten. Wir werden hiervon unten im Kapitel über den
Zorn Gottes und die Errichtung der jenseitigen Rachebank ausführlicher
handeln.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 49 |
Bei Kränkungen, die krank machen, ist Rache doch die beste
Therapie.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 84 |
Alle Geschichte ist die Geschichte von Zornverwertungen.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 100 |
Aus dem Zorn Gottes sollte die menschliche Rache werden - und
aus dem Warten auf die jenseitige Vergeltung eine diesseitige Praxis ....
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 276 |
Rache ..., was sie ihrer thymotischen Natur nach seit je bedeutet
- ... die Behebung des unerträglichen Mangels an Leiden, der in einer
Welt voll ungesühnten Unrechts herrscht.
Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 276 |
Die Philosophen sind von Berufs wegen ja als Welterklärer
angetreten. Und sie bekennen sich zunächst und zumeist dazu, einen
unbescheidenen Beruf auszuüben, wobei Unbescheidenheit hier, wenn
möglich, von der Sache her motiviert wird und nicht vom persönlichen
Drang dessen, der sich zu diesem Beruf gemeldet hat - so wie man ja auch
bei Polizisten eigentlich nicht unterstellt, daß sie eine natürliche
Affinität zum Verbrechen haben, sondern mehr zu seiner Bekämpfung,
so hat auch der Philosoph einen natürlichen Drang zur Vielwissenheit
und nicht zur Unwissenheit.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Lesezeichen, 2006 |
Man soll den Anspruch, die Welt besser zu machen, nicht aufgeben,
wenn man sich vorher darüber verständigt hat, was »besser«
bedeutet, und ich würde sagen: Das Bessere muß als Funktionsbegriff,
nicht als Substanzbegriff, aber als Funktionsbegriff verstanden werden,
nämlich, daß die verschiedenen um Verwirklichung ringenden
Kräfte im Menschen in eine Balance miteinander gebracht werden. Und
wir sind im Moment stark unbalanciert; der Westen ist ... ein »Kontinent«
der Gier geworden, also er ist durch und durch erotisiert im ... schlechten
Sinne des Wortes. Wir erleben im Moment in einem geschichtlich beispiellosen
Ausmaß eine Weltherrschaft der Gier, und gegen die müßte
... das Stolzzentrum seinen Einspruch anmelden und sagen: »Wer bin
ich denn, daß ich mich bei der Vorherrschaft gieriger Impulse ertappen
lasse?« Also: der Thymotiker wäre der Mensch, der zeigen
möchte, daß er nicht nur ein großer Gieraffe ist und
ein Verschlinger, eine große Verdauungsmaschine, sondern daß
er ein Spender ist, ein Geber.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Lesezeichen, 2006 |
Denken Sie an Carl Schmitts berühmte Formulierung:
»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«,
ich transformiere ihn ein wenig, indem ich sage: »Souverän
ist, wer in der Lage ist, glaubhaft zu drohen«, und zu drohen heißt
in der Sprache der Strategiewissenschaft, einen bewaffneten Ratschlag
übermitteln. Das Interessante am Terrorismus ist, daß dort
eine Reinform der Drohung entwickelt wurde, die drohen ihre Drohung an,
es wird nichts vorgeschlagen, es wird eine reine Drohung in den Raum gesetzt,
deren Bedeutsamkeit noch nicht zu fassen ist, deswegen neige ich dazu,
das Ganze eher in Ausdrücken der Medienkunst zu interpretieren und
nicht so sehr in Ausdrücken der Politologie.
Peter
Sloterdijk, in: Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk,
2006 |
Terror ist eine Verhaltensweise, der diese Reindarstellung nicht
duldet, da ist schmutzige, im wahrsten Wortsinne niederträchtige
Energie drin, die sich selbst die Absolution erteilt und zwar unter unsportlichen,
das heißt religiösen Verbrämungen, deswegen ist Religion
so gefährlich, vor allem monotheistische Religion, weil sie eine
kriecherische Metaphysik unterstützt, die Religionen sind Gefäße
des metaphysischen Masochismus, das heißt, man bekommt die Form
vorgegeben, in der man sich unterwerfen darf.
Peter
Sloterdijk, in: Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk,
2006 |
Wir müssen den ganzen Pol des Thymotischen erst wieder entdecken,
auch in der Theorie müssen wir eine Psychologie entwickeln, nicht
für Patienten, sondern für Kämpfer, oder anders und besser
gesagt, für Leute, die in Form sind. Der Patient ist der Mensch ohne
Stolz, das ist das Ergebnis von hundert Jahren Therapiekultur, das konvergiert
mit dem Homo consumens, den der Kapitalismus herstellt, alles läuft
auf diese Erotisierung hinaus, deswegen verstehen wir den Thymotiker auch
nicht, und die Islamisten sind überwertige Thymotiker. Es wäre
eine falsche, von der Psychoanalyse nahegelegte Herablassung zu sagen,
der Stolz meldet sich nur bei Menschen, die erotisch nicht zum Zuge kommen,
sozusagen ein Ersatzprogramm des Eros für die, die es nötig
haben, der Stolz kommt allem Nötighaben zuvor, er ist die im Sein
selbst gesetzte Tendenz, geltend zu machen, was man will und was man kann.
Und wenn das zu sehr deformiert, entstehen ressentimenthafte Ausbildungen
des Stolzes.
Peter
Sloterdijk, in: Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk,
2006 |
Wir müssen die Idee eines Lebens aus dem
Können in unterwerfungslustige Kulturen einführen, damit sich
auch die Religion wandelt, von einer Religion der Unterwerfung zu einer
Religion des betreuten Könnens, also, europäisch gesprochen,
Protestantismus, der Glaube des von Gott getragenen Könnens.
Peter
Sloterdijk, in: Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk,
2006 |
Seltsam, man darf nicht den Israelis empfehlen, Israel aufzugeben,
aber der Menschheit darf man nahelegen, sich einen anderen Planeten zu
suchen.
Peter
Sloterdijk, in: Zeit, 2006 |
Seit Heidegger wissen wir, daß die Krümmung
des Seins als Krümmung der Zeit verstanden werden muß. Was
man die Existenz des Menschen nennt, ist keine Gerade zwischen Anfang
und Ende. Vielmehr wird die existentiale Linie durch eine seltsame Spannung
verbogen: Die »Enden der Parabel«, die ein einzelnes Leben
ausmacht, markieren Abschnitte im Kreis des Seins.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 20 |
Deutscher Idealismus .... In philosophische Hinsicht war der Idealismus
eine logische und ethische Ambition, die vor keiner Zuspitzung zurückschreckte,
nämlich die paradoxe Unternehmung, Freiheit zum Zentralmotiv von
strenger Systembildung zu machen. .... Der Idealismus wollte sich unentbehrlich
machen als ein Beweisverfahren, mit dem dargelegt wurde, daß auch
die Bürgerlichen machttauglich und machtwürdig sind, sofern
es ihnen nur gelingt, an einem geschichtlich neuen Typus von Adel teilzuhaben.
.... Damit trat Idealismus hervor als der Versuch, die Welt im Ganzen
auf die Spitze zu stellen, eine Spitze, die einen ontologisch anspruchsvollen
Namen trug, den des »Subjekts« - was heißen soll: das,
was zugrunde liegt oder modern verstanden: was zugrunde tut, was
»an der Basis« aller Lagen alles vollbringt. Wo so gedacht
wird, kommt das Höchste als das Breiteste daher. Was das Oberste
war, soll nun etwas sein, was jedem zukommt. Was höchste Auszeichnung
war, wird allegmeines Merkmal und alltägliche Anrede. Das Geheimnis
der Enthusiasmupolitik ist demnach, daß sie die ganze Gesellschaft
in den Adelsstand erhebt - oder wie Schiller in der ersten Fassung der
Ode sagt -, daß Bettler Fürstenbrüder werden.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 35-37 |
Die Musik des Zur-Welt-Kommens ist ein Wille zur Macht als Klang,
der sich auf der Linie eines von innen kommenden Kontinuums hervorbringt
und der sich selbst will wie eine nichtunterlaßbare Lebensgebärde;
die Musik des Rückzugs hingegen strebt, nach dem Zerbrechen des Kontinuums,
in den akosmischen Schwebezustand zurück, in dem sich das verletzte
Leben, als Unwille zur Macht, sammelt und heilt. Darum gibt es in der
Primärgestik aller Musik einen Dualismus von Ausfahrt und Heimkehr.
Dem ersten Pol entspricht ein adventisches Motiv, das ganz auf Exodus,
Ertönenwollen und Vortreten an die Rampe angelegt ist, dem zweiten
ist ein nirwanischer Zug eigentümlich, der auf Einkehr und Zustandekommen,
auf Erlöschen und Ruhen zielt.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 57 |
Das Denken ist im Subjekt wie der Ton in der Violine - kraft eines
Schwingungsverhältnisses. Menschen sind, sofern sie denken, gleichsam
Musikinstrumente für Vorstellungen, die die Welt bedeuten. Wenn das
»Instrument« auf sich selbst achtgibt, so ist ihm klar: Ich
bin kein funadementum inconcussum, sondern ein medium percussum.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 68 |
Emanzipation von Wortschatz, Grammatik, Rhetorik und Phonetik.
.... Entbunden von semantischer Sklaverei, tritt der Klang aus dem Schatten
und gibt mit einer unerhörten Frische und Nacktheit sich selbst zu
hören. .... Von der ersten bis zur letzten Zeile lautet seine Botschaft:
Ich bin nur zu hören; ich bin ein Text, der die frohe Botschaft vom
Nicht-Bedeuten in die Welt setzt. .... Bedeutungslosigkeit bedeutet.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 71 |
Im Anthropologie-Kapitel aus Hegels Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften, 1817, finden sich im Abschnitt über die »fühlende
Seele« einige Formulierungen, die mit den Mitteln philosophischer
Psyhologie den Entwicklungen moderner Tiefenpsychologie um mehr als hundertfünfzig
Jahre vorgreifen. Hegel artikuliert zum ersten Mal die Idee, daß
eine noch völlig leere, erfahrungslose, leidlose und daher unbestimmte
Seele von den Vibrationen des mütterlichen Mediums bestimmend und
prägend durchdrungen wird.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 72 |
Die auditive Geburt des Kindes geht, wie man heute weiß,
dem physischen Austritt um einige Monate voraus.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 74 |
Bei Schopenhauer vollzieht sich ein Durchbruch, nach dem der Weltgrund
selbst, der Wille, als unmittelbar musikalischer vorgestellt wird.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 76 |
Als ein Wesen, das im Kommen ist, ist der Mensch wesenhaft ein
Tier, das von innen kommt. »Innen« bedeutet hier: Fötalität,
Nicht-Manifestation bzw. Latenz, Verborgenheit, Wasser, Familiarität,
Schoßhaftigkeit und Häuslichkeit. Zur-Welt-Kommen muß
demnach fünffach verstanden werden - gynäkologisch als Geburt,
ontologisch als Welteröffnung, anthropologisch als Elementwechsel
vom Flüssigen ins Feste, psychologisch als Erwachsenwerden, politisch
als Einrücken in Machtfelder.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 87-88 |
Auch das Licht der Aufklärung macht Erfahrungen mit seinem
Schatten. Es ... entdecken die meisten Kommentataoren die Notwendigkeit
einer »Abklärung der Aufklärung« bzw. einer Kritik
der lichtbringerischen Vernunft. Was landläufig Postmoderne genannt
wird, hat eines seiner überzeugendtsen Motive in dieser Nachuntersuchung
von Aufklärungsfolgen.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99 |
Aus der Synthese von Marktkapitalismus und Wohlfahrtsstaat
... der »aufgeklärten« westlichen Industrienationen ...
entspringt gleichfalls kein Zustand allgemeiner Genugtuung, sondern eine
... Zweideutigkeit, der die großen Perspektiven und Projektionen
abhanden gekommen zu sein scheinen.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99-100 |
Im Rückblick auf die Geschichte des optischen
Idealismus ... zeigt sich, daß inzwischen die gesamte verwestlichte
Hemisphäre der Welt zu einem »Abend«land geworden ist.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100 |
Ist nun in Reaktion auf das Unbehagen am Zwielicht
mit einer postmodernen Wiederkehr der Lichtreligionen zu rechnen? Gewisse
Indizien sprechen hierfür.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100-101 |
Ist die letzte Sicht nichts anders als das ewige
Blinzeln der letzten Menschen, die in die glutlose Abendsonne schauen?
.... Wenn zutrifft, daß nichts in der Technologie ist,
was nicht schon zuvor in der Metaphysik gewesen war, dann hat eine lichtmetaphysisch
vorgeformte Menschheit Aussicht darauf, zuletzt in ein selbstgemachtes
großes Licht zu blicken - »heller als tausend Sonnen«.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 102 |
Der moderne Könner kann immer weniger immer
besser.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 143 |
Diese Monsterbuch mit seinen 2550 Seiten müßte eigentlich,
wenn es nicht Sphären hieße, Sein und Raum heißen.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 230 |
»Wir sind nie revolutionär gewesen.« .... Man
muß zwei gefährliche Kategorien aus seinem Wortschatz herausnehmen:
Die eine ist der Begriff der Revolution, ... die andere ist der Begriff
der Massen .... Sollte es tatsächlich so etwas wie effektive
(so genannte revolutionäre) Wirklichkeitsveränderung geben,
dann wird sie sich daran zeigen, daß eine neue Technologie einen
Lebenslauf expliziert und dadurch verändert und vorantreibt. ....
Ein Techniker entscheidet sich immer für das Vorantreiben der Technologie.
Alles Erfolgreiche ist operativ ....
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 235 |
So kommt es, daß sich die moderne Kunstausstellungskunst
in ihrer Tautologisierung festschraubt: Das Herstellen von Kunst dreht
sich um ein Ausstellen von Kunst, das sich um ein Herstellen von Ausstellungen
dreht.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 413-414 |
Die Selbstaufstellung von Messen, Museen, Galerien ist der Selbstoffenbarung
der Werke zuvorgekommen; sie hat den werken die Seinsweise der Selbstreklame
aufgezwungen. Seither müssen Werke selbstapplaudierend sein. In der
Reklame besitzt die aletheia ihren äußersten Vorposten.
.... Sicher ist nur: Kein Bild kann noch so viel bedeuten wie der wiederverwendbare
Haken, an dem es vorübergehend hängt.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 415 |
Ich komme hier auf das zurück, was ich in der Kritik der
zynischen Vernunft als Anlauf zu einer philosophischen Antiphilosophie
versucht habe. Ich zeigte dort die Notwendigkeit einer Geistesgegenwart,
die sich jenseits der moralischen vorstellenden Automatismen entfaltet,
auch jenseits der genormten Diskurse, die sich als Theorie präsentieren,
und jenseits der routinierten und reflexhaften Aktivitäten, die sich
beim gesunden Menschenverstand als »Praxis« beliebt machen
wollen. Die Kritik der zynischen Vernunft war ein wie auch immer
fehlerhafter Versuch, die Philosophie in Richtung auf eine Schule der
Geistesgegenwart voranzubringen.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 485 |
Es ist jetzt vielleicht eine Woche her, da erschien mir Einstein
im Traum. .... Er erzähle mir, daß er mit sinem Kollegen Gott,
genauer gesagt, mit dessen dritter Person seine viel mißverstandene
Energiegleichung noch einmal durchgerechnet habe. Und da habe es ihm um
ein Haar den Kopf zersprengt, als er plötzlich, durch eine kleine
Umstellung der Faktoren, die Weltformel fand, ja vielmehr, als er selber
die Weltformel wurde. .... Ich fürchtete schon, er würde im
nächsten Augenblick ganz formellos verschwinden. Aber dann nahm sich
Einstein noch einmal zusammen, und er schrieb sich selbst an eine schwarze
Tafel, wobei mir Hören und Sehen verging, denn er sdchrieb, wenn
ich es mir richtig gemerkt habe: Universum (U) gleich Intelligenz (I)
minus Antiintelligenz (AI), wobei gilt: I gleich Meditation durch den
Widerstandsfaktor der Vorstellung in der Zeit; AI gleich Wiederholungsmaterie
multipliziert mit dem Quadrat des Sitzfleischdurchmessers. Als Einstein
sich schon fast ganz an die Tafel geschrieben hatte, deutete er noch an,
daß der Kollege von Weizsäcker schon auf der richtigen Spur
zur Weltformel sei, nur daß er doch um alles in der Welt den Beharrungskoeffizienten
an eine andere Stelle setzen sollte. Dann explodierte Einstein mitsamt
der schwarzen Tafel, und es blieb von der ganzen Erscheinung nichts anders
übrig als ein gewisses Kitzeln in der Atmosphäre, das ich trotz
meiner dürftigen physikalischen Kenntnisse sofort als das kosmische
Hintergrundkitzeln identifizierte.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 487,
488-489 |
Saint-Just ... hatte in seinen Überlegungen
der republikanischen Institutionen ... geschrieben ...: »Die
Kinder gehören bis zum 5. Lebensjahr der Mutter, danach bis zu ihrem
Tode der Republik«. Das heißt: Das ist die Abschaffung der
Freiheit im Namen der Immanenz bzw. im Namen der Abschaffung der Zwei-Welten-Theorie.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
2007 |
Der Theologe ist der Anwalt der Gläubigen
vor der Vernunft.
Peter
Sloterdijk, in: Sat 1, 18.05.2008, 23.35 Uhr |
Geschichte ist ... genau der Prozeß,
in dem man nie ausgelernt haben wird.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise,
2008 |
Wir
haben seit 200 Jahren eine Wirtschaftswissenschaft, die gar keine Wissenschaft
ist. Es ist eine ... verkappte Theologie - in vielen Fällen -, eine
Wissenschaft, die ihre Unwissenschaftlichkeit hinter einem riesigen Aufwand
an Mathematik verbirgt. Das kann man ja übrigens in allen Wissenschaften
beobachten: je unwissenschaftlicher sie sind, desto mathematischer werden
sie. Auch die positivistische Psychologie unserer Tage, die den Menschen
überhaupt nicht mehr kennt, arbeitet sehr gern mit mathematischen
Modellen, und die Wirtschaftswissenschaft im letzten halben Jahrhundert
ist ja ein reines Spielfeld für mathematisierende Spinner geworden.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise,
2008 |
Wir haben ungefähr 10 Millionen Menschen, die in der Millionärskategorie
leben. Wir haben etwa 1000 Milliardäre. Wir haben etwa 10 Millionen,
die in der Kategorie der Multimillionäre operieren. Da entsteht ein
neues, abstraktes Übervolk, das dieselben Eigenschaften aufweist
wie der alte europäische Adel .... Wir ersetzen Grundbesitz heute
durch Zugang zu Informationsmitteln, zu Lebensmitteln, zu Privelgien ....
Wir sind in einer rasanten Refeudalisierung - das ist völlig klar,
aber sie geht nicht mehr über Grund und Boden, sondern sie läuft
über Zugangsprivilegien. Und natürlich ist niemand privilegierter
als derjenige, der innerhalb des 10-Millionen-Volkes mit seinesgleichen
auf gleicher Ebene kommunzieren kann.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise,
2008 |
Auf der einen Seite die Refeudalisierung und auf der anderen Seite
die Konversion in den autoritären Kapitalismus.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise,
2008 |
Der Staat bedroht die Bürger mit seiner
Schwäche.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
2008 |
Viele Diagnostiker verstecken sich ja heute hinter einer Komplexitätsrhetorik,
indem sie sagen: »Die Dinge sind so kompliziert, daß wir sie
nicht lösen können. Gott sei Dank müssen wir sie nicht
lösen und können deswegen weitermachen.« .... Ein Habitus,
der sich in unserer Gesellschaft breit gemacht hat, Komplexität als
Ausrede dafür zu verwenden, daß man Passivität einübt.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
2008 |
Es gibt ein starkes Argument eines deutschen
Staatsrechtlers ...: »Wer Menschheit sagt, will betrügen«
(Carl Schmitt). Das heißt, man täuscht ein »Super-Wir«
vor, das es noch gar nicht gibt, das in Wirklichkeit wiederum eine maskierte partikulare Stimme ist. Nach dem Schema hat ja übrigens
auch die Ideologiekritik in den letzten 200 Jahren funktioniert. Da treten
z.B. so ein paar französische Rechtsannwälte ... auf - es sind
vielleicht ein paar 100 Leute - und nennen sich selbst »die Menschheit«.
Daraus ist die französische Revolution hervorgegangen. Und
so funktioniert das immer. Es gibt immer eine kleine Avantgarde - die
nennt sich selbst »Menschheit« - und trägt sozusagen
die Flamme vor allen anderen her und sagt: »Alles hört auf
mein Kommando!«
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
2008 |
Carl Schmitt würde sagen: der erfolgreichste Superorganismus,
den wir bisher hervorgebracht haben, ist dieser ... zweipolige Nationalstaat,
in dem der Markt und ein hinreichend regulierungsfähiger staatlicher
Apparat eine sinnvolle Synergie miteinander erzeugen. Alles, was darüber
hinaus liegt, gelingt uns noch nicht.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
2008 |
Napoleon ... hat als Beleidiger Geschichte gemacht.
Die Spanier mußten bis 1975 - bis zum Tode Francos - warten, bis
sie endlich aus der Folge ihrer eigenen antinapoleonischen Reaktionen
herauskamen. Man darf auch die Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert
nicht isoliert betrachten. Und die Deutschen wären auch nicht dahin
gekommen, wo sie standen, wenn sie nicht ... durch die napoleonische Beleidigung
... in die reaktive Posoition gekommen wären und bis 1945 ihre antifranzösische
Reaktion abgearbeitet hätten.
Peter
Sloterdijk, in: DCTP-TV (Alexander Kluge), Theorie der Nachbarschaft
- Peter Sloterdijk über 200 Jahre deutsch-französische
Beziehungen, 16.11.2008 |
Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß
die Europäer allesamt ohne die Deutschen gar kein Beispiel dafür
hätten, wie es ist, sich als Europäer zu verhalten. Denn wenn
sie nur auf sich selber schauen, so sind sie doch Briten, Franzosen und
was weiß ich geblieben - mit Ausnahme der Spanier, die wirklich
ähnlich wie die Deutschen in einer solchen metanoetischen Verwandlung
.... (Kluge unterbricht Sloterdijk hier; HB),
die haben auch dieses Lernen aus den eigenen Lektionen auf einer ungewöhnlich
tiefen Ebene vollzogen, deswegen sind sie ... den Deutschen auch am nächsten,
auch sind sie die Nation, die eigentlich mit der größten politischen
Reife den Weg in die Demokratie gegangen sind, und zwar (sind sie) bei
permanentem Terror ... trotzdem ruhig den Weg weitergegangen. Man muß
sich nur mal vorstellen, wie es uns ginge, wenn wir auch nur ein
Zehntel des Terrordrucks in unserem Land hätten, den die Spanier
in den letzen dreißig Jahren chronisch erlebt haben.
Peter
Sloterdijk, in: DCTP-TV (Alexander Kluge), Theorie der
Nachbarschaft - Peter Sloterdijk über 200 Jahre deutsch-französische
Beziehungen, 16.11.2008 |
Neben Alan Greenspan ist Onkel Dagobert ein
Charaktertitan.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Was heute Krise heißt, ist die Weltverschwörung der
Spießer.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Diese vorgeblich heftigste Wirtschaftskrise der jüngeren
Geschichte: sie ist die spießigste und muffigste Angelegenheit,
die sich seit Menschengedenken zugetragen hat. Die Art und Weise, wie
regierende Hausmeister im Dunkeln Megamilliarden hin- und herschieben,
ist eine Beleidigung für jede Intelligenz. Demgegenüber waren
der Schwarze Freitag und die Weltwirtschaftskrise nach 1929 ein Shakespeare-Drama.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Heute sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen
Positionen, die hinterm Schalter große Politik machen. Obendrein
redet man immerzu von der Gier, als ob sie die Vorgänge auch nur
von fern erklärte. Die Wahrheit ist, der viel zitierte Bereicherungstrieb
spielt in der Angelegenheit eine völlig untergeordnete Rolle. Es
ist nicht die Gier, die das System antreibt, die Fehlsteuerung geht von
den Zwängen des Billigkreditsystems aus: Wenn die Zentralbanken kostenloses
Geld ausspucken, wäre es für echte Global Player ruinös,
es nicht zu nehmen.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Heute sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen
Positionen, die hinterm Schalter große Politik machen.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Obendrein redet man immerzu von der Gier, als ob sie die Vorgänge
auch nur von fern erklärte. Die Wahrheit ist, der viel zitierte Bereicherungstrieb
spielt in der Angelegenheit eine völlig untergeordnete Rolle. Es
ist nicht die Gier, die das System antreibt, die Fehlsteuerung geht von
den Zwängen des Billigkreditsystems aus: Wenn die Zentralbanken kostenloses
Geld ausspucken, wäre es für echte Global Player ruinös,
es nicht zu nehmen.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Im übrigen könnte man behaupten, in jedem Europäer
steckt ein Inflationist: Seit dem Beginn der Neuzeit hat sich in den Menschen
Europas das Märchenmotiv vom leistlosen Einkommen mit archetypischer
Gewalt festgesetzt. Von unserer psychischen und kulturellen Struktur her
sind wir Schatzsucher, die den Schatz nicht mehr im Jenseits, sondern
auf der Erde vermuten. Wenn es um Reichtum geht, neigen wir zum Wunderglauben
- daneben sind mittelalterliche Menschen pure Rationalisten.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Unzählige meinen allen Ernstes, das Leben sei ihnen einen
Schatzfund schuldig.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Die Reichen sind gegenwärtig noch eine
Klasse und keine Spezies, aber könnten es werden, wenn man nicht
aufpaßt. Es dürfte gegenwärtig auf der Erde rund 10 Millionen
Menschen in der Millionärs- und Multimillionärskategorie geben,
dazu schon über 1000 Milliardäre. Aus diesen Vermögenseliten
bildet sich ein neues abstraktes Übervolk, das dieselben Eigenschaften
aufweist, die man vom alten europäischen Adel kannte: Sie denken
kosmopolitisch, sie reisen viel, sie leben mehrsprachig, sie sind gut
informiert und beschäftigen die besten Berater, sie reden ständig
über Beziehungen, Sport, Kunst und Essen. Beim Volksthema Sex bleiben
sie diskret. .... Jeremy Rifkin hat vor ein paar Jahren ein Buch (»Access
- Das Verschwinden des Eigentums«, 2000) vorgelegt, das indirekt
die Entstehung des neofeudalen Systems behandelt: Wir ersetzen, so seine
These, heute Grundbesitz durch Zugang zu privilegierten Gütern, zu
wertvollen Informationen, zu Luxusobjekten, zu elitären Adressen,
zu exquisiten Kanälen und machtnahen Korridoren. Zugangskompetenz
ist heute das Schlüsselgut, nicht Grundeigentum. Wir beobachten eine
rasante Refeudalisierung auf überterritorialem Niveau. Und naturgemäß
lebt niemand feudaler als jemand, der innerhalb des neuen Metavolks, des
10-Millionen-Volkes der Reichen, von gleich zu gleich kommuniziert.
Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar
2009, S. 118 |
Den Armen erscheint die Welt als ein Ort,
an dem die nehmende Hand der anderen sich schon alles angeeignet hat,
bevor sie selber den Schauplatz betraten.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Der Sündenfall geschieht, sobald der Privatbesitz aus dem
Gemeinsamen ausgegrenzt wird. Er zeugt sich fort in jedem späteren
ökonomischen Akt.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Auf dem Grund jeder revolutionären Respektlosigkeit findet
man die Überzeugung, daß das Früher-Dagewesensein der
jetzigen »rechtmäßigen« Besitzer letztlich nichts
bedeutet. Von der Respektlosigkeit zur Enteignung ist es nur ein Schritt.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Alle Avantgarden verkünden, man müsse mit der Aufteilung
der Welt von vorn beginnen.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Wer bei der anfänglichen Landnahme zugegriffen hat, wird
auch bei späteren Machtnahmen ganz vorn sein.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Das Movens der modernen Wirtschaftsweise ist ... keineswegs im
Gegenspiel von Kapital und Arbeit zu suchen. Vielmehr verbirgt es sich
in der antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Es
ist die Sorge um die Rückzahlung von Krediten, die das moderne Wirtschaften
von Anfang an vorantreibt - und angesichts dieser Sorge stehen Kapital
und Arbeit auf derselben Seite.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Immerhin, in diesen Finanzkrisentagen erfährt man es schon
aus den Boulevardzeitungen: Der Kredit ist die Seele jedes Betriebs, und
die Löhne sind zunächst und zumeist von geliehenem Geld zu bezahlen
- und nur bei Erfolg auch aus Gewinnen. Das Profitstreben ist ein Epiphänomen
des Schuldendienstes, und die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers
ist der psychische Reflex des Zinsenstresses.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Es würde sich an dieser Stelle nicht lohnen, die Irrtümer
und Mißverständnisse aufzuzählen, die der abenteuerlichen
Fehlkonstruktion des Prinzips Eigentum auf der von Rousseau über
Marx bis zu Lenin führenden Linie innewohnen. Der letztgenannte hat
vorgeführt, was geschieht, wenn man die Formel von der Expropriation
der Expropriateure aus der Sphäre sektiererischer Traktate in die
des Staatsparteiterrors übersetzt. Ihm verdankt man die unüberholte
Einsicht, daß die Schicksale des Kapitalismus wie die seines vermeintlichen
Gegenspielers, des Sozialismus, untrennbar sind von der Ausgestaltung
des modernen Staates.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Um die unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit in der
gegenwärtigen Welt zu ermessen, ist es nützlich, sich an die
historische Verwandtschaft zwischen dem frühen Liberalismus und dem
anfänglichen Anarchismus zu erinnern. Beide Bewegungen wurden von
der trügerischen Annahme animiert, man gehe auf eine Ära geschwächter
Staatswesen zu. Während der Liberalismus nach dem Minimalstaat strebte,
der seine Bürger nahezu unfühlbar regiert und sie bei ihren
Geschäften in Ruhe läßt, setzte der Anarchismus sogar
die Forderung nach dem vollständigen Absterben des Staates auf die
Tagesordnung. In beiden Postulaten lebte die für das 19. Jahrhundert
und sein systemblindes Denken typische Erwartung, die Ausplünderung
des Menschen durch den Menschen werde in absehbarer Zeit an ein Ende kommen:
im ersten Fall durch die überfällige Entmachtung der unproduktiven
Aussaugungsmächte Adel und Klerus; im zweiten durch die Auflösung
der herkömmlichen sozialen Klassen in entfremdungsfreie kleine Zirkel,
die selber konsumieren wollten, was sie selber erzeugten.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, daß Liberalismus
wie Anarchismus die Logik des Systems gegen sich hatten. Wer eine gültige
Sicht auf die Tätigkeiten der nehmenden Hand hätte entwickeln
wollen, hätte vor allem die größte Nehmermacht der modernen
Welt ins Auge fassen müssen, den aktualisierten Steuerstaat, der
sich auch mehr und mehr zum Schuldenstaat entwickeln sollte. Ansätze
hierzu finden sich de facto vorwiegend in den liberalen Traditionen.
In ihnen hat man mit beunruhigter Aufmerksamkeit notiert, wie sich der
moderne Staat binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden
Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen ausformte.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Dies gelang ihm vor allem mittels einer fabelhaften Ausweitung
der Besteuerungszone, nicht zuletzt durch die Einführung der progressiven
Einkommensteuer, die in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales
Äquivalent zur sozialistischen Enteignung, mit dem bemerkenswerten
Vorzug, daß sich die Prozedur Jahr für Jahr wiederholen läßt
- zumindest bei jenen, die an der Schröpfung des letzten Jahres nicht
zugrunde gingen. .... Inzwischen hat man sich längst an Zustände
gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr
als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte
aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus,
ohne daß die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem
antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Angesichts der bezeichneten Verhältnisse ist leicht zu erkennen,
warum die Frage, ob der »Kapitalismus« noch eine Zukunft habe,
falsch gestellt ist.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Wir leben gegenwärtig ja keineswegs »im Kapitalismus«
- wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder
suggeriert -, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano
salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden
Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muß.
Offiziell heißt das schamhaft »Soziale Marktwirtschaft«.
Was freilich die Aktivitäten der nehmenden Hand angeht, so haben
sich diese seit ihrer Monopolisierung beim nationalen und regionalen Fiskus
überwiegend in den Dienst von Gemeinschaftsaufgaben gestellt. Sie
widmen sich den sisyphushaften Arbeiten, die aus den Forderungen nach
»sozialer Gerechtigkeit« entspringen. Allesamt beruhen sie
auf der Einsicht: Wer viel nehmen will, muß viel begünstigen.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
So ist aus der selbstischen und direkten
Ausbeutung feudaler Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich
gezügelte Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminister
ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung geleistet hat. Das
Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand bezeichnet, rechtfertigt
sich, idealtypisch wie pragmatisch, durch seine unverkennbare Nützlichkeit
für den sozialen Frieden - um von den übrigen Leistungen des
nehmend-gebenden Staats nicht zu reden. Der Korruptionsfaktor hält
sich dabei zumeist in mäßigen Grenzen, trotz anderslautenden
Hinweisen aus Köln und München. Wer die Gegenprobe zu den hiesigen
Zuständen machen möchte, braucht sich nur an die Verhältnisse
im postkommunistischen Rußland zu erinnern, wo ein Mann ohne Herkunft
wie Wladimir Putin sich binnen weniger Dienstjahre an der Spitze des Staates
ein Privatvermögen von mehr als 20 Milliarden Dollar zusammenstehlen
konnte.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Den liberalen Beobachtern des nehmenden Ungeheuers, auf dessen
Rücken das aktuelle System der Daseinsvorsorge reitet, kommt das
Verdienst zu, auf die Gefährdungen aufmerksam gemacht zu haben, die
den gegebenen Verhältnissen innewohnen. Es sind dies die Überregulierung,
die dem unternehmerischen Elan zu enge Grenzen setzt, die Überbesteuerung,
die den Erfolg bestraft, und die Überschuldung, die den Ernst der
Haushaltung mit spekulativer Frivolität durchsetzt - im Privaten
nicht anders als im Öffentlichen.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Autoren liberaler Tendenz waren es auch, die zuerst darauf hinwiesen,
daß den heutigen Bedingungen eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung
innewohnt: Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmißverständlich
und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen
Moderne dahin kommen, daß die Unproduktiven mittelbar auf Kosten
der Produktiven leben und dies zudem auf mißverständliche
Weise, nämlich so, daß sie gesagt bekommen und glauben, man
tue ihnen unrecht und man schulde ihnen mehr.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Tatsächlich besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population
moderner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen oder niederen Einkünften,
die von Abgaben befreit sind und deren Subsistenz weitgehend von den Leistungen
der steueraktiven Hälfte abhängt. Sollten sich Wahrnehmungen
dieser Art verbreiten und radikalisieren, könnte es im Lauf des 21.
Jahrhunderts zu Desolidarisierungen großen Stils kommen. Sie wären
die Folge davon, daß die nur allzu plausible liberale These von
der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven der längst
viel weniger plausiblen These von der Ausbeutung der Arbeit durch das
Kapital den Rang abläuft. Das zöge postdemokratische Konsequenzen
nach sich, deren Ausmalung man sich zur Stunde lieber erspart.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Die größte Gefahr für die Zukunft des Systems
geht gegenwärtig von der Schuldenpolitik der keynesianisch vergifteten
Staaten aus. Sie steuert so diskret wie unvermeidlich auf eine Situation
zu, in der die Schuldner ihre Gläubiger wieder einmal enteignen werden
- wie schon so oft in der Geschichte der Schröpfungen, von den Tagen
der Pharaonen bis zu den Währungsreformen des 20. Jahrhunderts. Neu
ist an den aktuellen Phänomenen vor allem die pantagruelische Dimension
der öffentlichen Schulden. Ob Abschreibung, ob Insolvenz, ob Währungsreform,
ob Inflation - die nächsten Großenteignungen sind unterwegs.
Schon jetzt ist klar, unter welchem Arbeitstitel das Drehbuch der Zukunft
steht: Die Ausplünderung der Zukunft durch die Gegenwart. Die nehmende
Hand greift nun sogar ins Leben der kommenden Generationen voraus - die
Respektlosigkeit erfaßt auch die natürlichen Lebensgrundlagen
und die Folge der Generationen.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand
leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung
der »Gesellschaft« zur Voraussetzung. Sie wäre nicht
weniger als eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung
der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit
- ohne daß der öffentliche Bereich deswegen verarmen müßte.
Diese thymotische Umwälzung hätte zu zeigen, daß in dem
ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere
die Oberhand gewinnen kann.
Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z,
13.06.2009 |
Ich werde zeigen, daß eine Rückwendung
zur Religion ebensowenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion
- aus dem einfachen Grund, weil es keine »Religion« und keine
»Religionen« gibt, sondern nur mißverstandene spirituelle
Übungssysteme ....
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
12 |
Wir haben Grund, bei Menschen nicht bloß mit einem einzigen
Immunsystem zu rechnen, dem biologischen, das in evolutionärer Sicht
an erster, in entdeckungsgeschichtlicher jedoch an letzter Stelle steht.
In der Humansphäre existieren nicht weniger als drei Immunsysteme,
die in starker kooperativer Verschränkung und funktionasler Ergänzung
übereinandergeschichtet arbeiten: Über den weitgehend automatisierten
und bewußtseinsunabhängigen biologischen Substrat haben sich
beim Menschen im Lauf seiner mentalen und soziokulturellen Entwicklung
zwei ergänzende Systeme zur vorwegnehmenden Verletzungsverarbeitung
herausgebildet: zum einen die sozio-immunologsichen Praktiken, insbesondere
die juristischen und solidarischen, aber auch die militärischen,
mit denen Menschen in »Gesellschaft« ihre Konfrontationen
mit fern-fremden Aggressoren und benachbarten Beleidigern oder Schädigern
abwickeln; zum anderen die symbolischen beziehungsweise psycho-immunologischen
Praktiken, mit deren Hilfe es den Menschen von alters her gelingt, ihre
Verwundbarkeit durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in
Form von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen mehr
oder weniger gut zu bewältigen.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
21-22 |
Weil es sich so verhält, ist Kulturwissenschaft möglich;
und weil nicht-naiver Umgang mit symbolischen Immunsystemen heute zu einer
Überlebensbedingung der Kulturen selbst geworden ist, ist Kulturwissenschaft
nötig.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
22-23 |
Der Übergang von der Natur in die Kultur und umgekehrt steht
seit jeher weit offen. Er führt über eine leicht zu betretende
Brücke - das übende Leben.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
25 |
»Archaischer Torso
Apollos. - Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die
Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt.
Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen
Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte,
die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern:
denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben
ändern.« -
Rainer Maria Rilke.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
40 |
Die effektivsten Anthroptechniken entstammen der Welt von gestern
- und die heute lautstark angepriesene oder verworfene Gentechnik wird
für lange Zeit, selbst wenn sie in größerem Maßstab
beim Menschen praktikabel und akzeptabel würde, am Umfang dieser
Phänomenen gemessen nur eine Anekdote bleiben.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
126 |
Religionen gibt es nicht.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
133 |
Ich erinnere an die in der Einleitung erläuterte These, daß
es beim Menschen nicht nur ein Immunsystem gibt, sondern deren drei, wobei
die religiösse Komplex fast ganz in den Funktionskreis des dritten
Immunsystems fällt.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
134 |
Nietzsches »Artisten-Metaphysik« kann an den Vorgaben
der darwinistischen Biologie unbemüht anknüpfen. Unter dem Aspekt
der Unwahrscheinlichkeitsbetrachtung sind natürliche Arten und »Kulturen«
- letztere definiert als traditionstüchtige Menschengruppen mit einem
hohen Dressur- und Kunstfertigkeitsfaktor - Phänomene auf demselben
Spektrum. In der Naturgeschichte der Artifizalität stellt die Natur-Kultur-Schwelle
keinen besonders nennenswerten Einschnitt dar; allenfalls einen Höcker
in einer Kurve, die von diesem Punkt an schneller steigt. Das einzige
Privileg der Kultur gegenüber der Natur besteht in ihrer Fähigkeit,
die Evolution als Kletterpartie auf dem Mount Improbable zu beschleunigen.
Beim Übergang von der genetischen zur symbolischen oder »kulturellen«
Evolution akzeleriert sich der Gestaltprozeß bis zu dem Punkt, an
dem die Menschen auf die Erscheinung des Neuen zu eigenen Lebzeiten aufmerksam
werden. Von da an nehmen Menschen zu ihrer eignen Innovationsfähigkeit
Stellung - und zwar bis vor kurzem fast immer ablehnend.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
188-189 |
Während Fortpflanzung bisher immer dem Primat der erzeugenden
Seite unterstand und an der geglückten Wiederkehr des Alten im Jüngeren
sein Erfolgskriterium besaß, soll in Zukunft das Kind den Vorrang
genießen - diesen erlangt es, wenn es, wie Nietzsche unmißverständlich
sagt, das Eine wird, das mehr ist als die zwei, die es schufen.
Diejenigen, die das nicht wollen, heißen letzte Menschen.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
191 |
Wie die westliche Welt den Schrecken der Arbeitslosigkeit kennt
(der soziologische Name der Depression), so die östliche den Horror
der Übungslosigkeit.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
421-422 |
Auf der Wiederholung ruht der Bestand der Welt - womit gegen das
Einmalige nichts gesagt ist, außer daß man es mißbraucht,
wenn man nur um das Goldene Kalb »Ereignis« tanzt. Es liegt
in der Natur der Naturen, Wiederholungssysteme für das Bewährte
zu sein, und für Kulturen gilt das in nahezu gleichem Maß.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
505 |
Für die frühen Modernen
setzt die Hingabe an die geistige Sphäre noch immer die Verweigerung
der Teilnahme am profanen Betrieb voraus. Und doch geraten sie,
die Proto-Virtuosen, schwankend zwischen den älteren Mönchsklausen
und den neueren Studios der Humanisten, in eine gesteigerte Lerndynamik.
Sie werden von einer Drift in die Selbstintensivierung erfaßt,
die mit den herkömmlichen monastischen Entselbstungsdressuren
nur noch eine widersprüchliche Einheit bildet. Aus diesen Intensivierungen
resultieren Tendenzen einer bedingten Teilhabe der Spirituellen
an der Welt. Unter modifizierter Verwendung des Ausdrucks des Neu-Phänomenologen
Hermann Schmitz bezeichne ich diese Rückwendung als »Wiedereinbettung«
des ausgegrenzten Subjekts. Dank erster Einbettung nehmen Individuen
unmittelbar an ihren Situationen teil. durch Wiedereinbettung finden
sie nach Phasen der Entfremdung in sie zurück. Wer das Eintauchen
in die Situation bejaht, ist auf dem Weg, zu werden, was Goethe
in eigener Sache gelegentlich »das Weltkind in der Mitten«
nannte
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
510 |
Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsche als Immunologe.
Mit Nietzsche verbindet sich das wenig verstandene
logische Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts: die Transformation
der Metaphysik in Allgemeine Immunologie - ein Ereignis, an dessen Nachvollzug
die moderne Philosophie ebenso wie die Theologie und die konventionelle
Soziologie bis heute gescheitert sind. (Allein die Luhmannsche Systemtheorie
hat aufgrund ihres metabiologischen Ansatzes den immunologischen Imperativ
in ihre Grundlagen intergriert. Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme,
1984, S. 504 f..) Durch die Offenlegung von Immunität als System
und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu erklärt. Er expliziert
sich als ein Wesen, das sich im Ungeheuren - Heidegger sagt: In-der-Welt
- sichern muß, selbst um den Preis monströser Bündnisse.
Klärungen dieses Typs hätten den Status der »Religion«
als der (neben dem Rechtswesen) umfassendsten immunitären Praxis
symbolischen Typs unmittelbar affizieren müssen - doch es hat ein
ganzes Jahrhundert gedauert, bis jüngere Formen von Kulturtheorie
und Theologie von den neuen Reflexionspotentialen Gebrauch machten.
Dabei waren schon in der Romantik die Weichen gestellt worden.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
521-522 |
Wie die bisher erste und einzige philosophisch durchgebildete
Theorie der Technik, die von Gotthard Günther, erläutert hat,
macht das Abfließen von transzendent mißverstandener Subjektivität
in die äußere Welt das metaphysische Schlüsselereignis
der Moderne aus. (Vgl. Gotthard Günther, Das Bewußtsein
der Maschinen - Eine Metaphysik der Kybernetik, 1957. Für Günther
ist noch unentschieden, ob das Abfließen von Reflexität in
die zweite Maschine als bloße Innenweltentleerung oder als Vertiefung
der Subjektivität dank ihrer Spiegelung in geistmimetischen Maschinen
von ständig wachsender Komplexität zu deuten sei. Siehe auch:
Gotthard Günther, Die amerikanische Apokalypse, a.a.O..) Wie
dadurch die Menschen an zwei Fronten zugleich unter Druck geraten, zeigen
die alltäglichsten Beobachtungen: Nicht nur stellen Menschen bereits
seit geraumer Zeit eine verschwindende Minderheit gegenüber den Bildern
dar - auf eine westliche Person des 20. Jahrhunderts entfallen zahllose
visuelle Erfassungen und Wiedergaben -, sie sind auch dabei, eine Minderheit
gegenüber den anthropomimetischen kognitionsmimetischen Maschinen,
den Computern, zu werden.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
566-567 |
Wer Belege für die explizite Aufhebung des 5. Gebots im 20.
Jahrhundert sucht, wird zuerst bei den intellektuellen Interpreten der
russischen Revolution fündig.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
623 |
Der Mensch ist ein Lebewesen, das zur Unterscheidung der Wiederholung
verdammt ist. .... Was seine Vernunft trübt, sind ncht zufällige
Irrtümer und okkasionelle Wahrnehmungefehler - es ist die ewige Wiederkehr
der Klischees, die wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
639, 640 |
Das ursprüngliche ethische Leben ist reformatorisch. Stets
will es die schlechte Wiederholung gegen die gute tauschen. Es möchte
korrupte Lebensformen durch integre ersetzen. Es strebt danach, dem Unreinen
auszuweichen und ins Reine einzutauchen. .... In diesem Rahmen emergiert
individualisierte Freiheit in ihrer ältesten und heftigsten Gestalt.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
641 |
Durch die Sezession der Übenden wird das gesamte Ökosystem
menschlichen Verhaltens auf veränderte Grundlagen gestellt. Wie alle
Explizitmachungen bewirkt auch das Auftauchen der frühen Übungssysteme
eine radikale Modifikation des jeweiligen Bereichs ....
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
642 |
Der Mensch ist ein Lebewesen, das nicht nicht
üben kann - wenn üben heißt: ein Aktionsmuster so wiederholen,
daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten
Wiederholung verbessert wird.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
643 |
In der Moderne hat sich das unendliche Begehren von den
Menschen getrennt. Es ist in das ökonomische System ausgewandert,
das seine eigen Ratlosigkeit erzeugt, während die Einzelnen sich
zunehmend davon überzeugen, daß sie den perversen Imperativ,
immer mehr zu begehren und zu enjoyen, nicht mehr folgen können.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
669 |
Zur Verteidigung des zweiten Silbernen Zeitalters.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
669 |
Allein in einer jargonfreien Sprache läßt
sich mit Zeitgenossen darüber reden, warum wir als Angehörige
der modernen Zivilisation zwar nicht in ein Goldenes Zeitalter gelangten,
uns aber auch nicht mehr als Bürger des Eisernen Zeitalters verstehen
dürfen. Im Gespräch über dieses Thema fallen Philosophie
und Nicht-Philosophie in eins, geschichtsphilosophische Thesen und alltägliche
Intuitionen gehen ineinander über. In einer mittleren Sprache ist
den hochtrabenden Konservativen zu widersprechen, die das Idiom der Eisernen
Zeit weiterpflegen, als ob nichts geschehen wäre. (Jüngeres
Beispiel: Robert D. Kaplan, Warrior Politics, 2002). In derselben
Tonart ist den lokal immer noch virulenten linksradikalen Ideologen entgegenzutreten,
die aus Enttäuschung über die fehlgeschlagene Rückkehr
ins Goldene Zeitalter alles tun, um das Silberne als Farce zu verleumden.
Nur in einem solchen Gespräch läßt sich der vernünftige
Inhalt der etwas übertrieben vorgetragenen und noch übertriebener
abgewehrten Reden über das »Ende der Geschichte« nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion wiederholen. Das »Ende der Geschichte«
(Anführungszeichen von mir; HB) ist
eine Metapher für die Außerkraftsetzung des im Eisernen Zeitalter
herrschenden Realitätsprinzips im Gefolge nicht-heroischer Maßnahmen
gegen die fünf Nöte ([1] Hunger, [2] Überlastung,
[3] Sexualnot, [4] Herrschaft/Feindschaft, [5] Sterbenmüssen; vgl.
ebd., S. 657-666; HB). Dazu gehören: ([1])
die industriepolitische Umstellung von Knappheit auf Überangebot;
([2]) die Arbeitsteilung zwischen Höchstleistern
und mäßig Angestrengten in Wirtschaft und Sport; ([3])
die allgemeine Deregulierung der Sexualität; ([4])
der Übergang zu herrenloser Massenkultur und feindloser Kooperationspolitik;
([5]) die Ansätze zu einer postheroischen
Thanatologie. Keine dieser Maßnahmen ist ohne Makel, nicht eine
von ihnen kann sich ganz über die Ebene der kleineren Übel erheben,
in manchen Aspekten werden sie sogar wie größere Übel
neuen Typs wahrgenommen. Darum neigen unzählige Bewohner des zweiten
Silbernen Zeitalters, das sich selbst nicht begreift, zur üblen Nachrede
über den neuen Zustand. Was man die »Postmoderne« (Anführungszeichen
von mir; HB) nennt, ist in weiten Teilen nichts anderes als die
mediale Ausschlachtung des Unbehagens am Zweitbesten - mit all den Risiken,
die Luxuspessimismen anhaften. Die Schicksalsfrage heißt: ob es
gelingt, die Standards des episodisch aufgetauchten Silbernen Zeitalters
zu stabilisieren oder ob der Rückfall in ein Eisernes Zeitalter vor
der Tür steht, von dessen Aktualität alte und neue Realisten
überzeugt sind - nicht zuletzt unter Hinweis auf die Tatsache, daß
mehr als zwei Drittel (hier irrt Sloterdijk, denn
es sind mehr als VIER FÜNFTEL! HB) der Menschheit es nie verlassen
haben. Ein solcher Rückfall wäre kein Schicksal, sondern eine
Folge mutwilliger Reaktionen gegen die Paradoxien des Daseins im Suboptimalen.
Die Entscheidung über den weiteren Lauf der Dinge hängt davon
ab, ob der Lernzusammenhang der Moderne durch sämtliche technischen,
politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, epistemologischen und sanitären
Krisen hindurch zu einem hinreichend stabilen Kontinuum des Besserungswissens
und Optimierungskönnens auszubauen ist. Wie wenig sich dieses Kontinuum
von selbst versteht, ist an der Tatsache abzulesen, daß die Ideengeschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts eine endlose Serie von Aufständen der
Zivilisationsfeindschaft und des antitechnischen Ressentiments hervorbrachte,
gleich ob diese im Namen des Glaubens, der Seele, des Lebens, der Kunst,
des Volkstums, der kulturellen Identität oder der Artenvielfalt erfolgten.
Diese Ausbrüche stellte Trainingsabbrüche dar, die der Modernitätsfitneß
schweren Schaden zuführten - und die Gefahr neuer Abbrüche ist
nicht gebannt, wie die Allgegenwart der roten, braunen, schwarzen und
grünen Fundamentalismen beweist. Der »Diskurs« der »Moderne«,
nicht nur der philosophische, verlangt nach einer ständigen Klärung
der Agenda und nach der Abwehr falscher Lehrpläne. Jede Generation
muß zwischen Eskapismen und traditionsfähigen Formen wählen.
Um auch nur die Möglichkeit eines effektiven Lernkontinuums zu sichern,
ist eine intensive Filterung der zeitgenössischen Ideenproduktion
unabdingbar - ein Aufgabe, die man vormals der inzwischen völlig
entkernten »Kritik« anvertrauen wollte. An die Stelle der
Kritik tritt eine affimative Zivilisationstheorie, die sich auf eine Allgemeine
Immunologie stützt (siehe unten S. 709f.). (Vgl.
auch oben S. 521 f.; HB).
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
670-672 |
Ausdifferenzierung der Teilsysteme .... Ausdifferenzierung
bedeutet die Etablierung strikt selbstreferentiell organisierter Strukturen
innerhalb eines Teilsystems bzw. eines »Praxisfeldes« - in
evolutionstheoretischen Ausdrücken: die Institutionalisierung von
Selfishneß. Es war Luhmanns ingeniöser Impuls, aufzuzeigen,
wie das Wachstum der Leistungsfähigkeit von Teilsystemen der modernen
»Gesellschaft«, gleich ob es um Politik, Wirtschaft, Recht,
Wissenschaft, Kunst, Kirche, Sport, Pädagogik oder Gesunheitswesen
geht, von der stetigen Zunahme ihrer Selbstbezüglichkeit abhängt,
bis hin zu ihrem Einschwingen in den Zustand vollständiger selbstreferentieller
Geschlossenheit. In moraltheoretischer Hinsicht impliziert dies die Umformung
der Selfishneß auf der Ebene der Teilsysteme in eine regionale Tugend.
Für die »Gesellschafts«kritik folgt hieraus: An die Stelle
von hilflosem Protest gegen den Zynismus der Macht tritt systemische Aufklärung
- sprich Abklärung der Aufklärung.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
681 |
»Du mußt dein Leben ändern!«.
Die Stimme, die Rilke im Louvre zu sich sprechen hörte, hat sich
inzwischen von ihrem Ursprung gelöst. Binnen eines Jahrhunderts ist
sie in den allgemeinen Zeitgeist eingeflossen, ja, sie ist zum letzten
Inhalt all der Kommunikationen geworden, die um den Globus schwirren.
Es gibt im Augenblick keine Information im Weltäther, die nicht ihrer
Tiefenstruktur nach auf diesen absoluten Imperativ zu beziehen wäre.
Es ist der Ruf, der sich nie zu einer bloßen Tatsachenfeststellung
neutralisieren läßt, er bildet den Imperativ, der durch alle
Indikative hindurchwirkt. Er artikuliert das Leitwort, das die zahllosen
chaotischen Informationspartikel zu einer prägnanten moralischen
Gestalt anordnet. Aus ihm spricht die Sorge um das Ganze. Es läßt
sich nicht leugnen: Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung
in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht,
daß es so nicht weitergehen kann.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
699 |
Noch einmal haben wir Grund, an Nietzsche zu erinnern. Er hatte
zuerst begriffen, in welchem Modus der ethische Imperativ auch in moderner
Zeit zu übermitteln ist: Er spricht uns in der Form eines Befehls
an, der eine bedingungslose Überforderung aufrichtet. Damit stellte
er sich gegen den pragmatischen Konsensus, wonach man von Menschen rechtens
nur verlangen dürfe, was sie im status quo zu leisten fähig
sind. Nietzsche setzte das ursprüngliche Axiom des übenden Lebens
dagegen, wie es seit dem Einbruch der ethischen Differenz in die herkömmlichen
Lebensformen feststeht: Der Mensch kommt nur voran, solange er sich am
Unmöglichen orientiert. Die maßvollen Gebote, die vernünftigen
Vorschriften, die alltäglich zu erbringenden Anforderungen - sie
alle setzen zu ihrer Verwirklichung bereits eine hyperbolische Spannung
voraus, die einem unerfüllbaren und unausweichlichen Anspruch entspringt.
Was ist der Mensch, wenn nicht das Tier, von dem zuviel verlangt wird?
Nur wer das erste Gebot aufrichtet, kann zehn Gebote folgen lassen. Im
ersten redet das Unmögliche selbst mich an: Du sollst keine anderen
Maßstäbe haben neben mir. Wer nicht vom Übergroßen
erfaßt wurde, gehört nicht zur Gattung homo sapiens.
Zu ihr rechnet schon der erste Jäger in der Savanne, der den Kopf
hob und verstand, daß der Horizont keine schützende Grenze
ist, sondern das Tor, durch das die Götter und die Gefahren eintreten.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
699-700 |
Den Philosophen Hans Jonas verdanken wir den Beweis, daß
die Eule der Minerva nicht immer in der Abenddämmerung ihren Flug
beginnt. Durch seine Umformung des kategorischen Imperativs in einen ökologischen
Imperativ hat er die Möglichkeit vorausschauenden Philosophierens
für unser Zeitalter demonstriert: »Handle so, daß die
Wirkungen deines Handelns verträglich sind mit der Permanenz echten
menschlichen Lebens auf Erden.« Damit nimmt der metanoetische Imperativ
für die Gegenwart, der den kategorischen zum absoluten steigert,
hinreichend Konturen an. Er stellt die harte Forderung auf, uns auf die
Monstrosität des konkret gewordenen Universellen einzulassen. Er
verlangt von uns den Daueraufenthalt im Überforderungsfeld enormer
Unwahrscheinlichkeiten. Weil er jeden persönlich anredet, muß
ich seinen Appell auf mich beziehen, als wäre ich sein einziger Adressat.
Von mir wird gefordert, mich zu verhalten, als könnte ich auf der
Stelle wissen, was ich zu leisten habe, sobald ich mich als Agent im Netzwerk
der Netzwerke begreife. Ich soll die Wirkungen meines Handelns in jedem
Augenblick auf die Ökologie der Weltgesellschaft hochrechnen. Mir
scheint sogar, ich solle mich lächerlich machen, indem ich mich als
Mitglied eines Sieben-Milliarden-Volks verstehe - obwohl mir schon die
eigene Nation zuviel ist. Ich soll als Weltbürger meinen Mann stehen,
selbst wenn ich meine Nachbarn kaum kenne und meine Freunde vernachlässige.
Mögen die meisten neuen Volksgenossen auch unerreichbar bleiben,
weil »Menschheit« weder eine gültige Adresse noch eine
begegnungsfähige Größe darstellt: Ich habe dennoch den
Auftrag, ihre reale Gegenwart bei jeder eigenen Operation mitzubedenken.
Ich soll mich zu einem Fakir der Koexistenz mit allem und allen entwickeln
und meinen Fußabdruck in der Umwelt auf die Spur einer Feder reduzieren.ge
Adresse noch eine begegnungsfähige Größe darstellt: Ich
habe dennoch den Auftrag, ihre reale Gegenwart bei jeder eigenen Operation
mitzubedenken. Ich soll mich zu einem Fakir der Koexistenz mit allem und
allen entwickeln und meinen Fußabdruck in der Umwelt auf die Spur
einer Feder reduzieren.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
708-709 |
Mit diesen Mandaten ist der Tatbestand der Überforderung
ebenso erfüllt wie durch die alteuropäische imitatio Christi
oder das indische moksha-Ideal. Da es vor dieser Forderung kein
Entrinnen gibt, es sei denn das Ausweichen in die Betäubung, stellt
sich die Frage, ob sich ein vernünftiges Motiv darstellen läßt,
mit dessen Hilfe die Kluft zwischen dem erhabenen Imperativ und der praktischen
Übung zu überbrücken wäre. Ein solches Motiv läßt
sich - stellt man die Phantome des abstrakten Universalismus beiseite
- allein aus einer Überlegung der Allgemeinen Immunologie gewinnen.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
709 |
Immunsysteme sind verkörperte bzw. institutionalisierte
Verletzungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterscheidung
zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Während sich die biologische
Immunität auf die Ebene des Einzelorganismus bezieht, betreffen die
beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen, sprich die kooperativen,
transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz. Das solidaristische
System garantiert Rechtsicherheit, Daseinsvorsorge und Verwandtschaftsgefühle
jenseits der jeweils eigenen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit,
Kompensation der Todesgewißheit und generationenübergreifende
Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: »Leben«
ist die Erfolgsphase eines Immunsystems.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
709-710 |
»Leben« ist die Erfolgsphase eines
Immunsystems. Wie das biologische Immunsystem können auch das solidaristische
und das symbolische Phasen der Schwäche, ja sogar der Beinahe-Erfolglosigkeit
durchlaufen. Solche äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung
der Menschen als Labilität des Wertbewußtseins und als Ungewißheit
hinsichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusammenbruch
ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
710 |
Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
712 |
Wenngleich der Kommunismus von vornherein ein Konglomerat
aus wenigen richtigen und vielen falschen Ideen war, sein vernünftiger
Anteil: die Einsicht, daß gemeinsame Lebensinteressen höchster
Stufe sich nur in einem Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen
lassen, muß sich früher oder später von neuem geltend
machen. Sie drängt auf eine Makro-Struktur globaler Immunisierungen:
Ko-Immunismus. (Ist das Sloterdijks Koimmunistisches
Manifest? HB [*LÄCHEL*].)
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
713 |
Eine solche Struktur heißt Zivilisation.
Ihre Ordensregeln sind jetzt oder nie zu verfassen. Sie werden die Anthropotechniken
codieren, die der Existenz im Kontext aller Kontexte gemäß
sind. Unter ihnen leben zu wollen würde den Entschluß bedeuten:
in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens
anzunehmen.
Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S.
713-714 |
Mit Immanuel Kants kritischem Werk beginnt
jene Parallelaktion zwischen deutscher Philosophie und französischer
Revolution, die schon von den Zeitgenossen als epochale Konstellation
bemerkt worden war. Tatsächlich vollzieht sich in beiden Bewegungen
- wie in ihrer gemeinsamen Voraussetzung, der industriellen und geldwirtschaftlichen
Revolution des 17. und 18. Jahrhunderts - der Durchbruch zu jenem bürgerlichen
Zeitalter, das seither den Namen moderne Welt zu tragen verdient. Eine
bürgerliche ist die Kantische Philosophie in mehrfacher Hinsicht.
Sie ist zivil zunächst, weil sie die Emanzipation des philosophischen
Denkens von der Bevormundung durch die Theologie der positiven geoffenbarten
Religion einklagt. Daran hat Kant mit existenzieller Konsequenz festgehalten
.... Kants Denken ist bürgerlich aus einem weiteren Grund: Er artikuliert
sich auf der Grenze zwischen der akademischen Kommune und der allgemeinen
Öffentlichkeit und appelliert noch in seinen technisch schwierigsten
Teilen zumindest der Möglichkeit nach an den kritisch gewonnen Konsensus,
der sich aus dem Gespräch der Verständigen über öffentliche
Gegenstände ergeben soll. .... Noch in einem dritten Sinn ist das
Denken Kants durch eine fundamentale Bürgerlichkeit bestimmt: Kant
begreift die Stellung des Menschen in der Welt weder als Kosmopolitie
im Sinne der antiken Weisheitslehren noch als Geschöpflichkeit unter
Gott im Sinne mittelalterlicher Theologie: Der Kantische Mensch ist von
Grund auf Gattungsgenosse und insofern Weltbürger. Die Kantische
Welt-Polis freilich ist nicht, wie die antike, das Resultat einer Übertragung
städtischer Ordnungsvorstellungen auf das Weltall; sie entspringt
vielmehr aus der Anwendung des Freiheits- und Selbstbehauptungsgedankens
auf die Gesamtheit vernunftfähiger Wesen, also das Menschengeschlecht
in jenem universalen oder globalen Umfang, wie es Europäer nach dem
Zeitalter der Entdeckungen und Kolonialisierungen zu konzipieren genötigt
waren. Darum gerät Kants Weltbürgertum zur Fortführung
der christlichen Heiligkeit mit Mitteln des bürgerlichen und des
Völkerrechts. .... Schließlich ist von Kants Bürgerlichkeit
in einer vierten Hinsicht zu reden: Kant ist Mitbegründer einer neuen
philosophischen Gattung, der Anthropologie, deren Aufgabe es ist, von
bürgerlicher Höhe aus über die vor- und außerbürgerlichen
Grundlagen des Menschseins zu reden: Sie handelt vom Menschen in seiner
naturhaften Verfassung. Anthropologie heißt seit Kant, den Menschen
nicht mehr direkt durch das Unmenschliche, das Tier, und das Übermenschliche,
den Gott, zu deuten. Anthropologie modernen Stils wird erst möglich,
seit sich verdeutlicht hat, daß der Mensch jenes hyperbolische Haustier
ist, das sich, sofern es Vernunft annimmt, selber um seine Züchtung
zu kümmern hat. Es kann nicht länger durch eine angebliche Zucht
Gottes oder ein vermeintliches Diktat einer unmittelbaren Natur bestimmt
werden - es ist ... zur Selbsterziehung verdammt.
Peter
Sloterdijk, Philosophische Temperamente, 2009, S. 64, 65,
66, 67-68 |
Schopenhauer ist der erste Denker ersten Ranges
gewesen, der aus der abendländischen Vernunftkirche ausgetreten ist.
.... Er gab den griechischen und jüdisch-christlichen Theologien
einen prägnanten Abschied. Das Allerwirklichste hatte für ihn
aufgehört, ein göttliches vernünftig-gerechtes Geistwesen
zu sein. Mit seiner Willenslehre springt die Theorie des Weltgrundes um
vom frommen Rationalismus ... zu einer von Grauen und Staunen geprägten
Anerkennung des Arationalen; Schopenhauer statuiert zuerst die vernunftfreie
Energie- und Triebnatur des Seins. Darin ist er einer der Väter des
psychoanalytischen Jahrhunderts; er könnte sich künftig noch
als entfernter Schutzherr und Verwandter eines chaostheoretischen und
systemischen Zeitalters erweisen. Daß er den asiatischen Weisheitslehren,
dem Buddhismus zumal, mit höchstem Respekt die europäischen
Türen geöffnet hat: darin könnte auf lange Sicht seine
wichtigste geistesgeschichtliche Wirkung liegen. .... Von Schopenhauer
könnte der Satz stammen: nur die Verzweiflung kann uns noch retten;
er hatte freilich nicht von Verzweiflung, sondern von Verzicht gesprochen.
Verzicht ist für die Modernen das schwierigste Wort der Welt. Schopenhauer
hat es gegen die Brandung gerufen.
Peter
Sloterdijk, Philosophische Temperamente, 2009, S. 94-95 |
Foucaults Philosophentum wäre aber nicht vollständig
gewesen, hätte es nicht zugleich mit dem Epistemologen und Archäologen
auch den Politiker und Ethiker Foucault gegeben, der sich der Herausforderung
stellte, das Kernstück aller Philosophie, die Theorie der Freiheit,
neu zu denken: nicht mehr im Stil einer philosophischen Theologie der
Befreiung alias Entfremdungstheorie, sondern als eine Lehre von dem Ereignis,
das den einzelnen freigibt und in dem er sich gestaltet und aufs Spiel
setzt. Was er in einem Nachruf auf einen verstorbenen Freund, den christlichen
Kantianer Maurice Chavel, bemerkte, läßt sich auch als eine
hellsichtige und freimütige Charakteristik seines eigenen Unternehmens
lesen: »Er stand im Herzen dessen, was es wahrscheinlich an Wichtigstem
in unserer Epoche gibt. Ich will sagen: eine sehr umfassende und sehr
tiefgreifende Veränderung in dem Bewußtsein, das der Okzident
sich nach und nach von der Geschichte und von der Zeit gebildet hat. Alles,
was dieses Bewußtsein organisierte, alles, was ihm seine Kontinuität
gab, alles, was ihm seine Vollendung versprach, zerreißt. Gewisse
Leute würden es gern wieder zusammenflicken. Er hingegen sagte uns,
daß man - sogar heute - die Zeit anders leben muß. Vor allem
heute.«
Peter
Sloterdijk, Philosophische Temperamente, 2009, S. 141-142 |
Vermutlich sind Fragen des Nehmens und Gebens
- neben der Sexualität - die sensitivsten Angelegenheiten, die überhaupt
vor Publikum verhandelt werden können. Es sind die Fragen, die unverkennbar
die thymotischen (die stolzhaften, die zornhaften und die ressentimenthaften)
Leidenschaften aufwühlen - Affekte, denen ich in meinem Buch »Zorn
und Zeit« einigermaßen umfangreiche Überlegungen gewidmet
habe.
Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer,
in: F.A.Z, 27.09.2009 |
Ich stelle noch einmal in Kürze dar, worauf mein aktueller
Aufsatz im Rahmen der »Krise-des-Kapitalismus-Debatte« der
F.A.Z. hinaus wollte: Der moderne Steuerstaat hat das Zeitalter der einseitigen
Plünderung der Armen durch die Mächtigen beendet - eine Tatsache,
die schlechthin niemand auf der Welt bedauern dürfte. Der Proudhonsche
Satz: »Eigentum ist Diebstahl« hatte die alte Ordnung der
Dinge polemisch auf den Begriff gebracht. Seither hat die politische Moderne
ein weltgeschichtlich beispielloses System der Umverteilung erarbeitet,
in dem der zugleich liberale und soziale Staat sich Jahr für Jahr
rund die Hälfte aller Wertschöpfungsergebnisse der wirtschaftenden
Gesellschaft aneignet und diese nach Maßgabe seiner Funktionen und
Pflichten neu verteilt - in der Bundesrepublik Deutschland macht die Abschöpfungsmasse
seit dem Jahr 2000 regelmäßig eine Summe von etwa 1000 Milliarden
Dollar aus. Der »nehmende Staat« beruft sich - zumindest auf
dem linken Parteienspektrum - noch heute auf die Überzeugung, daß
gegen den ungerechten primären Diebstahl nur ein korrigierender gerechter
Gegendiebstahl Abhilfe schafft: Marxistisch heißt diese Prozedur
seit dem 19. Jahrhundert Expropriation der Expropriateure.
Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer,
in: F.A.Z, 27.09.2009 |
Mein Aufsatz nimmt gegenüber dieser
Entwicklung eine bedingungslos bejahende Perspektive ein. Seit Jahren
werde ich nicht müde, auf einschlägigen Konferenzen meine Überzeugung
zu bekennen, daß die progressive Einkommenssteuer die maßgeblichste
moralische Errungenschaft seit den Zehn Geboten darstellt. Weil ich die
Denkfigur des Gegendiebstahls wichtig, um nicht zu sagen: epochal bedeutsam
finde (sie hat von Rousseau über Marx und Lenin bis hin zu Steinbrück
Geschichte gemacht), verwende ich für sie gelegentlich auch das provozierende
Wort »Kleptokratie« - ein Ausdruck, der geeignet ist, Habende
und Nichthabende aus ihrem dogmatischen Schlummer zu wecken.
Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer,
in: F.A.Z, 27.09.2009 |
Als unverbesserlicher Verteidiger einer sozialdemokratischen
(oder wie ich der Deutlichkeit zuliebe sage: semi-sozialistischen) Logik
habe ich nur einen einzigen, allerdings schwerwiegenden Einwand gegen
die bestehenden Verhältnisse vorzubringen: Ich nehme daran Anstoß,
daß niemand das aktuelle System der Zwangsbesteuerung als solches
in Frage stellt - auch wenn man hin und wieder über die »Vereinfachung«
der Besteuerungsverfahren und über deren Reform im Sinne der »sozialen
Gerechtigkeit« diskutiert. Nirgendwo wird auch nur hypothetisch
darüber nachgedacht, ob es nicht besser insgesamt durch eine geregelte
Praxis der öffentlichen Spenden zu ersetzen wäre. Tatsächlich
endet mein Aufsatz mit dem Aufruf zu einem moralisch und politisch anspruchsvollen
Gedankenexpriment: Angenommen, der moderne Staat brauchte tatsächlich
genau die Summen, die er heute durch Zwangssteuern eintreibt: So soll
er sie erhalten.
Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer,
in: F.A.Z, 27.09.2009 |
Jedoch: Wäre es dann nicht viel würdevoller und sozialpsychologisch
produktiver, dieselben Beträge würden nicht durch fiskalische
Zwangsabgaben aufgebracht, sondern in freiwillige Zuwendungen von aktiven
Steuerbürgern an das Gemeinwesen umgewandelt? Würde man nicht
erst nach dieser Umstellung von Enteignung auf Spende wirklich von einer
Zivilgesellschaft sprechen dürfen, in der die Bürger mit dem
Gemeinwesen durch eine permanente Selbstüberwindung und eine stetige
Bestätigung des Etwas-Übrig-Habens fürs Allgemeine und
Gemeinsame verbunden sind? Würde nicht erst durch eine solche Veränderung
die Wende von einer gierbeherrschten zu einer stolzbewegten Gesellschaftsform
bewirkt, von der so viele Kritiker der bestehenden Verhältnisse -
gerade auch im linken Spektrum - zu träumen schienen? Was soll überhaupt
aus einer Linken werden, die exklusiv an den Begriffen »Enteignung«
und »Besteuerung« klebt und der zu einer Ethik der Gabe schlechterdings
nichts einfällt?
Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer,
in: F.A.Z, 27.09.2009 |
Ein letztes Wort zu dem von Ihnen geäußerten Wunsch,
eine breite Debatte über den Gegensatz von »Professorenphilosophie
und »literarischer Philosophie in Gang zu setzen: Dies könnte
nur dann zu einer erhellenden Auseinandersetzung führen, wenn es
den so bezeichneten Gegensatz wirklich gäbe. In Wahrheit, fürchte
ich, existiert eine solche Front allein in der Einbildung von verständnislosen
externen Beobachtern. Es gibt nur plausible und unplausible Argumente,
kreatives und stagniertes Denken, mutige und feige Reflexion, großzügige
und bornierte Gesinnung, interessante und langweilige Schreibweise. Es
wäre verrückt zu glauben, solche Gegensätze hätten
etwas mit dem »Gattungsunterschied« zwischen akademischem
und literarischem Theorie-Stil zu tun. Dies wäre eine Beleidigung
für die guten Autoren auf beiden Seiten und ein Affront gegen die
guten Leser hier wie dort. Nun urteilen Sie selbst, wo unser ziemlich
boshafter und sehr leseschwacher Philosophieprofessor (Axel
Honneth aus der »Frankfurter Schule«; HB) einzuordnen
ist.
Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer,
in: F.A.Z, 27.09.2009 |
Was lernt man aus der ganzen Affäre? Ich denke: nichts, was
nicht längst offenkundig war. Ich besitze seit längerer Zeit
eine beachtliche Sammlung an Beispielen dafür, wie weit manche abgehängte
Kollegen bei der Zurschaustellung ihrer Stagnation und Frustration zu
gehen bereit sind. Nun hat unser unglücklicher Frankfurter Professor
(Axel Honneth aus der »Frankfurter Schule«;
HB) ein neues Beispiel hinzugefügt. Enthält es eine
neue Information? Ich sehe keine, außer vielleicht dieser: So, wie
es kein staatlich festlegbares Limit für die Gier von Finanzmanagern
gibt, so gibt es auch keine legale Obergrenze für Giftkonzentrationen
in glücklosen Philosophieprofessoren.
Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer,
in: F.A.Z, 27.09.2009 |
Ein Gutes hat die Krise ja: sie führt
zu einem rapiden Vertrauensverlust in die Standardtheorien der Volkswirtschaft,
wir wie sie seit 200 Jahren gekannt haben. Ich habe noch nie so viele
offene Bankrotterklärungen für kursierende Theorien gelesen
wie während des letzten Jahres. Ich muß zugeben: ich habe die
immer mit Genugtuung gelesen, weil ich zweifellso nicht der einzige Konsument
dieser Theorien bin, der seit langem von dem Gefühl begleitet worden
ist, daß ... - in diesen 200 Jahren, die wir Volkswirtschaftstheorien
betreiben - ... wir überhaupt noch nicht zur Sache gekommen sind.
Weswegen ich ja auch immer wieder auf dieses Buch von Otto Steiger und
Gunnar Heinsohn (Eigentum, Zins und Geld)
hinweise, wo ich das Gefühl habe: da kippt die Theorieszene in eine
schlüssige Figur um, die offenbar das Zeug dazu hat, ein stabiles
Modell zu liefern, an dem man sich in Zukunft orientieren kann.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
Oktober 2009 |
Also: Theorien sterben auf breiter Front;
wir sind in einer »Darwinistischen Idealsituation«, auch wenn
zum Theoriesterben noch sehr viele Pensionierungen stattfinden müssen.
.... Es könnte sein, daß diese neuen Theorien, die eine Art
Verhaltensforschung im Bereich des irrationalen Verhaltens von Menschen
ansiedeln, und eine sehr stark rational strukturierte Theorie des Wirtschaftszusammenhangs
..., die den Zusammenhang zwischen Eigentum, Zins und Geld betrifft: da
gibt es möglicherweise ein konvergente Bewegung. Ich meine, dies
wahrzunehmen, zumindest in der Hinsicht, daß die Skepsis gegen die
traditionellem Theorien immer mehr um sich greift. Und immer mehr Bankleute
geben doch offen zu, daß sie nicht verstehen, was sie tun.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
Oktober 2009 |
Was macht aber das breite Publikum ... in dieser spannenden und
tragischen Welt? Die Menschen fordern ja doch ihre Rechte auf Wohlstand
ein, aber noch mehr vielleicht sogar ihre Rechte auf Illusionen. Und dabei
denkt man - im Blick auf diese kollektiven Stimmungen - an ein starkes
Bild, das Friedrich Nietzsche geprägt hat, in dem er den Menschen
beschreibt als ein Geschöpf, das auf dem Rücken eines Tigers
in Träumen hängt und der erwachend nicht weiß, ob er absteigen
soll oder besser in seine Träumerei zurückkehrt. Ich glaube,
wir stehen heute vor der Wahl, entweder weiter zu träumen oder zu
lernen, wie man Tiger domestiziert. - Guten Abend.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
Oktober 2009 |
Im finanztheoretischen Jargon heißen
Leistungsträger die 25 Millionen Steueraktiven, die vorläufig
noch damit einverstanden sind, in Deutschland zu leben, und aus deren
Einkommen sowie aus den davon abzuführenden Abgaben praktisch alles
stammt, was die 83-Millionen-Population des Landes am Leben hält.
Wer es genauer wissen will, kann offiziellen Tabellen die aktuellen Zahlen
entnehmen: Allein das obere Zwanzigstel der Leistungsträger bestreitet
gut 40% des Gesamtaufkommens an Einkommenssteuern, das obere Fünftel
70%.
Peter
Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero,
November 2009, S. 106 |
Insbesondere haben Ricardo und Marx die folgenschwerste Verwirrung
gestiftet, als sie dozierten, die »Wertschöpfung« gehe
letztlich ausschließlich auf den Faktor »Arbeit« zurück.
Es gibt vermutlich keine zweiten Fall in der Geschicht der Ideen, in dem
ein theoretischer Irrtum so große praktische Folgen nach sich zog.
Auf ihm basiert ein bis heute virulentes System der Leistungsträgerverleumdung,
das sich über zweihundert Jahre von den Frühsozialisten bis
zu den Postkommunisten erstreckt. Der Zeitpunkt scheint gekommen, den
Pflock endlich tief genug in den Boden einzuschlagen, damit nie wieder
hinter die entscheidende Erkenntnis zurückgegangen wird: daß
in der modernen objektiv sozialdemokratisierten Staats- und Gesellschaftswirklichkeit
die Leistungsträger im genannten Sinn summa summarum zu einer
gebenden Größe geworden sind. Sie können auf der Geberseite
mit eindrucksvollen Summen in Erscheinung treten, weil sie und solange
sie als Erwirtschafter von Einkommen nicht unbelohnt bleiben. Gewiß,
es gab und gibt hierbei Exzesse, die nach Korrektur verlangen, im 21.
Jahrhundert nicht anders als im 19. Wer aber reflexhaft »Kapitalismus«
ruft, beweist nur, daß er nichts begriffen hat. Wir brauchen statt
ökonomischer Halbgedanken ein neues und zu Ende durchdachtes Modell
vom Nexus zwischen Eigentum, Zins und Geld. Im Klartext: Es ist Zeit,
Gunnar Heinsohn zu lesen.
Peter
Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero,
November 2009, S. 106 |
Bürgertum bedeutet eigentlich so etwas
wie »Adel für Alle«, nämlich: Staatsbürgertum.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
Mai 2010 |
Die Mitte wird von zwei Seiten unter Druck gesetzt. Die Mitte
läßt sich von den Spekulanten viel Geld abnehmen und führt
ihrerseits enorme Summen ... in dieses soziale Segment ab, das wir hier
die Transferempfänger genannt haben.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
Mai 2010 |
Wie wir noch längst nicht alle Konsequenzen
aus dem Satz »Gott ist tot« gezogen haben, sind uns auch bei
weitem noch nicht sämtliche Implikationen des Satzes »der reine
Beobachter ist tot« bewußt.
Peter
Sloterdijk, Scheintod im Denken, 2010, S. 14 |
Man könnte die historischen Komplikationen im Verhältnis
zwischen Philosophie und Politik am besten durch vier Modifikationen der
Herrin-Magd-Beziehung wiedergeben: Die antike Philosophie stellte sich
als eine Herrin vor, die die Politik zu ihrer Magd machen wollte. Im christlichen
Weltalter wurde sie selbst zur Magd der Theologie. Die neuzeitliche Philosophie
unternahm einen neuen Anlauf, zur Herrin der Welt zu werden, konnte diesen
Anspruch jedoch nur verwirklichen, indem sie die Wissenschaften aus sich
entließ, die ihrerseits zu Mägden der faktischen Herrin Technik
wurden. Die Philosophie verliert schließlich den Kampf um die Macht
auf der ganzen Linie ....
Peter
Sloterdijk, Scheintod im Denken, 2010, Anmerkung 32, S. 83 |
In jedem authentischen Austausch zwischen Menschen
ist der Vorsprung des Gebens uneinholbar. Gerechtigkeit kann nur jenseits
der Symmetrie von Nehmen und Geben gedacht werden. Sie läßt
sich nie ohne Ungleichheit und Einseitigkeit vorstellen.
Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 45 |
Und je weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere
Konzepte blicken zurück.
Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 50 |
Mitte sein heißt heute: riskieren, zwischen zwei Undankbarkeiten
zerrieben zu werden.
Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 52 |
Es ist nicht ganz einfach, vor unseren christlich-miserabilistischen
Hintergrund ein positives Verhältnis zum Reichtum zu entwickeln.
Wir sprechen leiber Arme selig als Millionäre.
Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 63 |
Die gute Nachrhicht heute lautet: Die Renaissance ist nicht vorüber.
Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010,
S. 64 |
Einwanderung ohne Bedingungen .... Die Bundesrepublik
Deutschland ist der karikativste Staat der Menschheitsgeschichte ....
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
Oktober 2010 |
Je weiter man heute nach links schaut, desto
reaktionärere Konzepte blicken zurück.
Peter
Sloterdijk, Warum ich doch recht habe, in: Die Zeit, 02.12.2010 |
Tatsächlich ist der psychopolitische Großkörper,
den wir Gesellschaft nennen, nichts anderes als eine von medial inszenierten
Streß-Themen in Schwingung versetzte Sorgengemeinschaft.
Peter
Sloterdijk, Streß und Freiheit, 2011, S. 38 |
In Wahrheit ist Freiheit nur ein anderes Wort
für Vornehmheit, das heißt für die Gesinnung, die sich
unter allen Umständen am Besseren, am Schwierigeren orientieren,
eben weil sie frei genug ist für das weniger Wahrscheinliche, das
weniger Vulgäre, das weniger Allzumenschliche.
Peter
Sloterdijk, Streß und Freiheit, 2011, S. 57-58 |
Ich habe nur die Judikative, die Legislative
und die Exekutive genannt, aber die Spekulative habe ich nicht bemerkt.
Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken
atmen tief durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Niemand mehr ist heute Nationalsozialist, aber alle sind Sozialnationalisten.
Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken
atmen tief durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Habermas ... baut wie immer seine Häuser vom
Dach aus.
Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken
atmen tief durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Es gibt ja längst die ganz große Koalition der Postdemokraten,
die heute die europäischen Schicksale unter sich aushandeln. Natürlich
ist es eine wohlwollende Postdemokratie, aber es ist eine, die die Mitwirkung
des Bürgers an all den Manövern nach wie vor nur in dieser würdelosen,
vom Absolutismus abgeleiteten Form der Zwangsfiskalität erzwingen
will. Bei Habermas gäbe es mehr Parlamentsbetrieb und mehr Wahlen,
aber im Grunde wäre sein Europa dasselbe Monster aus 27 Zwangssteuerstaaten,
bei dem jetzt schon den Bürgern Hören und Sehen vergeht, nur
mit mehr symbolischem Überbau. Wenn die Europäer noch etwas
mehr Stolz hätten, könnte man dieses Spiel mit ihnen nicht mehr
treiben.
Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken
atmen tief durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Ich glaube, der Staat hat mit seinem Zentralbankwahn in den letzten
20 Jahren kapitale Fehler gemacht, und jetzt, da man die Folgen der Fehler
sieht, will er sie beheben, indem er die Fehler in noch größerem
Maßstab wiederholt. Man muß ja nur die Ergebnisse dieses Flutens
der Märkte einigermaßen aufmerksam studieren. Das Resultat
ist, daß dieses Geld ja zum allergrößten Teil, zu etwa
80 bis 90 Prozent, nicht in die reale Wirtschaft geht, sondern in die
Finanzspekulation. Wir haben es also mit rein technischen Zentralbankfehlern
zu tun .... Es sind die Zentralbankfehler, die der Spekulation Tür
und Tor geöffnet haben. Ich glaube deswegen auch kein Wort von dieser
Gierpsychologie, die im Augenblick so gesellschaftsfähig ist. Natürlich
gibt es einen Haben-wollen-Reflex in den Menschen, vor allem in der Form
von Auch-Haben. Es gibt den Sammeltrieb bei den Frauen und die Beuteerwartung
bei den Männern, und in unserem hermaphroditischen Zeitalter gehen
beide Aneignungsreflexe ständig durcheinander. Aber wer hat denn
das leichte Geld so hingelegt, daß jeder Passant ein Idiot sein
müßte, der es nicht mitnimmt? Es sind letztlich die Zentralbanker
gewesen, die die Spekulation ermöglicht haben.
Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken
atmen tief durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Die Wirtschaftswissenschaft macht auf mich den Eindruck einer
Disziplin, die ihre Grundlagen verloren hat. Die ganze Fakultät ist
in einem desolaten Zustand. Man bekommt mehr und mehr das Gefühl,
die Theorien als solche sind sich selbst wahrmachende Fiktionen, die man
an keinem äußeren Maßstab festmachen kann. Für den
Erkenntnistheoretiker ist das keine ganz neue Beobachtung. Niklas Luhmann
hat schon vor 20 Jahren statuiert: Gute Theorie ist wie Instrumentenflug
über einer geschlossenen Wolkendecke. Sichtflug ist nur für
Amateure, der Durchblick bis auf den Grund ist für den Sozialwissenschaftler
immer schädlich, weil er den Einflüsterungen seiner Subjektivität
und Sentimentalität erliegt.
Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken
atmen tief durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Sie kennen sicher Sebastian Haffners Buch
Erinnerungen eines Deutschen. Darin wird berichtet, wie gebannt
die 14- bis 16-Jährigen während des Ersten Weltkriegs die tägliche
Frontberichterstattung verfolgten. Das brachte rezeptionspsychologisch
einen historisch neuen Effekt hervor: die Zwangskollektivierung der Aufmerksamkeit.
Es war, als verfolgte das Volk der Jüngeren ein jahrelanges Champions-League-Turnier.
Die Jungen von 1914 bis 1918 waren daher medial indirekt darauf vorbereitet,
als Hitler seine Rückrunde verlangte. Aus der im Sommer 1914 über
uns verhängten Zwangskollektivierung durch Erregungsmedien sind wir
bis heute nicht ausgestiegen.
Peter
Sloterdijk, Vielleicht waren wir zu früh,
Gespräch, in: Zeit-Online, 11. Mai 2012 |
Aufmerksamkeit auf sich selbst - das
ist ja einfach die Art und Weise, wie moderne Subjekjtivität funktioniert.
Wirr sind zur Selbstbezüglichkeit verurteilt beziehungsweise zu ihr
erzogen worden. Das hat vor allem mit den Egotechniken zu tun, die unser
Leben seit 200 Jahren prägen.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 37 |
Die menschliche Existenz ist immer durch eine Art anthropologische
Differenz bestimmt: Auf der einen Seite gibt es Menschen, denen es schon
gelungen ist, Menschen zu sein in diesem erhöhten Sinn, und solchen,
die im Bereich der Vorstufen herumwerkeln. Seit dem zweiten Jahrtausend
vor Christus hat sich die anthropologische Differenz vor allem in der
Differenz zwischen dem heiligen und dem profanen Menschen zum Ausdruck
gebracht. Indien ist das Mutterland dieser Differenz ..., in der Antike
nimmt sie in einer indogermanischen Interpretation die Idee des Weisen
an. Die ganze Geschichte ist die Geschichte einer anthropologischen Differenz
zwischen Menschen, die es in einer spezifischen Hinsicht etwas weiter
gebracht haben, und Menschen, die es nicht so weit gebracht haben.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38 |
Gautama Buddha hat etwas erreicht - das haben alle seine Mitmenschen
gemerkt -, was er niemandem auf gezwungen hat. Sondern er hat andere immer
nur belehrt und damit ein natürliches Gefälle des Seins und
des Wissens mitgeteilt, das für all diejenigen, die in den Bereich
seiner Lehre gekommen sind, quasi unwiderstehlich gewirkt hat.
.... Das Anziehende ist daran, daß Buddha keine bloßen Verhaltensimperative
gibt, sondern jeder Imperativ immer auch mit einer Art Übungsregel
verknüpft wird.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38 |
Auch das Christentum hat eine Übungskultur um sich herum
ausgebildet, die die anthropologische Unwahrscheinlichkeit des Christseinkönnens
mit einer unglaublichen Heftigkeit zum Ausdruck gebracht hat. Da kamen
nämlich dann die Hochleistungschristen auf die Bühne, haben
sich von den griechischen Athleten das ganze Vokabular ausgeliehen bis
hin zum Gebrauch der beiden griechischen Trainingswörter »melete«
und »askesis«. Die ersten Mönche haben sich offen heraus
die Athleten Christi genannt. Und für ein ganzes Jahrtausend, eigentlich
bis zu Luther, war ja das Christentum in erster Linie Mönchsreligion.
Mit anderen Worten: Die Übermenschforderung ist die Substanz der
Anthropologie der alten Hochkulturen.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38 |
Die Moderne baut die Übermensch-Problematik
ab, nicht auf. Wir versuchen ja eher, einen egalitären Ausgleich
zwischen den Hochleistern und den Nichtleistern herbeizuführen. Wir
haben eine Fülle von Lebensformen geschaffen, um diese Differenz
abzubauen. Das Zeitalter der anthropologischen Differenz ist für
uns im wesentlichen beendet: Wir geben nicht zu, daß es substanzielles
Königtum gibt. Wir geben nicht zu, daß es substanzielle
Weisheit gibt. Wir geben nicht zu, daß es substanzielle Heiligkeit
gibt. Und wir geben auch nicht zu, daß es substanzielle Genies
gibt. Also die vier Formen der anthropologischen Differenz, die
... prägend gewesen sind, sind jetzt mehr oder weniger erledigt.
Darum hat Max Scheler vom Zeitalter des Ausgleichs gesprochen - er meinte
damit, die alte Spannung zwischen Geist und Leben komme an ihr Ende.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38 |
Sobald so eine Höhenposition errichtet
ist, ist der Inhaber dieser Position eigentlich mehr ein Zeuge dieser
Differenz und nicht so sehr ihr Propagandist. Er ist mehr ein Zeuge dafür,
daß es Vertikalspannungen gibt. Die ruft das Ressentiment auf den
Plan, und daher haben wir, seit es Hochkultur gibt, auch eine Ressentimentindustrie.
Deshalb kann man den Beruf des Philosophen auch nicht ausüben, wenn
man nicht das Schierlingsbechertrinken täglich mitübt.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 39 |
Als öffentliche Person muß man ein ständiges Training
absolvieren in der Unterscheidung zwischen dir selber und deinem Medienbild,
diesem Avatar, der da draußen zirkuliert. In meinen nun veröffentlichten
Tagebuchnotizen gibt es auch eine lustige Passage, in der ich mich selber
als eine Art Voodoo-Puppe beschreibe, die von gutartigen Menschen mit
Nadeln gespickt wird und dazu benutzt wird, guten Menschen zu Überlegenheitsgefühlen
zu verhelfen. Menschen lieben ja ihre Meinungen und vor allen Dingen ihre
Ablehnungen. Meine Beobachtung sagt mir, wenn ein Mensch einmal zu einer
Art bevorzugter Ablehnung in Bezug auf irgendeine Person gekommen ist,
dann hält er an einer solchen Position mit einer gewissen Leidenschaft
fest, weil sie ein Teil der eigenen Persönlicjkeit ist. Haß
ist identitätsstiftend.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 39 |
Meine Primärwahrnehmung ist, daß nur wirklich wenige
Menschen in einer authentischen Vertikalspannung leben.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 40 |
Früher war es ja eher so, daß der
Köder durch eine exemplarische Persönlichkeit ausgelegt worden
ist. Meistens aus dem Feld der vierfachen Eminenzen - die Heiligen,
die Könige, die Helden und die Genies. Das ist
diese Vierfaltigkeit der menschlichen Köder, die den anderen
Menschen zeigen, was nach vorne und oben möglich ist. Wenn man sich
aber vor dieser Köderung in Sicherheit bringen möchte, dann
entsteht ein ganz anderes Regime, das zum großen Teil identisch
ist mit dem, das wir heute beobachten. Da wird die Vertikaldifferenz nicht
durch diese vier Höhenpositionen repräsentiert, sondern durch
Ranking -dieses zeitgenössische Instrument zur Interpretation von
Vertikaldifferenz. Aber hinter allem Ranking steht ja die nihilistische
Vermutung, daß a) dies alles nur äußere Evaluierungen
sind und b) dies über den wirklichen Wert der Dinge nichts aussagt.
Soziologisch gesprochen tritt an die Stelle des Vorbilds der Promi.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 40 |
Darauf möchte ich auch hinaus. Ich sage, das einzige, was
vor den verrücktmacherischen Dimensionen des Lebens in Vertikalspannung
retten kann, ist, daß man sie zwar anerkennt, aber sich nicht in
selbstdestruktive Formen des Vergleichs hineinbegibt. Die Menschheit hat
bis auf den heutigen Tag kein stärkeres Mittel, unglücklich
zu machen, entdeckt, als den direkten Vergleich mit Überlegenen.
Gleichzeitig ist das ganze Leben eine einzige Veranstaltung zur Demonstration
von Differenzen zwischen Menschen, die die Sache so gut machen, wie sie
können, und anderen, die es besser machen. Man muß wissen,
daß der Vergleich die moralische Höllenmaschine ist, die das
menschliche Leben verwüstet. Zugleich ist er unausweichlich. Man
muß wissen, wie man die schädlichen Vergleiche stoppt, um den
langen Lauf des Lebens genau in der Geschwindigkeit zu bewältigen,
die für mich die jetzt mögliche und richtige ist.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Der Sportkörper und der Geistkörper sind nicht unabhängig
voneinander zu denken. Das Gehirn ist ein überwältigend aktives
Marathonorgan, so daß jeder Denkende gar nicht anders kann als sich
mit den Äußerungen der übrigen Läufer - die nicht
notwendigerweise Konkurrenten sind - auseinanderzusetzen. Das ist das
größte moralische Geheimnis: Wie man dem Gift des Vergleichs
zugleich heilsame Wirkung abverlangt. Man kann das Gift als Gegengift
verwenden, indem man begreift, du könntest an keiner anderen Stelle
laufen, als du es jetzt tust, und angesichts deines Trainingsniveaus auch
nicht schneller.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Die Urform der Anthropotechnik ist die Pädagogik. Die Pädagogen
wollten aus Kindern, die man sich als polymorphe Nichtskönner vorgestellt
hat, Alleskönner machen. Die Grundidee der sophistischen Pädagogik
ist, daß der vollendete Mensch alles können soll. Dies ist
das Ziel der klassischen Paideia: Das Leben strebt nach Vollständigkeit,
das Leben selber ist per se Vielseitigkeit.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Ja, das Leben ist Dekathlon, der allgemeine Zehnkampf. Daß
jeder Mensch in seiner Zehnkämpfer- oder Allkämpfer-Eigenschaft
ernst genommen wird und deswegen nach allen Seiten lernen muß, das
ist die große Intuition der Sophisten gewesen. Das erstaunliche
Ideal der sophistischen Erziehungsprogramme ist, aus dem Menschen ein
Wesen zu machen, das der größten Bedrohung des Menschseins
bis ins Äußerste widersteht, nämlich der Amechania.
Griechisch: die Hilflosigkeit - wenn man keine mechane mehr hat,
keine List, keinen Trick, kein Hilfsmittel. Amechania ist der Zustand,
in dem sich das menschliche Wesen schlechterdings niemals befinden soll.
Alle Erziehung ist Überwindung der Amechania.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Wenn der Sophist der Prototyp des Erziehers ist, und wenn das
Wesen der Erziehung darin besteht, den Menschen Hilfsmittel gegen das
Versinken in Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit anzubieten, dann sollte
man mit Leib und Seele Sophist sein.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Im Oberseminar kommt die Debatte auf Otto
Röslers Überlegungen zu den Risiken der CERN-Experimente, die
2009 beginnen sollen. Rösler führt aus, es sei nicht mit absoluter
Gewißheit auszuschließen, daß sich bei den Teilchenkollisionen
in dem Large Hadron Collider ein winziges Schwarzes Loch bildet,
das nicht sofort (wie man allgemein erwartet) zerstrahlt, sondern sich
irgendwie stabilisiert. Träte das ein, so würde es die typischen
Eigenschaften eines solchen Objekts entwickeln, nämlich alle Materie
um sich herum aufzufressen. Die Vorstellung ist in ihren Konsequenzen
furchterregend, obschon die Idee eines Weltuntergangs durch physikalische
Grundlagenforschung auch etwas Erhabenes besitzt. Das Schwarze Loch made
in Swizzerland würde aufgrund seiner noch sehr kleinen, aber schon
überdichten Masse im freien Fall zum Erdmittelpunkt hinuntersausen
und von dort aus sein Werk verrichten - zur Enttäuschung derer, die
meinten, aus Gründen der Fairneß müßten Genf und
Umgebung zuerst eingesaugt werden. Die Implosion beträfe alle Orte
an der Peripherie des Planeten gleichzeitig und symmetrisch. Die Materie
der Erde würde gerade mal ausreichen, um auf eine Kugel von der Größe
einer Honigmelone zu schrumpfen. Im Zusammenhang mit diesen Visionen tauchte
unter den Teilnehmern des Seminars die Frage auf, ob es ein bürgerliches
Widerstandsrecht in bezug auf Risiken von Forschung gibt. Wer den Eigenwillen
des Wissenschaftsbetriebs kennt, wird an ein solches Recht nicht glauben,
geschweige denn an seine Umsetzung. Wie sollte das geschehen? Können
Bürger gegen Elementarteilchen auf die Straße gehen?
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 44 |
Schlechte Nachrichten von der Europa-Front: Die Iren haben beim
Referendum über den Lissabon-Vertrag mit Nein votiert wie vor ihnen
schon die Franzosen und die Holländer. Da sieht man einmal mehr,
wie sehr die Völker auf der Baustelle Europa stören. Man möchte
meinen, im irischen Nein komme ein verblüffender Zusatz an Undankbarkeit
zum Tragen, da ja die Iren als die größten Nutznießer
der EU gelten. Das Elend ist, daß die Neinsager überall so
tun können, als hätten sie nur das vertrackte Vertragswerk von
Lissabon abgelehnt, seien aber ansonsten die besten aller Europäer.
In Wahrheit liegt dem Nein alles mögliche zugrunde, auch Giftiges
und Ungestehbares. In Frankreich war es seinerzeit besonders der zähe
souveränistische Reflex gewesen, in Verbindung mit dem sehr verständlichen
Wunsch, dem alten Staatskasper Chirac eins auszuwischen, zudem ein diffus
populäres anti-europäisches Ressentiment. Der französische
Nein-Cocktail von 2005 war komplizierter, als ein Leitartikel fassen kann
- ein Gebräu aus landeseigenen Widerstandsmythen, anti-brüsseler
Trotzgesten, germanophoben Reflexen, ironischen Elysee-Verhöhnungen,
bedeutsam-philisterhaften Besserwissereien, konspirationsfrohen Internetaktionen,
spätjakobinischem Negationseifer und anarchistischer Freude am Debakel
- die Agitationen des Sozialisten Fabius nicht zu vergessen, der sich
von der Nein-Welle ins Präsidentenamt tragen lassen wollte.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 44-45 |
Geschichte ist für uns in erster Linie das Reich der Enttäuschungen.
Das wollen die nicht einsehen, die heute affirmativ hinausposaunen: Die
Geschichte geht weiter - als ob dies eine gute Nachricht wäre. In
den letzten Jahren sind zwei Dutzend Anti-Fukuyama-Bücher erschienen
(unter anderem von Ralf Dahrendorf und Joschka Fischer), fast alle von
biederer Tendenz und ohne das geringste Gespür für die interessante
Pointe der These vom Ende der Geschichte. Wer für die Konservierung
der Geschichte plädiert, bekennt sich, ohne es zur Kenntnis zu nehmen,
zu den kommenden Enttäuschungen - und zu den Illusionen, die ihnen
vorausgehen. Die wichtigste Voraussetzung für den Fortgang der Geschichte
ist seit jeher die nachwachsende Naivität der folgenden Generationen.
Es ist der Anfängergeist, der die Dinge immer wieder von vorne startet.
Die Jugend zerstört die Erfahrungen der Älteren durch ihre fatale
Fähigkeit, bei Null zu beginnen. Sie entwertet die mühsam erworbenen
Enttäuschungen, die doch das Beste waren, was die Alten besaßen.
Die ungebrannten Kinder werfen die Weisheit der Eltern auf den Müll.
Das einzige, was hoffen ließe, wäre eine Jugend, die durch
Mißtrauen wettmacht, was ihr an Enttäuschung fehlt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 45-46 |
14. Juni 2008, Wien. .... Mit dem Rad die größere
Runde an der Donau bis Tulln und zurück. Bin rechtzeitig wieder zu
Hause, um a) die Zahnschmerzen, die seit Monaten nie ganz verschwunden
waren, wieder mit einer Dosis Ibu niederzukämpfen, b) mir ein Glas
Burgenland-Roten zu genehmigen, c) das Spiel zwischen Spanien und Schweden
anzusehen, d) speziell für Günther Netzer die Zeitmaschine neu
erfinden zu wollen, damit er in seine Spielerzeit zurückreist statt
zu kommentieren.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 46 |
Was Fatalismus bedeutet, kann man beim Sport erleben -und nirgendwo
so klar wie in der Unumkehrbarkeit der Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern.
Im Deutschen hat man dafür das herrlich absurde Wort »Tatsachenentscheidung«
erfunden, das passive Gegenstück zu Fichtes überdrehtem Begriff
»Tathandlung«, der ein Vorbote des Hyperaktivitätssyndroms
in der Philosophie war. In Wahrheit wird durch die irreversiblen Entscheidungen
der Schiedsrichter eine religiöse, genauer eine ontologische Disposition
angesprochen - die Bereitschaft zur Unterwerfung unter die Macht des Faktischen.
Die Pointe dabei: Die Unterwerfung muß auch dann vollzogen werden,
wenn du mit eigenen Augen gesehen hast, daß die Entscheidung falsch
war. Das ist ohne die abstrakte Ehrfurcht vor der lenkenden Instanz nicht
zu denken, erst recht nicht ohne die Dressur, sich protestlos unter Verfahren
und Diktate zu beugen. (Man könnte über eine gemeinsame Wurzel
von Rechtsprozeduren, Gottesurteilen und Spielregeln nachdenken.) Nur
die Unterwerfung (»Kastration«) löst in den Menschen
die »ontologische Reaktion « aus, sprich die Hinnahme eines
Resultats, bei welcher der Gedanke an Revision nicht mehr aufkommt. Im
Licht dieser Überlegungen wird klar, wie abwegig die Versuche sind,
die Schiedsrichterrolle durch Torkameras, Videobeweise usw. zu objektivieren.
Zum Fußball als reguliertem Schicksalsdrama auf dem Rasen gehören
drei Mannschaften. Nimmt man der Mannschaft im schwarzen Trikot die Freiheit,
falsch zu pfeifen, hat man das Spiel ruiniert.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 46-47 |
Das Referendum-Nein (in Irland und anderswo) ist die staatliche
zugesicherte Form der Revolte. Um 1900 hätte man das vielleicht den
weiblichen Widerstand genannt. Der geht darauf aus, dem Herrn einen Streich
zu spielen, wenn er am großzügigsten war. Man überrascht
ihn mit Negativität, wo er es am wenigsten erwartet. Für einmal
hat die Psychoanalyse recht: Hysteriker sind auf der Suche nach einem
Herrn, um ihn tyrannisieren zu können.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 47 |
Der erste Schurkenstaat der Moderne, das revolutionäre Frankreich
....
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 53 |
Nach jüngeren Statistiken gibt es in Deutschland 826000 »Millionäre«,
sprich Personen, die mehr als 1 Million Euro an Privatvermögen besitzen.
Weltweit sollen es 10,1 Millionen sein. Nach herkömmlichem Sprachgebrauch
sind diese Leute natürlich keine echten Millionäre mehr, sondern
gewöhnliche Wohlhabende, das bequeme 1 Prozent jeder Population.
Die früher so genannten Millionäre haben sich nach oben abgesetzt,
in die Vermögensstratosphäre, wo man mit dem Hundertfachen,
dem Tausendfachen der simplen Million rechnet. Von den Lebenswirklichkeiten
dieser sehr kleinen Gruppen wissen wir weniger als von verlorenen Stämmen
am Amazonas.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 55 |
3. Juli 2008, Karlsruhe. Regentag. Man liest, der Menschenrechtsrat
der United Nations habe den »Schutz religiöser Gefühle«
höher eingestuft als das Recht auf Meinungsfreiheit. Ein historisches
Datum. Die Schutzidee hat die höchste Ebene erreicht. Von jetzt an
wird alles Immunologie. Die Welt ist die Summe aller Protektionismen.
Die Protektionisten selbst nehmen hiervon zumeist nicht Kenntnis, weil
wohlwollende Verhältnisse, indem sie reziprok schützend sind,
den Schein von Schutz-nicht-nötig-Haben erzeugen.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 59 |
Der Verfasser der Petersburger Gespräche ahnte nicht, daß
bei seinem protestantischen Zeitgenossen Hegel die stärkere Lösung
des Rätsels gefunden worden war: Gott läßt die Ereignisse
der Geschichte nicht bloß zu, er verwirklicht sich in ihnen. Die
Prüfung besteht nicht darin, ihnen zu widerstehen, sondern darin,
sich an ihre Spitze zu setzen.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 114 |
Gäbe es eine objektive Geschichte der »Kritik«,
würde man erkennen, wie einseitig man den Begriff zumeist gebrauchte.
Man verstand darunter bis heute fast immer die Abrechnung der Gerechten
und Progressiven mit dem schlechten »Bestehenden« und die
Attacke dert Vernunft gegen das mißratene Alte. Was dabei übersehen
wird, ist die Tatsache, daß seit 1789 der größere Teil
der »Kritik« von konservativer Seite vorgebracht wird. Unentwegt
geht man mit dem schelchten »Bewegenden« ins Gericht und findet
tausend Gründe, über dem mißratenen Neuen den Stab zu
brechen.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 114 |
Inwiefern die Biologie bei Homo sapiens verquere Wege geht: Die
Fixierung der juvenilen Merkmale beim Menschen, bis hin zu der ... sogenannten
Neotenie, die mysteriöserweise die Beibehaltung mancher fötalen
Züge in der menschlichen Physiologie bedeutet, bringt es mit sich,
daß der Behaarungsbefehl nicht ausgeführt wird, durch den wir
ein dichtes Fell bekämen - wahrscheinlich wird ein hormonelles Signal
unterdrückt, das die Behaarung auslösen würde. Dazu muß
man bedenken: Neugeborene Affen sind zunächst so nackt wie wir und
legen sich ein Fell zu, wenn es an der Zeit ist. Diese Zeit kommt bei
uns nicht mehr. Wir bleiben so minimal behaart, daß man mit einiger
Berechtigung sagt, wir seien nackt - was man von keinem erwachsenen Tier
behaupten würde. Auch der Schnauzenbildungsbefehl wird nicht mehr
ausgeführt, wir behalten die infantilen Gesichter und können
uns von Angesicht zu Angesicht anchauen. Der Befehl, die weiblichen Genitalien,
die bei den weiblichen Jungaffen wie bei den Menschenfrauen zuerst vorne
in subventraler Position liegen, in die hintere, subcaudale Position zu
verschieben, wird ebenfalls nicht mehr beachtet. Von der Biologie der
Befehlsverweigerung versteht man noch wenig. Es scheint, der Menschenkörper
antwortet auf die Anordnungen der animalischen Natur, die zu einem erwachsenen
Tier führen sollten, mit der Melvilleschen Formel: » I would
prefer not to«. Mit der Weigerung, ein Fell zu tragen, beginnt die
Mutation zum nackten Affen, der Amulette und Seidenstoffe bevorzugt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 123-124 |
Nach Luther kann jeder, der es wissen will, verstehen, wie, wann
und warum dienen und rebellieren dasselbe bedeuten.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 126 |
Die Sphärologie ist die Methode, die Geräumigkeit der
Welt millionenfach zu erhöhen, während die üblichen Diskurse
der Globalisierung die Welt degoutant verkleinern.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 131 |
Der weltweite Erfolg der Psychoanalyse beruht nicht zuletzt auf
der kollektiven und teilweise mutwilligen Ignorierung des Westermarck-Effekts,
den man in dem Satz: »Frühe häusliche Vertrautheit zwischen
Personen blockiert erotisches Begehren« zusammenfassen kann. Dieses
Theorem, das von dem finnischen Soziologen, einem Zeitgenossen Freuds
(er starb wie der große Rivale im September 1939) vor allem mit
Blick auf Geschwisterbeziehungen entwickelt worden war, läßt
sich plausibel auf die Eltern-Kind-Beziehungen ausweiten. Der Mann Ödipus
konnte seine Mutter nur zur Frau nehmen, weil er sie für eine Fremde
hielt. Bei ihm war die erotische Neutralisierung durch Vertrautheit nicht
eingetreten. Trifft diese Beobachtung zu (und
sie trifft zu! HB), kann es keinen allgemein verbreiteten Ödipus-Komplex
geben, weil normale Jungen im nahen Umgang mit ihren Mütter aufwachsen
und als begehrende Subjekte in der »ödipalen« Konstellation
nicht in Frage kommen. Folglich wird die Ablenkung des Begehrens von der
Mutter nicht durch das väterliche Verbot bewirkt - Lacans ominöses
non du père ist eine Fabel. Vielmehr geht das erotische Verlangen,
wenn es erwacht, von sich aus exogame Wege, der Vater spielt bei Ablenkung
des Eros vom Primärobjekt so gut wie keine Rolle, allenfalls als
Modell dafür, wie man sich als Interessent gegenüber einer weiblichen
Person zu benehmen hat - und selbst das ist nicht überzeugend erwiesen
....
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 136-137 |
Goethe selbst war eine Kraft, die alles tat und immer wieder tat,
was nötig war, um aus einen unfertigen Goethe einen weniger unfertigen
zu machen. Das Prinzip des höheren Lebens ist übender Fleiß.
Geboren sind wir schon, zur Welt aber kommt nur, wer sich vorwärtsarbeitet.
Kreatives Leben gebiert sich selbst. Weil dabei nicht alle gleich weit
kommen, gibt es eine Ungleichheit zwischen Menschen, von der die Soziologie
nichts weiß. Das ist es, was ich in meinem Buch als Anthropotechnik
beschreibe. Goethe hat deren Prinzip in einem enoremen Satz festgelegt:
»Eine tätige Skepsis: welche unablässig bemüht ist,
sich selbst zu überwinden, um durch geregelte Erfahrung zu einer
Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen.« (Maximen
und Reflexionen 1203).
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 150-151 |
Wovon träumt Frankreich denn seit 1871, wenn nicht von den
Zeiten vor der Niederlage?
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167 |
Cioran ... läßt Spenglers Thesen
über das Schicksal des Abendlandes aufs französische Format
schrumpfen.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167 |
Cioran ... ware ja der Anti-Soziologe par excellence ....
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167 |
Reste von französischem »Leben«
fände man nur noch in der Pariser Banlieue.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167 |
Wie die Franzosen nach der libération
plötzlich neben den Siegern aufmarschierten, als ob nie etwas gewesen
wäre, in dopppelter Heuchelei ..., so haben die Niederländer
nach 1945 sich etwas vorgemacht und ihre Nachkriegswirklichkeit auf einen
nicht selbst erfochtenen Sieg aufgebaut. Die nachträgliche nukleare
Großmannssucht der Franzosen ist das formale Äquivalent der
nachträglichen kosmopolitischen Umarmungssucht der Holländer.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 176 |
Worauf die bürgerliche Gesellschaft hinaus will, nämlich
auf die Aufhebung des Zwangs zur Arbeit unter beibehaltung ihrer Belohungen
....
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 184 |
Lizenz zum Genießen .... Die Anfänge des Konsums liegen
in der europäischen Romantik, nachdem Rousseau ... das Recht des
Einzelnen auf eine sich selbst genießende Nutzlosigkeit proklamiert
hatte.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 186 |
Die hölheren Positionen ... werden im allgemeinen von Individuen
innegehalten, von denen kein Mensch imstande wäre zu sagen, worin
sie sich ausgezeichnet hätten.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 192 |
Hegel: »Der freie Mensch ist nicht neidisch, sondern anerkennt
das gern, was groß und erhaben ist, und freut sich, daß es
ist.« (Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 47).
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 194 |
Norbert Bolz ...: »Der Haß auf den Feind wird ersetzt
durch den Neid auf den Erfolgreichen.« (Diskurs über die
Ungleichheit, S. 113).
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 1947 |
Woran würde man das Ende der Geschichte erkennen? Vielleicht
am Aufhören der Sorge.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 197 |
Weil Kunst in Überproduktion schwimmt, muß sie die
Flucht in die Überbewertung des Wertlosen antreten - eine Form der
Umwertung der Werte ....
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 204 |
Philosophie ist Training in Sterblichkeit, hierin dem älteren
Christentum verwandt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 207 |
Mittags in Schloß Bellevue zum Festessen
aus Anlaß von Huberts 70. Geburtstag (gemeint
ist der 70. Geburtstag des am 9. Februar 1940 geborenen Hubert Burda;
HB).
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 394 |
Vom Fenster meines Zimmers im Hotel Alte Canzley
zu Wittenberg schaue ich auf die Schloßkirche mit der Thesen-Tür.
Wenn je das Wort »historisch« einen Sinn hatte, dann an dieser
Stelle. Wittenberg bereitet sich schon jetzt auf dei Feierlichkeiten vor,
die hier in sieben Jahren (diese Notizen stammen
vom 3. Mai 2010; HB) zelebriert werden sollen. Vielleicht wird
die Philosophie dann vorbereitet sein, Luther vor das Gericht der Geistesgeschichte
zu laden. Er wäre zu befragen, ob seine Theologie die Hauptaufgabe
seiner Zeit, die Befreiung vom Augustinismus, bewältigt hat.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 394 |
Goethe über die Folgen der französischen
Revolution: Bis dahin war alles Streben, danach war alles Fordern.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 478 |
Wer die roten Fäden meiner Arbeiten seit
der Kritik der zynischen Vernunft suchte, hätte sie finden
können in dem sich nach und nach verdeutlichenden Programm einer
Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie (vgl.
auch in: Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 521 f.;
HB) auch und in den diversen Anläufen zu einer Theorie der
Psychopolitik, die von dem Essay Im selben Boot über Zorn
und Zeit und Der starke Grund, zusammen zu sein bis zu den
Überlegungen über eine thymotische Steuerreform reichen. Schade,
daß sich Hans-Jürgen Heinrichs in seinem wohlwollend bemühten
Buch davon kaum etwas wahrnimmt und nie die richtigen Oberbegriffe bildet.
- Von Michael Krüger kommt ein Brief, in dem er seine Ratlosigkeit
angesichts des Manuskriptds von HJH gesteht - er hält das Werk, nach
so vielen Korrekturen, für nicht mehr verbesserbar und immer noch
nicht gut. Er winkt es resigniert zur Publikation durch, obschon er seine
Mängel schärfer sieht als irgendwer sonst. Mir bleibt nichts
ünrig, als den Kopf einzuzoehen und zu denken, daß auch dies
vorübergeht.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 478 |
Das potentiell viel wichtigere Buch Thymos and Civilisation
fand nie seinen Autor. Fukuyama hätte es beinahe vorgelegt, doch
verpaßte er die Chance, indem er die Materialien zu dem Werk in
seinem hochtönenden Traktat über das Ende der Geschichte
versteckte - neben Spenglers Untergang des Abendlandes der Anwärter
auf den Titel des meistzitierten ungelesenen Buchs des 20. Jahrhunderts.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 480 |
Bei Norbert Bolz eine schöne Idee: das Eigentum sei als »Exoskelett«
des Individuums aufzufassen. Das Wort verwendet man sonst für die
Hülle von Insekten oder weichen Tieren mit harter Umschalung.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 488 |
Um den ursprünglichen Sinnumfang des Worts »Menschenrechte«
richtig einzuschätzen, ist es nüttzlich, zu wissen, daß
sich z.B. unter den ersten 16 Präsidenten der Vereinigten Staaten
von Amerika, die zwischen 1788 und 1848 amtierten, 12 sklavenhaltende
Patrizier aus den Südstaaten befanden, darunter Thomas Jefferson,
der Autor der Unabhängigkeitserklärung, und George Washington,
der Übervater der US-Amerikaner.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 578 |
Von Heinsohn ein Papier, in dem es heißt:, Europa ist ...
ein Sozialhilfebündnis. Es sollte nicht verboten sein, über
seine Zerlegung und Neukonfiguration nachzudenken. Heinsohn zerschneidet
es fröhlich in drei neue Blöcke: ein Bündnis der nördlichen
Monarchien, eine hochpotente Alpenkonföderation und einen südlichen
Block, in dem die Mittelmeerländer unter sich wären. Eine jede
der neu zugeschnittenen Einheiten könnte sich als lebensfähiger
erweisen als die Brüsseler Union, die ein Gesamtkunstwerk aus gegenseitiegn
Behinderungen darstellt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 583 |
Die ... 100 Millionen arbeitslosen Jugendlichen ..., die bis zum
Jahre 2020 die »Länder des Halbmonds« unter Streß
setzen. Wer zudem die USA dafür tadelt, sie hätten ebenfalls
die Chance zu einem ermunternden Signal an die jungen Ägypter verpaßt,
begreift nichts vom strategischen Wert der nordafrikanischen Vorgänge
auf dem us-amerikanischen Schachbrett. Für die Spielmacher in Washington
laufen die Dinge, wie sie sollen, solange sie in ihrer Summe dafür
sorgen, daß die Europäer in den kommenden Jahrzehnten den nordafrikanischen
Klotz am Bein haben werden.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 586-587 |
Es muß in Goethes Leben einen Tage gegeben haben, von dem
an er sich zum Goethe-Experten wandelte.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 589 |
Nur Goethe weiß, wie Goethes Werk zu rezipieren ist.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 590 |
Permanent macht Goethe das Große Graecum, das Große
Persicum, das Große Sinologicum. Zuletzt ist er ganz Chinese und
spielt mit sich selbst Verbotene Stadt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 590 |
Schon jetzt setzt Italien die nördlichen Nachbarn unter Druck,
ihm die unwillkommenen Zuwanderer so bald wie möglich abzunehmen.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 596 |
Im übrigen hatte Muammar al-Gaddafi bei seinem Staatsbesuch
in Italien im Auigust 2010 die Europäer vor potentiellen Millionenheeren
afrikanischer Zuwanderer in den kommenden Jahren gewarnt und zu deren
Ruhigstellung am Ort Bleibegelder in Höhe von vielen Milliarden Euro
aus europäischen (sprich: deutschen; HB)
Kassen gefordert. Von offiziellen Reaktionen der EU auf diesen Droh-Hinweis
wurde nichts bekannt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 596 |
Weil es keine Buchstaben gibt, bleibt dem chinesischen Denken
der Elementarismus bzw. der Atomismus unbekannt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 597 |
Die arabischen Revolten erzeugen ein Nebenprodukt, das von den
Wirtschaftsblättern noch nicht erfaßt wurde: Sie stellen die
Forbes-Listen der größten Vermögen in einem wesentlichen
Segment als Fiktionen bloß. In die Spitzenzone der Tabellen gehören
seit längerem die despotischen Kleptokraten von Mubarak und Ben Ali
bis zu Putin und Gaddafi, die in den gängigen Listen der reichsten
Royals von König Bhumipol bis Hans Adam II. naturgemäß
nicht auftauchen (ebenso die noch reicheren, also
mächtigeren Kleptokraten; HB). Auch ein gut Teil der
großen Vermögen ist bastardisch geworden.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 600 |
Was die Moderne in moralgeschichtlicher Sicht bedeutet: Sie emanzipiert
die Schuldner, zumal den großen, mehr und mehr von der Verfolgung
durch den Gläubiger und spricht den sozialen Versager von eigener
Schuld frei. Mehr noch, das Leiden-Machen als Vergeltung für unreturnierte
Schulden wird verpönt, der Bankrotteur kommt schmerzlos davon, ein
Leidensausgleich findet nicht mehr statt. Wenn es der Staat ist, der sich
bis zum Bankrott überschuldet, heißt es sogar, nicht der Schuldner,
der Gläubiger ist schuldig.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 610 |
Es soll in Deutschland im Jahr 2010 circa 110000 legale und gemeldete
Abtreibungen gegeben haben, davon nicht mehr als 3% aufgrund von medizinischer
und kriminologischer Indikation. Der Umfang der Dunkelziffer wird auf
200% geschätzt, wonach die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche
bei 300000 gelegen haben dürfte (eher bei 400000;
HB). Das bedutet bei 675000 Lebendgeburten im selben Zeitraum,
daß jedes dritte Kind an der Wand der Unwillkommenen zerschellte.
(In der EU, den USA und Kanada zusammen sind
es übrigens rd. 4 Millionen an der Wand der Unwillkommenen Zerschellte!
HB).
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 613 |
Wenn wir gehen werden, werden wir das Gefühl haben, wir hätten
unsere Kindheit in der Antike verbracht, unsere mittleren Jahre in einem
Mittelalter, das man die Moderne nannte, und unsere älteren Tage
in einer monströsen Zeit, für die wir noch keinen Namen haben.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 639 |
Seit 20 Jahren dominiert bei mir die Lebensform
Familie, das ist auch keine reine Solitüde. Sehr gut erinnere ich
mich an die Zeit, als ein wirbeliges Kleinkind durch mein Arbeitszimmer
stürmte. Es amüsierte mich, ich konnte nicht gestört werden.
Heute kommt mir das seltsam vor, da die Irritierbarkeit zugenommen hat.
Auch durch das Telefon war ich nicht zu stören, ebenso wenig durch
Handwerker und Zeugen Jehovas. - Ich sah in allem Anregung, nicht Unterbrechung.
Ein wundertätiger Aberglaube war am Werk: Was auch immer kommt, verwandelt
sich umgehend in einen Teil der Produktion. In jener mittleren Phase lebte
ich wie unter einer Schutzhülle, ich war meiner Themen sicher oder
die Themen waren sich meiner sicher. Ich war durch nichts aus der Spur
zu bringen.
Peter
Sloterdijk, in: WELT, 29.06.2013 |
Ich bekam um 1974 zeitweilig eine Vertretungsassistentenstelle
an der Hamburger Universität angeboten, ich akzeptierte und übersiedelte.
Dieses Jahr in Hamburg wurde für mich eine sehr fruchtbare Zeit,
ein Wendejahr in meinem Leben. Die damalige Nähe zu Klaus Briegleb,
dem Ordinarius für neuere deutsche Literatur, war für mich ein
Glücksfall, ich kannte ihn aus München, er war in meinen Augen,
und nicht nur in meinen, der herausragende Literaturwissenschaftler des
Landes und in den Hamburger Jahren auf der Höhe seiner Kunst. Und
genauso glücklich war die Konstellation mit den älteren Kommilitonen,
ein intellektueller Wirbel, auch gruppenerotisch nicht uninteressant.
- Was die Universität anging, wußte ich von da an, das ist
nicht mein Maulwurfshügel. Als mein Vertrag auslief, bin ich nach
München zurückgegangen. Anschließend begannen die wilderen
Gruppenjahre: Wohngemeinschaft, Psychotherapie, Meditationsgruppe, Neue
Linke, Neuer Mensch. Ständig spukten solche Motive durch den Raum.
Man glaubte damals an die Theorie wie an eine messianische Kraft. - Die
Zeit zwischen 1974 und 1980 wurde die Experimentierphase meines Lebens.
Die Dissertation war geschrieben, viele Möglichkeiten standen offen,
das einzige, was ich eindeutig wußte, war, daß ich in die
Universität nicht zurückgehe. Sollte es ein Leiden an der Unbestimmtheit
geben, so war es mir damals unbekannt. Ich empfand die Freiheit, noch
einige Orientierungsjahre vor mir zu haben, als beflügelnde Nichtfestlegung.
Peter
Sloterdijk, in; WELT, 29.06.2013 |
Nach 1980 war es so weit, daß ich anfangen konnte,
mich weiter vorzuwagen. Damals habe ich meinen Ton gefunden, falls man
das so unbedarft ausdrücken kann. Es war, als hätte ich das
Instrument entdeckt, auf dem ich meine Art von Musik machen sollte. Das
Instrument wurde gestimmt in dem Moment, als ich begriff, worin meine
Chance besteht.
Peter
Sloterdijk, in: WELT, 29.06.2013 |
1947 geboren, blieb ich ein von der Vaterseite her so
gut wie völlig ungeprägter junger Mann. Zur rechten Zeit sah
ich ein, ich sollte mich zu einer Art von Selbstbevaterung entschließen.
Was Bemutterung ist, vorgefunden oder gewählt, und wie man sie allmählich
zurückläßt, das wußte ich schon ziemlich gut. Was
Bevaterung bedeutet, wußte ich nicht. Ich mußte mir meine
Väter oder Instruktoren zusammensuchen, dazu war es nötig, sich
in der Welt umzusehen. .... Der Durchbruch kam, als ich verstand, daß
ich mir selber die Welt erzählen sollte.
Peter
Sloterdijk, in: WELT, 29.06.2013 |
Der Mensch ist das Tier, dem man die
Lage erklären muß. Hebt es den Kopf und blickt über den
Rand des Offensichtlichen, wird es von Unbehagen am Offenen bedrängt.
Unbehagen ist die angemessene Antwort auf den Überschuß des
Unerklärlichen vor dem Erschlossenen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
9 |
Du kennst die Anfänge nicht, die Enden sind dunkel, irgendwo
dazwischen hat man dich ausgesetzt. In der Welt sein heißt im unklaren
sein. Am besten ist es, man hält sich an den Schein des Sich-Auskennens
in der näheren Umgebung, die man seit einer Weile die »Lebenswelt«
nennt. Verzichtest du auf weitere Fragen, bist du vorläufig in Sicherheit.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
9-10 |
Nicht das Wort war am Anfang, sondern das Unbehagen, das nach
Worten sucht. Dem Mythos fiel die Aufgabe zu, Wege aus der ersten Unklarheit
anzuzeigen. Wovon man nicht schweigen konnte, davon mußte man erzählen.
Erzählen heißt so zu tun, als wäre man am Anfang dabeigewesen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
10 |
Durch den Erfolg des Christentums hat sich in der westlichen Zivilisationssphäre
die biblische Auslegung des Unbehagens am In-der-Welt-Sein durchgesetzt.
Die übermittelt mittels einer kurzen Erzählung eine einleuchtende,
obgleich düstere Lektion: Fühlen wir uns vom Befund unseres
Daseins nicht selten befremdet, so aus einem begreiflichen Grund. Wir
sind Vertriebene, fast von Anfang an. Wir alle haben eine Heimat gegen
ein Exil getauscht. Sind wir hier in der Welt, so weil wir nicht würdig
waren, an einem besseren Ort zu bleiben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
10 |
Im Licht des mächtigsten Mythos des Westens sind die Post-Adamiten
Wesen, an denen eine Bestrafung ihre Spuren hinterlassen hat, unverbülich,
irreversibel, in jeder Generation von neuen. Es handelt von der fortbestehenden
Vertreibung, die uns aus der paradiesischen Situation in die jetzigen
Verlegenheit versetzt hat. Die Lage des Menschen ist Sündenfolge.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
10 |
Der Mythos hebt das Unbehagen nicht auf, er
macht es erträglich, indem er es erläutert. Die Grundregel der
Mythodynamik besagt: Jede Geschichte ist besser als keine Geschichte.
(Vgl. hierzu: »Jede Erzählung ist besser
als keine Erzählung«, S. 19; HB.) Auch ein dunkler Mythos
erhellt die Lage, indem er dem Unbehagen eine Fassung gibt. Oft unterdrückt
er sogar das Aufsteigen des Unbehagens, indem die Erklärung der Empfindung
zuvorkommt. Jedoch kann aufgrund paradoxer Nebeneffekte bei der Auslegung
des Unbehagens am In-der-Welt-Sein der Effekt auftreten, daß das
schwer Erträgliche in gesteigerter Form wiederkehrt: dann nämlich,
wenn die unklare Lage infolge der Auslegungen des Mythos noch um vieles
schlimmer erscheint als die anfängliche Irritation, zu deren Behebung
die Erzählung in Gang gesetzt wurde. Für eine solche Übersteigerung
des Unbehagens durch seine Erklärung bietet die Ideengeschichte Alteuropoas
kein stärkeres Beispiel als die Auslegung der biblischen Erzählung
von der Vertreibung der menschlichen Ureltern aus dem Paradies bei Aurelius
Augustinus (354-430). (Die kritischen Passagen finden sich vor allem in
den Genesis-Kommentaren Augustinus und in den Büchern XII bis
XIV des Werks über den Gottesstaat. Analoge Verdunkelungen zeigen
sich im iranischen Dualismus, in manchen Varianten des Hinduismus und
in einigen Versionen der spätantiken Gnosis.) Aufgrund seiner Intervention
wurde aus dem Unbehagen Bestürzung. Anfängliche Konfusion wandelte
sich in Perplexität. Der Bischof von Hippo hatte den Weg vom Mythos
zum Logos mit jener Folgerichtigkeit zurückgelegt, wie die Wesensverwandtschaft
von Theologie und Extremismus ahnen läßt. Sie macht bis heute
schaudern, sollte man sich noch einmal der Mühe unterziehen, den
Vorgang aus den Akten aufzurollen. Es war der Übergang von einem
Ursprungsmärchen voll symbolischer Bezüge und archetypischer
Obertöne in eine Katastrophendoktrin von primärmasochistischer
Eindringlichkeit.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
10-11 |
Augustinus ... löste mit seiner verschärften
Sünden-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die westliche
Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er wollte sich nicht
damit zufriedengeben, den außerparadiesischen status quo
der Menschen demütig zur Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf,
den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama
zwischen Mensch und Gott überhöhte, bei dem die Rolle des böse
lachenden Dritten dem Satan zufiel, dem selbstverliebten Anführer
der aufrührerischen Engel.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
12 |
Hatte schon der Mythos in seiner schlichten
Gestalt das Risiko mit sich gebracht, daß die gewöhnliche Vernunft
nach der Verhältnismäßigkeit zwischen Fehltritt und Strafe
fragen könnte - dem Tod, Not und Krankheit, eines wie das andere
im Paradies unbekannte Übel, sollen nach der Aussage des Apostels
Paulus als die gerchten Folgen der Urelternsünde gelten -, stellt
sich hinsichtlich der ferneren Nachkommen um so mehr das Problem, warum
auch sie, Jahrhunderte post eventum, noch immer für die Verfehlung
der Vorfahren büßen sollten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
13 |
Alle später lebenden Menschen wären
also »im Samen Adams« mitpräsent gewesen, da gemäß
dieser inzwischen außer Dienst gestellten Logik noch die fernste
Folge im ersten Beginn angelegt ist. Es gibt nichts Neues in der Welt,
nur die Entfaltung präformierter Substanzen. Hat Adam, der Ursprungsmann,
seine bei der Schöpfung intakte Substanz durch die erste Sünde
korrumpiert, geht die Korruption auf die Nachkommen über, da diese
»in ihm« mitenthalten sind. Nicht bloß die ursprünglich
heile Substanz soll teilbar und dennoch in jedem ihrer Teile in Gänze
anwesend sein. Für die Korruption der Substanz gilt das Gesetz der
Anwesenheit des Ursprungs im nachgeordneten Glied wie das der Anfangsmacht
in der Folgeerscheinung in gleicher Weise. Jeder Nachkomme Adams ist darum
»in Adam« mitkorrupt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
14 |
Die Nachkommen haben das peccatum originale
auf eigene Rechnung erneut zu begehen, um ihre Verdammnis - genauer ihre
Verdammnis zur Verdammnis - zu verdienen. Und sie beghen es unfehlbar,
weil sie mit dem Makel des Sündigenmüssens ins Leben treten.
das ist es, was Augustinus listige und zudringliche Wendung vom
non posse non peccare als letzte Wahrheit der natürlcieh conditio
humana nach dem Fall besagt. Die Korruption ist dem Menschen zuvorgekommen.
Der Mensch ist das Lebewesen, das nicht nicht sündigen kann, solange
nicht die Gnade einigen Wenigen einen Weg der Rückkehr in die Integrität
aufzeigt. Daß es wenige sind, die zu den Erwählen rechnen werden,
steht für Augustinus außer Zweifel. Am Hof Gottes sind ja nur
die beim Aufruhr der Engel freigewordenen Plätze nachzubesetzen.
An einem darüber hinausgehenden Kontingent an Kandidaten der Erlösung
besteht im Jenseits weder Bedarf noch Interesse. Für sentimentalen
Universalimsu gibt es in der vera religio von der ersten Minute
sn keinen Raum, was auch immer spätere, universalistisch überventilierte
Apostel und deren philosophischer Nachtrab hierzu sagen werden. Das authentische
Christentum, wie es von Paulus bis Augustinus kodifiziert wurde, bleibt
als strikte Erwählungs- und Gnadenreligion eine Sache der Wenigsten,
einiger erratischer verbaler Gesten »an alle« und »pro
multis« ungeachtet. Seine heilige Schrift, recht verstanden, ist
eher ein Buch für keinen als für alle.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
15-16 |
Den Hebelpunkt für seine Lehre von der
anhaltenden Erblichkeit der Sünde findet Augustinus im Generationenprozeß:
Wie das zweigeschlechtliche Leben als solches ist die Sünde eine
sexuell übertragbare Krankheit. Mehr noch: Der Modus der Übertragung,
der Geschlechtsakt, beinhaltet die Wiederholung der ersten Sünde,
weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche
Selbstbevorzugung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande
kommt. Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hochmuts,
in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwendet, um sich selber an
die erste Stelle zu rücken. (Vgl.: De Civitate Dei, 14. Buch,
Abschnitt 15: »Der Hochmut der Übertretung ist schlimmer als
die Übertretung selbst«.) Wären die Menschen fähig
geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren sinnlichen Aufruhr zu genießen,
wären sie dem Heil näher geblieben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
16 |
Im Stand der Korruption ist der Mensch zur
Selbstbevorzugung verdammt. Der Wille der Eigenmacht wohnt den Nachkommen
Adams allzu tief inne, als daß er ihn aus eigenem Entschluß
abstreifen könnte. Die Liebesordnung ist bei ihm von Grund auf verdreht.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
16-17 |
Damit wird der Sturz in die Erbsünde immerhin
für einige Erwählte reversibel.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
17 |
Es gehört zu Augustinus' problematischen Verdiensten, wenn
die westliche Zivilisation durch seine Anregungen einen Gedanken der Erblichkeit
von Schuld, Sünde und Korruption zu entwickeln vermochte, der es
mit dem indischen Konzept des Karma von ferne aufnehmen konnte. Indem
Augustinus alle spontanen Intuitionen der moralischen Alltagsvernunft
auf den Kopf stellte, konzipierte er eine Form von Sündigkeit, die
durch die Tatsachen der Fortpflanzung unmittelbar auf sämtliche Nachkommen
Adams überging - einzig den jungfräulich empfangenen Erlöser
ausgenommen. Mit Hilfe seines Erbsünde-Konzepts gelang dem melancholischen
Bischof die Konstruktionm eines Kontinuums irdischer Geschichte, das ganz
im Zeichen der zugleich angeborenen und immer spontan erneuerten Auflehung
der Einzelnen gegen Gott stünde. .... Der Mensch wird wie Gott, indem
er dessen Privileg, nein sagen zu können, auf Gott selbst anwendet.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
17-18 |
Nach wie vor sind die Einprägungen des
metaphysischen Masochismus augustinischer Herkunft mitsamt seiner Fracht
an politischer Phobokratie und existentieller Körperfeindschaft in
den Archipelen des Christentums spürbar - zwei Grundübel, zu
denen sich Quietismus, Erwählungspanik, Kulpablilismus, sexualneurotische
Befangenheit und Kult des Elends gesellen. Kein harmloser Befund, bedenkt
man, daß das Christentum mit über zwei Milliarden nominellen
Gläubigen bis auf weiteres die numerisch größte, zudem
theologisch intensivste Religionsmacht der Welt darstellt, mögen
auch die düsteren Erbsachen heute fast überall in die unauffälligen
Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Solidarität umcodiert worden
sein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
18-19 |
Auch für die Nachdunkelung des Berichts
von der Vertreibung aus dem Paradies durch die augustinische Erfindung
der Erbsünde (man könnte aber auch sagen:
Erfindung der Erbsünde durch den Bericht in der Bibel selbst schon
- als Deutungsangebot -, spätestens aber durch Paulus Deutung
und Lehre, »daß durch einen Mann [Adam] die Sünde in
die Welt kam«, also lange vor Augustinus Zeit; HB)
gilt das mythodynamische Grundgesetz, daß im Feld des primären
Unbehagens regiert: Jede Erzählung ist besser als keine Erzählung.
(Vgl. hierzu: »Jede Geschichte ist besser
als keine Geschichte«, S. 11; HB.) Keine dunkle Erzählung
kann sich jedoch den Wirkungen von Aufklärung entziehen, die alte
Geschichten unter neue Beleuchtungen stellt. Je düsterer die Redaktion
einer alten Geschichte ausfiel, desto heftiger manifestiert sich später
das Bedürfnis, die Erzählung durch Umerzählung aufzuhellen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
19 |
Erbsündenlehre in moderner Zeit .... Schon Rousseau lieferte
eine weltliche Umschreibung der Doktrin, indem er die Vertreibung aus
dem Paradies der Eigentumslosigkeit als den Gründungsakt der bürgerlichen
Gesellschaft auslegte: An die Stelle der Erbsünde tritt die erste
Regung des Sinns für Privatbesitz: Mit dem Satz: »Dies gehört
mir« beginnt die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft,
die nach Rousseau eine einzige Sequenz von Entfremdungen und Verkünstlichungen
darstellt. .... Er enttheologisiert das Böse und verlagert die Quelle
der Korruption auf das Feld des Sozialen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
19-20 |
An die Stelle der Erbsünde tritt bei den Menschen (des
Abendlandes! HB) der Neuzeit die janusköpfige Entdeckung des
realen Erbes als Last und Chance. Wo die moderne Welt (des
Abendlandes! HB) wirklich modern wird, nimmt sie die Form eines
Experiemnts über die Zulassung von Ambivalenzen an. Wo große
Lasten zu tragen sind, dürfen entsprechende Vorrteile nicht fehlen.
Der größte unter den neuen Vorteilen wird darin bestehen, daß
der Akzent vom Leben nach dem Tod auf das Dasein davor versetzt werden
kann.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
22 |
Erblichkeit als solche erscheint jetzt als Makel, gegen den die Modernen sich auflehnen, wo immer es ihnen gelingt, einen Widerstandspunkt zu entdecken. Sie weisen immer öfter zurück, was sie an alten Mitgiften bedrückt - ob es die Versklavung durch biologische Determinierungen ist oder die Prägungen durch Klasse, Schule, Kultur und Familie.
Das solche »Versklavungen« durch das Herkommen zugleich positive
Bedingungen konkreten, geglückten, bestimmten Lebens sein könnten,
mögen die Agenten der Losreißung nicht gerne wahrhaben. Im
übrigen gesellen sich zu diesem Ensemble von Fatalitäten in
der neuzeitlichen Kreditwirtschaft die Gläubiger, die auf der Rückzahlung
von Darlehen so hartnäckig bestehen wie vormals die Rachegöttinnen
auf der Exekution eines Fluchs.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
23-24 |
Wo immer das Interesse an Enterbung und Neubeginn aufflammt, stehen
wir auf dem Boden der authentischen Moderne. Dynamit, Utopie, Arbeitsniederlegung,
Familienrecht, genetische Manipulation, Drogen und Pop sollen die Sprengstoffe
liefern, um die Erbmasse des sogenannten Bestehenden in die Luft zu jagen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
24 |
Die Säkularisation der Erbsünde hat
zwar das metaphysische Gift neutralisiert, das, destilliert in der Hexenküche
des Augustinismus, im »Abendland« über anderthalb Jahrtausende
weitergereicht wurde. Doch hat die Ausschaltung der Erb-Belastung a
priori zugleich den Blick auf zahlreiche Formen ambivalenter Erblichkeiten
im säkularen Bereich freigegeben. Um vorsichtiger zu reden: Sie hat
das Bewußtsein von den Schwierigkeiten des Erbe-, Nachkomme- und
Schuldner-Seins auf neue Bahnen gelenkt. Ein Massenansturm auf Positionen
des »voraussetzungslosen Lebens« garantiert den Modernisierungen
ihren Zulauf. In diesem Punkt ist die entente cordiale zwischen
dem Liberalismus und dem Sozialismus mit Händen zu greifen. Die scheinbar
unversöhnlichen Gegenspieler sind die besten Freunde, wenn es darum
geht, die familialen, genealogischen und in erfolgreichen Filiationen
gegründeten Prämisen des »sozialen Lebens« zu verdunkeln.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
24-25 |
Zu einer Restauration der »Erbsünde« geben die
folgenden Beobachtungen keinen Anlaß. Sie möchten jedoch zu
einer erneuten Sichtung der Korruptionseffekte beitragen, die von alters
her sich in den Generationsprozessen einnisten, und dies nachhaltiger,
als das alltägliche Bewußtsein je zur Kenntnis nehmen wollte:
sporadisch seit der klassischen Antike, verstärkt mit dem Anbruch
der Neuzeit und inflationär in den Verhältnissen, die auf die
technischen, politischen und juristischen »Revolutionen« des
18. und 19. Jahrhunderts folgten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
25 |
Die Kulturtheorie unserer Tage nimmt somit die Herausforderung
an, die religiös codierten Sachgehalte der augustinischen Beobachtungen
in weltlichen Ausdrücken zu reformulieren, sei es juristisch, klinisch,
kulturwissenschaftlich oder in medientheoretischen Begriffen. Sie erlaubt
sich die Frage, wie sich die von Augustinus notierten Lasten, die auf
der conditio humana ruhen, so rekonstruieren ließen, daß
ältere und neuere Intuitionen sich begegnen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
25 |
Zum Verständnis der modernen Welt gehört ... eine säkulare
Hermeneutik der Korruption. .... Man muß demonstrieren, warum der
Mensch ... als das korrumpierbare Tier existiert .... Ebenso ist darzustellen,
wodurch er sich von Korruption befreit. Eine zeitgenössische Ethik
soll erläutern können, wie Korruption durch Wandlungen und Erholungen
korrigierbar sind.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
27-28 |
Einer der neben Kierkegaard und vor Nietzsche
anregendsten Moraldenker des 19. Jahrhunderts - der zu Unrecht vergessene
Geschichtsphilosoph Pierre-Simon Ballanche (1776-1847) - hat in seinem
Werk über die »soziale Palingenesie, das heißt die Wiedergeburt
des lernenden und reuefähigen Geistes bei seinem Gang durch die Generationen,
die Grundlagen für eine realistische historische Ethik geschaffen.
Es handelt von der permanenten Revolution der schuldhaften Exzesse und
ihrer Korrektur durch den Lauf der Dinge: Fortschritt durch Prüfungen
ist die einzig glaubhafte Devise in Zeiten evoluionärer Turbulenz.
(Vgl. S. 63). In seinem Gang formiert sich »die Menschheit«
als ko-immune Gemeinschaft (zum Begriff Ko-Immunität vgl. Peter Sloterdijk,
Du mußt dein Leben ändern - Über Anthropotechnik,
2009, S. 699) von geschichtlichen Wesen, die sich an ihre Fehler, Irrtümer
und Verbrechen erinnern und diese Erinnerungen in kritischen Selbstdefinitionen
aufbewahren.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
28 |
Aufhebung der Korruption wäre das weltliche
Gegenstück zur Reue, mit der in christlicher Tradition die Wiederaufrichtung
des Menschen nach dem Fall beginnt. Die Aufhebung der Korruption ist der
Enstfall des Lernens. Wer ein Lernender ist, häuft nicht bloß
Informationen an. Er versteht, daß wirkliches Lernen etwas von einer
Bekehrung hat. Gäbe es in der Kulturtheorie ein
Pendant zu dem, was im katholischen Altaraufbau das Allerheiligste verkörpert,
es könnte nichts anderes sein als dieser am weitesten heruntergekommene
Begriff der Gegenwart: »Lernen«. Im kommenden Jahrhundert
sollte man ihn wie eine numinose Präsenz in einem Offenbarungszelt
hüten. An seltenen Tagen dürfte man ihn für einige Momente
enthüllen. Ist nicht der Verdacht begründet, das Lernen sei
der unbekannte Gott, von dem es seinerzeit in einer Anmerkung von seherischer
Dunkelheit hieß, nur noch ein solcher könne uns retten?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
28-29 |
In den Tagen von Madame (de Pompadour [1721-1764];
HB) ist der Futurismus vage und unentschieden. Noch bezeichnet
das Wort »Geschichte« wie seit jeher die Kunde davon, wie
es vorzeiten eigentlich gewesen ist. Man schreibt sie wie in alter Zeit,
um zu erfahren, was früher war und warum man im Gewesenen die Richtlinien
für das Heutige findet. Historia magistra vitae. Zunächst
sind es wenige, die Zweifel am Primat des Geschehenen vor dem Kommenden
anmelden. Noch weniger zahlreich sind die Abgeklärten, die schon
verstanden haben, das aus gewesener Geschichte zu keiner Zeit etwas gelernt
wurde, allen Sammlungen exemplarischer Erzählungen zum Trotz. Gleichwohl,
auf diese kleine Zahl von Zweiflern und ihre Werbung für die Blickwende
ins Noch-Nicht werden die ungeborenen Generationen hören.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
33 |
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht sich in den mentalen
Ökosystemen Europas die Umdeutung des Verhältnisses von Vergangenheit
und Zukunft, die den Modernen den kühnsten, den unfaßbarsten,
den unausdenkbarsten Gedanken eingibt, der seit der Vertreibung der Ureltern
aus dem Paradies (wann? HB) in Menschengehirnen
keimte: Mit einem Mal scheint vorstellbar, es könnten die wichtigsten
Ereignisse, im Bösen wie im Guten, jene sein, die noch nicht statthgefunden
haben. Unbemerkt »entwickeln« sich solche Ereignisse im Schoß
der Gegenwart, um eines nicht ganz fernen Tages ins Manifeste, Handgreifliche
durchzubrechen. Folglich würden von da an die Enden, nicht mehr die
Anfänge, über den Sinn der Vorgänge in der Mitte entscheiden.
Es wären die Zukünfte, die wirklich zählen, und nicht die
Herkünfte. Nun fiel das Schwergewicht des Seins nicht länger
auf die Vergangenheit; die mythische Gegend, wo die alten Rechte, die
Ursprungsmächte, die Stiftungen heimisch sind, verliert zunehmend
an Bedeutung. Auch ist die Gegenwart nicht mehr die Fortsetzung eines
immergültigen Damals im Medium aktuellen Lebens. Hegel hatte es als
erster begriffen: In einer epochalen Formulierung nennt er die Wirklichkeit
die »Möglichkeit des Folgenden« (Philosophische Enzyklopädie
für die Oberklasse, 1808-1811, § 151). Seit Zeit und Zukunft
ins Denken drängen, bilden Vergangenheit und Gegenwart die Inkubationszeit
eines Ungeheuers, das unter einem trügerisch harmlosen namen am Horizont
auftaucht: das Neue.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
34 |
Nachgeborenen blieb vorbehalten zu erkennen, daß, wer damals
das Wort »Sintflut« sagte, die Revolution gemeint haben mußte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
35 |
Der revolutionäre Hiatus riß das konventionelle Band
der Epochen entzwei. Wo Filiationen geherrscht hatten - getreue Übergaben
des väterlichen Erbes auf Nachkommen und Nachkommen von Nachkommen,
wie fiktiv auch immer -, hoben die Unterbrechungen des Herkommens tiefe
Gräben aus. Alles Leben wird neu datiert: Was später lebt, lebt
nach dem Einschnitt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
37-38 |
Über Nacht hatten die Haupt- und Staatsaktionen der großen
Welt sich in ein Improvisationstheater gewandelt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
38 |
Was besteht und beharrt, wird im Unrecht sein; was vorwärts
geht und für Freiheiten trommelt, hat alles Recht auf seiner Seite.
Das erwachende Ungeheuer erweist sich als ein moralisierendes Geschöpf.
Von Anfang an verfügt es über Wege und Mittel, das Gewesene
ins Unrecht zu setzen. Die Welt der Väter scheint entrechtet, die
Könige werden der Despotie bezichtigt ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.38-39 |
Auch die neueste Gegenwart nimmt an der Entmündigung der
Vergangenheit teil, insofern sie selber schon morgen die die Vergangenheit
seiner zukünftigen Gegenwart sein wird..
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
39 |
Das Unrecht, bestehen zu wollen, ist das neue Gesicht der Erbsünde.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
39 |
Nichtsdestoweniger will alles, was nun kommt, nach der Verdampfung
des Ständischen und Stehenden auf einen neuen »Staat«
hinaus. das Wagnersche Gesetz erlangt Geltung, das die unaufhaltsame Ausdehnung
der Staatstätigkeit aussagt. (Benannt nach dem Soziologen und Finanzwissenschaftler
Adolf Wagner (1835-1917), dem Prototypus der »Kathedersozialisten«,
der das parallele Wachstum von Staatsaugaben und Staatsaktivitäten
in positiver Bewertung prognostizierte.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
39 |
Die Zurückstufung des Gegenwärtigen, das weiß,
wie bald es selbst eine Vergangenheit sein wird, wird von dem ominösen
Artikel 28 der Déclaration des Droits de l Homme et du
Citoyen vom Juni 1793 auf den Begriff gebracht: »Eine (gegenwärtige)
Generation hat nicht das Recht, zukünftige Generationen ihren Gesetzen
zu unterwerfen.« Hieraus wird das ewige Grundrecht auf Verfassungsänderung
abgeleitet, mit dem das souveräne Volk sich seiner Zukunft immer
von neuem bemächtigen darf.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
39-40 |
Leo Trotzki sprach später von der »permanenten Revolution«,
um Stalins Politik des »Sozialismus in einem Land« (die er
folgerichtig als einen »Nationalsozialismus« im sowjetischen
Gewand bezeichnete) zurückzuweisen und einen anderen Modus internationalisierter
Umwälzung zu fordern.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
40 |
Die moderne Welt ... wird sich als eine Zeit
erweisen, in der die Wünsche durch ihr Wahrwerden das Fürchten
lehren.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
53 |
Wer die geistige Landschaft des europäischen
19. Jahrhunderts im Vogelflug überqueren könnte, würde
nach einigen Kreisen in der Luft entdecken, daß das Denken jener
Jahre sich in einem von drei geistesgegenwärtigen Fragen markierten
Feld bewegte. Die Aufnahmen des Fragen-Dreiecks enthüllen nachträglich,
was sich der bodennahen Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht hinreichend
deutlich zeigen konnte. Tatsächlich waren die wesentlichen Reflexionen
der beginnenden Moderne stets nur Antworten auf die von Joseph de Maistre
(1753-1821) in seinen Soireen von Sankt Petersburg erörterte
Frage: »Wie konnte Gott die französische Revolution zulassen?«.
Sie reagierten ferner auf die Titelfrage von Nikolai Tschernyschewskis
Roman Was tun?, der im Jahr 1863 erschien, und schließlich
auf die durch Friedrich Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft
von 1882 aufgeworfene Frage des Tollen Menschen: »Stürzen
wir nicht fortwährend?«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
54 |
Was man den »revolutionären Bruch
im Denken des 19. Jahrhunderts« (Karl Löwith,
Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des
19. Jahrhunderts, 1941) genannt hat, spiegelt sich in de Maistres,
Tschernyschewskis und Nietzsches Fragen wider als die begriffene Unmöglichkeit,
das alteuropäisch Haus des Seins gelassen zu bewohnen. Eine monströse
Baustelle war an seine Stelle getreten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
55 |
Aus der Sicht des ultrakatholischen savoyardischen
Diplomaten (Joseph de Maistre; HB), von 1802
bis 1816 im Dienste des Hauses Piemont-Sardinien ... in Sankt Petersburg
tätig, bedeutete die französische Revolution mitsamt ihrem Umschlagen
in den napoleonischen Expanionismus ... eine neue Qualität der Allianz
zwischen dem Menschlichen und dem Infernalischen, ja sie erschien ihm
geradezu als ein Totentanz, aufgeführt von menschengestaltigen Puppen:
Deren Schrittfolgen seien ihm in die Glieder gefahren, nachdem die Kirche in Frankreich ihre Macht verloren hatte, die auf dem Grund der Seelen lauernden
Traumbosheiten in Schach zu halten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
55-56 |
Im übrigen betonte de Maistre, wann immer
es ihm nötig schien, er sei zu keiner Zeit Franzose gewesen und habe
nicht vor, es je zu werden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
57 |
De Maistre lieferte in seinen Betrachtungen
über Frankreich (1796) wie in den Sankt Petersburger Abendgesprächen
über das Walten der Vorsehung in der Menschenwelt den Beweis dafür,
daß ohne Kaltblütigkeit eine theologische Deutung der neueren
Geschichte nicht gelingt. In seiner Sicht waren Marat, Robespierre, Napoleon
und ihresgleichen eben nichts anderes als genialische Automaten, denen
Gott die trübe Freiheit gewährt hatte, sich einem höllischen
Arbeitgeber anzudienen. Was Wunder, wenn sie unter dem Kommando dieses
Herrn die Staaten in ein Blutbad ohnegleichen stürzten? De Maistre
begreift das Weltgeschehen zwischen 1789 und 1809 - er kennt zum Zeitpunkt
der Soireen die kulminierenden Gewaltschauspiele von Moskau, Leipzig
und Waterloo noch nicht - als Ausfluß einer von Gott ironisch zugelassenen
Satanokratie, ermöglicht durch die tragische Selbstverhüllung
des Absoluten. Hinter dem Rückzug Gottes verbrigt sich ein gattungspädagogisches
Kalkül, das der menschlichen Vernunft pervers erscheinen mag. De
Maistre erwägt in vollem Ernst, Gott habe, indem er die Revolution
und alles Folgende duldete, der Welt Gelegenheit bieten wollen, zu erfahren,
wie es ihr ergeht, wenn sie ganz sich selber überlassen ist - ahnend,
daß sie, wenn sie sich in Übersteigerung wiegt, ihren höchsten
Idealen zu folgen, zu einem Tummelplatz infernaler Mächte gerät.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
57-58 |
Napoleon selbst hatte nicht versäumt,
die Devise seines Handelns auszusprechen, als er im Dresdener Dialog mit
Metternich bemerkte: »Ein Mann wie ich pfeift auf das Leben von
einer Million Menschen«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
58 |
Für de Maistre legt das nicht endende
Blutbad der Jahre seit 1793 die Wahrheit über die Wirklichkeitsmächte
der neuen Zeit offen. Obschon das Zählen der Toten erst eine Passion
des 20. Jahrhunderts wurde, spürten schon die Zeitgenossen der Napoleonischen
Kriege, daß eine Ära der Verschwendung von Menschenleben begonnen
hatte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
59 |
In den Augen des großen Liberalismus-Verweigerers
ist die entgrenzte Gewalt, wie sie im Revolutionszeitalter ausbrach, um
sich nur episodisch zu beruhigen, durchaus nicht das bedauerliche schlimme
Mittel zum guten Zweck, wie die unentwegten Progressiven zu behaupten
nicht müde werden - sie ist der unverhüllte Ausfluß ihres
leitenden Prinzips. - Das Böse wäre freilich nie in respektable
Positionen gelangt, hätte es sich nicht seit jeher darauf verstanden,
eine gewinnende Seite vorzuweisen. Es könnte die Menschen nicht anziehen,
binden und vorantreiben, wenn es sich nicht als das Normale, Humane und
Notwendige zu maskieren wüßte. Wenn die Anreger, Exekutoren
und Interpreten der Blutbäder immerzu von Freiheit und Gleichheit,
von Eigentum und Fortschritt, von Menschenrecht, Verfassung und Herrschaft
der Vernunft reden, ja, wenn sie uns alle mit ihren Ansprachen momenthaft
begeistern, so beweist die nur, daß sie den Rhetorikunterricht des
Teufels mit Erfolg besucht haben - und wie wenig wir noch immer imstande
sind, uns gegen ihre suggestiven Reden zu immunisieren.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
59 |
Eine gültige Kritik der gegenwärtigen
Zeit muß demnach mit nüchternen Untersuchungen über die
Macht der Reden beginnen. Die methodologische Frage, wie Gott die französiche
Revolution zulassen konnte, übersetzt sich in die abgründige
Erkundigung, wie den Menschen der Ära nach dem großen Einschnitt
sich selbst mit Phrasen und Proklamationen genug verzaubern, um unter
noblen Vorwänden die gräßlichsten Gewalttaten begehen
zu können. Damit ist eine Problemstruktur bezeichnet, die sich unter
dem Begriff »Ideologiekritik« in die intellektuellen Profile
des 19. und 20. Jahrhunderts einprägen wird. Den vollendeten Ironiker
de Maistre hätte es nicht überrascht, daß Ideologiekritik
zur Spezialdisziplin der kommunistischen Bewegung wurde. Wo der Kommunismus
an die Macht gelangt war, stellte er dank der routinierten Verbindung
der humanen Phraseologie mit dem vollendeten Partei- und Staatsterrorismus
die übrigen Praktiken auf dem Feld der Auslöschungen in den
Schatten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
59-60 |
Die Größe des Streits um eine Theologie
der Gewalt in der französischen Revolution läßt sich durch
den Hinweis auf das Werk von Pierre-Simon Ballanche (1776-1847) erläutern,
der die Alternative Hegel versus de Maistre durch eine geistvolle gewaltkritische
dritte Position (eine Synthese in Hegels
Sinne?! HB) unterläuft. Unter dem Titel »soziale Palingenesie«
ersann er eine christliche Geschichtsphilosophie, die auf dem Gedanken
des »Fortschritts durch göttliche Prüfungen« beruhte.
Sie entwirft die Evolution der Menschheit als Drama der vorzeitlichen
Erbsünde und ihrer von der Vorhersehung gewollten, stets erneuerten
Entsühnung. Daß der erste Mörder, Kain, zum ersten Stadtgründer
werden durfte, möge zu denken geben. In diesem Geschehen finden sogar
die Königsmörder von 1793 ihren heilsgeschichtlichen Ort - wie
die Erzählung Lhomme sans nom, 1820, verrät, in
der ein edler Greis, ein vormaliger Angehöriger des Konvents, der
für die Hinrichtung Ludwigs gestimmt hatte, seine Tat durch ein Leben
in Namenlosigkeit verbüßt, ehe er nach langen Jahren wieder
in die Gemeinschaft der Entschuldigten aufgenommen wird. Ballanche bezahlte
die vermittelnde Genialität seines Projekts mit allseitiger Ablehnung:
Statt die Lager der Revolutionäre und Konterrevolutionäre miteinander
zu versöhnen, wie er sich erträumt hatte, wurde er von den ersten
als christlicher Reaktionär und von den zweiten als verräterischer
Verteidiger des radikalen Wandels verworfen. In Wahrheit hatte Ballanche,
indem er die Geschichte der Menschheit als permanente Palingenesie, das
heißt als ständige Wiedergeburt aus der Verirrung, konzipierte,
erstmals das Schema vom Trial and Erorr auf die Ebenen der Zivilisationsgeschichte
angewendet, wenn auch noch in penetrant religiöser Codierung. Sein
Wiedergeburtsdenken geht von der Einsicht aus, daß Sünder Geschichte
machen, indes nur verhärtete Sünder sich weigern, aus ihren
Taten zu lernen. Der wahre Fortschritt ist die Sühne des Verbrechers.
Ballanches Paradigma ist der Sturz Napoleons, dessen atlantisches Exil
eine notwendige Prüfung gewesen sei, um das bei diesem Mann unterentwickelte
moralische Gefühl auf die Höhe seiner Intelligenz zu bringen
....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
63-64 |
Wie die praktische Philosophie des 19. und
20. Jahrhunderts als Streit um die Programmierung der Weltveränderungsmacht
verstanden werden kann, läßt ishc die Geschichtsphilosophie
dieser Ära als Streit um die Rationalität oder Irrationalität
der Mobilisation interpretieren. Dieser vollzieht sich im Kampf um die
Deutungshoheit über den modus operandi der geschehenden Geschichte.
Es ist das Ringen zweier miteinander unverträglicher Bewegungsbilder:
Was von der einen Seite als gewußter und gewollte Fortschritt auf
langen, manchmal gewundenen Alleen ausgelegt wird, erscheint der anderen
Partei als ein chronisches Nach-vorne-Stürzen, das sich als Tat,
Projekt und planvolles Handeln camoufliert. Die beiden Beschreibungen
führen sich gegenseitig eine je für die andere Seite unerträgliche
Ironisierung zu. Wer dem unheimlichen Bild vom Sturz nach vorne den Vorzug
gibt, erscheint in den Augen der Fortschrittlichen wie ein boshafter blinder
Passagier an Bord eines Schiffs, das dank der Arbeit der anderen zielsicher
der hellen Zukunft entgegenfährt. Wer hingegen an einen garantierten
Fortschritt glaubt, ist in den Augen derer, die überall den Sturz
nach vorne spüren, ein schlafwandelnder Philisiter, der schon vom
Dach gefallen ist und noch im Sturz den Vorwärts liest.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
72-73 |
Das 20. Jahrhundert erweist sich rückblickend
als eine Zeit, in der die beiden Grundaussagen über die bewegte Welt
den Versuch unternahmen, sich gegenseitig zu absorbieren. Als Martin Heidegger
begann, den Sturz nach vorn mit dem bewußt unternommenen Schritt
zu amalgamieren, gelang ihm um 1927 die Begriffsprägung »Geworfenheit«
- ein Ausdruck, der den Vorrang des Sturzes respektiert, doch ein gewisses
Maß an dessen Aneignung durch den Gang suggeriert. Dies mündet
in einen existententialistischen Heroismus, dessen zeitweilige Nähe
zu Hitlers Version des Sozialismus in einem Land bekannt ist, wenn auch
seine Bewertung noch immer für Differenzen Anlaß gibt. Umgekehrt
haben Liberale und Sozialisten aus dem Scheitern des Konzepts von linearem
Fortschritt die Konsequenz gezogen, man könne auch aus der progressiven
Grundstellung Kompromisse schließen mit dem kaum noch abzustreitenden
Geschehen fortwährenden Stürzens - oder wie man das Mitgerissenwerden
durch unlenkbare Bewegungen nennen will. Denker dieser Tendenz retteten
den für sie unentbehrlichen Rest des aktivistischn Optimismus mit
Hilfe der Doktrin, jenseits der Alternative von Stürzen und Gehen
solle auch in schwerem Gelände ein gewisses Maß an selbstbestimmter
Navigation möglich bleiben. - Ein wirksames Bild für den Kompromiß
der optimistischen Aktivisten mit der unaufhebbaren Passivität in
der globalen Drift hat der österreichische Philosoph Otto Neurath
gefunden, als er 1932 davon sprach, wir seien wie Schiffer, »die
ihr Schiff auf hoher See umbauen müssen«. .... Noch niemand
scheint auf die Idee gekommen zu sein, man müsse Flugzeuge während
des Flugs in großer Höhe umbauen. Hin und wieder hört
man jedoch die Befürchtung, das Flugzeuge, an dessen Bord die Menschheit
in die Zukunft reist, sei gestartet, bevor die Techniker das Fahrwerk
zur Landung eingebaut hatten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
73-74 |
Hervorgegangen aus dem revolutionären Hiatus, stellte das
Ensemble der Geschöpfe des Diskontinuums sich selber als die »bürgerliche
Gesellschaft« vor.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
77 |
Was »bürgerliche Gesellschaft« heißt, its
ihrem modus operandi zufolge ein permanentes Provisorium zur Bewältigung
des Unbewältigbaren. Aus dem Hiatus hervorgegangen, formt das unbekannte
Gebilde einen paradoxen Generationenstrom - einen Fluß, der überwiegend
aus Unterbrechungen und Katarakten besteht. Sein Verlauf wird durch unzählige
Brüche mit dem Herkommen bestimmt, kleinere und größere
- kompensiert durch ebenso viele Behauptungen wiederhergestellter Kontinuität
und regenerierter Legitimität.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
77 |
Im Kopier-Vorgang ist die Möglichkeit,
daß Nachkommen »aus der Art schlagen«, seit jeher angelegt.
Kulturen kennen wie Gene die Mutation als Normalrisiko. Die Gefahr, die
eigenen Kinder könnten zu »schrecklichen Kindern« werden,
ist so alt wie die höhere Zivilisation ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
78 |
Die Bannung der Gefahr der Fehlkopie brachte
den älteren »Konservatismus« hervor ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
78 |
Was man seit der Romantik als die Spießbürger verspottet,
sind aus kulturtheoretischer Sicht die namenlosen Helden der Kontinuität.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
79 |
Alle Generationen nach dem Hiatus tragen das Risiko riskanter
und schädlicher Mutation in unvergleichlich höherem Maß
in sich als ihre Vorgänger. Sie sind viel mehr gefährdet, das
Ziel der Transmission, die hinreichend ähnliche Reproduktion, zu
verfehlen, nicht zuletzt deswegen, weil sie in der Regel bereits angegriffene,
labilisierte, ständig für Revisionen, Gegenvorschläge und
Überbietungen offene, zuweilen offen verworfene Muster vorfinden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
79 |
Den schrecklichen Kindern gehen oft ratlose Eltern, manchmal perverse
Eltern, voraus.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
79 |
Was stellt Kafkas Brief (an seinen Vater,
November 1919; HB) anderes dar als eine Prager Parallelaktion zur
Wiener Psychoanalyse - jener konservativ-revolutionären Antwort des
psychologischen Jahrhunderts auf die epidemische Aushöhlung der Filiationen?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
80 |
In jeder halbwegs gelungenen Filiation auf modernem Boden scheint
gleichwohl etwas auf, was sich wie ein Hinweis auf vergessene Gesetzmäßigkeiten
des genealogischen Lebens lesen ließe. Jede glaubwürdige Ersetzung
älterer Generationen durch satisfaktionsfähige Nachkommen, und
wäre si noch so unwegig und nicht-linear, deutet an, selbst im Zeitalter
der chronischen, massenhaften und sich vertiefenden Abbrüche könne
der Sinn für Kohärenz und Nachfolge im Gang des symbolisch geordneten
Lebens nicht restlos verlorengehen - solange solches Leben sich als etwas
begreift, das nie ganz aufhören wird, das Mittlere zwischen Früherem
und Folgendem zu sein, selbst wenn es, unter dem Bann von Nullpunkt- und
Neustartühantasien, zeitweilig nach der vollständigen Unterbrechung
verlangte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
80 |
Die Labilisierung der Filiationen spiegelt sich im Aufstieg des
Begriffs »Freiheit« zum theoretischen Leitwort und ethischen
Leitwert der Kulturen nach dem Hiatus wider. Er deutet auf dei Verlegenheit
der freigesetzten Subjektivitäten hin, sich ihren Ort im mobilisierten
und pluralisierten Weltgefüge aus eigenen Entschlußkraft suchen
zu müssen. Im Klima der Desorientierung gedeiht das Pathos der Wahlfreiheit
am besten. Jean-Paul Sartre hatte die neue lage halb luzide, halb mystifizierend
auf den Begriff gebracht, als er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs statuierte,
der Mensch sei ein Wesen, das aus einer absoluten Wahl seiner selbst hervorgehe:
Er ist dazu verdammt, frei zu sein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
80 |
Tatsächlich kann sich ein »Subjekt« nur dann
zur Verlegenheit, frei zu sein, verurteilt sehen, wenn die althergebrachten
Passungen zwischen dem modus vivendi der älteren und der nachfolgenden
Generationen nicht mehr vorausgesetzt werden dürfen. Was die Theoretiker
des Existentialismus (nicht alle! HB) stark
übereilt als »Freiheit« bezeichneten, ist in zivilisationsdynamischer
Sicht nur als Hiatus-Effekt recht begreiflich zu machen. Dieser tritt
im neu-labilen Subjekt unweigerlich auf, sobald das Herkommen zu schwach
geworden ist, um die Zukunft des Herkömmlings a priori zu
strukturieren. Nur die Entkräftung der Vergangenheit - ihre Herabstufung
zu bloßem »Rohmaterial« der Selbstformung - bewirkt,
daß Menschen sich selber frei »wählen« oder »erfinden«
müssen. Die Freien sind auch die, die man ohne Erklärung auf
offener Straße stehengelassen hat. Andernfalls wären sie stabil
programmierte Medien prägungsfähiger Generationen geblieben
und würden ihr Leben als selbstsichere Vehikel angeeigneter Überlieferungen
führen - in den Spielräumen der immer überraschungsoffenen
Welt. In diesem Fall ginge die existentielle »Freiheit«, mit
Sartre als wesentliche Negativität des Subjekts aufgefaßt,
nahezu spurlos in der Anlehnung an die ererbten Muster auf.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
80-81 |
Der für das Eindringen von Diskontiniutät offene Übergang
vom »Erben« zum »Erwerben«, den Goethe sprichwörtlich
machte (»Was du ererbt von deinen Vätern hast, // Erwirb es, um es zu besitzen. // Was man nicht nützt, ist
eine schwere Last.« Faust I, Nacht.), würde dann in
der Regel nicht allzu auffällig werden. Wenn im existentiellen (nicht
jeden! HB) Dialekt von »Freiheit« die Rede ist, stellt
dies gleichwohl unter Beweis, daß das generation grap sich
nun auch für die Vielen gefährlich weit geöffnet hat. Die
modernen Freiheitsdiskurse bezeugen die wachsends Asymmetrie von Zukünften
und Herkünften. In Kafkas Roman Der Verschollene (Amerika)
findet sich eine der wenigen brauchbaren Spuren von einsicht in die neue
Lage, die man im 20. Jahrhundert notierte. »Dann sind Sie
also frei?, fragt jemand den Helden der Geschichte. Ja, frei
bin ich, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.«
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
81-82 |
Fürs erste kann es daher nicht darum gehen, etwas »aus
dem zu machen, was man mit uns gemacht hat«. Die freigesetzten Subjekte
müssen zu der Verlegenheit Stellung nehmen, daß die Vergangenheit
im Hinblick auf sie praktisch nichts, jedenfalls nicht genug gemacht hat:
Das traditionsohnmächtige Bisherige schuf aus ihnen etwas Halbherziges
und Halbfertiges, etwas Unvollendetes und Unschlüssiges: Nur deswegen
empfinden sie das Bedürfnis, im zweiten Durchgang aus sich sebst
etwas Stimmiges, Überzeugendes, Kohärentes zu formen. Wahrhaft
modern ist das von nichts aus dem Bisherigen ganz überzeugte Leben,
das im experimentierenden Umgang mit sich selbst den Entschluß verwirklicht,
die verblaßte Tradition durch intensive Hypothesen zu ersetzen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
82 |
Der nach-revolutionäre Hiatus ist in jedem Subjekt, das sein
Leben selbst in die Hand nimmt, als eine intim erlebte Herkunftsschwäche
präsent. Wer sich selbst und seinen nur vage vorskizzierten Weg in
die Welt ernst genug auffaßt, um sich zur eigen »Freiheit«
zu bekennen, versteht ohne weitere Begründung: Nach dem großen
Bruch reicht die gewöhnliche Herkunfsprägung nicht mehr aus,
um den Ansprüchen der Zukunft zu genügen. Daß die entsicherte
Zukunft überhaupt die Forderung »freier« Gestaltung an
uns richtet, geht aus den Folgen des Bruchs hervor: Nicht allein die Generationenbeziehungen
in den engeren familialen Umfeldern, sondern auch die Weltverhältnisse
im ganzen, vor allem in der Arbeitswelt und auf den politischen Konflikt-
und Chancenfeldern, sind so strak in Bewegung geraten, daß man,
was auch immer geschieht, keine geistesgegenwärtigeren Fragen stellen
kann als: »Stürzen wir nicht fortwährend?« und »Was
tun?«. Sogar die scheinbar obskurantistische Frage: »Warum
hat Gott die Revolutionen zugelassen?« wird nie inaktuell werden,
sofern man sich die Lizenz zubillligt, sie in eine nicht ganz so katholische
Perspektive zu übersetzen: Wie wären Welt und Leben zu gestalten,
wenn das Dasein nach dem Hiatus nicht immer
nur zu weiterer Selbstbloßstellung der Menschheit im Massaker und
zu ihrer Selbsterniedrigung im Zirkus chronischer Wunschaufreizung geraten
soll?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
82-83 |
Die moderne Freiheit ist demnach die innere Spur des allzu weit
geöffneten Hiatus zwischen den Verhältnissen der Vergangenheit
und den Möglichkeiten, die die Zukunftswelt offeriert. Sie ist in
»weltanschaulicher« Hinsicht zugleich das Zeugnis der Kluft
zwischen dem gerundeten Kosmos der Alten und dem unendlichen Universum
der Modernen. In den jüngeren Patienten der Subjektivität ist
sie gegenwärtig, seit sie die Beunruhigung spüren, daß
sie für das, was von ihnen gefordert werden wird, unterprogrammiert
sind. Die Zukunft liegt vor ihnen als ein Ereignisfeld, das um vieles
unberechenbarer aufklafft als in früheren Zeitläufen. Zwischen
den alten Lebensmaximen und den neuen Verfügbarkeiten hat sich ein
nicht mehr beherrschbares Mißverhältnis augetan. Wer »existiert«,
gibt durch seine Seinsart selbst bekannt, ein ontologisches Halbfabrikat
zu sein, zur Fertigstellung in der Werkstatt des »eigenen Lebens«
bestimmt - schwankend zwischen den Polen von Weltverbesserung und Selbstverwirklichung.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
83 |
Nach dem Abklingen der geschichtsphilosophischen
Konjunktur läßt sich um vieles deutlicher und ohne spekulative
Überspannung darlegen, welche spezifischeren Mißverhältnisse
es sind, die sich in der überall bemerkten Asymmetrie zwischen Herkunftswelten
und Zukunftsverhältnissen manifestieren. Die ontologische Kluft,
in der die moderne Welt unheimlich zuhause ist, läßt sich mittels
Aussagen über Vorher-nachher-Disproportionen in kleinteiligen Beobachtungen
begreiflich machen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
84 |
Der zivilisationsdynamische Hauptsatz lautet:
Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien
freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung
gebunden werden können.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
85 |
Das heißt: Der chronische Überschuß
an Mobilisierungen von Aktivitäten und die fortschreitende Auslösung
tatbewegter Ereignisströme, die sich in objektiven Relikten niederschlagen,
treibt das Weltverhältnis und Wirklichkeitserlebnis der Modernen
in stetig wachsende Asymmetrien. Dieses Zuviel an neuen Kausal-Motiven
ist für die globale kulturelle Entropie verantwortlich, die jeder
Zeitgenosse seit dem frühen 19. Jahrhundert am Weltbefund unwillkürlich
konstatiert, am eigenen Dasein nicht weniger als im Wandel der Mitwelten.
Insbesondere das Hauptsymptom des beginnenden 21. Jahrhunderts, aktuelle
Schulden mit neuen Schulden zu »bezahlen«, ist nur ein Symptom
unter den vielen, die das ständige Vorangleiten und Vorwärtsstürmen
im generalisierten Futurismus anzeigen. In der schon alltäglichen,
pervers normalisierten Praxis der Schuldenumwälzung erkennt man die
systemische Drift zu wachsenden Ungleichgewichten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
85 |
Schieflagen solcher Art übersetzen sich in Begründungsschwäche
und zweifelhafte Legitimität hinsichtlich sämtlicher Lebensverhältnisse.
Improviation dringt ein in alles, was vormals »ständisch und
stehend« zu sein schien: von den Geschäftsbeziehugen zu den
erotischen Transaktionen, von den kulturellen »Ereignissen«
zu den biographischen Mustern, vom reiseverkehr zu den »religiösen«
Praktiken. Das Wachstum der Beliebigkeit ist, in Analogie zu Vorgängen
in der monetären Sphäre, als symbolische Inflation zu beschreiben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
85 |
Als wachender Überschuß an wilder Faktizität,
die sich unerwartet und un kontrolliert bemerkbar macht, manifestiert
sich in allen jüngeren zivilisatorischen Zusammenhängen der
uneinholbare Vorsprung des Aktuellem vor dem Legitimen - des zufällig
Gegebenen vor dem Begründbaren, des de facto vor dem de jure. Die Beteuerung der Wohlmeinenden, wonach »auch und gerade
heute« Zukunft Herkunft »brauche«, zeugt wohl vom zunehmenden
Problembewußtsein in bezug auf die Fragilisierung zivilisatorischer
Kontinuitäten. Doch stellt sie nicht mehr dar als einen hilflosen
Zwischenruf in der globalen Drift, die das Gegenteil demonstriert: Wer
zeitgenössisch empfindet, weiß in sämtlichen Nervenenden,
wie sehr das Zukünftige sich von der Deckung durch Herkunftsbestände
losgemacht hat.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
85-86 |
Die Unmöglichkeit, moderne Welt- und Lebensprozesse mit Hilfe
von Symmetrieforderungen und Gleichgewichtsmodellen zu begreifen oder
gar zu steuern, prägt sich dem zeitgenössischen Empfinden in
allen Gebieten der Wahrnehmung mit zunehmender Dringlichkeit und wachsender
Unheimlichkeit auf. Dies macht den in manchen Gebieten zu bemerkenden
Funktionentausch zwischen vormals progressiven und vormals konservativen
Einstellungen plausibel. Wenn noch vor kurzem die Allianz zwischen dem
Bekenntnis zum Fortschritt und der Befürwortung von Deregulierung
wie ein Automaitismus wirkte, tritte der Mut zur Regulierung allmählich
ins progressive Lager über.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
86 |
Niemand würde heute das Chaos willkommen heißen, weil
die Ordnung versagt hat (oh, doch: auch heute gibt
es noch genug Spinner, die das tun! HB), wie es Karl Kraus in einem
unverzeihlichen Gedicht am Vorabdend des Ersten Weltkriegs formmulierte.
Sogar im Lager der unentwegt Progressiven (aber
nicht im Lager der Linken! HB) beginnt man zuverstehen, daß
das Chaos die Regel ist, von der die Odnung die unwahrscheinlichste der
Ausnahmen bildet.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
87 |
Aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz,
wonach die Summe der Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozeß
regelmäßig die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte
übersteigt, lassen sich, je nach Grundstimmung und Geschmack des
Interpreten, mehr als zwanzig tragische und erheiternde Folgesätze
ableiten.
1) |
Seit dem Hiatus werden viel mehr Optionen
auf zukünftige Statusvorteile heraufbeschworen, als je durch
legitime Herkunftsmittel oder Leistungsnachweise besichert werden
können. |
2) |
Es werden nach dem Vorstoß in
die Freiheits- und Unternehmensära viel mehr Ambitionen geweckt,
als je unter dem Obdach legitimer Ansprüche zu beherbergen
sind. |
3) |
Es werden in aller Welt viel mehr Wünsche
nach Objekten des Konsums und des Genießens stimuliert, als
durch real erarbeitete Güter bedient werden können. |
4) |
Es werden auf breiter Front stets mehr
Lizenzen zugestanden, als durch regulierende Beschränkungen zu
überwachen sind. |
5) |
Es werden überall mehr Ausnahmen
in Anspruch genommen, als durch Modernisierungen der Regel wieder
einzufangen wären. |
6) |
Es werden im Gang der Liberalisierung
mehr Hemmungen fallengelassen, als durch Hinweise an frühere
Zurückhaltungen und neuere Fairneß-Regeln redomestiziert
werden können. |
7) |
Es werden im Kulturbetrieb der neuen
»Gesellschaft« sehr viel mehr Traum- und Begehrenskräfte
freigesetzt, als je durch Umverteilung von Gütern und Vitalchancen
in beherrschbare Ausdruckswelten integriert werden können. |
8) |
Es werden in den Subjekten mehr defensive
und offensive Unzufriedenheiten gestaut und bis zur Schwelle von Ausdruckshandlungen
verstärkt, als je durch massenkulturelle Abreaktionen erledigt
oder durch Individualtherapien versöhnt werden können. |
9) |
Es werden mehr Fahrten angetreten, mehr
Reisevorhaben auf den Weg gebracht, mehr Starts, Landungen und Transfers
durchgeführt, als durch Vorkehrungen zur Kollisionsvermeidung
schadlos abzuwickeln sind. |
10) |
Es werden im geld- und zinsbewegten
Wirtschaftsgeschehen von Gläubigern stets mehr Kredite an Schuldner
herausgereicht, als sich durch angemessene Rückversicherungen
in Pfändern und realistischen Leistungserwartungen besichern
lassen. |
11) |
Es werden von Schuldnern in modernen
Tauschgesellschaften, namentlich von Regierungen sogenannter souveräner
Staaten, stets sehr viel mehr Kredite aufgenommen, als sich jemals
mit Bona-fide-Rückzahlungsabsichten rechtfertigen ließen. |
12) |
Es werden auf den Feldern moderner
Politiker und Kultur stets mehr Täuschungen, Wahnkonzepte und
Angebote an die Deliriumsbereitschaft des Publikums in die Welt
entlassen, als je in realistische Vorhaben re-integriert werden
können. |
13) |
Es werden ständig mehr einklagbare
Rechte von möglichen Inhabern formal gültiger Ansprüche
geltend gemacht, als sich durch Prozesse vor bestehenden Gerichten
bestätigen lassen. |
14) |
Es wird ständig mehr empörungsbereite
moralische Sensibilität herangezogen, als sich durch den Hinweis
auf ständigen Strukturwandel der Mißstände beruhigen
läßt. |
15) |
Es wird im Lauf der modernen Lockerung
der Sitten und ihrer Bilderwelten stets mehr erotisches Begehren
aufgereizt, als durch lizenzierte Sexualität zu absorbieren
wäre. |
16) |
Es werden durch die Ausstrahlung der
Bilder reichen Lebens weltweit fortwährend mehr Forderungen
nach Teilhabe an Gütern und Statussymbolen hervorgerufen, als
jemals durch nicht-kriminelle Formen der Umverteilung von Wohlstand
befriedigt werden können. |
17) |
Es werden ständig mehr Krankheiten
entdeckt (erfunden! HB), neu beschrieben
und diagnostiziert, als je durch die bestehenden oder künftigen
Therapieeinrichtungen auf der Höhe der Kunst behandelt werden
können. |
18) |
Es verlegen weltweit immer mehr Menschen
ihren Lebensschwerpunkt in großstadtartige Ballungsgebiete,
als jemals zu Lebzeiten an den Vorzügen zivilisierter Urbanität
werden teilhaben können. |
19) |
Es werden ständig mehr soziale,
technische und psychologische Probleme entdeckt und erfunden, als
sich durch die Problemlösungsfähigkeit der lebenden Generationen
bewältigen lassen. |
20) |
Es werden der Problemlösungsfähigkeit
künftiger Generationen zunehmend mehr Aufgaben aufgebürdet,
als diese durch die Übernahme des Kompetenz-Erbes vorangehender
Generationen und dessen Ergänzung durch eigene Erfindungskräfte
meistern könnten. |
21) |
Es werden im Gang der Modernisierung
fortwährend mehr existentielle Optionen erschlossen, als sich
je in Konstrukte persönlicher und kollektiver Identität
integrieren lassen. |
22) |
Es werden in den Netzwerken der Global
Art ständig mehr Kunstwerke auf den Markt gebracht, als
jemals durch Kennerschaften, Sammlungen und kunstwissenschaftlichen
Resümees gewürdigt werden können. |
23) |
Es werden im aktuellen Kulturbetrieb
ständig sehr viel mehr Kandidaturen und Prominenz, das heißt
auf mit Wahrnehmungsprivilegien ausgestattete soziale Positionen
deponiert, als durch die vorhandenen Aufmerksamkeitskapitale honoriert
werden können. |
24) |
Es werden weltweit mehr Abfälle
aus konsum- und industriegesellschaftlichen Lebensformen generiert,
als sich auf absehbare Zeit in Recycling-Prozessen resorbieren lassen. |
25) |
Es werden in Menschenkörpern
der wohlhabenden Hemisphäre ständig mehr Fettreserven
aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen
sind. |
Bei diesen Sätzen handelt es sich durchwegs um zivilisationsdynamische
Aussagen von mittlerem Abstraktionsgrad, die sich am Prinzip der Folgenoffenheit
von Innovationen, gleich ob es sich um technische Innovationen, Rechtsinnovationen,
Verhaltensinnovationen oder Anspruchsinnovationen handelt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
87-90 |
Hauptsächlich tragen die Sätze den gewandelten epistemologischen
Verhältnissen Rechnung, unter denen Kulturtheorien auf der Höhe
zeitgenössischer Begriffsbildungen und sozialer Selbstwahrnehmungen
sich entfalten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
90-91 |
De jure sollten auch die aktuellen »Geisteswissenschaften«
nach langen Abwehrkämpfen in ihr postkopernikanisches Stadium eingetreten
sein. Im Blick auf das Universum der »symbolischen Formen«
- von den Silben-Strukturen in Buschmann-Sprachen bis zu den Bauplänen
komplexer Zivilisationen - können sie nun mit bordeigenen Mitteln
die große Wende nachvollziehen, kraft welcher die modernen Naturwissenschaften
von der klassischen Mechanik zur thermodynamoischen Prozeßlogik
und von den Klassifikationssystem der älteren Zoologie zu den evolutionären
Konzepten Lebenswissenschaften übergingen. In Umschwüngen dieses
Typs handelt es sich um die Ausmessung der Asymmetrien, die in »nach
vorne offenen« Prozessen auftreten. Man könnte ebenso von der
Domestikation der Unbestimmtheit sprechen, ohne die sich Zustandveränderungen
in komplexen Systemen nicht zur Sprache bringen lassen. (Vgl. Gerhard
Gamm, Nicht nichts - Studien zu einer Semantik des Unbestimmten,
2000; ders., Flucht aus der Kategorie - Die Positivierung des Unbestimmten
als Ausgang der Moderne, 1994)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
91 |
Der zivilisationsdynamische Hauptsatz und
seine fünfundzwanzig Untersätze ergänzen die Thesen Niklas
Luhmanns über die Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme in der Moderne
durch eine systemhistorische Dimension, wobei sie den Akzent auf die »Emissionen«
bzw. die Wirkungsüberschüsse modernisierter Praxisspiele setzen.
Mit ihrer Hilfe lassen sich kaum traktierbare und zu Mystifikation verführende
Großbegriffe wie »Ereignis«, »Freiheit«,
»Zufälligkeit« und »Zukunftsoffenheit« in
diskrete Aspekte zerlegen und auf problematische Tendenzen überprüfen,
ohne daß damit Zugeständnisse an eine verbrauchte »Kulturkritik«
verbunden wären. Solche Exzesse ins Unplanbare kann auch die Zauberformel
jüngerer Evolutionstheorien: »Emergenz«, nicht zur Ruhe
bringen. Ja, der Verdacht drängt sich auf, man rede über »Selbstorganisation«
und Neuentstehung von »Ordnung« am liebsten dann, wenn offenkundig
ist, daß wir der Entropie bis auf weiteres nur mit Weihwasser begegnen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
91-92 |
In ihrer Summe liefern diese Beobachtungen plausible Motive, die
fortgeschrittenen Verhältnisse als das »Zeitalter der Nebenwirkungen«
zu charakterisieren. Mit dem Ausdruck »Nebenwirkungen« wird
der Überschuß nicht intendierter Konsequenzen über die
bewußt herbeigeführten Effekte von Maßnahmen, Unterneh,men
und Innovationen bezeichnet. Längst hat er sich aus dem pharmakologischen
Feld gelöst, um sich in allen ökosystemischen Kontexten geltend
zu machen. Er reformuliert die seit der Antike bekannte Entdeckung, daß
menschliche Handlungen von einem Rauschen begleitet sind. In der altgriechischen
Tragödie fand diese Bewußtwerdung ihr erstes Medium. Ihre zeitgenössiche
Untersuchung ist in Instituten für Technikfolgenabschätzung,
Konflikttheorie, Unfallstatistik und Katastrophenprognostik zuhause -
um vom Alarm-Feuilleton nicht zu reden. Das Prinzip Nebenwirkung, dessen
Entfaltung für die von ökologischen Themen dominierte jüngere
Phase des »Zivilisationsprozesses« bestimmend wurde, ist eine
Erscheinungsform der Asymmetrien, die durch das Eindringen von willkommener
und unwillkommener Mutation in die Kopiervorgänge zwischen den Kulturgenerationen
verstärkt werden. Für das aktuelle Kulturklima ist der wachsende
Verdacht bezeichnend, die Summe der Nebenwirkungen überwiege die
der intendierten Hauptwirkungen um ein Vielfaches.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
92 |
War die Moderne das Weltalter der Projekte, erweist sich die Postmoderne
als das Zeitalter der Reparaturen (die Postmoderne
hat noch nicht angefangen, es sind überhaupt keine Reparaturen in
Sicht, also geht die Moderne erst einmal noch weiter - spätmodern;
HB).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Waren Fortschritt und Reaktion die Leitbegriffe des 19., sind
Pfusch und Reparatur die des 21. Jahrhunderts (keine
Reparatur in Sicht; HB).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Größere Politik scheint nur noch als ausgeweiteter
Pannendienst möglich (kein Pannendienst in
Sicht; HB).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Von dem phantasiert die wohlmeinende politische Theorie seit einer
Weile unter dem Stichwort Global Governance. Das Stichwort bezeichnet
ein Vorhaben, das praktisch und faktisch nicht gelingt, weil in der Welt
der lokal zersplitterten Agenden immer anderes wichtiger sein wird als
die Sorge ums Ganze. Auf den nach wie vor anarchisch verfaßten bzw.
unverfaßten höheren Ebenen des Weltgeschehens ist die Koordination
von Störfall und Reparatur (keine Reparatur
in Sicht; HB) noch schwerer zu erreichen als auf nachgeordneten
Stufen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Dieser Wandel der Gestaltungskraft von Politik wird von den demokratischen
Öffentlichkeiten der Gegenwart als ein defensives Hinterher-Regieren
nach Zwischenfällen und Notständen wahrgenommen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Zunehmend erweisen sich die staatlichen Agenturen als Figuren
der Drift von labilen zu labileren Zuständen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
94 |
Der altaufklärerische Glaube an eine seinsgesetzlich garantierte
Symmetrie von Problemen und Lösungen erodiert mit jedem Tag mehr.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
94 |
Das bewußte Leben in der durch die Logik wachsender Asymmetrien
bestimmten Welt zieht darum unwillkommene Zuschauerprivilegien nach sich.
Man sitzt meistens in der ersten Reihe, wenn es gilt, dem überdehnten
Staat bei der Selbstverwaltung seiner Ohnmacht zuzusehen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
94 |
Ob Wahrnehmungen dieser Art einen zureichenden Grund bieten, die
Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte insgesamt in Abrede zu
stellen - wie es von Hegel bis Gumbrecht gelegentlich erwogen wurde -,
mag offenbleiben. Gewiß ist jedoch, wir sind nicht bloß dazu
verurteilt, wie Neurath meinte, das Schiff der modernen Zivilisation auf
offener See umzubauen, ohne es je zur gründlichen Überholung
in ein Dock bringen zu können. Wir nehmen Anzeichen wahr, daß
das hektisch reparierte Schiff bei voller Fahrt sich von selbst in seine
Bestandteile zerlegt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
94 |
Napoleons ... Mutter Laetitia ... entwickelte ... bei neuen Bravourstücken
ihres Sprößlings zu bemerken: »Wenn das nur gutgeht auf
die Dauer«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
114 |
Napoleon ... will die Dynastie schaffen, von der widerwillig schon
verstanden haben muß, daß es sie niemals geben kann. Er weiß
und will nicht wissen, daß Monstren keine Kinder haben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
121 |
Wie beiläufig gelang ihm (Walter Serner;
HB) in der älteren Version der Lockerung die bedeutendste
Begriffsbildung seines Jahrzehnts für die Existenz im aufklaffenden
Raum: »Lückenwut«. Sie ist die stärkste Version
dessen, was Heidegger fast zur selben Zeit als »Geworfenheit«
bezeichnete.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
141-142 |
Man findet den faschistischen Impuls - den Willen zum Weiterkämpfen
nach dem Krieg der Kriege - an vielen Orten, auch solchen, an denen er
sich nicht so nennt, nicht zuletzt bei denen, die sich besonders lauthals
als dessen Gegenteil deklarieren (die wahren Faschisten
sind stets die Linken, erst recht dann, wenn sie sich »Antifaschisten«
nennen; HB). Faschismus ist die Zustimmung zur Unmöglichkeit
der Demobilisierung. Er manifestiert sich in dem Bestreben, unter Waffen
und im Angriff zu bleiben ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
146-147 |
Faschismus ist der Wille zum Dasein im ununterbrochenen Aufmarsch
- Mussolini definierte ihn als den »Horror vor dem bequemen Leben«.
Faschismus ist die Stimmung, die sich in der Überzeugung kondensiert,
das Wort »Nachkriegszeit« sei nicht mehr als eine Verbindung
sinnloser Silben (Morpheme; HB). ER gründet
in dem nach 1917 und 1918 links wie rechts epidemisch gewordenen Glauben,
ein Krieg ohne ein Danach habe begonnen, ja, dieser umfassendere Krieg
sei seit jeher in Gang gewesen. Man dürfe sich der Einberufung in
ihn nicht entziehen. Er speist sich aus dem Antrieb, der dem Dadaismus
diametral entgegengesetzt ist. Um mit Oswald Spengler zu reden: Faschismus
ist die Pose von Leuten, die die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
147 |
Ohne Zweifel war Lenin einer der wichtigsten Impulsgeber für
sämtliche Bewegungen, die den Weltkrieg in einen Folgekrieg weitertragen
wollten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
148 |
Der Bezugsrahmen der Oktoberereignisse (von
1917; HB) war die »historische« Selbstermächtigung
einer zahlenmäßig unbedeutenden Gruppe von Putschisten, die
im Falle ihres Erfolgs als Revolutionäre gelten wollten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
149 |
Für Lenins magisch-analoges Denken bedeutete die »Februar-Revolution«
(Anführunsgstriche von mir; HB) nichts
anderes als das Gegenstück zu der von Radikalen seit jeher verachteten
»bürgerlichen« Revolution von 1789 (allerdings
gab und gibt es es in Rußland gar kein Bürgertum! HB).
Der Führer der Ereignisse nach dem Oktober 1917 war entschlossen,
direkt vom 14. Juli 1789 in den September 1793, den Beginn des Terrors
(der Schreckensherrschaft; HB), überzugehen,
ohne den Fehler der Jakobiner zu wiederholen: daß sie eben den Männern
des Thermidor (... als der zivile Rückschlag gegen den Terrorherrscher
um Robespierre begann) zuviel Spielraum für Oppsition gegen die Diktatur
gelassen hatten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
151 |
Das wichtigste Instrument zur Implantierung einer Politik à
la 1793 in die russische Nachkriegsrealität war die von Lenin ersonnene
»Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen die
Konterrevolutionäre und Sabotage« (abgekürzt WeTscheKa
oder Tscheka): Mit ihrer Gründung im Dezember 1917 - nur wenige Wochen
nach dem Putsch - stellte er unter Beweis, wie gründlich er die Lektion
des französischen Terrors gelernt hatte. Er wußte, daß
die Vollbeschäftigung der Guillotine seinerzeit nicht genügt
hatte, um die Diktatur der Tugend zu festigen: Nie w+ürde eine Revolution
in Sicherheit sein, solange sie Individuen am Leben ließ, die zu
einer Aktion wie der des Thermidor fähig bleiben. Die Gefahr für
die junge Revolution ging nach seiner Analyse nicht so sehr vom Einsatz
terroristischer Mittel und dem Widerwillen der »Bourgeoisie«
(Anführunsgstriche von mir, denn, wie gesagt,
eine Bürgertum gab und gibt es in Rußland nicht; HB)
gegen sie aus, sondern von ihrer halbherzigen Anwendung. Seine historische
Aufgabe würde den Terror erst in dem Augenblick erfüllen, wenn
es niemand mehr wagte, sich gegen ihn aufzulehnen. Die historische Mission
der Tscheka bestand darin, den Mut zur Verneinung der bolschewistischen
Herrschaft im Lauf der Zeit zu einer unrussischen Eigenschaft zu machen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
152-153 |
In diesem Land würde es niemals einen Thermidor geben: Lenisn
Entschlüsse von 1917 und 1918 ergeben erst Sinn im Licht dieses psychopolitischen
Axioms. Die »Dekrete über den Roten Terror« vom September
1918 schrieben nicht nur der Geheimpolizei scharfe Direktiven vor, sie
schufen darüber hinaus die doktrinalen Anfänge des Systems der
»Besserungslager« (GULag), in denen das Konzept der Lebensvernichtung
durch Arbeit unter dem Vorwand der politischen Erziehung in die Praxis
umgesetzt wurde. Noch ahnte niemand, was die Erschaffung einer solchen
Gegenwelt bewirken würde: In den lagern entwickelte sich ein zweiter
Arbeitsbegriff, der den ersten bloßstellte. Die Strafarbeitswelt
bildete die Parodie auf den Archipel der Normalarbeit und verlieh dem
Begriff »Arbeiterklasse« einen sklavischen Klang, während
diese in offiziellen Reden zum Träger aller Tugenden erhoben wurde.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
153 |
Lenins Verlautbarungen des hektischen Jahres 1918 verraten, wie
schnell sich für ihn der Stil des zweiten Krieges verdeutlichte.
Aus der Sicht des Schreibtisch-Liguidators sollten sich Exekutionen in
Desinfektionsmaßnahmen verwandeln: Die Exterminierung von Gegnern
glich glich für ihn der Beseitigung von schädlichen Insekten.
Lenins Artikel vom 7. und 10. Januar 1918 über die »Säuberung
der russischen Erde von allem Ungeziefer« erwiesen sich auch terminologisch
als riichtungweisend.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
160 |
Niemand hat die Informalisierung des Scharfrichter-Wesens in der
russischen »Oktober-Revolution« (Anführunsgstriche
von mir; HB) und seine in der Stalin-Ära erreichte Inflation
präziser erfaßt als Alexander Solschenyzin: »Die Tscheka
... war ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Straforgan, das in
einer einzigen Instanz die Kompetenzen der bespitzelung, der Verhaftung,
der Voruntersuchung, der Anwaltschaft, des Gerichts und der Urteilsvollstreckung
vereinigte.« (Ders., Der Archipel Gulag, Band 1, a.a.O.,
S. 39).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
160-161 |
Stalins Diktum »Menschen weg, Problem weg« formuliert
den russischen Weg zur Sachlichkeit.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
165 |
Generalstaatsanwalt Januarjewitsch Wyschinsky - ein kunstgerecht
nach oben Gestürzter - ... schloß ... seine Ausführungen
am 11. März 1938 mit den Worten, daß alle anderen (er hatte
für zwei der Angeklagten nur langjährige Lagerstrafen gefordert)
»wie räudige Hunde erschossen werden müssen! Unser Volk
verlangt das eine: Zertretet das verfluchte Nattrengezücht"!
Die Zeit wird vergehen, Unkraut und Disteln werden die Gräber der
abscheulichen Verräter überwuchern .... Wir, unser Volk, werden
weiterhin mit unserem geliebten Führer und Lehrer, dem großen
Stalin, den vom letzten Abschaum und Unrat der Vergangenheit gesäuberten
Weg beschreiten, vorwärts und immer weiter vorwaärts, dem Kommunismus
entgegen!«
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
167, 168-169 |
»Ich gestehe alle meine Verbrechen. Was für eine Rolle
würde es für die Bedeutung dieses Falls spielen, wenn ich hier
vor Ihnen versuchen wollte, die Tatsache zu beweisen, daß ich von
vielen der Verbrechen ... erst hier im Gerichtssaal etwas erfahren habe?«
(Christian Rakowski, zitiert nach: Robert Conquest, Der Große
Terror, a.a.O., S, 445).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
169 |
Die nach-stalinistische Sowjetunion hätte ihre revolutionäre
Dynamik allein in einem noch weiter forcierten Sturz nach vorn absichern
können. Ein Subjekt für diese Wahnbewegung jedoch ließ
sich nicht finden (weil sie gar nicht mehr steigerbar
war; HB), ein drittes Stockwerk der Terror-Überbietung war
nicht mehr zu errichten - es hätte den nuklearen oder chemischen
Krieg gegen das noch immer unzufriedene Sowjetvolk erfordert. Als einziger
kam Mao Tse-tung diesem Ansatz indirekt nahe, als er gegenüber Chruschtchov
gelegentlich die Idee äußerte, er würde gern die Hälfte
des chinesischen Volks, das damals 600 Millionen Menschen zählte,
für einen siegreichen Atomkrieg gegen die USA opfern, wenn damit
die Hegenomie des Kommunismus zu sichern wäre.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
178 |
Da nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an weitere Steigerungen
der Gewalt nach innen nicht ernsthaft zu denken war, so intensiv auch
in den Lagern die Routinen der Lebensvernichtung durch Arbeit weitergingen,
zwang sich statt dessen die von Chruschtchov eingeleitete Wende in die
Entstalinisierung auf. .... Sie brachte einen verzögerten Thermidor
hervor ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
178-179 |
Der Kalte Krieg ließ sich ... als Ersatz für
die ausbleibende Iteration des Stalinismus verwenden, doch taugte er nicht
zur Fortsetzung des Mythos vom großen Oktober. Immerhin konnten
sich Lenin und Stalin gemeinsam der Leistung rühmen, einen Thermidor
zu ihren Lebzeiten unmöglich gemacht zu haben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
179 |
Mit der Zäsur der Moderne werden im Bereich der bildenden
Künste die erreichten Standards außer Kraft gesetzt und als
»akademische« Hemnisse kreativer Fähigkeiten verspottet.
An die Stelle des selbstverstärkenden Könnens-Kreises tritt
ein Regime selbstverstärkender Regelverletzungen, ja eine Meta-Regel
der selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten, bis hin zu mutwilligen
Unterbietung aller Erwartungen an das artistische Wesen der Kunst. Seither
operiert das Pop-Segment des modernen Kunstbetriebs offensiv auf der Abfall-Stufe,
als sollte die Doktrin aingeübt werden, nur das, was weniger als
Kunst ist, könne noch wirkliche Kunst, ja mehr als Kunst sein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
198 |
Die Allianz der beiden Selbstverstärkungssysteme
aus kreditbasiert-zinsgetriebener Wirtschaft und innovations-getriebenem
Maschinenbau resultierte in dem bis heute mächtigsten Komplex halbblind
vorwärtsstrebender Tendenzen, die man noch immer unter dem ungeschickten
Terminius »Kapitalismus« zusammenfaßt, obschon es, wäre
es um einen wahren Namen gegangen, von Anfang an Techno-Kreditismus hätte
heißen müssen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
199 |
Durch die Aufhebung der Golddeckung im Jahr 1971 war ... demonstriert
worden, wie wenig die USA gesinnt waren, ihren Drang zur Überdehnung
ihrer Ausgaben zu zügeln - ihr Leitwährungsprivileg bot ihnen
auch ohne Goldmagie weiterhin die Chance zu Kontoüberziehungen ohne
Limit.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
209 |
Daher kann der 15. August 1971 als das zweite Schicksalsdatum
der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte gelten. Damals gab
der US-Präsident Richard Nixon (1913-1994) die Abkehr der Vereinigten
Staaten vom Prinzip der Golddeckung des Dollars bekannt. An eben dem Tag,
an dem die katholische Kirche die Aufnahme der Mutter Gottes in den Himmel
feiert, begann vor den Augen der ganzen Welt die Höllenfahrt des »postmodernisierten«
(Anführunsgstriche von mir; HB) Geldes,
das sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte nicht nur von der Bindung an
Edelmetalle losmachte. Es ließ auch mehr und mehr die Grundlage
in der Besicherung durch verpfändbares Eigentum hinter sich (Gunnar
Heinsohn & Otto Steiger, Eigentum, Zins und Geld, 1996), um
sich einem phantomhaften System von Erwartungs-Erwartungen und Brutto-Inlands-Prognosen
anzuvertrauen - was man den makroökonomischen Stil des kontrollierten
Sturzflugs nennen könnte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
209-210 |
Die Kluft zwischen dem Goldpreis von einst und dem von jetzt verrät
nicht nur die Machtergreifung des Inflationismus, der von der Mainstream-Ökonomie
gern bagatellisiert wird, sofern man seine Existenz nicht rundweg leugnet;
auch bringt sie nicht bloß das steige Mißverhältnis zwischen
knappen Beständen und hoher Nachfrage zum Ausdruck. Die wahre Bedeutung
der Erhöhung des Goldpreises um das fast 50fache des garantierten
Anfangswerts binnen weniger jahrzehnte liegt darin, daß sie einen
abgründigen Wandel der Glaubensverhältnisse hinsichtlich ökonomischer
Wertbestände bezeugt. Der Wertglaube selbst ist seit geraumer Zeit
in die inflationäre Drift einbezogen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
210 |
Einen angemesserenen Begriff für die aktuellen Zustände
hat jüngst der Publizist Gabor Steingart in die Debatte geworfen,
als er zur Charakterisierung der überspannten Ungleichgewichtswirtschaft
den Terminus »Bastardökonomie« vorschlug: Er bezeichnet
die zutiefst illegitime, von den Akeuren regelmäßig geleugnete,
sachlich jedoch evidente Komplizenschaft zwischen Regierungen, Notenbank-ouverneuren
und Hochfinanz-Agenturen, die - wahrscheinlich ohne einem Masterplan zu
folgen - kein anderes Ziel verfolgt, als den erreichten Grad an Unhaltbarkeit
durch den Übergang zu einem noch höheren Grad derselebn Verlegenheit
zu »stabilisieren«. Der »Bastard« ist in diesem
Fall der circulus vitiosus, der aus der pervers-intimen Beziehung
eines enthemmten Staatsausgabensystems mit einem aus den Fugen geratenen
Bankensystem entsprang. (Gabor Steingart, Unser Wohlstand und seine
Feinde, 2013, S. 135 ff., besonders S, 203.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
214 |
Immer häufiger erreichen Staaten, Unternehmen
und Privathaushalte den Punkt, von dem an der Kredit auch dem Tüchtigen
die Zukunft nicht mehr erschließt, sondern versperrt: Wachsende
Schuldendienste zehren immer größere Teile aktueller Einkünfte
auf - bis die Linie überschritten ist, jenseits welcher ältere
Schulden nur noch durch eine Kaskade neuer Schulden in ein auf Dauer paralysiertes
Morgen verschoben werden. Diese Situation verdient es, »posthistorisch«
genannt zu werden: Von ihr wird Arnold Gehlens klassische Definition der
Posthistoire als Zustand hoher »Beweglichkeit über stationären
Grundlagen« vollendet erfüllt - indes man das Wort »stationär«
gern durch das Wort »unhaltbar« ersetzen möchte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
218 |
Frühe »Kulturen« - aufgefaßt
als Ensembles von Obsessionen, die mehraltrige menschliche Kollektive
im Griff halten, gleich ob es sich um Sippen, Stämme oder Ethnien
handelt - erleben die unverhandelbare Notwendigkeit ihres Daseins in der
von ihnen selbst generierten und ihren Teilnehmern ungefragt aufgedrungenen
Überzeugung, daß die Lebensweise, die den Mitgliedern des Kollektivs
eingeprägt wurde, es unter allen Umständen verdient, im Dasein
der Nachkommen wiederholt zu werden. Wer einer Kultur in diesem Sinn »angehört«,
muß sich früher oder später dazu bereit erklären,
eine durch Elternschaft zu bestätigende Besessenheit weiterzureichen.
Was man von den Alten selber empfangen und erlitten hat, soll um jeden
Preis in den Jungen fortleben. - Kein Mensch der alten Welt hat dieses
Axiom bezweifelt. Für die Angehörigen der älteren Fortpflanzungsketten
sind Wiederholbarkeit und Wahrheit ihres modus vivendi ein und
dasselbe. Eigene Kinder haben, das heißt zunächst nicht mehr
und nicht weniger als dafür sorgen, daß hinreichend ähnliche
Kopien der Älteren in den Jungen entstehen. Ähnlich genug scheinen
die Nachkommen geraten zu sein, wenn die unvermeidlichen mutativen Variationen,
genetisch wie kulturell, durch die konstanten Muster in Schach gehalten
werden. (Vor dem Zeitalter der Schrift wird dieser Effekt durch die Unduldsamkeit
des »Habitus« bzw. der neuronal gefestigten Verhaltensmuster
garantiert. Schrift erlaubt die Auslagerungen von Intoleranz ins äußere
Medium bzw. in die »Institutionen«. Sie setzt die Flexibilisierung
frei, die man eines Tages als Navigation in den »Spielräumen
des Verstehens«, das heißt als Hermeneutik bzw. als Ausübung
des Rechts auf Subjektivität, beschreibt.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
222 |
An Mut zur Erziehung hat es den Alten nie gefehlt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223 |
In den kulturspezifischen Imperativen fand (und
findet; HB) alles wesentliche Sollen im Modus der Vorentschiedenheit
Platz.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223 |
Der größte Teil des relevanten Wissens ältester
Tage war in obligatorischen Erzählungen niedergelegt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223 |
Von Urzeiten her galten die fortpflanzungsbereiten Besessenen
als Inbegriff der normalen Menschen. Normalität ist Besessenheit
ohne Trance. Was war homo sapiens in früheren Tagen anderes
als ein von Silben, Jagdtechniken und Heiratsregeln bewohntes Tier?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223 |
Die Normalen der ältesten Zeiten hatten nie eine Wahl, indessen
sie in der Nuzeit durchwegs Menschen sind, die anders könnten, indes
sie vorgeben, der Notwendigkeit zu gehorchen. Während die Modernen
sich darauf berufen, durch Arbeiten, Bedürfnisse und Projekte besessen
- das heißt »beschäftigt« - zu sein, äußert
sich die jede zweite Möglichkeit ausschließende Besessdenheit
der frühen Menschen in ihrer Sorge um die modellnahe Reproduktion
ihrer ererbten Lebensweise. Für sie sind Fortpflanzung und Wirklichkeit
dasselbe. Obsession und Beschäftigung sind für sie noch nicht
zu unterscheiden. Wer damals nicht Vehikel seiner Kultur sein konnte,
hatte keine »Wirklichkeit« zu vermitteln. Kulturvehikel wurde,
wer seine Kinder aus der Ahnenwelt in die Nachkommenwelt beförderte
- und so dafür sorgte, daß die Kette der Nachahmungen nicht
reißt, weder genetisch noch didaktisch.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223-224 |
Die frühe Kultur überwältigt die Ihren durch Alternativlosigkeit,
und nur als überwältigende hält sie sich am Leben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
224 |
Die »Wirklichkeit« der Modernen wird dagegen überwiegend
aus der Nachahmung von modellgebenden Zeitgenossen bestimmt. Mit der Heraufkunft
des Aktualismus geht im Zivilisationsprozeß die nicht-genealogische
Nachahmung in Führung. Gabriel Tarde (1843-1904) war der erste Soziologe,
der im unabwendbaren Sieg der Mode über die Sitte das starke Merkmal
der zeitgenössischen Zivilisationsdynamik erkannte. Seit dem Erscheinen
seines Werks Über die Nachahmung, 1890, stünden der modernen
»Gesellschaft«, wäre sie die lernende Kommune, die zu
sein sie vorgibt, die Konzepte zur Verfügung, um die Ablösung
der Nachahmung von den generativen Übermittlungen und ihre Umstellung
auf außergenealogische, mehr oder weniger gleichzeitige Ausgangspunkte
zu begreifen. Daß sie davon bis heute nichts hören wollte,
zählt zu dem Merkwürdigkeiten moderner Wissenskultur.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
225 |
Durch die überwiegende Nachahmung des Neuen gerät das,
was man das »kulturelle Erbe« - die mehraltrig bewährte
Nachahmung - nannte (und nennt; HB),
in jähen Verfall und macht der einaltrigen Nachahmung, der Orientierung
an aktuellen und unerwiesenen Mustern, Platz.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
226 |
Hauptfaktoren des Mimesis-Wechsels ...: zum einen die Preisgabe
eigener Überlieferungen aufgrund des Anschlusses an eine überlegene
Zivilisation (Ökumenismus), zum anderen die erzwungene Teilnahme
an einer Hybridisierung von oben (Imperialismus), an dritter Stelle die
Sezession einer Teilkultur von der Leitkultur unter dem Vorwand der Rückkehr
zu den wahren Quellen (Reformation und Renaissance).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
227 |
Alle drei Formen des Nachahmungswechsels erweisen sich in zivilisationsgeschichtlicher
Sicht als Nährböden der Abweichung und der Mehrdeutigkeit. Aus
ihm erwuchsen unter den Nachkommen entwickelter Völker jene unvorhersehbaren,
in Hegels Terminologie »welthistorischen« »Individuen«,
die weder willens noch fähig waren (und sind;
HB), der prekär gewordenen Wiederholung aus subalterner
Psoition zu dienen. Nota bene: »Individuum« im spezifischen,
nicht bloß genetischen Sinn ist, wer im eigenen Dasein einen Kulturwandel
austrägt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
227 |
Jene unruhigen Einzelnen, die aufgrund imposanter »personaler«
Inspirationen anderes im Sinn hatten (und haben;
HB) als die unveränderte Weitergabe des Bisherigen -
merke ebenso: Inspiration ist Resultat des Zusammenstoßes widersprüchlicher
Codes in einer Psyche -, jene Beunruhiger also, die es wagten (und
wagen; HB), an moralische Verwandlung, an kollektive
Metanoia, an politische »Verwirklichung« philosophisch-kosmologischer
Konzepte zu denken: Sie rückten (und rücken;
HB), seit früh-hochkulturellen Tagen ein in die Kohorten
der »schrecklichen Kinder« - all dieser aus der Art Geschlagenen,
der Verräter am Herkommen und Totengräber des Habitus, von denen
moderne Zeiten behaupten werden, sie hätten die Menschheit »vorangebracht«
(Anführunsgstriche von mir; HB). Sie
waren es, die ihre Herkunftskulturen mit unwillkommener Variation in Unruhe
versetzten (und versetzen; HB):
in der Antike selten, im Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance
bereits in höherer Frequenz, in der Moderne chronisch und mit unbeirrbarer
Angriffslust, um nicht von Angriffspflicht zu reden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
227-228 |
Hatte nicht einer Wortführer der Jugendbewegung um 1900 in
Deutschland allen Ernstes davon gesprochen, daß die Menschheit von
jeher ständig sich selbst einen feind gebiert: »ihre junge
Generation, ihre Kinder« (Gustav Wyneken, Schule und Jugendkultur,
a.a.O., S. 13)?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
228 |
Hat man zugegeben, daß das Eigentümliche von Kultur
in Replikationskompetenz besteht, wird der hartnäckige Konservatismus
der frühen Völker umittelbar verständlich. Whitehead: »Es
ist der Anfang der Weisheit, wenn man begreift, daß die Routine
das Fundament des sozialen Lebens ist« (ders., Abenteuer der
Ideen, a.a.O., S. 207). Ohne den Willen zur selbstähnlichen Wiederholung
in nachkommenden Generation und ohne die wache Sorge um die Eliminierung
maligner Variation hätten die älteren Träger kultureller
Lebensmuster ... ihre langen Reisen im Zeitenstrom nicht bewältigen
können. Paläontologen wollen anhand von Knochenfunden herausgefunden
haben, daß steinzeitliche Hirschjäger in Nordwesteuropa ihre
Ritual bei der Opferung der Beute über zehntausend Jahre hin konstant
wiederholten, was einer Reproduktionserfolgsreihe von vierhundert Generationen
entspricht.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
233 |
Andererseits gilt: Seit dem Auftreten der ersten großen
Originellen in der Antike ist dem Zivilisationsprozeß das fortschreitende
Riskantwerden der Kopiervorgänge inhärent. Man könnte auch
sagen: der neue Modus der Überlieferung - die Verdoppelung der Kultur
durch die alphabetisierende Schule und die Infiltrierung erster Formen
von »Wissenschaft« - fördert die zunehmende Widerständigkeit
neuer Generationen gegen ihre Prägung durch die Autorität der
Vorfahren, bis schließlich in der Moderne mit den Super-Institutionen
... prinzipiell innovationsorientiertze Kräfte auftreten. Sie bieten
der Parteinahme für die herrschende Sitte selbstbewußt Paroli
....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
235 |
Ob er will oder nicht, der von der Sittenmacht überwältigte
Mensch küßt immer den Stiefel der Überlieferung. ....
Er findet seine Genugtuung darin, aus sich selbst nichts anderes zu machen
als das, was das Herkommen aus ihm gemacht hat. Die Ehre des Einzelnen
besteht in den älteren Kulturen darin, ein Sproß seiner Eltern
oder ein Exemplar seines Stammes zu sein. Du brauchst nur den Namen deines
Vaters oder deines Volks oder deiner Polis zu nennen, und jeder weiß,
mit wem er es zu tun hat. .... Das Verfehlen der ethnischen Norm wäre
die Schande, die das mißglückte Exemplar seines Stammes unter
den Erdboden versinken ließe.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
238-239 |
Die Bejahung der lokalen Präge-Gewalt ist das Wesen der ursprünglichen
Ethik, sofern sie überall den impliziten Grundsatz: »Du sollst
der Nachkomme deiner Vorfahren sein« ins Fleisch der nächsten
Generation einbrennt - je impliziter, desto automatischer und wirksamer.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
239 |
Der Kopierfehler zwischen den Generationen, gewollt und ungewollt,
kommt dem Effekt gleich, den man nach Augustinus als die Erbsünde
bezeichnet. Kopierfehler wiederholen und verstärken sich in der Folge
- zunächst nur in der westlichen Welt, die vom 14. und 15. Jahrhundert
als erste Zivilisation systematisch auf Neuerung ausgeht - so oft und so
lange, bis das Kollektiv in seiner Mehrheit nur noch ein Aggregat aus
Deserteuren aus dem älteren Herkommen darstellt -, womit die Definition
einer modernen »Gesellschaft« geboten wäre. Modern ist
diese in dem Maß, wie sie ihre Vorbilderr und Verhaltensmuster im
Einaltrigen und Gleichzeitigen findet.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
240-241 |
In Wahrheit ist die die Neigung der Vatermacht-Ordnung zur maskulinen
Seite hin nur eine bewährte List der kulturellen Evolution - so wie
die Bevorzugung der weiblichen Seite bei der Betreuung der Nachkommenschaft
unter den Lebendgebärenen eine andere List der biologisch-präkulturellen
Evolution darstellt, um Fortpflanzungserfolge langfristig zu optimieren.
Der weisungsbefugte Vater verkörpert vielmehr die Humanisierung der
Wiederholung unter den Bedingungen der förmlichen Transmission. Für
die Weitergabe einer Kultur ist es von einer bestimmten Stufe der Evolution
an nicht mehr damit getan, wenn die Typen eines lokalen symbolischen Systems
im Copy-Shop der Sozialisation auf die Nervensysteme der nachfolgenden
Generationen überspielt werden, mitsamt den Härte-Dressuren,
die in alter Zeit zur psychischen Grundausrüstung der Nachkommenschaft
gehörten. Der Kopiervorgang muß über die mechanisch-imitative
Dimension hinaus personalisiert werden: Er übersetzt sich in ein
Geschehen, das uaf dre Vaterseite die Geste der Übergabe, auf der
Sohnesseite die Geste der Übernahme ins Spiel bringt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
245 |
Die humanisierte Wiederholung zwischen Vätern und Söhnen
gerät zu einem Psychodrama, das nie ohne Risiko des Mißlingens
auszuführen ist. Nur die erbrechtlich und psychodynamisch
komplette Figur der Weitergabe, die sich bei den juristisch begabten Römern
aus traditio - wörtlich: der Aushändigung eines Guts
- und successio - dem Nachrücken des Rechtssubjekts in die
Würden, Rechte und Pflichten des Erbes - erfüllt den Tatbestand
der personalisierten Wiederholung, den man im starken Sinn des Wortes
Überlieferung nennt. Ihr richtiger Name lautet Transmission - wörtlich:
die Weitersendung.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
246 |
Durch Transmissionsrituale gelngt es älteren Hochkulturen,
das Intervall zwischen den Generationen zu formalisieren und am schädlichen
Aufklaffen zu hindern.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
246 |
In diesem Vorgang erweisen sich Psotionoerung und Personen-Schöpfung
als dasselbe. Es genügt für den Vater nicht, einen leiblichen
Sohn gezeugt zu haben - er muß ihn auch als solchen »annehmen«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
246 |
Die erfolgreichsten Traditionskulturen snd jene, die sich daruif
verstanden, das Sensibelste mit dem Stabilsten in eins zu setzen: Si bauen
darauf, die Seelenarbeit der Söhne werde die Stärken des Vaters
integrieren und ihre Schwächen ausgleichen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
251 |
Die Botschatt des Mythos ist rational zu entziffern: Läßt
man den Abgrund zur Fortpflanzung zu, so legt er unvermeidlich sein stärkstes
Wesensmerkmal, das Prinzip Diskontinuität, in seine Brut. Die setzt
sich nicht umsonst aus lauter vom Herkommen losgerissenen Mißgestalten
zusammen, von denen die Mehrzahl zugleich die ersten, die einzigen und
eo ipso die letzten ihrer »Art« sind. Der wahre Name
des väterlichen Tartaros ist Bodenlosigkeit: Nach Hesiod würde
ein eherner Amboß neun Tage und Nächte im freien Fall stürzen,
bevor er auf dem Grund aufschlüge.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
261 |
Wenn der Abgrund Vater wird, trItt sem »Erbgut« in
einer Nachkommenschaft aus Lebewesen zutage, die keinen Halt in gattungs-
und artgemäßen Formen finden. Allen diesen Monstren, Abgrundwesen
und grellen Schimären ist ihre mahnende Funktion im Imaginären
der griechischen Kultur gemeinsam. Da die Selbstauffassung der Griechen
durchwegs auf der Entgegensetzung von Zivilisation und Wildnis oder besser:
von Stadt und undomestizierter Natur beruht, verkörpern die monströsen
Lebewesen der Urzeit nicht anders als die Mischgeschöpfe am Rand
der Welt, von denen Herodot soviel Seltsames zu berichten weiß -
die zivilisatorisch unverzichtbare Aufgabe, die Menschen der kultivierten
Zone unablässig an ihr Engagement zugunsten des human-politischen
modus vivendi zu erinnern. (Dem vorsokratischen Philosophen Empedokles
(ca. 495 - ca. 435) sind Ansätze einer Evolutionstheorie zu verdanken,
in der hesiodische Motive rationalisiert werden. Ihm zufolge brachte die
Erde anfangs zusammenhanglose Glieder hervor: »Ihr entsprossen viele
Köpfe ohne Hälse, Arme irrten für sich allein umher, ohne
Schultern, und Augen schweiften allein herum, der Stirnen entbehrend.«
[Die Vorsokratiker, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm
Capelle, 1968, S. 216]. Empedokles führt die hesiodischen Komposit-Monstren
auf disiecta membra zurück, die alle möglichen Zusammensetzungen
erproben, ehe sie sich zur stimmigen Gestalt fügen. Man könntein
seinen isolierten Gliedern eine organische Vorübung zum Elementarismus
sehen. Die wohldefinierte Spezies ist auch bel diesem Denker spätes
Resultat, nicht Ausgangspunkt der Entwicklung. Noch in Johann Gottlieb
Herders Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
[1784-1791], Band I, S. 273 f., wirkt das vorsokratische Motiv einer experimentierenden
Natur weiter, in welcher die »Buchstaben« der organischen
Gestalten sich schließlich zu einem »natürlichen Consensus
der Formen« bzw. zu wohldefinierten Spezies und Gattungen zusammensetzen,
indes Mißgestalten oder »Bastardarten« wie der Centaur,
der Satyr, die Scylla, die Meduse nicht reproduktionsfähig sind.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
261-262 |
Ja, die Zivilisation selbst ist nach der Auffassung ihrer antik-hellenischen
Mitglieder nichts anderes als ein Bollwerk gegen die Auflösung der
Grenzen zwischen den Arten und Ordnungen. Auch die ständige Warnung
vor der Hybris jener kategorische Imperativ des griechischen ethos
verfolgt kein anderes Ziel, als die Sterblichen zur Respektierung der
Grenzen nach oben, nach unten und nach außen zu ermahnen: Sie sollen
sich weder mit den Göttern verwechseln noch mit den Tieren und den
Barbaren vermischen. Das Leben der Polis setzt die ständige Zurückweisung
des Abgrunds voraus, der sich virtuell jedesmal auftut - bessser: der
immer dann seine Chance wittert -, sobald Individuen einer wohldefinierten
Spezies, namentlich ein Paar von Angehörigen des menschengestaltigen
zoon politikon, den Versuchunternehmen, ihre Art und ihre Lebensweise
in eigenen Nachkommen formkonstant zu wiederholen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
262 |
Mit diesem Hinweis vor Augen läßt sich die Frage untersuchen,
ob nicht auch in den geglückt scheinenden Generationsprozessen traditionsgerecht
hervorgebrachter Menschenein monströses Moment zum Vorschein kommen
kann, sobald die sozialen Verhältnisse es zulassen, daß der
unter allen Umständen zu verdeckende Hiatus sich im Übergangvon
Vätern zu ihren Söhnen erneut in aggressiveren Formen manifestiert.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
262-263 |
Mögen die Väter in der Polis scheinbar wohlgeratene
Nachkommen in die Welt setzen - gegen das Risiko der psychischen und moralischen
Monstrosität bei ihren Kindern bleiben sie nur unzulänglich
geschützt. Gerade in der riskanten Lebensform der großen Macht-Stadt,
in der sich Völker, Mythen, Finten und Ambitionen mischen, macht
sich das zivilisationsdynamische Grundgesetz bemerkbar, wonach durch den
aktuellen modus vivendi unvermeidlich mehr unvorhersehbare Energien,
mehr unbekannte Unruhen und mehr neuartige Störungen der bestehenden
Ordnung freigesetzt werden, als diese mit ihren bordeigenen Mitteln unter
Kontrolle bringen kann.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
263 |
Zur Bewältigung dieser Herausforderung hatten die Griechen
die in ihrer Zeit neuartige Disziplin der paideia geschaffen, die
als die Matrix der okzidentalen Pädagogik gilt. Das Wort paidagogós
weckte im athenischen Altertum durchaus keine noblen Vorstellungen: Es
bezeichnete den Sklaven, der dafür zu sorgen hatte, daß sich
die Jungen auf dem Weg zur Schule anständig benahmen. Sie sollten
mit gesenktem Blick zum Unterricht streben, ohne den lüsternen Augen
der erfahrenen Päderasten mit Gegenblicken zu antworten. Die paidagogoi
waren in erster Linie Aufseher und Dompteure, damit beauftragt, die Knabenwildheit
zu dämpfen wobei häufige Schläge als das allgemein empfohlene
Mittel zur Erzeugung tugendhafter Verhaltenheit geschätzt waren.
Die wirklichen Lehrer der Jugend, die didáskoloi, traten
hingegen als »Sophisten«, sprich als Weisheitsvermittler oder
»Klugmänner«, auf, bevor sie von ihren Konkurrenten,
die sich in plakativer Bescheidenheit »Philosophen«, Liebhaber
der Weisheit, nannten, in die Schranken gewiesen wurden. Der Wettbewerb
zwischen den beiden Typen von Lehrern um ihre junge Klientel und deren
schwankende Eltern wurde auf kürzeie Sicht von den Sophisten zu ihren
Gunsten entschieden, da sie ihre Kunst der Knabenlenkung plausibler und
ohne Rücksicht auf die Herkunft der Kinder, wenn auch teurer, anzupreisen
wußten, während in ideengeschichtlicher Perspektive die Philosophen
aus ihm als Sieger hervorgingen. Erst in jüngerer Zeit erlebt die
Sophistik ein diskretes Comeback, bei dem sie als Quelle von Design, Rhetorik,
Reklame und Demokratie rehabilitiert wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
263-264 |
Erziehung beruhte in den griechischen poleis der klassischen
Zeit auf dem Konzept der gespaltenen Vaterschaft, wonach der leibliche
Vater den Knaben in einem geeigneten Alter der Lenkung durch einen »Lehrer«
zu übergeben hatte. (Vgl. Dieter Lenzen, Vaterschaft, a.a.O.,
S. 76f.. Die antike Übergabe des Zöglings an den Lehrer präfiguriert
von ferne die in der Neuzeit sich aufzwingende Arbeitsteilung zwischen
Elternhaus und Staat, wobei der letztere die Tendenz erkennen läßt,
immer mehr vormals familiäre Aufgaben an seine Funktionäre,
namentlich Erzieher, Lehrer, Therapeuten und Sozialarbeiter, zu übertragen.)
Dieser sollte von da an die Funktionen geistiger Vaterschaft ausüben
und die Jungen bis zum Epheben-Alter von 18 Jahren in die Künste
des polis-gemäßen Erwachsenenlebens initiieren - dem schloß
sich eine teils militärische, teils musische Weiterbildung an.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
264 |
Paideia bedeutete an erster Stelle die höhere Kultivierung
der Redefähigkeit, ohne welche die Existenz des zoon politikón
nicht zu denken war. Auf dem Umweg über das hellenisierte Rom, das
vorchristliche wie das christianisierte, wurde das griechische System
der Doppelvaterschaft für die alteuropäische Erziehungskultur
folgenreich: Die in der athenischen Antike erprobte Arbeitsteilung zwischen
Vätern und Lehrern behielt ihre Kraft bis zum Beginn der nahezu ungebrochen,
von den seltenen Fällen abgesehen, in denen Vaterschaft und Lehramt
konvergierten wie in den rabbinischen Familien und den protestantischen
Pfarrhäusern. Funktionslos wurde das klassische Arrangement erst
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Feminisierung
der Lehrberufe die männlichen Lehrer marginalisierte und ihren Zweitväterstatus
zerstörte - um von der allgemeinen Degradierung der Vaterposition
in den modernen »Gesellschaften« noch nicht zu reden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
264-265 |
Daß sich die Bevölkerung der griechischen Städte
schon um die Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts über
die ethischen Risiken und politischen Nebenwirkungen desneuen sophistischen
paideia-Betriebs Gedanken machte, läßt sich unter anderem
an den Produktionen des athenischen Theaters ablesen: In seiner Komödie
Die Wolken, im Jahr 423 erstmals aufgeführt- ohne Erfolg im
Dramatiker-Wettbewerb -, bringt Aristophanes den Betrieb einer Sophisten-Anstalt
auf die Bühne, wobei er sich auf Kosten des Erz-Sophisten Sokrates
über die amoralischen Tendenzen der Rhetorik- und Dialektik-Schulen
in der aggressivsten Weise lustig macht. Für den unerbittlichen Komödiendichter
steht fest, daß die neuerdings so erfolgreiche Zunft der Lehrer
nichts anderes ist als eine Organisation von Profiteuren der Krise, die
aus dem raschen Zerfall der städtischen Sitten Vorteil ziehen: Sie
unterweisen ihre Schüler inder bedenklichen, um nicht zu sagen korrupten,
gleichwohlzeitgemäßen Kunst, als Anwälte einer schlechten
Sache vor Gericht und in der Volksversammlung zu siegen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
265 |
Aristophanes gelingt in seinem Stück eine Entdeckung, die
man im Licht heutiger Erfahrungen als prophetisch bezeichnen kann: Er
legt den inneren Zusammenhang zwischen dem urbanen Kreditsystem und den
ideologischen Künsten seiner Zeit offen, die in der Verdrehung überlieferter
Kulturmuster gründen - in der Tradition Brechts wäre hier von
einer »Umfunktionierung« zu sprechen. Bei dem athenischen
Komödiendichter fragen an erster Stelle die zahlungsunwilligen Schuldner
nach den Diensten der Sophisten, um sich ihrer Pflichten gegen die Gläubiger
zu entledigen. Wenn sie jedoch - wie der attische Bauer Strepsiades, die
Hauptfigur der genannten Komödie - außerstande sind, die Kunst
der Wort- und Sinnverdrehung im Rechtsstreit noch selber zu erlernen,
so schicken sie eben ihre Söhne, im gegebenen Fallden jungen Pheidippides,
in die Sophisten-Schule, damit sie sich dort zu unbesiegbaren Advokaten
ausbilden lassen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
265-266 |
Es sind demnach zwei Arten von Unredlichkeit, die inder Komödie
dem Spott der Öffentlichkeit preisgegeben werden - die des betrügerischen
Schuldners, der seine Gläubiger täuschen möchte, und die
des skrupellosen Rhetoriklehrers, der die legitimen Ansprüche der
Gläubiger durch Verfahrensfinten und Wortverdrehungen wirkungslos
machen soll. Der junge Mann erscheint somit - über seine eigenen
Tendenzen zur Verwahrlosung hinaus - als das Opfer und Medium von zwei
gleichzeitigen Korruptionen, die sich in ihm zu einer monströsen
Individualität vereinen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
266 |
Was Aristophanes in Die Wolken vorführt, ist nicht
nur eine »wertkonservative« Satire über das moralische
Abdriften der Polis, das augenfällig wurde, seit vor Gericht wie
in der Volksversammlung die offensichtlich schlechte Sache die erfolgreiche
wurde - eine Beobachtung, die als frühes Indiz für die zunehmende
Abspaltung des förmlichen Prozeßrechts von den alltäglichen
Gerechtigkeits-Intuitionen streitender Parteien gewertet werden kann.
Das Bühnengeschehen reflektiert darüber hinaus die Auflösung
des griechischen Patriarchats im Verlauf städtischer Aufklärung,
zuder die neuen Erziehungsangebote aus der »Denkerei« der
Sophisten das Ihre beitragen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
266 |
In ihren letzten Szenen legt die bittere Komödie den Hiatus
inmitten der bürgerlichen Gesellschaft ohne Umschweife offen: Der
Abgrund zwischen dem zeugenden und dem gezeugten Element klafft unter
zivilisierten Menschen wieder auf, als ob erneut die Monstren-Generierung
auf dem Planstünde, nicht eine humane Filiation in der kulturstolzestender
Städte Attikas.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
266-267 |
Um den Einbruch des diskontinuierlichen Faktors in das generative
Geschehen zu demonstrieren, stellt Aristophanes dem Publikum Athens zunächst
die basale pädagogischeTriade vor: den Vater Strepsiades, den Lehrer
Sokrates und den Sohn Pheidippides. Hierbei achtet er darauf, daß
es der Vater ist, der seinen Sohn dem Lehrer in aller Form zuführt,
damit dieser an ihm die im häuslichen Milieu begonnene Erziehungsarbeit
vollende. Freilich werden Vater und Lehrer von Anfang an als selbstsüchtige
Parteigänger der schlechten Sache präsentiert - weswegen dIe
Aushändigung des Sohns[ an den Lehrer kein anderes Resultat erbringt,
als daß dieser seinerseits in die Korruption initiiert wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
267 |
Aus diesen Ausgangsbedingungen folgt nicht bloß die gewöhnliche
Schlechtigkeit, wie sie vom unredlichen Schuldner verkörpert wird,
es entsteht eine Kunstform der Korruption, die nur als Ergebnis der sophistischen
Rhetorik erlangt werden kann: Die wortverdreherische Ungerechtigkeit wird
zur Grundlage eines ertragreichen Berufs. Bei diesem Erziehungsversuch
erweist sich der junge Pferdenarr Pheidippides als Naturtalent: Hatte
er bis dahin sein Leben als Tagedieb und Verschwender des väterlichen
Vermögenszugebracht, so entwickelt er sich in der Schule des Sokrates
über Nacht zu einem diplomierten Monstrum, entschlossen,die neuerworbene
Kunstfertigkeit am eigenen Vater zu erproben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
267 |
Pheidippides hatte die Quelle der Ungerechtigkeit durch den Anschauungsunterricht
seines Vaters erfaßt - sein Sprung an die Mündung jedoch setzt
eine Beihilfe zum höheren Betrug voraus, wie nur die neue »Bildung«
sie liefert: Wenn der alte Strepsiades seinem Sohn vorgemacht hatte,wie
das erste Unrecht aus der Gesinnung des zahlungsunwilligen Schuldners
entpringt, so wird Sokrates dem verblüfften Zögling erklären,
wie Unrecht sich vollenden läßt, indem man die Idee der Zurückzahlung
als solche mit den Mitteln sophistischer Umkehrung unterwandert. Durch
solche Nachhilfe gewitzt, wendet der junge Mann seine neuen Erkenntnisse
unmittelbar auf sein persönliches Verhältnis zum Vater an, indem
er sich zynisch als dessen loyalen Schuldner präsentiert: »Wohl
ist's ein Glück, vertraut zu sein mit dem System des Tages, // Und
hoch herabzusehen auf den Quark der alten Sitte: // Solang ich die Gedanken
nur auf Roß und Wagen lenkte, // Vermocht ich ohne Anstoß
nicht drei Worte vorzubringen. // Seit mich mein Vater selbst von all
den Possenabgezogen, // Und ich mir Dialektik und Rhetorik angeeignet,
// Da zeig ich klar: der Sohn hat recht, der seinen Vater prügelt!
// ... Ich ... frage dich vor allem: hast du mich als Kind geschlagen?«
// Strepsiades: »Nun ja, aus Lieb und Sorge nur für
dich!« // Pheidippides: Aha! Nun sage, // Ist's da nicht
billig, daß auch ich dir meine Liebe zeige, // Und prügle dich,
da offenbar dies Lieben heißt: das Prügeln?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
267-268 |
Gegen den Einwand des Vaters, es sei in aller Welt verboten, daß
Kinder die Hand gegen die Eltern erheben, plädiert Pheidippides in
bestem sophistischem Stil dafür, dieses veraltete Gesetz durch ein
Gesetz von heute abzulösen, wonach der Sohn dem Vater künftig
die Schläge heimzahlen solle, die er in seiner Kindheit von ihm erhalten
hat. Ganz unverkennbar parodiert der bedenkliche Sohn die in der Zurückzahlungspflicht
gegründete Idee des Kredits, indem er an falscher Stelle zurückzahlen
möchte. Auch läßt er das Argument des Vaters nicht gelten,
er, Pheidippides, besitze ja seinerseits das Züchtigungsrecht, falls
ihm einmal ein Sohn geboren werde: Sollte er nämlich kinderlos bleiben,
so habe er in seinen jungen Tagen »ganz umsonst geheult«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
268-269 |
Zu guter oder schlimmer Letzt läßt Pheidippides den
Vater wissen, es sei mit der Androhung von Schlägen für ihn
selbst nicht genug: Er habe vor, ebenso die Mutter zu verprügeln
wie den eigenen Erzeuger. Strepsiades: Wie, was? Was sagst du?
Noch einen ärgern Frevel! Pheidippides: Wie? Und wenn ich
nun als Anwalt der schlechten Sach erhärten kann, Pflicht sei's,
die Mutter durchzubleun? Strepsiades: Vermagst du das, dann bleibt
dir nichts mehr übrig, als vom Felsen dich zu stürzen ins Verbrecherloch,
mit Sokrates und deiner schlechten Sache! (Vgl. Aristophanes, Die Wolken,
in: Sämtliche Komödien, a.a.O.,; Neubearbeitung der Ubersetzung
von Ludwig Seeger [1845-1848], S. 166-168.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
269-270 |
Daß der Komödiendichter nicht eine bloße Satire
auf das Schulwesen seiner Zeit im Sinn hat, ist kaum zu bezweifeln. Er
bringt das Resultat einer mißlungenen Filiation zur Anschauung,
indem er den sophistisch aufgeklärten Sohn metaphorisch unter die
Monstren versetzt: Das Geschöpf, das sich, seinem Schicksal gehorchend,
vom Felsen in die Tiefe stürzen soll, ist ja kein anderes als die
Sphinx, die Tochter der Echidna und des Typhon, die einst als Stadtgöttin
Thebens ihre Tyrannei ausübte und vom Rätseldeuter Ödipus
überwunden worden war. Strepsiades begreift, daß sein Sohn
zu einer Kreatur des Abgrunds geworden ist, seit er ihn der Sophistenschule
ausgeliefert hatte. Die erwies sich nicht nur als ein Seminar der Respektlosigkeit,
vielmehr geradewegs als ein Treibhaus genealogischer Verwirrungen. In
ihm wird der Sinn für Transmission und Erbe durch eine unangebrachte
Konzeption von symmetrischen Transaktionen zwischen Vorgänger und
Nachfolger verdrängt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
270 |
Zugleich dürfte Aristophanes einer der wenigen Zeugen sein,
die den latent muttermörderischen Grundimpuls der Philosophie als
solcher in deren Entstehungszeit bemerkten und komödiantisch zu Protokoll
gaben: Der Sohn, der beweisen kann, daß er jetzt auch die Mutter
schlagen müsse, hat das Geheimnis der Schule im Schnelldurchgang
begriffen. Nachdem der unbußfertige Schuldner den Ur-Meter der Polis-Gerechtigkeit,
die Zurückzahlung des Kredits, in Gefahr gebracht hat, unterhöhlt
die Sophistik den Archetypus der Moral, die Kindestreue zu den Eltern
- die im übrigen auch in der konfuzianischen wie in der römischen
Ethik den Grundpfeiler alles Wohlverhaltens bildete. Über dem Portal
der platonischen Akademie hätte nicht nur die bekannte Ausladung
an die Adresse der mathematisch Ungebildeten (ageometroi) stehen
können, sondern ebenso die Devise: »Willkommen im Muttermord-Labor!«
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
270 |
Beobachtungen dieser Tendenz bilden den harten Kern des Vorwurfs
der »Gottlosigkeit« - aseheia -, der gut zwanzig Jahre
später im Prozeß gegen Sokrates (399 v. Chr.) erhoben wird.
Der Vorwurf ist nicht ganz unbegreiflich, wenn man weiß, daß
die athenische öffentliche »Religion« (eusebeia)
auf der Ehrfurcht vor den Göttern, den Eltern und den Vorfahren beruhte.
Wurde eines dieser Elemente angegriffen, rückte der Sturz der übrigen
Größen in drohende Nähe. Von nichts anderem handeln die
aristophanischen Wolken: Sie stellen der Sache nach einen theatralisierten
Asebie-Prozeß dar, an dessen Ende die Höchststrafe: Gelächter
gegen die Schuldigen, verhängt wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
270-271 |
Wie tief die Griechen bereits in klassischer Zeit das Aufklaffen
des Hiatus in den generativen Prozessen verspürten, drückt sich
in einer Vielzahl von mythischen und anekdotischen Motiven aus, die das
prekäre genealogische Band zwischen der Stadtkulturfamilie und ihren
schrecklichen Kindern umkreisen. Waren nicht auch die zahlreichen Geschichten,
die über Alkibiades, den glänzendsten und unberechenbarsten
der Söhne Athens, im Umlauf waren, im Grunde nur besorgte Hinweise
auf den Einbruch des Monströsen in die biedere Stadt - in diesem
Fall des Genialisch-Monströsen, das in der Gestalt eines überbegabten
jungen Mannes über die bestehende Ordnung hinausdrängte? Nichts
bezeugt die zivilisationsdynamische Verwandtschaft zwischen Sokrates,
dem beunruhigenden Sophisten, undAlkibiades, dem übermobilen Strategen,
nachdrücklicherals die Tatsache, daß gegen beide von ihrer
Vaterstadt der Vorwurf religiöser Unkorrektheit erhoben wurde. Alkibiades
selbst hatte zudem die Monstrosität des Sokrates durch den Vergleich
mit den Silenen offengelegt. Es scheint plausibel zu vermuten, Sokrates
sei nach dem über ihn verhängtenTodesurteil auch deswegen in
Athen geblieben, weil er sich auf keinen Fall nachsagen lassen wollte,
er habe sich seinen hochverräterischen Schüler zum Vorbild genommen,
der nach seinem mit einem Schuldspruch beendeten Asebie-Prozeß (415
v. Chr.) aus der Stadt geflohen und ins Lager des spartanischen Erzfeinds
übergelaufen war, um von dort aus, horribile dictu, auf die
Seite des Überfeindes aller Griechen, der Perser, zu wechseln.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
271 |
In Alkibiades war für die Hellenen das Problem der Spätkultur«
spürbar geworden: Diese bringt unvermeidlich das Herauswachsen der
schrecklichen Kinder aus den patrioi nomoi mit sich. Alkibiades
tauchte als Vorbote des »freien Individuums« unter seinen
Landsleuten auf - frei nicht nur von den vergilbten Vätersitten,
sondern auch vonden Loyalitätspflichten gegenüber der eigenen
Polis. Seine verheerende Modernität zeigte sich in dem Umstand, daß
er über die Gabe verfügte, allen alles zu sein - ein inspirierender
Redner, solange er zu Athenern sprach, ein frugaler Kriegsmann, wenn er
mit Spartanern ins Feld zog, ein prunkvoller Asiate, sobald er inmitten
von Persern tafelte. In ihm kündigte sich der Sieg der Mode über
die Sitte an. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus begann in der polyvalenten
Stadt die Nachahmung des Gegenwärtigen die Nachahmung des Alten zu
übertreffen. Gegen einen Mann von solcher Statur und Tendenz sollte
den Geistern von gestern allein noch der Auftragsmord Abhilfe schaffen:
vollstreckt im Jahr 404 im Namen der herrschenden Biederkeit Athens.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
271-272 |
Der erzwungen-freiwillige Tod des Sokrates im Jahr 399 hingegen
bezeichnet die Schwelle, von welcher an die neuen »freien Individuen«
den Auftrag verspürten, die von altersher bestehenden Sitten im Namen
von empirisch unerwiesenen, doch schon allgemein Geltung beanspruchenden
Prinzipien zu unterwandern. Nichts anderes war der soziale Effekt der
post-sokratischen Aufklärung und ihrer Konsolidierung in den kanonischen
Philosophenschulen. Was man in römischer Zeit das »Abendland«
und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz
des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher
auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt
vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
272 |
Der Name Platons erinnert daran, daß nach 399 v. Chr. der
»wahre Schüler« seines Meisters zur Schlüsselfigur
des weiteren Kulturprozesses werden sollte: Er zeigte seine souveräne
Lehrbefugnis aus der Position des Schüler-gewesen-Seins vor, indem
er die eigene umstürzend neue Lehre von den Ideen dem Lehrer Sokrates
unterschob. Als Paulus fast ein halbes Jahrtausend später die Figur
des »Apostels« erfand, um seine Botschaft vom Kreuz in die
Welt hinauszutragen, war die rebellisch umgebaute Autoritätsmaschine
komplett, um die zivilisatorische Ausnahme, die Europa heißt, auf
ihre unverwechselbare Weise in Gang zu setzen. Europa ist das Resultat
einer Jahrtausende währenden Unterwanderung väterlicher Transmissionen
durch die kombinierten Wirkungen von machthabenden Schülern und etablierten
Aposteln - mithin von Söhnen, die aus dem Schatten der Väter
treten, um die Überlieferung in unvorhergesehene Richtungen zu lenken.
Was man heute das »freie Individuum« nennt, ist der Endverbraucher
von Subversionen, an deren Anfänge sich niemand erinnert. Ob der
Apfel nicht weit vom Stamm fällt, ist nicht wichtig, solange er ins
Bodenlose fällt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
272-273 |
Auch der wirkungsmächtigste Mythos des griechischen Theaters
die Geschichte vom König Ödipus, läßt sich unterdem
Licht der Sorge um die drohende genealogische Deregulierung mit erneuertem
Verständnis wiederlesen: Sie spiegelt das Monströs-Werden des
Helden wider, dem es durch eine Laune des Schicksalsloses bestimmt worden
war, mitseiner ihm unbekannten Mutter Nachkommen zu zeugen. Hierdurch
verletzte er, ohne es zu wollen und zu wissen, die sakrale Asymmetrie
zwischen den Generationen, die eine rückwärtsgewandte Paarung
als Rückfall in den Abgrund der Animalität untersagt, mehr noch:
Er ließ die Diskretion vermissen, die praktisch jede Zeugung zwischen
Verwandten ersten Grades als Sturz in den Höllenschlund einer titanischen
Chaotik verbannt. Wo man die konstitutive Asymmetrie des Generationengeschehens
mißachtet, werden die zur falschen Fortpflanzung verführten
Individuen in die Position von letzten Menschen katapultiert, die sich
in perverser Gleichzeitigkeit nebeneinander positionieren und miteinander
paaren, statt nach dem heilsamen Gesetzen aufeinanderzufolgen. - Die Paarung
von Mutter und Sohn ist weit davon entfernt, nur eine erotische Aberration
zu bilden - sie steht für eine Mesalliance von ontologischer Mächtigkeit:
Sie zieht Wahnsinn, Reue und Irrfahrt nach sich, weil sie das Subjekt
aus der positionellen Ordnung des Lebens entwurzelt. Indem sie die genealogische
consecutio temporum auf den Kopf stellt, lädt sie das Anfangschaos
ein, sich inmitten der humanen Ordung einzunisten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
273-274 |
Es besteht kein Zweifel, daß man eines
Tages begreifen wird, wodurch Sigmund Freuds epoche-machende Fehllektüre
des Ödipus-Mythos bedingt war. Sie wird die lectio iudaica
eines griechischen mythos über das genealogische Intervall
gewesen sein. Das Mißverständnis war seit dem Altertum kunstvoll
programmiert, und noch Freud war gern bereit, der klug arrangierten Orakel-Täuschung
von einst zu erliegen. Die Griechen selbst, die ersten Opfer und Konsumenten
der ödipalen Irreführung, hätten es mit einer kleinen Wende
zur Nüchternheit durchschauen können: Ödipus hatte aus
seiner Sicht nicht seinen »Vater« ermordet, er hatte einen
anmaßenden Verkehrsteilnehmer, der die Vorfahrt mißachtete,
aus dem Weg geräumt. Er hatte nie seine »Mutter« geheiratet,
er hatte eine politisch attraktive Witwe zur Frau genommen und an ihrer
Seite den vakanten Platz in einer Dynastie eingenommen. Längst waren
seine Zieheltern die »wahren« (Anführungsstsriche
von mir; HB) Eltern geworden, und die leiblichen Erzeuger substanzlose
Schatten. Zu keiner Zeit hatte er in Betracht gezogen, den eigenen Vater
zu liquidieren oder mit der eigenen Gebärerin Nachkommen zu zeugen,
die nicht nur seine Knder, sondern auch seine Geschwister wären.
Ödipus selbst, bei Lichte betrachtet, war schon der vollendete Anti-Ödipus:
Eine jahrtausendelange Verschwörung des Falschlesens hatte seine
Fixierung in der Falle bewirkt, die im 20. Jahrhundert als Ödipuskomplex
klassisch wurde. Ohne Zweifel war der fatal erfolgreich Mythos von Anfang
an eine von delphischen Priestern in Umlauf gebrachte Fiktion, mit deren
Hilfe die sinkende Autorität des Orakels wiederaufgerichtete werden
solle. Was war der Mythos von Ödipus anderes als eine Machination,
um zu beweisen, daß das Orakel immer recht behält? Er vollzog
zudem eine Finte der Gegenaufklärung, die in der Morgendämmerung
der griechischen Rationalitätskultur die dunkle Majestät des
Schicksals restaurieren wollte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
276-277 |
Überschattet war das Dasein des thebanischen Kindes ausschließlich
von der Tatsache, daß sein abergläubischer Vater es hatte töten
wollen. Ein Ödipus-Komplex, hätte es ihn je gegeben: Er hätte
in der Sorge des hilflosen Kindes bestehen müssen, von seinem illoyalen
Erzeuger ermordet zu werden. Auf das 20. Jahrhundert zurückblickend,
das als historisches Eldorado der Halbwahrheiten auch die Ära der
Psychoanalyse war, stellt sich die Frage, welche Verbrechen alle diese
zahllosen Analysanden begangen haben könnten, um so viele mit der
Fahndung nach den Tätern unbegangener Untaten verbrachte Stunden
zu rechtfertigen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
277 |
Matthäus (13) zufolge ...: »Und ihr
sollt niemand Vater heißen auf Erden ....«
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
285-286 |
Mit dem Aufritt des vaterlosen Jesus von Nazareth, des schrecklichsten
Kindes der Weltgeschichte, verbindet sich in psychohistorischer Sicht
eine neue Form von Personalisation, die von der direkten Einwohnung des
patro-poietisch erzeugten Vaters im inspirierten Sohn ausgeht. Das christliche
Muster medialer Personhaftigkeit zielt auf die Realpräsenz des Übervaters
im Übersohn. Was auch immer der Sohn sagt und tut, sagt und tut nach
dessen eigener Überzeugung der Vater präsentisch aktuell durch
ihn. Johannes faßt den Sachverhalt in die Formel, wo nach das Wort
Fleisch geworden sei und unter uns gewohnt habe (vgl. Johannes, 1,14).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
288 |
Das gesamte Schriftwerk des Paulus kann gelesen werden, als habe
er unablässig den für ihn nicht aussprechbaren Satz umkreist:
»Wo Generation war, soll imitative Nachfolge werden«. Wir
zeugen nicht mehr, wir taufen und rufen hervor. Wir pflanzen uns nicht
fort, wir lehren und bekehren. Wir glauben nicht mehr an eine Zukunft,
die in eigenen Kindern liegt, wir bereiten uns für eine völlig
andere Welt vor, die sich uns durch das baldige Ende des aktuellen Äons
erschließen wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
291 |
Der Übergang zum Dasein christlicher Zeit hatte seinen Preis:
Mit der Erfindung der Geschichte als der Zeitspanne »nach Christus«
drängt sich den Führern der Gemeinde in zweiter, dritter und
späterer »Generation« die Bemühung auf, die Vernichtung
des Patriarchats durch die jesuanische Ekstase rückgängig zu
machen. Diese Absicht führt bei der Verschriftlichung der Botschaft
die Regie. Wenn sich schon die Spuren der Herkunftsanomalie bei dem begeisterten
Propheten ebenso wenig auslöschen lassen wie die zahlreichen Zeugnisse
seines präsentischen, anti-traditionalen und anti-genealogischen
Furors, so geht doch die leitende Intention der Evangelisten, die vermutlich
zwischen 75 und 110 n. Chr. tätig waren, darauf aus, den urgemeindlichen
Ausnahmezustand aufzuheben und die abenteuerliche Illegitimität der
jesuanische Auftritte in eine vor aller Zeit gestiftetet Hyperlegitimität
zu überführen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
298 |
An dieser Stelle treibt die unberuhigbare jesuanische
Herkunfts-Anomalie mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Predigers
ihre grellste Blüte. Der Messias soll unmißverständlich
als der Sohn Gottes aus asexueller Zeugung und supranaturaler Verkörperungskausalität
hervorgegangen sein. Gleichzeitig soll er einen Nachkommen Abrahams und
Davids in direkter Zeugungslinie darstellen - obschon der letzte Zugwaggon
vor der Ankunft am Ziel abgekoppelt wurde.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
300-301 |
In den Redaktionen der Evangelisten Matthäus
und Lukas kündigen sich die späteren Schicksale des Christentums
an: Sie sind am besten mit der Formel »Re-Genealogisierung der anti-genealogischen
Revolte« zu umschreiben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
302 |
Die Wandlung des Christentums zu einer Religion
von Söhnen, die durch Ausübung von Pastoralmacht in die von
Jesus verbotene Vaterrolle zurückdrängten, spiegelt das unerkannte
spirituelle Hauptereignis der Spätantike wider: Man könnte es
die Konterrevolution der Bischöfe nennen - oder die klerikokratische
Restauration.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
303 |
Die bischofskirchliche Rückwende setzte
- über die schon bei den Evangelisten angestrebte Re-Genealogisierung
und Re-Familialisierung der Botschaft hinaus - jene extreme Re-Paternalisierung
des christlichen Gemeindelebens in Gang, ohne die man sich von der Physiognomie
des Christentums zwischen 300 und 1800 n. Chr. weder nach seiner alltäglichen
noch nach seiner doktrinalen Seite ein angemessenes Bild zu machen vermöchte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
303 |
Im Einflußbereich des römischen
Katholizismus, wie auch in den griechischen und russischen Orthodoxien,
ist dieses patrozentrische Bild bis heute aktuell, sosehr es neuerdings
durch die Aufdeckung im katholischen Klerus getrübt wird - auch diese
sprechen weniger für väterliche Kompetenzen im geistlichen Personal
als für das von Paulus und Augustinus vorgeprägte sexualneurotische
Erbe des Christentums, um von der schier unsterblichen Unterströmung
ekklesiopathischer Verschrobenheiten inmitten der spirituellen Kooperationen
nicht weiter zu reden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
303-304 |
Da die Klerikokratie des europäischen Mittelalters durchwegs
die Formen einer politischen »Patristik«, sprich einer para-patriarchalischen
Ekklesial-Aristokratie angenommen hatte, versteht sich leicht, wieso der
paternalistische Klerus jener Jahrhunderte schon bei den Gedanken an eine
Laienlektüre der Bibel erschauerte. Was hätte ein Pater, ein
Abt, ein Papst einem Laien antworten können, der bei seiner Lektüre
des Matthäusevangeliums auf den Satz gestoßen wäre: »Und
ihr sollt niemand Vater heißen auf Erde, denn einer ist euer Vater,
der im Himmel ist«?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
304 |
Der Sinn der protestantischen Reformation
bestand nicht zuletzt darin, die brüdergemeindliche Anarchie gegen
die politische Patristik der katholischen Kirche - von Carl Schmitt als
Macht der römischen »Form« verteidigt - wieder ins Recht
zu setzen - und dies im Leben jedes einzelnen Gläubigen, außerhalb
der Klostermauern, zwischen lärmerfüllten Werkstätten und
choralsingenden Gemeinden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
304 |
Die zweite, noch folgenreichere Modifikation
der gültigen Modelle von Generationenprozeß und Nachfolge betrifft
das Schema der Familie als solcher. Wenn auch - von idiosynkratischen
Entwicklungen auf dem asketischen und monastischen Flügel der Kirche
abgesehen - eine Re-Familialisierung der christlichen Botschaft unvermeidlich
schien (um re-familialisiert zu werden,
hätte die christliche Botschaft von Anfang an eine familiale Botschaft
sein müssen - sie war aber von Anfang an eine anti-familiale
Botschaft, also kann sie auch nicht re-familialisiert werden;
HB), so könnte diese doch nur um den Preis einer tiefgreifenden
Subversion des Familienmodells geschehen. Mit dem kleinfamiliären
Dreieck aus Maria, Joseph und Jesus - ob im Stall von Bethlehem oder auf
der Flucht nach Ägypten - erscheint das unvertreibbare Phantom der
Heiligen Familie auf der Bühne des alteuropäischen Imaginären,
von dem Albrecht Koschorke gezeigt hat, wie weit die von ihm bewirkten
Modifiaktionen des profanen familiären Lebens reichten (vgl. Albrecht
Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen, 2000). Mit ihr
wird zwischen Mann und Frau nicht nur ein neuartiges asexuelles oder übersexuelles
Band gestiftet, das dem Mann auch in der Ehe eine bis dahin unbekannte
Zurückhaltung auferlegt, indes sich für die Frau aufgrund ihrer
Sonderbeziehung zum göttlichen Pol neue Freiheitsgrade auftun. Zugleich
bildet sich in der Heiligen Familie zwischen Mutter und Sohn ein unvergleichliches
Psychodrama heran, das einer matriarchalischen Renaissance zuarbeitet
(ein Matriarchat hat es nie gegeben;
HB). An dessen Ende bettet die anfangs überfürsorgliche,
dann zurückgewiesene Mutter den toten Sohn wieder auf ihren Schoß
- diese Laptop-Szene im Absoluten, von der bildenden Kunst im Genre
der Pietà dargestellt, bietet den Ansatz zu grenzenlosen
Überhöhungen der Goittesgebärerin und zieht Tendenzen zu
einer globalen Marianisierung der Weiblichkeit im christlichen Überlieferungsraum
nach sich. - Was die männliche »Achse« (ebd., S. 66 f.)
der Heiligen Familie angeht, so wird sie durch die subversiven Wirkungen
des antik-christlichen Konzepts von zweifacher Vaterschaft (ein Schema,
das über die griechische Verdoppelung der Vaterrolle in biologischen
Vater und Lehrer hinausgeht; vgl. S. 264 f. in diesem Band) am heftigsten
erschüttert: Indem sich der Sohn auf der einen Seite in Beziehung
setzt zu einem bescheidenen irdischen Quasi-Vater, sich aber gleichzeitig
mit einem glorreichen göttlichen Übervater identifiziert, weiß
er sich virtuell aus der Ordnung des familiären Herkommens herausgesetzt.
- »Die christliche Identität des Sohns mit dem Vater stiftet
kein genealogisches Kontinuum, sondern durchbricht es« (ebd. S.
69).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
304-306 |
Im Wirkungsbereich des Modells »Heilige
Familie« wird mithin jeder christlich erzogene Sohn kraft seiner
Einfühlung in die jesuanische Position dazu angeleitet, sein Dasein
potentiell als das eines von Gott erzeugten Bastards zu verstehen: In
seinen Adern fließt das Blut des transzendenten Herrn; in seine
Seele ist der Abdruck einer rätselvollen und unausschöpfbaren
Herkunftsvornehmheit eingeprägt; in seinem Geist glüht der Funke
einer Berufung, die über jedes empirische Familieninteresse hinausgeht.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
306 |
Die christliche Personalisation sprengt den
Sohn - später auch die Tochter sofern sie filia spiritualis
ist - aus dem genealogischen Kontinuum heraus und positioniert ihn oder
sie, an jedem Herkommemn vorbei, in einer Gottunmittelbarkeit von explosiver
psychopolitischer Dynamik. Man sagt von ihr nicht zuviel, wenn maan sie
als eine der wichtigsten Quellen des okzidentalen Individualismus bestimmt.
Sie wird vor allem in der Sektenbewegung des späten Mittelalters
und der frühen Neuzeit mächtig, ohne daß es der katholischen
Kirche gelang, die hierdurch freigesetzten Überschüsse an wilder
Subjektivierung ganz zu resorbieren. (Vgl. S. 339-369 in diesem Band).
In der Kirchen- und Sektengeschichte der Neuzeit - später auch in
der Kunst- und Ausdrucksgeschichte der Moderne - macht sich der zivilisationssynamische
Hauptsatz dramatischer als irgendwo sonst geltend, wonach im Fortgang
der systemimmanenten Übermittlungsprozesse viel mehr Energien entbunden
werden, als durch Funktionen und Formkräfte der bestehenden Institutionen
je wieder re-integriert werden können.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
307 |
Wo diese Situation erreicht ist, begreift sich
das christliche Subjekt nicht nur als einen auserwählten Bastard
Gottes, sondern in der Regel als einen der letzten Menschen im buchstäblichen
Sinn: Wer sich erst einmal ganz mit dem Sohn aller Söhne identifiziert
hat, kehrt nicht mehr in die genealogische Reihe zurück und verzichtet
angesichts des nahenden Reichs Gottes auf Nachkommenschaft, um bereit
zu sein, wenn die Stunde schlägt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
307-308 |
Die zivilisationssynamische Konsequenz der
vom Schema der Heiligen Familie mitgeformten Gesellschaftsordnung zeigt
sich in einer tiefgehenden Spaltung der alteuropäischen Legitimitätsvorstellungen.
Während Legitimität aus Sicht der jüdischen, griechischen,
römischen und nordwesteuropäischen Kulturen in erster Linie
aus patriarchalischen Transmissionen resultiert, bringt die apostolische
Sukzession eine zweite Legitimitätsquelle ins Spiel. Die europäische
Geistesgeschichte war in weiten Teilen nichts anderes als das Produkt
einer Bemühung, die antagonistischen Legitimitäten von weltlicher
Erbfolge und apostolischer Sukzession zur Kongruenz zu zwingen, insbesondere
bei christlichen Herrscherhäusern - wobei das Scheitern der Versuche
in der Natur der Sache lag. Wer das Patriarchat und das Filiarchat in
eins setzt, sollte sich nicht wundern, wenn ihm eines Tages das Dach über
dem vorgeblich gemeinsamen Haus weggesprengt wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
308 |
Die Anfänge des zweiten Legitimitätssystems
gehen auf den Ausbruch des absoluten Sohns aus den Linien der lokalen
Geschlechtergeschichten zurück. Sosehr die zweite Ordnung nach dem
Übergang der Urgemeinden in die frühe Kirche unter neo-patriarchalischen
Ausdrücken re-kodiert wurde: Die anarchische Energie der christlichen
Söhne-und-Töchter-Welt ließ sich niemals mehr ganz unter
der Bleidecke der politischen Patristik verschließen. In ihr wurde
ein Paradoxon überliefert, das für die europäische Zivilisationsdynamik
konstitutiv werden sollte: Im Namen des Sohnes wurde die Legitimität
des Illegitimen unvergeßlich gemacht, während zugleich ein
ständig aktualisierbarer Verdacht aufkam, wonach sich im Herzen des
offiziell Legitimen eine abgründige Illegitimität verberge.
Dies wurde möglich, seit der der Sohn aller Söhne er verstanden
hatte, seine ins Auge springende Illegitimität kraft seiner intimen
Einheit mit dem Vater als eine höhere Form legitimer Beglaubigung
zu präsentieren. Im Über-Es des alteuropäischen Überlieferungsgeschehens
ist seither ein nicht stillzustellender Widerspruch am Werk. Der Stoff,
aus dem die filiarchischen Transmissionen sind, ist aus anti-autoritärer
Autorität und autoritärer Gegenautorität gemacht. Als ob
zu beweisen gewesen wäre, daß nur Unmögliches Zukunft
hat, sicherte diese Widersprüchlichkeit dem Chistentum seine Fortdauer
als unheilbare Irritationsbewegung.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
308-309 |
Mochte die Kirche als Vehikel der alternativen
Legitimität zweitweilig noch so tief in Zustände interner Korruption
versinken: Ihre Funktion als Übermittlerin eines Menschenrechts auf
Nicht-Zugehörigkeit zu einem unterjochenden Kollektiv, es heiße
Familie, Sippe oder Volk, konnte davon nicht wirklich berührt werden.
Ja, auch wenn die Kirche selber, solange sie machthabende Ideologie war,
sich der psychischen Versklavung vieler Generationen schuldig gemacht
hatte: Ihren Gründungsmomenten wohnte nichtsdestoweniger ein unauslösbarer
Impuls zur Freilassung aus Erbgefangenschaften inne.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
309-310 |
Die modernen Menschenrechte gründen vor
allem in der vom Christentum behaupteten - und durch die Taufe bekräftigten
- Freiheit des einzelnen vom Zwang des ersten Herkommens - gewiß
auch im Bekenntnis der der frühen Philosophie zur kosmopolitischen
Freibeweglichkeit des Geistes aufgrund und dessen Abstandnahme von Poleis
und Mutter Erde. In diesem teils produktiven, teils illusorischen Freiheitslehren
hat die neuerdings wieder beobachtbare »Sakralität der Person«
in den Verfassungs-Präambeln und Werte-Tafeln der Moderne ihren ideengeschichtlichen
Grund.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
310 |
Den Gedanken, wonach Zivilisation von einer gewissen Entwicklungsstufe
an die »Integration« eines Elements an Störendem, Heterogenem,
Fremdem zu ihren Voraussetzungen zählt, hat zuerst Hegel in seinen
Reflexionen über das frühe Griechentum als Einheit von »aufgehobenen«
Gegensätzen ausgesprochen: »Der wahrhafte Gegensatz, den der
Geist haben kann, ist geistig; es ist eine Fremdartigkeit in sich selbst,
durch welche allein der Geist die Kraft zu sein, gewinnt .... Jedes welthistorische
Volk ... hat sich auf diese Weise gebildet. So haben sich die Griechen,
wie die Römer, aus einer coluvies, aus einem Zusammenfluß
verschiedener Nationen entwickelt.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
Vorlesungen über die Philsosophie der Geschichte, 1. Abschnitt,
Die Elemente des griechischen Geistes).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
314 |
Es war Gabriel Tarde, der den Strukturwandel der Nachahmungen
an den tag förderte, indem er die Überordnung der Mode über
die Sitte als ein Merkmal modernisierter Verhältnisse hervorkehrte.
In dem Begriff der Mode ... verbirgt sich, wie oben ausgeführt, der
zivilisationsdynamische explosive Sachverhalt, daß in ihr die Nachahmung
des Gleichzeitigen die Oberhand gewinnt, während im passéistisch
strukturierten Universum der Sitte die Nachahmung von Vorfahren den Ton
angab.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
327 |
Aus dem Dispens-Betrieb der römischen Kirche entwickelte
sich im Spätmittelalter ein mit einzigartiger Routiniertheit ausgebauter
Wirtschaftszweig: Gemeinsam mit dem Reliquiengeschäft umd dem Ablaßhandel
rief er am Vorbaend der Reformation eine veritable Volkswirtschaft der
Sünde ins Leben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
333-334 |
Der Angriff auf die erblichen Differenzen wird mit der Freisetzung
eines permanenten Wettbewerbs zwischen neuen, vorgeblich chancengleichen
Kandidaten auf die besseren Plätze bezahlt, der unvermeidlich zahllose
Verlierer produziert. Dies mag den sozialpsychologisch paradoxen Effekt
erklären, warum moderne Gesellschaften bei historisch beispiellosem
hohem Wohlstand, massiver Umverteilung und explodierender Lebenserwartung
mit der chronischen Verdüsterung ihrer Grundstimmung zu ringen haben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
392 |
Im Europa der Übergangsjahrhunderte zwischen Mittelalter
und Moderne vollzieht sich ein psychopolitischer Prozeß, den man
in Analogie zu den Transformationen derselben Periode auf ökonomischen
Gebiet als eine ursprüngliche Akkumulation von dissidenter, subversiver,
revoltischer Subjektivität charakterisieren könnte - vielleicht
als Gründungsphase von Subjektivität ohne Beiwort.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
392 |
In dieser Zeitspanne wird das Phänomen der schrecklichen
Kinder chronisch und obsessiv. Nun schießen die Sprößlinge
des Hiatus allenthalben aus dem Boden - teils filiationsfähige, teils
filiationsunwillge Nachkommen mehr oder weniger problematischer Eltern,
angetrieben durch die ihnen deutlich werdende Unmöglichkeit, als
loyale Kopien ihrer Erzeuger ins »soziale Leben« einzutreten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
392 |
Kafkas Brief an den Vater (geschrieben im November 1919,
1952 veröffentlicht), beispielslos in seiner Detailgenauigkeit, seiner
gedächtnisstarken Unerbitterlichkeit und seiner resignierten Versöhnlichkeit,
stellt darum vielmehr dar als das lokale Zeugnis einer zufälligen
Verfehlung zwischen Eltern und Kind. Er ist das Monument eines Entfremdungsrisikos,
das chronisch durch die Familien der Neuzeit wandert, jüdische, christliche
und säkulare. In seiner polemischen wie seiner befriedenden Tendenz
legt er offen, daß es nicht selten die Seelenarbeit der auf Klärung
drängenden Kinder ist, die den Hiatus zwischen den Generationen durch
entgegenkommende Gesten überbrückt. Es dürfte nicht so
sehr die »Trauerarbeit« gewesen sein, die für die Überbrückung
der genealogischen Intervalle bei den Modernen von Bedeutung war, sondern
die Arbeit am Vergeben-Können. War nicht das 20. Jahrhundert dadurch
das psychoanalytische Zeitalter, weil es durch die Erfindung der »Psychotherapie«
ein neues Regime im Umgang von schecklichen Kindern kaum weniger schrecklichen
Eltern einführte? War nicht Sigmund Freud der bislang erfolgreichste
Interpret und Ausbeuter der bezeichneten Schrecklichkeit, indem er sie
unter dem Begriff »Neurose« ins Selbstgespräch der bürgerlichen
Kultur einbrachte? Und hatte nicht Freud - mit welchem Recht auch immer
- den größeren teil des Schrecklichen bei den Kindern angesiedelt,
als er diese, nach der Preisgabe der »Verführungstheorie«,
mit einem passabel monströsen Triebleben ausstattete?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
392-393 |
Befeuert wird der so beunruhigende wie faszinierende Vorgang von
einem einzigen, über alle soziale Schichten verbreiteten und für
die Betroffenen existentiell unausweichlichen Motiv: In jedem Moment und
überall geht es im Weltalter der erwachenden Aspirationen um die
progressive Delegitimierung des »Bestehenden« durch die Einsprüche
der Entrechteten und Illegitimen, offen vorgetragen oder im verborgenen
agiert - ob es die Träger eines Herkunftsmakels sind, die Opfer eines
Statusnachteils oder die Subjekte einer ererbten Entrechtung. Wo auch
immer man das Buch der rebellischen und bastardischen Moderne aufschlägt,
stößt man regelmäßig auf Verbrecher aus verlorener
oder nie erwiesener Ehre.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
393-394 |
Es waren praktisch durchwegs erbliche positionale Nachteile, die
bei ihren Inhabern den direkten Vergleich mit den Bessergestellten provozieren
und den Reflex des Nicht-Einverständnisses mit der Lage und ihren
Voraussetzungen im Normensystem der »Gesellschaft« auflösten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
394 |
Was man in heutigen Diskursen den Egalitarismus nennt, ist in
seinen konkreteren Anfängen rückblickend leicht als die Offensive
der Bastarde und anderen Trägern von Erbnachteilen gegen das bestehende
System rechtlich verfestigter Diskriminierungen zu erkennen. Wer in das
Wort »Gleichberechtigung« hineinhorcht, wird Chöre des
Ressentiments und der Bitterkeit bemerken.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
395-396 |
Vom Zeitalter der Religionskriege an springt das bastardische
Schemas auf die politische Sphäre über ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
396 |
Als die folgenreichste Bewegung auf diesem Feld eriwes sich die
Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, welche die Konsolidierung
ihrer 1776 deklarierten Unabhängigkeit einem beharrlich durchgefochtenen
Kampf um Entkolonialisierung verdanken, besiegelt durch den Frieden von
Paris 1783. Die von Anfang an evidente, auch später nie dementierte
bastardische Konstitution der USA mag einen der Gründe bilden, warum
es in diesem Land bis heute, namentlich in seiner multi-kulturalistisch
agitierten, multi-aspirativ verworrenen Akademia, eine erhöhte, gelegentlich
exzentrische Sensibilität für Probleme der Post-Kolonialität
in anderen Kulturen gibt. Sie schließt die Neigung ein, die absurdesten
Metastasen post-kolonialer Aktivismen als Vorstufen von Emanziaptionen
zu mißdeuten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
396-397 |
Im Fortgang der genealogischen Modernisierung
beweist der zivilisationsdynamische Hauptsatz mitsamt seinen zahlreichen
Untersätzen seine Durschlagskraft: Indem der Eintritt von vormals
Erbelosen und Illegitimen in den ausgeweiteten Spielraum legitimer Forderungen
voranschreitet, setzt der Prozeß zu jedem Zeitpunkt sehr viel mehr
Reklamationen nach Würden, Chancen und Vorzugspositionen frei, als
mit Mitteln des jeweiligen aktuellen Zustands befriedigt werden können.
Nie wird sich das drastischer enthüllen als im Gefolge der us-amerikanischen
und französischen Erklärungen allgemeiner »Menschenrechte«
am Ende des 18. Jahrhunderts. Mit diesen Sprechakten, zeitgemäß,
unumgänglich, hochherzig und uneinlösbar, wie sie waren, setzte
das nie mehr zu beendende Weltalter der Reklamationen ein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
425 |
Tatsächlich vollzieht sich das, was man
die bürgerlichen »Aufstiege« nennt, in Form eines Prozesses,
bei dem sich eine Subversion an die andere, eine Reklamation an die folgende,
eine Umwertung der Werte an die nächste reihte, bis die irreversible
Umdeutung der genealogischen Verhältnisse erreicht war, das heißt
der Nullpunkt der Legitimierung durch Herkommen und die förmliche
Gleichstellung aller in einem genealogisch unmarkierten Raum. Daß
das mit »Chancengleichheit« nur wenig zu tun hat, illustriert
das Werk des Historikers Gregory Clark: The Son also Rises: Surnames
and the History of Social Mobility, 2014, das versucht, den Beweis
zu führen, daß ein relativ kleiner Stock von Elite-Familien
während der letzten 300 bis 400 Jahre ihre Position zu verteidigen
wußte, indes auf der Vorderbühne der Historie überwiegend
neue Gesichter den Ton angaben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
427 |
Der weltlich und kirchlich mißbilligte
Wucher war die naive Antwort des früheren Geldsystems auf die empirisch
erwiesene Unwilligkeit vieler vornehmer Schuldner, ihre Kontrakte zu erfüllen.
Zur Zeit des dritten spanischen Staatsbankrotts von 1596 (nach den Ausfällen
von 1557 und 1575) unter Philipp II. machten die Zinszahlungen der Krone
40 Prozent des Staatshaushalt aus. Dennoch konnten zahllose Kredite nicht
zur Zufriedenheit der Gläubiger bedient werden. Im Jahr 1787 mußten
von den Einnahmen der französischen Krone, die sich auf 427 Millionen
Livres beliefen, 285 Millionen für Schuldendienste ausgegeben werden,
während der Staatsdefizit weiter wuchs - woraus im übrigen hervorgeht,
daß der auf Dauer gestellte Betrug des Fiskus an der Gesellschaft
der Produktiven - abgesichert durch legale Enteignungsmacht - keine Erfindung
des 20. und 21. Jahrhunderts darstellt: Er rechnete lange vor der Wende
zu demokratischen Prozeduren, unter die Gründungsgeheimnisse des
neuzeitlichen Staatswesens.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
428-429 |
Als ein tausendjähriges Reich des Defizits
hatten die alteuropäische Aristokratie und ihr »Staat«
Bestand gehabt. Sobald man besser zu rechnen lernte, waren ihre Tage gezählt.
Was man später »Ausbeutung« nannte, war nichts anderes
als das weltalterlange Zugeständnis der Reichen an die Armen, für
ihre Überziehungen aufzukommen. Dieses Regime gelangte mit dem »Aufstieg
der bürgerlichen Gesellschaft« an sein uvermeidliches Ende.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
429 |
Wie Hegel vorhersah, hatte die Geschichte tatsächlich aufgehört,
die Lehrmeisterin des Lebens zu sein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
446 |
Stirner verstand wie kein Denker vor ihm, daß das Existieren
eine tautologische Affäre darstellt: Der Existentialismus ist ein
Tautologismus. Er gründet in der Entschlossenheit, einen Satz zu
wiederholen, der vormals nur einem brennenden Dornbusch zu entnehmen gewesen
war. Er tönt heute aus jedem bewußten Leben: »Ich bin,
der ich bin.« »Ich werde sein, der ich sein werde.«
Dasein und immer dasselbe sagen sind rechtens identisch, wenn auch die
ausgesagten Zustände fortwährend andere sind. Jedes real verkörperte
Dasein - origineller als welches nichts gedacht werden kann - ist ein
Geschehen jenseits von Rechtfertigung und Nicht-Rechtfertigung. Wer »zu
sich« gekommen ist, kann die Sorge um die Rechtfertigung des eigene
Daseins fallenlassen. Er »existiert«, indem er sich nimmt,
wie er ist, und sich gibt, wie er will, jenseits von Konsequenz und Inkonsequenz.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
454-455 |
Der wahre Name der Existenz lautet Einzigkeit. Stirners primärer
Existentialismus reklamiert für sich den Ruhm, dem realen Ego, mithin
dem jeweils unverwechselbaren und unvertretbaren eigenen Dasein, erstmals
einen Auftritt im Raum der Theorie gestattet zu haben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
455 |
Allein das aktualisierte Ich besitzt das Vermögen, an sich
selbst zu denekn, jenseits von Begriff und Schema.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
455 |
Niemand denkt an mich so, wie an mich gedacht werden müßte,
wenn ich wirklich existieren soll, außer ich selbst. Doch auch ich
selber kann richtig an mich nur denken, wenn ich nicht länger von
aufgelesenen Allgemeinheiten und infiltrierten Glaubensdogmen besessen
bin. Da die Operation des richtigen Denkens an mich allein durch mich
geleistet werden kann, muß meine Besiedelung durch verblasene Ideale
und andere Abkömmlinge gesellschaftlicher Invasionen in mich gründlich
verhindert werden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
455 |
Der Einzige geht aus der Arbeit an seiner Selbst-Vereinzigung
hervor: Das geschieht im Modus der vollständigen Evakuierung des
Ich von idealistisch-sozialen Okkupationen. Die Räumung - die primordiale
Dekonstruktion - setzt sich so lange fort, bis zu guter Letzt die furchtlos
unverschämte Tautologie erreicht ist, die ihre »Sache«
in jeder Hinsicht auf nichts stellt. Ich bin Ich und somit reales freies
Nichts von dem Moment an, an dem ich die Übergriffe des Etwas und
des Anderen auf mich in mir erfolgreich zurückgeschlagen habe - ob
diese Größen nun die »Gesellschaft«, die Klasse,
das Allgemeine, das Gute, das Gewissen, das Ideale, das Familiale heißen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
455-456 |
Ist es noch nötig zu betonen, daß das, was Sigmund
Freud in seiner metapsychologischen Studie Das Ich und das Es von
1923 das Über-Ich nennen wird, nichts anderes ist als eine affirmative
Formulierung dessen, was in Stirners Diktion von 1844 unverblümt
»Besessenheit« durch verinnerlichte kollektive Normen hieß?
Das Freudsche Über-Ich ist die Formalisierung der Instanz, die das
Ich in den Status des Angeklagten versetzt. Was Freud in seiner Rolle
als Generalstaatsanwalt der Zivilisation nicht zu den Akten nahm, ist
die fast 80 Jahre zuvor getätigte Aussage des Zeugen Stirner, in
der sich das Ich zu seiner Unanklagbarkeit geäußert hatte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
456 |
Der Egoist muß gleichsam seine Erziehung rückgängig
machen ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
456 |
Nach Stirners anti-autoritärer Intervention stellt sich der
Zusammenhang zwischen Sünde und Erbe unter einem veränderten
Licht dar: Erblichkeit selbst scheint die Sünde zu sein, die sich
durch Tradition verewigt hat und weiter perpetuieren will. Mithin: Nur
wem es gelingt, das Erbe-Sein als solches im eigenen Dasein zunichte zu
machen, gewinnt Aussicht auf wirklichen Selbstbesitz - wobei Stirner,
materiell einer unter jenen gebildeten Habenichtsen seiner Zeit, die man
später »intellektuelles Proletariat« genannt hätte,
es seiner Lage gemäß wohlweislich unterläßt, zwischen
stofflichem und geistigem Erbe zu unterscheiden. (Stirner
lebte zumeist fast mittellos in semi-proletarischen Verhältnissen
....)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
457 |
Folgerichtig verlängert Stirner (übrigens:
als er ein halbes Jahr alt war, starb sein Vater; zwei Jahre später
heirate seine Mutter erneut; HB) die Gespensteraustreibung
zur Famileinasutreibung weiter, bildet doch die Familie von alters her
den Schauplatz aller Erbgeschichten - den Knotenpunkt jeder von Nachkommen
erlittenen, verinnerlichten, geglaubten und wiederholten Ȇbermacht
und Oberhoheit« (Max Stirner, Der Einzige
und sein Eigentum, 1844, S. 95). Hellsichtig stellt er fest,
wieso diese Austreibung bei vormaligen Protestanten schwieriger gerät
als bei Katholiken: weil die ersteren aufgrund der Integration des Priesteramts
in die Familie mit tieferen Verinnerlichungen zu ringen haben. Sogar wer
sich als erwachsener Ex-Protestant von seiner konkreten Familie emanzipiert
und für seine Person aufgehört hätte, Vater und Mutter
über Gebühr zu ehren, bleibe fürs erste dem Begriff der
Familie als einer erhabenen Fiktion hörig, die zum Begriff der Menschen
als umfassender Familie hinaufreicht.
»Und diese zu einem Gedanken, einer Vorstellung,
verinnerlichte und entsinnlichte Familie gilt nun als das Heilige,
dessen Despotie noch zehnmal ärger ist, weil sie in meinem
Gewissen rumort. Diese Despotie wird nur gebrochen, wenn auch die
vorgestellte Familie Mir zu einem Nichts wird.« (Max
Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844, S. 95 f..)
|
Mit der imaginären Institution Familie, der heiligen wie der profanen,
wird das physische Symbol des verinnerlichten Heiligen, die christliche
Hostie, drastisch verabschiedet: »Wenn Du das Heilige verzehrst,
hast Dus zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist
sie los!« (Max Stirner,
Der Einzige und sein Eigentum, 1844, S. 95 106.)
Es lohnt sich also, ein letztes mal zum Abendmahl zu gehen, da es nicht
genügt, im Blasphemie-Modus auf das Heilige zu pfeifen. Du sollst
das stoffliche Symbol des Heiligen in dich aufnehmen, um es nach seinem
Durchgang durch deine Organe ein für alle Mal auszuscheiden. Zu einem
realen Einzigen wirst du durch das Scheißen auf das Allgemeine und
seine inneren Sedimente. Der Einzelne, der sich selbst ganz ernst nimmt,
muß nicht nur - an einem Anti-Allerheiligen-Fest der Freiheit -
Gott und die Familie ausscheiden, er hat vor allem den verinnerlichten
Staat als seine Götzen in die Latrinen zu schicken. .... Wer ein
Einziger sein möchte, darf nicht davor zurückschrecken, in den
Augen der Guten als Unmensch zu erscheinen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
458-459 |
Stirner ... wählt die Position der strikt lokalen und von
jeder Verallgemeinerung himmelweit entfernten, hier und da erneuerten
selbstgenießenden Selbsterzeugung. So tritt er aus der Geschichtszeit
aus und wechselt in die Sphäre des nachgeschichtlichen Rentenbezugs
über. Er meidet die Überanstrengung, indem er sich implicite
auch bei der Selbstproduktion das Recht auf Faulheit zuspricht: Zwar setzt
das Ich sich selbst, aber nur, wenn es dazu Lust hat.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
460 |
Wo Fichte doziert hatte: »Handle wie
keiner!«, repliziert Stirner: »Tu, was allein du auf der Welt
tun kannst: Genieße dich selbst!«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
461 |
An der letzten Front moderner Mentalitätskämpfe rücken
ständig zwei Lager gegeneinander vor: Mission gegen Konsum, Protest
gegen Rente, Militanz gegen Unterhaltung. In diesem Kontext ist einzusehen,
warum 2007 ein Epochenjahr (Beginn der Finanzkrise
als Teil einer Weltwirtschaftskrise; HB) bedeutete: weil die
großen Terraingewinne der Rentner- und Konsumpartei während
der belle epoque ... bis zur Lehman-Krise seither durch neu-linke
Gegenangriffe zunehmend verringert werden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
461 |
Angesichts der auto-konsumistischen Provokation des Werks Der
Einzige und sein Eigentum ist begreiflich, aus welchen Gründen
die Vordenker des »wissenschaftlichen Sozialismus«, Karl Marx
und Friedrich Engels, sich in den polemischen Exerzitien der Deutschen
Ideologie (1845) besonders an den Thesen Stirners abarbeiteten: Hatte
dieser doch mit seiner Proklamation des sich selbst verzehrenden singulären
Ich einen radikalisierten Konsumenten-Standpunkt eingenommen, dem nur
durch die Entgegensetzung eines ebenso radikalisierten Produzenten-Standpunkts
beizukommen war. Ideenhistoriker haben in der Regel nicht bemerkt, in
welchem Maß der spätere Marxismus mit seinen beiden Pathos-Formeln
»Produktoon« und »Klassenbewußtsein« von
der Sorge um die Neutralisierung des Stirnerschen Konsumismus beunruhigt
war. Ob allerdings die Marx-Engelssche Kritik an Stirners Thesen wirklich
als Fortsetzung des kritischen Prozesses gelten darf, ist mit starken
Gründen zu bezweifeln. Könnte es einen massiveren Rückfall
in den Dogmatismus geben als die sozialontologische Grundannahme der Autoren,
wonach die »Wirklichkeit« eines Subjekts »in letzter
Instanz« durch seine Stellung im Ganzen der »Produktionsprozesse«
bestimmt sei?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
461-462 |
In den Augen von Marx und Engels bedeutete Stirners Wendung in
den affirmativen Egoismus ein »ideologisches« Konstrukt, das
die Klassenvergessenheit des immer noch von falschen Abstraktionen umnebelten
deutschen Kleinbürgertums zum Ausdruck bringe. Als dessen frecher
Exponent habe Stirner das Wort ergriffen: Nach der Ansicht der totalistischen
Soziologen kommt im Individuum aber immer nur seine Klasse zu Wort. Das
Einzelne ist nicht nur unaussprechlich (vgl. Aristoteles,
Metaphysik, 7,4), es kann auch letztlich nichts Eigenes
zu sagen haben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
462 |
Aufgrund der Sprachregelung, die von der Marx-Engelsschen Kritik
eingeführt und verfestigt wurde, wandelt sich der Begriff der »Klasse«
zum terminus technicus einer Sozialphilosophie mit problematischen
holistischen und anti-individualistischen Implikationen. Sie fragt ausschließlich
nach »Stellungen« eines »Subjekts« in den vorgeblich
alles bestimmenden »Produktionsverhältnissen«, ohne den
Einzelnen eine Eigenwirklichkeit jenseits aller Beiträge zur »Reproduktion
der Produktionsverhältnisse« zuzubilligen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
462 |
Mit der kultischen Überinterpretation des Proletariats trat
die marxistische Arbeiterbewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
die Flucht nach vorn an, indem sie die »Klasse ohne Eigenschaften«
zum All-Produzenten proklamierte. Als Menschen des »Ohne«
sollten die Träger des erwachsenden bastardischen Kollektivs jene
werden, die eines Tages aus der Fülle schöpfen würden,
überlegitimierte Erben aller Schätze der Menschheitsgeschichte.
Bis dahin allerdings hätten sie bei vorläufig fortbestehender
Entfremdung die Last der »Reproduktion der Produktionsverhältnisse«
zu tragen. Die Umwandlung des entrechteten allgemeinen Produzenten in
den zu allem berechtigten allgemeinen Konsumeneten war für das letzte,
auf unbestimmte Zeit vertagte Kapitel im großen Produktionsroman
vorgesehen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
464 |
Vom Standort der marxistischen Polemik aus lag der Fehler von
Stirners Existentialismus in seiner Überreilung hinsichtlich des
Anspruchs auf Genuß. Niemand sollte konsumieren dürfen, bevor
nicht alle ihren Platz an der gedeckten Tafel der Fülle eingenommen
haben. Keiner soll vorgeben, selbst zu sein, bevor nicht in aller Welt
die Verhältnisse so weit gediehen sind, daß das Produkt zum
Produzenten zurückkehrt. Der Marxsche Historismus was am Erreichen
der Gleichzeitigkeit sämtlicher Produzenten-Konsumenten ausgerichtet.
Ohne Synchronie keine Egalität. Wer hingegen schon heute genießen
will, wird Parteigänger der Ungerechtigkeit, die den »Klassengesellschaften«
innewohnt. Reklamierst du ein induividuelles Leben in der Gegenwart, übst
du Verrat an der gemeinsamen Zukunft.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
464-465 |
Dies macht den Skandal des Einzigen erst ganz begreiflich.
Seit dem Erscheinen von Stirners Manifest verfügte die moderne »Gesellschaft«
über die Metaphysik eines Konsums, der keinen Aufschub mehr hinzunehmen
bereit war. Nur Demagogen werben für Aufschub zugunsten ferner Ziele.
Wer Zukunft sagt, will betrügen. Hat ein Einzelner aktuellen Zugang
zu Konsumgütern, lebt er potentiell jenseits der Geschichte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
465 |
Konsum ist das Alpha und Omega der Posthistorie, indes die »Geschichte«
weiterhin das Reich des Kosumverzichts um der Zukunft Willlen bedeutet.
Diesem Axiom huldigt die Welt der zeitgenössischen Verbraucher auf
breitester Front, ohne wissen zu wollen, wo, wann und in welchen Ausdrücken
ihren Grundsätzen zu expliziter Darstellung verholfen wurde. Stirners
Erklärung der Allgemeinen Verbraucherrechte wurde nie rezipiert.
Die Ideengeschichte ging hochmütig über sie hinweg - sofern
man von dem Kuriositätenkabinett der subkulturell blühenden
Stirner-Renaissance zwischen 1890 und 1930 absieht, aus dem man den Autor
längst wieder ins Pantheon der Zweimal-Vergessenen überführte.
Es scheint zu den unausgesprochenen Spielregeln der modernen »Konsumgesellschaft«
zu gehören, daß sie sich zu keiner Zeit auf eine explizite
»Verfassung« berufen muß, da ihre Mitspieler den Kosum
als ein präkonstitutionelles Recht in Anspruch nehmen, das allen
bestimmten Rechten vorausgeht. Konsum verkörpert, als allgemeines
Habe-Recht, eine Menschenrecht vor den »Menschenrechten«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
465-466 |
Vier Jahrzehnte nach Stirners Manifest gab Nietzsche - im Prolog
zu Also sprach Zaratghustra, 1. Teil, 1883 - dem Endverbraucher
seinen gültigen Namen, indem er ihn sich selbst als den Letzten
Menschen vorstellte. Ironischerweise stimmen bei Nietzsche die so
Bezeichneten ihrem neuen Titel begeistert zu: In ihren Augen kann es nichts
Erfüllenderes geben, als ein letzter Mensch zu sein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
467 |
Zu realen und pragmatisch Letzten werden Individuen in der Konsum-
und Erwerbs»gesellschaft« von dem Augenblick an, in welchem
sie in die Daseinsweise von herkunftsschwachen und nachkommenlosen Selbstverzehrern
einwilligen. Dieser Sachverhalt manifestiert sich in den meisten modernisierten
Nationalstaats-Populationen durch das rapide Absinken der Geburtenquote.
Solche Rückgängen der Natalität schließen die Hochkonjunktur
der »monoparentalen Familien«, der kinderlosen Haushalte und
der autoerotischen Lebensformen ein. Noch scheint die Lage der Dinge bis
auf weiteres mit dem Fortbestehen von Fragmennten herkömmlicher Familien
kompatibel. (Vgl. Tilman Allert, Die Familie
- Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform, 1998.)
Demographen umschreiben die aktuelle tendenz in den sechzig meistentwickelten
Ländern der Erde mit dem Begriff »Schrumpfvergreisung«.
Selbstverständlich gibt es in diesen Teilen der Welt noch Eltern
und Kinder wie von alters her; die prekär gewordenen genealogischen
Fäden dünnen sich jedoch weiter aus. Auch die »Kinder
von etwas« (S. 433) bleiben bis auf
weiteres die Kinder von jemand, selbst wenn sie in vitro erzeugt
und aus synonymen Samenbanken bezogen worden wären. Nur selten noch
gehen sie aus Familien hervor, die sich dank der Bewahrung von Relikten
der Vateridee darauf verstehen, das »unschätzbar wertvolle
Objekt der Übermittlung« weiterzugeben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
467-468 |
In Stirners Der Einzige und sein Eigentum erreicht das
schreckliche Kind der Neuzeit seine Reflexionsgestalt. Er tritt als Endverbraucher
von Chancen, Gütern und Beziehungen auf. Der unbußfertige fröhliche
Egoist schneidet seine Verbindungen nach rückwärts wie vorwärts
förmlich, mit expressiver Unhöflichkeit ab. Seine erste Regung
ist das Bedürfnis, niemandem zu Dank verpflichtet zu sein. Nicht
länger läßt er sich von seinen Vorfahren in Verbindlichkeiten
bannen. Von der Hervorbringung von Nachkommen zieht er sich instinktiv,
gelegentlich programmatisch, zurück.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
468 |
Moralische Selbstsicherheit gewinnt der artikulierte Egoist, indem
er ... die These vorträgt, sämtliche Nicht-Egoismen seien als
verkappte Egoismen zu durchschauen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
468 |
Der in die Offensive gegangene Ego-Praktikant legt Wert darauf,
sich an die Spitze der Reflexionspyramide zu stellen, indem er seine Sache
auf den Gipfel des Glaubens an nichts gründet, während die Idealisten,
mitsamt ihrem Anhang aus Sozialphilosophen und anderen Zwischenhändlern
des Guten, auf ihren positiven Fiktionen bestehen. Niemand soll auf ihn
herabsehen, indessen er auf die übrigen ironisch von oben blickt
- mit Vorliebe auf die deklarierten Guten. Die Gutmenschenverspottung
auf deutschem Boden beginnt im Herbst 1844. Keiner kann sich rühmen,
besser zu sein als der bekennende Egoist, während dieser den moralisch
nicht unbedeutenden Vorzug genießt, die Maxime seines Handelns -
»ich selbst an erster Stelle« - freimütig offenzulegen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
468-469 |
Das Licht des bekennenden Egoismus bzw. des programmatischen Individualismus
bricht sich in einem breiten Spektrum von existentiellen Farben: Der deklarierte
Selbstbvorzuger kann sämtliche Masken moderner Subjektivität
aufsetzen, die des Altruisten ausgenommen, und sich in vielfältigen
Individualitätsprogrammen proklamieren. Er verwirklicht sich als:
»Anarchist, Übermensch, Psychopath, Sozialist, Kleinbürger,
Intellektueller, Faschist, Genie, Paranoiker, Bohemien, Satanist, Existentialist,
Individualist, Terrorist, Mittelständler, Totalitarismus-Kritiker,
Solipsist, Prophet, Nihilist, Metaphysiker ...« (Diese
nahezu satirische Aufzählung spiegelt das Spektrum von subkulturellen
Stirner-Rezeptionen in Deutschland zwischen 1890 und 1930 wider. Vgl.
Alexander Stulpe, Gesichter des Einzigen - Max Stirner und die Anatomie
moderner Indivdualität, 2010. In dem breitangelgten Werk entfaltet
der Verfasser seine These: »Stirner ist heute vergessen, weil der
Einzige selbstverständlich geworden ist. [S. 45]) In
allen diesen Rollen, Posen und Gesichtsbemalungen präsentiert sich
das modernisierte Individuum als sein eigener Maskenbildner.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
469 |
Was aber der Einzige auch immer aus sich macht, er tut es in der
Haltung des Endverbrauchers, der zugleich Endkreativer sein möchte:
Für ihn gibt es nach der Spuk-. Gott- und Staatsaustreibung so wenig
eine ernst zu nehmende Nachwelt wie ein dem Ich vorausgehendes Höheres.
Hierdurch nimmt der Einzige die moderne Definition von Individualität
vorweg, die nach systemtheoretischer Auskunft nicht mehr durch inklusion
und Zugehörigkeit, sondern nur »extrasozietal« und durch
Exklusion bestimmt werden kann. (Vgl. Niklas Luhmann,
Individuum, Individualität, Individualismus, in: Gesellschaftsstruktur
und Semantik - Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft,
3. Band, 1989, S. 149-258. Luhmann deutet die Modernisierung des Verhältnisses
der Gesellschaft zur Individualität als Umstellung von Inklusionsindividualität
auf Exklusionsindividualität.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
469-470 |
»Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie.
Das Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich
vor sich .... Im Rhizom geht es um ... Werden aller Art.«
(Gilles Deleuze & Félix Guattari, Rhizom, S. 35.) Das unsichtbare
unterirdische Geflecht gegen den sichtbar aufsprossenden, nach oben strebenden
Baum ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
472 |
Es konnte nicht ausbleiben, daß spätere
Leser des Anti-Ödipus (Anti-Ödipus
- Kapitalismus und Schizophrenie; 1972; HB) und des Rhizom-Essays
(1976; HB) von den neunziger Jahren des 20.
Jahrhunderts an auf unfreiwillige Resonanzen und ironische Neubeleuchtungen
dieser Schriften im Kontext zeitgenössischer ideologischer Wandlungen
aufmerksam wurden: Es schien mit einem Mal, als hätten die beiden
Autoren, obschon (oder eher: weil? HB)
sie sich eines eigensinnig verfremdetetn linksradikalen Diskurses bedienten,
in Wirklichkeit einen nicht intendierten vorauseilenden Hymnus auf den
in entfesselten Strömen prozessierenden Finanzkapitalismus verfaßt,
noch bevor dieser in sein »neo-liberales« Stadium eingetreten
war, das von den Reagonomics 1981-1989 eröffnet wurde. Nichts konnte
die Kritereien des Deleuze-Guattari-Universums vollkommener erfüllen
als das virtualisierte, volatilisierte, inflationierte und amoralisierte
große Geld, dem in seinem Nomadismus per definitionem weder
Vaterland noch Territorium heilig sind.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
475 |
Zur selben Zeit als die Verfasser des Anti-Ödipus
ihre »subversiven« Projektionen des Lebens in stetiger Bewegung
auf Migranten und Neo-Nomaden bezogen, schickte der globalisierte Tourismus
sich an, die erste Stelle unter den Industriezweigen der Welt zu erobern:
Er übersetzte das Wechselspiel von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung
ins Stadium finaler Trivialität, als fahrplanmäßiger Zyklus
von Departure and Arrival.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
475 |
Das von Deleuze und Guattari unbeirrbar gesungenen Lob der neuen
Verknüpfungen stellte dem Innovationismus einer weltweit agierenden
Konsultationsindustrie Stichwörter zur Verfügung, die seither
um Hohlbegriffe wie »Kreativität«, »Erfindung«, »Exzellenz« und , »Incentive« keisen. Sehr naiv
wirkt heute ihre von manchen Autoren wiederaufgenommenen Suggestion, die
erfinderischen Prozesse würden, wären sie von kapitalistischen
»Fesseln« befreit, um ein Vielfaches gesteigert.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
475-476 |
Vor allem hatten Deleuze und Guattari mit dem Konzept »Rhizom«
die flachen Raumbilder und die interaktiven, interdeliranten, interautistischen
Sozialphantasmen der emergenten Internet-Weltkultur vorweggenommen. Mit
vorauseilender theoretischer Phantasie propagierten sie das post-historische,
post-genealogische, post-familiale Lebensgefühl der »Netz-
oder Peer-to-Peer-Gesellschaft« im beginnenden 21. Jahrhundert,
anderthalb Jahrzehnte bevor der von Tim Berners-Lee und Robert Cailliau
am Forschungsinstitut CERN in Genf zwischen 1989 und 1991 entwickelte
Suchmechanismus des World Wide Web der Öffentlichkeit vorgestellt
wurde. Infolge der Snowden-Enthüllungen im Frühjahr 2013 hat
sich erwiesen, daß das vielgepriesene »Netz« als das
Rhizom der Rhizome nicht nur ein leistungsfähiges Instrument zur
Synchronisierung von subjektiv besetzten Knotenpunkten im globalisierten
Datenverkehr darstellt. Es bildet ebenso die Infrastruktur eines paranoid
überdehnten imperialen Überwachungssystems, das keinem Netzteilnehmer
mehr das Privileg des Unbeobachtet-Seins zugesteht. Diese Offenlegungen
werden binnen kurzem eine Neubewertung der »Netzkultur« und
ihrer rhizomatischen Romantik nach sich ziehen. Man muß kein Prophet
sein, um eine rapide Abkühlung der Euphorien in bezug auf die progressiven
Energien der Tele-Rhizomatik vorherzusehen. Deleuze und Guattari schwelgten
hingegen noch in Visionen einer ent-»ödipalisierten«,
abstammungsfreien »Gesellschaft«, die den vitalen »Vielheiten«
als Spielfeld dienen sollte: »im Unterschied zu den Bäumen
und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem
anderen ... Es ist nicht das Eine, das Zwei wird, jede seiner Linien verweist
nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene
Zeichensysteme ins Spiel .... Das Rhizom läßt sich weder auf
das Eine noch auf das Viele zurückführen ....« (Ebd, S.
34). Es ist »ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht
signifikantes System ohne General ..., es ist ausschließlich durch
die Zirkulation der Zustände definiert« (Ebd., S. 35). Es geht
nur darum, »... ein Milieu zu schaffen, in dem mal dies mal jenes
auftauchen kann: wie mürbe Brocken in der Suppe.« (Ebd., S.
40).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
476-477 |
Im freier gewordenen Rückblick auf die Vorstöße
und Todes-Salti der vorauseilenden rhizomatischen Realitätsauslegung
von 1976 durch Deleuze und Guattari drängt die Einsicht sich auf,
daß die Autoren in Wahrheit ein neues bastardisches Kollektiv
konzeptualisiert und evoziert hatten: einen feldförmig verfaßten,
weltweit agierenden Über-Bastard, der um ein ganze Dimension herkunftsloser
operieren würde, als jeder emersonianisch-nonkonformistisch inspirierter
Amerikaner es sich je hätte träumen lassen. Sie postulierten
ein artifizielles Meta-Volk von Bricoleuren und Chancenjägern, die
sich auf dem Kontakthof der Weltgesellschaften durch »Gelegenheiten«
ansprechen lassen. Unter dem Namen »Rhizom« hatten sie ein
diffuses post-industrielles, von Wünschen, Gütern und Zeichenströmen
durchpulstes Hyper-Proletariat heraufbeschworen, arbeitslos und werktätig,
rebellisch und angepaßt, im Zentrum lebend oder an der Peripherie,
prostituiert oder autonom, prekär oder fest angestellt, neben dem
die Arbeiterklasse des Marxismus wie eine altehrwürdige Dynastie
wirkte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
477-478 |
Die ererbte und erworbene Blindheit der konventionellen westlichen
Kulturwissenschaften für Fragen der Filiation kehrt ... in den post-colonial
studies schematisch wieder. Sie wiederholen den Basisfehler der westlichen
Moderne, die immer die »soziale Frage« in den Vordergrund
rückte und die genalogische Frage zu stellen »vergaß«.
Diese Wiederholung ereignet sich gewiß auch aufgrund der Tatsache,
daß die auf dem Feld führenden Autoren, durchwegs arrivierte
Figuren der okzidentalen, zumeist nordamerikanischen Akademia, bisher
nicht fähig waren, ihre persönliche Stellung zur bastardischen
Kondition der Moderne inihre Begriffsarbeit einzubeziehen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
480 |
Man kann den Ausdruck »Weltzivilisation« nicht verwenden,
ohne daß Benutzungsgebühren anfallen. Macht man sich eine prozessule
Sicht auf die globale Dynamik zu eigen, kommt man nicht umhin, das Gesetz
wachsender Fragilität bei zunehmender Verfestigung zu unterschreiben.
Die Systemarchitektur des Globalitätsgebäudes wird sich infolge
machtgetriebener Gegenseitigkeiten auf absehbare Zeit dem aktuellen modus
operandi gemäß replizieren, manifester Einsturztendenzen
ungeachtet. Der Weltinnenraum des Kapitals dehnt sich unaufhaltsam aus.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
484 |
Die entropischen Konsequenzen aus dem zivilisationsdynamischen
Hauptsatz für das Kommende sind evident: Bei fortschreitender Mobilisierung
werden die Freisetzungen den moderierenden Instamnzen mit wachsender
Fluchtgeschwindigkeit davonlaufen. Synchronisierung (Vernetzung), Aspirisierung
(Ausweitung der Forderungszone), Urbanisierung (Wachstum der Komfortchancenzone)
und Skurisierung (Expansion der Paranoiazone) bleiben die regierenden
Vektoren - wobei der Monetarisierung die Funktion des Mediators zufällt.
Die Ausweitung der Staatsdienste in den rund 200 im UNO-Raum angemeldeten
politischen Körpern zieht die Modernisierung der Korruption nach
sich - für diesmal konventionell verstanden als Unterwanderung des
Rechts durch Angehörige der öffentlichen Dienste, die nicht
sehen, was dem Charme eines zweiten Einkommen widerstehen könnte.
Die wachsende Aktivität der »Staatsdiener« in staatsunfähigen
Kulturen wird ohne explodierende Korruption - und mitwachsende Klagen
gegen sie - nicht zu haben sein. Als Garanten der Korruption wird die
Mehrheit der etablierten wie der improvisierten Nationalstaaten das 21.
Jahrhundert zu dem machen, was es aus der Sicht des 22. gewesen sein wird.
Sie bereiten ihr Versagen vor, das man ihnen vorwerfen wird, sollten die
Bilanzen eines Tages offengelegt werden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
484-485 |
Wer glaubt im Ernst mit dem Philosophen Neurath
daran, man könne Schiffe auf hoher See umbauen? Ja, wer behauptet
noch, auf unserem Schiff gebe es eine Kommandobrücke?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
488 |
Kurzum, in unseren Tagen kann niemand wissen,
was den Sachgehalt von sirenischen Wörtern wie »Nachhaltigkeit«
und »Zukunftsfähigkeit« ausmacht. Wer imstande wäre,
zwischen Gang, Drift und Sturz zu unterscheiden, müßte prophetisch
begabt sein. Dies ist der Zustand, auf den Heidegger anspielte, als er
seine Bemerkung aussprach, nur noch ein Gott könne uns retten. Mit
einem Satz entzoge er dem Futurismus den Boden. An dessen Stelle hatte
er leider nichts Besseres anzubieten als einen Pietismus des Wartens.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
488 |
Während der Passéismus - die von
alters her herrschende Überzeugung vom Vorrang des Vergangenen -
heute als der Verlierer der Evolution feststeht, ist der Streit zwischen
dem Futurismus der Moderne und dem Präsentismus der Postmoderne vorerst
nicht entschieden (vorausgesetzt, man akzeptiert
diese Deutung; HB).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
488 |
»Wenn das nur gutgeht auf die Dauer«.
Schon zur Zeit seiner Formulierung (vgl. S. 114;
HB) war der Ausspruch mehr ein Bannwort gegen nahendes Unheil als
ein Zeugnis von Zuversicht. Den schrecklichen Kindern der Neuzeit vermittelt
er den Wink, es könne nicht schaden, sich in der verlernten Kunst
des Dauerns zu üben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
489 |
Vielleicht bin ich auch ein bißchen der
Lexikon-Mann.
Peter
Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014 |
Materialreichtum ist eines meiner Markenzeichen.
Ich schreibe immer im Zwiegespräch mit einer Bibliothek. .... Meine
Frau haßt das, sie meint, es sei ein Ausweichen ins Historische.
Ich sehe das aber ganz anders. Zu meiner Autorenethik gehört, daß
ich Zitate nicht kleiner drucken lasse als den eigenen Text. Die Germanisten-Halunken
und die Soziologen-Canaille erkennt man daran, daß sie Sätze
von Goethe und Max Weber zwei Punkte kleiner setzen lassen.
Peter
Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014 |
Ich habe keine Fragen an tote Philosophen, ausgenommen
an Fichte, mit dem ich nicht ganz fertig bin. Es gibt aber einen Denker,
den ich für den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts halte, obwohl
fast niemand ihn kennt: Gotthard Günther. Mit ihm würde ich
gern über mehrwertige Logik reden und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit,
sie mit der zweiwertigen Alltagsvernunft in ein überschaubares Verhältnis
zu setzen.
Peter
Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014 |
Die Lektion, die von ihr (gemeint
ist die Tochter Mona; HB), kam, war nicht philosophischer Art,
sie führte zur Gewahrwerdung eines Schwindels, dem ich bis ... 1993,
ihrem Geburtsjahr, erlegen war. In meinem Milieu war ich umgeben von Leuten,
die von der Fortpflanzung abrieten, ausnahmslos: »Kinder? Herrje!
Bloß nicht! Schlaflose Nächte, endloses Geschrei, geborene
Tyrannen du kommst zu nichts mehr!« Ich stellte fest, in
dieser Angelegenheit war ich immer irregeführt worden, rundum. Nicht
ein einziger Mensch hatte mir verraten, daß es nichts Wundervolleres
gibt. Meine Frau und ich waren über das Kind unvorstellbar froh.
Die ersten zwei Jahre lebten wir in einem Delirium. Ständig haben
wir gejubelt, und die Kleine mit uns. Die Lektion bestand darin, daß
man sich vom Erwachsensein erst einen halbwegs realistischen Begriff macht,
wenn man in der Elternposition angekommen ist. Sonst wird man nur älter,
aber erwachsen nie. Andererseits: Erwachsenheit ist ein schwieriger Begriff,
man sollte mit ihm nicht renommieren.
Peter
Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014 |
Ich denke über das Wort »konservativ« in letzter
Zeit anders als früher und beklage die Situationen, in denen dieser
Begriff als Schimpfwort gebraucht wird. Andauernd nicht-konservativ sein:
das würde ja heißen, alle Menschen der progressiven Tendenz
müssen sich zu der Stümperei der ständigen Neuanfänge
bekennen. Wer ständig fortschreitet, geht über zu viel hinweg.
Die Welt ist so reich an Vollendungen, daß ich nur durch den Verrat am
Vollkommenen fortschrittlich bleiben könnte. Früher dachte ich,
Konservatismus sei nur in zwei Fällen plausibel: Wenn du eine Bibliothek
hast mit allem Wesentlichen in Leder, oder einen Weinkeller mit denkwürdigen
Tropfen aus Jahrzehnten. Ansonsten wäre ausnahmslos immer Progressivität
verpflichtend. Ich überzeuge mich mit jedem Lebensjahr mehr davon,
wie verfehlt diese Ansicht war. Man muß täglich konservativer
werden, damit man rezeptiver wird für die Werke, die auf uns warten.
Die meisten Menschen von heute, darunter erschreckend viele Künstler,
lassen freiwillig das Beste links liegen, weil sie selber etwas Schlechteres,
aber Eigenes, vorhaben.
Peter
Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014 |
Im Jahr 1848 veröffentlichte Kierkegaard einen Aufsatz, kaum
sechs oder sieben Seiten lang, von einer Luzidität, die alle Bibliotheken
Roms und Wittenbergs überstrahlt. Den lese ich fast jedes Jahr unter
fast zeremoniellen Umständen wieder: Über den Unterschied zwischen
einem Genie und einem Apostel. Danach weiß man erst, was Autor-Sein
in heutiger Zeit bedeutet. Nach Kierkegaard genügt der genialische
Künstler allein den selbstgesetzten Maßstäben und den
immanenten Gesetzen seiner Disziplin. Sein Lohn ist humoristische Selbstzufriedenheit
oder die Bewunderung anderer. Wer hingegen Apostel ist, agiert unter einem
absoluten Mandat. Der apostolische Beruf belohnt sich anders als der ästhetische,
notfalls auch mit der Art von erlesenem Misserfolg, die man Martyrium
nennt. Ein solches Mandat kann man nicht vorweisen, wenn man seine Botschaften
selber in die Maschine tippt, ohne einen göttlichen Absender hinter
sich zu wissen. Ich kann ja nicht an der Tür der Leute klingeln:
»Ich hätte da ein Evangelium günstig, das sollte Sie interessieren.
Der Verfasser bin übrigens ich persönlich.« Hier beginnt
das moderne Autorenproblem: Ein bisßhen Genie, das stellt man zur
Not selbst auf die Beine. Ein paar Creative-writing-Seminare, und fertig
ist der Jungautor. Aber ein Apostolat, ein echtes Mehr an Zu-sagen-Haben,
wie kann das außerhalb der Kirchentradition entstehen? Sartre hatte
gemeint, er könne die Frage mit seiner Lehre vom freien Engagement
beantworten. In Wahrheit war er dem Problem ausgewichen.
Peter
Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014 |
Seit fast dreißig Jahren gerate ich 14 Tage vor meinem Geburtstag
Ende Juni endogen in Verdüsterungen, die dazu führen, daß ich
mit Migränen kämpfe und kotzen möchte. Dieser Zusammenhang
von Sommer und Stress von innen ist die anscheinend am wenigsten auslöschbare
Komponente in meiner Privatmythologie.
Peter
Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014 |
Der Philosoph meines Namens würde gern mit der Formel durchkommen:
»Leben heißt Immunität ins Unendliche ausdehnen.«
Beim Publikum hat das für die nächsten hundert Jahre keine Chance.
Verstehen Sie dies nicht als Resignation. In meinen späteren Tagen
möchte ich mich noch einmal an die Arbeit machen und Metaphysik als
allgemeine Immunologie darstellen, als Lehre von der Welt als Aggression
und Schutz. Nach dem Jahr 2200 wird es Schulstandard sein. Letztlich aber
geht es mir darum, den Abgrund zwischen Leben und Philosophie zu überbrücken.
Ich frage mich, ob dazu nicht vielleicht ein einziger Satz genügt,
bei welchem dem Kollegen Descartes die Ohren klingen: Man denkt an mich,
also bin ich. Mit etwas Glück wird daraus: Ich bin, seit sie an mich
denkt. Je mehr Plagiatoren in der Zukunft herumlaufen, die die Quelle
weder kennen noch nennen, desto besser.
Peter
Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014 |
Der Philosoph ... soll seinen Lesern beweisen,
daß der Armutsverdacht gegen sich selbst ... unbegründet ist,
daß wir von der Tiefe her eugentlich reiche Geschöpfe sind
- und diesen Beweis führe ich seit ich denken kann mit wachsender
Intensität.
Peter
Sloterdijk, in: Spiegel-Film, 2015 |
Das kann nicht gutgehen.
Peter
Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016 |
Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.
Peter
Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016 |
Die Europäer werden früher oder später eine effiziente
gemeinsame Grenzpolitik entwickeln. Auf die Dauer setzt der territoriale
Imperativ sich durch. Es gibt schließlich keine moralische Pflicht
zur Selbstzerstörung.
Peter
Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016 |
Der Nationalstaat ist das einzige politische Großgebilde,
das bis zur Stunde halbwegs funktioniert. Als lockerer Bund hat die EU
mehr Zukunft, als wenn sie auf Verdichtung setzt.
Peter
Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016 |
Der Lügenäther ist so dicht wie seit den Tagen des Kalten
Kriegs nicht mehr.
Peter
Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016 |
Das Wort »Lügenpresse« setzt mehr Harmlosigkeit
voraus, als es in diesem Metier gibt.
Peter
Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016 |
Ich-lüge-also-bin-Ich. - Man weiß,
das erste Opfer der steigenden Polemik ist die Nuance. Wir haben es seit
einer Weile mit einem bedenklichen Zug zur Nuancenvernichtung zu tun
bedenklich vor allem deswegen, weil allgemeine Lebenserfahrung weiß,
daß zwischen Gut und Böse gelegentlich nur haarfeine Unterschiede
liegen. Die Nuancenvernichtung stützt sich auf einen furchtbaren
Verbündeten: das menschliche Bedürfnis, recht gehabt zu haben
und zu behalten. Daß Menschen in ungewissen Welten an internen Kontinuitätskonstrukten
arbeiten, versteht sich ohne Aufwand. Die gelassene Beobachtung solcher
Manöver zu je eigenen Gunsten gilt als die Vorschule des Humors.
Dieser weiß, das Ich-lüge-also-bin-Ich gehört zur Grundausrüstung
jedes Einzelnen, der zu den Gerechtfertigten gehören möchte.
Das Ich-sehe-wie du-dich-Gutlügst wird Teil entweder der Menschenverachtung
oder des Allesverstehens. Man hat zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwendet,
da0 in einer alphabetisierten Zivilisation das Lügen eine Variante
entwickelt: das absichtliche schlechte Lesen, das heißt die praktische
Ausübung des Nuancen-Mords. Es sind naturgemäß politisierte
oder politologisierende Intellektuelle, die bei diesem Vergehen die Täterstatistik
überproportional bevölkern.
Peter
Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016 |
Im übrigen stellt es ein klassisches Pavlov-Phänomen
dar, wenn man nun sogar Rüdiger Safranski als xenophoben Extremisten
und als Stimmungsmacher für rechtslastige Agitationen darstellen
wollte. Ich habe in meinem Leben keinen großherzigeren, menschenfreundlicheren
und integrativeren Geist kennengelernt als ihn. Mit seinem gesamten Werk
hat sich Safranski um die Versöhnung einer geschichtskranken Kultur
mit ihren besseren Potenzialen bemüht. Dank einer Reihe exzellenter
Bücher über einige Große unserer Kunst- und Ideengeschichte
hat er zahllosen Zeitgenossen den Zugang zu den Klassikern deutscher Sprache
neu erschlossen. Daß sein Name jetzt von politischen Krankheitsgewinnlern
für eine Agitation gegen einen Autor, der ihr Therapeut hätte
sein können, mobilisiert werden soll, kann man nur als Verkehrung
ansehen.
Peter
Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016 |
Ein kurzes Wort will ich anfügen zu der Polemik von Herfried
Münkler gegen Safranskis und meine Äußerungen über
deregulierte Migrationen und übers Ufer getretene Flüchtlings-»Ströme«.
Der Fall hat eine aparte Seite, da Münkler kein kleiner Kläffer
ist, wie ein Philosophie-Journalist aus der Narren-Hochburg Köln,
der offensichtlich immer noch nicht weiß, wer und wie viele er ist.
Münkler jedoch hat sich als Autor von Statur erwiesen. Umso erstaunlicher
bleibt seine Fehllektüre-Leistung, die er in einem Artikel dieser
Zeitung von vor wenigen Wochen zum Besten gegeben hat.
Peter
Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016 |
Es trifft zu, daß Safranski und ich gegen die »Flutung«
Deutschlands mit unkontrollierbaren Flüchtlingswellen Bedenken ausgedrückt
haben. Aus meiner Sicht bringen unsere Einlassungen eine linkskonservative
Sorge um den gefährdeten sozialen Zusammenhalt auf den Begriff. Linkskonservatismus,
der meine Farbe ist seit langem, rechnet unter die Nuancen, die in Gefahr
sind, im differenzenfeindlichen Klima ausgelöscht zu werden.
Peter
Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016 |
Da ich aber unter Intellektuellen nie an »Mißverständnisse«
glaube (bei Naiven ist das anders), sondern durchweg von intentionalen
Falschlektüren ausgehe, das heißt bedingten Reflexen zweiten
Grades, halte ich es für sinnvoll, den Motiven von evidenten Fehldeutungen
nachzugehen. Für den Augenblick beschränke ich mich auf den
Fall Münkler, da bei ihm keine pavlovschen Stichwort-Mechanismen
unterstellt werden müssen. Seine Irritation durch Äußerungen
von Safranski und mir sollten in der Sache von anderer als bloß
reflexologisch zu deutender Art sein.
Peter
Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016 |
Tatsächlich entwickelt sich unser Dissens aus gegensätzlichen
Beantwortungen der Frage, ob die Merkel-Politik angesichts der Flüchtlingswelle
seit dem letzten Sommer mehr ist als eine hilflose Reaktion auf Unerwartbares.
Safranski und ich haben, unabhängig voneinander, der Volksmeinung
recht gegeben, die in breitester Mehrheit dem Eindruck zustimmt, es habe
sich bei der Merkelschen Willkommens-Propaganda um eine Improvisation
in letzter Minute gehandelt, die aus einer Verlegenheit eine überlegte
Maßnahme machen wollte.
Peter
Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016 |
Wenn die Einwanderung eine Form annimmt, in der es keine Grenze
mehr gibt, sondern nur ein wüstes offenes Feld, liegt Staatsversagen
vor.
Peter
Sloterdijk, in: Der Tagesanzreiger, 15.04.2016 |
Man kauft sich Zeit, man tut so, als gewinne man Spielräume,
aber man nutzt sie nicht - unterdessen türmen sich die Berge ungelöster
Probleme am Horizont immer höher auf.n kauft sich Zeit, man tut so,
als gewinne man Spielräume, aber man nutzt sie nicht - unterdessen
türmen sich die Berge ungelöster Probleme am Horizont immer
höher auf.
Peter
Sloterdijk, in: Der Tagesanzreiger, 15.04.2016 |
?Unter alt-ständischen Verhältnissen wäre unser
Bundespräsident ein kleiner Dorfpfarrer in Mecklenburg-Vorpommern,
Angela Merkel Haushaltshilfe auf einem Pfarrhof, ich selber mit etwas
Glück Kanzlist in einer rheinischen Kleinstadt
.
Peter
Sloterdijk, in: Der Tagesanzreiger, 15.04.2016 |
Die herkömmliche Linke war die politische
Speerspitze einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der das vielzitierte
Proletariat die Mehrheit bildete. Die übrigen Lohnabhängigen,
namentlich die wachsenden Kreise der Angestellten, waren zu guten Anteilen
in die sozialdemokratische Klientel eingemeindet. Heute jedoch ist das
Merkmal Lohnabhängigkeit kein zureichendes Motiv für die Bindung
an die alte Partei mehr. Immer mehr Menschen können es sich leisten,
gegen ihr vermutetes »Klasseninteresse« zu stimmen. Insgesamt
bemerkt man im aktuellen Parteiensystem, daß sich die gewachsenen
Loyalitäten zwischen Wählerschaften und Parteien auflösen.
Der Grund hierfür ist unter anderem darin zu suchen, daß die
Politik seit längerem, genauer seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts,
ins Spektakelstadium eingetreten ist. Infolgedessen benehmen sich die
Wähler nicht mehr so sehr als politische Ensembles, sondern wie ein
Publikum. Der heutige Bürger konsumiert Ausdruckschancen in der Wahlkabine.
Diese neuartige Situation bricht klassischen Linken das Genick. Denn wenn
es je eine wirkliche Loyalitätspartei gab, dann wäre es die
Linke gewesen, die radikale an erster Stelle, die gemäßigte
danach. Die Sozialdemokratie geht offenbar wieder einmal an ihren eigenen
Erfolgen zugrunde in dem Augenblick, wo sie überall eingesickert
ist, scheint sie in ihrer Originalgestalt überflüssig. Sie war
das Therapeutikum gegen verschleppte feudale Zustände im späten
19. und Teilen des 20. Jahrhunderts. Jetzt regieren die Generika.
Peter
Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016 |
Immer mehr Menschen verstehen, daß das Zeitalter selbst
uns vor die Alternative stellt, entweder Demokrat, das heißt im
weitesten Sinn Sozialdemokrat, zu bleiben oder Neofeudalist zu werden.
Peter
Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016 |
Internationalität setzt wirksame nationale
Agenturen voraus, das vergessen die Schwärmer für das Postnationale
so leicht. Die konservative Essenz des klassischen Sozialdemokratismus
zeigt sich in den Fragen, für die es jenseits des nationalen Formats
noch keine überzeugenden Antworten gibt vor allem beim Sozialstaat.
Man kann das Errungenschaftskonservatismus nennen. Wenn man einen gewissen
Grad der Teilhabe an sozialen Gütern erlangt hat, entwickelt man
ein Bewahrungsinteresse. Der Sozialstaat ist strukturell konservativ-expansiv.
Auch der Rechtsstaat lebt davon, daß es in jeder Generation genügend
viele Akteure gibt, die ihn erhalten und weiterdenken wollen. Ohne Errungenschaftskonservatismus
kann ein Gemeinwesen unseres Typs nicht existieren, deshalb habe ich vor
kurzem eine Vokabel wie »linkskonservativ« benutzt, um die
Gegend zu kennzeichnen, aus der ich argumentiere. Das Echo war bezeichnend:
Sobald man daran erinnert, daß gerade die progressiven politischen
Systeme, und die Bundesrepublik Deutschland gehört dazu, Bewahrungs-
und Abgrenzungsinteressen haben, heftet sich die Meute der abstrakt Universalistischen
an deine Fersen.
Peter
Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016 |
Der klassische Nationalstaat ist das altmodische, aber nach wie
vor fahrtüchtige Vehikel für die errungenschaftskonservativen
Optionen. Der Nationalstaat als Träger rechtsstaatlicher Strukturen
ich sehe überhaupt nicht, wie ein übernationales Analogon
zu ihm funktionieren könnte ....
Peter
Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016 |
In dem Buch »Was geschah im 20. Jahrhundert?« wird
ein Rahmen entwickelt, innerhalb dessen man verstehen kann, warum das
Megathema unserer Zeit Wanderung heißt, Migration. Man muß
sich erinnern: Europa hat sich zwischen 1800 und 1950 in einer permanenten
Revolution der De-Agrarisierung befunden. Landflucht war das Megathema
der vergangenen Epoche bei uns, das Parallelthema hieß Urbanisierung.
Diese Beobachtung gilt heute und für die kommenden 100 Jahre in globalen
Maßstäben. Sie trifft auf alle Schwellenländer und Länder
mit beginnender Modernisierung zu. Weltweit finden riesige Binnenwanderungen
vom ländlichen in den städtischen Raum statt.
Peter
Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016 |
Zwei der größten Völkerwanderungen aller Zeiten
geschehen innerhalb Chinas und Indiens, wo Populationen von über
zwei Milliarden Menschen von ländlichen auf städtische bzw.
suburbane Lebensformen umgeschichtet werden. Der Rest der Welt begreift
noch nicht, was für ein Glück man hat, daß China und Indien
nicht zu den gescheiterten Staaten rechnen. Diese Länder verarbeiten
den Migrationsdruck bis auf weiteres in nationalen Räumen. Wir sind,
ohne es zu wissen, Parasiten der Integrationskraft von China und Indien.
Migration ist in evolutionärer Sicht das Megathema unserer Epoche.
Migration liefert den Ersatz für eine unmögliche Revolution.
Ein Unterthema bilden die grenzüberschreitenden Bewegungen in Form
von Flucht, Vertreibung, Asylsuche und Auswanderung. Das alt- und neu-europäische
Asylrecht erweist sich heute als ein untaugliches Mittel, massenhafte
Wanderungen zu bewältigen. Diese Lektion lernen die Menschen Europas
in diesen Tagen.
Peter
Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016 |
Es war eine trügerische Hoffnung der Politik,
Europa aus dem Katastrophenschatten der Geschichte herausgeführt
zu haben. Wir leben wohl wieder in einem Zeitalter der Angst. Die aktuelle
Angst kennzeichnet die heiße Phase der Globalisierung.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122 |
Globalisierung bringt den Triumph der Indiskretion mit sich. Jetzt
schaut jeder jedem ins Wohnzimmer. Globalisierung heißt die Weltform,
in der die Chinesen uns näher sind als die Belgier. Oder um anthropologisch
zu reden: Wie wollen wir aus einem Hordenwesen, das von Natur aus ein
Kleingruppengeschöpf war, einen Weltbürger machen? Es war schon
schwer genug einen Nationalmenschen aus ihm zu formen und die Umformatierung
der Nationalmenschen zu Europäern wird uns noch den Rest des 21.
Jahrhunderts beschäftigen (wohl mit dem Ergebnis:
ohne Erfolg! HB). Die Globalisierung als chronische Mobilisierung,
als Einladung zum Dasein in ständiger Bewegung, erfaßt ja nur
einen kleinen Teil der Menschheit, obwohl man den Tourismus als eine Schule
des Weltbürgertums im weitesten Sinne auffassen darf. Darin sind
die Deutschen weit fortgeschritten. Für viele Menschen bedeutet das
Reisen die Einlösung eines Guthabens an Globalisierungskapital. Für
die vielen, deren Radius nur wenige Meilen um ihren Wohnort reicht, wie
bei zahlreichen Trump-Wählern, ist die kosmopolitische (weltbürgerliche)
Tendenz furchterregend. Sie nehmen an der res publica, am öffentlichen
Raum und am Weltverkehr fast gar nicht teil.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122 |
Die Metapher (Wort mit übertragener Bedeutung) der Familie
ist außerordentlich dehnbar. Daß sie am Ende die ganze Menschheit
einschließen soll, daß alle Brüder und Schwestern sind, das
leuchtet dann doch nicht jedem unmittelbar ein. Diejenigen, welche die
Grenzen der Familie enger ziehen wollen, fallen heute als Populisten und
Neonationalisten auf.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017 |
Wir besitzen heute keine hinreichend starke Vision der Welt mehr,
um das Ganze unter einem Dach zu erfassen. Philosophie entstand ursprünglich
als therapeutische Kosmologie das heißt, den Menschen in
der erweiterten Welt heimisch zu machen. Der Philosoph ist heute zum öffentlichen
Intellektuellen mutiert. Er kann nicht mehr als Designer des Ganzen auftreten.
Wenns gut geht, fungiert er als Berater oder Beiträger.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017 |
Philosophie, Religion und Politik haben die Gemeinsamkeit, sich
um die Welt als Ganzes zu sorgen und das Bedürfnis nach Sicherung
der Zukunft zu stillen. Das wichtigste Prädikat des Glaubens wie
auch der Philosophie wurde in der Geschichte mit dem Begriff der »securitas«
umschrieben. Auch Luther hat in seinen 95 Thesen das Paradies oder den
vollkommenen Glauben mit dem Wort »securitas« wiedergegeben.
Darin steckt eine sehr tiefe anthropologische Verankerung nach Gewißheit.
Die Moderne produziert dagegen Desorientierung. Mit Gewißheit läßt
sich nicht mehr paktieren. Die ... Hoffnung, die Welt sicher für
die Demokratie zu machen, ist verflogen. Überhaupt müssen wir
uns heute vor einer Überstrapazierung des Universalismus der Aufklärung
hüten. Die Rechtspflege und die sozialen Solidarsysteme lassen sich
bisher nur im nationalen Rahmen erhalten und ausbauen. Nichtmitgliedern
unbeschränkten Zutritt zu beschaffen, mutet da wie eine Geste zur
Selbstzerstörung an. Wie viel Fremdheit verträgt eine Kultur,
die an einer gewissen Selbstähnlichkeit festzuhalten interessiert
ist? Es gibt immer noch eine Fraktion von Linken oder Linksanarchisten
beziehungsweise von politischen Masochisten, die jeden Hinweis auf so
etwas wie Nation oder nationales Interesse, Identität und Tradition
für ein Verbrechen an der Menschheit halten.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122 |
Ich stehe für den historischen Konservatismus.
Dieser beruht auf der Einsicht, daß zivilisatorische Errungenschaften
verloren werden können. Es gibt keine Garantie, daß die gleiche
Welt in der nächsten Generation weiterbesteht. Das gilt auch für
Frieden, Wohlstand und den Schutz des Sozialstaats. Man könnte vielleicht
damit leben, daß es in der nächsten Generation keine großen
Erzähler oder Künstler mehr gibt oder keine großen Komponisten.
Dramatisch wird es, wenn der Rechtsstaat, der Sozialstaat und die Wohnkultur
gefährdet werden. Das letzte nenne ich nicht willkürlich: Von
der Behausung hängt das Grundgefühl des In-derWelt-Seins von
Menschen ganz wesentlich ab. Wenn das Bewußtsein der Verlierbarkeit
von Zivilisationen den Menschen durchdrungen hat, erledigt sich ein Teil
des frivolen Universalismus von selbst.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122 |
Wie reversibel demokratische Errungenschaften sind, kann man heute
in aller Welt studieren. Hierzu liefert der Populismus ein tägliches
soziologisches Seminar. Der Begriff Demokratie enthält ein sehr hohes
pseudodynamisches Potenzial, er ist eine Fehl- oder Deckbezeichnung für
Strukturen der Machtausübung, die man sofort verwerflich fände,
wenn man sie bei ihrem wahren Namen riefe: Oligokratie, Fiskokratie, Mobokratie,
Phobokratie. Vor allem das Prinzip der Oligokratie ist das große
Betriebsgeheimnis politischer Strukturen, die sich als demokratisch ausgeben.
Hoi Oligoi heißen im Griechischen die wenigen. Die Welt ist
nach wie vor oligokratisch organisiert, sie gehört den wenigen, nicht
den vielen. Im übrigen kann man in diesem Kontext das Wunder der
Bewegung von Emmanuel Macron ermessen: daß sie über Nacht die
gesamte alte französische Oligokratenklasse, soweit sie Politiker
waren, in den Urlaub geschickt hat. Das hätte ich den Franzosen am
allerwenigsten zugetraut (es waren ja auch nicht
»die Franzosen«, sondern es war nur Macron, der diese
»Politkier ... in den Urlaub geschickt hat«; HB).
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122 |
Für Konservatismus gibt es zwei Definitionen, die erste ist
anthropologisch, die andere prozessual oder historisch. Der primäre
Konservatismus zeichnet sich durch seinen anthropologischen Pessimismus
aus. .... Der prozessuale oder historische Konservatismus beruht auf der
Einsicht, daß zivilisatorische Errungenschaften verloren werden
können. Es gibt keine Garantie, daß die gleiche Welt in der
nächsten Generation weiterbesteht. Das gilt auch für Frieden,
Wohlstand und den Schutz des Sozialstaats. Man könnte vielleicht
damit leben, daß es in der nächsten Generation keine großen
Erzähler oder Künstler mehr gibt oder keine großen Komponisten.
Dramatisch wird es, wenn der Rechtsstaat, der Sozialstaat und die Wohnkultur
gefährdet werden. Das letztere nenne ich nicht willkürlich:
Von der Behausung hängt das Grundgefühl des In-der-Welt-Seins
von Menschen ganz wesentlich ab. Wenn das Bewußtsein der Verlierbarkeit
von Zivilisationen den Menschen durchdrungen hat, erledigt sich ein Teil
des frivolen Universalismus von selbst.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 30.06.2017 |
Man kann universalistische Elemente sehr wohl auch von einem konservativen
Standpunkt aus verteidigen. Der frivole Universalismus aber setzt bedeutende
Errungenschaften aufs Spiel, um kleine Verbesserungen zu erreichen, von
denen nicht gewiß ist, ob man sie bekommt. Wie reversibel demokratische
Errungenschaften sind, kann man ja heute in aller Welt studieren. Hierzu
liefert der Populismus ein tägliches soziologisches Seminar. Der
Begriff Demokratie enthält ein sehr hohes pseudonymisches Potenzial,
er ist eine Fehl- oder Deckbezeichnung für Strukturen der Machtausübung,
die man sofort verwerflich fände, wenn man sie bei ihrem wahren Namen
riefe: Oligokratie, Fiskokratie, Mobokratie, Phobokratie. Vor allem das
Prinzip der Oligokratie ist das große Betriebsgeheimnis politischer
Strukturen, die sich als demokratisch ausgeben. Hoi Oligoi heißen
im Griechischen die wenigen. Die Welt ist nach wie vor oligokratisch organisiert,
sie gehört den wenigen, nicht den vielen.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 30.06.2017 |
Die Philosophie beginnt schon als Kulturrevolution. Als solche
hat sie vor 2500 Jahren in der von Karl Jaspers sogenannten Achsenzeit
eingesetzt, als die Hoch- und Schriftkulturen entstanden. Sie ist permanente
Aufklärung. Mit der Kunst und der abgeklärten Religion ist sie
die Dritte im Bunde, um auf die Herausforderungen der Existenz zu antworten.
Aufklärung muß als Langzeitprojekt gedacht werden. Es ist eine
sehr tonische Idee, sich in einer so weiten Tradition zu begreifen. Für
die Wahrheit muß man sich viel Zeit lassen können. Man darf
in der Philosophie alles sein, nur nicht ungeduldig. In der Langzeitperspektive
erscheint vieles reversibel und heilbar, was einem kurzfristig irreversibel
und unheilbar vorkommt. Das gibt Anlaß zur Hoffnung. Wenn er in
größeren Zeiträumen denkt, überkommt den Zeitgenossen
eine gewisse Gelassenheit.
Peter
Sloterdijk, in: Der Spiegel, 30.06.2017 |
Als Staatsbürger bin ich konservativer als in meiner Rolle
als Philosoph. Ich habe das Recht, Angela Merkel zu kritisieren, daß
sie nach dieser außerordentlichen Situation des Herbstes 15
(am 4. September 2015 begann diese »außerordentliche
Situation« mit der Öffnung aller Grenzen, so daß Millionen
Flüchtlinge ungehindert nach Deutschland kommen konnten; HB)
nicht klar gemacht hat, daß es sich hier um eine Ausnahmesituation
gehandelt hat von unwiederholbarem Charakter. Sie hat sich jahrelang geweigert,
den Begriff der Obergrenze zu benutzen.
Peter
Sloterdijk, in: Deutschlandfunk, 18.11.2018 |
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