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Prägnant und möglichst knapp formulierte Gedanken

von

Peter Sloterdijk (*1947)

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Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein. * (* Die erste »Aufhebung« dieser Definition findet sich in der fünften Vorüberlegung: die zweite Aufhebung im Phänomenologischen Hauptstück.)“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 37

„Die Existentialontologie, die vom Man und seinem Dasein in der Alltäglichkeit handelt, versucht etwas, was früherer Philosophie nicht im Traum eingefallen wäre: Trivialität zum Gegenstand »hoher« Theorie zu machen. Schon dies ist eine Geste, die unweigerlich den Kynismus-Verdacht auf Heidegger lenkt. Was Kritiker der Heideggerschen Existentialontologie als einen »Fehler« vorgeworfen haben, ist vielleicht ihr besonderer Witz. Sie treibt die Kunst der Platitüde in die Höhen des expliziten Begriffs. Man könnte sie lesen wie eine umgekehrte Satire, die nicht das Hohe heruntersetzt, sondern das Niedere hinauf. Sie versucht, das Selbstverständliche so ausdrücklich und ausführlich zu sagen, daß sogar Intellektuelle es »eigentlich« verstehen müßten. In gewisser Hinsicht verbirgt sich im Heideggerschen Diskurs mit seinen skurrilen Verfeinerungen der Begriffsabschattungen eine logische Eulenspiegelei großen Stils - der Versuch, mystisch einfaches Wissen vom einfachen Leben, »wie es ist«, in die fortgeschrittenste europäische Denktradition zu übersetzen. Heideggers Habitus eines Schwarzwaldbauern, der gern von der Welt zurückgezogen in seiner Hütte sitzt und grübelt, die Zipfelmütze auf dem Kopf, war nicht nur eine Äußerlichkeit. Er gehört wesentlich zu dieser Art zu philosophieren. Es steckt dieselbe anspruchsvolle Schlichtheit darin. Es zeigt, wieviel Mutwille dazu gehört, unter modernen Bedingungen überhaupt noch so etwas Einfaches und »Primitives« zu sagen, daß es sich gegen die komplexen Verschraubungen des »aufgeklärten« Bewußtseins durchsetzen kann. Wir lesen die Aussagen Heideggers über das Man, das Dasein in der Alltäglichkeit, über Gerede, Zweideutigkeit, Verfallensein und Geworfenheit etc. vor dem Hintergrund der vorangehenden Porträts von Mephisto und dem Großinquisitor: als eine Reihe von Etüden in höherer Banalität, mit der sich die Philosophie hinaustastet in das, »was der Fall ist«. Gerade in dem Heideggers existential-hermeneutische Analyse mit dem Mythos der Objektivität aufräumt, erzeugt sie den härtesten »Tiefenpositivismus«. So tritt eine Philosophie auf, die ambivalent teilhat an einem ernüchterten, säkularisierten und technisierten Zeitgeist; sie denkt jenseits von Gut und Böse und diesseits der Metaphysik; nur auf dieser dünnen Linie kann sie sich bewegen.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 370-371

„Der theoretische Neo-Kynismus unseres Jahrhunderts - die Existenzphilosophie - demonstriert in seiner Denkform das Abenteuer der Banalität. Was er vorführt, sind die Feuerwerke der Sinnlosigkeit, die sich selbst zu verstehen beginnt. Man muß sich die verächtliche Wendung verdeutlichen, mit der Heidegger im oben zitierten Motto seine Arbeit in weite Ferne von jeder »moralisierenden Kritik« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 167) rückt, als wolle er betonen, daß zeitgenössisches Denken ein für allemal die Sümpfe des Moralismus hinter sich gelassen und nichts mehr gemeinsam habe mit »Kulturphilosophie« (ebd). Die kann ja nicht mehr sein als »Aspiration« (ebd.): vergeblicher Anspruch, Großdenkerei und Weltanschauung im Stil des nicht enden wollenden 19. Jahrhunderts. Dagegen wirkt in der »rein ontologischen Absicht« die brennende Kühle der realen Modernität, die keiner bloßen Aufklärung mehr bedarf und mit aller je möglichen analytischen Kritik schon »durch« ist. Ontologisch denkend, positiv sprechend die Struktur der Existenz freilegen: zu diesem Zweck stürzt sich Heidegger, um die Subjekt-Objekt-Terminologie zu umgehen, mit beachtlichem sprachlichen Mutwillen in einen alternativen Jargon, der aus der Ferne betrachtet gewiß nicht glücklicher ist als der, den Heidegger meiden wollte, in dessen Neuartigkeit jedoch etwas vom Abenteuer des Modern-Primitiven hindurchscheint: eine Verknüpfung von Archaik und Spätzeit, eine Spiegelung des Frühesten im Letzten. In der »Ausgesprochenheit« der Heideggerschen Rede kommt das zur Sprache, was ansonsten keiner Philosophie der Rede wert ist. Eben in dem Augenblick. wo das Denken - explizit »nihilistisch« - Sinnlosigkeit als Folie jeder möglichen Sinnaussage oder Sinngebung erkennt, wird zugleich die höchste Entfaltung der Hermeneutik. d.h. der Kunst des Sinn verstehens, nötig. um den Sinn der Sinnlosigkeit philosophisch zu artikulieren. Das kann. je nach den Voraussetzungen des Lesers. ebenso aufregend wie frustrierend sein - ein Kreisen in begriffener Leere. Schattenspiel der Vernunft.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 371-372

„Was ist dieses seltsame Wesen, das Heidegger unter dem Namen Man vorführt? Es gleicht auf den ersten Blick modernen Plastiken, die keinen bestimmten Gegenstand darstellen und in deren polierte Oberflächen sich keine »besondere« Bedeutung hineinlesen läßt. Dennoch sind sie unmittelbar wirklich und zum Anfassen konkret. In diesem Sinn betont Heidegger, daß das Man keine Abstraktion sei - etwa ein Allgemeinbegriff, der »alle Iche« umfaßt, sondern möchte es, als ens realissimum, auf etwas beziehen, was in jedem von uns präsent ist. Aber es enttäuscht die Erwartung nach Personhaftigkeit, individueller Bedeutung und existentiell entschiedenem Sinn. Es existiert, aber es ist bei ihm »nichts dahinter«. Es ist da wie die moderne, nichtfigürliche Plastik: real, alltäglich, konkreter Teil einer Welt; jedoch zu keiner Zeit auf eine eigentliche Person, eine »wirkliche« Bedeutung verweisend. Das Man ist das Neutrum unseres Ich: Alltagsich, aber nicht »ich-selbst«. Es stellt gewissermaßen meine öffentliche Seite dar, meine Mediokrität. Das Man habe ich mit allen anderen gemeinsam, es ist mein öffentliches Ich, und in bezug auf es hat die Durchschnittlichkeit immer recht. Als uneigentliches Ich entlastet sich das Man von jeglicher eigener, höchst persönlicher Entschiedenheit; seiner Natur nach will es sich alles leicht machen, alles von der äußerlichen Seite nehmen und sich an den konventionellen Schein halten. In gewisser Hinsicht verhält es sich so auch zu sich selbst, denn was es »selbst« ist, das nimmt es ja auch nur so eben hin wie etwas Vorgefundenes unter anderem Gegebenem. So läßt sich dieses Man nur als etwas Unselbständiges verstehen, das nichts von sich selbst und für sich allein hat. Was es ist, wird ihm durch die andern gesagt und gegeben; das erklärt seine wesentliche Zerstreutheit; ja es bleibt verloren an die Welt, die ihm zunächst begegnet. Heidegger:
»Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesemherundalsdieseswerde ich mir ›selbst‹ zunächst ›gegeben‹. Zunächst ist das Dasein Man und zu meist bleibt es so.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 129). »Als Man lebe ich immer schon unter der unauffälligen Herrschaft der Anderen.« »Jeder ist der Andere und keiner er selbst. Das Man ... ist das Niemand ....« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 128).
Diese Man-Beschreibung , mit der Heidegger eine Möglichkeit erobert, philosophisch vom Ich zu sprechen, ohne es im Stil der Subjekt-Objekt-Philosophie tun zu müssen, wirkt wie eine Rückübersetzung des Ausdrucks Subjekt in die Umgangssprache, wo es »das Unterworfene« bedeutet. (Im Logischen Hauptstück gehe ich dieser »übersetzung« weiter nach und untersuche, was Unterwerfen und Unterworfenwerden für die Erkenntnistheorie bedeutet. Vgl. S. 639-641; 652-659.) Wer »unterworfen« ist, meint, sich »selbst« nicht mehr zu besitzen. Nicht einmal die Sprache des Man sagt etwas Eigenes, sondern nimmt nur teil am allgemeinen »Gerede«. In dem Gerede - mit dem man Sachen sagt, die man eben sagt - verschließt sich das Man gegen das wirkliche Verstehen des eigenen Daseins sowohl wie auch der besprochenen Dinge. Im Gerede verrät sich die »Entwurzelung« und »Uneigentlichkeit« des alltäglichen Daseins. Ihm entspricht die Neugier, die flüchtig und »aufenthaltlos« dem jeweils Neuesten sich hingibt. Dem neugierigen Man geht es, soviel es auch »Kommunikation betreibt«, niemals um wirkliches Verstehen, sondern um dessen Gegenteil, Vermeidung von Einsicht, Ausweichen vor dem »eigentlichen« Blick ins Dasein. Dieses Vermeiden belegt Heidegger mit dem Begriff Zerstreuung - einem Ausdruck, der aufhorchen läßt. Wenn auch alles Bisherige durchaus überzeitlich und allgemeingültig klingen wollte, so wissen wir mit diesem Wort auf einmal, an welcher Stelle der modernen Geschichte wir stehen. Kein anderes Wort ist so vollgesogen vom spezifischen Geschmack der mittleren zwanziger Jahre - der ersten deutschen Moderne im Breitenmaßstab. Alles, was wir über das Man gehört haben, wäre letztlich unvorstellbar ohne die Realvoraussetzung der Weimarer Republik mit ihrem hektischen Nachkriegs-Lebensgefühl, ihren Massenmedien, ihrem Amerikanismus, ihrer Kultur- und Unterhal tungsindustrie, ihrem fortgeschrittenen Zerstreuungsbetrieb. Nur im zynischen, demoralisierten und demoralisierenden Klima einer Nachkriegsgesellschaft, in der die Toten nicht sterben dürfen, weil aus ihrem Untergang politisches Kapital geschlagen werden soll, kann sich aus dem »Zeitgeist« ein Impuls in die Philosophie abzweigen, das Dasein »existential« zu betrachten und die Alltäglichkeit in Gegensatz zu stellen zu dem »eigentlichen«, bewußt-entschlossenen Dasein als »Sein zum Tode«. Nur nach der militärischen Götterdämmerung, nach dem »Zerfall der Werte«, nach der coincidentia oppositorum an den Fronten des Materialkrieges, wo sich »Gut« und »Böse« gegenseitig ins Jenseits beförderten, wurde eine solche »Besinnung« auf »eigentliches Sein« möglich. Erst diese Zeit wird in radikaler Weise auf die innere Vergesellschaftung aufmerksam; sie ahnt, daß die Wirklichkeit beherrscht wird von den Gespenstern, den Imitatoren, den außengeleiteten Ich-Maschinen. Jeder könnte ein Wiedergänger sein statt seiner selbst. Doch wie soll man es erkennen? Wem sieht man noch an, ob er »er selbst« ist oder nur Man? Das erregt die penetrante Sorge der Existentialisten um die so wichtige wie unmögliche Unterscheidung zwischen dem Echten und Unechten, dem Eigentlichen und dem Uneigentlichen, dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem Entschiedenen und dem Unentschiedenen (das halt »nur so« ist):
»Alles sieht aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 173).
Die Sprache, scheint es, hält mühevoll das, was bloß »so aussieht«, und das, was wirklich »so ist«, noch auseinander. Doch die Erfahrung zeigt, wie alles sich verwischt. Alles sieht aus wie. An diesem Wie beißt der Philosoph herum. Für den Positivisten wäre alles, wie es ist; keine Differenz zwischen Wesen und Erscheinung - das wäre nur wieder der alte metaphysische Spuk, mit dem man Schluß machen will. Doch Heidegger beharrt auf einer Differenz und hält an dem Anderen fest, das nicht nur ist »wie«, sondern das Wesentliche, Echte, Eigentliche für sich hat. Der metaphysische Rest bei Heidegger und sein Widerstand gegen den reinen Positivismus verraten sich im Willen zur Eigentlichkeit. Es gibt noch eine andere Dimension« - auch wenn sie sich dem Aufweis entzieht, weil sie nicht zu den aufweisbaren »Dingen« gehört. Das Andere läßt sich zunächst nur behaupten, indem zu gleich versichert wird, es sehe genau so aus wie das Eine; für die äußerliche Sicht hebt sich das »Eigentliche« vom »Uneigentlichen« in keiner Weise ab.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 372-378

„Der Unterschied eigentlich-uneigentlich gibt sich rätselhafter, als er in Wahrheit ist. Soviel steht von vornherein fest: es kann nicht der Unterschied in irgendeiner »Sache« sein (schön-häßlich, wahr-falsch, gut-böse, groß-klein, wichtig-unwichtig), weil die existentiale Analyse vor diesen Unterschieden operiert. So bleibt als letzte denkbare Differenz jene zwischen dem entschlossenen und dem unentschlossenen Dasein, ich möchte sagen: zwischen dem bewußten und dem unbewußten. Doch darf man den Gegensatz bewußt-unbewußt nicht im Sinne der psychologischen Aufklärung nehmen (der Unterton: entschlossen-unentschlossen deutet eher in die gemeinte Richtung); bewußt und unbewußt sind hier nicht kognitive Gegensätze, auch nicht solche der In formation, des Wissens oder der Wissenschaft, sondern existentiale Qualitäten. Wäre es anders, so wäre das Heideggersche Pathos der »Eigentlichkeit« nicht möglich.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 380

„Die Konstruktion des Eigentlichen mündet - endlich - aus in das Theorem vom »Sein zum Tode«, für Heideggers Kritiker ein Vorwand zur billigsten Empörung: zu mehr als zu morbiden Todesgedanken kann sich die bürgerliche Philosophie nicht mehr aufraffen! Aschermittwochsphantasien in parasitären Köpfen! Nehmen wir :von solcher Kritik das Wahrheitsmoment auf, so besagt sie, daß sich in Heideggers Werk, gegen dessen Intentionen, der historisch-gesellschaftliche Augenblick spiegelt, in dem es verfaßt wurde; auch wenn es noch so sehr beteuert, ontologische Analyse zu sein, liefert es eine unfreiwillige Gegenwartstheorie. Insofern sie dies unfreiwillig ist, hat der Kritiker wohl ein Recht, eine unfreie, ja verblendete Seite an ihr zu benennen, ohne daß er von der Aufgabe entbunden wäre, die erleuchtete Seite zu würdigen. Kein Gedanke ist so intim in seine Zeit eingebettet wie der des Seins zum Tode; es ist das philosophische Schlüsselwort im Zeitalter der imperialistischen und faschistischen Weltkriege. Heideggers Theorie fällt in die Atemwende zwischen dem Ersten und Zweiten Wel krieg, die erste und zweite Modernisierung des Massentodes. Sie steht auf halbem Weg zwischen dem ersten Dreigestirn der Destruktionsindustrie: Flandern, Tannenberg, Verdun und dem zweiten: Stalingrad, Auschwitz, Hiroshima. Ohne Todesindustrie keine Zerstreuungsindustrie. Liest man Sein und Zeit nicht »bloß« als Existentialontologie, sondern auch als verschlüsselte Sozialpsychologie der Moderne, so öffnen sich Einsichten in Strukturzusammenhänge von größter Perspektive. Heidegger hat den Zusammenhang zwischen moderner »Uneigentlichkeit« der Existenz und moderner Todesfabrikation in einer Weise getroffen, die sich allein dem Zeitgenossen industrieller Weltkriege erschließen kann. Lockern wir den Bann, den der Faschismusverdacht auf Heideggers Werk geworfen hat, so verraten sich in der Formel vom »Sein zum Tode« explosive kritische Potentiale. Dann wird verständlich, daß Heideggers Todestheorie die größte Kritik des 20. Jahrhunderts am 19. birgt. Das 19. Jahrhundert nämlich hatte seine besten theoretischen Energien in den Versuch gesteckt, durch realistische Groß-Theorien den Tod der anderen denkbar zu machen. (Ich nehme hier ein Motiv Michel Foucaults auf.) Die großen evolutionistischen Entwürfe nahmen das Weltböse, soweit es andern zustößt, hinweg und hinauf in die höheren Zustände späterer, erfüllter Zeiten: hierin gibt es formale Äquivalenzen zwischen der Vorstellung von Evolution, dem Begriff der Revolution, dem Begriff der Auslese, des Kampfs ums Dasein und des Überlebens des Tüchtigeren, der Idee des Fortschritts und dem Mythos der Rasse. Mit all diesen Konzepten wird eine Optik erprobt, die den Untergang der anderen objektiviert. Mit Heideggers Todestheorie kehrt das Denken des 20. Jahrhunderts diesen hybriden, theoretisch neutralisierten Zynismen des 19. Jahrhunderts den Rücken. Äußerlich gesehen wechselt nur das Personalpronomen: »Man stribt« wird zu: »Ich sterbe«. Im bewußten Sein zum Tode revoltiert die Heideggersche Existenz gegen die »ständige Beruhigung über den Tod«, auf die eine überdestruktive Gesellschaft unbedingt angewiesen ist. Der totale Militarismus des Industriekrieges erzwingt in den Alltagszuständen eine mögliche lückenlose narkotische Todesverdrängung - oder die Abwälzung des Todes auf die andern: das ist das Gesetz der modernen Zerstreuung. Die Weltlage ist eine solche, daß sie den Menschen, würden sie aufmerken, zuflüstert: Eure Vernichtung ist bloß eine Frage der Zeit, und die Zeit, die die Vernichtung braucht, bis sie euch erreicht, ist zugleich die Zeit eurer Zerstreuung. Die kommende Vernichtung setzt ja eure Zerstreuung, eure Nichtentschlossenheit zum Leben voraus. Das zerstreute Man ist der Modus unseres Existierens, durch den wir selber in den allgemeinen Todeszusammenhängen stecken und mit der Todesindustrie kooperieren. Ich möchte behaupten, daß Heidegger den Anfang des Fadens zu einer Philosophie der Aufrüstung in Händen hält: denn Aufrüsten heißt, sich dem Gesetz des Man unterwerfen. Einer der eindrucksvollsten Sätze aus Sein und Zeit lautet: »Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 254). Wer aufrüstet, ersetzt den »Mut zur Angst vor dem eigenen Tod« durch militärischen Betrieb. Das Militär ist der größte Garant dessen, daß ich nicht meinen »eigenen Tod« sterben muß; es verspricht mir Hilfe beim Versuch, das »Ich sterbe« zu verdrängen, um an seiner Stelle einen Man-Tod zu bekommen, einen Tod in absentia, einen Tod in politischer Uneigentlichkeit und Betäubung. Man rüstet, man zerstreut sich, man stirbt.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 380-383

„Ich finde in Heideggers »Ich sterbe« den Kristallisationskern, um den sich eine Realphilosophie des erneuerten Kynismus entfalten kann. Kein Weltzweck darf sich je von diesem kynischen Apriori: »Ich sterbe« so weit entfernen, daß unsere Tode Mittel zum Zweck werden. Die Sinnlosigkeit des Lebens - um die sich soviel dummes Nihilismusgeschwätz schlingt - begründet ja erst dessen volle Kostbarkeit. Dem Sinnlosen ist nicht nur die Verzweiflung und der Alptraum eines bedrückten Daseins zugeordnet, sondern auch sinnstiftende Lebensfeier, energetisches Bewußtsein im Hier und Jetzt und ozeanisches Fest.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 383

„Was die Gesellschaft uns als Zwecke in ihrem Betrieb vorgibt, bindet uns immer schon ins uneigentliche Dasein. Der Weltbetrieb tut alles, um den Tod zu verdrängen - während doch »eigentliches« Existieren sich erst daran entzündet, daß ich wach erkenne, wie ich in der Welt stehe, Aug in Aug mit der Todesangst, die sich meldet, wenn ich im voraus radikal den Gedanken vollziehe, daß ich es bin, auf den am Ende meiner Zeit mein Tod wartet. Heidegger folgert hieraus eine ursprüngliche Un-heimlichkeit des Daseins; die Welt könne ja niemals das sichere, Geborgenheit spendende Zuhause des Menschen werden. Weil das Dasein von Grund auf unheimlich ist, spürt der »unbehauste Mensch« (...) einen Drang, sich in künstliche Behausungen und Heimaten zu flüchten und sich aus der Angst in die Gewöhnungen und Wohnungen zurückzuziehen.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 384

„Heidegger ist nicht umsonst ein Zeitgenosse des Bauhauses, des Neuen Wohnens, des frühen Urbanismus, des Sozialwohnungsbaus, der Siedlungstheorie und der ersten Landkommunen. Sein philosophischer Diskurs hat verschlüsselt Anteil an der modernen Problematisierung der Wohngefühle, des Mythos Haus, des Mythos Stadt. Wenn er von der Unbehaustheit des Menschen redet, so ist das nicht nur gespeist aus dem Grauen, das der unverbesserliche Provinzler angesichts moderner großstädtischer Lebensformen empfindet. Es ist geradezu eine Absage an die häuserbauende, städtebauende Utopie unserer Zivilisation. Tatsächlich bedeutet der Sozialismus, sofern er lndustriebejaher sein muß, eine Verlängerung des städtischen »Geistes der Utopie«; er verspricht ja, aus der »Unwirtlichkeit der Städte« hinauszuführen, jedoch mit städtischen Mitteln, und hat eine neue Stadt, die endgültige Menschenstadt und Heimat vor Augen. So steckt im Sozialismus dieses Typs immer schon ein von städtischer Misere mitgenährter Traum. Heideggers Provinzialismus hat dafür kein Verständnis. Er blickt auf die Stadt mit den Augen einer »ewigen Provinz«, die sich nicht einreden läßt, daß je etwas Besseres an die Stelle des Landes treten könnte. Heidegger, so darf der gutwillige lnterpret sagen, durchbricht die modernen Raumphantasien, wobei die Stadt vom Land träumt und das Land von der Stadt. Beide Phantasmen sind gleich bedingt und gleich verzerrt. Heidegger vollzieht, teils buchstäblich, teils metaphorisch verstanden, eine »posthistorische« Rückkehr aufs Land.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 384-386

„Gerade in den Jahren der wüstesten Modernisierung - den sog. goldenen Zwanzigern - beginnt die Stadt, einst der Ort der Utopie, ihren Zauber einzubüßen, und vor allem Berlin, Hauptstadt des frühen 20. Jahrhunderts, trägt das Seine dazu bei, die Metropoleneuphorie in ein ernüchterndes Licht zu tauchen. Als Brennpunkt der Industrie, der Produktion, des Konsums und des Massenelends ist sie zugleich der Entfremdung am meisten ausgeliefert; nirgendwo läßt sich Modernität so teuer bezahlen wie in den Massenstädten. Das Vokabular der Heideggerschen Man-Analyse scheint wie geschaffen, dem Unbehagen gebildeter Städter an der eigenen Lebensform Ausdruck zu geben. Zerstreuungskultur, Gerede, Neugier, Unbehaustheit, Verfallenheit (an alle möglichen Laster dürfte man mitdenken), Obdachlosigkeit, Angst, Sein zum Tode: das klingt alles wie Großstadtmisere, in einem etwas trüben, etwas zu feinen Spiegel eingefangen. Heideggers Provinzkynismus hat eine heftige kulturkritische Tendenz. Aber es bezeugt nicht nur einen hoffnungslosen Provinzialismus, wenn ein Philosoph seines Ranges sich von den bürgerlich-städtischen und sozialistischen Utopien abkehrt, sondern deutet auf eine kynische Kehre, in dem Sinne, daß sie die großen Ziele und Projektionen des städtischen Gesellschaftstraums außer Kraft setzt. Die Wendung zur Provinz kann auch eine Wendung zu wirklicher Makrohistorie sein, die von den Regulierungen des Lebens im Rahmen von Natur, Agrikultur und Okologie präziser Notiz nimmt, als alle bisherigen Industriewelt bilder es konnten. Die Geschichte, die ein Industriehistoriker schreibt, wird notgedrungen Mikrohistorie. Die Geschichte des Landes kennt den Puls einer viel gröeren Zeitlichkeit. Auf kurze Formeln gebracht: die Stadt ist nicht die Erfüllung der Existenz; die Ziele des Industriekapitalismus sind es auch nicht; wissenschaftlicher Fortschritt ist es auch nicht; mehr Zivilisation, mehr Kino, schöner Wohnen, länger Autofahren, besser Essen: das alles ist es nicht. Das »Eigentliche« wird immer etwas anderes sein. Du mußt wissen, wer du bist. Bewußt mußt du das Sein zum Tode erfahren als höchste Instanz deines Seinkönnens; in der Angst fällt es dich an, und dein Augenblick ist gekommen, wenn du mutig genug bist, der großen Angst standzuhalten. “
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 386-387

„»Eigentliche Angst ist ... bei der Vorherrschaft des Verfallens und der Öffentlichkeit selten« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 190). Wer auf das Seltene setzt, trifft eine elitäre Wahl. Eigentlichkeit sei also eine Sache der wenigen. Woran erinnert das? Hören wir nicht wieder den Großinquisitor, wie er zwischen den wenigen und den vielen unterscheidet - den wenigen, die die Last der großen Freiheit ertragen, und den vielen, die als rebellische Sklaven leben wollen und nicht bereit sind, wirklicher Freiheit, wirklicher Angst, wirklichem Sein zu begegnen? Dieser völlig apolitisch gemeinte Elitismus, der eine Elite der wirklich Existierenden annimmt, mußte fast unweigerlich ins Gesellschaftliche hinübergleiten und politische Optionen lenken. Der Großinquisitor besaß hierbei den Vorsprung eines illusionslosen und zynischen politischen Bewußtseins. Heidegger hingegen war ein Naiver geblieben, ohne klares Bewußtsein dessen, daß aus dem traditionellen Gemisch von akademischem Apolitismus, Elitebewußtsein und heroischer Stimmung fast mit blinder Notwendigkeit unbegriffene politische Entscheidungen hervorgehen. Eine Zeitlang fiel er - man möchte sagen also - auf den Zynismus des völkischen Großinquisitors herein. Seine Analyse bewahrheitete sich unfreiwillig an ihm selbst. Alles sieht aus wie. Es klingt wie »echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht«. Der Nationalsozialismus - »Bewegung«, »Aufstand«, »Entscheidung« - schien Heideggers Vision von Eigentlichkeit, Entschlossenheit und heroischem Sein zum Tode zu ähneln, als wäre der Faschismus die Wiedergeburt des Eigentlichen aus der Verfallenheit, als wäre diese moderne Revolte gegen die Modernität der wirkliche Beweis einer zu sich selbst entschlossenen Existenz. Man muß an Heidegger denken, wenn man Hannah Arendts souveräne Bemerkung über jene Intellektuellen im Dritten Reich zitiert, die zwar keine Faschisten waren, sich aber zum Nationalsozialismus »etwas einfallen ließen«. Tatsächlich hat sich Heidegger allerhand einfallen lassen, bis er merkte, was es »eigentlich« mit dieser politischen Bewegung auf sich hatte. Der Trug konnte nicht lange dauern. Gerade die NS-Bewegung sollte klarmachen, was das völkische Man alles in petto hat - das Man als Herrenmensch, das Man als zugleich narzißtische und autoritäre Masse, das Man als Lustmörder und Tötungsbeamter. Die »Eigentlichkeit« des Faschismus - seine einzige - bestand darin, daß er latente Destruktivität in manifeste verwandelte und somit in höchst zeitgemäßer Weise teilnahm an dem Zynismus offener »Ausgesprochenheit«, die mit nichts mehr hinterm Berg hält. Faschismus, vor allem in der deutschen Spielart, ist die » Unverborgenheit« der politischen Destruktivität, auf die nackteste Form gebracht und durch die Formel vom »Willen zur Macht« zu sich selbst ermutigt. Es geschah, als ob Nietzsche in der Art eines Psychotherapeuten zur kapitalistischen Gesellschaft gesagt härte: »Vom Willen zur Macht seid ihr im Grund ja zerfressen, also laßt es endlich offen heraus und bekennt euch zu dem, was ihr ohnehin seid!« *  -  woraufhin die Nazis tatsächlich dazu übergingen, »es« heraus zulassen, jedoch nicht unter therapeutischen Bedingungen, sondern inmitten der politischen Realität.
* Eine Würdigung Nietzsches wird immer stark davon abhängen, wie man den » Willen zur Macht« auffaßt. Ermunterung zu imperialem Zynismus? Kathartisches Geständnis ? Ästhetisches Motto ? Selbstkorrektur eines Gehemmten ? Vitalistischer Slogan? Metaphysik des Narzißmus? Enthemmungspropaganda?
Vielleicht war es Nietzsches theoretischer Leichtsinn, der ihn glauben ließ, daß Philosophie sich in provokativen Diagnosen erschöpfen dürfe, ohne zugleich verbindlich an Therapie zu denken. Den Teufel darf nur beim Namen nennen, wer eine Abreaktion für ihn weiß; ihn nennen (sei es Wille zur Macht, sei es Aggression etc.) heißt, seine Realität anerkennen, sie anerkennen heißt, sie »entfesseln«.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 387-390

„Seit Heidegger ist, stark chiffriert, aber doch schon lesbar, ein Abkömmling des antiken kynischen Impulses wieder dabei, zivilisationskritisch ins soziale Geschehen einzugreifen; er führt letztendlich das moderne Technik- und Herrschaftsbewußtsein ad absurdum. Vielleicht nimmt man der Existentialontologie viel von ihrer anmaßenden Düsterkelt, wenn man sle als phllosophlsche Eulenspiegelei versteht. Sie macht den Leuten allerhand vor, um sie dahin zu bringen, wo sie sich nichts mehr vormachen lassen; sie gibt sich furchtbar spröde, um das Emfachste zu vermltteln. Ich nenne es: Kymsmus der Zwecke. Inspiriert vom Kynismus der Zwecke könnte einem Leben wieder warm werden, das am Zynismus der Mittel die Kälte des Machens, Herrschens und Zerstörens erlernt hat. Die Kritik der instrumentellen Vernunft drängt darauf, als Kritik der zynischen Vernunft zuendegeführt zu werden. In ihr geht es darum, Heideggers Pathos zu entkrampfen und es von der Anklammerung an das bloße Todesbewußtsein zu befreien. »Eigentlichkeit«, wenn der Ausdruck überhaupt Sinn geben soll, erfahren wir eher in Liebe und sexuellem Rausch, in Ironie und Gelächter, Kreativität und Verantwortung, Meditation und Ekstase. Bei dieser Entkrampfung verschwindet jener existentialistische Einzige, der am eigenen Tod sein eigenstes Eigentum zu haben meint. Auf dem Gipfel des Seinkönnens erfahren wir nicht nur den Weltuntergang im einsamen Tod, sondern mehr noch den Ich-Untergang in der Hingabe an die gemeinsamste Welt. “
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 390

„Zugegeben, der Tod hat zwischen den Weltkriegen die philosophische Phantasie überschattet und das ius primae noctis mit dem Kynismus der Zwecke für sich beansprucht, zumindest in der Philosophie. Doch sagt es nichts Gutes über das Verhältnis der Existenzphilosophie zur realen Existenz, wenn ihr nur der »eigene Tod« in den Sinn kommt, wenn man sie fragt, was sie zum wirklichen Leben zu sagen habe. Eigentlich sagt sie, daß sie nichts zu sagen hat - und zu diesem Zweck muß sie nichts mit großem N schreiben. Dieses Paradox kennnzeichnet die gewaltige Denkbewegung des Buches Sein und Zeit: ein so großer Begriffsreichtum wurde kaum je eingesetzt, um einen im mystischen Sinne so »armen« Inhalt zu transportieren. Das Werk dringt auf den Leser ein mit einem pathetischen Aufruf zur eigentlichen Existenz, hüllt sich aber in Schweigen, wenn man fragen wollte: wie denn? Die einzige, allerdings fundamentale Antwort, die sich herausziehen ließe, müßte, entschlüsselt (im obigen Sinne) lauten: bewußt. Das ist keine konkrete Moral mehr, die Anweisungen zum Tun und Lassen gibt. Aber wenn der Philosoph nichts mehr an Direktiven zu geben vermag, so doch eine eindringliche Suggestion zur Eigentlichkeit. Also: Du magst tun, was du willst, du magst tun, was du mußt; aber tu es in einer Weise, daß du dir dessen, was du tust, intensiv bewußt bleiben kannst. Moralischer Amoralismus - das letzte mögliche Wort der Existentialontologie zur Ethik? Es scheint, das Ethos bewußten Lebens wäre das einzige, das in den nihilistischen Strömungen der Moderne sich behaupten kann, weil es im Grunde genommen keines ist. Es erfüllt nicht einmal die Funktion einer Ersatzmoral (von der Art der Utopien, die das Gute in die Zukunft legen und das Böse auf dem Weg dorthin relativieren helfen). Wer wirklich im Jenseits von Gut und Böse denkt, findet nur noch einen einzigen für das Leben belangvollen Gegensatz, der zugleich der einzige ist, über den wir ohne idealistische Überanstrengungen aus unserem eigenen Dasein heraus Macht haben: den zwischen bewußtem und unbewußtem Tun. Wenn Sigmund Freud in einer berühmten Forderung den Satz aufstellte: Wo Es war, soll Ich werden, würde Heidegger sagen: Wo Man war, soll Eigentlichkeit werden. Eigentlichkeit wäre - frei interpretiert - jener Zustand, den wir erlangen, wenn wir in unserem Dasein ein Kontinuum der Bewußtheit herstellen. (Dies ist ein modemes Äquivalent für das Delphische Erkenne-Dich-Selbst. Das Freudsche Ich fällt eher ins Man. Ist der Psychoanalysierte ein Angepaßter, Nivellierter?) Nur das bricht den Bann der Unbewußtheit, unter dem menschliches Leben, zumal als vergesellschaftetes, lebt; das zerstreute Bewußtsein des Man ist dazu verurteilt, diskontinuierlich, impulsiv-reaktiv, automatisch und unfrei zu bleiben. Das Man ist das Müssen. Demgegenüber erarbeitet sich bewußte Eigentlichkeit - wir akzeptieren provisorisch diesen Ausdruck - eine höhere Qualität von Wachheit. Sie legt in ihr Tun den ganzen Nachdruck ihrer Entschiedenheit und Energie. Der Buddhismus spricht davon in vergleichbaren Wendungen. Während das Man-Ich schläft, ist das Dasein des eigentlichen Selbst zu sich erwacht. Wer sich selbst in einem kontinuierlichen Wachsein erforscht, findet aus seiner Situation, jenseits der Moralen, was für ihn zu tun ist.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 390-392

„Wie tief Heideggers systematischer Amoralismus **  reicht, zeigt sich an seiner Umdeutung des Begriffs Gewissen: er konstruiert, zugleich vorsichtig und revolutionär, ein »gewissenloses Gewissen«.
** Dieser reflektierte Amoralismus, der paradoxerweise das stumme Versprechen einer authentischen Sittlichkeit in sich trägt, hat seinen Gegner im sozialistischen Moralismus gefunden. Auch die jüngere kritische Theorie hat sich von dem sensibilistischen Quasi-Amotalismus der ästhetischen Theorie Adornos losgesagt und steuert in direkter Argumentation auf eine positive Ethik zu. Das mag in gewisser Hinsicht einen Fortschritt bedeuten - wenn es nur der Gefahr entgeht, hinter die radikale Modernität des existentialistischen und ästhetischen Amoralismus zurückzufallen. Dieser verarbeitet ja bereits die modernen Erfahrungen mit jeglicher Moral und allen Kategorischen Imperativen: weil diese Formen des »Sollens« in idealistischen Überanstrengungen enden, gebiert die imperative Ethik ihre eigenen Totengräber - Skepsis, Resignation, Zynismus. Der Moralismus treibt uns mit seinem Du-sollst unweigerlich in ein Ich-kann-nicht. Der Amoralismus hingegen, der vom Du-kannst ausgeht, rechnet realistisch mit der Chance, daß das, was »ich kann«, am Ende auch das Richtige sein wird. Die Wendung zur praktischen Philosophie, die jedes heutige halbwegs weltgängige Grundlagendenken erfreulich auszeichnet, darf uns nicht in Versuchung bringen, wieder mit einem kategorischen Imperativ auf das Sein loszugehen. Kynische Vernunft entwickelt daher eine nichtimperative Ethik, die zum Können ermutigt, statt uns in die depressiven Komplikationen des Sollens zu verstricken.
Galt Gewissen in den Jahrtausenden der europäischen Moralgeschichte als innere Instanz, die mir sagt, was Gut und Böse seien, so versteht Heidegger es nun als ein leeres Gewissen, das keine Aussagen macht. »Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 273) Wieder erscheint Heideggers charakteristische Denkfigur, die nichts-sagende Intensität. Jenseits von Gut und Böse gibt es nur das »laute« Schweigen, das in tensive nicht-urteilende Bewußtsein, das sich darauf beschränkt, wach zu sehen, was der Fall ist. Gewissen - einst als inhaltliche moralische Instanz verstanden - nähert sich nun dem puren Bewußt-Sein. Moral, als Teilhabe an sozialen Konventionen und Prinzipien, betrifft nur das Verhalten des Man. Als Domäne des eigentlichen Selbst bleibt nur reines entschlossenes Bewußtsein zurück: vibrierende Präsenz. “
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 392-393

„In einem pathetischen Gedankengang entdeckt Heidegger, daß dieses »gewissenlose Gewissen« einen Aufruf enthalte, der an uns ergeht - einen »Aufruf zum Schuldigsein«. Schuldig woran? Keine Antwort. Ist »eigentliches« Leben in irgendeiner Hinsicht denn a priori schuldig? Kehrt hier die christliche Erbsündenlehre heimlich wieder? Dann hätten wir den Moralismus nur zum Schein verlassen. Wenn aber das eigentliche Selbst sein als das Sein zum Tode beschrieben wird, so liegt der Gedanke nahe, daß dieser »Aufruf zum Schuldigsein« eine existentielle Verbindung herstellt zwischen dem eigenen Noch-am-Leben-Sein und dem Tod der anderen. Leben als Sterbenlassen; der eigentlich Lebende ist einer, der sich als Überlebenden versteht, als jemand, an dem der Tod eben noch vorübergegangen ist und der den Zeitraum bis zur erneuten, definitiven Begegnung mit dem Tod als Aufschub begreift. In diese äußerste Grenzzone amoralischer Reflexion dringt Heideggers Analyse sinngemäß vor. Daß er sich bewußt ist, auf explosivem Boden zu stehen, verrät seine Frage: »Aufrufen zum Schuldigsein, sagt das nicht Aufruf zur Bosheit?« Könnte es eine »Eigentlichkeit« geben, in der wir uns als entschiedene Täter des Bösen zeigen? So wie die Faschisten sich auf Nietzsches Jenseits von Gut und Böse beriefen, um äußerst diesseitig das Böse zu tun? Heidegger schreckt vor dieser Konsequenz zurück. Der Amoralismus des »gewissenlosen Gewissens« ist nicht als Aufruf zur Bosheit gemeint, so wird versichert. Immerhin macht sich der Heidegger von 1927 noch diese ahnungsvolle Sorge, versäumte aber 1933 den Augenblick der Wahrheit - und so ließ er sich von der aktivistischen, dezisionistischen und heroischen Phrasenhülle der Hitlerbewegung täuschen. Der politisch Naive glaubte, im Faschismus eine »Politik der Eigentlichkeit« zu finden und gestattete sich, ahnungslos wie nur ein ... Universitätsprofessor sein konnte, eine Projektion seiner Philosopheme auf die nationale Bewegung.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 393-394

„Doch es gilt zu sehen: Heidegger wäre, seiner zentralen, Denkleistung nach, auch dann kein Mann der Rechten, wenn er politisch noch verworrenere Sachen gesagt hätte, als es der Fall ist. Denn er sprengte mit seinem, wie ich es nenne, Kynismus der Zwecke als erster die utopisch-moralistischen Großtheorien des 19. Jahrhunderts. Er bleibt mit dieser Leistung einer der Ersten in der Genealogie einer Neuen und Anderen Linken: einer Linken, die sich nicht mehr an die hybriden geschichtsphilosophischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts klammert; die sich nicht im Stil der dogmatisch-marxistischen Großtheorie (ich ziehe diesen Ausdruck dem Wort Weltanschauung vor) für die Komplizin des Weltgeistes hält; die nicht auf die Dogmatik der industriellen Entwicklung ohne Wenn und Aber eingeschworen ist; die die borniert materialistische Tradition, die sie belastet, revidiert; die nicht nur davon ausgeht, daß die anderen sterben müssen, damit die »eigene Sache« durchkommt, sondern die aus der Einsicht lebt, daß es dem Lebendigen nur auf sich selbst ankommen kann; die in keiner Weise mehr an dem naiven Glauben hängt, Vergesellschaftung wäre das Allheilmittel gegen die Mißstände der Modernität. Ohne es zu wissen und zum guten Teil sogar ohne es wissen zu wollen (hierzulande sogar mit wütender Entschlossenheit, es nicht wahrzuhaben), ist die Neue Linke eine existentialistische Linke, eine neo-kynische Linke ich riskiere den Ausdruck: eine Heideggersche Linke. Das ist, besonders im Land der Kritischen Theorie, die ein schier undurchlässiges Tabu über den »faschistischen« Ontologen verhängt hat, ein ziemlich pikanter Befund. Doch wer hat die Abstoßungsvorgänge zwischen den existentialistischen Richtungen und der links-hegelianischen kritischen Sozialforschung gründlich und genau untersucht? Gibt es nicht eine Fülle geheimer Ähnlichkeiten und Analogien zwischen Adorno und Heidegger? Welche Gründe beherrschen die augen fällige Kommunikationsverweigerung zwischen ihnen? (Dieser Fragen hat sich jüngst Hermann Mörchens große Studie über Heidegger und Adorno angenommen.) Wer könnte sagen, welcher von beiden die »traurigere Wissenschaft« formuliert hat?“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 394-396

„Wir haben den Zynismusbegriff bisher in zwei Fassungen vorgetragen, und eine dritte zeichnet sich nach dem Kabinett der Zyniker ab. In der ersten heißt es: Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein - das unglückliche Bewußtsein in modernisierter Form. Der Ansatz ist hierbei ein intuitiver, bei einem Paradox beginnend; er artikuliert ein Unbehagen, das die moderne Welt durchtränkt sieht von kulturellen Wahnwitzigkeiten, falschen Hoffnungen und deren Enttäuschung, vom Fortschritt des Verrückten und vom Stillstand der Vernunft, von dem tiefen Riß, der durch die modernen Bewußtseine geht und der für alle Zeiten das Vernünftige und das Wirkliche, das, was man weiß, und das, was man tut, voneinander zu trennen scheint. Bei der Beschreibung gelangten wir zu einer Pathographie, die schizoide Phänomene abtastete; sie versuchte, Worte zu finden für die pervers komplizierten Strukturen eines reflexiv gewordenen, fast mehr tristen als falschen Bewußtseins, das unter Zwängen der Selbsterhaltung in einem permanenten Selbstdementi abgewirtschaftet weiterwirtschaftet.  –  In der zweiten Fassung bekommt der Begriff Zynismus eine historische Dimension; eine Spannung zeigt sich, die in der antiken Zivilisationskritik unter dem Namen Kynismus erstmals Ausdruck gefunden hatte. der Drang von Individuen, gegen die Verdrehungen und Halbvernünftigkeiten ihrer Gesellschaften sich selbst als vollvernünftig-lebendige Wesen zu erhalten, Dasein im Widerstand, im Gelächter, in der Verweigerung, in der Berufung auf die ganze Natur und das volle Leben .... Den Begriff Zynismus reservieren wir für die Replik der Herrschenden und der herrschenden Kultur auf die kynische Provokation; sie sehen durchaus was Wahres daran, fahren aber mit der Unterdrückung fort. Sie wissen von nun an, was sie tun. Der Begriff erfährt hier eine Aufspaltung ins Gegensatzpaar: Kynismus - Zynismus, das sinngemäß korrespondiert mit Widerstand und Repression, genauer: Selbstverkörperung im Widerstand und Selbstspaltung in der Repression. Vom historischen Ausgangspunkt wird damit das Phänomen Kynismus abgelöst und zum Typus stilisiert, der historisch immer wieder auftaucht, wo in Krisenzivilisationen und Zivislisationskrisen die Bewußtseine aufeinanderstoßen. Kynismus und Zynismus sind demnach Konstanten unserer Geschichte, typische Formen eines polemischen Bewußtseins »von unten« und »von oben«. In ihnen kommt das Widerspiel von Hoch- und Volks-Kulturen als die Enthüllung der Paradoxien im Innern der hochkulturellen Ethiken zur Entfaltung.  –  Hier wird nun die dritte Fassung des Zynismusbegriffs weitergehen zu einer Phänomenologie polemischer Bewußtseinsformen. Die Polemik dreht sich allemal um die richtige Erfassung der Wahrheit als »nackter« Wahrheit. Das zynische Denken nämlich kann nur erscheinen, wo von den Dingen zwei Ansichten möglich geworden sind, eine offizielle udn eine inoffizielle, eine verhüllte und eine nackte, eine aus der Sicht der Helden und eine aus der Sicht der kammerdiener. In einer Kultur, in der man regelmäßig belogen wird, will man nicht bloß die wahrheit wissen, sondern die nackte Wahrheit. Wo nicht sein kann, was nicht sein darf, muß man herausbringen, wie die »nackten« Tatsachen ausehen, egal, was die Moral dazu sagen wird. In gewisser Weise sind »herrschen« und »lügen« synonyme. Herrscherwahrheit und Dienerwahrheit lauten verschieden. In dieser phänomenologischen Sichtung streitbarer Bewußtseinsfromen müssen wir die Parteinahme zugunsten des kynischen Standpunktes »aufheben« ....“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 399-401

„Ich plädiere für eine Fortsetzung des phänomenologischen Weges.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 601

„Die Neugier nach den Gründen der Neugier sucht - auch sie sucht (!) - nach Aufklärungen über die Aufklärung und muß sich darum ihrerseits nach den Gründen ihrer Neugier befragen lassen. Die Säkularisation der Erbsündeklärerische Neigungen? Reaktion? Unbehagen in der Aufklärung? Wir wollen wissen, was es mit dem Wissenwollen auf sich hat. Zuviel »Wissen« gibt es, von dem man aus den verschiedensten Gründen wünschen dürfte, wir hätten es nicht gefunden und keine »Aufklärung« darüber gewonnen. Unter den »Erkenntnissen« sind allzu viele angsterregende. Wenn Wissen Macht ist, so begegnet uns heute das einstige Unheimliche, die undurchschaute Macht in der Form von Erkenntnissen, von Transparenz, von durchschaubaren Zusammenhängen. Wenn einst Aufklärung - in jedem Wortsinn - der Angstminderung durch Mehrung von Macht diente, so ist heute ein Punkt erreicht, wo Aufklärung in das einmündet, was zu verhindern sie angetreten war, Amngstmehrung. Das Unheimliche, das abgewendet werden sollte, kommt aus dem Schutzmittel wieder zum Vorschein.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 602-603

„Rationalismus und Mißtrauen sind verschwisterte Impulse, beide eng mit der gesellschaftlichen Dynamik der aufsteigenden Bourgeosie und des neuzeitlichen Staates verbunden. Im Ringen verfeindeter und konkurrierender Subjekte und Staaten um Selbsterhaltung und Hegemonie wird eine neue From von Realismus hervorgetrieben - eine, die ihren Motor in der Sorge besitzt, Opfer von Täuschung oder Überwältigung zu werden. Alles, was uns »erscheint«, könnte ja ein Täuschungsmanöver eines überwältigenden, bösen Feindes sein. Descartes geht in seinem Zweifelsbeweis bis zu der monströsen Erwägung, es möchte vielleicht die ganze Erscheinungswelt nur ein zu unserer Täuschung berechnetes Blendwerk des genius malignus sein.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 603

„Aufklärung besitzt in ihrem Kern einen polemischen Realismus, der den Erscheinungen den Krieg erklärt: nur noch die nackten Wahrheiten, die nackten Tatsachen sollen gelten. Denn die Täuschungen, mit denen der Aufklärer rechnet, werden als zwar raffinierte, aber doch durchschaubare, entlarvbare Manöver eingeschätzt. Verum et fictum convertuntur. Die Täuschungen sind durchschaubar, weil sie selbstgemacht sind. Was sich in dieser Welt von selbst versteht, sind Betrogenwerden, Drohung, Gefahr, nicht Offenheit, Angebot, Sicherheit. Wahrheit ist also nie »einfach so« zu haben, sondern nur im zweiten Anlauf, als Produkt der Kritik, die zerstört, was zuvor der Fall zu sein schien. Wahrheit wird nicht harmlos und kampflos »entdeckt«, sondern errungen in einem mühseligen Sieg über ihre Vorgänger, die ihre Maskierung und ihr Gegenteil sind. Die Welt platzt aus den Nähten vor Problemen, Gefahren, Täuschungen und Abgründen, sobald der Blick mißtrauischer Forschung sie durchdringt.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 603-604

„Wir folgten im Groben der Reihe der Kardinalzynismen, um in sechs Schritten die wesentlichen Manifestationen und Dimensionen von »Aufklärung« asl polemischer Empirie abzuhandeln: Krieg und Spionage; Polizei und Aufklärung im Klassenkampf; Sexualität und Selbstverfeindung; Medizin und Krankheitsverdacht; Tod und Metaphysik; Naturwissenschaft und Waffentechnik. Daß diese polemische Phänomenologie einen Zirkel vom Kriegswissen zur Naturwissenschaft von der Waffe schlägt, ist nicht zufällig; wir bereiten hier »Transzendentale Polemik« des nächsten Abschnitts vor; sie beschreibt, wie hinter einer Reihe von Neugierden Kampfzwänge wirken, die die »Erkenntnisinteressen« steuern. In dieser Phänomenologie vollziehen wir die charakteristischen Tastbewegungen einer sich selbst noch suchenden »Vollmoderne«, die es lernt, die Produktivität des cartesischen Zweifels zu bezweifeln und den Maßlosigkeiten des aufkläreroischen Mißtrauens zu mißtrauen.“
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 604-605

„Wenn die Gespenster herrschen, beginnt die Epoche der Psychologie. Psychologie ist selbst nichts anderes als eine Philosophie, die Buße tut - Buße für die gespenstischen Folgen des Ich-bin-Sagens.“
Peter Sloterdijk, Der Zauberbaum, 1985, S. 284

„Der Mensch ist ein offenes Tier. Er trägt alle Züge eines unvollendeten Lebewesens, das durch Anlage und Erziehung nur eine rohe Skizze seiner Werdensrichtung mit auf den Weg bekommt.“
Peter Sloterdijk, Der Zauberbaum, 1985, S. 288-289

„In Wahrheit gibt es aber gar keine Psychologie vom Menschen im status quo. Psychologie kann es eigentlich nur vom Tier geben oder von einem Gott. Für den Menschen kommt die Psychologie immer zur falschen Zeit, zu spät, weil er die einfache Beseeltheit des Tieres nicht mehr besitzt, zu früh, weil er die Psyche des vollendeten Menschen nicht erreicht hat.“
Peter Sloterdijk, Der Zauberbaum, 1985, S. 290

„Der Zwang zur Lüge gründet in der Natur der Wahrheit selbst, so wie der junge Nietzsche sie mit der unbefangenen Bekenntniswilligkeit des ungebrochenen Genius hinzuschreiben wagt; auch mit der gelösten Rezeptivität eines Mannes, der es für eine Auszeichnung hält, Schüler eines bedeutenden Geistes - Schopenhauers - zu sein. Aber was ist Wahrheit, in deren Natur es liegt, uns lügen zu machen? Nietzsche spricht es frei nach Schopenhauer aus: die Wahrheit besteht im Urschmerz, den das Faktum der Individuation über jedes Leben verhängt.“
Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, S. 80-81

„Der Wille zur Macht - ich lese ihn als eine selbsttherapeutische, wenn man will: allopathische Rezeptur, die mit den Mitteln des radikalsubjektivistischen Jargons bereits das fundamentalontologische Motiv der Gelassenheit verfolgt. Denn der Willenskern des Willens zur Macht meint ja etwas, was aus dem Willen herausführte; er will Gelassenheit - im Sinne eines Sichüberlassenkönnens an die Bedingtheiten seines Lebens und im Sinne eines Sichgehenlassendürfens, das in ein pures intelligentes Seinkönnen mündet. Um aber zu dürfen, was er will, braucht er - aus Erfahrung böse geworden - die Aufrüstung einer subjektivistisch geprägten Souveränität, die es nicht mehr nötig hätte, sich Urteilen und Hemmungen auszusetzen.“
Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, S. 101

„Apollo und Dionysos vertragen sich, wie Nietzsche darlegt, so ausgezeichnet, daß ihr historischer Kompromiß synonym werden könnte mit jeder Form von höherer Kultur; die Freudsche Kultur- und Neurosentheorie ist ja nur die Fortschreibung des Nietzscheschen Kompromißgedankens. Jedoch: Dionysos, die göttliche Leibhaftiggkeit, verträgt es nicht, ausschließlich auf den Altären der höheren Kultur verehrt zu werden. Seit jeher nimmt er auch die wilde Seite für sich in Anspruch und heißt nicht zuletzt deswegen der kommende Gott, weil er so mitreißend ist wie die sexuelle Ekstase, die das kommendste ist, was Menschen kennen. Sein Herrschaftsbezirk ist die rauschhafte Wildnis - sofern diese auch für Menschen in der Kultur eine lebensnotwendige Erfahrung darstellt; Kultur ist nur dann möglich, wenn das, was älter ist als sie und sie trägt, in ihr aufbewahrt bleibt.“
Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, S. 110

„Ich habe vor kurzem den Versuch unternommen, einen der verwickelten Fäden der Moderne in einer philosophischen Erzählung aufzurollen (gemeint ist: Der Zauberbaum, 1985; HB); ich wollte zeigen, wie die tiefenpsychologische Vermittlung von Leib und Welt nicht erst mit den Entwürfen von Nietzsche, Freud und Jung für neuzeitliche Individuen verbindlich geworden ist .... (Vgl. Peter Sloterdijk, Der Zauberbaum. Die Entstheung der Psychoanalyse im Jahr 1785, 1985). Das Unbewußte ist der Name für die Quellen, an welche die modernen, das heißt postreligiösen Rückbindungen der Subjektivität an das, was älter ist als sie, zurückführen. Der Leib und das Drama sind die materielle Grundlage dieses neuartigen Rückbindungsbewußtseins; im Leib und im Drama erfahren wir, wie die Enge des Subjekts aufbricht, wenn es sich nolens volens in den Weltenzusammenhang begibt, zu welchem es unbewußt längst gehörte und dem es ohnedies nie zu entgehen vermag. Jede Innerlichkeit ist tiefensomatisch verwoben in den Magnetismus des Allgemeinen (vgl. Mesmerismus; HB).“
Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, S. 176-177

„Ich weiß nicht, ob Sie sich an die Zeit erinnern, meine Damen und Herren, in der die meisten von uns noch den physiognomischen Blick haben - ich denke an das grausam hellsichtige Alter vor dem Einsetzen der Geschlechtlichkeit und des Vorstellens, ein Alter, in dem man mit einem Blick sieht, was einer ist: seinen Charakter, seine Launen, seine Geschichte, sein Wesen, seine Zukunft, alles zusammengedrängt in einer körperlichen Hieroglyphe, die vollkomen lesbar vor uns steht; über sie ist kein weiteres Wort zu verlieren, weil sie das Konzentrat all dessen darstellt, was sich selbst bedeutet und verrät.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 13

„Meine Damen und Herren, ich spiele gern mit der Vorstellung, daß jeder Mensch eine Silbe verkörpert, ein einmaliges unverwechselbares Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs zu Wort, zum Text.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 13-14

„Wäre unser Leben ein normales endliches Buch, so verbleiben bei ihm ... zwischen dem vorderen Einband und der Stelle, wo wir für uns selbst zu reden beginnen ein Bündel nicht aufzuschlagender Seiten. Das besagt nichts anderes, als daß für Menschen, als endlich sprechende Wesen, der Seinsanfang und der Sprachanfang unter keinen Umständen zusammenfallen. Denn fängt die Sprache an, so ist das Sein schon da; will man mit dem Sein beginnen, versinkt man im schwarzen Loch der Sprachlosigkeit.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 38

„Ich war schon zur Zeit meines Universitätsstudiums stark angezogemn vom Werk Wilhelm Diltheys, eines der Begründer der modernen Geisteswissenschaften. Dilthey war nicht nur der große Denker der geschichtlichen Tatsachen, der es sich vorgenommen hatte, eine Kritik der historischen Vernunft zu schaffen; er war auch der erste bemerkenswerte Theoretiker der Autobiographie. Dilthey ging an der Autobiographie ein philosophisches Problem ersten Ranges auf. Sehr vereinfacht gesprochen: Er gab sich auf die Frage: wie ist historische Erkenntnis überhaupt möglich? die Antwort: so wie autobiographische Selbstkenntnis möglich ist.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 40

„Ich komme auf die Idee einer radikalen Autobiographik zurück und erinnere an das Pathos des Zuständigseins für das ganze eigene Leben, einschließlich seiner dunklen Anfangsprägungen. .... Ist nicht die Anfangsvergessenheit, die fast alle natürlich vorkommenden Formen von Selbstbewußtsein prägt, selbst eine Tatsache, die im höchsten Grad zu denken geben müßte? Ist nicht die Enteignung des Selbstbewußtseins von seinem Beginn nicht auch ein verräterisches Faktum, das auf ein Fehlen deutet und so eloquent ist wie das Schweigen, mit denen in manchen Familien die Existenz gewisser Verwandter umgeben wird? Ich muß, wenn ich die Idee der Autobiographie an ihrer dunkelsten Stelle verteidigen will, daran festhalten, daß mein realer Seinsanfang zu mir gehört, auch wenn mein Erzählenkönnen nicht an ihn heranreicht.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 49

„Erst wenn er (Sokrates) selbst es soweit gebracht hat, keine Meinungen und keine Theorien mehr in die Welt zu setzen, kann er die Aufgabe übernehmen, die Meinungsschwangeren und Theoriegeblähten zu entbinden.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 83

„Damit die Seele zur Welt und unser Bestes zu sich und anderen komme, dürfen sich keine bestimmenden Vorstellungen und keine positiven Überzeugungen in ihr eingenistet haben. Um solchen Einnistungen auf die Spur zu kommen, verfährt die sokratische Maieutik konsequent aufdeckend und destruktiv. Ihr Ziel ist es, die Gesprächspartner in den Lichthof eines allbefassenden hellen Nichtwissens zu führen und sie zum Gewahrwerden der Unhaltbarkeit und Überflüssigkeit aller vorgefundenen fixen Meinungen zu bringen. .... Für diesen Vorgang (des Wissens, als wüßte man nicht) halten die Ideenhistoriker die mißverständliche Redensart vom Wissen des Nichtwissens bereit, durch die der Akzent auf Wissen sich wiederum einschleicht ....“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 85-86

„Die Geburtshilfe für die Seele wird dadurch wirksam, daß diese mit Hilfe von Widerlegungen und Beschämungen in ausweglose Lagen gebracht wird, durch die sie in den Schwebezustand des Nichtwissens zurückfällt. Wenn der Denkende nicht mehr ein noch aus weiß, ist er nicht mehr weit von der Weisheit. Paradoxerweise kommt die Seele der Denkenden nur dann rein zur Welt, wenn sie in eine fötale Negativität versetzt wird, in der sich keine weltseitigen Meinungen festhalten können. Die Maieutik ist somit ein Fötalisierungsverfahren (wie negativ müssen dann erst die Embryonisierungs- und Zygotisierungsverfahren sein? HB).“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 86

„Während die positiven Argumentationen im besten Fall heiße Köpfe machen, im schlimmsten zum Krieg führen, erzeugt der Durchbruch durch die Schale der Positivität eine integrale Erinnnerung an die Wehen. Denn man muß erst an der Barriere der Geburtsvergessenheit vorbeidenken und -fühlen, ehe sich das fötale Kontinuum auch im taghellen bewußten Leben wiederherstellt. Über die Art von Schülern, die sich ins Abenteuer der erotischen Anamnesis tief einlassen, weiß Sokrates mit Kennerschaft zu sagen: »›darin ergeht es denen, die mit mir umgehen wie den Gebärenden: sie haben nämlich Wehen und wissen sich nicht zu lassen bei Tag und Nacht, weit ärger als jene. Und diese Wehen kann meine Kunst erregen sowohl als stillen‹« (Platon, Sämtliche Werke, II, S. 572 ff., Übersetzung: Friedrich Schleiermacher). Die mit mir umgehen - das enthält einen Hinweis auf die Besonderheit des philosophischen Rapports, in dem sich der Psychagoge wie ein Psychoanalytiker ante litteram als Spezialist für unmögliches Begehren profiliert. Weit ärger als jene - das deutet an, daß in den Wehen der Frauen nur ein Teil der Qualen auftritt, die sich einstellen können, wenn in der Bewußtseinsnot der männlichen Erwachsenen das Zurweltkommen sich im ganzen und wie von innen her reproduziert. Während Frauen (in der Regel!) seit jeher zum Zurweltbringen von Kindern Zuflucht nehmen konnten ..., ist das männliche Bewußtsein vom Zwang, selbst zur Welt zu kommen, gekennzeichnet.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 87

„In der Hochkultur ist die Lage der Söhne allemal aussichtsreich ausweglos - im übrigen zeigt sich erst heute auch die Tragödie der Schwestern, seit die Frauen ihrerseits anfangen, sich der Unmöglichkeit, eine Tochter zu sein, zu stellen.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 93

„Der sich ins helle Nichtwissen zurücknehmende sokratische Weise übt erwachsen-kindliche Enthaltung von der Verursachung neuer weltlicher Wirkungsketten. Seine Negativität hat keinen anderen Sinn als den, die Seele aus der positivierten Welt als dem Schauplatz des Krieges zwischen Identitäten zurückzuziehen. Seine Weisheit ist die eines profanen Weltvorbehalts. Dieser appelliert jedoch an kein Jenseits, keine Transzendenz, sondern an die Fülle der Negativität, die zu den Geburtsrechten jedes Individuums gehört. Die sokratische Differenz zum Verblendungs- und Gewaltzusammenhang der positiven Meinungen wird nicht durch Lebensverzicht gewonnen, sondern durch die Erkenntnis, daß das für uns Beste nicht auf der Linie des Wissens, Wollens und Könnens liegt, sondern in der Zuwendung zu dem allbefassenden Nichtwissen, in dem auch das Können und Wollen zur Ruhe und zur Schwebe finden. Für Sokrates steht darum der Wg der Negativität allein noch offen.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 93-94

„Die Idee des Weltvorbehalts selbst, die, um philosophisch zu gelten, keine theologische sein darf, hängt ... ebenso in der Luft wie die Kriterien von Dissidenz und Konstruktivität, von Verweigerung und Teilhabe.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 95-96

„Entbindungsapriori .... Nicht Sprache und Kommunikation bilden die ersten Bedingungen der Möglichkeit, daß Menschen sich zu einer gemeinsamen Welt bringen, sondern die Entbindung jedes einzelnen Individuums aus der fötalen Kommunion mit der Mutter. Erst nach dieser kommunionellen »Grundlegung« und nach ihrer Sprengung kann es irgendwann einmal auch Kommunikation geben - aber nicht als erste Voraussetzung, sondern als spätes Resultat. Die deutsche Sprache ist in Entbindungssachen förmlich: die Mütter werden entbunden, die Kinder kommen zur Welt. Was auffällt, ist der konsequent privative Sinn der Vorsilbe »Ent« im Wort »Entbindung«. Eine Bindung wird aufgehoben, ..., Entbindung hat stattgefunden. Das Kind ... wird erst durch die Geburt ... an die Welt angeheftet.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 109-110

„Hier denkt Heidegger letztlich revolutionärer als die offiziellen Revolutionäre.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 122

„Wenn die paradoxe Redensart von einer »konservativen Revolution« einen Sinn haben soll, den wir bejahen können, weil er die dubiosen Konstruktionen, die im Deutschland der zwanziger Jahre unter diesem Titel zirkulierten, hinter sich gelassen hat, dann eben diesen: man muß radikal an der Vergegenwärtigung von Vergangenem festhalten, um eine Revolution im Vergangenen, das wir auf unbewußte Weise noch sind, als anderen Anfang möglich zu machen. Die Richtung dieser Revolution ist offenkundig: sie führt, wenn sie gelingt, vom Weltkrieg der namentlich gepanzerten Sekundärsubjektivität in die anonyme Innigkeit weltlöslicher Bewußtseine.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 128

„Unter den fünf bisher genannten Gesten oder Funktionen a priori (1. Entbindung, 2. Dringlichkeit, 3. Initiative, 4. Zurückstellung/Aufschub, 5. Bühne; HB) dieser Skizze einer kleinen Weltpoetik sind die geradzahligen ebenso zusammengehörig wie die ungeradzahligen. Die zweite (Dringlichkeit als 2. Funktion apriori; HB) und die vierte (Zurückstellung/Aufschub als 4. Funktion apriori; HB) richten die Welt als Zweithöhle für geborene Wesen ein, sie bauen an dem sekundären Uterus, der das Wesen von Zivilisation ausmacht, sie stiften durch Sorge für’s Dringende und durch Abfangen von Frontspannungen eine Innenwelt, in der sich’s mit Pflichten und Gewichten leben läßt. Sie sichern den Nachtschlaf und bringen Gleichmäßigkeit in die Tagesläufe. .... Ganz anders die ungeradzahligen Apriori. Was das Bewußtsein des »Subjekts« von seiner Befindlichkeit in der Entbindung (Entbindung als 1. Funktion apriori; HB) angeht, so geben über seinen realen Inhalt nur psychoseanaloge Zustände abgründige Auskunft. Bei der Vergegenwärtigung von perinataler Erfahrung handelt es sich stets um Ausnahmezustände der Psyche .... Bedingung für lebendige Erwachsenheit, die nur durch Abschied von der Kindertraumzeit zu erreichen ist - das heißt durch Austritt aus der Geburts- und Todesvergessenheit, die in der Moderne den Normalzustand auch bei Erwachsenen darstellt. Doch wer kein Baron Münchhausen ist und reale Elemente seiner Geburt bei sich selbst wiedererlebt, der kommt am Ende auch heute noch zur Welt, aber es vergeht ihm über seinen Eindrücken Hören, Sehen und Reden. Das Gegenteil hiervon gilt vom dritten, dem Intiativapriori (Initiative als 3. Funktion apriori; HB). Denn sobald es Menschen gelingt, an einen Selbstanfang zu kommen, wo sie sich setzen, entwerfen, übernehmen, so sind sie an einem Kraftpunkt von Aktion und Äußerung. .... Die fünfte Funktion schließlich, das Bühnenapriori (Bühne als 5. Funktion apriori; HB), ist unter den bisher genannten (es folgen nämlich noch die Sprachweitergabe als 6. Funktion apriori und der Freispruch bzw. das Versprechen als 7. Funktion apriori; HB) die im Weltbildungsprozeß wichtigste und anspruchsvollste. .... Wenn Entbindung schlechthin eröffnend ist und Initiative eröffnender, so ist das Sichaussetzen in das, was dadurch Bühne wird, das Eröffnendste.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 135-138

„Ich möchte das Zursprachekommen, das in unserem weltpoetischen Gedankengang nach wie vor fehlt, mit dem Phänomen Entbindung verknüpfen, mit dem die Reihe der welterzeugenden Gesten beginnt (siehe oben: Entbindung als 1. Funktion apriori; HB). Mütter ... werden entbunden, Kinder kommen zur Welt. Wenn Zuweltkommen für uns immer auch Zursprachekommen bedeutet, so drückt dies aus, daß wir als Weltankömmlinge uns zunächst alternativlos an eine Sprachwelt binden, in der das Gewicht der Welt auf jeden neuen Sprecher drückt. Wer auf eine Bühne geht, um das Seine zu sagen, bewegt in seiner Rede die Sorgenmasse eines konkreten Lebens. Zwischen einem, der spricht, und einem, der hört, werden stets Verhältnisse im Gewicht der Welt geklärt und verschoben. Um über das Wesentliche, das ich Sprache nenne, zu sprechen, müssen wir also eine weitere welteröffnende Funktion einführen, durch die wir als Angehörige einer Gemeinschaft von Trägern des Weltgewichts miteinander verbunden sind: ich bezeichne sie als das Weitergabeapriori (Sprachweitergabe als 6. Funktion apriori; HB). Aber indem wir uns illusionslos in diese Funktion der Sprache vertiefen, tut sich eine letzte welteröffnende Geste auf, die uns bis in die Atemzüge dieses Augenblicks bringt - ich nenne sie das Apriori des Freispruchs oder des Versprechens (Freispruch bzw. Versprechen als 7. Funktion apriori; HB). Die Tatsache, daß hier und jetzt so gesprochen werden kann, wie es geschieht, verdankt sich einerseits dem sechsten Element unserer Weltpoetik, das dem Sprachgeschehen vom Weitergabeapriori her nachgeht, andererseits der siebenten weltpoetischen Funktion, die ich das Apriori des Versprechens nenne und in der der Geist der Entbindung mit dem Atem des Freispruchs zusammenweht. Wenn es gelingt zu sagen, was es mit der Sprache als Freispruch auf sich hat, so müßten wir in das atemberaubende Feld gelangen, in dem der Blitz der Geburt im nicht mehr dunklen gelebten Augenblick einschlägt.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 153-154

„Ich füge hier die Bemerkung an, daß diese sieben welterzeugenden Gesten ... - Entbindung, Dringlichkeitsverarbeitung, Initiative, Zurückstellung, Bühneneröffnung, Sprachweitergabe und Freispruch - das Minimum an Komplexität enthalten, das nötig ist, um ein luzides Verhältnis zwischen Bewußtseinen und Welten überhaupt zu artikulieren.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 154

„Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zuerst das Weitergabeapriori kommentieren. An ihm wird sofort deutlich, warum die meisten bekannten Sprachtheorien in der Regel nur Oberflächlichkeiten erfassen. Die Sprache, die uns auf dem Weg der unmittelbaren Weitergabe nahegegangen ist, ist immer schon die Sprache unser politischen Geburtsgemeinschaft. Zu Recht gibt es bei uns die Redewenung, man werde in eine Gesellschaft »hineingeboren«. Im Licht des Weitergabeaprioris gesehen, muß die menschliche Geburtlichkeit fast unvermeidlich zur Fixierung an eine Nationalität führen. Nationen haben ihren Namen freiwillig-unfreiwillig von den Umstand her, daß sie Ordnungen von Natalitätsverhältnissen darstellen. In diesem Sinn müssen alle sozialen Verbände, seien sie politisch oder unpolitisch konstituiert, die auf dem Prinzip des Hineingeborenwerdens beruhen, als »Nationen« gelten - auch Stammeskulturen sind somit schon protonationale Gebilde, und selbst ein Weltstaat, dessen Mitgliedschaft man durch Hineingeborenwerden erwirbt, wäre noch eine natio.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 154

„Die Sprache, unter dem Aspekt der Weitergabe betrachtet, fügt sich bruchlos den beiden vorherigen geradzahligen Welterzeugungsgesten an. Wie die Sorge um Dringliches und wie die Entlastung der Gegenwart durch Zurückstellung von zu schweren Aufgaben gehören auch die Weitergabegesten, die sich als Sprache vollziehen, zu den urkonservativen Akten, durch die vom Beginn der Kulturen an der Welthöhlenbau betrieben wird.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 160-161

„Was die Weitergabegewalten zuletzt immer über den Geist der Freisprüche siegen läßt, ist die Positivierung der Versprechen und die Nationalisierung der Universalien. Eben dies ist das Prinzip der magischen Nationen, die Oswald Spengler entdeckt und benannt hat - und die man auch Taufnationen oder Religionsnationen nennen könnte. .... Aus dem positven Besitz der unbesitzbaren Befreiungssprachen ist in allen Hochkulturen ein Übermaß an Unheil erwachsen. Es könnte wohl sein, daß durch positivierte Erlösungsideen und Befreiungsversprechen mehr Leid in der Welt hervorgerufen wurde, als vor dem Auftreten solcher Ideen vorhanden war.“
Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 172-173

„Vormoderne Mentalitäten waren von keiner anderen Evidenz so tief durchdrungen wie von der: daß es immer anders kommt, als man denkt. “
Peter Sloterdijk, Eurotaoismus, 1989, S. 21

„Die Kinetik ist die Ethik der Moderne.“
Peter Sloterdijk, Eurotaoismus, 1989, S. 33

„Es ist eine Spezialität der postfaschistischen Deutschen, bewußt kein auserwähltes Volk mehr zu sein. Auf diese Weise präsentieren sie sich erneut als negatives Unikum.“
Peter Sloterdijk, Eurotaoismus, 1989, S. 296

„Die Menschen haben die Welt inzwischen immer nur verschieden verändert, es kommt darauf an, sie zu schonen.“
Peter Sloterdijk, im Film: Zur Welt kommen (Film), 1990

„Postmodernität ist Epoche »nach Gott« und nach den klassischen Imperien samt ihren lokalen Welteröffnungen. .... Lassen wir den theologischen Code beiseite, so hat Nietzsche in der Sache von dem gesprochen, was unsere Zeit mit Hoffnung und Schrecken inspiriert; irgend etwas ist tot und kann nur schneller oder langsamer zerfallen, irgendwie aber schreiten Leben und Zivilisation voran und steigern sich in übergriffene Neuheiten.“
Peter Sloterdijk, Im selben Boot, 1993, S. 51

„Aus den verwüsteten imaginären Sozial-Uterus-Konstruktionen stürzen Unzählige in nachpolitische Paniken und diffuse Verwahrlosungen ab, für die der Sammelname Postmodernität noch der zivilisierte Ausdruck ist. Dasselbe Phänomen kann im unteren Drittel der reichen Nationen wie in fast allen Schichten der armen auftreten. Beim Weltformwechsel erleben sich mit einem Male große Zahlen von Individuen und Familien als von allen guten politischen Geistern verlassen.“
Peter Sloterdijk, Im selben Boot, 1993, S. 58

Man mag dies systemisch deuten als einen Effekt, der notwendigerweise auftritt, wenn der postmoderne Geist der Bodenlosigkeit das politische Feld erfaßt. Der Staat wird eine Sandburg, der Absentismus frißt sich in alle solide scheinenden Strukturen hinein, die sozialen Bänder schleifen im Leeren - das Zeitalter »ohne Synthese«, von dem Robert Musil einst sprach, beginnt seine Forderungen zu erklären. Wenn nicht das westliche Wohlfahrts-System als Hilfs-Sozial-Uterus sich durch eine gewisse Funktionstüchtigkeit Anerkennung verschafft hätte, würde die Abwesenheit eines evidenten gemeinsamen Werks die Großgesellschaften industriezeitalterlichen Typs im Nu zerbröckeln lassen. Das aktuelle Ringen um Europa nach Maastricht macht erkennbar, wie die Reise in die zeitgemäße Hyperpolitik von den Zeitgenossen erlebt wird - als überschnelle Fahrt in ein Konfusions-Imperium, in dem man vor lauter Behörden den Staat nicht mehr sieht. Politik erscheint wie das Äquivalent zu einem chronischen Beinahe-Massen-Auffahrunfall auf einer nebeltrüben Autobahn. Von einer Lust am Zusammengehören kann in einer solchen Lage nicht die Rede sein. Das neue Große steigt nun hinter dem Horizont auf als die Monster-Internationale der Endverbraucher.
Peter Sloterdijk, Im selben Boot, 1993, S. 59

„Erst durch die Ereignisse von 1945 ist Europa wirklich zu dem geworden, was es nach der Entdeckung des neuen Westens durch Kolumbus in geographischer Hinsicht schon früher, zumindest dem Namen nach, geworden schien: Alte Welt.“
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 13

Der Zeitraum von 1945 bis 1989 tritt heute als eine kohärente psychohistorische Einheit vor Augen; deren Zusammenhang besteht, wie man zögernd begreift, im Eintreten und Ausklingen des europäischen Dezentrierungs-Schocks. Wir erreichen - noch immer ungläubig und gezeichnet von dem allesdurchdringenden Unwirklichkeits-Klima eines halben Jahrhunderts - das Ende unseres klinischen Zeitalters. Man darf sogar daran zweifeln, ob es für Menschen nach einer so langen Rekonvaleszenz überhaupt noch eine Entlassung in die Wirklichkeit geben kann. Europas traumatische Lektion von 1945 lag ohne Zweifel in der Demütigung durch seine Befreier.“
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 15

„Seither mußte europäische Politik immer auch eine Art Kur für überreizte Patienten bedeuten, die es nie gänzlich wahrhaben wollten, daß sie Rettung von außen nötig gehabt hatten (hatten sie doch gar nicht! HB). Wer unter Schock lebt, scheint den Faden seines Daseins verloren zu haben und wird bei seinen Versuchen, die Normalität wiederzufinden, den Eindruck machen, er tue nicht, was er möchte, sondern etwas statt dessen. Die Schockierten von 1945 (wer? HB) bilden keine Ausnahme von dieser Regel. Mit einem System von Ersatzhandlungen baut sich der alte Kontinent wider auf. Für seine Bewohner beginnt eine Ära der Vakuum-Ideologien, die allesamt die Aufgabe haben, den Absturz aus der Mitte der politischen Welt zu interpretieren und zu rechtfertigen. Unter diesem Gesichtspunkt gehören die rechten Doktrinen vom heilsamen Rückgang zu den Quellen der christlichen Demokratie im altabendländischen Humanismus mit den linken Theorien vom absurden Engagement freier Wesen in zufälligen »Situationen« (ja, grausam! HB) enger zusammen, als es ihren damaligen Vertretern bewußt sein konnte; solche katholisierenden und nihilisierenden Strömungen stehen ihrerseits in einer Linie mit den neuen Pragmatismen, die Europa endlich auf den Kurs einer ideologiefreien Marktwirtschaft anglo-amerikanischen Typs bringen wollen.
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 15-16

Beim Übergang vom Existentialismus zum Konsumismus erreichten die Europäer die noch immer anhaltende Nachkriegs-Nichtigkeit. Durch ihren Aufenthalt im chronischen Nuklearismus hatte sich bei vielen von ihnen ein extremer Grad der Empfindung für die Entwertung aller Dinge eingespielt. .... Jeder Zeitgenosse jener Jahre wird für den Rest seiner Lebenszeit vom nuklearen Nihilismus imprägniert bleiben.
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 18-19

Nicht weil, wie nach dem europäischen Massaker, die Toten in der Mehrheit zu sein schienen, fühlen wir den leeren Raum um uns herum aufklaffen und alle Institutionen wie auf Treibsand stehen - nein, haltlos sind wir geworden, weil die überall aufgelegten Listen von Optionen uns schwindeln machen. Welches Leben sollen wir probieren? Welchen Flug sollen wir buchen? Wir sind bodenlos, weil wir zwischen vierzehn Arten von Dressings wählen müssen. Die Welt ist eine Speisekarte, da heißt es bestellen und nicht verzweifeln. Dies ist der Grund der postmodernen Kondition. Du hast nur dieses eine Leben, also friß dich selber auf, laß nichts von dir übrig, die Reste kommen in den schwarzen Plastiksack.
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 20-21

„Die maßgeblichen europäischen Mächte unternahmen immer neue Anläufe, ein Reich nachzuspielen, das ihrer politischen Phantasie als unverlierbares Paradigma vorgeordnet blieb. So könnte man geradezu sagen, daß Europäer ist, wer in eine Übertragung des Reiches verwickelt wird. Dies gilt besonders für Deutsche, Österreicher, Spanier, Engländer und Fransosen, in manchen Hinsichten auch für Italiener und Russen. Der Ausdruck translatio Imperii ist also nicht nur eine mittelalterliche fixe Idee; er bedeutet mehr als die staatsrechtliche Konstruktion, mit der die sächsischen Kaiser nach der Krönung Ottos I. im Jahre 962 ihre Herrschaftsprogrammatik vortrugen; es ist nicht weniger als die ideo-motorische oder mytho-motorische* Zelle aller kulturellen, politischen und psychosozialen Prozesse, aus denen die Europäisierung Europas hervorgegangen ist. (* Den Ausdruck Mythomotorik hat m.W. Jan Assmann ... eingebracht. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis - Schrift, Erinnerungen und politische Identität in den frühen Hochkulturen, 1992.)“
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 34-35

„Bei Hitlers Anlauf zu einer kontinentalen großdeutschen Weltmachtstellung fusionierten zuletzt überständige Reste österreichischer und reichskatholischer Imperialität mit hochvirulenten Faktoren des protestantisch-preußischen kapitalistischen Neo-Imperialismus. Zugleich machten sich in der Errichtung des Sowjetimperiums nach 1917 Motive einer Reichsübertragung von Rom über Byzanz nach Moskau geltend. Im selben Jahr beschloß der us-amerikanische Präsident Woodrow Wilson - in eklatantem Bruch mit der isolationistischen Tradition seines Landes -, das imperial Erbe der Vereinigten Staaten anzunehmen und den Kreuzzug nach Europa zu tragen. (Noch die Darstellung des Generals Eisenhower von Amerikas Mission im 2. Weltkrieg spricht dieselbe Sprache: »Kreuzzug in Europa«.) Daher ist 1917 das Schlüsseljahr, in dem die europäische Mythomotorik zu stocken begann.“
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 40

„»Europa muß heute eine andere Form der Einheit erfinden als die eines Reiches«.“ (Jacques Le Goff, Das alte Europa und die Welt der Moderne).“
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 50-51

„Bei Vergils Idee, daß das Reichsganze seine Entstehung aus dem jahrhundertelangen römischen Kriegsglück einer politischen Vorsehung verdanke, mußten die nachfolgenden europäischen Universal- und Regionalimperien unvermeidliche Anleihen aufnehmen. Deswegen konnte man Vergil einen Vater des Abendlandes nennen. Die europäische Mythomotorik übernimmt mit der politischen Formidee Imperium von den Römern zugleich eine Neigung zur politischen Theologie des Reichserfolges.“
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 50-51

Der vorliegende Rechenschaftsbericht vom Anfang und Gestaltwandel der Sphären ist unseres Wissens der erste Versuch, nach dem Scheitern von Oswald Spenglers sogenannter Morphologie der Weltgeschichte wieder einem Formbegriff eine höchstrangige Stellung in einer anthropologischen und kulturtheoretischen Untersuchung zuzuweisen. Spenglers morphologische Prätentionen, mochten sie auch das Patronat Goethes bemühen, waren zum Mißerfolg verurteilt, weil sie an ihre Gegenstände einen Begriff von Form herantrugen, der deren Eigensinn und ihrer Geschichte unmöglich gerecht werden konnte. Es war bereits ein genialischer Gewaltstreich, Kulturen insgesamt als »Lebewesen höchsten Ranges« zu isolieren und diese zu fensterlosen Einheiten zu erklären, die ganz nach immanennten Gesetzen aufgehen und verfallen, und erst recht konnte es nicht ohne Forcierung abgehen, wenn Spengler seine Kulturen als jeweils tausendjährige Reiche einer regionalen Seelenstimmung deuten wollte - gewissermaßen als Seifenblasen höchster Ordnung, die durch Innenspannungen okkulter Natur in Form gehalten würden. Die unter dem Zeichen der Morphologie präsentierten Lebensbeschreibungen der acht von ihm anerkannten Kulturen mögen als Monument einer großen, vielleicht unvergleichlichen spekulativen und kombinatorischen Energie ihren Ehrenplatz in der Geschichte der Kulturphilosophien behaupten; doch wird man dieses Denkmal am besten in eine stille Nische stellen. Was die Anwendung morphologischer Begriffe in den Kulturwissenschaften anbelangt, so gehen von Spenglers Exempel bislang eher entmutigende Wirkungen aus. Unser eigener Versuch kann daher einem solchen Modell nicht allzuviel verdanken - es sei denn eine eindrucksvolle Belehrung über das, was in Zukunft zu meiden ist.“
Peter Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 78-79

Wenn hier von Sphären als Formen, die sich selbst realisieren, die Rede ist, dann in der Überzeugung, keine herangetragenen Begriffe zu benutzen, und wenn sie in gewisser Hinsicht doch herangetragen wären, dann auf eine Weise, zu der das Entgegenkommen der Sachen selbst ermuntert.“
Peter Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 79

„Über den Begriff Ortsraum und seine konstitutive Rolle in der neuzeitlichen Weltvorstellung vgl. Sphären II, 8. Kapitel, Die letzte Kugel ..., dort auch die nötigen Hinweise auf die Explikation des Begriffs im »System der Philosophie« von Hermann Schmitz.“
Peter Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 137

„Der Mensch stammt vom Werfen ab.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 43

„Der Mensch ist das Tier, das nach seiner Herkunft fragt.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 44

„Das Unwahrscheinlichste ... am Menschen, wie wir ihn kennen, ist dessen offensiv gewordene Gegennatürlichkeit, die wir unter den Titeln »Intelligenz« oder »Kultur« oder »Symbolkompetenz« diskutieren. Homo sapiens ist ohne Zweifel ein hybrides Tier, das auf eine mehr oder weniger dunkle Weise den Sprung aus der animalischen Umweltbefangenheit geschafft hat, um sich im Lauf seiner Kulturentwicklung aufzurichten ....“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 44

„Die wichtigste Innovation auf dem Weg zum Homo sapiens dürfte ein Mechanismus gewesen sein, der dafür sorgte, daß beim Menschen die Selektion nicht länger, wie bei Tieren, über das Körperanpassungsprinzip verlief, sondern über das Körperausschaltungsprinzip - ein Theorem, das Paul Alsberg 1922 in seinem Buch »Das Menschheitsrätsel« vortrug. Alsberg erklärte den menschlichen »Ausbruch aus dem Gefängnis« der biologischen Determination durch die Emanzipation von dem quasi allmächtigen Fluchtzwang, der die Prä-Sapiens angesichts gegenwärtiger Gefahren geprägt hatte. Der Weg zur Sapiens-Evolution wurde demnach dadurch frei, daß die frühen Hominidengruppen zunehmend vom Druck der Organanpassung entlastet wurden. Alsberg zufolge war es die Entdeckung der ersten Waffen und Werkzeuge - Stöcke und Steine -, deren zunehmender Einsatz um die Urmenschengruppen eine unsichtbare Demarkationslinie zog. Durch elementaren Waffengebrauch wurde das Prinzip Distanz zur Leitschiene aller späteren Hominisierungsprozesse. Aus dem Fluchttier entwickelte sich das Distanztier, aus dem Läufer der Werfer, aus dem Sammler und Ausweicher der Jäger und Angreifer.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 44-45

„Man könnte so weit gehen zu sagen, daß die Menschen vom Werfen abstammen und daß sich in dieser raumschaffenden Urhandlung das Geheimnis der spezifisch menschlichen Umweltbeziehungen verbirgt. Im Homo sapiens verbirgt sich noch immer der Homo iactans - der Werfer-Mensch. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Faszination der Schußwaffen, die in der modernen Menschenkultur kultisch gefeiert werden, auf Reste alter stammesgeschichtlicher Prägungen zurückverweist. Die Verben des Werfens klingen bis in Grundwörter der philosophischen Terminologie nach, vor allem in den ... Ausdrücken Subjekt, Objekt, Projekt - das Nach-unten-Geworfene, das Entgegengeworfene, das Nach-vorn-Geworfene - und in den ... Wörtern »symbolisch« und »diabolisch«, die auf die Gesten des Zusammenwerfens bzw. Durcheinanderwerfens deuten. Der Verzicht auf Würfe überhaupt wiederum erzeugt die Möglichkeit von Gelassenheit.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46

„Distanzierungsmittel - Wurfmittel, Schlagmittel, Berührungsmittel - sind also die ersten Medien des Menschen. Mit deren Gebrauch beginnt zugleich die Selbsterzeugungsgeschichte der Gattung. Sobald das Prinzip Abstand zu wirken beginnt, tritt der Vorgang der gruppeninternen Evolutionsfaktoren vor den Umwelt»einflüssen« in Kraft.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46

„In engem Zusammenhang mit dem Alsberg-Theorem steht auch der kollektive „Selbstschutz-Effekt, der den in Horden lebenden Hominiden einen evolutionären nachhaltigen internen »Klima«vorteil verschaffte. Der permanente Gruppenschutz verbindet seine Wirkungen mit den archaischen Distanzmechanismen (Werfen, Schlagen, Laufen) zu einem hominisierenden auf humanisierenden Treibhauseffekt. Durch ihn werden die Prähominiden reif für die Insel des Menschseins. Hier werden erstmals kognitive und affektive Ruhezonen und Spielräume ausgebaut, hier wird Abstand zu Instinktprogrammen eingeschliffen, hier haben Probehandlungen und symbolische Ausdrucksgebärden erstmals Raum, hier vollzieht sich der Übergang von einfacher Lautproduktion zu Sprache, hier werden die weiblichen Funktionen und Formen in bio-ästhetische Luxusevolutionen emporgetrieben, hier vollzieht sich der Übergang von den biologischen Statusbeziehungen zu den symbolisch codierten Strukturen der Verwandtschaft.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46

„Ohne die ... »Insulation« gäbe es den spezifischen Sapiens-Raum nicht, in dessen Inneren das menschentypische Luxurieren von Sprache, Sexualität und Emotionalität freigesetzt worden ist. Allein in solchen Insulationsräumen wurde das biologische Wagnis möglich, Menschengeburten sozusagen »vorzuverlegen« und unvergleichlich unfertige, nachreifungsbdürftige Säuglinge an ein verfrühtes Licht der Welt zu bringen - ein Sachverhalt, den die Experten mit dem Ausdruck Neotenie umschreiben und der auf eine biologische Bedingung menschlicher Weltoffenheit hinweist.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46

„Es wird den Menschen zu allen Zeiten schwerfallen, völlig zu ermessen, in welchem Ausmaß ihre Kultur, ihre Solidarität und ihre Verwundbarkeit aus den Abenteuern der Frühgeburtlichkeit entspringen - und auch Anthropologen neigen dazu, die Bedeutung dieses Dramas zu unterschätzen, zummal es ein Verhältnis darstellt, das sich in fossilen Funden in keinerlei Weise materialisiert. Und schließlich hat sich in den Freiräumen und Entlastungsinseln, die aus der Körpererausschaltung entsprungen sind, auch die Luxusevolution des Menschengehirns vollzogen, die den Homo sapiens als das »nicht festgestellte Tier« erscheinen läßt.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46

„Mit ihrem »vorauseilenden Gehirn« haben die Sapientes aus ihrer Frühzeit eine evolutionäre Reserve geerbt, bei deren Entfaltung sie ohne Zweifel erst am Anfang stehen. Die historische und ökologische Chance der Menschheit besteht darin, daß sie sich eines Tages auf die Höhe ihrer evolutionären Ausstattungen heben könnte. Die Menschen der künftigen technologischen Kulturen sind herausgefordert, eine neuronale Ethik zu schaffen, die von dem Axiom ausgeht, daß der Besitz eines Gehirns verpflichtet, sobald man zu ahnen beginnt, was es zu leisten vermöchte.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46

„Vielleicht kann sich bei der überfälligen Hebung des menschlichen Entwicklungsniveaus auch die philosophische Anthropologie nützlich machen. Sie fördert das exakte Staunen über das Tier, das nicht nur nach seiner Herkunft, sondern mehr noch nach seiner Zukunft fragt.“
Peter Sloterdijk, in: Geo-Wissen, September 1998, S. 46

(Volker Panzer: »Bei Luhmann ist der Zufall - sozusagen - auch eine Form der Reproduktion der Komplexität«.) Solange Systeme dies schaffen, gelingt ihnen ihre Erfolgsgeschichte. Sobald sie an einen Zufall geraten, der stärker ist als ihre Reduktionskapazität, gehen sie im Zufall zugrunde.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Nachtstudio, 02.12.1998

„Es ist anthropologisch falsch, davon auszugehen, daß der Mensch ein Individuum ist; er ist ein historisches Tier; er ist ein Paarwesen. .... Ich sage, Individuen gibt es nicht, sondern es gibt nur Beziehungen. Es gibt keine Individuen!“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 09.12.1998

„Der Mensch ist ein Wesen, das immer von seinem Alliierten her gedacht werden muß und nicht nur von seinem Selbsterhaltungsimpuls.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 09.12.1998

„Es gibt keine Individuen, es gibt nur Paare und ihre Entfaltungen. Und dann hat man ein anderes Rechtssubjekt, und man hat dann nur Gruppen - die Minimalgruppe ist das Paar. Dann kommt man zu einer ganz anderen Beschreibung des Rechtssubjekts; ... die Rechte entstehen aus der Tatsache, daß man an etwas teilhat.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 09.12.1998

„Ich glaube, das moderne Recht ist der intimste Partner des modernen Individualismus und von daher auch Handlanger dieser entsetzlichen Auswüchse, die der Kapitalismus in seinen übelsten Gestalten weltweit hervorruft.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 09.121998

„Wir kommen in einen mörderischen Anthropozentrismus hinein, der letztlich selbstmörderisch ist .... Und es stellt sich heraus, daß letzten Endes auch unter dem Schein der Allgemeinheit die modernen Menschenrechte Privilegien gewesen sind: es waren wieder Gattungsprivilegien, die nun in Form einer ermächtigten Herrengattung gegenüber dem Rest der Natur durchgesetzt werden, und das führt notwendigerweise in einer vernetzten Welt zu einer selbstmörderischen Entwicklung.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998

„Es macht einen ungeheuren Unterschied - das geht bis zu der notwendigen Neuformulierung der Menschenrechte hin -, ob man in einem Verwüstungsprozeß lebt oder in einem Schonungsvorgang. .... Der Ausdruck Schonungen in dieser Verwendung geht übrigens auf Martin Heidegger zurück - ein Ausdruck, der den Vorzug hat, daß er Philosophen und Förster gleichzeitig zufrieden stellt und dabei sehr schön zum Ausdruck bringt, worum es geht: Menschen können sich auf der Erde nicht aufhalten, wenn sie nicht zugleich Verantwortung nehmen für die Biotope, in denen sie angesiedelt sind - ... sie müssen sich zur Schonung bekennen ..., sie können anfangen, als neue Nomaden über die Oberflächen hinwegzuziehen, ... aber sie müssen auch wieder lernen zu wohnen, und im Wohnen ist natürlich der Imperativ, Schonungen anzulegen, mitenthalten und damit, die Wüstungen zu korrigiere.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998

„Immerhin sind atmosphärische »Phänomene« als oslche für die ästhetische Theorie, für die Neu-Phänomenologie und die Theologie in jüngster Zeit interessant geworden, besonders unter Heideggers Anregung, zuweilen sogar mit grundbegrifflichen Ansprüchen - was wohl als Zeichen einer punktuellen Öffnung zu lesen ist. (Hermann Schmitz hat in § 149 seines Systems der Philosophie, Dritter Band, Zweiter Teil, Der Gefühlsraum, 1969, S. 98 f., eine eindrucklsvolle Deutung der »Gefühle als Atmosphären« vorgelegt. Unter seinen Anregungen entwickelt Gernot Böhme in seinem Buch Atmosphäre - Essays zur neuen Ästhetik, 1995, ein Konzept von ästhetischer Tätigkeit als Atmosphärenproduktion; Varianten hierzu bietet ders., Anmutungen - Über das Atmosphärische, 1998. Vgl. daneben auch Michael Hauskeller, Atmosphären erleben - Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehumng, 1995; Reinhard Knoth, Atmosphären - Über einen vergessenen Gegenstand des guten Geschmacks, in: R. K., Ästhetische Korrespondenten - Denken im technischen Raum, 1994.  –  Als Link zwischen den Heideggerschen und den Schmitzschen Raum- und Atmosphärentheorien vermittelt unverwüstlich Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, 1963, besonders die Kapitel »Der gemeinsame Raum«, »Der präsentische Raum«, »Der Raum des menschlichen Zusammenlebens, S. 229-270.«  –  Für eine theologische Atmosphärologie hat Hermann Timm in seinem Buch Das Weltquadrat - Eine religiöse Kosmologie, 1985, einen paradigmatishen Versuch vorgelegt.)  –  Mit Recht hat die moderne Philosophie - besonders die Fundamentalontologie -, als sie anfing, nach ihrem zweitausendjährigen Exil im Übersinnlichen, wieder im In-der-Welt-Sein Grund zu fassen, die Stimmung als die erste Öffnung des Daseins zum Wie und Worin der Welt beschrieben. Man könnte Heideggers frühes Werk als die Magna Charta einer nie zuvor versuchten Onto-Klimatologie ansehen. (Und die Arbeit von Hermann Schmitz als den partiell gelungenen Versuch, Heideggers (und Bollnows) Vorgaben zu überbieten.) Es läßt sich plausibel machen, warum die Entfaltung von Heideggers Anregungen in der Phänomenologie der Stimmungen und in der Existentialpsychiatrie zu den fruchtbarsten Aspekten seiner Wirkung gehört.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 146

Alle primären kulturellen Einheiten lassen sich nur als sich selbst erzeugende morphogenetische Prozesse verstehen. Das unmittelbare Projekt jeder Gemeinschaft ist die fortgesetzte Selbstbergung der Gruppe in ihrer morphologischen Hülle: Alle konkreten »Gesellschaften«, die primitiven wie die komplexen, sind sphäro-poietische Projekte. Die Feststellung ist trivial, daß die weitaus größte Zahl der Sphärenbildungen in der Geschichte der menschlichen Gattung kleine clanartige und stammeskulturelle Ensembles geblieben sind, von denen nur wenigen die Fortbildung zu ethnischen Gebilden mittleren Formats gelingt - tatsächlich ist schon ein Volk ein morphologischer Effekt, der, von den Hordenanfängen her gedacht, ans Unmögliche grenzt, denn er setzt die kulturelle und meist auch politische Synthesis von Tausenden von Horden (nunmehr: Familien oder Geschlechtern) voraus. Nur in den seltensten Fällen sind diese Gebilde, über Volkseinheiten hinausgehend, zu Makrosphären höchster Ordnung herangewachsen - daß heißt zu Stadtstaaten und multi-ethnischen Imperien, im Sinne von Spengler ... sogar zu »Kulturen«, die sich politisch und ontologisch die Form von Welten zu geben vermochten. Der Ausdruck Welt bezeichnet dann nicht »alles, was der Fall ist«, sondern alles, was von einer Form oder einer gewußten Grenze enthalten werden kann.
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 200-201

„Wenn Gunnar Heinsohn ... die jüdische Kontraktualisierung der nachsintflutlichen Natur durch den Bund als Zeichen eines »kosmischen Optimismus« charakterisieren zu dürfen glaubt, so gehört dies zu den merkwürdigen Bildern, die ein hilfloser Philosemitismus zu treiben imstande ist.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 256

„Ein Gestalt-Historiker Spenglerschen Typs, der die Stadt als von Grund auf erstaunliche Erscheinung betrachtet, müßte ein Phänomenologe sein, der die begnadete Angst eines Denkens von außen auf sich nimmt - hierin ist Spengler der unmittelbare Vorgänger von revolutionären Strukturhistorikern wie Foucault, Deleuze und Guattari. Wenn er vorschlägt, sich zurückzuversetzen in das Staunen des Frühmenschen, der das unfaßbare Riesengehäuse mit seinen Mauern und Türmen am Horizont aufragen sieht, so folgt er der Intuition, daß die Wahrheit über alles, was im äußeren Raum erscheint, nur durch eine initiatische Raum-Angst erfahren werden kann. Diese Angst schlägt die Brücke zwischen archaischer Welt und Moderne, weil sie den zu keiner Zeit ganz absorbierbaren Überschuß der Ekstase über die Geborgenheit bezeugt. Wird dieser Überschuß für die Theorie fruchtbar gemacht, so liegt das Feld des genuin modernen Denkens offen. In dem Maß, wie Spengler aus diesem Überschuß oder dieser Ekstase - man könnte auch schlichter sagen aus dieser Unsicherheit - denkt, ist seine Zugehörigkeit zum Abenteuer des wesenhaft zeitgenössischen Denkens unbestreitbar. Die Sehkraft, die er in seiner Kulturen-Phänomenologie aufbietet, entstammt der Erfahrung entsicherten Existierens in einer überdehnten, nie mehr im ganzen heimatlich verklärbaren Welt.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 267-268

„Spenglers Morphologie der Weltgeschichte hat ihr philosophisches Momentum in einer Theorie der schöpferischen Raum-Angst, die den Menschen der Hochkulturen eine Offenbarung der dritten Dimension als »Tiefe«, das heißt als Herkunftsraum des Unumgänglichen, gewährt. Der kühle Morphologe und sein Schatten, der dem verstörten Urmenschen ähneln will, sollen sich einig werden in einem Staunen, das in Wahrheit ein Nicht-ganz-glauben-Können, ein Entsetzen ist. Tatsächlich, was wäre eine mit Urmenschen-Augen angeschaute Stadt vom Typus der mesopotamischen Gott-Königs-Metropolen anderes als eine Erläuterung zu der These, daß in den Hochkulturen das Ungeheure als Menschenwerk in Erscheinung tritt?  Und was sind diese Gehäuse von seltsamster Form, von außen gesehen, anderes als Bergungsmaschinen, mit denen Menschen ihre spezifische Offenbarung von Weltangst abgearbeitet und ihrem Willen zum Nicht-außen-Sein monströse Denkmäler errichtet haben?“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 268

„Spenglers Schritt zurück vor die Stadt hat also nichts zu tun mit neuzeitlicher Zivilisationskritik, auch nichts mit dem anti-babylonischen Ressentiment der Juden, das von den Christen kopiert wurde und seit der Marginalisierung des Christentums als anonymes Ferment in der Niveaumüdigkeit der Gegenwartskulturen allgegenwärtig umherspukt. Er bedeutet vielmehr einen Akt der theorie-ermöglichenden epoché im Hinblick auf ein kaum noch distanzierbares Milieu und dient der Abstandnahme des Denkenden von den Blendungen des immer schon städtisch gelebten Lebens, mitsamt seinen unthematisierten Ansprüchen an Selbsterhöhung, Raumangst-Überwindung, Entlastung und Reizzufuhr. Die Theorie der Stadt kann nur beginnen mit der Entwöhnung von den Verwöhnungen, die durch die Stadt erst möglich geworden sind. Die Stadt denken heißt also über das verwöhnende Wohnen in ihr so reflektieren, als könnte man anderswo als in ihr zu Hause sein, ja, als ließe sich das Verlangen, überhaupt irgendwo Wurzeln zu schlagen, im ganzen einklammern. Wohnen, als wohnte man nicht. Leben, als hätte man weder Haus noch Stadt im Rücken. Denken wie im freien Fall.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 269

„»Globuszeit.  –  Auch für die extraterrestrischen Dimensionen wird ... festgeschrieben, was für die Erde seit der Kolumbusfahrt wahr geworden war: Im umrundeten Raum gelten alle Punkte gleich viel. Durch die Neutralisierung erfährt das Raumdenken in der Neuzeit einen radikalen Sinnwandel. Das traditionelle »Leben, Weben und Sein« in regionalen Orientierungen, Strebungen und Attraktionen wird überflügelt von einem System der Lokalisierung von beliebigen Ortspunkten in einem homogenen Vorstellungsraum. (Vgl. hierzu die phänomenologischen Klärungen von Hermann Schmitz in seinem System der Philosophie, Dritter Band, Der Raum, Erster Teil, Der leibliche Raum, 1967, § 119, Der Richtungsraum (sowie §§ 219-231), und § 120, Der Ortsraum (sowie §§ 132-135).) Wo das moderne, ortsräumliche Denken mit seinem neutralisierenden und homogenisierenden Zugriff auf beliebige Punkte der Erdoberfläche die Oberhand gewinnt, dort können die Menschen nicht mehr in ihren traditionellen Weltinnenräumen und deren phantasmatsichen Ausdehnungen und Arrondierungen zu Hause bleiben.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 819-820

„Nachdem die portugiesischen Seefahrer von der Mitte des 15. Jahrhunderts an die magischen Hemmungen durchbrochen hatten, die den Blick nach Westen an den Säulen des Herkules aufhielten, gab die Kolumbusfahrt endgültig das Signal für die »Desorientierung« der europäischen Interessen. Nur diese revolutionäre Ent-Ostung konnte den neu-indischen Doppelkontinent, der Amerika heißen sollte, zum Auftauchen bringen, und ihr allein ist es zuzuschreiben, daß seit einem halben Jahrtausend die Prozesse der Globalisierung ihrem kulturellem und topologischem Sinn nach auch immer »Westung« und Verwestlichung bedeuten. Warum dies nicht anders sein konnte, hat der Initiator der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, in den raumphilosophischen Ausführungen seines »Systems der Philosophie« mit glücklicher Pointierung auf den Begriff gebracht. Über Kolumbus heißt es dort:
»Im Westen entdeckte er für die Menschheit Amerika und damit den Raum als Ortsraum. Diese absichtlich überspitzte Formulierung soll besagen, daß Kolumbus - und später der Weltumsegler Magellan als Vollstrecker seiner Initiative - durch ihre Erfolge auf der Westroute eine chocartige Umwälzung der menschlichen Raumvorstellung erzwangen, die m.E. den Eintritt in die spezifisch neuzeitliche Bewußtseinsweise tiefer als irgendein anderer Übergang markiert.« (Hermann Schmitz, System der Philosophie, Dritter Band, Der Raum).
Die Wendung nach Westen induziert die Geometrisierung des europäischen Verhaltens in einem globalisierten Ortsraum. Auch die summarischste Darstellung der noch weithin unerschlossenen Erdzonen folgt darum von Anfang an dem neuen methodischen Ideal: dem einer gleichmäßigen Erfassung aller Punkte auf der Oberfläche des Planeten unter dem Aspekt ihrer Erreichbarkeit für europäische (und das heißt zunächst iberische) Interessen und Operationen ....“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 833-834

„»Ausdehnung ist alles« - Oswald Spengler hat diesen Satz zum Axiom der zivilisatorischen Epochen erklärt: »Expansion ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt, in seinen Dienst zwingt und verbraucht ....«“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 850

„Es ist dies ein Typus, der in der neuen Eigentums- und Geldwirtschaft die Erfahrung gewonnen hat, daß Schaden zwar klug macht, doch Schulden klüger. Die Schlüsselfigur des neuen Zeitalters ist der »Schuldner-Produzenten« - besser bekannt unter dem Begriff Unternehmer -, der seine Geschäftsverfahren, seine Meinungen und sich selbst fortwährend flexibilisiert, um mit allen erlaubten und unerlaubten, erprobten und unerprobten Mitteln an die Gewinne zu kommen, die ihn befähigen, aufgenommene Kredite rechtzeitig zu tilgen. Diese Schuldner-Produzenten geben der Idee der geschuldeten Schuld eine revolutionäre, neuzeitliche Bedeutung: Aus einem moralischen Makel wird ein ökonomisch sinnvolles Anreizverhältnis. Ohne die Positivierung von Schulden kein Kapitalismus. Die Schuldner-Produzenten sind es, die das Rad der permanenten Geldrevolution in der »Bourgeois-Epoche«zu drehen beginnen. (Die Bestimmung des Unternehmens als ›Schuldner-Produzent‹ verdanken wir Gunnar Heinsohn und Otto Steiger, die mit ihrem Buch Eigentum, Zins und Geld [1996] ein suggestives Modell für die Erklärung der Innovationsdynamik der neuzeitlichen Wirtschaft als Eigentumswirtschaft vorgelegt haben.). Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, daß die Erde um die Sonne, sondern das Geld um die Erde läuft“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 855-856

„Wer übernähme die Verteidigung Leopolds II. von Belgien, der seine Privatkolonie Kongo in das »schlimmste Zwangsarbeitslager der Neuzeit« (Peter Scholl-Latour) verwandelt hatte - mit zehn Millionen Massakrierten?“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 947

„Vielleicht ist die Globalisierung, wie die Geschichte überhaupt, das Verbrechen, das nur einmal begangen werden kann.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 950

„Globalisierung ist ein ... von Protest begleiteter Vorgang. Aber der Protest gegen die Globalisierung ist auch die Globalisierung selbst - er gehört zur unvermeidlichen und unentbehrliche Immunreaktion der lokalen Orte gegen die Infektionen durch das große Weltformat.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 1002-1003

„Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch in die Fexibilisierung, die Schwächung der »Objektbeziehungen« und die generelle Lizensierung von untreuen oder reversiblen Verhältnissen zwischen Menschen zum Ziel geführt hat - zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich dekadent sind. Jenseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische Differenz, die von Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit und Gemeinheit, ihre Kontur, und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und groß erschien, verschwände wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“
Peter Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 1004-1005

Indem Heidegger in dieser Schrift (dem Brief über den Humanismus; HB) die der Form nach ein Brief sein wollte, Bedingungen des europäischen Humanismus offenlegte und überfragte, eröffnete er einen trans-humanistischen oder post-humanistischen (*) Denkraum, in dem sich seither ein wesentlicher Teil des philosophischen Nachdenkens über den Menschen bewegt hat. (* Diese Geste wird von denen verfehlt, die in Heideggers OntoAnthropologie etwas wie einen» Antihumanismus« sehen möchten, eine törichte Formulierung, die eine metaphysische Form der Misanthropie suggeriert.)“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 21-22

„Heidegger nimmt aus einem Schreiben Jean Beaufrets vor allem eine Formulierung auf: Wie kann man dem Wort »Humanismus« eine neue Bedeutung geben? Der Brief an den jungen Franzosen enthält eine leise Zurechtweisung des Fragestellers, die sich am deutlichsten in den beiden unmittelbaren Repliken verrät:
»Diese Frage kommt aus der Absicht, das Wort ›Humanismus« festzuhalten. Ich frage mich, ob das nötig ist. Oder ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten, nicht schon offenkundig genug?« »Ihre Frage setzt nicht nur voraus, daß sie das Wort ›Humanismus‹ festhalten wollen, sondern sie enthält auch das Zugeständnis, daß dieses Wort seinen Sinn verloren hat.« (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 315 und 344-345).
Damit wird schon ein Teil von Heideggers Strategie manifest: Das Wort Humanismus muß aufgegeben werden, wenn die wirkliche Denkaufgabe, die in der humanistischen oder metaphysischen Tradition bereits als gelöste erscheinen wollte, in ihrer anfänglichen Einfachheit und Unausweichlichkeit wiedererfahren werden soll. Zuspitzend gesprochen: Wozu erneut den Menschen und seine maßgebliche philosophische Selbstdarstellung im Humanismus als die Lösung anpreisen, wenn sich gerade in der Katastrophe der Gegenwart gezeigt hat, daß der Mensch selbst mitsamt seinen Systemen metaphysischer Selbstüberhöhung und Selbsterklärung das Problem ist? Diese Zurechtrückung der Frage Beaufrets geschieht nicht ohne meisterliche Bosheit, denn sie hält, in sokratischer Manier, dem Schüler die in der Frage enthaltene falsche Antwort vor. Sie geschieht zugleich mit denkerischem Ernst, denn es werden die drei kuranten Hauptheilmittel in der europäischen Krise von 1945: Christentum, Marxismus und Existentialismus Seite an Seite als Spielarten des Humanismus charakterisiert, die sich nur in der Oberflächenstruktur voneinander unterscheiden -schärfer gesagt: als drei Arten und Weisen, der letzten Radikalität der Frage nach dem Wesen des Menschen auszuweichen.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 22-23

„Heidegger bietet sich an, der unermeßlichen Unterlassung des europäischen Denkens - nämlich der Nicht-Stellung der Frage nach dem Wesen des Menschen in der einzig angemessenen, er meint: existential-ontologischen Weise - ein Ende zu bereiten; zumindest aber deutet der Autor seine Bereitschaft an, in wie auch immer vorläufigen Wendungen der Heraufkunft der endlich sich richtig stellenden Frage zu dienen. Mit diesen scheinbar bescheidenen Wendungen legt Heidegger bestürzende Konsequenzen offen: Dem Humanismus - in seiner antiken, in seiner christlichen wie in seiner aufklärerischen Gestalt - wird bescheinigt, der Agent eines zweitausendjährigen Nichtdenkens zu sein; es wird ihm vorgehalten, mit seinen schnell gegebenen, scheinbar evidenten und unabweislichen Deutungen des Menschenwesens die Heraufkunft der eigentlichen Menschenwesensfrage versperrt zu haben. Heidegger erklärt, es werde in seinem Werk von Sein und Zeit an gegen den Humanismus gedacht, nicht weil dieser die Humanitas überschätzt habe, sondern weil er sie nicht hoch genug ansetze (vgl. Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 330). Aber was heißt das Wesen des Menschen hoch genug ansetzen? Es bedeutet fürs erste, auf eine habituelle falsche Herabsetzung zu verzichten. Die Menschenwesensfrage komme nicht eher auf die richtige Bahn, als bis man Abstand nehme von der ältesten, hartnäckigsten und verderblichsten Übung der europäischen Metaphysik: den Menschen als animal rationale zu definieren. In dieser Deutung des Menschenwesens bleibt der Mensch verstanden von einer durch geistige Zusätze erweiterten Animalitas her. Hiergegen revoltiert Heideggers existential-ontologische Analyse, denn für ihn kann das Wesen des Menschen niemals in zoologischer oder biologischer Perspektive ausgesagt werden, auch wenn zu dieser regeImäßig ein geistiger oder transzendenter Faktor hinzugerechnet wird.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 23-25

„In diesem Punkt ist Heidegger unerbittlich, ja er tritt wie ein zorniger Engel mit gekreuzten Schwertern zwischen das Tier und den Menschen, um jede ontologische Gemeinschaft zwischen beiden zu verwehren. Er läßt sich in seinem anti-vitalistischen und anti-biologistischen Affekt zu nahezu hysterischen Äußerungen hinreißen, etwa wenn er erklärt, es scheine, »als sei das Wesen des Göttlichen uns näher als das Befremdende der Lebe-Wesen« (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 326). Im Kern dieses anti-vitalistischen Pathos wirkt die Erkenntnis, daß der Mensch zum Tier in ontologischer, nicht in spezifischer oder generischer Differenz steht, weswegen er unter keinen Umständen als Tier mit einem kulturellen oder metaphysischen Plus aufgefaßt werden darf. Vielmehr ist die Seinsart des Menschlichen selbst von der aller übrigen vegetabilischen und animalischen Wesen essentiell und dem ontologischen Grundzug nach verschieden; denn der Mensch hat Welt und ist in der Welt, während Gewächs und Getier nur in ihre jeweiligen Umwelten verspannt sind.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 25

„Wenn philosophisch Grund gegeben ist für eine Rede von der Würde des Menschen, dann deswegen, weil eben der Mensch der vom Sein selbst Angesprochene und, wie Heidegger als pastoralphilosoph zu sagen beliebt, zu seiner Hütung Bestellte ist. Deswegen haben Menschen die Sprache -aber sie besitzen diese, nach Heidegger, nicht in erster Linie nur, um sich untereinander zu verständigen und sich in diesen Verständigungen gegenseitig zu zähmen.
»Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört. So kommt es bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz.« (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus [Brief an Jean Beaufret], 1946, in: Ders., Wegmarken, S. 333-334).
Im Hinhorchen auf diese zunächst hermetischen Formulierungen kommt eine Ahnung auf, wieso Heideggers Humanismuskritik sich so sicher wähnt, nicht in einen Inhumanismus zu münden. Denn indem er die Ansprüche des Humanismus, das Menschenwesen schon zureichend ausgelegt zu haben, zurückweist und seine eigene Onto-Anthropologie dagegensetzt, so hält er doch an der wichtigsten Funktion des klassischen Humanismus, nämlich der Befreundung des Menschen mit dem Wort des Anderen, auf indirekte Weise fest - ja er radikalisiert dieses Befreundungsmotiv und versetzt es aus dem pädagogischen Feld ins Zentrum der ontologischen Besinnnung.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 25-27

„Das ist der Sinn der oft zitierten und viel verlachten Redeweise vom Menschen als dem Hirten des Seins. Unter Verwendung von Bildern aus dem Motivkreis der Pastorale und der Idylle spricht Heidegger von der Aufgabe des Menschen, die sein Wesen ist, und von dem Menschenwesen, aus dem seine Aufgabe entspringt: nämlich das Sein zu hüten und dem Sein zu entsprechen. Gewiß, der Mensch hütet nicht das Sein wie der Kranke das Bett, eher wie ein Hirt seine Herde auf der Lichtung, mit dem gewichtigen Unterschied, daß hier statt einer Herde Viehs die Welt als offener Umstand gelassen zu gewahren ist -und weiter noch, daß dieses Hüten keine frei gewählte Bewachungsaufgabe im eigenen Interesse darstellt, sondern daß die Menschen vom Sein selbst als Hüter angestellt werden. Der Ort, an dem diese Anstellung gilt, ist die Lichtung oder die Stelle, wo Sein aufgeht als das, was da ist.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 27

„Was Heidegger die Gewißheit gibt, mit diesen Wendungen den Humanismus überdacht und überboten zu haben, ist der Umstand, daß er den Menschen, als Lichtung des Seins begriffen, in eine Zähmung und eine Befreundung einbezieht, die tiefer gehen als jede humanistische Entbestialisierung und jede gebildete Liebe zu dem Text, der von Liebe spricht, jemals reichen könnten. Indem er den Menschen als Hirten und Nachbarn des Seins bestimmt und die Sprache als Haus des Seins bezeichnet, bindet er den Menschen in eine Entsprechung zum Sein, die ihm eine radikale Verhaltenheit auferlegt und ihn - den Hirten - in die Nähe oder den Umgriff des Hauses bannt; er exponiert ihn einer Besinnung, die mehr Stillhalten und Stille- Hörigkeit in Anspruch nimmt, als die umfassendste Bildung es je vermöchte. Der Mensch wird einer ekstatischen Verhaltenheit unterworfen, die weiter reicht als das zivilisierte Innehalten des textfrommen Lesers vor dem klassischen Wort. Das Heideggersche an sich haltende Wohnen im Haus der Sprache ist bestimmt als ein abwartendes Lauschen auf das, was vom Sein selbst her zu sagen aufgegeben werden wird. Es beschwört ein In-die-Nähe-Horchen, bei dem der Mensch stiller und gezähmter werden muß als der Humanist beim Lesen der Klassiker. Heidegger will einen Menschen, der höriger wäre als ein bloßer guter Leser. Er möchte einen Befreundungsprozeß stiften, in welchem auch er selbst nicht mehr nur als Klassiker oder als Autor unter anderen rezipiert würde; am besten wäre es fürs erste wohl, wenn das Publikum, das naturgemäß nur aus ahnungsvollen Wenigen bestehen kann, zur Kenntnis nähme, daß das Sein selbst durch ihn, den Mentor der Seinsfrage, von neuern zu reden begonnen hat.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 27-28

„Damit erhebt Heidegger das Sein zum alleinigen Autor aller wesentlichen Briefe und setzt sich selbst als dessen aktuellen Schriftführer ein. Wer in solcher Position redet, darf auch Stammeln aufzeichnen und Schweigen publizieren. Das Sein also schickt die entscheidenden Briefe, genauer gesagt, es gibt Winke an geistesgegenwärtige Freunde, an empfängliche Nachbarn, an gesammelt stille Hirten, doch soweit wir sehen, lassen sich aus dem Kreis dieser Mithirten und Freunde des Seins keine Nationen, ja nicht einmal alternative Schulen bilden - nicht zuletzt deswegen, weil es keinen öffentlichen Kanon der Seins-Winke geben kann -, es sei denn, man ließe Heideggers opera omnia bis auf weiteres als Maßstab und Stimme des namenlosen Über-Autors gelten.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 28-29

„Es bleibt angesichts dieser dunklen Kommunionen bis auf weiteres völlig unklar, wie eine Gesellschaft aus Nachbarn des Seins verfaßt sein könnte - sie muß wohl, bevor sich Deutlicheres zeigt, als eine unsichtbare Kirche von verstreuten Einzelnen aufgefaßt werden, von denen jeder auf seine Weise ins Ungeheure lauscht und die Worte erwartet, in denen laut wird, was dem Sprecher von der Sprache selbst zu sagen gegeben wird. (Im übrigen ist ebenso unklar, wie eine Gesellschaft aus lauter Dekonstruktivisten aussehen könnte oder eine Gesellschaft aus lauter Levinas-Schülern, die jeweils dem leidenden Anderen den Vorrang gäben.) Es ist müßig, hier näher auf den kryptokatholischen Charakter der Heideggerschen Meditationsfiguren einzugehen. Entscheidend ist jetzt nur, daß durch Heideggers Humanismuskritik hindurch ein Haltungswandel sich propagiert, der den Menschen auf eine über alle humanistischen Erziehungsziele weit hinausweisende besinnliche Askese hinweist. Nur kraft dieser Askese würde eine Gesellschaft der Besinnlichen jenseits der humanistischen literarischen Sozietät sich formieren können; es wäre dies eine Gesellschaft aus Menschen, die den Menschen aus der Mitte rückten, weil sie begriffen hätten, daß sie nur als »Nachbarn des Seins« existieren - und nicht als eigensinnige Hausbesitzer oder als möblierte Herren in unkündbarer Hauptmiete. Zu dieser Askese kann der Humanismus nichts beitragen, solange er am Leitbild des starken Menschen orientiert bleibt.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 29-30

„Die humanistischen Freunde der menschlichen Autoren verfehlen die begnadete Schwäche, in der das Sein sich den Angerührten, Angesprochenen zeigt. Für Heidegger führt vom Humanismus kein Weg zu dieser verschärften ontologischen Demutsübung; er meint in ihm vielmehr selbst einen Beitrag zur Aufrüstungsgeschichte der Subjektivität zu sehen. Tatsächlich deutet Heidegger die geschichtliche Welt Europas als das Theater der militanten Humanismen; sie ist das Feld, auf dem die menschliche Subjektivität ihre Machtergreifung über alles Seiende mit schicksalhafter Folgerichtigkeit ausagiert. Unter dieser Perspektive muß sich der Humanismus als natürlicher Komplize aller nur möglichen Greuel anbieten, die im Namen des menschlichen Wohls begangen werden können. Auch in der ragischen Titanomachie der Jahrhundertmitte zwischen Bolschewismus, Faschismus und Amerikanismus standen sich - aus Heideggers Sicht - lediglich drei Varianten derselben anthropozentrischen Gewalt und drei Kandidaturen für eine humanitär verbrämte Weltherrschaft gegenüber ....“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 30-31

„Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben ist, wer oder was als Erzieher wozu erzieht?“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 31-32

„Es ist hier zum einen von einer Naturgeschichte der Gelassenheit zu sprechen, kraft deren der Mensch das weltoffene, weltfähige Tier zu werden vermochte, zum anderen von einer Sozialgeschichte der Zähmungen, durch die die Menschen sich ursprünglich als die Wesen erfahren, die sich zusammennehmen, um dem Ganzen zu entsprechen. Die Realgeschichte der Lichtung - von der eine über den Humanismus hinaus vertiefte Besinnung über den Menschen ihren Ausgang nehmen muß - setzt sich also aus zwei größeren Erzählungen zusammen, die in einer gemeinsamen Perspektive konvergieren, nämlich in der Darlegung, wie aus dem Sapiens-Tier der Sapiens-Mensch wurde. Die erste dieser beiden Erzählungen gibt Rechenschaft von dem Abenteuer der Hominisation. Sie berichtet davon, wie in den langen Perioden vormenschlich-menschlicher Urgeschichte aus dem lebendgebärenden Säugetier Mensch eine Gattung von frühgeburtlichen Wesen wurde, die - wenn man so paradox reden dürfte - mit einem wachsenden Überschuß an animalischer Unfertigkeit in ihre Umwelten heraustraten. Hier vollzieht sich die anthropogenetische Revolution - die Aufsprengung der biologischen Geburt zum Akt des Zur-Welt-Kommens. .... Denn daß der Mensch das Wesen, das in der Welt ist, werden konnte, hat gattungsgeschichtliche Wurzeln, die sich andeuten lassen durch die abgründigen Begriffe der Frühgeburtlichkeit, der Neotonie und der chronischen animalischen Unreife des Menschen. Man könnte so weit gehen, den Menschen zu bezeichnen als das Wesen, das in seinem Tiersein und Tierbleiben gescheitert ist. Durch sein Scheitern als Tier stürzt das unbestimmte Wesen aus der Umwelt und erwirbt so die Welt im ontologischen Sinn. Dieses extatische Zur-Welt-Kommen und diese »Übereignung« an das Sein sind dem Menschen aus gattungsgeschichtlichem Erbe in die Wiege gelegt. Wenn der Mensch in-der-Welt ist, dann weil er einer Bewegung gehört, die ihn zur Welt bringt und ihn der Welt aussetzt. Er ist das Produkt einer Hyper-Geburt, die aus dem Säugling einen Weltling macht.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 33-34

„Dieser Exodus würde nur psychotische Tiere erzeugen, wenn nicht mit dem Hervorgang in die Welt zugleich ein Einzug vonstatten ginge in das, was Heidegger das Haus des Seins nannte. Die traditionellen Sprachen des Menschengeschlechts haben die Ekstase des In-der-Welt-Seins lebbar gemacht, indem sie den Menschen zeigten, wie ihr Sein bei der Welt zugleich als Bei-sich-selbst-Sein erfahren werden kann. Insofern ist die Lichtung ein Ereignis an den Grenzen von Natur- und Kulturgeschichte, und das menschliche Zur-Welt-Kommen nimmt von früh auf die Züge eines Zur-Sprache Kommens an. (Ich habe andernorts dargestellt, inwiefern auch und mehr noch mit einem Ins-Bild-Kommen des Menschen zu rechnen ist: Peter Sloterdijk, Sphären I, Blasen, 1998; Sphären II, Globen, 1999.)“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 34-35

„Aber die Geschichte der Lichtung kann nicht nur als Erzählung vom Einzug der Menschen in die Häuser der Sprachen entwickelt werden. Denn sobald die sprechenden Menschen in größeren Gruppen zusammenleben und sich nicht nur an Sprachhäuser, sondern auch an gebaute Häuser binden, geraten sie ins Kraftfeld der seßhaften Seinsweisen. Sie lassen sich nunmehr nicht mehr nur von ihren Sprahen bergen, sondern auch von ihren Behausungen zähmen. Auf der Lichtung erheben sich - als deren auffälligste Markierungen - die Häuser der Menschen (mitsamt den Tempeln ihrer Götter und den Palästen ihrer Herren). Kulturhistoriker haben klargemacht, daß mit der Seßhaftwerdung zugleich das Verhältnis zwischen Mensch und Tier insgesamt unter neue Vorzeichen geriet. Mit der Zähmung des Menschen durch das Haus beginnt zugleich das Epos von den Haustieren. Deren Bindung an die Häuser des Menschen jedoch ist nicht bloß eine Sache von Zähmungen.  –  Der Mensch und die Haustiere - die Geschichte dieser ungeheuerlichen Kohabitation ist noch nicht auf angemessene Weise zur Darstellung gebracht worden, und erst recht haben die Philosophen bis heute nicht wahrhaben wollen, was sie selbst inmitten dieser Geschichte zu suchen haben.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 35-36

„Doch diese Herleitung der Lichtung aus der gesicherten Häuslichkeit trifft nur den harmloseren Aspekt der Menschwerdung in Häusern. Die Lichtung ist zugleich ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 37

„Nietzsche .... wittert einen Raum, in dem unvermeidliche Kämpfe über Richtungen der Menschenzüchtung beginnen werden - und dieser Raum ist es, in dem sich das andere, das verhüllte Gesicht der Lichtung zeigt.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 39

„Die Schriftkultur selbst hat bis zu der kürzlich durchgesetzten allgemeinen Alphabetisierung scharf selektive Wirkungen gezeitigt; sie hat ihre Wirtsgesellschaften tief zerklüftet und zwischen den literaten und den illiteraten Menschen einen Graben aufgeworfen, dessen Unüberbrückbarkeit nahezu die Härte einer Spezies-Differenz erreichte, Wollte man ... noch einmal anthropologisch reden, so ließen sich die Menschen historischer Zeiten definieren als die Tiere, von denen die einen lesen und schreiben können und die anderen nicht. Von hier aus ist es nur ein Schritt, wenn auch ein anspruchsvoller, zu der These, daß Menschen Tiere sind, von denen die einen ihresgleichen züchten, während die anderen die Gezüchteten sind - ein Gedanke, der seit Platos Erziehungs- und Staatsreflexionen zur pstoralen Folklore der Europäer gehört. Etwas hiervon klingt auf in Nietzsches oben zitierten Satz, daß von den Menschen in den kleinen Häusernn wenige wollen, die meisten aber nur gewollt sind. Nur gewollt sein heißt, bloß als Objekt, nicht als Subjekt von AUslese existieren.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 43-44

„Es ist die Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters, daß Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten, auch ohne daß sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt haben müßten. Man darf zudem feststellen: Es gibt ein Unbehagen in der Macht der Wahl, und es wird bald eine Option der Unschuld sein, wenn Menschen sich explizit weigern, die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben. (Vgl. Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, 1989 [Ausführungen über Ethiken des Unterlassungshandelns und »Bremsen« als progressive Funktion].)“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 44

„Da bloße Weigerungen oder Dimensionen an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in der Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren. Ein solcher Codex würde rückwirkend auch die Bedeutung des klassischen Humanismus verändern - denn mit ihm würde offengelegt und aufgeschrieben, daß Humanitas nicht nur die Freundschaft des Menschen mit dem Menschen beinhaltet; sie impliziert auch immer - und mit wachsender Explizitheit -, daß der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 45

„Es genügt, sich klarzumachen, daß die nächsten langen Zeitspannen für die Menschheit Perioden der gattungsspezifischen Entscheidung sein werden. In ihnen wird sich zeigen, ob es der Menschheit oder ihren kulturellen Hauptfraktionen gelingt, zumindest wieder wirkungsvolle Verfahren der Selbstzähmung auf den Weg zu bringen.Auch in der Gegenwartskultur vollzieht sich der Titanenkampf zwischen den zähmenden und den bestialisierenden Impulsen und ihren jeweiligen Medien. Schon größere Zähmungserfolge wären Überraschungen angesichts eines Zivilisationsprozesses, in dem eine beispiellose Enthemmungswelle anscheinend unaufhaltsam rollt. (Ich verweise hier auf die Gewaltwelle, die z. Zt. in der ganzen westlichen Welt in die Schulen einbricht, insbesondere in den USA, wo die Lehrer damit beginnen, Schutzsysteme gegen Schüler aufzubauen. So wie in der Antike das Buch den Kampf gegen das Theater verlor, so könnte heute die Schule den Kampf gegen die indirekten Bildungsgewalten, das Fernsehen, das Gewaltkino und andere Enthemmungsmedien [leider hat hier der Autor Peter Sloterdijk vergessen, das Internet zu nennen, das auch schon damals - 1999 - an erster Stelle der indirekten Bildungsgewalten stand oder kurz davor war, die erste Stelle zu übernehmen; HB] verlieren, wenn nicht eine neue gewaltdämpfende Kultivierungsstruktur entsteht.) Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion (allgemeiner gesprochen: zur Manipulation biologischer Risiken; eine ergänzende Formulierung) wird vollziehen können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 45-47

„Plato hat in seinem Dialog Politikos - man übersetzt gern: Der Staatsmann - die Magna Charta einer europäischen Pastoralpolitologie vorgelegt. Diese Schrift ist nicht nur von Bedeutung, weil sich in ihr klarer als irgendwo sonst zeigt, was die Antike wirklich unter Denken verstanden hat - die Gewinnung der Wahrheit durch sorgfältige Einteilung oder Zerschneidung von Begriffs- und Sachmengen; ihre inkommensurable Stellung in der Geschichte des Denkens über den Menschen liegt vor allem darin, daß sie gleichsam wie ein Arbeitsgespräch unter Züchtern geführt wird ....“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 47

„Mit diesem Projekt bezeugt Plato eine intellektuelle Unruhe im Menschenpark, die nie wieder ganz beschwichtigt werden konnte. Seit dem Politikos und seit der Politeia sind Reden in der Welt, die von der Menschengemeinschaft reden wie von einem zoologischen Park, der zugelich ein Themen-Park ist: die Menschenhaltung in Parks oder Städten erscheint von jetzt an als eine zoopolitische Aufgabe. Was sich als Nachdenken über Politik präsentiert, ist in Wahrheit eine Grundlagenrefexion über Regeln für den Betrieb von Menschenparks.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 48

„Diese vorsorgende Hütekunst muß nun ihrerseits noch einmal eingeteilt werden in gewaltsam-tyrannische oder in freiwillige. Wird die tyrranische Form wiederum als unwahre, trugbildhafte ausgescheiden, so bleibt die eigentliche Staatskunst zurück: Sie wird bestimmt als die »freiwillige Herdenwartung ... über freiwillige lebendige Wesen« (276e). (Plato-Interpreten wie Popper überlesen gern dieses zweimalige »freiwillig«.)  –  Bis an diesem Punkt hat Plato es verstanden, seine Lehre von der Kunst des Staatsmanns ganz in Hirten-und Herdenbildern unterzubringen - und er hat aus Dutzenden von Trugbildern dieser Kunst das einzig wahre Bild, die gültige Idee der in Frage stehenden Sache ausgewählt. Nun aber, da die Definition vollendet scheint, springt mit einemmal der Dialog in eine andere Metaphorik über - dies geschieht jedoch, wie wir sehen werden, nicht, um das Erreichte preiszugeben, sondern um das schwierigste Stück der Menschenhüte-Kunst, die züchtersiche Steuerung der Reproduktion, aus einem verschobenen Blickwinkel um so energischer anzugreifen. Hier hat das berühmte Weber-Gleichnis vom Staatsmann seinen Platz. Der wirkliche und wahre Grund der königlichen Kunst läßt sich nach Plato nämlich nicht im Votum der Mitbürger finden, die dem Politiker nach Belieben ihr Vertrauen zuwenden oder entziehen; er liegt auch nicht in ererbten Privilegien oder enuen Anmaßungen. Der platonische Herr findet die Raison seines Herrseins allein in einem züchterischen Königswissen, also einem Expertenwissen der seltensten und besonnenensten Art. Hier taucht das Phantom eines Expertenkönigtums auf, dessen Rechtsgrund die Einsicht ist, wie Menschen - ohne je ihrer Freiwilligkeit Schaden anzutun - am besten zu sortieren und zu verbinden wären. Die königliche Anthropotechnik verlangt nämlich von dem Staatsmann, daß er die für das Gemeinwesen günstigten Eigenschaften freiwiilig lenkbarer Menschen auf die wirkungsvollste Weise ineinanderzuflechten versteht, so daß unter seiner Hand der Menschenpark zur optimale Homöostase gelangt. Dies geschieht, wenn die beiden relativen Optima der Menscheartung, die kriegerische Tapferkeit einerseits, die philosophisch-humane Besonnenheit andererseits gleichkräftig in das Gewebe des Gemeinwesens eingeschlagen werden.  –  Weil aber beide Tugenden in ihrer Vereinseitigung spezifische Entartungen hevorbringen können ..., darum muß der Staatsmann die ungeeigneten Naturen auskämmen, bevor er daran geht, mit den geeigneten den Staat zu weben.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 51-53

„Für den moderne Leser - der zurückblickt auf die humanistischen Gymnasien der Bürgerzeit und auf die faschistische Eugenik, zugleich auch schon vorausschaut ins biotechnologische Zeitalter - ist die Explosivität dieser Überlegungen unmöglich zu verkennen. Was Plato durch den Mund seines Fremden vortragen läßt, ist das Programm einer humanistischen Gesellschaft, die sich in einem einzigen Voll-Humanisten, dem Herrn der königlichen Hirtenkunst, verkörpert. Die Aufgabe dieses Über-Humanisten wäre keine andere als die Eigenschaftsplanung bei einer Elite, die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muß.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 54

„Der hiermit als selbständige Publikation vorgelegte Text hat in der deutschen Öffentlichkeit während der Monate September und Oktober 1999 das prekäre Privileg erfahren, als Ausgangspunkt einer erregten Debatte zu dienen.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 57

„Der Leser sollte darüber informiert sein, daß diese Rede zuerst als ein Beitrag zu einem Vortragszyklus über die Aktualität des Humanismus am 15. Juni 1997 zu Basel ... gehalten wurde.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 58

„In einem Punkt nur will ich auf eine schamlose Strategie der Falschleser aufmerksam machen: Ich habe an einer stark wahrgenommenen Stelle (S. 46) auf einige Probleme hingewiesen, die sich durch das Auftauchen der neuen biotechnischen Eingriffsmöglichkeiten für den künftigen Gattungsprozeß stellen könnten. Ich frage dort, ob auf lange Sicht so etwas wie eine explizite Merkmalsplanung auf Gattungsebene überhaupt möglich sei und ob die optionale Geburt (mit ihrer Kehrseite: der pränatalen Selektion) gattungsweit zu einem neuen Habitus in Fortpflanzungsdingen werden könnte (...) - und an derselben Stelle füge ich hinzu, daß in nicht geheuren Fragen dieser Art sich vor uns der evolutionäre Horizont auftut. Aus diesen Fragesätzen haben einzelne Publizisten Präskriptionen gemacht.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 59-60

„Zwischen Mitte September und dem 1. Oktober 1999 ist die Internetadresse, die neben dem Redetext einige Zusatzdokumente zum Hintergrundverständnis anbot, über 60000mal abgefragt worden. Ab Mitte Oktober 1999 wird auch unter derselben Adresse (*www.rightleft.net) ein Informtionsservice zur Chronologie des Skandals verfügbar sein.“
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 60

„Die Kritische Theorie ist tot.“
Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.09.1999, S. 35

„Das demokratische Projekt beruht auf dem Entschluß, die Andersheit der Menschen anders zu deuten – und zwar so, daß die gefundenen Unterschiede zwischen ihnen verworfen und durch gemachte ersetzt werden. Zwischen finden und machen verlaufen künftig die am häufigsten umkämpften Grenzen: die zwischen Bewahrungsinteresse und Fortschrittlichkeit ....“
Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 76

„Wenn Jaspers zu Beginnn der dreißiger Jahre von einem letzten Feldzug gegen den Adel sprechen konnte, drückte er damit seine realistische Einschätzung aus, daß von nun an die Unterschiedemacher so weit sind, den vermeintlichen Unterschiedefindern ihre verbliebenen Rückzugsstellungen zu entwinden - in der Philosophie, in der Pädagogik, in den Geschlechterverhältnissen und schließlich und vor allem in der Kunst, der Hochburg des alt-neuen Unterschieds. Sie sind so weit, weil sie das Generalargument gegen das Finden von Differenzen in der Natur bis zu dem Punkt abgeklärt haben, wo jeder Anwender es nach wenigen Übungen einsetzen kann: Was auch immer als in der Natur Gefundenes präsentiert wird, läßt sich als von den Interessenten selbst Gemachtes oder Gedeutetes entlarven; jede Unterscheidung fällt auf den Unterscheider zurück. Es gibt von jetzt an wirklich keine Tatsachen mehr, es gibt jetzt nur noch Interpretationen. Pluralität von Interpretationen bedeutet chronischen Streit an der Basis über den Sinn dessen, was überhaupt als das Basale gelten soll - denn es gibt auch keine exterenen Bedingungen aus der Natur mehr, es gibt nur noch »soziale Konstrukte«. Es gibt nur noch konstruierte Parteien in dem Parlament der Fiktionen, die wir die Öffentlichkeit nennen.“
Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 76-77

„Daran hängt die Kette der durchsetzenden revolutionären Revisionen: Es gibt keine Herren, es gibt nur Unterwerfungsprozesse; es gibt kein Talent, es gibt nur Lernprozesse; es gibt kein Genie, es gibt nur Produktionsprozesse. Es gibt keine Autoren, es gibt nur Programmierungsprozesse - und programmierte Programmierer.“
Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 77

„Unsere politische Kultur als ganze ist auf der Negation der ersten anthropologischen Differenenz aufgebaut - wir wollen nichts mehr von Göttern hören, die in Menschen nachhaltig anwesend sein könnten und die inmitten der Gattung einen Unterschied zwischen Gottmenschen und bloßen Menschen zu bedingen vermöchten.“
Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 77-78

„Auch mit der zweiten Form der anthropologischen Differenz, der zwischen dem Heiligen und der profanen Menge, haben wir Moderne nicht mehr viel Geduld.“
Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 78

„Die moderne Gesellschaft hat ihrer Logik gemäß ganz recht daran getan, die Heiligen durch die Spitzensportler zu ersetzen - und die sündige Mehrheit durch die Zuschauer. Überdies hatte schon das Christentum die Idee des Heiligen ins Kollektive entwickelt und in der communio sanctorum die Denkfigur jener »christlichen Demokratie« vorbereitet, die in der Moderne zu einer Fraktion unter anderen werden sollte. In ihr ist jene »gute Masse« als Ensemble von gehorsamen Einzelnen vorgedacht, die als die wahre Masse aus revolutionären Kooperateuren in den kanonischen Schriften der Linken wiederkehren sollte. Die Maler der Renaissance haben den Übergang ins homogen Menschliche vorweggenommen, als sie im 15. Jahrhundert damit begannen, die Personen der Heiligen Geschichte ohne die bis dahin obligaten Heiligenscheine darzustellen. Wer vom Verlust der Aura redet, handelt von dieser Ebbe der Transzendenz. Das Jenseits ist in der Moderne bis zur Unkenntlichkeit diskret geworden: Gott verzichtet jetzt nicht nur auf seine Fähigkeit, sich in einem singulären Menschen zu verkörpern, er verliert offenbar auch das Interesse daran, durch gewisse Einzelne hindurchzuleuchten.“
Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 79

„Was die universellste Figur der anthropologischen Differenz angeht, die zwischen dem Weisen und der Menge - eine Differenz, ohne welche keine der historischen Hochkulturen auskam -, so ist sie auf dem Boden Europas und der USA in kaum zweihundert Jahren durch eine doppelte Aufklärung ausgelöscht worden: Der erste Schlag gegen das Konzept des Weisen wurde von der Evolutionstheorie geführt, die das Prädikat sapiens aus der Opposition zum Terminus insipiens vulgus herausgenommen hat, um es geradewegs und ohne pädagogische Skrupel zum Gattungsnamen zu machen: homo sapiens sapiens. Man sieht hier, wie der szientistische Egalitarismus den elitären Philosophen mit einem Ausdruck zweimal vor die Füße spuckt. Den anderen Schlag führte die moderne Kritikkultur, indem sie den Weisen durch den Intellktuellen ersetzte ....“
Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen, 2000, S. 79-80

„Die Sonne ist der absolute Sponsor; und deswegen muß ein Aufklärer die Sonne nachahmen, weil eine Aufklärung, die mehr nimmt als gibt, letzten Endes gar keine ist - mit anderen Worten: Aufklärung ist nur als angewandte Großzügigkeit möglich.“
Peter Sloterdijk, Die Sonne ist der absolute Sponsor, DCTP.TV (Gespräch vor dem Schloß Elmau), 15.10.2000

„Wenn ich von Selbstversuch spreche, denke ich an ... die homöopathische Bewegung, die auf Samuel Hahnemann zurückgeht. Dieser erstaunliche Kopf hat im Jahr 1796 ... erstmals das Primzip des effektiven Heilmittels formuliert. Zudem war er einer der ersten Heiler, die auf die moderne Ungeduld der Patienten mit adäquaten ärztlichen Angeboten zukamen. Seiner Überzeugug nach bestand für den Arzt die Notwendigkeit, sich selbst mit allem zu vergiften, was er später den Kranken zu verordnen gedenkt. Von dieser Überlegung stammt das Konzept des Selbstevrsuchs: Wer Arzt werden möchte, muß Versuchstier sein wollen.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 8

„Der tiefere Grund für diese Wendung zum Experimentieren am eigenen Leib ist in der romantischen Idee des aktiven Bezugs zwischen Bild und Sein zu finden. Hahnemann war der Ansicht, daß die Wirkungen der Dosis beim Gesunden und beim Kranken sich spiegelbildlich zueinander verhalten. Dem liegt eine anspruchsvolle Semiotik des Arzneimittels zugrunde: Der große optimistische Gedanke der romantischen Medizin, zu der die Homöopathie wesentlich gehört, besteht ja darin, daß eine Abbildbeziehung zu unterstellen sei zwischen dem, was die Krankheit als Phänomenganzheit ist, und den Effekten, die ein pures Mittel am gesunden Körper hervorruft. Die Homöopathie denkt auf der Ebene einer spekulativen Immunologie. Und insofern Immunprobleme immer mehr ins Zentrum der künftigen Therapeutik und Systemik rücken werden, haben wir es mit einer sehr aktuellen Tradition zu tun, obschon die Wirkungsweise der homöopathischen Dosen weiterhin im dunkeln bleibt.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 8-9

„So gesehen gehört die Formulierung meines Buchtitels eher in die Traditon der romantischen Naturphilosophie, genauer der deutschen Krankheitsmetaphysik, als in die Linie der französischen Diskurse über den zerstückelten Körper. Aber mehr noch geht er natürlich auf Nietzsche zurück, der gelegentlich mit homöopathischen und häufig mit immunologischen Metaphern gespielt hat. Nicht umsonst läßt Nietzsche seinen Zarathustra zur Menge sagen: »Ich impfe Euch mit dem Wahnsinn«; auch das ominöse »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, hat einen durch und durch immuntheoretischen Sinn. Nietzsche sah sein ganzes Leben als eine Impfung mit Dekadenzgiften an und versuchte, seine Existenz als integrale Immunreaktion zu organisieren. Er konnte sich nicht mit der gepanzerten Harmlosigkeit des letzten Menschen abfinden, durch die sich dieser gegen die Infektionen der Zeitgenossenschaft und der Geschichte abschirmt. Daher trat er in seinen Schriften als ein Provokationstherapeut auf, der mit gezielten Vergiftungen arbeitet. Diese Konnotationen klingen in meinem Titel mit.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 9

„Auch muß man zugeben, daß die Homöopathie aufgrund ihres Zusammenhangs mit den reformistischen Lebensphilosophien des Kleinbürgertums eine Imago besitzt, die mit gewagtem Denken schelcht verträglich ist. Dennoch zeigen sich im Hinblick auf Hahnemanns Person auch andere Züge. Er war ein Virtuose der Selbstvergiftung. Er hat seinen Körper geprüft, getestet belastet, aufs Spiel gesetzt in einer Weise, die aus ihm eine große Orgel der Krankheitszustände gemacht hat. Er hat die Dekonstruktion der Gesundheit als psychosomatisches Experiment an sich selber durchgeführt. Das hat eine Dämonie eigenen Ranges, die sich schwerlich vergleichen läßt mit den zum großen Teil geborgten Unheimlichkeiten, aus denen die Autoren der Moderne ihre Exzesse geschöpft haben. Ich warne vor der Unterschätzung des Gefährdungspotentials der homöopathischen Medizin. Es ist ein sehrkomplexer und durchaus nicht harmloser Ansatz, der sich unter einer biederen Maske verbirgt.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 10

„In Indien ist ein neues Kapitel aufgeschlagen worden, ich habe eine radikale Umstimmung erlebt, ich habe Impulse aufgenommen, von denen ich bis auf den heutigen Tag lebe, besser gesagt: von den Metamorphosen dieser Impulse, denn die Anregungen von damals sind längst wieder anonym geworden, sie haben sich ein paarmal gedreht und sich in eine eigensinnige Richtung entwickelt. - Eines ist sicher: In Indien war ich einer Einstrahlung ausgesetzt, die lange nachwirkte. Ohne die Alchemie, die dort vor sich gegangen ist, dieses Herausspringen aus der alteuropäischen Melancholie ... wäre meine Schriftstellerei in ihrer Anfangszeit nicht zu denken. Es gibt in ihr, besonders in den Büchern der achtziger Jahre, eine Art von Hintergrundstrahlung, ein Echo auf den vitalen Urknall, der damals passiert ist.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 16-17

„Was Kritische Theorie im Habermas-Stil eigentlich ist und seit seit jeher war: der Entwurf einer Zivilreligion für die deutsche Nachrkriegsgesellschaft auf der Basis eines intersubjektiven Idealismus. Zivilreligionen sind Entwürfe für erwünschte Illusionen.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 64

„Zwischen symbolischen Operationen und Wahrnehmungsakten klafft ein Graben, den man im allgemeinen unbemerkt überwindet, weil er von der alltäglichen Sprachroutine zugeschüttet wird. Die einfachste Meditation, die elementarste Sensibilisierungsübung bringt zu Bewußtsein, daß zwischen der sinnlichen Gewißheit - besser gesagt zwischen der »primitiven Gegenwart«, ein Ausdruck, der sich bei dem Neu-Phänomenologen Hermann Schmitz findet - auf der einen Seite und den symbolischen Operationen, die wir in Sätzen ausführen, auf der anderen kein Kontinuum besteht.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 88-89

„Zunächst sind Menschen einbezogen in eine bipolare Sphäre, einen intim getönten Beziehungsraum, den es nur geben kann kraft der Zugehörigkeit und der Zugewandtheit von Zusammenlebenden zueinander - einen Nähe-Raum also, den man kaum bemerkt, solange man ihm angehört, und den man vermißt, wenn man ihn verloren hat. Damit Sphären als solche auffallen, müssen sie zerplatzt sein, und erst als verlorene werden sie theoriefähig.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 143

„Mir geht es ... darum, Menschen als Teile eines akuten Beziehungsgeheimnisses zu beschreiben. Darum sage ich, es gibt keine Individuen, sondern nur Dividuen – es gibt die Menschen nur als Partikel oder Pole von Sphären.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 144

„Ich lasse die ganze Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen. .... Der Spuk fällt weg, wenn wir mit der Zwei beginnen. Mit dem Denken der Zwei beziehe ich den Standpunkt einer minimalpluralistischen Ontologie. Was ich die Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische Form, als Zweieinigkeitsstruktur gegeben.“
Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 147

„Man muß das Vorurteil überwinden, das in den Köpfen des veralteten Kritizismus festsitzt, das Interesse am Raum sei konservativ und gegenmodern, das an der Zeit dagegen progressiv und emanzipatorisch.“
Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 256

„Ich möchte im folgenden einige Argumente dafür zusammentragen, daß Niklas Luhmanns Werk eine reale und radikale Vermehrung des Patrimoniums moderner Theoriekultur verkörpert. Luhmann ist darum ... ein Autor im präzisen Sinn des Wortes, weil er sich einen Namen gemacht hat als ein Vermehrer des vor ihm erreichten Bestands der Kunst. Deswegen wird der Ausdruck »nach Luhmann« nicht eine von den üblichen Verabschiedungen vergangener Positionen im Namen des bloßen Zeitfortgangs bedeuten, sondern - dessen bin ich mir sicher - eine authentische Schwellenformel. Nach Luhmann - das ist der Name für einen Einschnitt, eine epoché, im traditionellen Sinn des Wortes, die sowohl die Zäsur als auch die Zeit nach ihr bezeichnet. Wer nach einem Vermehrer lebt, muß als Nachkomme Zusätzliches leisten. Man wird in Zukunft, um auf der Höhe der Kunst zu sein, asich die Luhmannsche Lektion anmerken lassen müssen ....“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 82-83

„Ich habe soeben den Ausdruck Luhmansche Lektion gebraucht, ohne zu verkennen, daß ich damit eine kaum abzuleistende Hypothek auf die folgenden Überlegungen genommen habe. Es ist bei einem Werk vom Umfang des hier behandelten von vorneherein klar, daß auch ein geduldiger Rezipient nur mehr oder weniger privare Exzerpte aus einem kaum überschaubaren Diskursuniversum kommentieren kann. Es bleibt uns hier nur die Zuflucht zu einer Analogie, von der ich hoffe, daß sie Luhmann ehrt, ohne seine Leser zu kränken, nämlich der Hinweis auf das Phänomen des Sprachenlernens: Es ist eine Trivialität, daß nicht zwei Kinder in einer Population beim Spracherwerb mit genau denselben Satzvorkommnissen konfrontiert sind, weil jede natürliche Sprache von ihren Benutzern unvorhersehbar variantenreich und ideolektalisch gefärbt verwendet wird, zudem nicht selten fehlerhaft; und doch abstrahieren fast alle Kinder aus den verschiedensten Kollektionen von Mustersätzen mehr oder weniger präzise die Grammatik ihrer Muttersprache, so daß sie zumindest innerhalb ihres Milieus oder ihrer Schicht eines Tages als linguistische Erwachsene aufeinander zugehen können. Ganz ähnlich steht es um die Dinge im Archipel Luhmann, wo man aufgrund nicht-identischer Lektüremengen irgendwann zu einer Art Luhmanngrammatik findet, aufgrund welcher man sich mit anderen Touristen in Luhmannland - und wohl auch mit den wenigen wirklichen Einwohnern, sollte man sie treffen, doch halbwegs konsonant verständigen kann.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 83-84

„In Anerkennung dieser Schwierigkeiten und nur gestützt auf die genannten Gründe für hermeneutischen Optimismus, möchte ich einige Bemerkungen zu Protokoll geben über das, was in eminen Augen im Feld der Sozial- und Humanwissenschaften das Ereignis Luhmann ausmacht und dessenthalben die Formel »nach Luhmann« ein Niveau bezeichnet und nicht nur einen zufälligen Zeitraum nach dem Tod eines Gelehrten.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 84

„Ich spreche also über Luhmann als Anwalt des Teufels - eine Formulierung, die ahnen läßt, daß ich vorhabe, den Luhmannschen Impuls in eine moral- und metaphysikgeschichtliche Perspektive einzuzeichnen, genauer in eine mit dem Beginn der Moderne zwar unterbrochene, jedoch keineswegs beendete Geschichte theologisch determinierter Weltbildkonstruktionen, deren Sinn es war - wie zu zeigen bleibt -, durch eine Überinterpretation der menschlichen Freiheit und die damit gesetzte moralische Überbelastung des Menschen die Zurückführung weltlicher Übel auf die Sphäre göttlicher Erstursachen zu verhindern.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 84-85

„Der bipolar ausgestrittene Prozeß vor dem Gerichtshof der gläubigen Parteien ist eine Falle, in die der solchermaßen verflüssigte Heilige Geist nicht nicht gehen kann. Er geruht jedesmal, im Ergebnis eines Prozesses zu wehen, ganz so, als wehte er nicht länger, wo er will, sondern wo das Verfahren es erlaubt. (Vgl. G. M. Simpson, Die Versprachlichung (und Verflüssigung?)  des Sakralen. Eine theologische Untersuchung zu Jürgen Habermas' Theorie der Religion, in: Habermas und die Theologie, hg. von Edmund Arens, 1989, S. 145f.). Deswegen dürften wir uns. wären wir katholische Gläubige, der Gewißheit erfreuen, niemals an Unwürdige zu geraten, wenn wir die Fürbitte von kanonnisierten Heiligen bei Gott zu unseren Gunsten in Anspruch nähmen. Der prozedurale Filter garantiert ja, daß in den Rängen der offiziell aufgezählten communio sanctorum keine Scheinheiligen auftreten und uns diabolische Simulakren erspart bleiben, genauso wie man bei Kommunikationen gemäß Habermasschen Spielregeln die Gewißheit genießen darf, daß nach der Endausscheidung kein Dissenstheoretiker, kein Pluralist, kein Konstruktivist und vor allem kein Künstler im Kreis der wahrhaft vernünftig Kommunizierenden mehr dabei sein kann. (Vgl. Niklas Luhmann, Ich sehe was, was du nicht siehst, in: ders.: Soziologische Aufklärung, 5, Konstruktivistische Persepektiven, 1970, S, 228-234; Luhmann führt die strukturelle Intoleranz der Kritischen Theorie auf ihr Festhalten an alteuropäischen ontologischen Prämissen zurück; sie ist an einen obsoleten Wahrheitsbegriff fixiert, der Konvergenz im Objektiven verlangt, weil er von ontologischer Einwertigkeit [Sein ist] ausgeht und den zweiten Wert [Negation] für die Sphäre der Reflexion und der intersubjektiven Verständigung über das eine Wahre reserviert. Die unvermeidliche Folge hieraus ist Zwangskonsensualismus; dieser drängt den Anderen zwar nicht direkt die eigene Meinung auf, aber doch ein Verfahren, von dem man dasselbe Resultat erhofft. Die Aussichtslosigkeit dieser Position hat Gotthard Günther bereits 1968 in einer Renzension über Habermas’ Logik der Sozialwissenschaften klar bezeichnet. Vgl. Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 1968, S. 169: »Habermas steht in einer ehrwürdigen, aber unwiderruflich dem Verfall preisgegebenen Tradition, die nur dort ihr Leben fristet, wo sie mit längst veralteten Denkweisen arbeiten kann ....«).“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 87

„Es bedarf keines großen Aufwands, um plausibel zu machen, warum ich im folgenden das Muster des Teufelsanwalts von seiner historischen Quelle abziehe, um es für eine Rolle in einem historisch und sachlich anders beschriebenen Problemraum neu zu definieren. Es geht hierbei um das gegenteil von Heiligsprechungsprozeduren gegen das Adamsgeschlecht im ganzen -, Prozeduren, bei denen die Angehörigen der problematischen Gattung von alters her in die Position von überforderten Angeklagten gedrängt wurden. Der Prozeß, um den es in der Geschichte der christlich-abendländischen Ideen zu tun ist und in dessen Revisionsphase ich Luhmann als einen assoziieretn Anwalt der Verteidigung auftreten sehe, ist kein anderer als derjenige, den das paulinische und vornehmlich das augustinische Christentum gegen den Menschen und seinen transzendenten Verderber, den Teufel, angestrengt hat, indem es die Gattung der Sterblichen als Wesen beschrieb, die von einem frühen Moment ihrer Geschichte an unter die Knechtschaft des peccatum originale (oder der Ersten Sünde) geraten seien. .... Von augustinischen Tagen an ist die christliche Anthropologie von einer gravierenden Tendenz zur Überkulpabilisierung gezeichnet - das kann man längst gelassenen Tons konstatieren, ohne religionsfeindlicher Gesinnung oder neuheidnischer Lockerungen geziehen zu werden -, Momente neurotischer Apologetik ausgenommen. Wenn man neben all den bekannten Gründen für die Loslösung der Moderne von der alteuropäischen Tradition einen weniger beachteten und doch sehr triftigen angeben sollte, so läge er ohne Zweifel in dem Umstand, daß die seit dem 18. jahrhundert sich selbst so nennende Aufklärung ein permanentes Referndum zur Dekulpabilisierung des Menschen angestrengt hat - oder doch zumindest so etwas wie eine genartionenübergreifende Unterschriftensammlung initiiert hat, die auf eine neue Abstimmung über die menschliche Fundamentalschuld hinarbeitet, eine Sammlung, die wir inzwischen als die moralkritische Bibliothek der Moderne überblicken - mit Beiträgen, die von Monatigne bis Cioran und von Bacon bis Luhmann reichen. Es sei en passant notiert, daß es Odo Marquard ist, der die Logik dieser Sammlung formuliert hat. (Vgl. Odo Marquard, Der angeklagte und entlastete Mensch in der Philosophie de 18 Jahrhunderts, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 39-66).“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 88-89

„In der diskursiven Grundordnung Alteuropas ... ist es daher nicht so sehr der Teufel, der sich in Verfahren anwaltlich vertreten lassen müßte, sondern es ist der Mensch, der seinen Anwalt braucht angesichts der unermeßlichen Schuldbürden, die ihm von seinen christlichen Anklägern zwischen Paulus und Augustinus bis hin zu Pascal, Dostojewski und neuerdings von Levinas aufgeladen werden. Denn wie die europäische Ideen- und Kultgeschichte zeigt, findet sich die menschliche Gattung insgesamt nach der Vertreibung aus dem Paradies und dem Kreuzestod des Gottemenschen in einer doppelten Verlegenheit; zunächst jener, sich mit den Adamskindern für immer in der ersten Rebellion gegen das Gebot verfangen, und sodann jener, mit den Römern und anderen Reichs- und Machtmenschen am Gottesmord partizipiert zu haben. Beides genügt, um die kulpabilisierte Gattung heilsökonomisch ins Defizit zu bringen, und zwar in so gewaltigem Umfang und bei so aussichtsloser Überziehung aller Konten, daß die Menschen ohne eine Schuldenerlaß-Aktion seitens der Gläubigerinstanz nie mehr aus der metaphysischen Schuldenfalle herausgelangen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 89-90

„Wenn der Teufel für sich in bezug auf das unübertrefflich gute Eine und seine Welt überhaupt noch einen Unterschied markieren will, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Standpunkt des Bösen zu begeben. (.... Luhmann bemerkt hierzu, daß es genügt, das Privileg des Einen aufzuheben, um die moralische Grundevidenz der Moderne zu gewinnen: daß der Beobachter einer Einheit nicht per se als teuflischer Dissident derselber gelten muß.) - Bei dieser Lage der Problementwicklung ist es nützlich, sich an die Formulierungen zu erinnern, mit denen Augustinus die Kondition der gefallenen Menschheit ausgelegt und für die Jahrhunderte festgeschrieben hat. (Für das Folgende: De civitate Dei, Liber XI, 15-17, XII, 1-9, XIV, 11-14.) In ihnen finden wir erste Zugänge zu einer Problematik, die erst im Scheitelpunkt der Moderne mit dem erneuten Auftauchen der Frage, ob Selbstbezüglichkeit bei Mensch und System gut oder böse sei, auf eine neue Antwort drängen werden. Augustinus hat die strategische Bedeutsamkeit des Sündenbegriffs für die Stabilisierung des katholischen Universums gegenüber der antiken Skepisis erkannt und daher mit großem Scharfsinn eine ontologische Deduktion dessen, was nicht von Gott stammt und von ihm wegführt, unternommen. Es ... geht ... darum, die Bedingungen der Möglichkeit des Widerstands gegen das göttloiche Gesetz zu begreifen und in dieser die metaphysischen Anfangsgründe der sündhaften Dissidenz offenzulegen. Hier gelangt die augustinische Analyse - ob scheinhaft oder substantiell, das sei dahingestellt - bis in die Nachbarschaft zu modernen Aussagen, denn sie bringt es zu einer Art von Tiefendiagnostik über Strukturen korrupter menschlicher Subjektivität und eo ipso zu Formulierungen, die man bis heute bei Dialogphilosophen protestantischer, katholischer, jüdischer und psychoanalytischer Provenienz sowie in Begründungsdiskursen einer anthropologischen Psychiatrie in bestätigenden Wiederholungen hören kann. Da die Form der gefallenen menschlichen Subjektivität in der satanischen präfiguriert ist, genügt es für alles weitere, beim Ersten Verneiner anzusetzen und ihm bei seiner Sezession aus dem göttlichen Ganzen zuzusehen. Hier wird die metaphysische Deduktion der Äußerlichkeit gewonnen.Luhmann fängt als gewöhnlicher Konservativer an, um mit der Zeit zu dem zu werden, was eine italiensiche Kolumne einen Avantgarde-Konservativen genannt hat - man könnte auch sagen zu einem Vertreter eines Genres von Denkern, die sich der Kunst, kein Priester zu sein, in einer bisher nicht gekannten Konsequenz gewidmet haben. Intellektuelle, die Luhmann nahestanden, haben hierzu bemerkt, er habe die klassische Linke methodisch längst links überholt.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 94-96

„Der augustinische Satan ... findet alles, was zum Aufruhr nötig ist, in sich selbst - genauer gesagt: in seinem Vermögen der Freiheit, seiner wichtigsten Begabung. Kraft dieser kann er, die göttliche Schöpfung ex nihilio parodierend, sein Nein aus dem Abgrund eines unmotivierten Willens hervorbringen. Man darf deshalb hier nicht fragen, warum und woher er den bösen Willen hat. Er will, wie er will, und weiter nichts. Der Wille ... richtet sich auf sich selbst ... So beginnt er auf eine freie, ungenötigte und daher allein ihm zurechenbare Weise für diesmal und für immer mit sich selbst. Und eben dies: Mit sich selbst den Anfang zu machen, obwohl ein anderer, ein älterer, ein würdevollerer Anfang zu respektieren gewesen wäre - das ist nach der Einsicht des Augustinus, und aller Konservativen nach ihm, der Anfang der Sünde. Das Sündigen ist eine inchoative Operation, in welcher Originalität und Negativität ineinander verschlungen sind. Sündigen ist letztlich immer Anfangen mit dem Falschen - auch wo es nur wie ein Weitermachen erscheint. Es trägt den Charakter einer »Tathandlung« der Spaltung.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 97

„Was platonisch als bloßes malum privativum beginnt, verdichtet sich christlich im Teufels-Ego zu einer malignen Privatheit von eigenmächtiger und untherapierbarer Intensität. Der Böse zieht einen eigenen Kreis um die Zwei; sein Kreis steht für die systemische Geschlossenheit. So wird der Teufel der Herr dieser Welt, zum Herrn der Selbstbezüglichkeit.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 98

„An dieser Fehlhaltung erkennen die alteuropäischen Beschuldigungsspezialisten bis heute ihre Klienten, auch längst nachdem man vom Sündentadel zur Narzißmuskritik übergegangen ist.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 99

„Während es seit langem unter Gebildeten zum guten Ton gehört, sich zu einem methodischen und eventuell zu einem existentiellen Atheismus zu bekennen, bleibt der entsprechende Asatanismus merkwürdig unterentwickelt. Der Grund hierfür ist nur scheinbar in dem Umstand zu finden, daß unter den Modernen ohnedies niemand mehr an den Widersacher glaubt. In Wahrheit hat die Aufklärung die Kategorie des Widersacherischen in solchem Maße verallgemeinert, daß deren religiöse Herkunft okkultiert und durch eine weltliche Besetzung der bösen Funktionsstelle überformt werden konnte. .... Folgerichtig bleibt im modernen Ansatz die kulpabilistische Matrix weiter in Gebrauch, die offensichtlich mächtiger ist als die Differenz zwischen mittealterlicher und neuzeitlicher Metaphysik. Indessen kommen neue Instanzen und originelle Kandidaten für die Stelle des Ersten Übels ins Spiel, auf welche die Last des nach wie vor imposanten Weltbösen verteilt wird: die bürgerliche Eigentumsordnung, die Klassenherrschaft, der Kapitalsprozeß, die Identitätslogik, die Tauschabstraktion, der Todestrieb, die perverse Rebellion des Subjekts gegen die symbolische Ordnung, der objektivistische Subjektivismus der Neuzeit, der Logozentrismus, die Weigerung, den Vorrang des Anderen zuzugestehen, die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Macht- und Geldsysteme - und einiges mehr.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 100-102

„Nicht nur gilt in der Moderne weiter der Satz, daß groß irren muß, wer groß denkt; es gilt noch mehr, daß groß wegräumen muß, wer sich groß behindert sieht. Sobald das Beiseiteräumen und Umwälzen in großem Stil auf die historiche Tagesordnung gesetzt wurden, entstanden Theorien und Praxen dessen, was man die Revolutionen (im nicht-astronomischen Wortsinn) nannte, Bewegungsprojekte mithin, die strukturell nichts anderes bedeuten als Versuche, Hindernisse zu beseitigen, die sich der Entfaltung einer nach Vollmacht strebenden Subjektivität in den Weg stellen. Solche Unternehmen präsentieren sich als Aktivismus des Guten. Modern ist an den Beseitigungsphantasien dieser Art, daß sie die vormoderne Dämpfung der Gewalt durch die Gnade nicht mehr kennen. Die Maxime der neuartig verschärften, radikal-humanistisch motivierten Beseitigungskritik hat Marx frühzeitig formuliert: »Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will.« (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, 1843/’44). Man kann die Meinung vertreten, daß Luhmanns Werk im ganzen eine therapeutische Konfession gegen die Versuchung der Intellektuellen durch die wegräumende Gewalt darstellt. Die lakonischste seiner Antworten hat er in einem Pressegespräch gegeben: »Es geht doch einfach nicht, daß man die andere Hälfte beseitigt und sich selbst an ihre Stelle setzt.« (N. Luhmann, Archimedes und wir, Interviews, Berlin, 1987, S. 104).“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 102-103

„Die Stelle der Anwaltschaft muß im Prozeß der Moderne also ganz anders ausgelegt werden als im katholischen Heiligsprechungsverfahren. Unter den gegebenen Bedingungen tritt der advocatus dei auf die Seite des in seiner Entfaltung noch behinderten Subjekts, während der advocatus diaboli die Partei der Hindernisse ergreift, die der Gefahr ausgesetzt sind, von den Agenten der expansiven Subjektivität weggeräumt zu werden. Dies scheint während der Hochzeit aufklärerischer Publizistik ein hinreichend klares Szenario zu ergeben, das auf der Seite Gottes den Fortschritt zeigt und auf der Seite des Teufels die Reaktion. Tatsächlich verstehen sich zahlreiche progressive Intellektuelle in modernisierten Gesellschaften als parakletische Funktionäre, indem sie agitierend und stellvertretend das Vorsprecheramt in bezug auf noch nicht ausreichend zur Selbstvertretung befreite Gruppen wahrnehmen. Hingegen plädieren die Sprecher der sogenannten Reaktion für etablierte Interessen, von denen sie behaupten, sie seien mit den Ordnungsaufgaben des Ganzen enger verwoben als die progressive Frivolität zu begreifen vermag. “
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 103

„Die Denkform, die diesen Schematisierungen zugrundeliegt, ist, wie man sieht, auch in den modernen Konflikszenarien kulpabilistisch und prozessualistisch geprägt, obschon die Rollen anders verteilt sind als in der mittelalterlichen Prozeßordnung. Insbesondere ist sie nach wie vor an einer starken Konzeption von Freiheit interessiert - jetzt aber unter dem Triumphtitel des Subjekts. Gefragt bleibt eine Täterposition, die hohe und höchste Schuldzurechnungen aushält. Der Übertreibung der Subjektivität korrespondiert die Zustellung übertriebener Anklagen wegen unterlassener oder verhinderter Weltverbesserung. Darum ist es plausibel, wenn die in solchen Prozessen engagierten Intellektuellen nicht nur an Rhetoriken und Routinen alteuropäischer Rechtsstreitigkeiten anknüpfen, sondern ebensosehr am Habitus des priesterlichen Mittlertums und mehr noch an der Sorge um die Abwehr von Häresien.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 104

„Ich möchte nun zeigen oder zumindest andeuten, wie die Interventionen Niklas Luhmanns in diesen Szenarien eine radikal veränderte Wahrnehmung herbeiführt. Dabei braucht nicht verschwiegen zu werden, daß Luhmanns Ausgangspunkt, lebensgeschichtlich und vortheoretisch, wohl eher auf der Seite zu suchen ist, der ich soeben als leitendes Interesse die Verteidigung der Hindernisse gegen ihre Beseitiger zugesprochen habe. Luhmann fängt als gewöhnlicher Konservativer an, um mit der Zeit zu dem zu werden, was eine italiensiche Kolumne einen Avantgarde-Konservativen genannt hat - man könnte auch sagen zu einem Vertreter eines Genres von Denkern, die sich der Kunst, kein Priester zu sein, in einer bisher nicht gekannten Konsequenz gewidmet haben. Intellektuelle, die Luhmann nahestanden, haben hierzu bemerkt, er habe die klassische Linke methodisch längst links überholt. Gerade weil Luhmann der rebellische oder revolutionäre Impuls existentiell fremd geblieben ist; weil ihm das Wegräumenwollen von expansiven Ansprüchen einer aufsteigenden Gruppensubjektivität entgegenstehenden Hindernissen auf vitaler Ebene unzugänglich war; weil er durch eine unerklärliche Bescheidenheit für sich selbst und seine Umgebung nichts finden konnte, was unter allen Umständen umgewälzt und ausgeräumt werden sollte, war er dazu disponiert, sich freizumachen von allen positiv oder hypokritisch parakletischen Rollen. Er ist darum vielleicht der einzige wirkliche Asatanist dieses Jahrhunderts, weil er sich an keinem Sektor oder, wie er selbst sagen würde, an keinem Subsystem des sozialen Multiversums als solchem stößt, sondern jedem Bereich das Seine zu geben bereit ist, ohne von Beseitigungsphantasien bedrängt zu werden.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 104-105

„Die Konsequenzen aus diesem Ansatz reichen außerordentlich weit. Man greift sie am deutlichsten in der für Luhmann charakteristischen Wahl einer Schlüsselunterscheidung: der von System und Umwelt - einer Differenz, die eben eine Relation bezeichnet, an der sich keine Seite für Eliminierungen eignet. In dieser ersten Distinktion ist ein Aufeinanderbezogen-Sein der Pole mit ausgesagt, dem man durch Reflexe des Wegräumens eines vermeintlich widersacherischen Teils nicht gerecht werden kann. Aber auch der Systembegriff für sich trägt schon die Spuren einer gegen-parakletischen Ironie an sich, denn wer nach 1960 ... als Systemtheoretiker aufzutreten wagte, mußte sich mit einer Semantik auseinandersetzen, nach welcher Systeme den Inbegriff von entfernungswürdigen Hindernissen bezeichneten - von der Weimarer Republik an, in der die Abschaffung des »Systems« im rechten wie im linken Jargon als eine Heilsbedingung galt, bis in die siebziger und achtziger Jahre der Bundesrepublik (Bonner Republik; HB), in der die Terminologie der Frankfurter Schule und des Neomarxismus in all seinen Spielarten mehr oder weniger diskrete Beseitigungsphantasien in bezug auf das hervorrief, was man dem Kapitalsystem, der Tauschlogik, den nicht-idealen Gesprächssituationebn und ähnlichen Auskristallisierungen des Widersacherischen zur Last legen wollte. Am deutlichsten trat der parakletische Exterminismus am radikalen Flügel der Studentenbewegung hervor, der mit dem Phantom des bewaffneten Widerstands rang. Widerstandsmotive sind strukturell auch präsent im Theoriedesign der Habermasschen Kommunikationstheorie, sofern in dieser zwischen der »Lebenswelt« und den sie belagernden »Systemen« fast wie zwischen Heil aus Eigenem und Unheil durch Fremdes unterschieden wurde. (Im wesentlichen ist die Krudität des Gegensatzes von Lebenswelt und System auf das nur abgedrängte, nie geklärte Verhältnis von Habermas zu Heidegger zurückzuführen, der seinerseits schon zwischen der Sphäre des dichterischen Wohnens und jener der Verwüstung durch das Ge-stell unterschieden hatte. Wer diese Differenz unbewußt übernimmt, erbt damit nicht allein neu-mythische Figuren, sondern auch das moralische Dilemma des Dualismus zwischen den Seinsregionen des eigentlichen und des uneigentlichen Daseins.)
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 105-106

„Gegenüber diesen Vorgaben, in denen unter dem selbstehrenden Titel der Kritik eine okkultierte Lehre vom Widersacherischen sich akademisch etabliert hatte, und zwar bezeichnenderweise nicht in den theologischen Fakultäten, sondern in den soziologischen Fachbereichen, mußte Luhmann seine primäre Intuition in langwierigen Prozessen durchsetzen; daß man, um Systeme wirklich zu untersuchen, diesen die Toleranz entgegenzubringen hat, als das erscheinen zu dürfen, was sie sind, ohne ihnen ihr So-Sein oder So-Funktionieren vorzuwerfen und ohne ihnen entgegenzuhalten, daß sie nicht sind, was sie nicht sein können. In diesem Sinn bezeichne ich Luhmann als einen advocatus diaboli von einer bisher nicht gekannten Qualität. Die Pointe seiner Anwaltschaft für das Systemische liegt darin, daß er den Bereich des Systemhaften als solchen entsatanisiert und ihn freihält von der parakletischen Ungeduld, die beseitigen möchte, was dem Begehren des Subjekts nicht unmittelbar und dem langen Marsch der vorgeblich höherstufigen Subjektivitäten zur Weltvernunftherrschaft auch nicht so leicht mittelbar eingeordnet werden kann. Ich will damit nicht sagen, Luhmanns Ansatz sei ganz ohne Beispiel gewesen, denn etwa beim frühen Plessner, als er die »Grenzen der Gemeinschaft« herausstellte, oder bei Gehlen, als er von der »Geburt der Freiheit aus der Entfremdung« (Arnold Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 40, 1952) handelte, waren analoge subjektivitätskritische Denkbewegungen an den Tag getreten - im übrigen mit einer ähnlichen Ironie gegen die Bedürfnisse der politisierenden Unmittelbarkeit und mit einer vergleichbaren Aufmerksamnkeit für den systemischen Eigensinn von sozialen Großstrukturen. Aber nie zuvor ist der methodische Atheismus der neuzeitlichen Wissenschaften von einem so weit gehenden Asatanismus ergänzt worden. Es ist ein nahezu neuer Ton in den Sozialwissenschaften, daß nicht mehr mit einem peccatum originale, mit einem Ersten Verbrechen, oder einem anfänglichen Sturz in die Entfremdung begonnen wird. Etwas hiervon klingt an im Titel eines Luhmann-Aufsatzes über den Wandel juristischer und geschichtsphilosophischer Deutungen zum Ursprung des Privateigentums zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert: »Am Anfang war kein Unrecht«. Zieht man in Betracht, wie zurückhaltend Luhmann die Überschriften seiner Bücher und Aufsätze zu formulieren pflegte, wird die Vermutung legitim, daß im Titel dieser rechtssemantischen Spezialuntersuchung wohl auch ein Hauch von Bekenntnis mitspielt. Mehr noch macht sich in dem zweiten Primärgedanken Luhmanns, dem Theorem von der Ausdifferenzierung der Subsysteme, die Sorge des Autors um den Schutz der Theorie vor Übergriffen des Ressentiments bemerkbar: Ihm standen angesichts einer hundertjährigen Geschichte aufgebrachter Soziologien die Risiken vor Augen, die von ökonomistisch totalisierenden Beschreibungen der Beziehungen zwischen den sozialen Teilsystemen ausgehen. Das Ausdifferenzierungstheorem dient auch als eine Hygienemaßnahme, die vor erneuten wilden Anwendungen des Schemas von Basis und Überbau schützen soll.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 106-108

„Die methodische Unschuldsunterstellung in bezug auf Systeme in ihren Umwelten läßt sich nur durchhalten, wenn auf der Seite des Analytikers eine spezifische Abstinenz gewahrt wird - ich möchte sie als eine systemtheoretische Gelassenheit bezeichnen, auf die Gefahr hin, daß eine Versuchung aufkommen könnte, den Namen Luhmanns mit dem von Meister Eckhart und Heidegger in einem Atemzug zu nennen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 108

„Wenn gelegentlich die These zu hören war, Luhmann sei »eigentlich« kein Soziologe, sondern ein Philosoph in der Maske des Sozialwissenschaftlers, so ist an dieser Feststellung soviel wahr, daß Luhmann die theorieasketische Grundlage der Phänomenologie mit seinen Mitteln wiederholt: die Einklammerung der vitalen Intentionen und der existentiellen Stellungnahmen des Theoretikers, damit »die Welt und alles, was ich von ihr weiß, zu bloßem Phänomen werden kann« (Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, 1931, S. 176). Man könnte auch sagen, daß er die epoché in bezug auf eine andere Phänomen-Menge erneut erfunden hat. Handelt es sich bei der ersten Menge um das Bewußtseinsleben eines »Subjekts«, das seine Vorstellungstätigkeit untersucht, als wäre es nicht seine eigene, so bei der zweiten um das Systemleben im allgemeinen, das in neutraler Einstellung durchgenommen wird, als käme es den Agenten der Systemanalyse nicht auf sich selber an. Dazu gehört jene Unschuldsvermutung gegen Systeme als solche, die deren nicht-zelotisches Studium allererst möglich macht.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 108-109

„In diesem doppelt »eopochalen« Entübelungsmanöver gilt es nun, die heiße Stelle genauer ins Auge zu fassen - ich meine die Frage nach der Selbstbezüglichkeit, von der wir durch die oben gemachten Andeutungen wissen, daß sie für die metaphysische Verübelungsprozedur in bezug auf den Menschen und seine irdische Civitas von ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist. Ich muß mich hier mit dem Hinweis begnügen, daß das Verdikt gegen menschliche Selbstbezüglichkeit zu den Konstanten der moralkritischen Diskurse in Europa von der Spätantike bis in die Gegenwart gehört und hier ein wie immer zerklüftetes und in sich gedrehtes Kontinuum von Anti-Narzißmus-Optionen anzunehmen ist.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 109-110

„Angesichts dieser durchgehaltenen Serie von Schelten gegen überwertige und schädliche menschliche Selbstreferentialität scheint der Anteil des Teufels auch in moderner Zeit klar der Subjektseite zugewiesen zu sein. Gegen diese Distribution des Teufelsanteils mußte nun ein Asatanismus zweiten Typs seine Mittel ansetzen und den Nachweis führen, es habe mit dem viel geschmähten Selbstbezug des Subjekts oder anderer armer Teufel eine so durchaus üble Bewandnis doch nicht. Man darf behaupten, daß gerade an dieser Stelle die für Luhmann typische Abstinenz von moralisierenden Begriffsbildungen ihre besten Effekte zeigt. Indem Luhmann das gesamte Feld des Relationsverhaltens von Systemen zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz nüchtern exponiert und zur Neubeschreibung freigibt, bewirkt er eine erheiternde De-Eskalation in allem, was die Kulpabilisierung des Menschen anbelangt. Die Ironie des Verfahrens besteht darin, die Menschen von der weltbildarchitektonisch motivierten Überbelastung als angeblich unmäßig in sich eingekrümmte Subjekte zu emanzipieren und sie teilnehmen zu lassen an der Quasi-Unschuld naturwüchsiger, systemisch bedingter Selbstreferentialität, von der wir wissen, daß sie nur eine notwendige und unvermeidliche Ausschlagrichtung eines allgemeinen Referenzverhaltens darstellt, das nicht anders kann, als ständig zwischen Selbstpol und Fremdpol zu oszillieren - und dies bei einem systemnotwendigen Primat des Inneren.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 111-112

„Der Abbau der Subjektüberlastung hat also eine zugleich epistemologische und moraltheoretische Implikation, weil nun Selbstreferentialität - als allgemeiner Systemaspekt aufgefaßt - weder exklusiv der menschlichen Subjektivität zugeschrieben werden muß noch mit einem Narzißmusverdacht a priori zu belegen ist.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 112

„Das wichtigste Entlastungsmotiv wird von Luhmann aus der modernen Biologie und Metabiologie übernommen, in der sich zeigt, daß Selbstbezüglichkeit nicht etwas ist, was erst nach der Entstehung von Ich-Bewußtsein ins Spiel käme - als wäre sie ein parasitärer Zusatz zu einem vorgängig reflexionsfrei eingerichteten organismischen Sein, gewissermaßen eine unberechtigte, genießende Introversion, die sich von einer älteren selbstlosen Norm entfernte. Vielmehr treten Selbstverhältnisse schon auf der ersten Stufe des Lebens auf, insofern dieses als Inbegriff selbstschöpferischer Prozeßordnungen beschrieben werden muß. Das Selbst der Autopoiesis lebendiger Systemeinheiten spiegelt eher die Güte der gelungenen Schöpfung als eine narzißtische Revolte wider - denn Organismen sind als Intelligenzverkörperungen verfaßt, an denen sich die Doppelbewegung des Selbst- und Fremdbezugs von Anfang an beobachten läßt. In höheren Organismen kann Selbstbezug auch die Form von Sich-Erleben und symbolvermitteltem Selbstbewußtsein annehmen. Doch wenngleich Organismen Materialisationen ihres Intelligenz- und Erfolgdesigns darstellen und, dementsprechend, auf die permanente Abtastung und Nachregelung von eigenen Zuständen angelegt sind, so sind sie nirgends darauf eingerichtet, sich in sich selbst vollständig zu reflektieren oder zu repräsentieren. Sie sind, um es anders auszudrücken, nicht darauf ausgelegt, die Wahrheit über sich in sich zu haben. Dieser Sachverhalt läßt sich im Blick auf das anspruchsvollste Beispiel am populärsten erklären: Es gibt kein menschliches Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis ins einzelne wüßte, wie es selbst funktioniert, geschweige denn eines, das sich bei laufendem Betrieb eine komplette Repräsentation seiner historischen und strukturellen Betriebsbedingungen - im Sinne eines hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes - gegenwärtig halten könnte. .... Es existiert in dieser Hinsicht weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt noch ein freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuß prädisponiertes Ego, das als Zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mirt allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber es exstieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder mißlungene Autopoiesen, die - wenn man ihnen abhelfen will - in therapeutischer Einstellung studiert werden müssen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 113-115

„Luhmann ist also ein Anwalt des Teufels in dem paradoxen Sinn, daß er die Diabolizität des potentiell Diabolischen als solche in Frage stellt. Wenn das »Subjektive« nicht das Willkürliche ist, ist die Subjektwillkür nicht per se das Böse. »In der Realität gibt es keine Willkür, die gleichsam am Subjekt haftet.« (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 876). Luhmann verteidigt die Selbstbezüglichkeit der Systeme, indem er an ihnen nicht die schuldhafte Selbsteinkrümmung und ihre unmoralische Abwendung vom Anderen betont, sondern sich in Ruhe dem Nachweis widmet, daß es anders als vorrangig selbstbezüglich bei Systemen ohnedies nicht geht. Er empfiehlt sich infolgedessen als der Anwalt einer naturalisierten oder besser: systemisch neutralisierten Selbstreferentialität, welche für ihn schlicht eine Phase in einer permanenten Schwingung darstellt - einen Sachverhalt, den er in seiner im avanciertesten Sinn des Wortes philosophischen Wiener Vorlesung vom Mai 1995 über Husserls Wiener Vorlesung vom Mai 1935 Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie als eine »bistabile Oszillation« beschrieben hat. Die Pointe dieser Auffassung besteht darin: Sie ersetzt das philosophie-intern übliche Ausgehen von einem Prinzip, es heiße Gott oder Subjekt oder Verständigungsprozeß, durch eine gedächtnisgestützte Pendelbewegung in einem System - Luhmann nennt sie das bistabile Schwanken zwischen Innen- und Außenreferenz -, bei der das Problem einer »Erbsünde« schlechterdings nicht auftaucht. Die kontinuitätsermöglichende Oszillation stellt aus ihrem Eigenablauf heraus sicher, daß das System sich von den beiden Gefährdungen zurückzieht, die bei einer einpoligen Orientierung drohten. Ein korrekt funktionierender Referenz-Oszillator ... verliert sich weder ganz an die Welt als den Fremdreferenzpol, noch versinkt er ganz in sich selbst als den Selbstreferenzpol. Vielmehr weicht er kraft einer permanenten Selbstjustierung sowohl vor dem Positivismus als auch vor dem Autismus zurück, und zwar gerade dann, wenn er sich einem der Pole aufgrund einer internen Unbalance seiner Lerngeschichte allzu weit angenähert haben sollte.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 115-116

„Ich darf mir hier die Anmerkung gestatten, daß Luhmanns Wendung vom »bistabilen Schwanken« bei all ihrer technischen Kühle ein gewisses Pathos an sich trägt, das sich verdeutlicht, wenn man sich bewußt macht, daß sie formal konvergiert mit Heideggers Ausführungen über den Unterschied zwischen der metaphysisch ausgelegten Bewegung in der Ruhe und der nachmetaphysisch überdachten Ruhe in der Bewegung - mehr noch, daß hier sich auf die diskreteste Weise ein gleichsam buddhistischer Zug in die Prämissen systemtheoretischer Vernunft einprägt. .... Wenn Heidegger sich für sein metaphysikverwindendes Denken reklamierte, die Antwort auf Platons im Sophistes gestellte Frage zu kennen, wie das Sein oder das Ganze zugleich in Ruhe und in Bewegung sein könne, indem er das Wort von der Gelassenheit neu ins Spiel brachte - ein Ausdruck, der eine Abdankungsform des absoluten Wissens bezeichnet -, so hat Luhmann die Gelassenheit noch weiter aus der Pathoszone herausgesteuert, indem er Wert legte auf die Feststellung, daß einem Bewußtsein ohnehin nichts anderes übrigbleibt, als von jedem seiner intern erreichten Zustände aus weiterzumachen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 116-117

„Ich habe anfangs den etwas verfänglichen Ausdruck »Luhmanns Lektion« gebraucht und gleichzeitig vor möglichen Implikationen dieser Wendung gewarnt. Inzwischen scheint es, daß zumindest ein Fragment oder eine Sinnschicht dessen, was damit gemeint ist, ein wenig deutlicher geworden sein könnte. Luhmann, als resolut moderner, asatanistischer Anwalt des Teufels, ist der Verteidiger einer komplexer als je zuvor beschriebenen sozialen Normalität - einer Normalität, von der nun von vorneherein ausgemacht ist, daß sie durch hohe Komplexität und Verfangenheit aller Systeme in immanent unausweichlichen Paradoxien charakterisiert ist. Die Luhmannsche Normalität ist die Normalität des Ungeheuren, das sich in Selbstordnungen des Lebendigen eine Verfassung gibt - vielmehr zahlreiche lokale Verfassungen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 117

„Wenn ich also für Luhmanns Lektion einen zusammenfassenden Ausdruck bilden sollte, so würde ich vorschlagen, seinen Beitrag zur Theoriekultur der Zukunft als einen Fundamentalinnozentismus zu bezeichnen - ein Worthybrid, der einen juristischen und einen philosophischen Anteil enthält. Innozentismus meint eine unter guten Anwälten und Therapeuten anzutreffende Grundhaltung, die von der Unschuldsvermutung gegenüber Subjekten und Systemen welcher Art auch immer geprägt ist. Diese Vermutung wird von der Einsicht unterstützt, daß Systeme und andere Verdächtige üblicherweise nichts Besseres zu tun haben, als zu funktionieren, wie sie funktionieren, die möglichen funktionalen Varianten mitgerechnet, und das die Beweislast für die These, sie sollten und könnten anders funktionieren, als sie es tun, beim Ankläger liegt - ein Anliegen, das keinen allgemeinen Beifall genießt, denn alle Formen von kritischer Theorie gehen vom Vorrang der Beschuldigung aus und muten den angeklagten Zuständen zu, sich vor ihren Anklägern zu rechtfertigen. Dieses Verfahren, das man jakobinisch oder fundamentalistisch nennen kann, ist zugleich immer immer auch hypokritisch, weil es von der Überzeugung gesteuert ist, der als Mißstand beschriebene Zustand sei niemals in der Lage, seine Apologie zu leisten.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 117-118

„Luhmanns Fundamentalinnozentismus entzieht diesem Arrangement die Voraussetzungen, indem er seine analytische Prozeduren in einer ganz anders ausgelegten Szene ansiedelt. Er operiert in einem Raum. in dem gelassene Schwankungen zwischen Distanz und Partizipation möglich sind und in dem vorausgesetzt werden darf, daß auch Kritiker an dem teilnehmen, woran sie doch teilhaben -oschon sie sich irgendwelche Rückzüge und Reinheitsreserven einbilden. Damit wird die Heuchelei der Kritik als das beschrieben, was sie ist: als Koinzidenz von Hypokrisie udn Utopie im buchstäblichen Wortsinn - das heißt als Schauspielerei auf eine Bühne, die an einem Nicht-Ort steht und die sich dennoch Beachtung verschafft aufgrund ihres Vermögens, mit aggressiven Sprechakten zu faszinieren. Denn weil die kritischen Theorien über die Anklage, den Alarm und die Geste der Exkommunikation verfügen, spielen sie ständig an auf den Ernstfall, der die ,oralische Auslöschung des Gegners fordert: »Wem solche Lehren nicht erfreu’n / Verdient es nicht, ein Mensch zu sein«“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 118

„Der Innozentismus wird als »fundamental« qualifiziert, nicht um auch der Systemtheorie fundamentalistische Züge anzuhängen, sondern um darauf hinzuweisen, daß sie, sobald sie auf Augenhöhe mit traditionellen parakletischen Philosophien und Theologien operiert, nicht anders kann, als gleich tief anzusetzen wie die Funadamentalkulpabilismen, in denen die alteuropäische Menschenüberlastungstradition sich manifestiert, mitsamt ihren Nachzündungen in der Existentialontologie, in der Kritischen Theorie und, wenn nicht alles trügt, auch in einem Zweig der Dialogtheorien, die neuerdings einen bemerkenswerten Teil der diskursiven Energie von der Sozialphilosophie und Pastoraltheologie zur Ethik abziehen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 119

„Während die Fundamentalkulpabilismen ihre Erfolge erzielen durch den Reiz des Bösen, das sie so kritisch wie hypokritisch herausstellen, arbeitet der Fundamentalinnozentismus mit der Diskretion des Nicht-Bösen. Ihm ist an dem Nachweis gelegen, daß menschliche Selbstbezüglichkeit eine zu schwache Adresse ist, um ihr das ganze Dossier der Anklage gegen die Wltmißstände zuzustellen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 119

„Es gibt, nach Luhmann, zwar weite Spielräume des Zufälligen im Aufbau von Systemen, aber nirgendwo kann von so viel Freiheit die Rede sein, daß so viel Schuldfähigkeit und Berechtigung, Anklagen zu erheben, aus ihr folgen könnten. Es ist Luhmanns große theoriestrategische Intuition, das metaphysisch überspannte Freiheitsmotiv im Aufbau von Handlungssystemen samt ihrer ethischen Begründungen auf ein Maß zurückzuführen, das zu einer vernünftigen Zurücknahme der Beschuldigungsdisposition geneigt macht.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 119

„Dieser Einspruch könnte auf längere Sicht einen wichtigen Akzentwechsel im moralkritischen Haushalt moderner Gesellschaften herbeiführen, weil dabei die alteuropäische Übung, das Böse als Synthese aus egoistischer Täterbosheit und widersacherischer Sachverhaltsbosheit zu verstehen, ersetzt würde durch eine diskrete Ermittlung dessen, was Florain Rötzer mit einem glücklichen Ausdruck das Systemböse genant hat. (Vgl. Florian Rötzer, Reflexionsschleifen über Zumutungen oder: Was heißt es, sich in komplexen Systemen zu orientieren?, in: Ders., Das Böse. Jenseits von Absichten und Tätern oder: Ist der Teufel ins System ausgewandert?, 1995, S. 32. Luhmanns moralismuskritische Intuitionen konvergieren bemerkenswert mit den Überlegungen Michel Serres’ zum un- und überpersönlichen Charakter der Übel und zu der tragischen Konstante in der menschlichen Kondition; Serres empfiehlt, das aktive Übel wie ein unpersönliches Verbum zu konjugieren: »Es regnet, es friert, es donnert«. »Aus eine flukturierenden permanenten Wolke fallen indifferente Schadensniederschläge auf die Köpfe aller und auf einzelne.« Vgl. a.a.O., S. 278. Diese Bemerkungen richten sich gegen die »Philosophien des Verdachts«, deren Präsenz in den Intellektuellenkulturen Frankreichs kaum weniger massiv ist als in Deutschland.)
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 119-120

„Es ist kein Zufall, daß in die Ironie erst wieder Bewegung kommt, als mit der transzendentalen Wende zum Deutschen Idealismus die Philosophie selbst unter neue Vorzeichen tritt. Infolge des erhöhten Reflexionseinsatzes nach Kant und Fichte entsteht in den gleichzeitigen Poetiken eine potenzierte Form der Ironie, die unter dem Titel der romantischen entworfen, rezipiert und verteidigt wurde - eine Ironie, mit der die Kunst, es anders zu meinen, als es dasteht, mehr noch die Kunst, dem, was dasteht, überhaupt den Boden zu entziehen, eine neue Höhe erreicht. Die provozierte Ironie antizipiert eine Bewußtseinslage, die wir heute mit dem Ausdruck Konstruktivismus assoziieren. Sie akzentuiert die Souveränität des setzenden und aufhebenden Subjekts, das seiner Schwebe zwischen Produktivität und Destruktivität bewußt ist - in teils genießender, teils depressiver Haltung.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 124

„Die modernisierte Ironie zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß sie die Abwendung des Subjekts von seinen vorübergehenden Engagements als eine legitime Weise, mit Dingen und Personen zu spielen, freigibt.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 125

„Wenn ich es mir erlauben darf, eine ironiegeschichtliche Situierung Niklas Luhmanns vorzuschlagen, so kann dies nur durch den Hinweis geschehen, daß sich in seinem Werk die Heraufkunft eines dritten Ironietyps andeutet, den ich den kybernetischen nennen will. Die kybernetische Ironie setzt die romantische voraus, so wie diese die sokratische zur Prämisse hatte. Aber sie bereitet dem Subjekt der romantischen Ironie, dem zwischen seinen Setzungen und deren Aufhebung schwebenden Subjekt, ein subversives Schicksal, indem sie ihm zumutet, sich selbst als Epiphänomen in einem System aus Systemen zu verstehen, das viel zu komplex und eigensinnig ist, um von einem Subjekt gesetzt oder aufgehoben zu werden.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 126

„Der ironische Code antizipierte die Mehwertigkeit vom Beginn des Zeitalters an, in dem die Zweiwertigkeit das Schicksal des Denkens für immer zu bestimmen schien. Es gab sich selbst als jenes Dritte, das auf der Ebene der Aussagenlogik nicht gegeben werden konnte.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 128

„Die Möglichkeit von dritter Ironie steht und fällt mit der Ironisierbarkeit von Immersionen. Deren bisher mächtigste philosophische Antizipation findet sich in Heideggers Man-Kapitel aus Sein und Zeit, sofern dort das Existieren im Modus des Verfallens an die Mitwelt ausgelegt wird als Immersion in eine Vulgarität, die scheinbar ohne Alternative ist und doch - gleichsam ekstatisch von innen her - radikal gegen sich selbst gekehrt werden kann. Beim Gang durch die totale Installation des Daseins ist ein Heideggerianer doch irgendwie zu einem entschlosseneren und vornehmeren Benehmen fähig als die unschlüssigen und massenhaften Besucher - zumindest erwartet er dies von sich selbst. Noch eine Stufe ironischer ist Luhmanns Diskretion, mit der er aufzuzeigen versucht, daß ein Individuum ohnehin nie wirklich ganz in seine Umwelt oder sein Anderes eintauchen und darin untergehen kann - es sei denn, es benutzte die Umwelt wie eine Droge oder einen Cyberspace, aus dem es keinen Rückzug gäbe.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 131

„Die Systemtheorie ... spricht eine Sprache, bei der es zunehmend unwichtiger wird, ob sie von Personen oder höheren Mechanismen handelt. Als Cyberspace ist sie das Organon einer polyvalenten Ontologie, die sich von der alteuropäischen Unterscheidung des Seins, welches ist, vom Nichts, welches nicht ist, abgestoßen hat, um höhere Komplexitätem aufzubauen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 133

„Wenn die moderne Welt als ganze denken könnte, es müßte Luhmann dabei entstehen - vorausgesetzt, daß seine Version von Systemtheorie die autotherapeutische Konsequenz der Moderne artikuliert, sich den Zwangskonstruktionen der Vernunft-Paranoia und ihrer Totalisierungen in großer Politik und großem Konsensus zu entziehen. Die wichtigsten Agentien der Luhmann-Therapie gegen monomanische Risiken und Nebenwirkungen alteuropäischer Denkformen haben wir im Gang unserer Überlegungen bereits angesprochen: die Wiederholung der phänomenologischen epoché in bezug auf die systemischen Größen; die Ergänzung des methodischen Atheismus durch den methodischen Asatanismus; den Einsatz hoher Ironien gegen hohe Prätentionen totalisierender Subjektivität; die Offenlegung des polemogenen Charakters von vorgeblich kritischen Theorien und guten Moralen; die Ersetzung von eingespielten Beschreibungsroutinen durch neue, inkongruente Zugänge. Der bedeutendste Zug in diesem Programm ist ... die Einklammerung dessen, was traditionell unter Normalität verstanden wurde - und mehr noch die Suspension des Realitätsglaubens als solchem. Erst hier wird begreiflich, was mit der ... Forderung besagt ist, die Vernunft müsse sich künftig eine von Grund auf selbstkritische Verfassung geben. Luhmann merkt dazu an: »Selbstkritisch ist die Vernunft nicht aufgrund ihres europäischen Erbes, sondern nur wenn und nur insofern, als sie ihren eigenen Realitätsglauben auswechseln kann, also nicht an sich selber zu glauben beginnt. Die Bewährungsproben liegen in der Therapie, die weniger schmerzhafte Lösungen zu erreichen versucht und selbst ein Desengagement in Sachen Realität pflegt. Und sie liegen in Ansprüchen an Kommunikation, in Ansprüchen an eine subtilere Sprache ..., die auch unter polykontexturalen Bedingungen noch funktioniert. Selbstkritische Vernunft ist ironische Vernunft.« (N. Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, 1996, S. 45-46). Den Realitätsglauben als eine auswechselbare Größe beschreiben: Mir scheint, mit dieser Wendung hat Luhmann die expliziteste Annäherung an das Konzept der dritten Ironie als Umgangsform mit auflösbaren Immersionen erreicht. Es ist sicher kein Zufall, daß diese Wendung im Kontext von therapeutischen Grundlagenforschungen fällt. Luhmann sagt hier in Übereinstimmung mit Leitsätzen des Radikalen Konstruktivismus, therapeutische Praxis dürfe nicht länger als erfolgreiche Anpassung des Subjekts an eine vorgeblich objektive Realität verstanden werden, sondern als Austausch eines unlebbaren Realitätskonstrukts gegen ein weniger unerträgliches. In dieser Annäherung erscheint Ironie keineswegs als Überhebung des Subjekts über die Tugend und die Realität, Ironie wird vielmehr selbst zur Tugend und modifiziert das Reale, sofern sie die Mechanismen aufhebt, die den Realitätseffekt, das Einrasten in einer Elendsimmanenz und einer Kampftotalität, produzieren. Dieser Effekt ist anderswo auf »Selbstrelativierungsdefizite« bei starren Subjektbildungen zurückgeführt worden.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 134-136

„Besonders scharf nimmt Luhmann die konfliktuellen Effekte in den Blick, die von der Diabolisierung der geldwirtschaft in den sozialistischen Ländern ausgegangen sind. Diesen hält er entgegen:
„Geld wendet für den Bereich, den es ordnen kann, Gewalt ab - und insofern dient eine funktionierende Wirtschaft immer auch der Entlastung von Politik. Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt.“ (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 85)
Luhmann verkennt nicht, daß Geld, wo es vorhanden ist, Verbindungen stiftet, die sein Lob als Medium symbolischer Verallgemeinerungen rechtfertigen, im Falle des Mangels jedoch Trennungen bewirkt, die es als Medium diabolischer Generalisierung erscheinen lassen. Mit diesen Wendungen begegnet Luhmann der marxistischen Tradition - in einem Abstand, der die Katastrophe des Marxismus als einer Höchstform der kulpabilisierenden, parakletischen und aggresiv-naiven Gesellschaftstheorie bereits mitbeobachtet. Man meint die Wiederholung weisheitlicher Denkformen auf der Höhe der Modernität zu vernehmen, wenn man Zeuge dessen wird, wie nachdrücklich und vorsichtig zugleich Luhmann darauf hinweist, daß keine Inklusion ohne Exklusion geschieht und kein System der Verlegenheit entgeht, die Vorteile einer Leistung, die es erbringt, an anderer Stelle mit Nachteilen zu bezahlen. Geschieht hier nicht doch ein Übergang von operativer zu kontemplativer Theorie - und stellt dies nicht eher einen Fall der von Heidegger angesichts der technischen Welt angemahnten philosophischen Besinnung dar als nur eine Form von Selbstreflexion im komplex gewordenen soziologsichen Diskurs? - Im wesentlichen läßt sich gegen Luhmanns Argument kaum etwas einwenden ....“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 137-138

„Die Ausschaltung von Ressentiment als Antrieb von Urteilen und Theoriebildungen ist ein um vieles mühsameres Geschäft, als die bisherigen Leser Nietzsches vermuteten. Die Überwindung des Ressentiments ist ein Kulturprojekt, das seinem logischen und psychologischen Volumen nach kaum weniger Aufwand fordert als das buddhistische Dharma, diese bisher größte Anstrengung zu einer mentalen Hygiene.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 139

„Ein sprachphilosophisches Defizit in Luhmanns Denken ist jedem aufmerksamen Leser deutlich, daß die sozial oder systemnaturalisierten Optionen dieses Ansatzes ihre Bewährungsprobe in realen politischen Krisen noch nicht bestanden haben, gilt ebenfalls für die Zukunft zu denken. Und daß Luhmann mit seinem Konstrukt »Weltgesellschaft« eine Idealisierung in eigener Sache in die Welt gesetzt hat, wird jedem kalr sein, der einen mehr empirisch bestimmten Zugang zu Phänomenen wie Sprachen, Kulturen, Völkern und Negationen gewählt hat; kein Zufall also, wenn in den Sachregistern zu Luhmanns Hauptwerken diese Einträge kaum oder gar nicht zu finden sind. .... Daß die Systemtheorie als Zivilreligion eher unbrauchbar ist, stellt in meinen Augen einen ihrer Vorzüge dar. “
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 139-140

Wichtiger ist es aus meiner Sicht zu zeigen, wie existentialistische Motive und anthropologische Themen sich präsentieren, nachdem sie eine Verfremdung durch systemische Beobachtungen durchlaufen haben. Es spricht alles dafür, daß die Anthropologie erst wieder zu einer Disziplin oder sogar einer Denkweise von Gewicht werden kann, wenn sie zu einer Anthropologie zweiter Ordnung unformuliert wird - ein Gedanke, den meines Wissens Dirk Baecker zuerst artikuliert hat. Wenn Luhmann wirklich, wie manchmal behauptet wird, der Hegel des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dann wird sich das nicht zuletzt durch das Auftreten von Jungluhmannianern bewahrheiten, die sich mit einer erneuten existentialistischen Abweichung vom Systemdenken bemerkbar machen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 140-141

„Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. .... Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen. Die Voraussetzung hierfür schafft der freie Geist, der zur Verführung Abstand hält.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273

„Heideggers Aletheiologie oder Unverborgenheitslehre sorgt dafür, daß alle Neuwahrheiten »eigentlich« nur als Zusatzwahrheiten gelesen werden müssen, die innerhalb eines epochalen Rahmens zum Bestand hinzukommen können; diese Epochenrahmen sind bei ihm gleichsam große Konjukturen, die den Sinn von Wissen und Wahrheit mit jeweils verschiedenen Vorzeichnungen umreißen. In vorplatonischer Zeit habe es demnach ... ein Urkonjunktur gegeben, die der das Wesen der Wahrheit als Aufgehen in den phänomenalen Tag und als Zurücksinken in die trächtige Verborgenheit am reinsten gedacht worden sei: ein Sachverhalt, dem der richtig verstandene frühe griechische physis-Begriff entspräche ...; dann bricht die platonisch-aristotelische, vom Denken in Wesens- und Substanzbegriffen bestimmte Konjunktur an, die wir gewöhnlich die klassische Antike oder Erste Aufklärung (nach meiner Geschichts-/Kulturtheorie: antik-griechischer Idealismus! HB) nennen; danach meint »Wahrheit« nun vorwiegend Teilhabe am Immerseienden;auf sie folgt die christliche-mittelalterliche Konjunktur mit ihrem Zurückschwingen zu einem Verständnis von Wahrheit als gnadenhafter Offenbarung, woraus sich ein vorwiegendes Interesse an Heilsfragen und eine weitgehende Neutralisierung des Interesses an Naturerkenntnis ergeben mußten; schließlich die neuzeitliche subjektphilosophische Konjunktur, die in die kälteste, von den Gigantenkämpfen der Willen zur Macht beherrschte Weltnacht mündet. In deren verlorensten Morgenstunden endlich zeigt sich das erste Grau eines möglichen neuen Epochetages, in dem sich der Sinn von Sein, Wahrheit und Wissen noch einmal nach-neuzeitlich, nach-gestellhaft, nach-subjektivistisch, vielleicht sogar neu-frühgriechisch gewandelt hätte.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 287-288

„Unterzieht man Heideggers großes Panorama von den quasi-anarchischen Schickungen der Konjunkturen der Wahrheit oder der unverfügbaren Drehungen des Sinnes von Sein einer näheren Prüfung, so zeigt sich, daß die Serie der fünf Konjunkturen (besser viereinhalb Phasen, sofern die von Heidegger selbst eingeleitete oder herbeigewartete noch nicht scharf genug abgehoben sein kann) in Wirklichkeit nur eine einzige authentische Zäsur aufweist - nämlich die an der Schwelle vom frühgriechischen zum hochgriechischen (nach meiner Geschichts-/Kulturtheorie: vom hochgriechischen zum spätgriechischen! HB) Denken. Von ihr an herrschen die Bedingungen der Seinsvergessenheit oder, wie man auch sagen könnte, des Physismißverständnisses: sie geben der Zeitengruppe von Antike, Mittelalter und Neuzeit trotz aller tiefen Verschiedenheiten (auf die Heidegger immer wieder hingewiesen hat! HB) ihre »wahrheitsgeschichtliche« Einheit, die in der verhüllten Identität von Metaphysik und Nihilismus besteht (auf die Heidegger ebenfalls immer wieder hingewiesen hat! HB). Nur darum kann auch schon Platon als Agent der Seinsvergessenheit enttarnt und in eine Linie eingeordnet werden, die die cartesische Programmatik vorausahnen läßt: den Menschen zum maître et possesseur de la nature zu machen. Innerhalb des Nihilismus brennt die Lunte der Wahrheit auf Epiphanie des großen Knalls hin ab. Die finale Vernichtung wäre die Offenlegung des Nichts, das alles Werdende »eigentlich« schon ist.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 288-289

„Nimmt man die kühne Zusammenfassung von Antike, Mittelalter und Neuzeit unter dem Titel Nihilismus ernst, so gibt es bei Heidegger, diesem robusten Resümee zufolge, in der bsiherigen Geschichte im grunde nur zwei Wahrheitsepochen, die ursprüngliche und die verfallene. Nach diesen beiden zeichnet sich allerdings, wie in Großen Erzählungen üblich, schon der Hinweis auf den Beginn einer dritten ab, in welcher die Anfangswahrheit widergewonnen wäre - warum nicht auf einer höheren Stufe (... auch Heidegger würde wie Hegel zugeben und beanspruchen, daß er aufs Ganze gesehen doch mehr weiß als Heraklit). Die translatio philosophiae ad Germano ist eine Teilbedingung für die Wiederkehr der griechischen Wahrheit dank dem deutschen Beitrag.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 289

„Heidegger ist mit diesem ... Narrativ von den Epochen und Primärsprachen der Wahrheit nichts anderes als ein klassischer Erzähler und ein exemplarischer Therapeut. Wie alle vormodernen Erzähler verwendet er eint riadisches Schema von ungestörtem Primärzustand, gestörtem Mittelzustand und wiederhergestelltem, allenfalls angereichertem, Neo-Primärzustand: anfängliches Seinsverstehen, Seinsvergessenheit, Seinswiederverstehen. Heideggers Vorsokratismus entspricht dem therapeutischen Habitus, aus der aktuellen Krise heraus bis in den Zustand vor der Störung zurückzugehen und von dem her ein zweites Mal in die Gegenwart vorzulaufen, diesmal quasi an den Störungen des Mittelzustandes vorbei, und wenn dieser zweieinhalb Jahrtausende tief wäre. DasVerfahren gründet in der therapieüblichen Erwartung eines anderen Anfangs: Wie Lebensgeschichten nicht notwendigerweise scheitern müssen, müssen sich auch Zivilisationsprozesse nicht ein für allemal so verrennnen wie der euro-amerikanische (abendländische! HB). Wie es inmitten von Biographien gelegentliche Neuanfänge gibt, so ist auch für die Neuzeitkultur im ganzen ein angemessenes Neuansetzen zwar unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar. Der Neubeginn wäre der Gott, der uns noch rettet - nicht zuletzt vor unserer falschen Selbstbeschreibung als Subjekte und unserer Fixierung an die Gadget-Ontologie der technischen Welt.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 289-290

„Der Neubeginn wäre der Gott, der uns noch rettet ....“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 290

„Der regenrative Vorsokratismus empfiehlt eine Primärtherapie der Vernunft: den Rückgang hinter die starre Abwehr, mit welcher der metaphysische eidetische Idealismus das Ereignis ungeschehen machen wollte. Die Therapieempfehlung kommt nicht ohne Drohung aus: Wer das Ereignis nicht fühlen will, bekommt das Gestell zu spüren.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 290

„Seit der achsenzeitlichen Revolution sitzt die euro-amerikanische (abendländische! HB) Menschheit ... auf einer wahrheitsgeschichtlichen Zeitbombe, die dem Moment entgegentickt, in dem nicht mehr nur einzelne neue Wahrheiten ans Licht kommen, sondern die Wahrheit über die Wahrheit selbst sich explosiv enthüllt.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 290

„Um im Bild vom Prozeß des luntenartig auf die »Explosion« zulaufenden Wissens zu bleiben: Es handelt sich bei ihm ohne Zweifel um eine Zwei- bis Dreiphasenzündung, an deren Anfang in keiner Weise absehbar ist, was das Ende bringt. Demokritos und Leukippos sind keine direkten Lehrer von Max Planck und Niels Bohr, und doch stoßen sie die erste Phase eines Verfahrens an, dessen kognitive Mächtigkeit bis ins späte Mittelalter Wirkungen zeitigt; dann tritt mit Galilei und seinesgleichen eine neue Generation von Physikern auf den Plan,über die Carl friedrich von Weizsäcker zu Recht hat sagen können, daß von ihnen bis zur Atombombe eine schnurgerade Linie führt. In diesem Sinn darf man behaupten, daß die Lunte der Wahrheit (in ihrer langen Ausführung) von Ionien nach Los Alamos (erst: Berlin! HB) läuft.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 290-291

„Man erkennt leicht, daß ... das Theorem vom kognitiven Willen zur Macht ins Spiel kommt, und ebenso leicht versteht sich, warum diese Formel in fast allen Deutungen des neuzeitlichen Mensch-Natur-Verhältnisses die entscheidende Rolle spielt.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 292

„Paläoanthropologie läßt sich geradezu als die Wissenschaft von der Naturgeschichte des Gegennatürlichen im Menschen charakterisieren. Sie handelt vom Menschen als dem Disanztier, das sich aufgrund seiner Spezialevolution von Abstand-Techniken zu einem Luxusmitglied der natürlichen Lebensgemeinschaften hat ausformen können.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 292-293

„Die Objektivierung der Natur durch die neuzeitlichen Naturwissenschaften erfüllt nicht den Tatbestand des ontologischen Unrechts - wie ein verengt katholisches und ökopietistisches Denken meint -, sondern ist eine wie immer späte, doch folgerichtige Explikation der naturdissidenten Potentiale, mit denen die exzentrische Gattung von den frühesten Tagen ihrer Sonderentwicklung an schwanger ging. Die Naturgeschichte der Naturvergegenständlichung ist die eigentliche Affäre des Menschen - von ihr machen auch die Vorsokratiker keine Ausnahme. Ihre heiße Phase bricht an in dem zeitbombenhaften Abschnitt der enuwahrheitlichen Wissensdurchbrüche, die nach der Erfindung des Erfindens in den modernen Ingenieurwissenschaften unseren Weltkalender dramatisiert haben und bis auf weiteres in eine immer überstürztere Bewegung ziehen.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 293-294

„Das Projekt »Sphären« läßt sich auch als Versuch verstehen, das in Heideggers Frühwerk subthematisch eingeklemmte Projekt Sein und Raum - in einem wesentlichen Aspekt zumindest - aus seiner Verschüttung zu bergen. Wir sind der Meinung, daß von Heideggers Interesse an Verwurzelung durch eine Theorie der Paare, der Genien, der ergänzten Existenz soviel zu seinem Recht kommt, wie überhaupt von ihm gerettet werden kann.“
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 403

„In der monotonen War-on-Terror-Kampagne der us-amerikanischen Fernsehgesellschaften, die sich in ihren Sprachregelungen mit den Pentagon-Programmen kurzgeschlossen hatten, kam nicht ein einziges Mal die elementare Erkenntnis zur Sprache, daß Terrorismus kein Gegner, sondern ein modus operandi, eine Kampfmethode, ist, die sich sofort über beide Seiten eines Konflikts verteilt - weswegen »Krieg gegen den Terrorismus« eine Nonsensformulierung darstellt. Sobald man die Kriegsregel, Partei zu ergreifen, einklammert und die Friedensprozeßregel befolgt, auch die andere Seite zu hören, wird evident, daß der einzelne Terrorakt nie einen absoluten Anfang bildet. Jeder Terroranschlag versteht sich als Gegenangriff in einer Serie, die jeweils als vom Gegner eröffnet beschrieben wird. Deswegen ist Terrorismus selbst antiterroristisch verfaßt ....“
Peter Sloterdijk, Luftbeben, 2002, S. 24-25

„Der Anfang des Terrors ist nicht das ausgeführte Einzelattentat der einen Seite, sondern der Wille und die Bereitschaft von Konfliktpartnern, in der ausgeweiteten Kampfzone zu operieren.“
Peter Sloterdijk, Luftbeben, 2002, S. 25

„Das Ende des Kalten Krieges mag ein vorläufiges Abklingen der nuklearen Einschüchterung mit sich gebracht haben; was die Eibeziehung von bislang unentfalteten, klimatischen, radiophysikalischen und neurophysiologischen Hintergrunddimensionen in explizierende militärische Projekte der Eltmacht angeht, bedeutet die Schwelle der neunzigerJahre eher einen Neubeginn. Von diesem Zeitpunkt an vollzieht sich, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. der Sprung auf eine bisher nicht für möglich gehaltene Stufe der Eskalation atmoterroristischer Eingriffschancen. In einem am 17. Juni 1996 präsentierten und ungeachtet der sensitiven Thematik zur Freigabe für die Öffentlichkeit genehmigten Papier des Department of Defense haben sieben Offiziere einer wissenschaftlichen Forschungsabteilung des Pentagon Umrisse einer künftigen Ionosphärenkriegführung erläutert. Das Projektpapier, vorgestellt unter dem Titel: »Wetter als Kampfkraftmultiplikator: Wetterherrschaft im Jahr 2025« (Weather as a Force Multiplier: Owning the Weather in 2025), wurde im Auftrag des Air-Force-Generalstabs verfaßt mit der Direktive, Bedingungen zu nennen, unter denen die Vereinigten Staaten im Jahr 2025 ihre Rolle als dominierende Luft- und Raumwaffenmacht behaupten können. Die Autoren des Papiers gehen davon aus, daß es in dreißigjähriger Entwicklungszeit gelingen wird, die Ionosphäre als eine der für menschliche Wahrnehmung unsichtbaren Komponenten der äußeren physikalischen Erdhüllen in kriegsrelevanter Weise beherrschbar zu machen, vor allem durch die willkürliche Produktion und Beseitigung von gewittrigen Wetterverhältnissen, die dem Besitzer der Ionosphärenwaffe die Schlachtfeldkontrolle (battlefield dominance) garantieren. .... Über das deklarierte Interesse an der Wetterwaffe hinaus arbeiten die USA seit 1993 an einem Programm zur Erforschung der Aurora, dem »High-frequency Active Auroral Research Programm«, HAARP, aus dem die wissenschaftlichen und technologischen Prämissen einer potentiellen Super-Wellenwaffe abgeleitet werden könnten. .... Ein System dieser Art wäre hypothetisch imstande, gewaltige physikalische Wirkungen hervorzurufen - bis hin zur Auslösung von Klimakatastrophen und Erdbeben in ausgewählten Gebieten. .... Da aber ELF-Wellen (Extremely Low Frequencies) oder Infraschallwellen nicht nur auf anorganische Materie, sondern auch auf lebende Organsimen Einfluß nehmen, insbesondere auf das menschliche Gehirn, das in tiefen Frequenzbereichen arbeitet, ergeben sich bei HAARP Aussichten auf die Produktion einer quasi neurotelepathischen Waffe, die menschliche Populationen durch Fernangriffe auf ihre zerebrale Funktionen destabilisieren könnte. Es versteht sich von selbst, daß eine Waffe dieses Typs selbst in spekulativer Form nur konzipiert werden kann, wenn das moralische Gefälle zwischen den Gehirnen, die sie entwickeln, und den Gehirnen, die mit ELF-Wellen bekämpft werden sollen, für die Gegenwart völlig eindeutig scheint und für die Zukunft stabil gehalten werden kann. Sie ließe sich - selbst wenn es sich um eine nicht-letale Waffe handelte - ausschließlich gegen das schlechthin Fremde oder das absolut Böse und seine menschlichen Inkarnationen einsetzen.“
Peter Sloterdijk, Luftbeben, 2002, S. 63-68

„Der Terror expliziert die Umwelt unter dem Aspekt der Verletzbarkeit; der Ikonoklasmus expliziert die Kultur aus der Erfahrung ihrer Parodierbarkeit; die Wissenschaft expliziert die erste Natur unter den Gesichtspunkten ihrer Ersetzbarkeit durch prothetische Geräte und ihre Integrierbarkeit in technische Verfahren.“
Peter Sloterdijk, Luftbeben, 2002, S. 107

Sphären I schlägt eine (der Autor meint: stellenweise neue) Beschreibung des menschlichen Raumes vor, die betont, daß durch das nahe Zusammen-Sein von Menschen mit Menschen ein bisher zu wenig beachtetes Interieur gestiftet wird. Wir nennen dieses Innen die Mikrosphäre und charakterisieren es als ein sehr empfindliches und lernfähiges seelenräumliches (wenn man will moralisches) Immunsystem. Der Akzent wird auf die These gesetzt, daß das Paar gegenüber dem Individuum die wirklichere Größe darstellt - was zugleich bedeutet, daß die Wir-Immunität gegenüber der Ich-Immunität das tiefere Phänomen verkörpert. In einer Zeit, die auf die Elementarteilchen und die Individuen schwört, versteht sich eine solche These nicht von selbst.
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 13

„Der Humanraum ist buchstäblich ab utero, zunächst bipolar, auf entwickelteren Stufen pluripolar geformt; er besitzt die Struktur und Dynamik eines beseelten Ineinandergreifens von Lebewesen, die auf Nähe und Teilhabe aneinander angelegt sind .... Der Mensch, sofern er das Wesen ist, das »existiert«, ist das Genie der Nachbarschaft. Heidegger hat das in seiner kreativsten Zeit auf den Begriff gebracht: Sind Existierende zusammen da, halten sie sich »in derselben Sphäre von Offenbarkeit«. Sie sind füreinander erreichbar und doch einander transzendent - eine Beobachtung, die zu unterstreichen die Denker des Dialogs nicht müde werden. Aber nicht nur Personen, auch die Dinge und die Umstände werden auf ihre Weise vom Prinzip Nachbarschaft erfaßt. Deswegen bedeutet »Welt« für uns den Zusammenhang von Zugangsmöglichkeiten. »Dasein bringt schon die Sphäre möglicher Nachbarschaft mit sich; es ist von Hause aus schon Nachbar zu ....« (Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 1935, S. 138). Steine, die nebeneinander liegen, kennen das ekstatische Offensein füreinander nicht. Nicht alle geben das zu.“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 14-15

In Sphären II werden aus Einsicht in die ekstatisch-surreale Natur des erlebten und bewohnten Raums Konsequenzen gezogen. Dies geschieht in Form einer großen Erzählung über die Expansion des Seelischen im Zuge von imperialen und kognitiven Weltbesetzungen.
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 15-16

Sphären III, Schäume, bietet eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters unter dem Gesichtspunkt, daß das »Leben« sich multifokal, multiperspektivisch und heterarchisch entfaltet. Ihr Ausgangspunkt liegt in einer nicht-metaphysischen und nicht-holistischen Definition des Lebens: Seine Immunisierung kann nicht mehr mit Mitteln der ontologischen Simplifikation, der Zusammenfassung in der glatten Allkugel, gedacht werden. Wenn »Leben« grenzenlos vielfältig räumebildend wirkt, so nicht nur, weil jede Monade ihre je eigene Umwelt hat, sondern mehr noch, weil alle mit anderen Leben verschränkt und aus zahllosen Einheiten zusammengesetzt sind. Leben artikuliert sich auf ineinander verschachtelten simultanen Bühnen, es produziert und verzehrt sich in vernetzten Werkstätten. Doch was für uns das Entscheidende ist: Es bringt den Raum, in dem es ist und der in ihm ist, jeweils erst hervor.
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 23-24

„Wenn Modernität an Ernst-Verschiebungen erkannt wird: Wie steht es um die andere Seite der Gleichung von Träumen und Schäumen? Wie ernst hat das 20. Jahrhundert den Schaum zu nehmen verstanden? Welchen Stellenwert hat es der »Luft an unerwarteter Stelle« beigemessen? In welcher Weise hat es an der Rehabilitation dieses Flüchtigen, des dem Zerfall Gewidmeten, gearbeitet? Mit welchen Mitteln hat es den selbstbezüglichen Hohlräumen, den von Eigenwerten erfüllten Binnensphären, den atembaren Interieurs und den klimatischen Tatsachen gerecht zu werden versucht? Die adäquate Beantwortung dieser Fragen, sollte sie in unserer Zeit schon möglich sein, ergäbe eine Synopse der Modernisierung. Sie beschriebe ein weitläufiges Zulassungsverfahren für das Zufällige, Momentane, Vage, Vergängliche und Atmosphärische - ein Verfahren, an dem die Künste, die Theorien und die experimentellen Lebensformen mit jeweils eigenen Einsätzen beteiligt sind. Zu seinen Ergebnissen zählt eine grundlegend neue, postheroische Abfassung des Dekorum - des Regelwerks, nach dem die Kulturen im ganzen geeicht sind. Wer eine umfassende Nacherzählung dieser Vorgänge unternehmen wollte, müßte von den Intentionen eines nicht verfälschten Nietzsche ebenso reden wie von der Entfaltung des Husserlschen Impulses; vom Perspektivismus um 1900 wie von der Chaostheorie um 2000; von der Promotion des Surrealen zu einer eigensinnigen Sektion des Realen ebenso wie von der Erhebung des Atmosphärischen zur Theoriewürde, von der Mathematisierung des Unscharfen wie von der begrifflichen Durchdringung der gekerbten Strukturen und der unregelmäßigen Mengen. (Zum Dekorum: vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen, 1996; zur Erhebung des Atmosphärischen zur Theoriewürde, insbesondere im Werk des Begründers der Neu-Phänomenologie Hermann Schmitz, vgl. u.a. ders., Leib und Gefühl - Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, 1989, S. 135 f.; zur Mathematisierung des Unscharfen vgl. Bart Kasko, Die Zukunft ist fuzzy - Unscharfe Logik verändert die Welt, 2001; zu den unregelmäßigen Mengen vgl. Gilles Deleuze / Felix Guattari, Milles plateaux, 1980.)“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 34-35

„Jede Lage im Schaum bedeutet eine auf die eigene Blase bezogene relative Verschränkung von Umsicht und Blindheit; jedes In-der-Welt-Sein, als Im-Schaum-Sein verstanden, eröffnet eine Lichtung im Undurchdringlichen.“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 63

„Man darf bezweifeln, ob Heideggers evokative Rede vom »Wohnen« des Menschen in einer sie ermöglichenden und berufenden »Gegend« das letzte Wort in Fragen der unter Explikationszwang geratenen Existenz und ihres Selbstgestaltungsauftrags bleiben kann. Als der Philosoph das besonnene Sichaufhalten in der »Gegend« lobte, sprang er etwas zu schnell (oder auch nicht! HB) voraus zu dem Ideal eines wiedergutzumachenden, alt- und neu-implizierenden Raums. »Gegend« lautet bei ihm der Name des Bereichs, an dem noch ein authentisches Dasein gelingen könnte. Von ihm wäre nicht leicht zu sagen, wie man zu ihm gelangt, hielte man sich nicht bereits an ihm auf. Es müßte ein Ort sein, über den die Explikation hinweggegangen ist, als gelte sie nur anderswo; ein Ort, der zwar vom kalten Wind des Außen, dem Standortrisiko Modernisierung, berührt worden und gleichwohl Heimat geblieben wäre. Seine Bewohner wüßten, daß die Wüste wächst, und dürften sich doch, gerade dort, wo sie sind, einer wundersam immunisierenden »Weite und Weile« (Martin Heidegger, Zur Erörterung der Gelassenheit - Aus einem Feldweggespräch über das Denken, 1944-‘45, in Gesammelte Werke, 13, S. 47) verpflichtet fühlen. Man mag da von hoher Idylle reden. Dem Wort von der »Gegend« kann man gleichwohl, bei all seiner Vorläufigkeit und seinen provinziellen Konnotaionen zum Trotz eine hinweisende Kraft auf die therapeutische Dimension in der Raumbildungskunst nicht absprechen. (Am possitiven Gehalt des Begriffs »Wohnen« hat Hermann Schmitz in seiner Doktrin von den »einbettenden Situationen« angeknüpft; vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, 1999.)“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 145-146

„Die Natur, könnte man unter ... Vorbehalt sagen, ist eine Autorin, die im Selbstverlag publiziert (wobei sie wohl auf ein menschliches Lektorat angewiesen ist). Begreiflicherweise steht diese Auslegung des Wahrheitsgeschehens im Gegensatz zur dualistischen Dogmatik des von Platon und anderen Nachsokratikern inaugurierten metaphysischen Weltalters und seiner technisch-wirtschaftlichen Erben, für deren Betrachtung die Natur - alias das Seiende im ganzen - als Block aus stummen, sinnfreien, zeichenfernen Dinglichkeiten vorliegt. Es wäre aus dieser Sicht allein der menschliche Geist, der im Besitz seines Monopols auf Sprache, Sinngebung und Interesse an die nichtentgegenkommende Naturmasse wie von außen heranträte und sie zwänge, ihre Geheimnisse preiszugeben. Die tragische Ironie dieser Fehlauslegung von Naturerkenntnis durch die Metaphysik sowie ihre Fortsetzer in den modernen Naturwissenschaften und Technologien besteht nun Heidegger zufolge darin, daß ihre extrem reduktionistischen, das Wahrheitsgeschehen entstellenden und verarmenden Begriffe so erfolgreich waren, daß sie im Modus einer sich selbst wahrmachenden Prophezeiung über mehr als zweitausend Jahre hin für die europäische Rationalitätskultur bestimmend wurden. Dieser Zeitraum wäre daher ausdehnungsgleich mit der Ära der Seinsvergessenheit. Man erinnere sich, daß eine verwandte Sicht der Dinge mit dem Satz: »Das Ganze ist das Unwahre« ausgesprochen wurde - was historisch gewendet bedeutet: Auch das Unwahre hat schon ein Altertum. Wer dessen Anfänge fassen will, um vor sie in unverzerrte Zustände zurückzugehen, muß sich mit Platons Verformelung der Wahrheit zur »Idee« oder noch früher mit Demokrits Aufspaltung der menschlichen Realität in Körper und Seele befassen. Fehlbeschreibungen dieser Größenordnung gehen, wie Heidegger sah, über die Bezeichnungskraft des gewöhnlichen Irrtumsbegriffs hinaus; sie zwingen den Betrachter, zu Ausdrücken wie »Geschick«, vielleicht sogar »Verhängnis« zu greifen. (Vgl. Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 1967: diese Arbeit, die hinsichtlich Heideggers zu einem negativen Ergebnis kommt, bietet ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Rituale der Gründlichkeit dazu dienen können, die bessere Einsicht durch die schlechtere zu verhindern. - In adäquater Weise hat Hermann Schmitz aus kritischer Nähe zu Husserl und Heidegger die allzu massive These von »Seinsvergessenheit« in eine diskrete Liste von fundamentalen »Verfehlungen« des abendländischen Geistes umformuliert [interessanterweise auch in »Leibvergesseneheit«! HB]; er kommt dabei (anders als Husserl, der in seiner »Krisis«-Schrift zwei Großfehlentwicklungen, den transzendentalen Subjektivismus und den objektiven Physikalismus, benannte [aber anfangs auch und besonders, noch deutlicher: den Psychologismus! HB]) auf die Zahl vier: die psychologistisch-reduktionistische, die dynamistische, die ironistische, die autistische Verfehlung. Für jede skizziert der Autor eine kulturtherapeutische Korrektur aus dem Geist der erneuerten Phänomenologie.)“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 223-226

„Der Prozeß der Moderne richtet seine explizitmachende Gewalt auch auf das Grundverhältnis des In-der-Welt-Seins, das Wohnen, das jetzt als die ursprünglich isolierende Tätigkeit des Menschen zu gelten hat - oder, um die Formel des Phänomenologen Hermann Schmitz zu zitieren, als »Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum«.“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 316

„Heidegger, dem die Phänomenologie des Wohnens (zusammen mit seinen Nachfolgern Bollnow und Schmitz) noch immer am meisten verdankt, hat den Zusammenhang zwischen dem Wohnen und dem Warten auf Zeichen des Ungewöhnlichen als Matrix der religiösen oder besinnlichen Rezeptivität erläutert:
»Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Göttlichen als die Göttlichen erwarten. Hoffend halten sie ihnen das Unverhoffte entgegen. Sie warten der Winke ihrer Ankunft und verkennen nicht die Zeichen ihres Fehls .... Im Unheil noch warten sie des entzogenen Heils.« (Martin Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, 1951, S. 145).
In profanere Ausdrücke übersetzt (und unter Absehung davon, daß man es mit Paraphrasen zu Hölderlins poetischer Theologie zu tun hat), ergibt das die Aussage, daß wohnende Menschen sich in einer Trivialität einhausen, die es ihnen erst erlaubt, das Nicht-Triviale zu unterscheiden.“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 516-517

„Die Untersuchung des menschlichen Aufenthaltswesens kann einen analytisch befriedigenden und hinreichend befremdlichen Grad an Ausdrücklichkeit erst erreichen, wenn sie zu einer Analytik der einbettenden Situation vorangetreiben wird - ein Unternehmen, zu dem, neben den singulären Vorstößen des jungen Heidegger, die Refexionen Paul Valerys über das Wesen der Baukunst als Immersions-Modulierung aus dem Jahr 1921 unseres Wissens am meisten beigetragen haben, vergleichbar nur mit den viel späteren Versuchen von Hermann Schmitz zur Neubegründung eine phänomenologischen Situationismus ....#147;
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 523

„Was man den Geist der Utopie genannt hat, entspringt aus der unaussprechlichen Forderung nach der Gleichgewöhnung aller; sie wäre die Wiederherstellung der sozialen Synthese aus dem geist der Geschwisterlichkeit jenseits des Neides. Das von Freud betonte Motiv des Vatermords ist in Wahrheit akzidetieller Natur. Was dem effektiven Unbewußten Inhalt gibt, ist die so heftig begehrte wie uneingestehbare Vernichtung des Bruders oder der Schwester, die an deiner Verarmung und Zurücksetzung direkt schuld sind. Kein Zufall also, daß die biblische Erzählung den Brudermord behandelt - der Gedanke, daß es der Vater sein könnte, der dir etwas von der geschuldeten Bevorzugung wegnimmt, war in diesem Kontext unmöglich.“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 770

„Die Luxusviktimologien beruhen auf der Entdeckung, daß die moralische Sensibilität der Öffentlichkeit in der Superinstallation eine symbolische Ressource ist, die sich materiell bewirtschaften läßt. Weil Helden nach der Aufklärung nur noch als Opfer möglich sind, muß der Ehrgeiz den Umweg über den Viktimismus nehmen. Dies gilt für Einzelne wie für Korporationen und Staaten. Unzählige wetteifern mit amateurischen und professionellen Mitteln um den Vorzug, sich auf diversen Bühnen als Opfer präsentieren zu dürfen - besser noch als Super-Opfer, als Angegriffener der Angegriffenen, als Jude der Juden, als Paria der Parias, als Verdammter der Verdammten dieser Erde. .... Aber es versteht sich, daß diese Phänomene außer psychologischen Motiven massive ökonomische Gründe haben.“
Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 841, 842

„Ich war ein lyrischer Radikaler. Das ist ein Flügel der Bewegung, der von der Geschichtsschreibung kaum erfaßt ist. Ich würde, äußerlich gesehen, am ehesten subsumiert unter eine Teilmenge der 68er, genaugenommen 67er Bewegung, die man seinerzeit als hedonistische Linke bezeichnete. Das waren diejenigen, die den Glauben hegten, es sei der Sinn der Menschheitsgeschichte, die Verkindlichung des Menschen voranzutreiben. Folglich sollten ab sofort die historisch erworbenen körperlichen und mentalen Verpanzerungen des bürgerlichen Subjekts aufgehoben werden. Und wir können sagen, wir sind bei diesem Experiment dabei gewesen. .... Man hatte Sinn für Prioritäten. Wir sagten zum Beispiel: »Was geht mich der Vietnamkrieg an, wenn ich Orgasmusprobleme habe?« .... Die Gewaltneigung der 68er, von der man heute, glaube ich, zu viel Aufhebens macht, war insgesamt eher metaphorisch. Die Formel, die für die aktiven Zuspitzungen verantwortlich zeichnete, war jenes berüchtigte: Macht kaputt, was euch kaputtmacht – die doppelte Verneinung für Anfänger. .... Das Projekt der 68er war natürlich grandios illusionär. Sie haben das Prinzip Umsonst auf breiter Front inthronisiert und behauptet, die entscheidenden Dinge dürfen nichts kosten. .... Aus heutiger Sicht lag die 68er Bewegung exakt in dem Trend, der zur Konsumgesellschaft führt. Ohne es zu ahnen, waren wir, die westdeutschen Früh-Hedonisten, die Labormäuse des totalen Konsumismus. .... Unter der totalen Versorgungsgarantie war Radikalität eine romantische Zugabe. .... Damals schien Sex ein leerer Kontinent zu sein, der auf die Einwanderung von netten Kolonisten wartete. Ein paar abenteuerliche sexual-politische Dogmen genügten, und man konnte dieses »wahre innere Afrika« in Besitz nehmen. Inzwischen ist Eros-Land nichts mehr für naive egalitaristische Siedler. Zwar haben sich die Verführungsmittel gewaltig entwickelt, die Verführungsverhältnisse insgesamt jedoch sind kompliziert geworden. Auch da hat das Prinzip Umsonst einen fürchterlichen Rückschlag erlitten. .... Die Wortführer von damals waren politische Romantiker, wie überhaupt die Ära total romantisch war. Das Sonderklima der Bundesrepublik um 1960 bis 1970 zeigte sich gerade darin, daß man milieugeschützt die radikalismusfrommen Sprachspiele benutzen konnte.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Die Demokraten nach 1945 haben in ihrem antifaschistischen Eifer das Faschismusphänomen in seiner globalen Ausdehnung chronisch unterschätzt. Die Wahrheit ist, daß der Faschismus von Lissabon bis nach Shanghai reichte. Das ganze 20. Jahrhundert ist vom faschistischen Affekt, vom Enthusiasmus des Ressentiments durchzogen.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Daß sich der linke Faschismus als Kommunismus zu präsentieren beliebte, war eine Falle für Moralisten. Mao Tse-tung war nie etwas anderes als ein linksfaschistischer chinesischer Nationalist, der anfangs den Jargon der Moskauer Internationale pflegte. Gegen Maos fröhlichen Exterminismus gehalten, erscheint Hitler wie ein rachitischer Briefträger. Doch man scheut noch immer den Vergleich der Monstren.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Das massivste ideologische Manöver des Jahrhunderts bestand ja darin, daß der linke Faschismus nach 1945 den rechten lauthals anklagte, um ja als dessen Opponent zu gelten. In Wahrheit ging es immer nur um Selbstamnestie. Je mehr die Unverzeihlichkeit der Untaten von rechts exponiert wurde, desto mehr verschwanden die der Linken aus der Sichtlinie.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„In dem Zusammenhang muß man die Mao-Plakate über den Köpfen der Revoltierenden von damals verstehen. Die radikale Linke hatte sich selbst die Absolution erteilt, und die Ikone Mao war ein Garant ihres Verständnisses für den guten Terror. Die Zersetzungsprodukte dieser Hyperlüge gehen uns bis heute auf die Nerven.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Vom Effekt her gesehen bedeutet die Jugendkultur von 1968 die Einstiegsphase in den psychedelischen Kapitalismus. Die linksromantischen Sprachspiele haben nicht so sehr die Delegitimierung des politischen Systems der Bundesrepublik vorbereitet, sondern den Verzehr aller Dinge. .... Vom Effekt her gesehen bedeutet die Jugendkultur von 1968 die Einstiegsphase in den psychedelischen Kapitalismus. Die linksromantischen Sprachspiele haben nicht so sehr die Delegitimierung des politischen Systems der Bundesrepublik vorbereitet, sondern den Verzehr aller Dinge.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Eine bleibende Kulturleistung der »68er« besteht darin, daß sie die ... Gesellschaft in ein Kollektiv von Halbkranken umgeschaffen haben. Damals wurde die Therapiegesellschaft auf den Weg gebracht, in der jeder seine verunglückte Libido erforschen und dem Echo seiner »verbrecherischen« Familiengeschichte nachhorchen konnte. Doch seit der Sport als Alternative zur ewigen Therapie aufkam ..., hat sich die Lage an der inneren Front entspannt.“
Peter Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54

„Kaum treten bei Individuen oder Gruppen »Symptome« wie Stolz, Empörung, Zorn, Ambition, hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft auf, nimmt der Parteigänger der thymós-vergessenen Kultur Zuflucht zu der Vorstellung, diese Leute müßten Opfer eines neurotischen Komplexes sein. Die Therapeuten stehen hier in der Tradition der christlichen Moralisten, die von der natürlichen Dämonie der Selbstliebe sprechen, sobald die thymotischen Energien sich offen zu erkennen geben. Haben die Europäer über den Stolz wie den Zorn nicht von den Tagen der Kirchenväter an zu hören bekommen, solche Regungen seien es, die den Verworfenen den Weg in den Abgrund weisen?“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 32

„Die Aufgabe lautet also, eine Psychologie des Eigenwertbewußtseins und der Selbstbehauptungskräfte wiederzugewinnen, die den psychodynamischen Grundgegebenheiten eher gerecht wird. Das setzt die Korrektur des erotologisch halbierten Menschenbildes voraus, das die Horizonte des 19. und 20. Jahrhunderts umstellt. Zugleich wird eine empfindliche Distanzierung von tief eingeschliffenen Konditionierungen der westlichen Psyche notwendig, in ihren älteren religiösen Ausprägungen ebenso wie ihren jüngeren Metamorphosen.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 34-35

„Zunächst und vor allem ist Abstand zu gewinnen von der unverhüllten Bigotterie der christlichen Anthropologie, nach welcher der Mensch in seiner Eigenschaft als Sünder das hochmutkranke Tier abgibt, dem nur durch Glaubensdemut geholfen werden kann. Man soll sich nicht einbilden, eine hiervon Distanz schaffende Bewegung wäre leicht auszuführen oder gar schon vollzogen. Wenngleich die Phrase »Gott ist tot« jetzt schon von Journalisten geläufig in den Computer eingegeben wird, bestehen die theistischen Demutsdressuren im demokratischen Konsensualismus nahezu ungebrochen fort. Es ist, wie man sieht, ohne weiteres möglich, Gott sterben zu lassen und doch ein Volk von Quasi-Gottesfürchtigen zu behalten. Mögen die meisten Zeitgenossen von anti-autoritären Strömungen erfaßt sein und gelernt haben, eigene Geltungsbedürfnisse auszudrücken, so halten sie doch in psychologischer Sicht an einem Verhältnis semirebellischer Vasallität gegenüber dem versorgenden Herrn fest. Sie verlangen »Respekt« und wollen auf die Vorteile der Abhängigkeit nicht verzichten. Noch schwieriger dürfte es für viele sein, sich von der verhüllten Bigotterie der Psychoanalyse zu emanzipieren, nach deren Dogmatik auch der kraftvollste Mensch nicht mehr sein kann als der bewußte Dulder seiner liebeskranken Kondition, die Neurose heißt. Die Zukunft der Illusionen ist durch die große Koalition gesichert: Das Christentum wie die Psychoanalyse können ihren Anspruch, die letzten Horizonte des Wissens vom Menschen zu umschreiben, mit Aussicht auf Erfolg verteidigen, solange sie sich darauf verstehen, ein Monopol für die Definition der menschlichen Kondition durch den konstitutiven Mangel, vormals besser bekannt als Sünde, aufrechtzuerhalten. Wo der Mangel an der Macht ist, führt die »Ethik der Würdelosigkeit« das Wort.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 35

„Solange also die beiden klugen Bigotteriesysteme die Szene beherrschen, ist die Sicht auf die thymotische Dynamik menschlicher Existenz verstellt, in bezug auf Individuen nicht weniger als in bezug auf politische Gruppen. Folglich ist der Zugang zum Studium der Selbstbehauptungs- und Zorndynamik in psychischen und sozialen Systemen praktisch blockiert. Stets muß man mit den ungeeigneten Konzepten der Erotik auf die thymotischen Phänomene zugreifen. Unter der bigotten Blockade kommt die direkte Intention nie wirklich zur Sache, da man sich nur noch mit schrägen Zügen den Tatsachen nähern kann - immerhin sind diese, ihrer erotischen Fehlauffassung zum Trotz, nie ganz zu verdunkeln. Ist diese Verlegenheit beim Namen genannt, wird klar, daß ihr allein durch die Umstellung des grundbegrifflichen Apparats abzuhelfen ist.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 35-36

„Geht man von dem natürlichen Pluralismus thymotischer Kraftzentren aus, muß mna ihre Beziehungen gemäß deren spezifischen Feldgesetzlichkeiten untersuchen. Wo reale Kraft-Kraft-Beziehungen gegeben sind, hilft der Rekurs auf die Selbstliebe der Akteure nicht weiter - oder doch nur in übergeordneten Aspekten. Statt dessen ist zunächst zu statuieren, daß politische Einheiten (konventionell als Völker und deren Untergruppen aufgefaßt) in systemischer Sicht metabolische Größen sind. Sie haben allein als produzierende und konsumierende, streßverarbeitende, mit Gegnern und anderen entropischen Faktoren kämpfende Entitäten Bestand. Bemerkenswerterweise haben christlich und psychoanalytisch geprägte Denker bis heute Mühe zuzgeben, daß Freiheit ein Begriff ist, der nur im Rahmen einer thymotischen Menschensicht Sinn ergibt. Ihnen sekundieren mit hohem Eifer die Ökonomen, die den Menschen als das konsumierende Tier ins Zentrum ihrer Appelle stellen - sie wollen dessen Freiheit nur bei der Wahl der Futternäpfe am Werk sehen.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 37

„Durch Stoffwechseltätigkeiten werden in einem vitalen System erhöhte Innenleistungen stabilisiert, auf der physischen wie der psychischen Ebene. Das Phänomen Warmblütigkeit ist hiervon die eindrucksvollste Verkörperung. Mit ihm vollzog sich, etwa zur »Halbzeit der Evolution«, die Emanzipation des Organismus von den Umgebungstemperaturen - der biologische Aufbruch in die Freibeweglichkeit. Von ihr hängt alles ab, was später in den unterschiedlichsten Sinnabschattungen Freiheit heißen wird. Biologisch betrachtet, bedeutet Freiheit das Vermögen, das gesamte Potential spontaner Bewegungen zu aktualisieren, die einem Organismus eigentümlich sind.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38

„Die Lossagung des warmblütigen Organismus vom Primat des Milieus findet ihr mentales Gegenstück in den thymotischen Regungen der Einzelnen wie der Gruppen. Als moralischer Warmblüter ist der Mensch auf die Aufrechterhaltung eines gewissen internen Selbstachtungsniveaus angewiesen - auch dies setzt eine Tendenz zur Loslösung des »Organismus« vom Vorrang des Milieus in Gang. Wo sich die stolzen Regungen geltend machen, entsteht auf der psychischen Ebene ein Innen-Außen-Gefälle, in dem der Selbstpol naturgemäß den höheren Tonus aufweist. Wer die untechnischen Ausdrucksweisen bevorzugt, kann dieselbe Vorstellung durch die These wiedergeben, die Menschen besäßen einen angeborenen Sinn für Würde und Gerechtigkeit. Dieser Intuition hat jede politische Organisation gemeinsamen Lebens Rechnung zu tragen.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38

„Zum Betrieb moralisch anspruchsvoller Systeme, alias Kulturen, gehört die Selbststimulierung der Akteure durch die Hebung thymotischer Ressourcen wie Stolz, Ehrgeiz, Geltungswille, Indignationsbereitschaft und Rechtsempfinden. Einheiten dieser Art bilden in ihrem Lebensvollzug lokalspezifische Eigenwerte aus, die bis zum Gebrauch universalistischer Dialekte führen können. Es läßt sich durch empirische Beobachtung schlüssig nachweisen. wie erfolgreiche Ensembles durch einen höheren inneren Tonus in Form gehalten werden - an dem im übrigen häufig der aggressive oder provozierende Stil des Umweltbezugs auffällt. Die Stabilisierung des Eigenwertbewußtseins in einer Gruppe obliegt einem Regelwerk, das die jüngere Kulturtheorie als das Decorum bezeichnet. (Vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen - Entwurf einer kulturdynamischen Theorie, 1996). In Siegerkulturen wird das Decorum verständlicherweise an den polemischen Werten geeicht, denen man die bisherigen Erfolge verdankt. Daher die enge Liaison zwischen Stolz und Sieg in allen aus erfolgreich geführten Kämpfen hervorgegangenen Gemeinwesen. Stolzdynamisch bewegte Gruppen haben es manchmal sogar nicht ungern, bei ihren Nachbarn und Rivalen unbeliebt zu sein, solange das ihrem Souveränitätsgefühl Auftrieb gibt.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38-39

„Sobald die Stufe der anfänglichen Interignoranz zwischen mehreren metabolischen Kollektiven überschritten ist, das heißt, wenn die gegenseitige Nichtwahrnehmung ihre Unschuld verloren hat, geraten sie unvermeidlich unter Vergleichsdruck und Beziehungszwang. Dadurch wird eine Dimension erschlossen, die man im weiteren Sinn als die der Außenpolitik bezeichnen kann. Infolge ihres Füreinanderwirklich-Werdens fangen die Kollektive an, sich gegenseitig als koexistierende Größen zu begreifen. Durch Koexistenzbewußtsein werden die Fremden als chronische Stressoren wahrgenommen, und die Beziehungen zu ihnen müssen zu Institutionen ausgebaut werden - in der Regel unter der Form von Konfliktvorbereitungen oder der diplomatischen Bemühung um das Wohlwollen der anderen Seite. Von da an reflektieren die Gruppen ihr eigenes Wertverlangen in den manifesten Wahrnehmungen der anderen. Die Gifte der Nachbarschaft sickern in die aufeinander bezogenen Ensembles ein. Diese moralische Reflexion ineinander hat Hegel mit dem folgenreichen Begriff der Anerkennung bezeichnet. Er weist damit hellsichtig auf eine mächtige Quelle von Satisfaktionen oder Satisfaktionsphantasien hin. Daß er damit zugleich den Ursprung zahlloser Irritationen benannt hat, versteht sich aus der Natur der Sache. Auf dem Feld des Kampfs um Anerkennung wird der Mensch zu dem surrealen Tier, das für einen bunten Fetzen, eine Fahne, einen Kelch sein Leben riskiert.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 39-40

„Wir sehen im gegebenen Kontext, daß Anerkennung besser als eine Hauptachse interthymotischer Beziehungen neu beschrieben werden sollte. Was die zeitgenössische Sozialphilosophie mit wechselndem Erfolg unter dem Stichwort Intersubjektivität verhandelt hat, meint häufig nichts anderes als das Gegeneinanderwirken und Ineinanderspielen von thymotischen Spannungszentren. Wo der landläufige Intersubjektivismus die Transaktionen zwischen Akteuren in psychoanalytischen und somit letztlich erotodynamischen Begriffen darzustellen gewohnt ist, empfiehlt es sich künftig eher, zu einer thymotologischen Theorie des Aufeinanderwirkens mehrerer Ambitionsagenturen überzugehen. Ambitionen sind zwar durch erotische Abschattungen modifizierbar, für sich genommen gehen sie jedoch aus einem Regungsherd ganz eigenen Typs hervor und sind nur von diesem her zu durchleuchten.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 40

„Sofern der bürgerlich konditionierte Thymos der psychologische Sitz des von Hegel dargestelletn Strebens nach Anerkennung ist, wird verständlich, warum ausbleibende Anerkennung durch relevante Andere Zorn erregt.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 42-43

„Vor allem muß heute, gegen Nietzsches ungestümes Resümee, bedacht werden, daß die christliche Ära, im ganzen genommen, gerade nicht das Zeitalter der ausgeübten Rache war. Sie stellte vielmehr eine Epoche dar, in der mit großem Ernst eine Ethik des Racheaufschubs durchgesetzt wurde. Der Grund hierfür muß nicht lange gesucht werden: Er ist gegeben durch den Glauben der Christen, die Gerechtigkeit Gottes werde dereinst, am Ende der Zeiten, für eine Richtigstellung der moralischen Bilanzen sorgen. Mit dem Ausblick auf ein Leben nach dem Tode war in der christlichen Ideensphäre immer die Erwartung eines überhistorischen Leidensausgleichs verbunden. Der Preis für diese Ethik des Verzichts auf Rache in der Gegenwart zugunsten einer im Jenseits nachzuholenden Vergeltung war hoch -hierüber hat Nietzsche klar geurteilt. Er bestand in der Generalisierung eines latenten Ressentiments, das den aufgehobenen Rachewunsch selbst und sein Gegenstück, die Verdammnisangst, ins Herzstück des Glaubens, die Lehre von den Letzten Dingen, projizierte. Auf diese Weise wurde die Bestrafung der Übermütigen in alle Ewigkeit zur Bedingung für das zweideutige Arrangement der Menschen guten Willens mit den schlimmen Verhältnissen. Die Nebenwirkung hiervon war, daß die demütigen Guten selbst vor dem zu zittern begannen, was sie den übermütigen Bösen zudachten. Wir werden hiervon unten im Kapitel über den Zorn Gottes und die Errichtung der jenseitigen Rachebank ausführlicher handeln.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 49

„Bei Kränkungen, die krank machen, ist Rache doch die beste Therapie.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 84

„Alle Geschichte ist die Geschichte von Zornverwertungen.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 100

„Aus dem Zorn Gottes sollte die menschliche Rache werden - und aus dem Warten auf die jenseitige Vergeltung eine diesseitige Praxis ....“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 276

„Rache ..., was sie ihrer thymotischen Natur nach seit je bedeutet - ... die Behebung des unerträglichen Mangels an Leiden, der in einer Welt voll ungesühnten Unrechts herrscht.“
Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 276

„Die Philosophen sind von Berufs wegen ja als Welterklärer angetreten. Und sie bekennen sich zunächst und zumeist dazu, einen unbescheidenen Beruf auszuüben, wobei Unbescheidenheit hier, wenn möglich, von der Sache her motiviert wird und nicht vom persönlichen Drang dessen, der sich zu diesem Beruf gemeldet hat - so wie man ja auch bei Polizisten eigentlich nicht unterstellt, daß sie eine natürliche Affinität zum Verbrechen haben, sondern mehr zu seiner Bekämpfung, so hat auch der Philosoph einen natürlichen Drang zur Vielwissenheit und nicht zur Unwissenheit.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Lesezeichen, 2006

„Man soll den Anspruch, die Welt besser zu machen, nicht aufgeben, wenn man sich vorher darüber verständigt hat, was »besser« bedeutet, und ich würde sagen: Das Bessere muß als Funktionsbegriff, nicht als Substanzbegriff, aber als Funktionsbegriff verstanden werden, nämlich, daß die verschiedenen um Verwirklichung ringenden Kräfte im Menschen in eine Balance miteinander gebracht werden. Und wir sind im Moment stark unbalanciert; der Westen ist ... ein »Kontinent« der Gier geworden, also er ist durch und durch erotisiert im ... schlechten Sinne des Wortes. Wir erleben im Moment in einem geschichtlich beispiellosen Ausmaß eine Weltherrschaft der Gier, und gegen die müßte ... das Stolzzentrum seinen Einspruch anmelden und sagen: »Wer bin ich denn, daß ich mich bei der Vorherrschaft gieriger Impulse ertappen lasse?«  Also: der Thymotiker wäre der Mensch, der zeigen möchte, daß er nicht nur ein großer Gieraffe ist und ein Verschlinger, eine große Verdauungsmaschine, sondern daß er ein Spender ist, ein Geber.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Lesezeichen, 2006

„Denken Sie an Carl Schmitts berühmte Formulierung: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, ich transformiere ihn ein wenig, indem ich sage: »Souverän ist, wer in der Lage ist, glaubhaft zu drohen«, und zu drohen heißt in der Sprache der Strategiewissenschaft, einen bewaffneten Ratschlag übermitteln. Das Interessante am Terrorismus ist, daß dort eine Reinform der Drohung entwickelt wurde, die drohen ihre Drohung an, es wird nichts vorgeschlagen, es wird eine reine Drohung in den Raum gesetzt, deren Bedeutsamkeit noch nicht zu fassen ist, deswegen neige ich dazu, das Ganze eher in Ausdrücken der Medienkunst zu interpretieren und nicht so sehr in Ausdrücken der Politologie.“
Peter Sloterdijk, in: Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk, 2006

„Terror ist eine Verhaltensweise, der diese Reindarstellung nicht duldet, da ist schmutzige, im wahrsten Wortsinne niederträchtige Energie drin, die sich selbst die Absolution erteilt und zwar unter unsportlichen, das heißt religiösen Verbrämungen, deswegen ist Religion so gefährlich, vor allem monotheistische Religion, weil sie eine kriecherische Metaphysik unterstützt, die Religionen sind Gefäße des metaphysischen Masochismus, das heißt, man bekommt die Form vorgegeben, in der man sich unterwerfen darf.“
Peter Sloterdijk, in: Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk, 2006

„Wir müssen den ganzen Pol des Thymotischen erst wieder entdecken, auch in der Theorie müssen wir eine Psychologie entwickeln, nicht für Patienten, sondern für Kämpfer, oder anders und besser gesagt, für Leute, die in Form sind. Der Patient ist der Mensch ohne Stolz, das ist das Ergebnis von hundert Jahren Therapiekultur, das konvergiert mit dem Homo consumens, den der Kapitalismus herstellt, alles läuft auf diese Erotisierung hinaus, deswegen verstehen wir den Thymotiker auch nicht, und die Islamisten sind überwertige Thymotiker. Es wäre eine falsche, von der Psychoanalyse nahegelegte Herablassung zu sagen, der Stolz meldet sich nur bei Menschen, die erotisch nicht zum Zuge kommen, sozusagen ein Ersatzprogramm des Eros für die, die es nötig haben, der Stolz kommt allem Nötighaben zuvor, er ist die im Sein selbst gesetzte Tendenz, geltend zu machen, was man will und was man kann. Und wenn das zu sehr deformiert, entstehen ressentimenthafte Ausbildungen des Stolzes.“
Peter Sloterdijk, in: Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk, 2006

„Wir müssen die Idee eines Lebens aus dem Können in unterwerfungslustige Kulturen einführen, damit sich auch die Religion wandelt, von einer Religion der Unterwerfung zu einer Religion des betreuten Könnens, also, europäisch gesprochen, Protestantismus, der Glaube des von Gott getragenen Könnens.“
Peter Sloterdijk, in: Wolfram Weimer im Gespräch mit Peter Sloterdijk, 2006

„Seltsam, man darf nicht den Israelis empfehlen, Israel aufzugeben, aber der Menschheit darf man nahelegen, sich einen anderen Planeten zu suchen.“
Peter Sloterdijk, in: Zeit, 2006

„Seit Heidegger wissen wir, daß die Krümmung des Seins als Krümmung der Zeit verstanden werden muß. Was man die Existenz des Menschen nennt, ist keine Gerade zwischen Anfang und Ende. Vielmehr wird die existentiale Linie durch eine seltsame Spannung verbogen: Die »Enden der Parabel«, die ein einzelnes Leben ausmacht, markieren Abschnitte im Kreis des Seins.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 20

„Deutscher Idealismus .... In philosophische Hinsicht war der Idealismus eine logische und ethische Ambition, die vor keiner Zuspitzung zurückschreckte, nämlich die paradoxe Unternehmung, Freiheit zum Zentralmotiv von strenger Systembildung zu machen. .... Der Idealismus wollte sich unentbehrlich machen als ein Beweisverfahren, mit dem dargelegt wurde, daß auch die Bürgerlichen machttauglich und machtwürdig sind, sofern es ihnen nur gelingt, an einem geschichtlich neuen Typus von Adel teilzuhaben. .... Damit trat Idealismus hervor als der Versuch, die Welt im Ganzen auf die Spitze zu stellen, eine Spitze, die einen ontologisch anspruchsvollen Namen trug, den des »Subjekts« - was heißen soll: das, was zugrunde liegt oder modern verstanden: was zugrunde tut, was »an der Basis« aller Lagen alles vollbringt. Wo so gedacht wird, kommt das Höchste als das Breiteste daher. Was das Oberste war, soll nun etwas sein, was jedem zukommt. Was höchste Auszeichnung war, wird allegmeines Merkmal und alltägliche Anrede. Das Geheimnis der Enthusiasmupolitik ist demnach, daß sie die ganze Gesellschaft in den Adelsstand erhebt - oder wie Schiller in der ersten Fassung der Ode sagt -, daß Bettler Fürstenbrüder werden.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 35-37

„Die Musik des Zur-Welt-Kommens ist ein Wille zur Macht als Klang, der sich auf der Linie eines von innen kommenden Kontinuums hervorbringt und der sich selbst will wie eine nichtunterlaßbare Lebensgebärde; die Musik des Rückzugs hingegen strebt, nach dem Zerbrechen des Kontinuums, in den akosmischen Schwebezustand zurück, in dem sich das verletzte Leben, als Unwille zur Macht, sammelt und heilt. Darum gibt es in der Primärgestik aller Musik einen Dualismus von Ausfahrt und Heimkehr. Dem ersten Pol entspricht ein adventisches Motiv, das ganz auf Exodus, Ertönenwollen und Vortreten an die Rampe angelegt ist, dem zweiten ist ein nirwanischer Zug eigentümlich, der auf Einkehr und Zustandekommen, auf Erlöschen und Ruhen zielt.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 57

„Das Denken ist im Subjekt wie der Ton in der Violine - kraft eines Schwingungsverhältnisses. Menschen sind, sofern sie denken, gleichsam Musikinstrumente für Vorstellungen, die die Welt bedeuten. Wenn das »Instrument« auf sich selbst achtgibt, so ist ihm klar: Ich bin kein funadementum inconcussum, sondern ein medium percussum.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 68

„Emanzipation von Wortschatz, Grammatik, Rhetorik und Phonetik. .... Entbunden von semantischer Sklaverei, tritt der Klang aus dem Schatten und gibt mit einer unerhörten Frische und Nacktheit sich selbst zu hören. .... Von der ersten bis zur letzten Zeile lautet seine Botschaft: Ich bin nur zu hören; ich bin ein Text, der die frohe Botschaft vom Nicht-Bedeuten in die Welt setzt. .... Bedeutungslosigkeit bedeutet.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 71

„Im Anthropologie-Kapitel aus Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1817, finden sich im Abschnitt über die »fühlende Seele« einige Formulierungen, die mit den Mitteln philosophischer Psyhologie den Entwicklungen moderner Tiefenpsychologie um mehr als hundertfünfzig Jahre vorgreifen. Hegel artikuliert zum ersten Mal die Idee, daß eine noch völlig leere, erfahrungslose, leidlose und daher unbestimmte Seele von den Vibrationen des mütterlichen Mediums bestimmend und prägend durchdrungen wird.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 72

„Die auditive Geburt des Kindes geht, wie man heute weiß, dem physischen Austritt um einige Monate voraus.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 74

„Bei Schopenhauer vollzieht sich ein Durchbruch, nach dem der Weltgrund selbst, der Wille, als unmittelbar musikalischer vorgestellt wird.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 76

„Als ein Wesen, das im Kommen ist, ist der Mensch wesenhaft ein Tier, das von innen kommt. »Innen« bedeutet hier: Fötalität, Nicht-Manifestation bzw. Latenz, Verborgenheit, Wasser, Familiarität, Schoßhaftigkeit und Häuslichkeit. Zur-Welt-Kommen muß demnach fünffach verstanden werden - gynäkologisch als Geburt, ontologisch als Welteröffnung, anthropologisch als Elementwechsel vom Flüssigen ins Feste, psychologisch als Erwachsenwerden, politisch als Einrücken in Machtfelder.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 87-88

„Auch das Licht der Aufklärung macht Erfahrungen mit seinem Schatten. Es ... entdecken die meisten Kommentataoren die Notwendigkeit einer »Abklärung der Aufklärung« bzw. einer Kritik der lichtbringerischen Vernunft. Was landläufig Postmoderne genannt wird, hat eines seiner überzeugendtsen Motive in dieser Nachuntersuchung von Aufklärungsfolgen.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99

Aus der Synthese von Marktkapitalismus und Wohlfahrtsstaat ... der »aufgeklärten« westlichen Industrienationen ... entspringt gleichfalls kein Zustand allgemeiner Genugtuung, sondern eine ... Zweideutigkeit, der die großen Perspektiven und Projektionen abhanden gekommen zu sein scheinen.
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99-100

Im Rückblick auf die Geschichte des optischen Idealismus ... zeigt sich, daß inzwischen die gesamte verwestlichte Hemisphäre der Welt zu einem »Abend«land geworden ist.
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100

Ist nun in Reaktion auf das Unbehagen am Zwielicht mit einer postmodernen Wiederkehr der Lichtreligionen zu rechnen? Gewisse Indizien sprechen hierfür.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100-101

Ist die letzte Sicht nichts anders als das ewige Blinzeln der letzten Menschen, die in die glutlose Abendsonne schauen? .... Wenn zutrifft, daß nichts in der Technologie ist, was nicht schon zuvor in der Metaphysik gewesen war, dann hat eine lichtmetaphysisch vorgeformte Menschheit Aussicht darauf, zuletzt in ein selbstgemachtes großes Licht zu blicken - »heller als tausend Sonnen«.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 102

Der moderne Könner kann immer weniger immer besser.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 143

„Diese Monsterbuch mit seinen 2550 Seiten müßte eigentlich, wenn es nicht Sphären hieße, Sein und Raum heißen.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 230

„»Wir sind nie revolutionär gewesen.« .... Man muß zwei gefährliche Kategorien aus seinem Wortschatz herausnehmen: Die eine ist der Begriff der Revolution, ... die andere ist der Begriff der Massen .... Sollte es tatsächlich so etwas wie effektive (so genannte revolutionäre) Wirklichkeitsveränderung geben, dann wird sie sich daran zeigen, daß eine neue Technologie einen Lebenslauf expliziert und dadurch verändert und vorantreibt. .... Ein Techniker entscheidet sich immer für das Vorantreiben der Technologie. Alles Erfolgreiche ist operativ ....“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 235

„So kommt es, daß sich die moderne Kunstausstellungskunst in ihrer Tautologisierung festschraubt: Das Herstellen von Kunst dreht sich um ein Ausstellen von Kunst, das sich um ein Herstellen von Ausstellungen dreht.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 413-414

„Die Selbstaufstellung von Messen, Museen, Galerien ist der Selbstoffenbarung der Werke zuvorgekommen; sie hat den werken die Seinsweise der Selbstreklame aufgezwungen. Seither müssen Werke selbstapplaudierend sein. In der Reklame besitzt die aletheia ihren äußersten Vorposten. .... Sicher ist nur: Kein Bild kann noch so viel bedeuten wie der wiederverwendbare Haken, an dem es vorübergehend hängt.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 415

„Ich komme hier auf das zurück, was ich in der Kritik der zynischen Vernunft als Anlauf zu einer philosophischen Antiphilosophie versucht habe. Ich zeigte dort die Notwendigkeit einer Geistesgegenwart, die sich jenseits der moralischen vorstellenden Automatismen entfaltet, auch jenseits der genormten Diskurse, die sich als Theorie präsentieren, und jenseits der routinierten und reflexhaften Aktivitäten, die sich beim gesunden Menschenverstand als »Praxis« beliebt machen wollen. Die Kritik der zynischen Vernunft war ein wie auch immer fehlerhafter Versuch, die Philosophie in Richtung auf eine Schule der Geistesgegenwart voranzubringen.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 485

„Es ist jetzt vielleicht eine Woche her, da erschien mir Einstein im Traum. .... Er erzähle mir, daß er mit sinem Kollegen Gott, genauer gesagt, mit dessen dritter Person seine viel mißverstandene Energiegleichung noch einmal durchgerechnet habe. Und da habe es ihm um ein Haar den Kopf zersprengt, als er plötzlich, durch eine kleine Umstellung der Faktoren, die Weltformel fand, ja vielmehr, als er selber die Weltformel wurde. .... Ich fürchtete schon, er würde im nächsten Augenblick ganz formellos verschwinden. Aber dann nahm sich Einstein noch einmal zusammen, und er schrieb sich selbst an eine schwarze Tafel, wobei mir Hören und Sehen verging, denn er sdchrieb, wenn ich es mir richtig gemerkt habe: Universum (U) gleich Intelligenz (I) minus Antiintelligenz (AI), wobei gilt: I gleich Meditation durch den Widerstandsfaktor der Vorstellung in der Zeit; AI gleich Wiederholungsmaterie multipliziert mit dem Quadrat des Sitzfleischdurchmessers. Als Einstein sich schon fast ganz an die Tafel geschrieben hatte, deutete er noch an, daß der Kollege von Weizsäcker schon auf der richtigen Spur zur Weltformel sei, nur daß er doch um alles in der Welt den Beharrungskoeffizienten an eine andere Stelle setzen sollte. Dann explodierte Einstein mitsamt der schwarzen Tafel, und es blieb von der ganzen Erscheinung nichts anders übrig als ein gewisses Kitzeln in der Atmosphäre, das ich trotz meiner dürftigen physikalischen Kenntnisse sofort als das kosmische Hintergrundkitzeln identifizierte.“
Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 487, 488-489

„Saint-Just ... hatte in seinen Überlegungen der republikanischen Institutionen ... geschrieben ...: »Die Kinder gehören bis zum 5. Lebensjahr der Mutter, danach bis zu ihrem Tode der Republik«. Das heißt: Das ist die Abschaffung der Freiheit im Namen der Immanenz bzw. im Namen der Abschaffung der Zwei-Welten-Theorie.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2007

„Der Theologe ist der Anwalt der Gläubigen vor der Vernunft.“
Peter Sloterdijk, in: Sat 1, 18.05.2008, 23.35 Uhr

„Geschichte ist ... genau der Prozeß, in dem man nie ausgelernt haben wird.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008

„Wir haben seit 200 Jahren eine Wirtschaftswissenschaft, die gar keine Wissenschaft ist. Es ist eine ... verkappte Theologie - in vielen Fällen -, eine Wissenschaft, die ihre Unwissenschaftlichkeit hinter einem riesigen Aufwand an Mathematik verbirgt. Das kann man ja übrigens in allen Wissenschaften beobachten: je unwissenschaftlicher sie sind, desto mathematischer werden sie. Auch die positivistische Psychologie unserer Tage, die den Menschen überhaupt nicht mehr kennt, arbeitet sehr gern mit mathematischen Modellen, und die Wirtschaftswissenschaft im letzten halben Jahrhundert ist ja ein reines Spielfeld für mathematisierende Spinner geworden.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008

„Wir haben ungefähr 10 Millionen Menschen, die in der Millionärskategorie leben. Wir haben etwa 1000 Milliardäre. Wir haben etwa 10 Millionen, die in der Kategorie der Multimillionäre operieren. Da entsteht ein neues, abstraktes Übervolk, das dieselben Eigenschaften aufweist wie der alte europäische Adel .... Wir ersetzen Grundbesitz heute durch Zugang zu Informationsmitteln, zu Lebensmitteln, zu Privelgien .... Wir sind in einer rasanten Refeudalisierung - das ist völlig klar, aber sie geht nicht mehr über Grund und Boden, sondern sie läuft über Zugangsprivilegien. Und natürlich ist niemand privilegierter als derjenige, der innerhalb des 10-Millionen-Volkes mit seinesgleichen auf gleicher Ebene kommunzieren kann.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008

„Auf der einen Seite die Refeudalisierung und auf der anderen Seite die Konversion in den autoritären Kapitalismus.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008

„Der Staat bedroht die Bürger mit seiner Schwäche.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008

„Viele Diagnostiker verstecken sich ja heute hinter einer Komplexitätsrhetorik, indem sie sagen: »Die Dinge sind so kompliziert, daß wir sie nicht lösen können. Gott sei Dank müssen wir sie nicht lösen und können deswegen weitermachen.« .... Ein Habitus, der sich in unserer Gesellschaft breit gemacht hat, Komplexität als Ausrede dafür zu verwenden, daß man Passivität einübt.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008

„Es gibt ein starkes Argument eines deutschen Staatsrechtlers ...: »Wer ›Menschheit‹ sagt, will betrügen« (Carl Schmitt). Das heißt, man täuscht ein »Super-Wir« vor, das es noch gar nicht gibt, das in Wirklichkeit wiederum eine maskierte partikulare Stimme ist. Nach dem Schema hat ja übrigens auch die Ideologiekritik in den letzten 200 Jahren funktioniert. Da treten z.B. so ein paar französische Rechtsannwälte ... auf - es sind vielleicht ein paar 100 Leute - und nennen sich selbst »die Menschheit«. Daraus ist die französische Revolution hervorgegangen. Und so funktioniert das immer. Es gibt immer eine kleine Avantgarde - die nennt sich selbst »Menschheit« - und trägt sozusagen die Flamme vor allen anderen her und sagt: »Alles hört auf mein Kommando!«“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008

„Carl Schmitt würde sagen: der erfolgreichste Superorganismus, den wir bisher hervorgebracht haben, ist dieser ... zweipolige Nationalstaat, in dem der Markt und ein hinreichend regulierungsfähiger staatlicher Apparat eine sinnvolle Synergie miteinander erzeugen. Alles, was darüber hinaus liegt, gelingt uns noch nicht.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008

„Napoleon ... hat als Beleidiger Geschichte gemacht. Die Spanier mußten bis 1975 - bis zum Tode Francos - warten, bis sie endlich aus der Folge ihrer eigenen antinapoleonischen Reaktionen herauskamen. Man darf auch die Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert nicht isoliert betrachten. Und die Deutschen wären auch nicht dahin gekommen, wo sie standen, wenn sie nicht ... durch die napoleonische Beleidigung ... in die reaktive Posoition gekommen wären und bis 1945 ihre antifranzösische Reaktion abgearbeitet hätten.“
Peter Sloterdijk, in: DCTP-TV (Alexander Kluge), Theorie der Nachbarschaft - Peter Sloterdijk über 200 Jahre deutsch-französische Beziehungen, 16.11.2008

„Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß die Europäer allesamt ohne die Deutschen gar kein Beispiel dafür hätten, wie es ist, sich als Europäer zu verhalten. Denn wenn sie nur auf sich selber schauen, so sind sie doch Briten, Franzosen und was weiß ich geblieben - mit Ausnahme der Spanier, die wirklich ähnlich wie die Deutschen in einer solchen metanoetischen Verwandlung .... (Kluge unterbricht Sloterdijk hier; HB), die haben auch dieses Lernen aus den eigenen Lektionen auf einer ungewöhnlich tiefen Ebene vollzogen, deswegen sind sie ... den Deutschen auch am nächsten, auch sind sie die Nation, die eigentlich mit der größten politischen Reife den Weg in die Demokratie gegangen sind, und zwar (sind sie) bei permanentem Terror ... trotzdem ruhig den Weg weitergegangen. Man muß sich nur ‘mal vorstellen, wie es uns ginge, wenn wir auch nur ein Zehntel des Terrordrucks in unserem Land hätten, den die Spanier in den letzen dreißig Jahren chronisch erlebt haben.“
Peter Sloterdijk, in: DCTP-TV (Alexander Kluge), Theorie der Nachbarschaft - Peter Sloterdijk über 200 Jahre deutsch-französische Beziehungen, 16.11.2008

„Neben Alan Greenspan ist Onkel Dagobert ein Charaktertitan.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Was heute Krise heißt, ist die Weltverschwörung der Spießer.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Diese vorgeblich heftigste Wirtschaftskrise der jüngeren Geschichte: sie ist die spießigste und muffigste Angelegenheit, die sich seit Menschengedenken zugetragen hat. Die Art und Weise, wie regierende Hausmeister im Dunkeln Megamilliarden hin- und herschieben, ist eine Beleidigung für jede Intelligenz. Demgegenüber waren der Schwarze Freitag und die Weltwirtschaftskrise nach 1929 ein Shakespeare-Drama.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Heute sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen Positionen, die hinterm Schalter große Politik machen. Obendrein redet man immerzu von der Gier, als ob sie die Vorgänge auch nur von fern erklärte. Die Wahrheit ist, der viel zitierte Bereicherungstrieb spielt in der Angelegenheit eine völlig untergeordnete Rolle. Es ist nicht die Gier, die das System antreibt, die Fehlsteuerung geht von den Zwängen des Billigkreditsystems aus: Wenn die Zentralbanken kostenloses Geld ausspucken, wäre es für echte Global Player ruinös, es nicht zu nehmen.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Heute sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen Positionen, die hinterm Schalter große Politik machen.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Obendrein redet man immerzu von der Gier, als ob sie die Vorgänge auch nur von fern erklärte. Die Wahrheit ist, der viel zitierte Bereicherungstrieb spielt in der Angelegenheit eine völlig untergeordnete Rolle. Es ist nicht die Gier, die das System antreibt, die Fehlsteuerung geht von den Zwängen des Billigkreditsystems aus: Wenn die Zentralbanken kostenloses Geld ausspucken, wäre es für echte Global Player ruinös, es nicht zu nehmen.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Im übrigen könnte man behaupten, in jedem Europäer steckt ein Inflationist: Seit dem Beginn der Neuzeit hat sich in den Menschen Europas das Märchenmotiv vom leistlosen Einkommen mit archetypischer Gewalt festgesetzt. Von unserer psychischen und kulturellen Struktur her sind wir Schatzsucher, die den Schatz nicht mehr im Jenseits, sondern auf der Erde vermuten. Wenn es um Reichtum geht, neigen wir zum Wunderglauben - daneben sind mittelalterliche Menschen pure Rationalisten.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Unzählige meinen allen Ernstes, das Leben sei ihnen einen Schatzfund schuldig.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Die Reichen sind gegenwärtig noch eine Klasse und keine Spezies, aber könnten es werden, wenn man nicht aufpaßt. Es dürfte gegenwärtig auf der Erde rund 10 Millionen Menschen in der Millionärs- und Multimillionärskategorie geben, dazu schon über 1000 Milliardäre. Aus diesen Vermögenseliten bildet sich ein neues abstraktes Übervolk, das dieselben Eigenschaften aufweist, die man vom alten europäischen Adel kannte: Sie denken kosmopolitisch, sie reisen viel, sie leben mehrsprachig, sie sind gut informiert und beschäftigen die besten Berater, sie reden ständig über Beziehungen, Sport, Kunst und Essen. Beim Volksthema Sex bleiben sie diskret. .... Jeremy Rifkin hat vor ein paar Jahren ein Buch (»Access - Das Verschwinden des Eigentums«, 2000) vorgelegt, das indirekt die Entstehung des neofeudalen Systems behandelt: Wir ersetzen, so seine These, heute Grundbesitz durch Zugang zu privilegierten Gütern, zu wertvollen Informationen, zu Luxusobjekten, zu elitären Adressen, zu exquisiten Kanälen und machtnahen Korridoren. Zugangskompetenz ist heute das Schlüsselgut, nicht Grundeigentum. Wir beobachten eine rasante Refeudalisierung auf überterritorialem Niveau. Und naturgemäß lebt niemand feudaler als jemand, der innerhalb des neuen Metavolks, des 10-Millionen-Volkes der Reichen, von gleich zu gleich kommuniziert.“
Peter Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118

„Den Armen erscheint die Welt als ein Ort, an dem die nehmende Hand der anderen sich schon alles angeeignet hat, bevor sie selber den Schauplatz betraten.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Der Sündenfall geschieht, sobald der Privatbesitz aus dem Gemeinsamen ausgegrenzt wird. Er zeugt sich fort in jedem späteren ökonomischen Akt.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Auf dem Grund jeder revolutionären Respektlosigkeit findet man die Überzeugung, daß das Früher-Dagewesensein der jetzigen »rechtmäßigen« Besitzer letztlich nichts bedeutet. Von der Respektlosigkeit zur Enteignung ist es nur ein Schritt.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Alle Avantgarden verkünden, man müsse mit der Aufteilung der Welt von vorn beginnen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Wer bei der anfänglichen Landnahme zugegriffen hat, wird auch bei späteren Machtnahmen ganz vorn sein.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Das Movens der modernen Wirtschaftsweise ist ... keineswegs im Gegenspiel von Kapital und Arbeit zu suchen. Vielmehr verbirgt es sich in der antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Es ist die Sorge um die Rückzahlung von Krediten, die das moderne Wirtschaften von Anfang an vorantreibt - und angesichts dieser Sorge stehen Kapital und Arbeit auf derselben Seite.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Immerhin, in diesen Finanzkrisentagen erfährt man es schon aus den Boulevardzeitungen: Der Kredit ist die Seele jedes Betriebs, und die Löhne sind zunächst und zumeist von geliehenem Geld zu bezahlen - und nur bei Erfolg auch aus Gewinnen. Das Profitstreben ist ein Epiphänomen des Schuldendienstes, und die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers ist der psychische Reflex des Zinsenstresses.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Es würde sich an dieser Stelle nicht lohnen, die Irrtümer und Mißverständnisse aufzuzählen, die der abenteuerlichen Fehlkonstruktion des Prinzips Eigentum auf der von Rousseau über Marx bis zu Lenin führenden Linie innewohnen. Der letztgenannte hat vorgeführt, was geschieht, wenn man die Formel von der Expropriation der Expropriateure aus der Sphäre sektiererischer Traktate in die des Staatsparteiterrors übersetzt. Ihm verdankt man die unüberholte Einsicht, daß die Schicksale des Kapitalismus wie die seines vermeintlichen Gegenspielers, des Sozialismus, untrennbar sind von der Ausgestaltung des modernen Staates.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Um die unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit in der gegenwärtigen Welt zu ermessen, ist es nützlich, sich an die historische Verwandtschaft zwischen dem frühen Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus zu erinnern. Beide Bewegungen wurden von der trügerischen Annahme animiert, man gehe auf eine Ära geschwächter Staatswesen zu. Während der Liberalismus nach dem Minimalstaat strebte, der seine Bürger nahezu unfühlbar regiert und sie bei ihren Geschäften in Ruhe läßt, setzte der Anarchismus sogar die Forderung nach dem vollständigen Absterben des Staates auf die Tagesordnung. In beiden Postulaten lebte die für das 19. Jahrhundert und sein systemblindes Denken typische Erwartung, die Ausplünderung des Menschen durch den Menschen werde in absehbarer Zeit an ein Ende kommen: im ersten Fall durch die überfällige Entmachtung der unproduktiven Aussaugungsmächte Adel und Klerus; im zweiten durch die Auflösung der herkömmlichen sozialen Klassen in entfremdungsfreie kleine Zirkel, die selber konsumieren wollten, was sie selber erzeugten.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, daß Liberalismus wie Anarchismus die Logik des Systems gegen sich hatten. Wer eine gültige Sicht auf die Tätigkeiten der nehmenden Hand hätte entwickeln wollen, hätte vor allem die größte Nehmermacht der modernen Welt ins Auge fassen müssen, den aktualisierten Steuerstaat, der sich auch mehr und mehr zum Schuldenstaat entwickeln sollte. Ansätze hierzu finden sich de facto vorwiegend in den liberalen Traditionen. In ihnen hat man mit beunruhigter Aufmerksamkeit notiert, wie sich der moderne Staat binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen ausformte.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Dies gelang ihm vor allem mittels einer fabelhaften Ausweitung der Besteuerungszone, nicht zuletzt durch die Einführung der progressiven Einkommensteuer, die in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung, mit dem bemerkenswerten Vorzug, daß sich die Prozedur Jahr für Jahr wiederholen läßt - zumindest bei jenen, die an der Schröpfung des letzten Jahres nicht zugrunde gingen. .... Inzwischen hat man sich längst an Zustände gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne daß die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Angesichts der bezeichneten Verhältnisse ist leicht zu erkennen, warum die Frage, ob der »Kapitalismus« noch eine Zukunft habe, falsch gestellt ist.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Wir leben gegenwärtig ja keineswegs »im Kapitalismus« - wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert -, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muß. Offiziell heißt das schamhaft »Soziale Marktwirtschaft«. Was freilich die Aktivitäten der nehmenden Hand angeht, so haben sich diese seit ihrer Monopolisierung beim nationalen und regionalen Fiskus überwiegend in den Dienst von Gemeinschaftsaufgaben gestellt. Sie widmen sich den sisyphushaften Arbeiten, die aus den Forderungen nach »sozialer Gerechtigkeit« entspringen. Allesamt beruhen sie auf der Einsicht: Wer viel nehmen will, muß viel begünstigen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„So ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung feudaler Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminister ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung geleistet hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand bezeichnet, rechtfertigt sich, idealtypisch wie pragmatisch, durch seine unverkennbare Nützlichkeit für den sozialen Frieden - um von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden Staats nicht zu reden. Der Korruptionsfaktor hält sich dabei zumeist in mäßigen Grenzen, trotz anderslautenden Hinweisen aus Köln und München. Wer die Gegenprobe zu den hiesigen Zuständen machen möchte, braucht sich nur an die Verhältnisse im postkommunistischen Rußland zu erinnern, wo ein Mann ohne Herkunft wie Wladimir Putin sich binnen weniger Dienstjahre an der Spitze des Staates ein Privatvermögen von mehr als 20 Milliarden Dollar zusammenstehlen konnte.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Den liberalen Beobachtern des nehmenden Ungeheuers, auf dessen Rücken das aktuelle System der Daseinsvorsorge reitet, kommt das Verdienst zu, auf die Gefährdungen aufmerksam gemacht zu haben, die den gegebenen Verhältnissen innewohnen. Es sind dies die Überregulierung, die dem unternehmerischen Elan zu enge Grenzen setzt, die Überbesteuerung, die den Erfolg bestraft, und die Überschuldung, die den Ernst der Haushaltung mit spekulativer Frivolität durchsetzt - im Privaten nicht anders als im Öffentlichen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Autoren liberaler Tendenz waren es auch, die zuerst darauf hinwiesen, daß den heutigen Bedingungen eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung innewohnt: Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmißverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, daß die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben – und dies zudem auf mißverständliche Weise, nämlich so, daß sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen unrecht und man schulde ihnen mehr.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Tatsächlich besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population moderner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen oder niederen Einkünften, die von Abgaben befreit sind und deren Subsistenz weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte abhängt. Sollten sich Wahrnehmungen dieser Art verbreiten und radikalisieren, könnte es im Lauf des 21. Jahrhunderts zu Desolidarisierungen großen Stils kommen. Sie wären die Folge davon, daß die nur allzu plausible liberale These von der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven der längst viel weniger plausiblen These von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital den Rang abläuft. Das zöge postdemokratische Konsequenzen nach sich, deren Ausmalung man sich zur Stunde lieber erspart.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Die größte Gefahr für die Zukunft des Systems geht gegenwärtig von der Schuldenpolitik der keynesianisch vergifteten Staaten aus. Sie steuert so diskret wie unvermeidlich auf eine Situation zu, in der die Schuldner ihre Gläubiger wieder einmal enteignen werden - wie schon so oft in der Geschichte der Schröpfungen, von den Tagen der Pharaonen bis zu den Währungsreformen des 20. Jahrhunderts. Neu ist an den aktuellen Phänomenen vor allem die pantagruelische Dimension der öffentlichen Schulden. Ob Abschreibung, ob Insolvenz, ob Währungsreform, ob Inflation - die nächsten Großenteignungen sind unterwegs. Schon jetzt ist klar, unter welchem Arbeitstitel das Drehbuch der Zukunft steht: Die Ausplünderung der Zukunft durch die Gegenwart. Die nehmende Hand greift nun sogar ins Leben der kommenden Generationen voraus - die Respektlosigkeit erfaßt auch die natürlichen Lebensgrundlagen und die Folge der Generationen.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der »Gesellschaft« zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit - ohne daß der öffentliche Bereich deswegen verarmen müßte. Diese thymotische Umwälzung hätte zu zeigen, daß in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.“
Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009

„Ich werde zeigen, daß eine Rückwendung zur Religion ebensowenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion - aus dem einfachen Grund, weil es keine »Religion« und keine »Religionen« gibt, sondern nur mißverstandene spirituelle Übungssysteme ....“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 12

„Wir haben Grund, bei Menschen nicht bloß mit einem einzigen Immunsystem zu rechnen, dem biologischen, das in evolutionärer Sicht an erster, in entdeckungsgeschichtlicher jedoch an letzter Stelle steht. In der Humansphäre existieren nicht weniger als drei Immunsysteme, die in starker kooperativer Verschränkung und funktionasler Ergänzung übereinandergeschichtet arbeiten: Über den weitgehend automatisierten und bewußtseinsunabhängigen biologischen Substrat haben sich beim Menschen im Lauf seiner mentalen und soziokulturellen Entwicklung zwei ergänzende Systeme zur vorwegnehmenden Verletzungsverarbeitung herausgebildet: zum einen die sozio-immunologsichen Praktiken, insbesondere die juristischen und solidarischen, aber auch die militärischen, mit denen Menschen in »Gesellschaft« ihre Konfrontationen mit fern-fremden Aggressoren und benachbarten Beleidigern oder Schädigern abwickeln; zum anderen die symbolischen beziehungsweise psycho-immunologischen Praktiken, mit deren Hilfe es den Menschen von alters her gelingt, ihre Verwundbarkeit durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen mehr oder weniger gut zu bewältigen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 21-22

„Weil es sich so verhält, ist Kulturwissenschaft möglich; und weil nicht-naiver Umgang mit symbolischen Immunsystemen heute zu einer Überlebensbedingung der Kulturen selbst geworden ist, ist Kulturwissenschaft nötig.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 22-23

„Der Übergang von der Natur in die Kultur und umgekehrt steht seit jeher weit offen. Er führt über eine leicht zu betretende Brücke - das übende Leben.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 25

»Archaischer Torso Apollos. - Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.« - Rainer Maria Rilke.
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 40

„Die effektivsten Anthroptechniken entstammen der Welt von gestern - und die heute lautstark angepriesene oder verworfene Gentechnik wird für lange Zeit, selbst wenn sie in größerem Maßstab beim Menschen praktikabel und akzeptabel würde, am Umfang dieser Phänomenen gemessen nur eine Anekdote bleiben.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 126

Religionen gibt es nicht.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 133

„Ich erinnere an die in der Einleitung erläuterte These, daß es beim Menschen nicht nur ein Immunsystem gibt, sondern deren drei, wobei die religiösse Komplex fast ganz in den Funktionskreis des dritten Immunsystems fällt.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 134

„Nietzsches »Artisten-Metaphysik« kann an den Vorgaben der darwinistischen Biologie unbemüht anknüpfen. Unter dem Aspekt der Unwahrscheinlichkeitsbetrachtung sind natürliche Arten und »Kulturen« - letztere definiert als traditionstüchtige Menschengruppen mit einem hohen Dressur- und Kunstfertigkeitsfaktor - Phänomene auf demselben Spektrum. In der Naturgeschichte der Artifizalität stellt die Natur-Kultur-Schwelle keinen besonders nennenswerten Einschnitt dar; allenfalls einen Höcker in einer Kurve, die von diesem Punkt an schneller steigt. Das einzige Privileg der Kultur gegenüber der Natur besteht in ihrer Fähigkeit, die Evolution als Kletterpartie auf dem Mount Improbable zu beschleunigen. Beim Übergang von der genetischen zur symbolischen oder »kulturellen« Evolution akzeleriert sich der Gestaltprozeß bis zu dem Punkt, an dem die Menschen auf die Erscheinung des Neuen zu eigenen Lebzeiten aufmerksam werden. Von da an nehmen Menschen zu ihrer eignen Innovationsfähigkeit Stellung - und zwar bis vor kurzem fast immer ablehnend.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 188-189

„Während Fortpflanzung bisher immer dem Primat der erzeugenden Seite unterstand und an der geglückten Wiederkehr des Alten im Jüngeren sein Erfolgskriterium besaß, soll in Zukunft das Kind den Vorrang genießen - diesen erlangt es, wenn es, wie Nietzsche unmißverständlich sagt, das Eine wird, das mehr ist als die zwei, die es schufen. Diejenigen, die das nicht wollen, heißen letzte Menschen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 191

„Wie die westliche Welt den Schrecken der Arbeitslosigkeit kennt (der soziologische Name der Depression), so die östliche den Horror der Übungslosigkeit.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 421-422

„Auf der Wiederholung ruht der Bestand der Welt - womit gegen das Einmalige nichts gesagt ist, außer daß man es mißbraucht, wenn man nur um das Goldene Kalb »Ereignis« tanzt. Es liegt in der Natur der Naturen, Wiederholungssysteme für das Bewährte zu sein, und für Kulturen gilt das in nahezu gleichem Maß.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 505

„Für die frühen Modernen setzt die Hingabe an die geistige Sphäre noch immer die Verweigerung der Teilnahme am profanen Betrieb voraus. Und doch geraten sie, die Proto-Virtuosen, schwankend zwischen den älteren Mönchsklausen und den neueren Studios der Humanisten, in eine gesteigerte Lerndynamik. Sie werden von einer Drift in die Selbstintensivierung erfaßt, die mit den herkömmlichen monastischen Entselbstungsdressuren nur noch eine widersprüchliche Einheit bildet. Aus diesen Intensivierungen resultieren Tendenzen einer bedingten Teilhabe der Spirituellen an der Welt. Unter modifizierter Verwendung des Ausdrucks des Neu-Phänomenologen Hermann Schmitz bezeichne ich diese Rückwendung als »Wiedereinbettung« des ausgegrenzten Subjekts. Dank erster Einbettung nehmen Individuen unmittelbar an ihren Situationen teil. durch Wiedereinbettung finden sie nach Phasen der Entfremdung in sie zurück. Wer das Eintauchen in die Situation bejaht, ist auf dem Weg, zu werden, was Goethe in eigener Sache gelegentlich »das Weltkind in der Mitten« nannte“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 510

Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsche als Immunologe.  –  Mit Nietzsche verbindet sich das wenig verstandene logische Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts: die Transformation der Metaphysik in Allgemeine Immunologie - ein Ereignis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heute gescheitert sind. (Allein die Luhmannsche Systemtheorie hat aufgrund ihres metabiologischen Ansatzes den immunologischen Imperativ in ihre Grundlagen intergriert. Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 504 f..) Durch die Offenlegung von Immunität als System und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu erklärt. Er expliziert sich als ein Wesen, das sich im Ungeheuren - Heidegger sagt: In-der-Welt - sichern muß, selbst um den Preis monströser Bündnisse. Klärungen dieses Typs hätten den Status der »Religion« als der (neben dem Rechtswesen) umfassendsten immunitären Praxis symbolischen Typs unmittelbar affizieren müssen - doch es hat ein ganzes Jahrhundert gedauert, bis jüngere Formen von Kulturtheorie und Theologie von den neuen Reflexionspotentialen Gebrauch machten.  –  Dabei waren schon in der Romantik die Weichen gestellt worden.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 521-522

„Wie die bisher erste und einzige philosophisch durchgebildete Theorie der Technik, die von Gotthard Günther, erläutert hat, macht das Abfließen von transzendent mißverstandener Subjektivität in die äußere Welt das metaphysische Schlüsselereignis der Moderne aus. (Vgl. Gotthard Günther, Das Bewußtsein der Maschinen - Eine Metaphysik der Kybernetik, 1957. Für Günther ist noch unentschieden, ob das Abfließen von Reflexität in die zweite Maschine als bloße Innenweltentleerung oder als Vertiefung der Subjektivität dank ihrer Spiegelung in geistmimetischen Maschinen von ständig wachsender Komplexität zu deuten sei. Siehe auch: Gotthard Günther, Die amerikanische Apokalypse, a.a.O..) Wie dadurch die Menschen an zwei Fronten zugleich unter Druck geraten, zeigen die alltäglichsten Beobachtungen: Nicht nur stellen Menschen bereits seit geraumer Zeit eine verschwindende Minderheit gegenüber den Bildern dar - auf eine westliche Person des 20. Jahrhunderts entfallen zahllose visuelle Erfassungen und Wiedergaben -, sie sind auch dabei, eine Minderheit gegenüber den anthropomimetischen kognitionsmimetischen Maschinen, den Computern, zu werden.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 566-567

„Wer Belege für die explizite Aufhebung des 5. Gebots im 20. Jahrhundert sucht, wird zuerst bei den intellektuellen Interpreten der russischen Revolution fündig.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 623

„Der Mensch ist ein Lebewesen, das zur Unterscheidung der Wiederholung verdammt ist. .... Was seine Vernunft trübt, sind ncht zufällige Irrtümer und okkasionelle Wahrnehmungefehler - es ist die ewige Wiederkehr der Klischees, die wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 639, 640

„Das ursprüngliche ethische Leben ist reformatorisch. Stets will es die schlechte Wiederholung gegen die gute tauschen. Es möchte korrupte Lebensformen durch integre ersetzen. Es strebt danach, dem Unreinen auszuweichen und ins Reine einzutauchen. .... In diesem Rahmen emergiert individualisierte Freiheit in ihrer ältesten und heftigsten Gestalt.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 641

„Durch die Sezession der Übenden wird das gesamte Ökosystem menschlichen Verhaltens auf veränderte Grundlagen gestellt. Wie alle Explizitmachungen bewirkt auch das Auftauchen der frühen Übungssysteme eine radikale Modifikation des jeweiligen Bereichs ....“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 642

„Der Mensch ist ein Lebewesen, das nicht nicht üben kann - wenn üben heißt: ein Aktionsmuster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 643

„In der Moderne hat sich das unendliche Begehren von den Menschen getrennt. Es ist in das ökonomische System ausgewandert, das seine eigen Ratlosigkeit erzeugt, während die Einzelnen sich zunehmend davon überzeugen, daß sie den perversen Imperativ, immer mehr zu begehren und zu enjoyen, nicht mehr folgen können.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 669

Zur Verteidigung des zweiten Silbernen Zeitalters.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 669

„Allein in einer jargonfreien Sprache läßt sich mit Zeitgenossen darüber reden, warum wir als Angehörige der modernen Zivilisation zwar nicht in ein Goldenes Zeitalter gelangten, uns aber auch nicht mehr als Bürger des Eisernen Zeitalters verstehen dürfen. Im Gespräch über dieses Thema fallen Philosophie und Nicht-Philosophie in eins, geschichtsphilosophische Thesen und alltägliche Intuitionen gehen ineinander über. In einer mittleren Sprache ist den hochtrabenden Konservativen zu widersprechen, die das Idiom der Eisernen Zeit weiterpflegen, als ob nichts geschehen wäre. (Jüngeres Beispiel: Robert D. Kaplan, Warrior Politics, 2002). In derselben Tonart ist den lokal immer noch virulenten linksradikalen Ideologen entgegenzutreten, die aus Enttäuschung über die fehlgeschlagene Rückkehr ins Goldene Zeitalter alles tun, um das Silberne als Farce zu verleumden. Nur in einem solchen Gespräch läßt sich der vernünftige Inhalt der etwas übertrieben vorgetragenen und noch übertriebener abgewehrten Reden über das »Ende der Geschichte« nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wiederholen. Das »Ende der Geschichte« (Anführungszeichen von mir; HB) ist eine Metapher für die Außerkraftsetzung des im Eisernen Zeitalter herrschenden Realitätsprinzips im Gefolge nicht-heroischer Maßnahmen gegen die fünf Nöte ([1] Hunger, [2] Überlastung, [3] Sexualnot, [4] Herrschaft/Feindschaft, [5] Sterbenmüssen; vgl. ebd., S. 657-666; HB). Dazu gehören: ([1]) die industriepolitische Umstellung von Knappheit auf Überangebot; ([2]) die Arbeitsteilung zwischen Höchstleistern und mäßig Angestrengten in Wirtschaft und Sport; ([3]) die allgemeine Deregulierung der Sexualität; ([4]) der Übergang zu herrenloser Massenkultur und feindloser Kooperationspolitik; ([5]) die Ansätze zu einer postheroischen Thanatologie. Keine dieser Maßnahmen ist ohne Makel, nicht eine von ihnen kann sich ganz über die Ebene der kleineren Übel erheben, in manchen Aspekten werden sie sogar wie größere Übel neuen Typs wahrgenommen. Darum neigen unzählige Bewohner des zweiten Silbernen Zeitalters, das sich selbst nicht begreift, zur üblen Nachrede über den neuen Zustand. Was man die »Postmoderne« (Anführungszeichen von mir; HB) nennt, ist in weiten Teilen nichts anderes als die mediale Ausschlachtung des Unbehagens am Zweitbesten - mit all den Risiken, die Luxuspessimismen anhaften. Die Schicksalsfrage heißt: ob es gelingt, die Standards des episodisch aufgetauchten Silbernen Zeitalters zu stabilisieren oder ob der Rückfall in ein Eisernes Zeitalter vor der Tür steht, von dessen Aktualität alte und neue Realisten überzeugt sind - nicht zuletzt unter Hinweis auf die Tatsache, daß mehr als zwei Drittel (hier irrt Sloterdijk, denn es sind mehr als VIER FÜNFTEL! HB) der Menschheit es nie verlassen haben. Ein solcher Rückfall wäre kein Schicksal, sondern eine Folge mutwilliger Reaktionen gegen die Paradoxien des Daseins im Suboptimalen. Die Entscheidung über den weiteren Lauf der Dinge hängt davon ab, ob der Lernzusammenhang der Moderne durch sämtliche technischen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, epistemologischen und sanitären Krisen hindurch zu einem hinreichend stabilen Kontinuum des Besserungswissens und Optimierungskönnens auszubauen ist. Wie wenig sich dieses Kontinuum von selbst versteht, ist an der Tatsache abzulesen, daß die Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eine endlose Serie von Aufständen der Zivilisationsfeindschaft und des antitechnischen Ressentiments hervorbrachte, gleich ob diese im Namen des Glaubens, der Seele, des Lebens, der Kunst, des Volkstums, der kulturellen Identität oder der Artenvielfalt erfolgten. Diese Ausbrüche stellte Trainingsabbrüche dar, die der Modernitätsfitneß schweren Schaden zuführten - und die Gefahr neuer Abbrüche ist nicht gebannt, wie die Allgegenwart der roten, braunen, schwarzen und grünen Fundamentalismen beweist. Der »Diskurs« der »Moderne«, nicht nur der philosophische, verlangt nach einer ständigen Klärung der Agenda und nach der Abwehr falscher Lehrpläne. Jede Generation muß zwischen Eskapismen und traditionsfähigen Formen wählen. Um auch nur die Möglichkeit eines effektiven Lernkontinuums zu sichern, ist eine intensive Filterung der zeitgenössischen Ideenproduktion unabdingbar - ein Aufgabe, die man vormals der inzwischen völlig entkernten »Kritik« anvertrauen wollte. An die Stelle der Kritik tritt eine affimative Zivilisationstheorie, die sich auf eine Allgemeine Immunologie stützt (siehe unten S. 709f.). (Vgl. auch oben S. 521 f.; HB).“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 670-672

„Ausdifferenzierung der Teilsysteme .... Ausdifferenzierung bedeutet die Etablierung strikt selbstreferentiell organisierter Strukturen innerhalb eines Teilsystems bzw. eines »Praxisfeldes« - in evolutionstheoretischen Ausdrücken: die Institutionalisierung von Selfishneß. Es war Luhmanns ingeniöser Impuls, aufzuzeigen, wie das Wachstum der Leistungsfähigkeit von Teilsystemen der modernen »Gesellschaft«, gleich ob es um Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Kirche, Sport, Pädagogik oder Gesunheitswesen geht, von der stetigen Zunahme ihrer Selbstbezüglichkeit abhängt, bis hin zu ihrem Einschwingen in den Zustand vollständiger selbstreferentieller Geschlossenheit. In moraltheoretischer Hinsicht impliziert dies die Umformung der Selfishneß auf der Ebene der Teilsysteme in eine regionale Tugend. Für die »Gesellschafts«kritik folgt hieraus: An die Stelle von hilflosem Protest gegen den Zynismus der Macht tritt systemische Aufklärung - sprich Abklärung der Aufklärung.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 681

„»Du mußt dein Leben ändern!«. Die Stimme, die Rilke im Louvre zu sich sprechen hörte, hat sich inzwischen von ihrem Ursprung gelöst. Binnen eines Jahrhunderts ist sie in den allgemeinen Zeitgeist eingeflossen, ja, sie ist zum letzten Inhalt all der Kommunikationen geworden, die um den Globus schwirren. Es gibt im Augenblick keine Information im Weltäther, die nicht ihrer Tiefenstruktur nach auf diesen absoluten Imperativ zu beziehen wäre. Es ist der Ruf, der sich nie zu einer bloßen Tatsachenfeststellung neutralisieren läßt, er bildet den Imperativ, der durch alle Indikative hindurchwirkt. Er artikuliert das Leitwort, das die zahllosen chaotischen Informationspartikel zu einer prägnanten moralischen Gestalt anordnet. Aus ihm spricht die Sorge um das Ganze. Es läßt sich nicht leugnen: Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 699

„Noch einmal haben wir Grund, an Nietzsche zu erinnern. Er hatte zuerst begriffen, in welchem Modus der ethische Imperativ auch in moderner Zeit zu übermitteln ist: Er spricht uns in der Form eines Befehls an, der eine bedingungslose Überforderung aufrichtet. Damit stellte er sich gegen den pragmatischen Konsensus, wonach man von Menschen rechtens nur verlangen dürfe, was sie im status quo zu leisten fähig sind. Nietzsche setzte das ursprüngliche Axiom des übenden Lebens dagegen, wie es seit dem Einbruch der ethischen Differenz in die herkömmlichen Lebensformen feststeht: Der Mensch kommt nur voran, solange er sich am Unmöglichen orientiert. Die maßvollen Gebote, die vernünftigen Vorschriften, die alltäglich zu erbringenden Anforderungen - sie alle setzen zu ihrer Verwirklichung bereits eine hyperbolische Spannung voraus, die einem unerfüllbaren und unausweichlichen Anspruch entspringt. Was ist der Mensch, wenn nicht das Tier, von dem zuviel verlangt wird? Nur wer das erste Gebot aufrichtet, kann zehn Gebote folgen lassen. Im ersten redet das Unmögliche selbst mich an: Du sollst keine anderen Maßstäbe haben neben mir. Wer nicht vom Übergroßen erfaßt wurde, gehört nicht zur Gattung homo sapiens. Zu ihr rechnet schon der erste Jäger in der Savanne, der den Kopf hob und verstand, daß der Horizont keine schützende Grenze ist, sondern das Tor, durch das die Götter und die Gefahren eintreten.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 699-700

„Den Philosophen Hans Jonas verdanken wir den Beweis, daß die Eule der Minerva nicht immer in der Abenddämmerung ihren Flug beginnt. Durch seine Umformung des kategorischen Imperativs in einen ökologischen Imperativ hat er die Möglichkeit vorausschauenden Philosophierens für unser Zeitalter demonstriert: »Handle so, daß die Wirkungen deines Handelns verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« Damit nimmt der metanoetische Imperativ für die Gegenwart, der den kategorischen zum absoluten steigert, hinreichend Konturen an. Er stellt die harte Forderung auf, uns auf die Monstrosität des konkret gewordenen Universellen einzulassen. Er verlangt von uns den Daueraufenthalt im Überforderungsfeld enormer Unwahrscheinlichkeiten. Weil er jeden persönlich anredet, muß ich seinen Appell auf mich beziehen, als wäre ich sein einziger Adressat. Von mir wird gefordert, mich zu verhalten, als könnte ich auf der Stelle wissen, was ich zu leisten habe, sobald ich mich als Agent im Netzwerk der Netzwerke begreife. Ich soll die Wirkungen meines Handelns in jedem Augenblick auf die Ökologie der Weltgesellschaft hochrechnen. Mir scheint sogar, ich solle mich lächerlich machen, indem ich mich als Mitglied eines Sieben-Milliarden-Volks verstehe - obwohl mir schon die eigene Nation zuviel ist. Ich soll als Weltbürger meinen Mann stehen, selbst wenn ich meine Nachbarn kaum kenne und meine Freunde vernachlässige. Mögen die meisten neuen Volksgenossen auch unerreichbar bleiben, weil »Menschheit« weder eine gültige Adresse noch eine begegnungsfähige Größe darstellt: Ich habe dennoch den Auftrag, ihre reale Gegenwart bei jeder eigenen Operation mitzubedenken. Ich soll mich zu einem Fakir der Koexistenz mit allem und allen entwickeln und meinen Fußabdruck in der Umwelt auf die Spur einer Feder reduzieren.ge Adresse noch eine begegnungsfähige Größe darstellt: Ich habe dennoch den Auftrag, ihre reale Gegenwart bei jeder eigenen Operation mitzubedenken. Ich soll mich zu einem Fakir der Koexistenz mit allem und allen entwickeln und meinen Fußabdruck in der Umwelt auf die Spur einer Feder reduzieren.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 708-709

„Mit diesen Mandaten ist der Tatbestand der Überforderung ebenso erfüllt wie durch die alteuropäische imitatio Christi oder das indische moksha-Ideal. Da es vor dieser Forderung kein Entrinnen gibt, es sei denn das Ausweichen in die Betäubung, stellt sich die Frage, ob sich ein vernünftiges Motiv darstellen läßt, mit dessen Hilfe die Kluft zwischen dem erhabenen Imperativ und der praktischen Übung zu überbrücken wäre. Ein solches Motiv läßt sich - stellt man die Phantome des abstrakten Universalismus beiseite - allein aus einer Überlegung der Allgemeinen Immunologie gewinnen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 709

„Immunsysteme sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verletzungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Während sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorganismus bezieht, betreffen die beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen, sprich die kooperativen, transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz. Das solidaristische System garantiert Rechtsicherheit, Daseinsvorsorge und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils eigenen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, Kompensation der Todesgewißheit und generationenübergreifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: »Leben« ist die Erfolgsphase eines Immunsystems.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 709-710

„»Leben« ist die Erfolgsphase eines Immunsystems. Wie das biologische Immunsystem können auch das solidaristische und das symbolische Phasen der Schwäche, ja sogar der Beinahe-Erfolglosigkeit durchlaufen. Solche äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung der Menschen als Labilität des Wertbewußtseins und als Ungewißheit hinsichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusammenbruch ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 710

„Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 712

„Wenngleich der Kommunismus von vornherein ein Konglomerat aus wenigen richtigen und vielen falschen Ideen war, sein vernünftiger Anteil: die Einsicht, daß gemeinsame Lebensinteressen höchster Stufe sich nur in einem Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen lassen, muß sich früher oder später von neuem geltend machen. Sie drängt auf eine Makro-Struktur globaler Immunisierungen: Ko-Immunismus. (Ist das Sloterdijks Koimmunistisches Manifest? HB [*LÄCHEL*].)“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 713

„Eine solche Struktur heißt Zivilisation. Ihre Ordensregeln sind jetzt oder nie zu verfassen. Sie werden die Anthropotechniken codieren, die der Existenz im Kontext aller Kontexte gemäß sind. Unter ihnen leben zu wollen würde den Entschluß bedeuten: in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen.“
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 713-714

„Mit Immanuel Kants kritischem Werk beginnt jene Parallelaktion zwischen deutscher Philosophie und französischer Revolution, die schon von den Zeitgenossen als epochale Konstellation bemerkt worden war. Tatsächlich vollzieht sich in beiden Bewegungen - wie in ihrer gemeinsamen Voraussetzung, der industriellen und geldwirtschaftlichen Revolution des 17. und 18. Jahrhunderts - der Durchbruch zu jenem bürgerlichen Zeitalter, das seither den Namen moderne Welt zu tragen verdient. Eine bürgerliche ist die Kantische Philosophie in mehrfacher Hinsicht. Sie ist zivil zunächst, weil sie die Emanzipation des philosophischen Denkens von der Bevormundung durch die Theologie der positiven geoffenbarten Religion einklagt. Daran hat Kant mit existenzieller Konsequenz festgehalten .... Kants Denken ist bürgerlich aus einem weiteren Grund: Er artikuliert sich auf der Grenze zwischen der akademischen Kommune und der allgemeinen Öffentlichkeit und appelliert noch in seinen technisch schwierigsten Teilen zumindest der Möglichkeit nach an den kritisch gewonnen Konsensus, der sich aus dem Gespräch der Verständigen über öffentliche Gegenstände ergeben soll. .... Noch in einem dritten Sinn ist das Denken Kants durch eine fundamentale Bürgerlichkeit bestimmt: Kant begreift die Stellung des Menschen in der Welt weder als Kosmopolitie im Sinne der antiken Weisheitslehren noch als Geschöpflichkeit unter Gott im Sinne mittelalterlicher Theologie: Der Kantische Mensch ist von Grund auf Gattungsgenosse und insofern Weltbürger. Die Kantische Welt-Polis freilich ist nicht, wie die antike, das Resultat einer Übertragung städtischer Ordnungsvorstellungen auf das Weltall; sie entspringt vielmehr aus der Anwendung des Freiheits- und Selbstbehauptungsgedankens auf die Gesamtheit vernunftfähiger Wesen, also das Menschengeschlecht in jenem universalen oder globalen Umfang, wie es Europäer nach dem Zeitalter der Entdeckungen und Kolonialisierungen zu konzipieren genötigt waren. Darum gerät Kants Weltbürgertum zur Fortführung der christlichen Heiligkeit mit Mitteln des bürgerlichen und des Völkerrechts. .... Schließlich ist von Kants Bürgerlichkeit in einer vierten Hinsicht zu reden: Kant ist Mitbegründer einer neuen philosophischen Gattung, der Anthropologie, deren Aufgabe es ist, von bürgerlicher Höhe aus über die vor- und außerbürgerlichen Grundlagen des Menschseins zu reden: Sie handelt vom Menschen in seiner naturhaften Verfassung. Anthropologie heißt seit Kant, den Menschen nicht mehr direkt durch das Unmenschliche, das Tier, und das Übermenschliche, den Gott, zu deuten. Anthropologie modernen Stils wird erst möglich, seit sich verdeutlicht hat, daß der Mensch jenes hyperbolische Haustier ist, das sich, sofern es Vernunft annimmt, selber um seine Züchtung zu kümmern hat. Es kann nicht länger durch eine angebliche Zucht Gottes oder ein vermeintliches Diktat einer unmittelbaren Natur bestimmt werden - es ist ... zur Selbsterziehung verdammt.“
Peter Sloterdijk, Philosophische Temperamente, 2009, S. 64, 65, 66, 67-68

„Schopenhauer ist der erste Denker ersten Ranges gewesen, der aus der abendländischen Vernunftkirche ausgetreten ist. .... Er gab den griechischen und jüdisch-christlichen Theologien einen prägnanten Abschied. Das Allerwirklichste hatte für ihn aufgehört, ein göttliches vernünftig-gerechtes Geistwesen zu sein. Mit seiner Willenslehre springt die Theorie des Weltgrundes um vom frommen Rationalismus ... zu einer von Grauen und Staunen geprägten Anerkennung des Arationalen; Schopenhauer statuiert zuerst die vernunftfreie Energie- und Triebnatur des Seins. Darin ist er einer der Väter des psychoanalytischen Jahrhunderts; er könnte sich künftig noch als entfernter Schutzherr und Verwandter eines chaostheoretischen und systemischen Zeitalters erweisen. Daß er den asiatischen Weisheitslehren, dem Buddhismus zumal, mit höchstem Respekt die europäischen Türen geöffnet hat: darin könnte auf lange Sicht seine wichtigste geistesgeschichtliche Wirkung liegen. .... Von Schopenhauer könnte der Satz stammen: nur die Verzweiflung kann uns noch retten; er hatte freilich nicht von Verzweiflung, sondern von Verzicht gesprochen. Verzicht ist für die Modernen das schwierigste Wort der Welt. Schopenhauer hat es gegen die Brandung gerufen.“
Peter Sloterdijk, Philosophische Temperamente, 2009, S. 94-95

„Foucaults Philosophentum wäre aber nicht vollständig gewesen, hätte es nicht zugleich mit dem Epistemologen und Archäologen auch den Politiker und Ethiker Foucault gegeben, der sich der Herausforderung stellte, das Kernstück aller Philosophie, die Theorie der Freiheit, neu zu denken: nicht mehr im Stil einer philosophischen Theologie der Befreiung alias Entfremdungstheorie, sondern als eine Lehre von dem Ereignis, das den einzelnen freigibt und in dem er sich gestaltet und aufs Spiel setzt. Was er in einem Nachruf auf einen verstorbenen Freund, den christlichen Kantianer Maurice Chavel, bemerkte, läßt sich auch als eine hellsichtige und freimütige Charakteristik seines eigenen Unternehmens lesen: »Er stand im Herzen dessen, was es wahrscheinlich an Wichtigstem in unserer Epoche gibt. Ich will sagen: eine sehr umfassende und sehr tiefgreifende Veränderung in dem Bewußtsein, das der Okzident sich nach und nach von der Geschichte und von der Zeit gebildet hat. Alles, was dieses Bewußtsein organisierte, alles, was ihm seine Kontinuität gab, alles, was ihm seine Vollendung versprach, zerreißt. Gewisse Leute würden es gern wieder zusammenflicken. Er hingegen sagte uns, daß man - sogar heute - die Zeit anders leben muß. Vor allem heute.«“
Peter Sloterdijk, Philosophische Temperamente, 2009, S. 141-142

„Vermutlich sind Fragen des Nehmens und Gebens - neben der Sexualität - die sensitivsten Angelegenheiten, die überhaupt vor Publikum verhandelt werden können. Es sind die Fragen, die unverkennbar die thymotischen (die stolzhaften, die zornhaften und die ressentimenthaften) Leidenschaften aufwühlen - Affekte, denen ich in meinem Buch »Zorn und Zeit« einigermaßen umfangreiche Überlegungen gewidmet habe.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Ich stelle noch einmal in Kürze dar, worauf mein aktueller Aufsatz im Rahmen der »Krise-des-Kapitalismus-Debatte« der F.A.Z. hinaus wollte: Der moderne Steuerstaat hat das Zeitalter der einseitigen Plünderung der Armen durch die Mächtigen beendet - eine Tatsache, die schlechthin niemand auf der Welt bedauern dürfte. Der Proudhonsche Satz: »Eigentum ist Diebstahl« hatte die alte Ordnung der Dinge polemisch auf den Begriff gebracht. Seither hat die politische Moderne ein weltgeschichtlich beispielloses System der Umverteilung erarbeitet, in dem der zugleich liberale und soziale Staat sich Jahr für Jahr rund die Hälfte aller Wertschöpfungsergebnisse der wirtschaftenden Gesellschaft aneignet und diese nach Maßgabe seiner Funktionen und Pflichten neu verteilt - in der Bundesrepublik Deutschland macht die Abschöpfungsmasse seit dem Jahr 2000 regelmäßig eine Summe von etwa 1000 Milliarden Dollar aus. Der »nehmende Staat« beruft sich - zumindest auf dem linken Parteienspektrum - noch heute auf die Überzeugung, daß gegen den ungerechten primären Diebstahl nur ein korrigierender gerechter Gegendiebstahl Abhilfe schafft: Marxistisch heißt diese Prozedur seit dem 19. Jahrhundert „Expropriation der Expropriateure.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Mein Aufsatz nimmt gegenüber dieser Entwicklung eine bedingungslos bejahende Perspektive ein. Seit Jahren werde ich nicht müde, auf einschlägigen Konferenzen meine Überzeugung zu bekennen, daß die progressive Einkommenssteuer die maßgeblichste moralische Errungenschaft seit den Zehn Geboten darstellt. Weil ich die Denkfigur des Gegendiebstahls wichtig, um nicht zu sagen: epochal bedeutsam finde (sie hat von Rousseau über Marx und Lenin bis hin zu Steinbrück Geschichte gemacht), verwende ich für sie gelegentlich auch das provozierende Wort »Kleptokratie« - ein Ausdruck, der geeignet ist, Habende und Nichthabende aus ihrem dogmatischen Schlummer zu wecken.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Als unverbesserlicher Verteidiger einer sozialdemokratischen (oder wie ich der Deutlichkeit zuliebe sage: semi-sozialistischen) Logik habe ich nur einen einzigen, allerdings schwerwiegenden Einwand gegen die bestehenden Verhältnisse vorzubringen: Ich nehme daran Anstoß, daß niemand das aktuelle System der Zwangsbesteuerung als solches in Frage stellt - auch wenn man hin und wieder über die »Vereinfachung« der Besteuerungsverfahren und über deren Reform im Sinne der »sozialen Gerechtigkeit« diskutiert. Nirgendwo wird auch nur hypothetisch darüber nachgedacht, ob es nicht besser insgesamt durch eine geregelte Praxis der öffentlichen Spenden zu ersetzen wäre. Tatsächlich endet mein Aufsatz mit dem Aufruf zu einem moralisch und politisch anspruchsvollen Gedankenexpriment: Angenommen, der moderne Staat brauchte tatsächlich genau die Summen, die er heute durch Zwangssteuern eintreibt: So soll er sie erhalten.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Jedoch: Wäre es dann nicht viel würdevoller und sozialpsychologisch produktiver, dieselben Beträge würden nicht durch fiskalische Zwangsabgaben aufgebracht, sondern in freiwillige Zuwendungen von aktiven Steuerbürgern an das Gemeinwesen umgewandelt? Würde man nicht erst nach dieser Umstellung von Enteignung auf Spende wirklich von einer Zivilgesellschaft sprechen dürfen, in der die Bürger mit dem Gemeinwesen durch eine permanente Selbstüberwindung und eine stetige Bestätigung des Etwas-Übrig-Habens fürs Allgemeine und Gemeinsame verbunden sind? Würde nicht erst durch eine solche Veränderung die Wende von einer gierbeherrschten zu einer stolzbewegten Gesellschaftsform bewirkt, von der so viele Kritiker der bestehenden Verhältnisse - gerade auch im linken Spektrum - zu träumen schienen? Was soll überhaupt aus einer Linken werden, die exklusiv an den Begriffen »Enteignung« und »Besteuerung« klebt und der zu einer Ethik der Gabe schlechterdings nichts einfällt?“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Ein letztes Wort zu dem von Ihnen geäußerten Wunsch, eine breite Debatte über den Gegensatz von »Professorenphilosophie“ und »literarischer Philosophie“ in Gang zu setzen: Dies könnte nur dann zu einer erhellenden Auseinandersetzung führen, wenn es den so bezeichneten Gegensatz wirklich gäbe. In Wahrheit, fürchte ich, existiert eine solche Front allein in der Einbildung von verständnislosen externen Beobachtern. Es gibt nur plausible und unplausible Argumente, kreatives und stagniertes Denken, mutige und feige Reflexion, großzügige und bornierte Gesinnung, interessante und langweilige Schreibweise. Es wäre verrückt zu glauben, solche Gegensätze hätten etwas mit dem »Gattungsunterschied« zwischen akademischem und literarischem Theorie-Stil zu tun. Dies wäre eine Beleidigung für die guten Autoren auf beiden Seiten und ein Affront gegen die guten Leser hier wie dort. Nun urteilen Sie selbst, wo unser ziemlich boshafter und sehr leseschwacher Philosophieprofessor (Axel Honneth aus der »Frankfurter Schule«; HB) einzuordnen ist.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Was lernt man aus der ganzen Affäre? Ich denke: nichts, was nicht längst offenkundig war. Ich besitze seit längerer Zeit eine beachtliche Sammlung an Beispielen dafür, wie weit manche abgehängte Kollegen bei der Zurschaustellung ihrer Stagnation und Frustration zu gehen bereit sind. Nun hat unser unglücklicher Frankfurter Professor (Axel Honneth aus der »Frankfurter Schule«; HB) ein neues Beispiel hinzugefügt. Enthält es eine neue Information? Ich sehe keine, außer vielleicht dieser: So, wie es kein staatlich festlegbares Limit für die Gier von Finanzmanagern gibt, so gibt es auch keine legale Obergrenze für Giftkonzentrationen in glücklosen Philosophieprofessoren.“
Peter Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z, 27.09.2009

„Ein Gutes hat die Krise ja: sie führt zu einem rapiden Vertrauensverlust in die Standardtheorien der Volkswirtschaft, wir wie sie seit 200 Jahren gekannt haben. Ich habe noch nie so viele offene Bankrotterklärungen für kursierende Theorien gelesen wie während des letzten Jahres. Ich muß zugeben: ich habe die immer mit Genugtuung gelesen, weil ich zweifellso nicht der einzige Konsument dieser Theorien bin, der seit langem von dem Gefühl begleitet worden ist, daß ... - in diesen 200 Jahren, die wir Volkswirtschaftstheorien betreiben - ... wir überhaupt noch nicht zur Sache gekommen sind. Weswegen ich ja auch immer wieder auf dieses Buch von Otto Steiger und Gunnar Heinsohn (Eigentum, Zins und Geld) hinweise, wo ich das Gefühl habe: da kippt die Theorieszene in eine schlüssige Figur um, die offenbar das Zeug dazu hat, ein stabiles Modell zu liefern, an dem man sich in Zukunft orientieren kann.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009

„Also: Theorien sterben auf breiter Front; wir sind in einer »Darwinistischen Idealsituation«, auch wenn zum Theoriesterben noch sehr viele Pensionierungen stattfinden müssen. .... Es könnte sein, daß diese neuen Theorien, die eine Art Verhaltensforschung im Bereich des irrationalen Verhaltens von Menschen ansiedeln, und eine sehr stark rational strukturierte Theorie des Wirtschaftszusammenhangs ..., die den Zusammenhang zwischen Eigentum, Zins und Geld betrifft: da gibt es möglicherweise ein konvergente Bewegung. Ich meine, dies wahrzunehmen, zumindest in der Hinsicht, daß die Skepsis gegen die traditionellem Theorien immer mehr um sich greift. Und immer mehr Bankleute geben doch offen zu, daß sie nicht verstehen, was sie tun.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009

„Was macht aber das breite Publikum ... in dieser spannenden und tragischen Welt? Die Menschen fordern ja doch ihre Rechte auf Wohlstand ein, aber noch mehr vielleicht sogar ihre Rechte auf Illusionen. Und dabei denkt man - im Blick auf diese kollektiven Stimmungen - an ein starkes Bild, das Friedrich Nietzsche geprägt hat, in dem er den Menschen beschreibt als ein Geschöpf, das auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängt und der erwachend nicht weiß, ob er absteigen soll oder besser in seine Träumerei zurückkehrt. Ich glaube, wir stehen heute vor der Wahl, entweder weiter zu träumen oder zu lernen, wie man Tiger domestiziert. - Guten Abend.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009

„Im finanztheoretischen Jargon heißen Leistungsträger die 25 Millionen Steueraktiven, die vorläufig noch damit einverstanden sind, in Deutschland zu leben, und aus deren Einkommen sowie aus den davon abzuführenden Abgaben praktisch alles stammt, was die 83-Millionen-Population des Landes am Leben hält. Wer es genauer wissen will, kann offiziellen Tabellen die aktuellen Zahlen entnehmen: Allein das obere Zwanzigstel der Leistungsträger bestreitet gut 40% des Gesamtaufkommens an Einkommenssteuern, das obere Fünftel 70%.“
Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 106

„Insbesondere haben Ricardo und Marx die folgenschwerste Verwirrung gestiftet, als sie dozierten, die »Wertschöpfung« gehe letztlich ausschließlich auf den Faktor »Arbeit« zurück. Es gibt vermutlich keine zweiten Fall in der Geschicht der Ideen, in dem ein theoretischer Irrtum so große praktische Folgen nach sich zog. Auf ihm basiert ein bis heute virulentes System der Leistungsträgerverleumdung, das sich über zweihundert Jahre von den Frühsozialisten bis zu den Postkommunisten erstreckt. Der Zeitpunkt scheint gekommen, den Pflock endlich tief genug in den Boden einzuschlagen, damit nie wieder hinter die entscheidende Erkenntnis zurückgegangen wird: daß in der modernen objektiv sozialdemokratisierten Staats- und Gesellschaftswirklichkeit die Leistungsträger im genannten Sinn summa summarum zu einer gebenden Größe geworden sind. Sie können auf der Geberseite mit eindrucksvollen Summen in Erscheinung treten, weil sie und solange sie als Erwirtschafter von Einkommen nicht unbelohnt bleiben. Gewiß, es gab und gibt hierbei Exzesse, die nach Korrektur verlangen, im 21. Jahrhundert nicht anders als im 19. Wer aber reflexhaft »Kapitalismus« ruft, beweist nur, daß er nichts begriffen hat. Wir brauchen statt ökonomischer Halbgedanken ein neues und zu Ende durchdachtes Modell vom Nexus zwischen Eigentum, Zins und Geld. Im Klartext: Es ist Zeit, Gunnar Heinsohn zu lesen.“
Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009, S. 106

„Bürgertum bedeutet eigentlich so etwas wie »Adel für Alle«, nämlich: Staatsbürgertum.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010

„Die Mitte wird von zwei Seiten unter Druck gesetzt. Die Mitte läßt sich von den Spekulanten viel Geld abnehmen und führt ihrerseits enorme Summen ... in dieses soziale Segment ab, das wir hier die Transferempfänger genannt haben.“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010

„Wie wir noch längst nicht alle Konsequenzen aus dem Satz »Gott ist tot« gezogen haben, sind uns auch bei weitem noch nicht sämtliche Implikationen des Satzes »der reine Beobachter ist tot« bewußt.“
Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken, 2010, S. 14

„Man könnte die historischen Komplikationen im Verhältnis zwischen Philosophie und Politik am besten durch vier Modifikationen der Herrin-Magd-Beziehung wiedergeben: Die antike Philosophie stellte sich als eine Herrin vor, die die Politik zu ihrer Magd machen wollte. Im christlichen Weltalter wurde sie selbst zur Magd der Theologie. Die neuzeitliche Philosophie unternahm einen neuen Anlauf, zur Herrin der Welt zu werden, konnte diesen Anspruch jedoch nur verwirklichen, indem sie die Wissenschaften aus sich entließ, die ihrerseits zu Mägden der faktischen Herrin Technik wurden. Die Philosophie verliert schließlich den Kampf um die Macht auf der ganzen Linie ....“
Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken, 2010, Anmerkung 32, S. 83

„In jedem authentischen Austausch zwischen Menschen ist der Vorsprung des Gebens uneinholbar. Gerechtigkeit kann nur jenseits der Symmetrie von Nehmen und Geben gedacht werden. Sie läßt sich nie ohne Ungleichheit und Einseitigkeit vorstellen.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 45

„Und je weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken zurück.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 50

„Mitte sein heißt heute: riskieren, zwischen zwei Undankbarkeiten zerrieben zu werden.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 52

„Es ist nicht ganz einfach, vor unseren christlich-miserabilistischen Hintergrund ein positives Verhältnis zum Reichtum zu entwickeln. Wir sprechen leiber Arme selig als Millionäre.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 63

„Die gute Nachrhicht heute lautet: Die Renaissance ist nicht vorüber.“
Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 64

„Einwanderung ohne Bedingungen .... Die Bundesrepublik Deutschland ist der karikativste Staat der Menschheitsgeschichte ....“
Peter Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2010

„Je weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken zurück.“
Peter Sloterdijk, Warum ich doch recht habe, in: Die Zeit, 02.12.2010

„Tatsächlich ist der psychopolitische Großkörper, den wir Gesellschaft nennen, nichts anderes als eine von medial inszenierten Streß-Themen in Schwingung versetzte Sorgengemeinschaft.“
Peter Sloterdijk, Streß und Freiheit, 2011, S. 38

„In Wahrheit ist Freiheit nur ein anderes Wort für Vornehmheit, das heißt für die Gesinnung, die sich unter allen Umständen am Besseren, am Schwierigeren orientieren, eben weil sie frei genug ist für das weniger Wahrscheinliche, das weniger Vulgäre, das weniger Allzumenschliche.“
Peter Sloterdijk, Streß und Freiheit, 2011, S. 57-58

„Ich habe nur die Judikative, die Legislative und die Exekutive genannt, aber die Spekulative habe ich nicht bemerkt.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Niemand mehr ist heute Nationalsozialist, aber alle sind Sozialnationalisten.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Habermas ... baut – wie immer – seine Häuser vom Dach aus.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Es gibt ja längst die ganz große Koalition der Postdemokraten, die heute die europäischen Schicksale unter sich aushandeln. Natürlich ist es eine wohlwollende Postdemokratie, aber es ist eine, die die Mitwirkung des Bürgers an all den Manövern nach wie vor nur in dieser würdelosen, vom Absolutismus abgeleiteten Form der Zwangsfiskalität erzwingen will. Bei Habermas gäbe es mehr Parlamentsbetrieb und mehr Wahlen, aber im Grunde wäre sein Europa dasselbe Monster aus 27 Zwangssteuerstaaten, bei dem jetzt schon den Bürgern Hören und Sehen vergeht, nur mit mehr symbolischem Überbau. Wenn die Europäer noch etwas mehr Stolz hätten, könnte man dieses Spiel mit ihnen nicht mehr treiben.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Ich glaube, der Staat hat mit seinem Zentralbankwahn in den letzten 20 Jahren kapitale Fehler gemacht, und jetzt, da man die Folgen der Fehler sieht, will er sie beheben, indem er die Fehler in noch größerem Maßstab wiederholt. Man muß ja nur die Ergebnisse dieses Flutens der Märkte einigermaßen aufmerksam studieren. Das Resultat ist, daß dieses Geld ja zum allergrößten Teil, zu etwa 80 bis 90 Prozent, nicht in die reale Wirtschaft geht, sondern in die Finanzspekulation. Wir haben es also mit rein technischen Zentralbankfehlern zu tun .... Es sind die Zentralbankfehler, die der Spekulation Tür und Tor geöffnet haben. Ich glaube deswegen auch kein Wort von dieser Gierpsychologie, die im Augenblick so gesellschaftsfähig ist. Natürlich gibt es einen Haben-wollen-Reflex in den Menschen, vor allem in der Form von Auch-Haben. Es gibt den Sammeltrieb bei den Frauen und die Beuteerwartung bei den Männern, und in unserem hermaphroditischen Zeitalter gehen beide Aneignungsreflexe ständig durcheinander. Aber wer hat denn das leichte Geld so hingelegt, daß jeder Passant ein Idiot sein müßte, der es nicht mitnimmt? Es sind letztlich die Zentralbanker gewesen, die die Spekulation ermöglicht haben.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Die Wirtschaftswissenschaft macht auf mich den Eindruck einer Disziplin, die ihre Grundlagen verloren hat. Die ganze Fakultät ist in einem desolaten Zustand. Man bekommt mehr und mehr das Gefühl, die Theorien als solche sind sich selbst wahrmachende Fiktionen, die man an keinem äußeren Maßstab festmachen kann. Für den Erkenntnistheoretiker ist das keine ganz neue Beobachtung. Niklas Luhmann hat schon vor 20 Jahren statuiert: Gute Theorie ist wie Instrumentenflug über einer geschlossenen Wolkendecke. Sichtflug ist nur für Amateure, der Durchblick bis auf den Grund ist für den Sozialwissenschaftler immer schädlich, weil er den Einflüsterungen seiner Subjektivität und Sentimentalität erliegt.“
Peter Sloterdijk, „Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief durch“, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011

„Sie kennen sicher Sebastian Haffners Buch Erinnerungen eines Deutschen. Darin wird berichtet, wie gebannt die 14- bis 16-Jährigen während des Ersten Weltkriegs die tägliche Frontberichterstattung verfolgten. Das brachte rezeptionspsychologisch einen historisch neuen Effekt hervor: die Zwangskollektivierung der Aufmerksamkeit. Es war, als verfolgte das Volk der Jüngeren ein jahrelanges Champions-League-Turnier. Die Jungen von 1914 bis 1918 waren daher medial indirekt darauf vorbereitet, als Hitler seine Rückrunde verlangte. Aus der im Sommer 1914 über uns verhängten Zwangskollektivierung durch Erregungsmedien sind wir bis heute nicht ausgestiegen.“
Peter Sloterdijk, „Vielleicht waren wir zu früh“, Gespräch, in: Zeit-Online, 11. Mai 2012

„Aufmerksamkeit auf sich selbst - das ist ja einfach die Art und Weise, wie moderne Subjekjtivität funktioniert. Wirr sind zur Selbstbezüglichkeit verurteilt beziehungsweise zu ihr erzogen worden. Das hat vor allem mit den Egotechniken zu tun, die unser Leben seit 200 Jahren prägen.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 37

„Die menschliche Existenz ist immer durch eine Art anthropologische Differenz bestimmt: Auf der einen Seite gibt es Menschen, denen es schon gelungen ist, Menschen zu sein in diesem erhöhten Sinn, und solchen, die im Bereich der Vorstufen herumwerkeln. Seit dem zweiten Jahrtausend vor Christus hat sich die anthropologische Differenz vor allem in der Differenz zwischen dem heiligen und dem profanen Menschen zum Ausdruck gebracht. Indien ist das Mutterland dieser Differenz ..., in der Antike nimmt sie in einer indogermanischen Interpretation die Idee des Weisen an. Die ganze Geschichte ist die Geschichte einer anthropologischen Differenz zwischen Menschen, die es in einer spezifischen Hinsicht etwas weiter gebracht haben, und Menschen, die es nicht so weit gebracht haben.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38

„Gautama Buddha hat etwas erreicht - das haben alle seine Mitmenschen gemerkt -, was er niemandem auf gezwungen hat. Sondern er hat andere immer nur belehrt und damit ein natürliches Gefälle des Seins und des Wissens mitgeteilt, das für all diejenigen, die in den Bereich seiner Lehre gekommen sind, quasi unwiderstehlich gewirkt hat. .... Das Anziehende ist daran, daß Buddha keine bloßen Verhaltensimperative gibt, sondern jeder Imperativ immer auch mit einer Art Übungsregel verknüpft wird.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38

„Auch das Christentum hat eine Übungskultur um sich herum ausgebildet, die die anthropologische Unwahrscheinlichkeit des Christseinkönnens mit einer unglaublichen Heftigkeit zum Ausdruck gebracht hat. Da kamen nämlich dann die Hochleistungschristen auf die Bühne, haben sich von den griechischen Athleten das ganze Vokabular ausgeliehen bis hin zum Gebrauch der beiden griechischen Trainingswörter »melete« und »askesis«. Die ersten Mönche haben sich offen heraus die Athleten Christi genannt. Und für ein ganzes Jahrtausend, eigentlich bis zu Luther, war ja das Christentum in erster Linie Mönchsreligion. Mit anderen Worten: Die Übermenschforderung ist die Substanz der Anthropologie der alten Hochkulturen.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38

„Die Moderne baut die Übermensch-Problematik ab, nicht auf. Wir versuchen ja eher, einen egalitären Ausgleich zwischen den Hochleistern und den Nichtleistern herbeizuführen. Wir haben eine Fülle von Lebensformen geschaffen, um diese Differenz abzubauen. Das Zeitalter der anthropologischen Differenz ist für uns im wesentlichen beendet: Wir geben nicht zu, daß es substanzielles Königtum gibt. Wir geben nicht zu, daß es substanzielle Weisheit gibt. Wir geben nicht zu, daß es substanzielle Heiligkeit gibt. Und wir geben auch nicht zu, daß es substanzielle Genies gibt. Also die vier Formen der anthropologischen Differenz, die ... prägend gewesen sind, sind jetzt mehr oder weniger erledigt. Darum hat Max Scheler vom Zeitalter des Ausgleichs gesprochen - er meinte damit, die alte Spannung zwischen Geist und Leben komme an ihr Ende.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38

„Sobald so eine Höhenposition errichtet ist, ist der Inhaber dieser Position eigentlich mehr ein Zeuge dieser Differenz und nicht so sehr ihr Propagandist. Er ist mehr ein Zeuge dafür, daß es Vertikalspannungen gibt. Die ruft das Ressentiment auf den Plan, und daher haben wir, seit es Hochkultur gibt, auch eine Ressentimentindustrie. Deshalb kann man den Beruf des Philosophen auch nicht ausüben, wenn man nicht das Schierlingsbechertrinken täglich mitübt.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 39

„Als öffentliche Person muß man ein ständiges Training absolvieren in der Unterscheidung zwischen dir selber und deinem Medienbild, diesem Avatar, der da draußen zirkuliert. In meinen nun veröffentlichten Tagebuchnotizen gibt es auch eine lustige Passage, in der ich mich selber als eine Art Voodoo-Puppe beschreibe, die von gutartigen Menschen mit Nadeln gespickt wird und dazu benutzt wird, guten Menschen zu Überlegenheitsgefühlen zu verhelfen. Menschen lieben ja ihre Meinungen und vor allen Dingen ihre Ablehnungen. Meine Beobachtung sagt mir, wenn ein Mensch einmal zu einer Art bevorzugter Ablehnung in Bezug auf irgendeine Person gekommen ist, dann hält er an einer solchen Position mit einer gewissen Leidenschaft fest, weil sie ein Teil der eigenen Persönlicjkeit ist. Haß ist identitätsstiftend.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 39

„Meine Primärwahrnehmung ist, daß nur wirklich wenige Menschen in einer authentischen Vertikalspannung leben.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 40

„Früher war es ja eher so, daß der Köder durch eine exemplarische Persönlichkeit ausgelegt worden ist. Meistens aus dem Feld der vierfachen Eminenzen - die Heiligen, die Könige, die Helden und die Genies. Das ist diese Vierfaltigkeit der menschlichen Köder, die den anderen Menschen zeigen, was nach vorne und oben möglich ist. Wenn man sich aber vor dieser Köderung in Sicherheit bringen möchte, dann entsteht ein ganz anderes Regime, das zum großen Teil identisch ist mit dem, das wir heute beobachten. Da wird die Vertikaldifferenz nicht durch diese vier Höhenpositionen repräsentiert, sondern durch Ranking -dieses zeitgenössische Instrument zur Interpretation von Vertikaldifferenz. Aber hinter allem Ranking steht ja die nihilistische Vermutung, daß a) dies alles nur äußere Evaluierungen sind und b) dies über den wirklichen Wert der Dinge nichts aussagt. Soziologisch gesprochen tritt an die Stelle des Vorbilds der Promi.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 40

„Darauf möchte ich auch hinaus. Ich sage, das einzige, was vor den verrücktmacherischen Dimensionen des Lebens in Vertikalspannung retten kann, ist, daß man sie zwar anerkennt, aber sich nicht in selbstdestruktive Formen des Vergleichs hineinbegibt. Die Menschheit hat bis auf den heutigen Tag kein stärkeres Mittel, unglücklich zu machen, entdeckt, als den direkten Vergleich mit Überlegenen. Gleichzeitig ist das ganze Leben eine einzige Veranstaltung zur Demonstration von Differenzen zwischen Menschen, die die Sache so gut machen, wie sie können, und anderen, die es besser machen. Man muß wissen, daß der Vergleich die moralische Höllenmaschine ist, die das menschliche Leben verwüstet. Zugleich ist er unausweichlich. Man muß wissen, wie man die schädlichen Vergleiche stoppt, um den langen Lauf des Lebens genau in der Geschwindigkeit zu bewältigen, die für mich die jetzt mögliche und richtige ist.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Der Sportkörper und der Geistkörper sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Das Gehirn ist ein überwältigend aktives Marathonorgan, so daß jeder Denkende gar nicht anders kann als sich mit den Äußerungen der übrigen Läufer - die nicht notwendigerweise Konkurrenten sind - auseinanderzusetzen. Das ist das größte moralische Geheimnis: Wie man dem Gift des Vergleichs zugleich heilsame Wirkung abverlangt. Man kann das Gift als Gegengift verwenden, indem man begreift, du könntest an keiner anderen Stelle laufen, als du es jetzt tust, und angesichts deines Trainingsniveaus auch nicht schneller.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Die Urform der Anthropotechnik ist die Pädagogik. Die Pädagogen wollten aus Kindern, die man sich als polymorphe Nichtskönner vorgestellt hat, Alleskönner machen. Die Grundidee der sophistischen Pädagogik ist, daß der vollendete Mensch alles können soll. Dies ist das Ziel der klassischen Paideia: Das Leben strebt nach Vollständigkeit, das Leben selber ist per se Vielseitigkeit.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Ja, das Leben ist Dekathlon, der allgemeine Zehnkampf. Daß jeder Mensch in seiner Zehnkämpfer- oder Allkämpfer-Eigenschaft ernst genommen wird und deswegen nach allen Seiten lernen muß, das ist die große Intuition der Sophisten gewesen. Das erstaunliche Ideal der sophistischen Erziehungsprogramme ist, aus dem Menschen ein Wesen zu machen, das der größten Bedrohung des Menschseins bis ins Äußerste widersteht, nämlich der Amechania. Griechisch: die Hilflosigkeit - wenn man keine mechane mehr hat, keine List, keinen Trick, kein Hilfsmittel. Amechania ist der Zustand, in dem sich das menschliche Wesen schlechterdings niemals befinden soll. Alle Erziehung ist Überwindung der Amechania.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Wenn der Sophist der Prototyp des Erziehers ist, und wenn das Wesen der Erziehung darin besteht, den Menschen Hilfsmittel gegen das Versinken in Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit anzubieten, dann sollte man mit Leib und Seele Sophist sein.“
Peter Sloterdijk, „Das Leben ist ein Zehnkampf“, Gespräch, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41

„Im Oberseminar kommt die Debatte auf Otto Röslers Überlegungen zu den Risiken der CERN-Experimente, die 2009 beginnen sollen. Rösler führt aus, es sei nicht mit absoluter Gewißheit auszuschließen, daß sich bei den Teilchenkollisionen in dem Large Hadron Collider ein winziges Schwarzes Loch bildet, das nicht sofort (wie man allgemein erwartet) zerstrahlt, sondern sich irgendwie stabilisiert. Träte das ein, so würde es die typischen Eigenschaften eines solchen Objekts entwickeln, nämlich alle Materie um sich herum aufzufressen. Die Vorstellung ist in ihren Konsequenzen furchterregend, obschon die Idee eines Weltuntergangs durch physikalische Grundlagenforschung auch etwas Erhabenes besitzt. Das Schwarze Loch made in Swizzerland würde aufgrund seiner noch sehr kleinen, aber schon überdichten Masse im freien Fall zum Erdmittelpunkt hinuntersausen und von dort aus sein Werk verrichten - zur Enttäuschung derer, die meinten, aus Gründen der Fairneß müßten Genf und Umgebung zuerst eingesaugt werden. Die Implosion beträfe alle Orte an der Peripherie des Planeten gleichzeitig und symmetrisch. Die Materie der Erde würde gerade mal ausreichen, um auf eine Kugel von der Größe einer Honigmelone zu schrumpfen. Im Zusammenhang mit diesen Visionen tauchte unter den Teilnehmern des Seminars die Frage auf, ob es ein bürgerliches Widerstandsrecht in bezug auf Risiken von Forschung gibt. Wer den Eigenwillen des Wissenschaftsbetriebs kennt, wird an ein solches Recht nicht glauben, geschweige denn an seine Umsetzung. Wie sollte das geschehen? Können Bürger gegen Elementarteilchen auf die Straße gehen?“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 44

„Schlechte Nachrichten von der Europa-Front: Die Iren haben beim Referendum über den Lissabon-Vertrag mit Nein votiert wie vor ihnen schon die Franzosen und die Holländer. Da sieht man einmal mehr, wie sehr die Völker auf der Baustelle Europa stören. Man möchte meinen, im irischen Nein komme ein verblüffender Zusatz an Undankbarkeit zum Tragen, da ja die Iren als die größten Nutznießer der EU gelten. Das Elend ist, daß die Neinsager überall so tun können, als hätten sie nur das vertrackte Vertragswerk von Lissabon abgelehnt, seien aber ansonsten die besten aller Europäer. In Wahrheit liegt dem Nein alles mögliche zugrunde, auch Giftiges und Ungestehbares. In Frankreich war es seinerzeit besonders der zähe souveränistische Reflex gewesen, in Verbindung mit dem sehr verständlichen Wunsch, dem alten Staatskasper Chirac eins auszuwischen, zudem ein diffus populäres anti-europäisches Ressentiment. Der französische Nein-Cocktail von 2005 war komplizierter, als ein Leitartikel fassen kann - ein Gebräu aus landeseigenen Widerstandsmythen, anti-brüsseler Trotzgesten, germanophoben Reflexen, ironischen Elysee-Verhöhnungen, bedeutsam-philisterhaften Besserwissereien, konspirationsfrohen Internetaktionen, spätjakobinischem Negationseifer und anarchistischer Freude am Debakel - die Agitationen des Sozialisten Fabius nicht zu vergessen, der sich von der Nein-Welle ins Präsidentenamt tragen lassen wollte. “
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 44-45

„Geschichte ist für uns in erster Linie das Reich der Enttäuschungen. Das wollen die nicht einsehen, die heute affirmativ hinausposaunen: Die Geschichte geht weiter - als ob dies eine gute Nachricht wäre. In den letzten Jahren sind zwei Dutzend Anti-Fukuyama-Bücher erschienen (unter anderem von Ralf Dahrendorf und Joschka Fischer), fast alle von biederer Tendenz und ohne das geringste Gespür für die interessante Pointe der These vom Ende der Geschichte. Wer für die Konservierung der Geschichte plädiert, bekennt sich, ohne es zur Kenntnis zu nehmen, zu den kommenden Enttäuschungen - und zu den Illusionen, die ihnen vorausgehen. Die wichtigste Voraussetzung für den Fortgang der Geschichte ist seit jeher die nachwachsende Naivität der folgenden Generationen. Es ist der Anfängergeist, der die Dinge immer wieder von vorne startet. Die Jugend zerstört die Erfahrungen der Älteren durch ihre fatale Fähigkeit, bei Null zu beginnen. Sie entwertet die mühsam erworbenen Enttäuschungen, die doch das Beste waren, was die Alten besaßen. Die ungebrannten Kinder werfen die Weisheit der Eltern auf den Müll. Das einzige, was hoffen ließe, wäre eine Jugend, die durch Mißtrauen wettmacht, was ihr an Enttäuschung fehlt. “
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 45-46

14. Juni 2008, Wien. .... Mit dem Rad die größere Runde an der Donau bis Tulln und zurück. Bin rechtzeitig wieder zu Hause, um a) die Zahnschmerzen, die seit Monaten nie ganz verschwunden waren, wieder mit einer Dosis Ibu niederzukämpfen, b) mir ein Glas Burgenland-Roten zu genehmigen, c) das Spiel zwischen Spanien und Schweden anzusehen, d) speziell für Günther Netzer die Zeitmaschine neu erfinden zu wollen, damit er in seine Spielerzeit zurückreist statt zu kommentieren.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 46

„Was Fatalismus bedeutet, kann man beim Sport erleben -und nirgendwo so klar wie in der Unumkehrbarkeit der Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern. Im Deutschen hat man dafür das herrlich absurde Wort »Tatsachenentscheidung« erfunden, das passive Gegenstück zu Fichtes überdrehtem Begriff »Tathandlung«, der ein Vorbote des Hyperaktivitätssyndroms in der Philosophie war. In Wahrheit wird durch die irreversiblen Entscheidungen der Schiedsrichter eine religiöse, genauer eine ontologische Disposition angesprochen - die Bereitschaft zur Unterwerfung unter die Macht des Faktischen. Die Pointe dabei: Die Unterwerfung muß auch dann vollzogen werden, wenn du mit eigenen Augen gesehen hast, daß die Entscheidung falsch war. Das ist ohne die abstrakte Ehrfurcht vor der lenkenden Instanz nicht zu denken, erst recht nicht ohne die Dressur, sich protestlos unter Verfahren und Diktate zu beugen. (Man könnte über eine gemeinsame Wurzel von Rechtsprozeduren, Gottesurteilen und Spielregeln nachdenken.) Nur die Unterwerfung (»Kastration«) löst in den Menschen die »ontologische Reaktion « aus, sprich die Hinnahme eines Resultats, bei welcher der Gedanke an Revision nicht mehr aufkommt. Im Licht dieser Überlegungen wird klar, wie abwegig die Versuche sind, die Schiedsrichterrolle durch Torkameras, Videobeweise usw. zu objektivieren. Zum Fußball als reguliertem Schicksalsdrama auf dem Rasen gehören drei Mannschaften. Nimmt man der Mannschaft im schwarzen Trikot die Freiheit, falsch zu pfeifen, hat man das Spiel ruiniert.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 46-47

„Das Referendum-Nein (in Irland und anderswo) ist die staatliche zugesicherte Form der Revolte. Um 1900 hätte man das vielleicht den weiblichen Widerstand genannt. Der geht darauf aus, dem Herrn einen Streich zu spielen, wenn er am großzügigsten war. Man überrascht ihn mit Negativität, wo er es am wenigsten erwartet. Für einmal hat die Psychoanalyse recht: Hysteriker sind auf der Suche nach einem Herrn, um ihn tyrannisieren zu können.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 47

„Der erste Schurkenstaat der Moderne, das revolutionäre Frankreich ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 53

„Nach jüngeren Statistiken gibt es in Deutschland 826000 »Millionäre«, sprich Personen, die mehr als 1 Million Euro an Privatvermögen besitzen. Weltweit sollen es 10,1 Millionen sein. Nach herkömmlichem Sprachgebrauch sind diese Leute natürlich keine echten Millionäre mehr, sondern gewöhnliche Wohlhabende, das bequeme 1 Prozent jeder Population. Die früher so genannten Millionäre haben sich nach oben abgesetzt, in die Vermögensstratosphäre, wo man mit dem Hundertfachen, dem Tausendfachen der simplen Million rechnet. Von den Lebenswirklichkeiten dieser sehr kleinen Gruppen wissen wir weniger als von verlorenen Stämmen am Amazonas.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 55

3. Juli 2008, Karlsruhe. Regentag. Man liest, der Menschenrechtsrat der United Nations habe den »Schutz religiöser Gefühle« höher eingestuft als das Recht auf Meinungsfreiheit. Ein historisches Datum. Die Schutzidee hat die höchste Ebene erreicht. Von jetzt an wird alles Immunologie. Die Welt ist die Summe aller Protektionismen. Die Protektionisten selbst nehmen hiervon zumeist nicht Kenntnis, weil wohlwollende Verhältnisse, indem sie reziprok schützend sind, den Schein von Schutz-nicht-nötig-Haben erzeugen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 59

„Der Verfasser der Petersburger Gespräche ahnte nicht, daß bei seinem protestantischen Zeitgenossen Hegel die stärkere Lösung des Rätsels gefunden worden war: Gott läßt die Ereignisse der Geschichte nicht bloß zu, er verwirklicht sich in ihnen. Die Prüfung besteht nicht darin, ihnen zu widerstehen, sondern darin, sich an ihre Spitze zu setzen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 114

„Gäbe es eine objektive Geschichte der »Kritik«, würde man erkennen, wie einseitig man den Begriff zumeist gebrauchte. Man verstand darunter bis heute fast immer die Abrechnung der Gerechten und Progressiven mit dem schlechten »Bestehenden« und die Attacke dert Vernunft gegen das mißratene Alte. Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, daß seit 1789 der größere Teil der »Kritik« von konservativer Seite vorgebracht wird. Unentwegt geht man mit dem schelchten »Bewegenden« ins Gericht und findet tausend Gründe, über dem mißratenen Neuen den Stab zu brechen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 114

„Inwiefern die Biologie bei Homo sapiens verquere Wege geht: Die Fixierung der juvenilen Merkmale beim Menschen, bis hin zu der ... sogenannten Neotenie, die mysteriöserweise die Beibehaltung mancher fötalen Züge in der menschlichen Physiologie bedeutet, bringt es mit sich, daß der Behaarungsbefehl nicht ausgeführt wird, durch den wir ein dichtes Fell bekämen - wahrscheinlich wird ein hormonelles Signal unterdrückt, das die Behaarung auslösen würde. Dazu muß man bedenken: Neugeborene Affen sind zunächst so nackt wie wir und legen sich ein Fell zu, wenn es an der Zeit ist. Diese Zeit kommt bei uns nicht mehr. Wir bleiben so minimal behaart, daß man mit einiger Berechtigung sagt, wir seien nackt - was man von keinem erwachsenen Tier behaupten würde. Auch der Schnauzenbildungsbefehl wird nicht mehr ausgeführt, wir behalten die infantilen Gesichter und können uns von Angesicht zu Angesicht anchauen. Der Befehl, die weiblichen Genitalien, die bei den weiblichen Jungaffen wie bei den Menschenfrauen zuerst vorne in subventraler Position liegen, in die hintere, subcaudale Position zu verschieben, wird ebenfalls nicht mehr beachtet. Von der Biologie der Befehlsverweigerung versteht man noch wenig. Es scheint, der Menschenkörper antwortet auf die Anordnungen der animalischen Natur, die zu einem erwachsenen Tier führen sollten, mit der Melvilleschen Formel: » I would prefer not to«. Mit der Weigerung, ein Fell zu tragen, beginnt die Mutation zum nackten Affen, der Amulette und Seidenstoffe bevorzugt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 123-124

„Nach Luther kann jeder, der es wissen will, verstehen, wie, wann und warum dienen und rebellieren dasselbe bedeuten.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 126

„Die Sphärologie ist die Methode, die Geräumigkeit der Welt millionenfach zu erhöhen, während die üblichen Diskurse der Globalisierung die Welt degoutant verkleinern.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 131

„Der weltweite Erfolg der Psychoanalyse beruht nicht zuletzt auf der kollektiven und teilweise mutwilligen Ignorierung des Westermarck-Effekts, den man in dem Satz: »Frühe häusliche Vertrautheit zwischen Personen blockiert erotisches Begehren« zusammenfassen kann. Dieses Theorem, das von dem finnischen Soziologen, einem Zeitgenossen Freuds (er starb wie der große Rivale im September 1939) vor allem mit Blick auf Geschwisterbeziehungen entwickelt worden war, läßt sich plausibel auf die Eltern-Kind-Beziehungen ausweiten. Der Mann Ödipus konnte seine Mutter nur zur Frau nehmen, weil er sie für eine Fremde hielt. Bei ihm war die erotische Neutralisierung durch Vertrautheit nicht eingetreten.  –  Trifft diese Beobachtung zu (und sie trifft zu! HB), kann es keinen allgemein verbreiteten Ödipus-Komplex geben, weil normale Jungen im nahen Umgang mit ihren Mütter aufwachsen und als begehrende Subjekte in der »ödipalen« Konstellation nicht in Frage kommen. Folglich wird die Ablenkung des Begehrens von der Mutter nicht durch das väterliche Verbot bewirkt - Lacans ominöses non du père ist eine Fabel. Vielmehr geht das erotische Verlangen, wenn es erwacht, von sich aus exogame Wege, der Vater spielt bei Ablenkung des Eros vom Primärobjekt so gut wie keine Rolle, allenfalls als Modell dafür, wie man sich als Interessent gegenüber einer weiblichen Person zu benehmen hat - und selbst das ist nicht überzeugend erwiesen ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 136-137

„Goethe selbst war eine Kraft, die alles tat und immer wieder tat, was nötig war, um aus einen unfertigen Goethe einen weniger unfertigen zu machen. Das Prinzip des höheren Lebens ist übender Fleiß. Geboren sind wir schon, zur Welt aber kommt nur, wer sich vorwärtsarbeitet. Kreatives Leben gebiert sich selbst. Weil dabei nicht alle gleich weit kommen, gibt es eine Ungleichheit zwischen Menschen, von der die Soziologie nichts weiß. Das ist es, was ich in meinem Buch als Anthropotechnik beschreibe. Goethe hat deren Prinzip in einem enoremen Satz festgelegt: »Eine tätige Skepsis: welche unablässig bemüht ist, sich selbst zu überwinden, um durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen.« (Maximen und Reflexionen 1203).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 150-151

„Wovon träumt Frankreich denn seit 1871, wenn nicht von den Zeiten vor der Niederlage?“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167

„Cioran ... läßt Spenglers Thesen über das Schicksal des Abendlandes aufs französische Format schrumpfen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167

„Cioran ... ware ja der Anti-Soziologe par excellence ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167

„Reste von französischem »Leben« fände man nur noch in der Pariser Banlieue.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167

„Wie die Franzosen nach der libération plötzlich neben den Siegern aufmarschierten, als ob nie etwas gewesen wäre, in dopppelter Heuchelei ..., so haben die Niederländer nach 1945 sich etwas vorgemacht und ihre Nachkriegswirklichkeit auf einen nicht selbst erfochtenen Sieg aufgebaut. Die nachträgliche nukleare Großmannssucht der Franzosen ist das formale Äquivalent der nachträglichen kosmopolitischen Umarmungssucht der Holländer.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 176

„Worauf die bürgerliche Gesellschaft hinaus will, nämlich auf die Aufhebung des Zwangs zur Arbeit unter beibehaltung ihrer Belohungen ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 184

„Lizenz zum Genießen .... Die Anfänge des Konsums liegen in der europäischen Romantik, nachdem Rousseau ... das Recht des Einzelnen auf eine sich selbst genießende Nutzlosigkeit proklamiert hatte.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 186

„Die hölheren Positionen ... werden im allgemeinen von Individuen innegehalten, von denen kein Mensch imstande wäre zu sagen, worin sie sich ausgezeichnet hätten.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 192

„Hegel: »Der freie Mensch ist nicht neidisch, sondern anerkennt das gern, was groß und erhaben ist, und freut sich, daß es ist.« (Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 47).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 194

„Norbert Bolz ...: »Der Haß auf den Feind wird ersetzt durch den Neid auf den Erfolgreichen.« (Diskurs über die Ungleichheit, S. 113).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 1947

„Woran würde man das Ende der Geschichte erkennen? Vielleicht am Aufhören der Sorge.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 197

„Weil Kunst in Überproduktion schwimmt, muß sie die Flucht in die Überbewertung des Wertlosen antreten - eine Form der Umwertung der Werte ....“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 204

„Philosophie ist Training in Sterblichkeit, hierin dem älteren Christentum verwandt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 207

„Mittags in Schloß Bellevue zum Festessen aus Anlaß von Huberts 70. Geburtstag (gemeint ist der 70. Geburtstag des am 9. Februar 1940 geborenen Hubert Burda; HB).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 394

„Vom Fenster meines Zimmers im Hotel Alte Canzley zu Wittenberg schaue ich auf die Schloßkirche mit der Thesen-Tür. Wenn je das Wort »historisch« einen Sinn hatte, dann an dieser Stelle. Wittenberg bereitet sich schon jetzt auf dei Feierlichkeiten vor, die hier in sieben Jahren (diese Notizen stammen vom 3. Mai 2010; HB) zelebriert werden sollen. Vielleicht wird die Philosophie dann vorbereitet sein, Luther vor das Gericht der Geistesgeschichte zu laden. Er wäre zu befragen, ob seine Theologie die Hauptaufgabe seiner Zeit, die Befreiung vom Augustinismus, bewältigt hat.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 394

„Goethe über die Folgen der französischen Revolution: Bis dahin war alles Streben, danach war alles Fordern.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 478

„Wer die roten Fäden meiner Arbeiten seit der Kritik der zynischen Vernunft suchte, hätte sie finden können in dem sich nach und nach verdeutlichenden Programm einer Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie (vgl. auch in: Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 521 f.; HB) auch und in den diversen Anläufen zu einer Theorie der Psychopolitik, die von dem Essay Im selben Boot über Zorn und Zeit und Der starke Grund, zusammen zu sein bis zu den Überlegungen über eine thymotische Steuerreform reichen. Schade, daß sich Hans-Jürgen Heinrichs in seinem wohlwollend bemühten Buch davon kaum etwas wahrnimmt und nie die richtigen Oberbegriffe bildet. - Von Michael Krüger kommt ein Brief, in dem er seine Ratlosigkeit angesichts des Manuskriptds von HJH gesteht - er hält das Werk, nach so vielen Korrekturen, für nicht mehr verbesserbar und immer noch nicht gut. Er winkt es resigniert zur Publikation durch, obschon er seine Mängel schärfer sieht als irgendwer sonst. Mir bleibt nichts ünrig, als den Kopf einzuzoehen und zu denken, daß auch dies vorübergeht.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 478

„Das potentiell viel wichtigere Buch Thymos and Civilisation fand nie seinen Autor. Fukuyama hätte es beinahe vorgelegt, doch verpaßte er die Chance, indem er die Materialien zu dem Werk in seinem hochtönenden Traktat über das Ende der Geschichte versteckte - neben Spenglers Untergang des Abendlandes der Anwärter auf den Titel des meistzitierten ungelesenen Buchs des 20. Jahrhunderts.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 480

„Bei Norbert Bolz eine schöne Idee: das Eigentum sei als »Exoskelett« des Individuums aufzufassen. Das Wort verwendet man sonst für die Hülle von Insekten oder weichen Tieren mit harter Umschalung.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 488

„Um den ursprünglichen Sinnumfang des Worts »Menschenrechte« richtig einzuschätzen, ist es nüttzlich, zu wissen, daß sich z.B. unter den ersten 16 Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, die zwischen 1788 und 1848 amtierten, 12 sklavenhaltende Patrizier aus den Südstaaten befanden, darunter Thomas Jefferson, der Autor der Unabhängigkeitserklärung, und George Washington, der Übervater der US-Amerikaner.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 578

„Von Heinsohn ein Papier, in dem es heißt:, Europa ist ... ein Sozialhilfebündnis. Es sollte nicht verboten sein, über seine Zerlegung und Neukonfiguration nachzudenken. Heinsohn zerschneidet es fröhlich in drei neue Blöcke: ein Bündnis der nördlichen Monarchien, eine hochpotente Alpenkonföderation und einen südlichen Block, in dem die Mittelmeerländer unter sich wären. Eine jede der neu zugeschnittenen Einheiten könnte sich als lebensfähiger erweisen als die Brüsseler Union, die ein Gesamtkunstwerk aus gegenseitiegn Behinderungen darstellt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 583

„Die ... 100 Millionen arbeitslosen Jugendlichen ..., die bis zum Jahre 2020 die »Länder des Halbmonds« unter Streß setzen. Wer zudem die USA dafür tadelt, sie hätten ebenfalls die Chance zu einem ermunternden Signal an die jungen Ägypter verpaßt, begreift nichts vom strategischen Wert der nordafrikanischen Vorgänge auf dem us-amerikanischen Schachbrett. Für die Spielmacher in Washington laufen die Dinge, wie sie sollen, solange sie in ihrer Summe dafür sorgen, daß die Europäer in den kommenden Jahrzehnten den nordafrikanischen Klotz am Bein haben werden.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 586-587

„Es muß in Goethes Leben einen Tage gegeben haben, von dem an er sich zum Goethe-Experten wandelte.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 589

„Nur Goethe weiß, wie Goethes Werk zu rezipieren ist.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 590

„Permanent macht Goethe das Große Graecum, das Große Persicum, das Große Sinologicum. Zuletzt ist er ganz Chinese und spielt mit sich selbst Verbotene Stadt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 590

„Schon jetzt setzt Italien die nördlichen Nachbarn unter Druck, ihm die unwillkommenen Zuwanderer so bald wie möglich abzunehmen.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 596

„Im übrigen hatte Muammar al-Gaddafi bei seinem Staatsbesuch in Italien im Auigust 2010 die Europäer vor potentiellen Millionenheeren afrikanischer Zuwanderer in den kommenden Jahren gewarnt und zu deren Ruhigstellung am Ort Bleibegelder in Höhe von vielen Milliarden Euro aus europäischen (sprich: deutschen; HB) Kassen gefordert. Von offiziellen Reaktionen der EU auf diesen Droh-Hinweis wurde nichts bekannt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 596

„Weil es keine Buchstaben gibt, bleibt dem chinesischen Denken der Elementarismus bzw. der Atomismus unbekannt.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 597

„Die arabischen Revolten erzeugen ein Nebenprodukt, das von den Wirtschaftsblättern noch nicht erfaßt wurde: Sie stellen die Forbes-Listen der größten Vermögen in einem wesentlichen Segment als Fiktionen bloß. In die Spitzenzone der Tabellen gehören seit längerem die despotischen Kleptokraten von Mubarak und Ben Ali bis zu Putin und Gaddafi, die in den gängigen Listen der reichsten Royals von König Bhumipol bis Hans Adam II. naturgemäß nicht auftauchen (ebenso die noch reicheren, also mächtigeren Kleptokraten; HB). Auch ein gut Teil der großen Vermögen ist bastardisch geworden.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 600

„Was die Moderne in moralgeschichtlicher Sicht bedeutet: Sie emanzipiert die Schuldner, zumal den großen, mehr und mehr von der Verfolgung durch den Gläubiger und spricht den sozialen Versager von eigener Schuld frei. Mehr noch, das Leiden-Machen als Vergeltung für unreturnierte Schulden wird verpönt, der Bankrotteur kommt schmerzlos davon, ein Leidensausgleich findet nicht mehr statt. Wenn es der Staat ist, der sich bis zum Bankrott überschuldet, heißt es sogar, nicht der Schuldner, der Gläubiger ist schuldig.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 610

„Es soll in Deutschland im Jahr 2010 circa 110000 legale und gemeldete Abtreibungen gegeben haben, davon nicht mehr als 3% aufgrund von medizinischer und kriminologischer Indikation. Der Umfang der Dunkelziffer wird auf 200% geschätzt, wonach die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche bei 300000 gelegen haben dürfte (eher bei 400000; HB). Das bedutet bei 675000 Lebendgeburten im selben Zeitraum, daß jedes dritte Kind an der Wand der Unwillkommenen zerschellte. (In der EU, den USA und Kanada zusammen sind es übrigens rd. 4 Millionen an der Wand der Unwillkommenen Zerschellte! HB).“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 613

„Wenn wir gehen werden, werden wir das Gefühl haben, wir hätten unsere Kindheit in der Antike verbracht, unsere mittleren Jahre in einem Mittelalter, das man die Moderne nannte, und unsere älteren Tage in einer monströsen Zeit, für die wir noch keinen Namen haben.“
Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 639

„Seit 20 Jahren dominiert bei mir die Lebensform Familie, das ist auch keine reine Solitüde. Sehr gut erinnere ich mich an die Zeit, als ein wirbeliges Kleinkind durch mein Arbeitszimmer stürmte. Es amüsierte mich, ich konnte nicht gestört werden. Heute kommt mir das seltsam vor, da die Irritierbarkeit zugenommen hat. Auch durch das Telefon war ich nicht zu stören, ebenso wenig durch Handwerker und Zeugen Jehovas. - Ich sah in allem Anregung, nicht Unterbrechung. Ein wundertätiger Aberglaube war am Werk: Was auch immer kommt, verwandelt sich umgehend in einen Teil der Produktion. In jener mittleren Phase lebte ich wie unter einer Schutzhülle, ich war meiner Themen sicher oder die Themen waren sich meiner sicher. Ich war durch nichts aus der Spur zu bringen.“
Peter Sloterdijk, in: WELT, 29.06.2013

„Ich bekam um 1974 zeitweilig eine Vertretungsassistentenstelle an der Hamburger Universität angeboten, ich akzeptierte und übersiedelte. Dieses Jahr in Hamburg wurde für mich eine sehr fruchtbare Zeit, ein Wendejahr in meinem Leben. Die damalige Nähe zu Klaus Briegleb, dem Ordinarius für neuere deutsche Literatur, war für mich ein Glücksfall, ich kannte ihn aus München, er war in meinen Augen, und nicht nur in meinen, der herausragende Literaturwissenschaftler des Landes und in den Hamburger Jahren auf der Höhe seiner Kunst. Und genauso glücklich war die Konstellation mit den älteren Kommilitonen, ein intellektueller Wirbel, auch gruppenerotisch nicht uninteressant. - Was die Universität anging, wußte ich von da an, das ist nicht mein Maulwurfshügel. Als mein Vertrag auslief, bin ich nach München zurückgegangen. Anschließend begannen die wilderen Gruppenjahre: Wohngemeinschaft, Psychotherapie, Meditationsgruppe, Neue Linke, Neuer Mensch. Ständig spukten solche Motive durch den Raum. Man glaubte damals an die Theorie wie an eine messianische Kraft. - Die Zeit zwischen 1974 und 1980 wurde die Experimentierphase meines Lebens. Die Dissertation war geschrieben, viele Möglichkeiten standen offen, das einzige, was ich eindeutig wußte, war, daß ich in die Universität nicht zurückgehe. Sollte es ein Leiden an der Unbestimmtheit geben, so war es mir damals unbekannt. Ich empfand die Freiheit, noch einige Orientierungsjahre vor mir zu haben, als beflügelnde Nichtfestlegung.“
Peter Sloterdijk, in; WELT, 29.06.2013

„Nach 1980 war es so weit, daß ich anfangen konnte, mich weiter vorzuwagen. Damals habe ich meinen Ton gefunden, falls man das so unbedarft ausdrücken kann. Es war, als hätte ich das Instrument entdeckt, auf dem ich meine Art von Musik machen sollte. Das Instrument wurde gestimmt in dem Moment, als ich begriff, worin meine Chance besteht.“
Peter Sloterdijk, in: WELT, 29.06.2013

„1947 geboren, blieb ich ein von der Vaterseite her so gut wie völlig ungeprägter junger Mann. Zur rechten Zeit sah ich ein, ich sollte mich zu einer Art von Selbstbevaterung entschließen. Was Bemutterung ist, vorgefunden oder gewählt, und wie man sie allmählich zurückläßt, das wußte ich schon ziemlich gut. Was Bevaterung bedeutet, wußte ich nicht. Ich mußte mir meine Väter oder Instruktoren zusammensuchen, dazu war es nötig, sich in der Welt umzusehen. .... Der Durchbruch kam, als ich verstand, daß ich mir selber die Welt erzählen sollte.“
Peter Sloterdijk, in: WELT, 29.06.2013

„Der Mensch ist das Tier, dem man die Lage erklären muß. Hebt es den Kopf und blickt über den Rand des Offensichtlichen, wird es von Unbehagen am Offenen bedrängt. Unbehagen ist die angemessene Antwort auf den Überschuß des Unerklärlichen vor dem Erschlossenen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 9

„Du kennst die Anfänge nicht, die Enden sind dunkel, irgendwo dazwischen hat man dich ausgesetzt. In der Welt sein heißt im unklaren sein. Am besten ist es, man hält sich an den Schein des Sich-Auskennens in der näheren Umgebung, die man seit einer Weile die »Lebenswelt« nennt. Verzichtest du auf weitere Fragen, bist du vorläufig in Sicherheit.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 9-10

„Nicht das Wort war am Anfang, sondern das Unbehagen, das nach Worten sucht. Dem Mythos fiel die Aufgabe zu, Wege aus der ersten Unklarheit anzuzeigen. Wovon man nicht schweigen konnte, davon mußte man erzählen. Erzählen heißt so zu tun, als wäre man am Anfang dabeigewesen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 10

„Durch den Erfolg des Christentums hat sich in der westlichen Zivilisationssphäre die biblische Auslegung des Unbehagens am In-der-Welt-Sein durchgesetzt. Die übermittelt mittels einer kurzen Erzählung eine einleuchtende, obgleich düstere Lektion: Fühlen wir uns vom Befund unseres Daseins nicht selten befremdet, so aus einem begreiflichen Grund. Wir sind Vertriebene, fast von Anfang an. Wir alle haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht. Sind wir hier in der Welt, so weil wir nicht würdig waren, an einem besseren Ort zu bleiben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 10

„Im Licht des mächtigsten Mythos des Westens sind die Post-Adamiten Wesen, an denen eine Bestrafung ihre Spuren hinterlassen hat, unverbülich, irreversibel, in jeder Generation von neuen. Es handelt von der fortbestehenden Vertreibung, die uns aus der paradiesischen Situation in die jetzigen Verlegenheit versetzt hat. Die Lage des Menschen ist Sündenfolge.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 10

„Der Mythos hebt das Unbehagen nicht auf, er macht es erträglich, indem er es erläutert. Die Grundregel der Mythodynamik besagt: Jede Geschichte ist besser als keine Geschichte. (Vgl. hierzu: »Jede Erzählung ist besser als keine Erzählung«, S. 19; HB.) Auch ein dunkler Mythos erhellt die Lage, indem er dem Unbehagen eine Fassung gibt. Oft unterdrückt er sogar das Aufsteigen des Unbehagens, indem die Erklärung der Empfindung zuvorkommt. Jedoch kann aufgrund paradoxer Nebeneffekte bei der Auslegung des Unbehagens am In-der-Welt-Sein der Effekt auftreten, daß das schwer Erträgliche in gesteigerter Form wiederkehrt: dann nämlich, wenn die unklare Lage infolge der Auslegungen des Mythos noch um vieles schlimmer erscheint als die anfängliche Irritation, zu deren Behebung die Erzählung in Gang gesetzt wurde. Für eine solche Übersteigerung des Unbehagens durch seine Erklärung bietet die Ideengeschichte Alteuropoas kein stärkeres Beispiel als die Auslegung der biblischen Erzählung von der Vertreibung der menschlichen Ureltern aus dem Paradies bei Aurelius Augustinus (354-430). (Die kritischen Passagen finden sich vor allem in den Genesis-Kommentaren Augustinus’ und in den Büchern XII bis XIV des Werks über den Gottesstaat. Analoge Verdunkelungen zeigen sich im iranischen Dualismus, in manchen Varianten des Hinduismus und in einigen Versionen der spätantiken Gnosis.) Aufgrund seiner Intervention wurde aus dem Unbehagen Bestürzung. Anfängliche Konfusion wandelte sich in Perplexität. Der Bischof von Hippo hatte den Weg vom Mythos zum Logos mit jener Folgerichtigkeit zurückgelegt, wie die Wesensverwandtschaft von Theologie und Extremismus ahnen läßt. Sie macht bis heute schaudern, sollte man sich noch einmal der Mühe unterziehen, den Vorgang aus den Akten aufzurollen. Es war der Übergang von einem Ursprungsmärchen voll symbolischer Bezüge und archetypischer Obertöne in eine Katastrophendoktrin von primärmasochistischer Eindringlichkeit.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 10-11

„Augustinus ... löste mit seiner verschärften Sünden-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die westliche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er wollte sich nicht damit zufriedengeben, den außerparadiesischen status quo der Menschen demütig zur Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf, den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama zwischen Mensch und Gott überhöhte, bei dem die Rolle des böse lachenden Dritten dem Satan zufiel, dem selbstverliebten Anführer der aufrührerischen Engel.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 12

„Hatte schon der Mythos in seiner schlichten Gestalt das Risiko mit sich gebracht, daß die gewöhnliche Vernunft nach der Verhältnismäßigkeit zwischen Fehltritt und Strafe fragen könnte - dem Tod, Not und Krankheit, eines wie das andere im Paradies unbekannte Übel, sollen nach der Aussage des Apostels Paulus als die gerchten Folgen der Urelternsünde gelten -, stellt sich hinsichtlich der ferneren Nachkommen um so mehr das Problem, warum auch sie, Jahrhunderte post eventum, noch immer für die Verfehlung der Vorfahren büßen sollten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 13

„Alle später lebenden Menschen wären also »im Samen Adams« mitpräsent gewesen, da gemäß dieser inzwischen außer Dienst gestellten Logik noch die fernste Folge im ersten Beginn angelegt ist. Es gibt nichts Neues in der Welt, nur die Entfaltung präformierter Substanzen. Hat Adam, der Ursprungsmann, seine bei der Schöpfung intakte Substanz durch die erste Sünde korrumpiert, geht die Korruption auf die Nachkommen über, da diese »in ihm« mitenthalten sind. Nicht bloß die ursprünglich heile Substanz soll teilbar und dennoch in jedem ihrer Teile in Gänze anwesend sein. Für die Korruption der Substanz gilt das Gesetz der Anwesenheit des Ursprungs im nachgeordneten Glied wie das der Anfangsmacht in der Folgeerscheinung in gleicher Weise. Jeder Nachkomme Adams ist darum »in Adam« mitkorrupt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 14

„Die Nachkommen haben das peccatum originale auf eigene Rechnung erneut zu begehen, um ihre Verdammnis - genauer ihre Verdammnis zur Verdammnis - zu verdienen. Und sie beghen es unfehlbar, weil sie mit dem Makel des Sündigenmüssens ins Leben treten. das ist es, was Augustinus’ listige und zudringliche Wendung vom non posse non peccare als letzte Wahrheit der natürlcieh conditio humana nach dem Fall besagt. Die Korruption ist dem Menschen zuvorgekommen. Der Mensch ist das Lebewesen, das nicht nicht sündigen kann, solange nicht die Gnade einigen Wenigen einen Weg der Rückkehr in die Integrität aufzeigt. Daß es wenige sind, die zu den Erwählen rechnen werden, steht für Augustinus außer Zweifel. Am Hof Gottes sind ja nur die beim Aufruhr der Engel freigewordenen Plätze nachzubesetzen. An einem darüber hinausgehenden Kontingent an Kandidaten der Erlösung besteht im Jenseits weder Bedarf noch Interesse. Für sentimentalen Universalimsu gibt es in der vera religio von der ersten Minute sn keinen Raum, was auch immer spätere, universalistisch überventilierte Apostel und deren philosophischer Nachtrab hierzu sagen werden. Das authentische Christentum, wie es von Paulus bis Augustinus kodifiziert wurde, bleibt als strikte Erwählungs- und Gnadenreligion eine Sache der Wenigsten, einiger erratischer verbaler Gesten »an alle« und »pro multis« ungeachtet. Seine heilige Schrift, recht verstanden, ist eher ein Buch für keinen als für alle.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 15-16

„Den Hebelpunkt für seine Lehre von der anhaltenden Erblichkeit der Sünde findet Augustinus im Generationenprozeß: Wie das zweigeschlechtliche Leben als solches ist die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit. Mehr noch: Der Modus der Übertragung, der Geschlechtsakt, beinhaltet die Wiederholung der ersten Sünde, weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche Selbstbevorzugung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande kommt. Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hochmuts, in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwendet, um sich selber an die erste Stelle zu rücken. (Vgl.: De Civitate Dei, 14. Buch, Abschnitt 15: »Der Hochmut der Übertretung ist schlimmer als die Übertretung selbst«.) Wären die Menschen fähig geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren sinnlichen Aufruhr zu genießen, wären sie dem Heil näher geblieben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 16

„Im Stand der Korruption ist der Mensch zur Selbstbevorzugung verdammt. Der Wille der Eigenmacht wohnt den Nachkommen Adams allzu tief inne, als daß er ihn aus eigenem Entschluß abstreifen könnte. Die Liebesordnung ist bei ihm von Grund auf verdreht.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 16-17

„Damit wird der Sturz in die Erbsünde immerhin für einige Erwählte reversibel.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 17

„Es gehört zu Augustinus' problematischen Verdiensten, wenn die westliche Zivilisation durch seine Anregungen einen Gedanken der Erblichkeit von Schuld, Sünde und Korruption zu entwickeln vermochte, der es mit dem indischen Konzept des Karma von ferne aufnehmen konnte. Indem Augustinus alle spontanen Intuitionen der moralischen Alltagsvernunft auf den Kopf stellte, konzipierte er eine Form von Sündigkeit, die durch die Tatsachen der Fortpflanzung unmittelbar auf sämtliche Nachkommen Adams überging - einzig den jungfräulich empfangenen Erlöser ausgenommen. Mit Hilfe seines Erbsünde-Konzepts gelang dem melancholischen Bischof die Konstruktionm eines Kontinuums irdischer Geschichte, das ganz im Zeichen der zugleich angeborenen und immer spontan erneuerten Auflehung der Einzelnen gegen Gott stünde. .... Der Mensch wird wie Gott, indem er dessen Privileg, nein sagen zu können, auf Gott selbst anwendet.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 17-18

„Nach wie vor sind die Einprägungen des metaphysischen Masochismus augustinischer Herkunft mitsamt seiner Fracht an politischer Phobokratie und existentieller Körperfeindschaft in den Archipelen des Christentums spürbar - zwei Grundübel, zu denen sich Quietismus, Erwählungspanik, Kulpablilismus, sexualneurotische Befangenheit und Kult des Elends gesellen. Kein harmloser Befund, bedenkt man, daß das Christentum mit über zwei Milliarden nominellen Gläubigen bis auf weiteres die numerisch größte, zudem theologisch intensivste Religionsmacht der Welt darstellt, mögen auch die düsteren Erbsachen heute fast überall in die unauffälligen Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Solidarität umcodiert worden sein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 18-19

„Auch für die Nachdunkelung des Berichts von der Vertreibung aus dem Paradies durch die augustinische Erfindung der Erbsünde (man könnte aber auch sagen: Erfindung der Erbsünde durch den Bericht in der Bibel selbst schon - als Deutungsangebot -, spätestens aber durch Paulus’ Deutung und Lehre, »daß durch einen Mann [Adam] die Sünde in die Welt kam«, also lange vor Augustinus’ Zeit; HB) gilt das mythodynamische Grundgesetz, daß im Feld des primären Unbehagens regiert: Jede Erzählung ist besser als keine Erzählung. (Vgl. hierzu: »Jede Geschichte ist besser als keine Geschichte«, S. 11; HB.) Keine dunkle Erzählung kann sich jedoch den Wirkungen von Aufklärung entziehen, die alte Geschichten unter neue Beleuchtungen stellt. Je düsterer die Redaktion einer alten Geschichte ausfiel, desto heftiger manifestiert sich später das Bedürfnis, die Erzählung durch Umerzählung aufzuhellen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 19

„Erbsündenlehre in moderner Zeit .... Schon Rousseau lieferte eine weltliche Umschreibung der Doktrin, indem er die Vertreibung aus dem Paradies der Eigentumslosigkeit als den Gründungsakt der bürgerlichen Gesellschaft auslegte: An die Stelle der Erbsünde tritt die erste Regung des Sinns für Privatbesitz: Mit dem Satz: »Dies gehört mir« beginnt die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, die nach Rousseau eine einzige Sequenz von Entfremdungen und Verkünstlichungen darstellt. .... Er enttheologisiert das Böse und verlagert die Quelle der Korruption auf das Feld des Sozialen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 19-20

„An die Stelle der Erbsünde tritt bei den Menschen (des Abendlandes! HB) der Neuzeit die janusköpfige Entdeckung des realen Erbes als Last und Chance. Wo die moderne Welt (des Abendlandes! HB) wirklich modern wird, nimmt sie die Form eines Experiemnts über die Zulassung von Ambivalenzen an. Wo große Lasten zu tragen sind, dürfen entsprechende Vorrteile nicht fehlen. Der größte unter den neuen Vorteilen wird darin bestehen, daß der Akzent vom Leben nach dem Tod auf das Dasein davor versetzt werden kann.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 22

„Erblichkeit als solche erscheint jetzt als Makel, gegen den die Modernen sich auflehnen, wo immer es ihnen gelingt, einen Widerstandspunkt zu entdecken. Sie weisen immer öfter zurück, was sie an alten Mitgiften bedrückt - ob es die Versklavung durch biologische Determinierungen ist oder die Prägungen durch Klasse, Schule, Kultur und Familie. Das solche »Versklavungen« durch das Herkommen zugleich positive Bedingungen konkreten, geglückten, bestimmten Lebens sein könnten, mögen die Agenten der Losreißung nicht gerne wahrhaben. Im übrigen gesellen sich zu diesem Ensemble von Fatalitäten in der neuzeitlichen Kreditwirtschaft die Gläubiger, die auf der Rückzahlung von Darlehen so hartnäckig bestehen wie vormals die Rachegöttinnen auf der Exekution eines Fluchs.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 23-24

„Wo immer das Interesse an Enterbung und Neubeginn aufflammt, stehen wir auf dem Boden der authentischen Moderne. Dynamit, Utopie, Arbeitsniederlegung, Familienrecht, genetische Manipulation, Drogen und Pop sollen die Sprengstoffe liefern, um die Erbmasse des sogenannten Bestehenden in die Luft zu jagen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 24

„Die Säkularisation der Erbsünde hat zwar das metaphysische Gift neutralisiert, das, destilliert in der Hexenküche des Augustinismus, im »Abendland« über anderthalb Jahrtausende weitergereicht wurde. Doch hat die Ausschaltung der Erb-Belastung a priori zugleich den Blick auf zahlreiche Formen ambivalenter Erblichkeiten im säkularen Bereich freigegeben. Um vorsichtiger zu reden: Sie hat das Bewußtsein von den Schwierigkeiten des Erbe-, Nachkomme- und Schuldner-Seins auf neue Bahnen gelenkt. Ein Massenansturm auf Positionen des »voraussetzungslosen Lebens« garantiert den Modernisierungen ihren Zulauf. In diesem Punkt ist die entente cordiale zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus mit Händen zu greifen. Die scheinbar unversöhnlichen Gegenspieler sind die besten Freunde, wenn es darum geht, die familialen, genealogischen und in erfolgreichen Filiationen gegründeten Prämisen des »sozialen Lebens« zu verdunkeln.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 24-25

„Zu einer Restauration der »Erbsünde« geben die folgenden Beobachtungen keinen Anlaß. Sie möchten jedoch zu einer erneuten Sichtung der Korruptionseffekte beitragen, die von alters her sich in den Generationsprozessen einnisten, und dies nachhaltiger, als das alltägliche Bewußtsein je zur Kenntnis nehmen wollte: sporadisch seit der klassischen Antike, verstärkt mit dem Anbruch der Neuzeit und inflationär in den Verhältnissen, die auf die technischen, politischen und juristischen »Revolutionen« des 18. und 19. Jahrhunderts folgten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 25

„Die Kulturtheorie unserer Tage nimmt somit die Herausforderung an, die religiös codierten Sachgehalte der augustinischen Beobachtungen in weltlichen Ausdrücken zu reformulieren, sei es juristisch, klinisch, kulturwissenschaftlich oder in medientheoretischen Begriffen. Sie erlaubt sich die Frage, wie sich die von Augustinus notierten Lasten, die auf der conditio humana ruhen, so rekonstruieren ließen, daß ältere und neuere Intuitionen sich begegnen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 25

„Zum Verständnis der modernen Welt gehört ... eine säkulare Hermeneutik der Korruption. .... Man muß demonstrieren, warum der Mensch ... als das korrumpierbare Tier existiert .... Ebenso ist darzustellen, wodurch er sich von Korruption befreit. Eine zeitgenössische Ethik soll erläutern können, wie Korruption durch Wandlungen und Erholungen korrigierbar sind.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 27-28

„Einer der neben Kierkegaard und vor Nietzsche anregendsten Moraldenker des 19. Jahrhunderts - der zu Unrecht vergessene Geschichtsphilosoph Pierre-Simon Ballanche (1776-1847) - hat in seinem Werk über die »soziale Palingenesie, das heißt die Wiedergeburt des lernenden und reuefähigen Geistes bei seinem Gang durch die Generationen, die Grundlagen für eine realistische historische Ethik geschaffen. Es handelt von der permanenten Revolution der schuldhaften Exzesse und ihrer Korrektur durch den Lauf der Dinge: Fortschritt durch Prüfungen ist die einzig glaubhafte Devise in Zeiten evoluionärer Turbulenz. (Vgl. S. 63). In seinem Gang formiert sich »die Menschheit« als ko-immune Gemeinschaft (zum Begriff Ko-Immunität vgl. Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern - Über Anthropotechnik, 2009, S. 699) von geschichtlichen Wesen, die sich an ihre Fehler, Irrtümer und Verbrechen erinnern und diese Erinnerungen in kritischen Selbstdefinitionen aufbewahren.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 28

„Aufhebung der Korruption wäre das weltliche Gegenstück zur Reue, mit der in christlicher Tradition die Wiederaufrichtung des Menschen nach dem Fall beginnt. Die Aufhebung der Korruption ist der Enstfall des Lernens. Wer ein Lernender ist, häuft nicht bloß Informationen an. Er versteht, daß wirkliches Lernen etwas von einer Bekehrung hat.  –  Gäbe es in der Kulturtheorie ein Pendant zu dem, was im katholischen Altaraufbau das Allerheiligste verkörpert, es könnte nichts anderes sein als dieser am weitesten heruntergekommene Begriff der Gegenwart: »Lernen«. Im kommenden Jahrhundert sollte man ihn wie eine numinose Präsenz in einem Offenbarungszelt hüten. An seltenen Tagen dürfte man ihn für einige Momente enthüllen. Ist nicht der Verdacht begründet, das Lernen sei der unbekannte Gott, von dem es seinerzeit in einer Anmerkung von seherischer Dunkelheit hieß, nur noch ein solcher könne uns retten?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 28-29

„In den Tagen von Madame (de Pompadour [1721-1764]; HB) ist der Futurismus vage und unentschieden. Noch bezeichnet das Wort »Geschichte« wie seit jeher die Kunde davon, wie es vorzeiten eigentlich gewesen ist. Man schreibt sie wie in alter Zeit, um zu erfahren, was früher war und warum man im Gewesenen die Richtlinien für das Heutige findet. Historia magistra vitae. Zunächst sind es wenige, die Zweifel am Primat des Geschehenen vor dem Kommenden anmelden. Noch weniger zahlreich sind die Abgeklärten, die schon verstanden haben, das aus gewesener Geschichte zu keiner Zeit etwas gelernt wurde, allen Sammlungen exemplarischer Erzählungen zum Trotz. Gleichwohl, auf diese kleine Zahl von Zweiflern und ihre Werbung für die Blickwende ins Noch-Nicht werden die ungeborenen Generationen hören.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 33

„Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht sich in den mentalen Ökosystemen Europas die Umdeutung des Verhältnisses von Vergangenheit und Zukunft, die den Modernen den kühnsten, den unfaßbarsten, den unausdenkbarsten Gedanken eingibt, der seit der Vertreibung der Ureltern aus dem Paradies (wann? HB) in Menschengehirnen keimte: Mit einem Mal scheint vorstellbar, es könnten die wichtigsten Ereignisse, im Bösen wie im Guten, jene sein, die noch nicht statthgefunden haben. Unbemerkt »entwickeln« sich solche Ereignisse im Schoß der Gegenwart, um eines nicht ganz fernen Tages ins Manifeste, Handgreifliche durchzubrechen. Folglich würden von da an die Enden, nicht mehr die Anfänge, über den Sinn der Vorgänge in der Mitte entscheiden. Es wären die Zukünfte, die wirklich zählen, und nicht die Herkünfte. Nun fiel das Schwergewicht des Seins nicht länger auf die Vergangenheit; die mythische Gegend, wo die alten Rechte, die Ursprungsmächte, die Stiftungen heimisch sind, verliert zunehmend an Bedeutung. Auch ist die Gegenwart nicht mehr die Fortsetzung eines immergültigen Damals im Medium aktuellen Lebens. Hegel hatte es als erster begriffen: In einer epochalen Formulierung nennt er die Wirklichkeit die »Möglichkeit des Folgenden« (Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, 1808-1811, § 151). Seit Zeit und Zukunft ins Denken drängen, bilden Vergangenheit und Gegenwart die Inkubationszeit eines Ungeheuers, das unter einem trügerisch harmlosen namen am Horizont auftaucht: das Neue.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 34

„Nachgeborenen blieb vorbehalten zu erkennen, daß, wer damals das Wort »Sintflut« sagte, die Revolution gemeint haben mußte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 35

„Der revolutionäre Hiatus riß das konventionelle Band der Epochen entzwei. Wo Filiationen geherrscht hatten - getreue Übergaben des väterlichen Erbes auf Nachkommen und Nachkommen von Nachkommen, wie fiktiv auch immer -, hoben die Unterbrechungen des Herkommens tiefe Gräben aus. Alles Leben wird neu datiert: Was später lebt, lebt nach dem Einschnitt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 37-38

„Über Nacht hatten die Haupt- und Staatsaktionen der großen Welt sich in ein Improvisationstheater gewandelt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 38

„Was besteht und beharrt, wird im Unrecht sein; was vorwärts geht und für Freiheiten trommelt, hat alles Recht auf seiner Seite. Das erwachende Ungeheuer erweist sich als ein moralisierendes Geschöpf. Von Anfang an verfügt es über Wege und Mittel, das Gewesene ins Unrecht zu setzen. Die Welt der Väter scheint entrechtet, die Könige werden der Despotie bezichtigt ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.38-39

„Auch die neueste Gegenwart nimmt an der Entmündigung der Vergangenheit teil, insofern sie selber schon morgen die die Vergangenheit seiner zukünftigen Gegenwart sein wird..“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 39

„Das Unrecht, bestehen zu wollen, ist das neue Gesicht der Erbsünde.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 39

„Nichtsdestoweniger will alles, was nun kommt, nach der Verdampfung des Ständischen und Stehenden auf einen neuen »Staat« hinaus. das Wagnersche Gesetz erlangt Geltung, das die unaufhaltsame Ausdehnung der Staatstätigkeit aussagt. (Benannt nach dem Soziologen und Finanzwissenschaftler Adolf Wagner (1835-1917), dem Prototypus der »Kathedersozialisten«, der das parallele Wachstum von Staatsaugaben und Staatsaktivitäten in positiver Bewertung prognostizierte.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 39

„Die Zurückstufung des Gegenwärtigen, das weiß, wie bald es selbst eine Vergangenheit sein wird, wird von dem ominösen Artikel 28 der Déclaration des Droits de l’ Homme et du Citoyen vom Juni 1793 auf den Begriff gebracht: »Eine (gegenwärtige) Generation hat nicht das Recht, zukünftige Generationen ihren Gesetzen zu unterwerfen.« Hieraus wird das ewige Grundrecht auf Verfassungsänderung abgeleitet, mit dem das souveräne Volk sich seiner Zukunft immer von neuem bemächtigen darf.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 39-40

„Leo Trotzki sprach später von der »permanenten Revolution«, um Stalins Politik des »Sozialismus in einem Land« (die er folgerichtig als einen »Nationalsozialismus« im sowjetischen Gewand bezeichnete) zurückzuweisen und einen anderen Modus internationalisierter Umwälzung zu fordern.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 40

„Die moderne Welt ... wird sich als eine Zeit erweisen, in der die Wünsche durch ihr Wahrwerden das Fürchten lehren.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 53

„Wer die geistige Landschaft des europäischen 19. Jahrhunderts im Vogelflug überqueren könnte, würde nach einigen Kreisen in der Luft entdecken, daß das Denken jener Jahre sich in einem von drei geistesgegenwärtigen Fragen markierten Feld bewegte. Die Aufnahmen des Fragen-Dreiecks enthüllen nachträglich, was sich der bodennahen Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht hinreichend deutlich zeigen konnte. Tatsächlich waren die wesentlichen Reflexionen der beginnenden Moderne stets nur Antworten auf die von Joseph de Maistre (1753-1821) in seinen Soireen von Sankt Petersburg erörterte Frage: »Wie konnte Gott die französische Revolution zulassen?«. Sie reagierten ferner auf die Titelfrage von Nikolai Tschernyschewskis Roman Was tun?, der im Jahr 1863 erschien, und schließlich auf die durch Friedrich Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 aufgeworfene Frage des Tollen Menschen: »Stürzen wir nicht fortwährend?«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 54

„Was man den »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« (Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, 1941) genannt hat, spiegelt sich in de Maistres, Tschernyschewskis und Nietzsches Fragen wider als die begriffene Unmöglichkeit, das alteuropäisch Haus des Seins gelassen zu bewohnen. Eine monströse Baustelle war an seine Stelle getreten.
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 55

„Aus der Sicht des ultrakatholischen savoyardischen Diplomaten (Joseph de Maistre; HB), von 1802 bis 1816 im Dienste des Hauses Piemont-Sardinien ... in Sankt Petersburg tätig, bedeutete die französische Revolution mitsamt ihrem Umschlagen in den napoleonischen Expanionismus ... eine neue Qualität der Allianz zwischen dem Menschlichen und dem Infernalischen, ja sie erschien ihm geradezu als ein Totentanz, aufgeführt von menschengestaltigen Puppen: Deren Schrittfolgen seien ihm in die Glieder gefahren, nachdem die Kirche in Frankreich ihre Macht verloren hatte, die auf dem Grund der Seelen lauernden Traumbosheiten in Schach zu halten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 55-56

„Im übrigen betonte de Maistre, wann immer es ihm nötig schien, er sei zu keiner Zeit Franzose gewesen und habe nicht vor, es je zu werden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 57

„De Maistre lieferte in seinen Betrachtungen über Frankreich (1796) wie in den Sankt Petersburger Abendgesprächen über das Walten der Vorsehung in der Menschenwelt den Beweis dafür, daß ohne Kaltblütigkeit eine theologische Deutung der neueren Geschichte nicht gelingt. In seiner Sicht waren Marat, Robespierre, Napoleon und ihresgleichen eben nichts anderes als genialische Automaten, denen Gott die trübe Freiheit gewährt hatte, sich einem höllischen Arbeitgeber anzudienen. Was Wunder, wenn sie unter dem Kommando dieses Herrn die Staaten in ein Blutbad ohnegleichen stürzten? De Maistre begreift das Weltgeschehen zwischen 1789 und 1809 - er kennt zum Zeitpunkt der Soireen die kulminierenden Gewaltschauspiele von Moskau, Leipzig und Waterloo noch nicht - als Ausfluß einer von Gott ironisch zugelassenen Satanokratie, ermöglicht durch die tragische Selbstverhüllung des Absoluten. Hinter dem Rückzug Gottes verbrigt sich ein gattungspädagogisches Kalkül, das der menschlichen Vernunft pervers erscheinen mag. De Maistre erwägt in vollem Ernst, Gott habe, indem er die Revolution und alles Folgende duldete, der Welt Gelegenheit bieten wollen, zu erfahren, wie es ihr ergeht, wenn sie ganz sich selber überlassen ist - ahnend, daß sie, wenn sie sich in Übersteigerung wiegt, ihren höchsten Idealen zu folgen, zu einem Tummelplatz infernaler Mächte gerät.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 57-58

„Napoleon selbst hatte nicht versäumt, die Devise seines Handelns auszusprechen, als er im Dresdener Dialog mit Metternich bemerkte: »Ein Mann wie ich pfeift auf das Leben von einer Million Menschen«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 58

„Für de Maistre legt das nicht endende Blutbad der Jahre seit 1793 die Wahrheit über die Wirklichkeitsmächte der neuen Zeit offen. Obschon das Zählen der Toten erst eine Passion des 20. Jahrhunderts wurde, spürten schon die Zeitgenossen der Napoleonischen Kriege, daß eine Ära der Verschwendung von Menschenleben begonnen hatte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 59

„In den Augen des großen Liberalismus-Verweigerers ist die entgrenzte Gewalt, wie sie im Revolutionszeitalter ausbrach, um sich nur episodisch zu beruhigen, durchaus nicht das bedauerliche schlimme Mittel zum guten Zweck, wie die unentwegten Progressiven zu behaupten nicht müde werden - sie ist der unverhüllte Ausfluß ihres leitenden Prinzips. - Das Böse wäre freilich nie in respektable Positionen gelangt, hätte es sich nicht seit jeher darauf verstanden, eine gewinnende Seite vorzuweisen. Es könnte die Menschen nicht anziehen, binden und vorantreiben, wenn es sich nicht als das Normale, Humane und Notwendige zu maskieren wüßte. Wenn die Anreger, Exekutoren und Interpreten der Blutbäder immerzu von Freiheit und Gleichheit, von Eigentum und Fortschritt, von Menschenrecht, Verfassung und Herrschaft der Vernunft reden, ja, wenn sie uns alle mit ihren Ansprachen momenthaft begeistern, so beweist die nur, daß sie den Rhetorikunterricht des Teufels mit Erfolg besucht haben - und wie wenig wir noch immer imstande sind, uns gegen ihre suggestiven Reden zu immunisieren.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 59

„Eine gültige Kritik der gegenwärtigen Zeit muß demnach mit nüchternen Untersuchungen über die Macht der Reden beginnen. Die methodologische Frage, wie Gott die französiche Revolution zulassen konnte, übersetzt sich in die abgründige Erkundigung, wie den Menschen der Ära nach dem großen Einschnitt sich selbst mit Phrasen und Proklamationen genug verzaubern, um unter noblen Vorwänden die gräßlichsten Gewalttaten begehen zu können. Damit ist eine Problemstruktur bezeichnet, die sich unter dem Begriff »Ideologiekritik« in die intellektuellen Profile des 19. und 20. Jahrhunderts einprägen wird. Den vollendeten Ironiker de Maistre hätte es nicht überrascht, daß Ideologiekritik zur Spezialdisziplin der kommunistischen Bewegung wurde. Wo der Kommunismus an die Macht gelangt war, stellte er dank der routinierten Verbindung der humanen Phraseologie mit dem vollendeten Partei- und Staatsterrorismus die übrigen Praktiken auf dem Feld der Auslöschungen in den Schatten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 59-60

„Die Größe des Streits um eine Theologie der Gewalt in der französischen Revolution läßt sich durch den Hinweis auf das Werk von Pierre-Simon Ballanche (1776-1847) erläutern, der die Alternative Hegel versus de Maistre durch eine geistvolle gewaltkritische dritte Position (eine Synthese in Hegels Sinne?! HB) unterläuft. Unter dem Titel »soziale Palingenesie« ersann er eine christliche Geschichtsphilosophie, die auf dem Gedanken des »Fortschritts durch göttliche Prüfungen« beruhte. Sie entwirft die Evolution der Menschheit als Drama der vorzeitlichen Erbsünde und ihrer von der Vorhersehung gewollten, stets erneuerten Entsühnung. Daß der erste Mörder, Kain, zum ersten Stadtgründer werden durfte, möge zu denken geben. In diesem Geschehen finden sogar die Königsmörder von 1793 ihren heilsgeschichtlichen Ort - wie die Erzählung L’homme sans nom, 1820, verrät, in der ein edler Greis, ein vormaliger Angehöriger des Konvents, der für die Hinrichtung Ludwigs gestimmt hatte, seine Tat durch ein Leben in Namenlosigkeit verbüßt, ehe er nach langen Jahren wieder in die Gemeinschaft der Entschuldigten aufgenommen wird. Ballanche bezahlte die vermittelnde Genialität seines Projekts mit allseitiger Ablehnung: Statt die Lager der Revolutionäre und Konterrevolutionäre miteinander zu versöhnen, wie er sich erträumt hatte, wurde er von den ersten als christlicher Reaktionär und von den zweiten als verräterischer Verteidiger des radikalen Wandels verworfen. In Wahrheit hatte Ballanche, indem er die Geschichte der Menschheit als permanente Palingenesie, das heißt als ständige Wiedergeburt aus der Verirrung, konzipierte, erstmals das Schema vom Trial and Erorr auf die Ebenen der Zivilisationsgeschichte angewendet, wenn auch noch in penetrant religiöser Codierung. Sein Wiedergeburtsdenken geht von der Einsicht aus, daß Sünder Geschichte machen, indes nur verhärtete Sünder sich weigern, aus ihren Taten zu lernen. Der wahre Fortschritt ist die Sühne des Verbrechers. Ballanches Paradigma ist der Sturz Napoleons, dessen atlantisches Exil eine notwendige Prüfung gewesen sei, um das bei diesem Mann unterentwickelte moralische Gefühl auf die Höhe seiner Intelligenz zu bringen ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 63-64

„Wie die praktische Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts als Streit um die Programmierung der Weltveränderungsmacht verstanden werden kann, läßt ishc die Geschichtsphilosophie dieser Ära als Streit um die Rationalität oder Irrationalität der Mobilisation interpretieren. Dieser vollzieht sich im Kampf um die Deutungshoheit über den modus operandi der geschehenden Geschichte. Es ist das Ringen zweier miteinander unverträglicher Bewegungsbilder: Was von der einen Seite als gewußter und gewollte Fortschritt auf langen, manchmal gewundenen Alleen ausgelegt wird, erscheint der anderen Partei als ein chronisches Nach-vorne-Stürzen, das sich als Tat, Projekt und planvolles Handeln camoufliert. Die beiden Beschreibungen führen sich gegenseitig eine je für die andere Seite unerträgliche Ironisierung zu. Wer dem unheimlichen Bild vom Sturz nach vorne den Vorzug gibt, erscheint in den Augen der Fortschrittlichen wie ein boshafter blinder Passagier an Bord eines Schiffs, das dank der Arbeit der anderen zielsicher der hellen Zukunft entgegenfährt. Wer hingegen an einen garantierten Fortschritt glaubt, ist in den Augen derer, die überall den Sturz nach vorne spüren, ein schlafwandelnder Philisiter, der schon vom Dach gefallen ist und noch im Sturz den Vorwärts liest.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 72-73

„Das 20. Jahrhundert erweist sich rückblickend als eine Zeit, in der die beiden Grundaussagen über die bewegte Welt den Versuch unternahmen, sich gegenseitig zu absorbieren. Als Martin Heidegger begann, den Sturz nach vorn mit dem bewußt unternommenen Schritt zu amalgamieren, gelang ihm um 1927 die Begriffsprägung »Geworfenheit« - ein Ausdruck, der den Vorrang des Sturzes respektiert, doch ein gewisses Maß an dessen Aneignung durch den Gang suggeriert. Dies mündet in einen existententialistischen Heroismus, dessen zeitweilige Nähe zu Hitlers Version des Sozialismus in einem Land bekannt ist, wenn auch seine Bewertung noch immer für Differenzen Anlaß gibt. Umgekehrt haben Liberale und Sozialisten aus dem Scheitern des Konzepts von linearem Fortschritt die Konsequenz gezogen, man könne auch aus der progressiven Grundstellung Kompromisse schließen mit dem kaum noch abzustreitenden Geschehen fortwährenden Stürzens - oder wie man das Mitgerissenwerden durch unlenkbare Bewegungen nennen will. Denker dieser Tendenz retteten den für sie unentbehrlichen Rest des aktivistischn Optimismus mit Hilfe der Doktrin, jenseits der Alternative von Stürzen und Gehen solle auch in schwerem Gelände ein gewisses Maß an selbstbestimmter Navigation möglich bleiben. - Ein wirksames Bild für den Kompromiß der optimistischen Aktivisten mit der unaufhebbaren Passivität in der globalen Drift hat der österreichische Philosoph Otto Neurath gefunden, als er 1932 davon sprach, wir seien wie Schiffer, »die ihr Schiff auf hoher See umbauen müssen«. .... Noch niemand scheint auf die Idee gekommen zu sein, man müsse Flugzeuge während des Flugs in großer Höhe umbauen. Hin und wieder hört man jedoch die Befürchtung, das Flugzeuge, an dessen Bord die Menschheit in die Zukunft reist, sei gestartet, bevor die Techniker das Fahrwerk zur Landung eingebaut hatten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 73-74

„Hervorgegangen aus dem revolutionären Hiatus, stellte das Ensemble der Geschöpfe des Diskontinuums sich selber als die »bürgerliche Gesellschaft« vor.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 77

„Was »bürgerliche Gesellschaft« heißt, its ihrem modus operandi zufolge ein permanentes Provisorium zur Bewältigung des Unbewältigbaren. Aus dem Hiatus hervorgegangen, formt das unbekannte Gebilde einen paradoxen Generationenstrom - einen Fluß, der überwiegend aus Unterbrechungen und Katarakten besteht. Sein Verlauf wird durch unzählige Brüche mit dem Herkommen bestimmt, kleinere und größere - kompensiert durch ebenso viele Behauptungen wiederhergestellter Kontinuität und regenerierter Legitimität.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 77

„Im Kopier-Vorgang ist die Möglichkeit, daß Nachkommen »aus der Art schlagen«, seit jeher angelegt. Kulturen kennen wie Gene die Mutation als Normalrisiko. Die Gefahr, die eigenen Kinder könnten zu »schrecklichen Kindern« werden, ist so alt wie die höhere Zivilisation ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 78

„Die Bannung der Gefahr der Fehlkopie brachte den älteren »Konservatismus« hervor ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 78

„Was man seit der Romantik als die Spießbürger verspottet, sind aus kulturtheoretischer Sicht die namenlosen Helden der Kontinuität.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 79

„Alle Generationen nach dem Hiatus tragen das Risiko riskanter und schädlicher Mutation in unvergleichlich höherem Maß in sich als ihre Vorgänger. Sie sind viel mehr gefährdet, das Ziel der Transmission, die hinreichend ähnliche Reproduktion, zu verfehlen, nicht zuletzt deswegen, weil sie in der Regel bereits angegriffene, labilisierte, ständig für Revisionen, Gegenvorschläge und Überbietungen offene, zuweilen offen verworfene Muster vorfinden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 79

„Den schrecklichen Kindern gehen oft ratlose Eltern, manchmal perverse Eltern, voraus.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 79

„Was stellt Kafkas Brief (an seinen Vater, November 1919; HB) anderes dar als eine Prager Parallelaktion zur Wiener Psychoanalyse - jener konservativ-revolutionären Antwort des psychologischen Jahrhunderts auf die epidemische Aushöhlung der Filiationen?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 80

„In jeder halbwegs gelungenen Filiation auf modernem Boden scheint gleichwohl etwas auf, was sich wie ein Hinweis auf vergessene Gesetzmäßigkeiten des genealogischen Lebens lesen ließe. Jede glaubwürdige Ersetzung älterer Generationen durch satisfaktionsfähige Nachkommen, und wäre si noch so unwegig und nicht-linear, deutet an, selbst im Zeitalter der chronischen, massenhaften und sich vertiefenden Abbrüche könne der Sinn für Kohärenz und Nachfolge im Gang des symbolisch geordneten Lebens nicht restlos verlorengehen - solange solches Leben sich als etwas begreift, das nie ganz aufhören wird, das Mittlere zwischen Früherem und Folgendem zu sein, selbst wenn es, unter dem Bann von Nullpunkt- und Neustartühantasien, zeitweilig nach der vollständigen Unterbrechung verlangte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 80

„Die Labilisierung der Filiationen spiegelt sich im Aufstieg des Begriffs »Freiheit« zum theoretischen Leitwort und ethischen Leitwert der Kulturen nach dem Hiatus wider. Er deutet auf dei Verlegenheit der freigesetzten Subjektivitäten hin, sich ihren Ort im mobilisierten und pluralisierten Weltgefüge aus eigenen Entschlußkraft suchen zu müssen. Im Klima der Desorientierung gedeiht das Pathos der Wahlfreiheit am besten. Jean-Paul Sartre hatte die neue lage halb luzide, halb mystifizierend auf den Begriff gebracht, als er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs statuierte, der Mensch sei ein Wesen, das aus einer absoluten Wahl seiner selbst hervorgehe: Er ist dazu verdammt, frei zu sein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 80

„Tatsächlich kann sich ein »Subjekt« nur dann zur Verlegenheit, frei zu sein, verurteilt sehen, wenn die althergebrachten Passungen zwischen dem modus vivendi der älteren und der nachfolgenden Generationen nicht mehr vorausgesetzt werden dürfen. Was die Theoretiker des Existentialismus (nicht alle! HB) stark übereilt als »Freiheit« bezeichneten, ist in zivilisationsdynamischer Sicht nur als Hiatus-Effekt recht begreiflich zu machen. Dieser tritt im neu-labilen Subjekt unweigerlich auf, sobald das Herkommen zu schwach geworden ist, um die Zukunft des Herkömmlings a priori zu strukturieren. Nur die Entkräftung der Vergangenheit - ihre Herabstufung zu bloßem »Rohmaterial« der Selbstformung - bewirkt, daß Menschen sich selber frei »wählen« oder »erfinden« müssen. Die Freien sind auch die, die man ohne Erklärung auf offener Straße stehengelassen hat. Andernfalls wären sie stabil programmierte Medien prägungsfähiger Generationen geblieben und würden ihr Leben als selbstsichere Vehikel angeeigneter Überlieferungen führen - in den Spielräumen der immer überraschungsoffenen Welt. In diesem Fall ginge die existentielle »Freiheit«, mit Sartre als wesentliche Negativität des Subjekts aufgefaßt, nahezu spurlos in der Anlehnung an die ererbten Muster auf.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 80-81

„Der für das Eindringen von Diskontiniutät offene Übergang vom »Erben« zum »Erwerben«, den Goethe sprichwörtlich machte (»Was du ererbt von deinen Vätern hast, // Erwirb es, um es zu besitzen. // Was man nicht nützt, ist eine schwere Last.« Faust I, Nacht.), würde dann in der Regel nicht allzu auffällig werden. Wenn im existentiellen (nicht jeden! HB) Dialekt von »Freiheit« die Rede ist, stellt dies gleichwohl unter Beweis, daß das generation grap sich nun auch für die Vielen gefährlich weit geöffnet hat. Die modernen Freiheitsdiskurse bezeugen die wachsends Asymmetrie von Zukünften und Herkünften. In Kafkas Roman Der Verschollene (Amerika) findet sich eine der wenigen brauchbaren Spuren von einsicht in die neue Lage, die man im 20. Jahrhundert notierte. »›Dann sind Sie also frei?‹, fragt jemand den Helden der Geschichte. ›Ja, frei bin ich‹, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.«“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 81-82

„Fürs erste kann es daher nicht darum gehen, etwas »aus dem zu machen, was man mit uns gemacht hat«. Die freigesetzten Subjekte müssen zu der Verlegenheit Stellung nehmen, daß die Vergangenheit im Hinblick auf sie praktisch nichts, jedenfalls nicht genug gemacht hat: Das traditionsohnmächtige Bisherige schuf aus ihnen etwas Halbherziges und Halbfertiges, etwas Unvollendetes und Unschlüssiges: Nur deswegen empfinden sie das Bedürfnis, im zweiten Durchgang aus sich sebst etwas Stimmiges, Überzeugendes, Kohärentes zu formen. Wahrhaft modern ist das von nichts aus dem Bisherigen ganz überzeugte Leben, das im experimentierenden Umgang mit sich selbst den Entschluß verwirklicht, die verblaßte Tradition durch intensive Hypothesen zu ersetzen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 82

„Der nach-revolutionäre Hiatus ist in jedem Subjekt, das sein Leben selbst in die Hand nimmt, als eine intim erlebte Herkunftsschwäche präsent. Wer sich selbst und seinen nur vage vorskizzierten Weg in die Welt ernst genug auffaßt, um sich zur eigen »Freiheit« zu bekennen, versteht ohne weitere Begründung: Nach dem großen Bruch reicht die gewöhnliche Herkunfsprägung nicht mehr aus, um den Ansprüchen der Zukunft zu genügen. Daß die entsicherte Zukunft überhaupt die Forderung »freier« Gestaltung an uns richtet, geht aus den Folgen des Bruchs hervor: Nicht allein die Generationenbeziehungen in den engeren familialen Umfeldern, sondern auch die Weltverhältnisse im ganzen, vor allem in der Arbeitswelt und auf den politischen Konflikt- und Chancenfeldern, sind so strak in Bewegung geraten, daß man, was auch immer geschieht, keine geistesgegenwärtigeren Fragen stellen kann als: »Stürzen wir nicht fortwährend?« und »Was tun?«. Sogar die scheinbar obskurantistische Frage: »Warum hat Gott die Revolutionen zugelassen?« wird nie inaktuell werden, sofern man sich die Lizenz zubillligt, sie in eine nicht ganz so katholische Perspektive zu übersetzen: Wie wären Welt und Leben zu gestalten, wenn das Dasein nach dem Hiatus nicht immer nur zu weiterer Selbstbloßstellung der Menschheit im Massaker und zu ihrer Selbsterniedrigung im Zirkus chronischer Wunschaufreizung geraten soll?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 82-83

„Die moderne Freiheit ist demnach die innere Spur des allzu weit geöffneten Hiatus zwischen den Verhältnissen der Vergangenheit und den Möglichkeiten, die die Zukunftswelt offeriert. Sie ist in »weltanschaulicher« Hinsicht zugleich das Zeugnis der Kluft zwischen dem gerundeten Kosmos der Alten und dem unendlichen Universum der Modernen. In den jüngeren Patienten der Subjektivität ist sie gegenwärtig, seit sie die Beunruhigung spüren, daß sie für das, was von ihnen gefordert werden wird, unterprogrammiert sind. Die Zukunft liegt vor ihnen als ein Ereignisfeld, das um vieles unberechenbarer aufklafft als in früheren Zeitläufen. Zwischen den alten Lebensmaximen und den neuen Verfügbarkeiten hat sich ein nicht mehr beherrschbares Mißverhältnis augetan. Wer »existiert«, gibt durch seine Seinsart selbst bekannt, ein ontologisches Halbfabrikat zu sein, zur Fertigstellung in der Werkstatt des »eigenen Lebens« bestimmt - schwankend zwischen den Polen von Weltverbesserung und Selbstverwirklichung.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 83

„Nach dem Abklingen der geschichtsphilosophischen Konjunktur läßt sich um vieles deutlicher und ohne spekulative Überspannung darlegen, welche spezifischeren Mißverhältnisse es sind, die sich in der überall bemerkten Asymmetrie zwischen Herkunftswelten und Zukunftsverhältnissen manifestieren. Die ontologische Kluft, in der die moderne Welt unheimlich zuhause ist, läßt sich mittels Aussagen über Vorher-nachher-Disproportionen in kleinteiligen Beobachtungen begreiflich machen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 84

„Der zivilisationsdynamische Hauptsatz lautet: Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 85

„Das heißt: Der chronische Überschuß an Mobilisierungen von Aktivitäten und die fortschreitende Auslösung tatbewegter Ereignisströme, die sich in objektiven Relikten niederschlagen, treibt das Weltverhältnis und Wirklichkeitserlebnis der Modernen in stetig wachsende Asymmetrien. Dieses Zuviel an neuen Kausal-Motiven ist für die globale kulturelle Entropie verantwortlich, die jeder Zeitgenosse seit dem frühen 19. Jahrhundert am Weltbefund unwillkürlich konstatiert, am eigenen Dasein nicht weniger als im Wandel der Mitwelten. Insbesondere das Hauptsymptom des beginnenden 21. Jahrhunderts, aktuelle Schulden mit neuen Schulden zu »bezahlen«, ist nur ein Symptom unter den vielen, die das ständige Vorangleiten und Vorwärtsstürmen im generalisierten Futurismus anzeigen. In der schon alltäglichen, pervers normalisierten Praxis der Schuldenumwälzung erkennt man die systemische Drift zu wachsenden Ungleichgewichten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 85

„Schieflagen solcher Art übersetzen sich in Begründungsschwäche und zweifelhafte Legitimität hinsichtlich sämtlicher Lebensverhältnisse. Improviation dringt ein in alles, was vormals »ständisch und stehend« zu sein schien: von den Geschäftsbeziehugen zu den erotischen Transaktionen, von den kulturellen »Ereignissen« zu den biographischen Mustern, vom reiseverkehr zu den »religiösen« Praktiken. Das Wachstum der Beliebigkeit ist, in Analogie zu Vorgängen in der monetären Sphäre, als symbolische Inflation zu beschreiben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 85

„Als wachender Überschuß an wilder Faktizität, die sich unerwartet und un kontrolliert bemerkbar macht, manifestiert sich in allen jüngeren zivilisatorischen Zusammenhängen der uneinholbare Vorsprung des Aktuellem vor dem Legitimen - des zufällig Gegebenen vor dem Begründbaren, des de facto vor dem de jure. Die Beteuerung der Wohlmeinenden, wonach »auch und gerade heute« Zukunft Herkunft »brauche«, zeugt wohl vom zunehmenden Problembewußtsein in bezug auf die Fragilisierung zivilisatorischer Kontinuitäten. Doch stellt sie nicht mehr dar als einen hilflosen Zwischenruf in der globalen Drift, die das Gegenteil demonstriert: Wer zeitgenössisch empfindet, weiß in sämtlichen Nervenenden, wie sehr das Zukünftige sich von der Deckung durch Herkunftsbestände losgemacht hat.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 85-86

„Die Unmöglichkeit, moderne Welt- und Lebensprozesse mit Hilfe von Symmetrieforderungen und Gleichgewichtsmodellen zu begreifen oder gar zu steuern, prägt sich dem zeitgenössischen Empfinden in allen Gebieten der Wahrnehmung mit zunehmender Dringlichkeit und wachsender Unheimlichkeit auf. Dies macht den in manchen Gebieten zu bemerkenden Funktionentausch zwischen vormals progressiven und vormals konservativen Einstellungen plausibel. Wenn noch vor kurzem die Allianz zwischen dem Bekenntnis zum Fortschritt und der Befürwortung von Deregulierung wie ein Automaitismus wirkte, tritte der Mut zur Regulierung allmählich ins progressive Lager über.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 86

„Niemand würde heute das Chaos willkommen heißen, weil die Ordnung versagt hat (oh, doch: auch heute gibt es noch genug Spinner, die das tun! HB), wie es Karl Kraus in einem unverzeihlichen Gedicht am Vorabdend des Ersten Weltkriegs formmulierte. Sogar im Lager der unentwegt Progressiven (aber nicht im Lager der Linken! HB) beginnt man zuverstehen, daß das Chaos die Regel ist, von der die Odnung die unwahrscheinlichste der Ausnahmen bildet.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 87

„Aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz, wonach die Summe der Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozeß regelmäßig die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte übersteigt, lassen sich, je nach Grundstimmung und Geschmack des Interpreten, mehr als zwanzig tragische und erheiternde Folgesätze ableiten.
1) Seit dem Hiatus werden viel mehr Optionen auf zukünftige Statusvorteile heraufbeschworen, als je durch legitime Herkunftsmittel oder Leistungsnachweise besichert werden können.
2) Es werden nach dem Vorstoß in die Freiheits- und Unternehmensära viel mehr Ambitionen geweckt, als je unter dem Obdach legitimer Ansprüche zu beherbergen sind.
3) Es werden in aller Welt viel mehr Wünsche nach Objekten des Konsums und des Genießens stimuliert, als durch real erarbeitete Güter bedient werden können.
4) Es werden auf breiter Front stets mehr Lizenzen zugestanden, als durch regulierende Beschränkungen zu überwachen sind.
5) Es werden überall mehr Ausnahmen in Anspruch genommen, als durch Modernisierungen der Regel wieder einzufangen wären.
6) Es werden im Gang der Liberalisierung mehr Hemmungen fallengelassen, als durch Hinweise an frühere Zurückhaltungen und neuere Fairneß-Regeln redomestiziert werden können.
7) Es werden im Kulturbetrieb der neuen »Gesellschaft« sehr viel mehr Traum- und Begehrenskräfte freigesetzt, als je durch Umverteilung von Gütern und Vitalchancen in beherrschbare Ausdruckswelten integriert werden können.
8) Es werden in den Subjekten mehr defensive und offensive Unzufriedenheiten gestaut und bis zur Schwelle von Ausdruckshandlungen verstärkt, als je durch massenkulturelle Abreaktionen erledigt oder durch Individualtherapien versöhnt werden können.
9) Es werden mehr Fahrten angetreten, mehr Reisevorhaben auf den Weg gebracht, mehr Starts, Landungen und Transfers durchgeführt, als durch Vorkehrungen zur Kollisionsvermeidung schadlos abzuwickeln sind.
10) Es werden im geld- und zinsbewegten Wirtschaftsgeschehen von Gläubigern stets mehr Kredite an Schuldner herausgereicht, als sich durch angemessene Rückversicherungen in Pfändern und realistischen Leistungserwartungen besichern lassen.
11) Es werden von Schuldnern in modernen Tauschgesellschaften, namentlich von Regierungen sogenannter souveräner Staaten, stets sehr viel mehr Kredite aufgenommen, als sich jemals mit Bona-fide-Rückzahlungsabsichten rechtfertigen ließen.
12) Es werden auf den Feldern moderner Politiker und Kultur stets mehr Täuschungen, Wahnkonzepte und Angebote an die Deliriumsbereitschaft des Publikums in die Welt entlassen, als je in realistische Vorhaben re-integriert werden können.
13) Es werden ständig mehr einklagbare Rechte von möglichen Inhabern formal gültiger Ansprüche geltend gemacht, als sich durch Prozesse vor bestehenden Gerichten bestätigen lassen.
14) Es wird ständig mehr empörungsbereite moralische Sensibilität herangezogen, als sich durch den Hinweis auf ständigen Strukturwandel der Mißstände beruhigen läßt.
15) Es wird im Lauf der modernen Lockerung der Sitten und ihrer Bilderwelten stets mehr erotisches Begehren aufgereizt, als durch lizenzierte Sexualität zu absorbieren wäre.
16) Es werden durch die Ausstrahlung der Bilder reichen Lebens weltweit fortwährend mehr Forderungen nach Teilhabe an Gütern und Statussymbolen hervorgerufen, als jemals durch nicht-kriminelle Formen der Umverteilung von Wohlstand befriedigt werden können.
17) Es werden ständig mehr Krankheiten entdeckt (erfunden! HB), neu beschrieben und diagnostiziert, als je durch die bestehenden oder künftigen Therapieeinrichtungen auf der Höhe der Kunst behandelt werden können.
18) Es verlegen weltweit immer mehr Menschen ihren Lebensschwerpunkt in großstadtartige Ballungsgebiete, als jemals zu Lebzeiten an den Vorzügen zivilisierter Urbanität werden teilhaben können.
19) Es werden ständig mehr soziale, technische und psychologische Probleme entdeckt und erfunden, als sich durch die Problemlösungsfähigkeit der lebenden Generationen bewältigen lassen.
20) Es werden der Problemlösungsfähigkeit künftiger Generationen zunehmend mehr Aufgaben aufgebürdet, als diese durch die Übernahme des Kompetenz-Erbes vorangehender Generationen und dessen Ergänzung durch eigene Erfindungskräfte meistern könnten.
21) Es werden im Gang der Modernisierung fortwährend mehr existentielle Optionen erschlossen, als sich je in Konstrukte persönlicher und kollektiver Identität integrieren lassen.
22) Es werden in den Netzwerken der Global Art ständig mehr Kunstwerke auf den Markt gebracht, als jemals durch Kennerschaften, Sammlungen und kunstwissenschaftlichen Resümees gewürdigt werden können.
23) Es werden im aktuellen Kulturbetrieb ständig sehr viel mehr Kandidaturen und Prominenz, das heißt auf mit Wahrnehmungsprivilegien ausgestattete soziale Positionen deponiert, als durch die vorhandenen Aufmerksamkeitskapitale honoriert werden können.
24) Es werden weltweit mehr Abfälle aus konsum- und industriegesellschaftlichen Lebensformen generiert, als sich auf absehbare Zeit in Recycling-Prozessen resorbieren lassen.
25) Es werden in Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphäre ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind.
Bei diesen Sätzen handelt es sich durchwegs um zivilisationsdynamische Aussagen von mittlerem Abstraktionsgrad, die sich am Prinzip der Folgenoffenheit von Innovationen, gleich ob es sich um technische Innovationen, Rechtsinnovationen, Verhaltensinnovationen oder Anspruchsinnovationen handelt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 87-90

„Hauptsächlich tragen die Sätze den gewandelten epistemologischen Verhältnissen Rechnung, unter denen Kulturtheorien auf der Höhe zeitgenössischer Begriffsbildungen und sozialer Selbstwahrnehmungen sich entfalten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 90-91

De jure sollten auch die aktuellen »Geisteswissenschaften« nach langen Abwehrkämpfen in ihr postkopernikanisches Stadium eingetreten sein. Im Blick auf das Universum der »symbolischen Formen« - von den Silben-Strukturen in Buschmann-Sprachen bis zu den Bauplänen komplexer Zivilisationen - können sie nun mit bordeigenen Mitteln die große Wende nachvollziehen, kraft welcher die modernen Naturwissenschaften von der klassischen Mechanik zur thermodynamoischen Prozeßlogik und von den Klassifikationssystem der älteren Zoologie zu den evolutionären Konzepten Lebenswissenschaften übergingen. In Umschwüngen dieses Typs handelt es sich um die Ausmessung der Asymmetrien, die in »nach vorne offenen« Prozessen auftreten. Man könnte ebenso von der Domestikation der Unbestimmtheit sprechen, ohne die sich Zustandveränderungen in komplexen Systemen nicht zur Sprache bringen lassen. (Vgl. Gerhard Gamm, Nicht nichts - Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, 2000; ders., Flucht aus der Kategorie - Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne, 1994)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 91

„Der zivilisationsdynamische Hauptsatz und seine fünfundzwanzig Untersätze ergänzen die Thesen Niklas Luhmanns über die Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme in der Moderne durch eine systemhistorische Dimension, wobei sie den Akzent auf die »Emissionen« bzw. die Wirkungsüberschüsse modernisierter Praxisspiele setzen. Mit ihrer Hilfe lassen sich kaum traktierbare und zu Mystifikation verführende Großbegriffe wie »Ereignis«, »Freiheit«, »Zufälligkeit« und »Zukunftsoffenheit« in diskrete Aspekte zerlegen und auf problematische Tendenzen überprüfen, ohne daß damit Zugeständnisse an eine verbrauchte »Kulturkritik« verbunden wären. Solche Exzesse ins Unplanbare kann auch die Zauberformel jüngerer Evolutionstheorien: »Emergenz«, nicht zur Ruhe bringen. Ja, der Verdacht drängt sich auf, man rede über »Selbstorganisation« und Neuentstehung von »Ordnung« am liebsten dann, wenn offenkundig ist, daß wir der Entropie bis auf weiteres nur mit Weihwasser begegnen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 91-92

„In ihrer Summe liefern diese Beobachtungen plausible Motive, die fortgeschrittenen Verhältnisse als das »Zeitalter der Nebenwirkungen« zu charakterisieren. Mit dem Ausdruck »Nebenwirkungen« wird der Überschuß nicht intendierter Konsequenzen über die bewußt herbeigeführten Effekte von Maßnahmen, Unterneh,men und Innovationen bezeichnet. Längst hat er sich aus dem pharmakologischen Feld gelöst, um sich in allen ökosystemischen Kontexten geltend zu machen. Er reformuliert die seit der Antike bekannte Entdeckung, daß menschliche Handlungen von einem Rauschen begleitet sind. In der altgriechischen Tragödie fand diese Bewußtwerdung ihr erstes Medium. Ihre zeitgenössiche Untersuchung ist in Instituten für Technikfolgenabschätzung, Konflikttheorie, Unfallstatistik und Katastrophenprognostik zuhause - um vom Alarm-Feuilleton nicht zu reden. Das Prinzip Nebenwirkung, dessen Entfaltung für die von ökologischen Themen dominierte jüngere Phase des »Zivilisationsprozesses« bestimmend wurde, ist eine Erscheinungsform der Asymmetrien, die durch das Eindringen von willkommener und unwillkommener Mutation in die Kopiervorgänge zwischen den Kulturgenerationen verstärkt werden. Für das aktuelle Kulturklima ist der wachsende Verdacht bezeichnend, die Summe der Nebenwirkungen überwiege die der intendierten Hauptwirkungen um ein Vielfaches.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 92

„War die Moderne das Weltalter der Projekte, erweist sich die Postmoderne als das Zeitalter der Reparaturen (die Postmoderne hat noch nicht angefangen, es sind überhaupt keine Reparaturen in Sicht, also geht die Moderne erst einmal noch weiter - spätmodern; HB).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

„Waren Fortschritt und Reaktion die Leitbegriffe des 19., sind Pfusch und Reparatur die des 21. Jahrhunderts (keine Reparatur in Sicht; HB).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

„Größere Politik scheint nur noch als ausgeweiteter Pannendienst möglich (kein Pannendienst in Sicht; HB).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

„Von dem phantasiert die wohlmeinende politische Theorie seit einer Weile unter dem Stichwort Global Governance. Das Stichwort bezeichnet ein Vorhaben, das praktisch und faktisch nicht gelingt, weil in der Welt der lokal zersplitterten Agenden immer anderes wichtiger sein wird als die Sorge ums Ganze. Auf den nach wie vor anarchisch verfaßten bzw. unverfaßten höheren Ebenen des Weltgeschehens ist die Koordination von Störfall und Reparatur (keine Reparatur in Sicht; HB) noch schwerer zu erreichen als auf nachgeordneten Stufen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

„Dieser Wandel der Gestaltungskraft von Politik wird von den demokratischen Öffentlichkeiten der Gegenwart als ein defensives Hinterher-Regieren nach Zwischenfällen und Notständen wahrgenommen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 93

„Zunehmend erweisen sich die staatlichen Agenturen als Figuren der Drift von labilen zu labileren Zuständen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 94

„Der altaufklärerische Glaube an eine seinsgesetzlich garantierte Symmetrie von Problemen und Lösungen erodiert mit jedem Tag mehr.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 94

„Das bewußte Leben in der durch die Logik wachsender Asymmetrien bestimmten Welt zieht darum unwillkommene Zuschauerprivilegien nach sich. Man sitzt meistens in der ersten Reihe, wenn es gilt, dem überdehnten Staat bei der Selbstverwaltung seiner Ohnmacht zuzusehen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 94

„Ob Wahrnehmungen dieser Art einen zureichenden Grund bieten, die Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte insgesamt in Abrede zu stellen - wie es von Hegel bis Gumbrecht gelegentlich erwogen wurde -, mag offenbleiben. Gewiß ist jedoch, wir sind nicht bloß dazu verurteilt, wie Neurath meinte, das Schiff der modernen Zivilisation auf offener See umzubauen, ohne es je zur gründlichen Überholung in ein Dock bringen zu können. Wir nehmen Anzeichen wahr, daß das hektisch reparierte Schiff bei voller Fahrt sich von selbst in seine Bestandteile zerlegt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 94

„Napoleons ... Mutter Laetitia ... entwickelte ... bei neuen Bravourstücken ihres Sprößlings zu bemerken: »Wenn das nur gutgeht auf die Dauer«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 114

„Napoleon ... will die Dynastie schaffen, von der widerwillig schon verstanden haben muß, daß es sie niemals geben kann. Er weiß und will nicht wissen, daß Monstren keine Kinder haben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 121

„Wie beiläufig gelang ihm (Walter Serner; HB) in der älteren Version der Lockerung die bedeutendste Begriffsbildung seines Jahrzehnts für die Existenz im aufklaffenden Raum: »Lückenwut«. Sie ist die stärkste Version dessen, was Heidegger fast zur selben Zeit als »Geworfenheit« bezeichnete.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 141-142

„Man findet den faschistischen Impuls - den Willen zum Weiterkämpfen nach dem Krieg der Kriege - an vielen Orten, auch solchen, an denen er sich nicht so nennt, nicht zuletzt bei denen, die sich besonders lauthals als dessen Gegenteil deklarieren (die wahren Faschisten sind stets die Linken, erst recht dann, wenn sie sich »Antifaschisten« nennen; HB). Faschismus ist die Zustimmung zur Unmöglichkeit der Demobilisierung. Er manifestiert sich in dem Bestreben, unter Waffen und im Angriff zu bleiben ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 146-147

„Faschismus ist der Wille zum Dasein im ununterbrochenen Aufmarsch - Mussolini definierte ihn als den »Horror vor dem bequemen Leben«. Faschismus ist die Stimmung, die sich in der Überzeugung kondensiert, das Wort »Nachkriegszeit« sei nicht mehr als eine Verbindung sinnloser Silben (Morpheme; HB). ER gründet in dem nach 1917 und 1918 links wie rechts epidemisch gewordenen Glauben, ein Krieg ohne ein Danach habe begonnen, ja, dieser umfassendere Krieg sei seit jeher in Gang gewesen. Man dürfe sich der Einberufung in ihn nicht entziehen. Er speist sich aus dem Antrieb, der dem Dadaismus diametral entgegengesetzt ist. Um mit Oswald Spengler zu reden: Faschismus ist die Pose von Leuten, die die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 147

„Ohne Zweifel war Lenin einer der wichtigsten Impulsgeber für sämtliche Bewegungen, die den Weltkrieg in einen Folgekrieg weitertragen wollten. “
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 148

„Der Bezugsrahmen der Oktoberereignisse (von 1917; HB) war die »historische« Selbstermächtigung einer zahlenmäßig unbedeutenden Gruppe von Putschisten, die im Falle ihres Erfolgs als Revolutionäre gelten wollten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 149

„Für Lenins magisch-analoges Denken bedeutete die »Februar-Revolution« (Anführunsgstriche von mir; HB) nichts anderes als das Gegenstück zu der von Radikalen seit jeher verachteten »bürgerlichen« Revolution von 1789 (allerdings gab und gibt es es in Rußland gar kein Bürgertum! HB). Der Führer der Ereignisse nach dem Oktober 1917 war entschlossen, direkt vom 14. Juli 1789 in den September 1793, den Beginn des Terrors (der Schreckensherrschaft; HB), überzugehen, ohne den Fehler der Jakobiner zu wiederholen: daß sie eben den Männern des Thermidor (... als der zivile Rückschlag gegen den Terrorherrscher um Robespierre begann) zuviel Spielraum für Oppsition gegen die Diktatur gelassen hatten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 151

„Das wichtigste Instrument zur Implantierung einer Politik à la 1793 in die russische Nachkriegsrealität war die von Lenin ersonnene »Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen die Konterrevolutionäre und Sabotage« (abgekürzt WeTscheKa oder Tscheka): Mit ihrer Gründung im Dezember 1917 - nur wenige Wochen nach dem Putsch - stellte er unter Beweis, wie gründlich er die Lektion des französischen Terrors gelernt hatte. Er wußte, daß die Vollbeschäftigung der Guillotine seinerzeit nicht genügt hatte, um die Diktatur der Tugend zu festigen: Nie w+ürde eine Revolution in Sicherheit sein, solange sie Individuen am Leben ließ, die zu einer Aktion wie der des Thermidor fähig bleiben. Die Gefahr für die junge Revolution ging nach seiner Analyse nicht so sehr vom Einsatz terroristischer Mittel und dem Widerwillen der »Bourgeoisie« (Anführunsgstriche von mir, denn, wie gesagt, eine Bürgertum gab und gibt es in Rußland nicht; HB) gegen sie aus, sondern von ihrer halbherzigen Anwendung. Seine historische Aufgabe würde den Terror erst in dem Augenblick erfüllen, wenn es niemand mehr wagte, sich gegen ihn aufzulehnen. Die historische Mission der Tscheka bestand darin, den Mut zur Verneinung der bolschewistischen Herrschaft im Lauf der Zeit zu einer unrussischen Eigenschaft zu machen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 152-153

„ In diesem Land würde es niemals einen Thermidor geben: Lenisn Entschlüsse von 1917 und 1918 ergeben erst Sinn im Licht dieses psychopolitischen Axioms. Die »Dekrete über den Roten Terror« vom September 1918 schrieben nicht nur der Geheimpolizei scharfe Direktiven vor, sie schufen darüber hinaus die doktrinalen Anfänge des Systems der »Besserungslager« (GULag), in denen das Konzept der Lebensvernichtung durch Arbeit unter dem Vorwand der politischen Erziehung in die Praxis umgesetzt wurde. Noch ahnte niemand, was die Erschaffung einer solchen Gegenwelt bewirken würde: In den lagern entwickelte sich ein zweiter Arbeitsbegriff, der den ersten bloßstellte. Die Strafarbeitswelt bildete die Parodie auf den Archipel der Normalarbeit und verlieh dem Begriff »Arbeiterklasse« einen sklavischen Klang, während diese in offiziellen Reden zum Träger aller Tugenden erhoben wurde.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 153

„Lenins Verlautbarungen des hektischen Jahres 1918 verraten, wie schnell sich für ihn der Stil des zweiten Krieges verdeutlichte. Aus der Sicht des Schreibtisch-Liguidators sollten sich Exekutionen in Desinfektionsmaßnahmen verwandeln: Die Exterminierung von Gegnern glich glich für ihn der Beseitigung von schädlichen Insekten. Lenins Artikel vom 7. und 10. Januar 1918 über die »Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer« erwiesen sich auch terminologisch als riichtungweisend.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 160

„Niemand hat die Informalisierung des Scharfrichter-Wesens in der russischen »Oktober-Revolution« (Anführunsgstriche von mir; HB) und seine in der Stalin-Ära erreichte Inflation präziser erfaßt als Alexander Solschenyzin: »Die Tscheka ... war ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Straforgan, das in einer einzigen Instanz die Kompetenzen der bespitzelung, der Verhaftung, der Voruntersuchung, der Anwaltschaft, des Gerichts und der Urteilsvollstreckung vereinigte.« (Ders., Der Archipel Gulag, Band 1, a.a.O., S. 39).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 160-161

„Stalins Diktum »Menschen weg, Problem weg« formuliert den russischen Weg zur Sachlichkeit.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 165

„Generalstaatsanwalt Januarjewitsch Wyschinsky - ein kunstgerecht nach oben Gestürzter - ... schloß ... seine Ausführungen am 11. März 1938 mit den Worten, daß alle anderen (er hatte für zwei der Angeklagten nur langjährige Lagerstrafen gefordert) »wie räudige Hunde erschossen werden müssen! Unser Volk verlangt das eine: Zertretet das verfluchte Nattrengezücht"! Die Zeit wird vergehen, Unkraut und Disteln werden die Gräber der abscheulichen Verräter überwuchern .... Wir, unser Volk, werden weiterhin mit unserem geliebten Führer und Lehrer, dem großen Stalin, den vom letzten Abschaum und Unrat der Vergangenheit gesäuberten Weg beschreiten, vorwärts und immer weiter vorwaärts, dem Kommunismus entgegen!«“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 167, 168-169

„»Ich gestehe alle meine Verbrechen. Was für eine Rolle würde es für die Bedeutung dieses Falls spielen, wenn ich hier vor Ihnen versuchen wollte, die Tatsache zu beweisen, daß ich von vielen der Verbrechen ... erst hier im Gerichtssaal etwas erfahren habe?« (Christian Rakowski, zitiert nach: Robert Conquest, Der Große Terror, a.a.O., S, 445).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 169

„Die nach-stalinistische Sowjetunion hätte ihre revolutionäre Dynamik allein in einem noch weiter forcierten Sturz nach vorn absichern können. Ein Subjekt für diese Wahnbewegung jedoch ließ sich nicht finden (weil sie gar nicht mehr steigerbar war; HB), ein drittes Stockwerk der Terror-Überbietung war nicht mehr zu errichten - es hätte den nuklearen oder chemischen Krieg gegen das noch immer unzufriedene Sowjetvolk erfordert. Als einziger kam Mao Tse-tung diesem Ansatz indirekt nahe, als er gegenüber Chruschtchov gelegentlich die Idee äußerte, er würde gern die Hälfte des chinesischen Volks, das damals 600 Millionen Menschen zählte, für einen siegreichen Atomkrieg gegen die USA opfern, wenn damit die Hegenomie des Kommunismus zu sichern wäre.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 178

„Da nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an weitere Steigerungen der Gewalt nach innen nicht ernsthaft zu denken war, so intensiv auch in den Lagern die Routinen der Lebensvernichtung durch Arbeit weitergingen, zwang sich statt dessen die von Chruschtchov eingeleitete Wende in die Entstalinisierung auf. .... Sie brachte einen verzögerten Thermidor hervor ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 178-179

„Der Kalte Krieg ließ sich ... als Ersatz für die ausbleibende Iteration des Stalinismus verwenden, doch taugte er nicht zur Fortsetzung des Mythos vom großen Oktober. Immerhin konnten sich Lenin und Stalin gemeinsam der Leistung rühmen, einen Thermidor zu ihren Lebzeiten unmöglich gemacht zu haben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 179

„Mit der Zäsur der Moderne werden im Bereich der bildenden Künste die erreichten Standards außer Kraft gesetzt und als »akademische« Hemnisse kreativer Fähigkeiten verspottet. An die Stelle des selbstverstärkenden Könnens-Kreises tritt ein Regime selbstverstärkender Regelverletzungen, ja eine Meta-Regel der selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten, bis hin zu mutwilligen Unterbietung aller Erwartungen an das artistische Wesen der Kunst. Seither operiert das Pop-Segment des modernen Kunstbetriebs offensiv auf der Abfall-Stufe, als sollte die Doktrin aingeübt werden, nur das, was weniger als Kunst ist, könne noch wirkliche Kunst, ja mehr als Kunst sein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 198

„Die Allianz der beiden Selbstverstärkungssysteme aus kreditbasiert-zinsgetriebener Wirtschaft und innovations-getriebenem Maschinenbau resultierte in dem bis heute mächtigsten Komplex halbblind vorwärtsstrebender Tendenzen, die man noch immer unter dem ungeschickten Terminius »Kapitalismus« zusammenfaßt, obschon es, wäre es um einen wahren Namen gegangen, von Anfang an Techno-Kreditismus hätte heißen müssen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 199

„Durch die Aufhebung der Golddeckung im Jahr 1971 war ... demonstriert worden, wie wenig die USA gesinnt waren, ihren Drang zur Überdehnung ihrer Ausgaben zu zügeln - ihr Leitwährungsprivileg bot ihnen auch ohne Goldmagie weiterhin die Chance zu Kontoüberziehungen ohne Limit.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 209

„Daher kann der 15. August 1971 als das zweite Schicksalsdatum der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte gelten. Damals gab der US-Präsident Richard Nixon (1913-1994) die Abkehr der Vereinigten Staaten vom Prinzip der Golddeckung des Dollars bekannt. An eben dem Tag, an dem die katholische Kirche die Aufnahme der Mutter Gottes in den Himmel feiert, begann vor den Augen der ganzen Welt die Höllenfahrt des »postmodernisierten« (Anführunsgstriche von mir; HB) Geldes, das sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte nicht nur von der Bindung an Edelmetalle losmachte. Es ließ auch mehr und mehr die Grundlage in der Besicherung durch verpfändbares Eigentum hinter sich (Gunnar Heinsohn & Otto Steiger, Eigentum, Zins und Geld, 1996), um sich einem phantomhaften System von Erwartungs-Erwartungen und Brutto-Inlands-Prognosen anzuvertrauen - was man den makroökonomischen Stil des kontrollierten Sturzflugs nennen könnte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 209-210

„Die Kluft zwischen dem Goldpreis von einst und dem von jetzt verrät nicht nur die Machtergreifung des Inflationismus, der von der Mainstream-Ökonomie gern bagatellisiert wird, sofern man seine Existenz nicht rundweg leugnet; auch bringt sie nicht bloß das steige Mißverhältnis zwischen knappen Beständen und hoher Nachfrage zum Ausdruck. Die wahre Bedeutung der Erhöhung des Goldpreises um das fast 50fache des garantierten Anfangswerts binnen weniger jahrzehnte liegt darin, daß sie einen abgründigen Wandel der Glaubensverhältnisse hinsichtlich ökonomischer Wertbestände bezeugt. Der Wertglaube selbst ist seit geraumer Zeit in die inflationäre Drift einbezogen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 210

„Einen angemesserenen Begriff für die aktuellen Zustände hat jüngst der Publizist Gabor Steingart in die Debatte geworfen, als er zur Charakterisierung der überspannten Ungleichgewichtswirtschaft den Terminus »Bastardökonomie« vorschlug: Er bezeichnet die zutiefst illegitime, von den Akeuren regelmäßig geleugnete, sachlich jedoch evidente Komplizenschaft zwischen Regierungen, Notenbank-ouverneuren und Hochfinanz-Agenturen, die - wahrscheinlich ohne einem Masterplan zu folgen - kein anderes Ziel verfolgt, als den erreichten Grad an Unhaltbarkeit durch den Übergang zu einem noch höheren Grad derselebn Verlegenheit zu »stabilisieren«. Der »Bastard« ist in diesem Fall der circulus vitiosus, der aus der pervers-intimen Beziehung eines enthemmten Staatsausgabensystems mit einem aus den Fugen geratenen Bankensystem entsprang. (Gabor Steingart, Unser Wohlstand und seine Feinde, 2013, S. 135 ff., besonders S, 203.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 214

„Immer häufiger erreichen Staaten, Unternehmen und Privathaushalte den Punkt, von dem an der Kredit auch dem Tüchtigen die Zukunft nicht mehr erschließt, sondern versperrt: Wachsende Schuldendienste zehren immer größere Teile aktueller Einkünfte auf - bis die Linie überschritten ist, jenseits welcher ältere Schulden nur noch durch eine Kaskade neuer Schulden in ein auf Dauer paralysiertes Morgen verschoben werden. Diese Situation verdient es, »posthistorisch« genannt zu werden: Von ihr wird Arnold Gehlens klassische Definition der Posthistoire als Zustand hoher »Beweglichkeit über stationären Grundlagen« vollendet erfüllt - indes man das Wort »stationär« gern durch das Wort »unhaltbar« ersetzen möchte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 218

„Frühe »Kulturen« - aufgefaßt als Ensembles von Obsessionen, die mehraltrige menschliche Kollektive im Griff halten, gleich ob es sich um Sippen, Stämme oder Ethnien handelt - erleben die unverhandelbare Notwendigkeit ihres Daseins in der von ihnen selbst generierten und ihren Teilnehmern ungefragt aufgedrungenen Überzeugung, daß die Lebensweise, die den Mitgliedern des Kollektivs eingeprägt wurde, es unter allen Umständen verdient, im Dasein der Nachkommen wiederholt zu werden. Wer einer Kultur in diesem Sinn »angehört«, muß sich früher oder später dazu bereit erklären, eine durch Elternschaft zu bestätigende Besessenheit weiterzureichen. Was man von den Alten selber empfangen und erlitten hat, soll um jeden Preis in den Jungen fortleben. - Kein Mensch der alten Welt hat dieses Axiom bezweifelt. Für die Angehörigen der älteren Fortpflanzungsketten sind Wiederholbarkeit und Wahrheit ihres modus vivendi ein und dasselbe. Eigene Kinder haben, das heißt zunächst nicht mehr und nicht weniger als dafür sorgen, daß hinreichend ähnliche Kopien der Älteren in den Jungen entstehen. Ähnlich genug scheinen die Nachkommen geraten zu sein, wenn die unvermeidlichen mutativen Variationen, genetisch wie kulturell, durch die konstanten Muster in Schach gehalten werden. (Vor dem Zeitalter der Schrift wird dieser Effekt durch die Unduldsamkeit des »Habitus« bzw. der neuronal gefestigten Verhaltensmuster garantiert. Schrift erlaubt die Auslagerungen von Intoleranz ins äußere Medium bzw. in die »Institutionen«. Sie setzt die Flexibilisierung frei, die man eines Tages als Navigation in den »Spielräumen des Verstehens«, das heißt als Hermeneutik bzw. als Ausübung des Rechts auf Subjektivität, beschreibt.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 222

„An Mut zur Erziehung hat es den Alten nie gefehlt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223

„In den kulturspezifischen Imperativen fand (und findet; HB) alles wesentliche Sollen im Modus der Vorentschiedenheit Platz.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223

„Der größte Teil des relevanten Wissens ältester Tage war in obligatorischen Erzählungen niedergelegt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223

„Von Urzeiten her galten die fortpflanzungsbereiten Besessenen als Inbegriff der normalen Menschen. Normalität ist Besessenheit ohne Trance. Was war homo sapiens in früheren Tagen anderes als ein von Silben, Jagdtechniken und Heiratsregeln bewohntes Tier?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223

„Die Normalen der ältesten Zeiten hatten nie eine Wahl, indessen sie in der Nuzeit durchwegs Menschen sind, die anders könnten, indes sie vorgeben, der Notwendigkeit zu gehorchen. Während die Modernen sich darauf berufen, durch Arbeiten, Bedürfnisse und Projekte besessen - das heißt »beschäftigt« - zu sein, äußert sich die jede zweite Möglichkeit ausschließende Besessdenheit der frühen Menschen in ihrer Sorge um die modellnahe Reproduktion ihrer ererbten Lebensweise. Für sie sind Fortpflanzung und Wirklichkeit dasselbe. Obsession und Beschäftigung sind für sie noch nicht zu unterscheiden. Wer damals nicht Vehikel seiner Kultur sein konnte, hatte keine »Wirklichkeit« zu vermitteln. Kulturvehikel wurde, wer seine Kinder aus der Ahnenwelt in die Nachkommenwelt beförderte - und so dafür sorgte, daß die Kette der Nachahmungen nicht reißt, weder genetisch noch didaktisch.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 223-224

„Die frühe Kultur überwältigt die Ihren durch Alternativlosigkeit, und nur als überwältigende hält sie sich am Leben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 224

„Die »Wirklichkeit« der Modernen wird dagegen überwiegend aus der Nachahmung von modellgebenden Zeitgenossen bestimmt. Mit der Heraufkunft des Aktualismus geht im Zivilisationsprozeß die nicht-genealogische Nachahmung in Führung. Gabriel Tarde (1843-1904) war der erste Soziologe, der im unabwendbaren Sieg der Mode über die Sitte das starke Merkmal der zeitgenössischen Zivilisationsdynamik erkannte. Seit dem Erscheinen seines Werks Über die Nachahmung, 1890, stünden der modernen »Gesellschaft«, wäre sie die lernende Kommune, die zu sein sie vorgibt, die Konzepte zur Verfügung, um die Ablösung der Nachahmung von den generativen Übermittlungen und ihre Umstellung auf außergenealogische, mehr oder weniger gleichzeitige Ausgangspunkte zu begreifen. Daß sie davon bis heute nichts hören wollte, zählt zu dem Merkwürdigkeiten moderner Wissenskultur.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 225

„Durch die überwiegende Nachahmung des Neuen gerät das, was man das »kulturelle Erbe« - die mehraltrig bewährte Nachahmung - nannte (und nennt; HB), in jähen Verfall und macht der einaltrigen Nachahmung, der Orientierung an aktuellen und unerwiesenen Mustern, Platz.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 226

„Hauptfaktoren des Mimesis-Wechsels ...: zum einen die Preisgabe eigener Überlieferungen aufgrund des Anschlusses an eine überlegene Zivilisation (Ökumenismus), zum anderen die erzwungene Teilnahme an einer Hybridisierung von oben (Imperialismus), an dritter Stelle die Sezession einer Teilkultur von der Leitkultur unter dem Vorwand der Rückkehr zu den wahren Quellen (Reformation und Renaissance).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 227

„Alle drei Formen des Nachahmungswechsels erweisen sich in zivilisationsgeschichtlicher Sicht als Nährböden der Abweichung und der Mehrdeutigkeit. Aus ihm erwuchsen unter den Nachkommen entwickelter Völker jene unvorhersehbaren, in Hegels Terminologie »welthistorischen« »Individuen«, die weder willens noch fähig waren (und sind; HB), der prekär gewordenen Wiederholung aus subalterner Psoition zu dienen. Nota bene: »Individuum« im spezifischen, nicht bloß genetischen Sinn ist, wer im eigenen Dasein einen Kulturwandel austrägt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 227

„Jene unruhigen Einzelnen, die aufgrund imposanter »personaler« Inspirationen anderes im Sinn hatten (und haben; HB) als die unveränderte Weitergabe des Bisherigen - merke ebenso: Inspiration ist Resultat des Zusammenstoßes widersprüchlicher Codes in einer Psyche -, jene Beunruhiger also, die es wagten (und wagen; HB), an moralische Verwandlung, an kollektive Metanoia, an politische »Verwirklichung« philosophisch-kosmologischer Konzepte zu denken: Sie rückten (und rücken; HB), seit früh-hochkulturellen Tagen ein in die Kohorten der »schrecklichen Kinder« - all dieser aus der Art Geschlagenen, der Verräter am Herkommen und Totengräber des Habitus, von denen moderne Zeiten behaupten werden, sie hätten die Menschheit »vorangebracht« (Anführunsgstriche von mir; HB). Sie waren es, die ihre Herkunftskulturen mit unwillkommener Variation in Unruhe versetzten (und versetzen; HB): in der Antike selten, im Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance bereits in höherer Frequenz, in der Moderne chronisch und mit unbeirrbarer Angriffslust, um nicht von Angriffspflicht zu reden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 227-228

„Hatte nicht einer Wortführer der Jugendbewegung um 1900 in Deutschland allen Ernstes davon gesprochen, daß die Menschheit von jeher ständig sich selbst einen feind gebiert: »ihre junge Generation, ihre Kinder« (Gustav Wyneken, Schule und Jugendkultur, a.a.O., S. 13)?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 228

„Hat man zugegeben, daß das Eigentümliche von Kultur in Replikationskompetenz besteht, wird der hartnäckige Konservatismus der frühen Völker umittelbar verständlich. Whitehead: »Es ist der Anfang der Weisheit, wenn man begreift, daß die Routine das Fundament des sozialen Lebens ist« (ders., Abenteuer der Ideen, a.a.O., S. 207). Ohne den Willen zur selbstähnlichen Wiederholung in nachkommenden Generation und ohne die wache Sorge um die Eliminierung maligner Variation hätten die älteren Träger kultureller Lebensmuster ... ihre langen Reisen im Zeitenstrom nicht bewältigen können. Paläontologen wollen anhand von Knochenfunden herausgefunden haben, daß steinzeitliche Hirschjäger in Nordwesteuropa ihre Ritual bei der Opferung der Beute über zehntausend Jahre hin konstant wiederholten, was einer Reproduktionserfolgsreihe von vierhundert Generationen entspricht.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 233

„Andererseits gilt: Seit dem Auftreten der ersten großen Originellen in der Antike ist dem Zivilisationsprozeß das fortschreitende Riskantwerden der Kopiervorgänge inhärent. Man könnte auch sagen: der neue Modus der Überlieferung - die Verdoppelung der Kultur durch die alphabetisierende Schule und die Infiltrierung erster Formen von »Wissenschaft« - fördert die zunehmende Widerständigkeit neuer Generationen gegen ihre Prägung durch die Autorität der Vorfahren, bis schließlich in der Moderne mit den Super-Institutionen ... prinzipiell innovationsorientiertze Kräfte auftreten. Sie bieten der Parteinahme für die herrschende Sitte selbstbewußt Paroli ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 235

„Ob er will oder nicht, der von der Sittenmacht überwältigte Mensch küßt immer den Stiefel der Überlieferung. .... Er findet seine Genugtuung darin, aus sich selbst nichts anderes zu machen als das, was das Herkommen aus ihm gemacht hat. Die Ehre des Einzelnen besteht in den älteren Kulturen darin, ein Sproß seiner Eltern oder ein Exemplar seines Stammes zu sein. Du brauchst nur den Namen deines Vaters oder deines Volks oder deiner Polis zu nennen, und jeder weiß, mit wem er es zu tun hat. .... Das Verfehlen der ethnischen Norm wäre die Schande, die das mißglückte Exemplar seines Stammes unter den Erdboden versinken ließe.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 238-239

„Die Bejahung der lokalen Präge-Gewalt ist das Wesen der ursprünglichen Ethik, sofern sie überall den impliziten Grundsatz: »Du sollst der Nachkomme deiner Vorfahren sein« ins Fleisch der nächsten Generation einbrennt - je impliziter, desto automatischer und wirksamer.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 239

„Der Kopierfehler zwischen den Generationen, gewollt und ungewollt, kommt dem Effekt gleich, den man nach Augustinus als die Erbsünde bezeichnet. Kopierfehler wiederholen und verstärken sich in der Folge - zunächst nur in der westlichen Welt, die vom 14. und 15. Jahrhundert als erste Zivilisation systematisch auf Neuerung ausgeht - so oft und so lange, bis das Kollektiv in seiner Mehrheit nur noch ein Aggregat aus Deserteuren aus dem älteren Herkommen darstellt -, womit die Definition einer modernen »Gesellschaft« geboten wäre. Modern ist diese in dem Maß, wie sie ihre Vorbilderr und Verhaltensmuster im Einaltrigen und Gleichzeitigen findet.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 240-241

„In Wahrheit ist die die Neigung der Vatermacht-Ordnung zur maskulinen Seite hin nur eine bewährte List der kulturellen Evolution - so wie die Bevorzugung der weiblichen Seite bei der Betreuung der Nachkommenschaft unter den Lebendgebärenen eine andere List der biologisch-präkulturellen Evolution darstellt, um Fortpflanzungserfolge langfristig zu optimieren. Der weisungsbefugte Vater verkörpert vielmehr die Humanisierung der Wiederholung unter den Bedingungen der förmlichen Transmission. Für die Weitergabe einer Kultur ist es von einer bestimmten Stufe der Evolution an nicht mehr damit getan, wenn die Typen eines lokalen symbolischen Systems im Copy-Shop der Sozialisation auf die Nervensysteme der nachfolgenden Generationen überspielt werden, mitsamt den Härte-Dressuren, die in alter Zeit zur psychischen Grundausrüstung der Nachkommenschaft gehörten. Der Kopiervorgang muß über die mechanisch-imitative Dimension hinaus personalisiert werden: Er übersetzt sich in ein Geschehen, das uaf dre Vaterseite die Geste der Übergabe, auf der Sohnesseite die Geste der Übernahme ins Spiel bringt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 245

„Die humanisierte Wiederholung zwischen Vätern und Söhnen gerät zu einem Psychodrama, das nie ohne Risiko des Mißlingens auszuführen ist. Nur die erbrechtlich und psychodynamisch komplette Figur der Weitergabe, die sich bei den juristisch begabten Römern aus traditio - wörtlich: der Aushändigung eines Guts - und successio - dem Nachrücken des Rechtssubjekts in die Würden, Rechte und Pflichten des Erbes - erfüllt den Tatbestand der personalisierten Wiederholung, den man im starken Sinn des Wortes Überlieferung nennt. Ihr richtiger Name lautet Transmission - wörtlich: die Weitersendung.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 246

„Durch Transmissionsrituale gelngt es älteren Hochkulturen, das Intervall zwischen den Generationen zu formalisieren und am schädlichen Aufklaffen zu hindern.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 246

„In diesem Vorgang erweisen sich Psotionoerung und Personen-Schöpfung als dasselbe. Es genügt für den Vater nicht, einen leiblichen Sohn gezeugt zu haben - er muß ihn auch als solchen »annehmen«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 246

„Die erfolgreichsten Traditionskulturen snd jene, die sich daruif verstanden, das Sensibelste mit dem Stabilsten in eins zu setzen: Si bauen darauf, die Seelenarbeit der Söhne werde die Stärken des Vaters integrieren und ihre Schwächen ausgleichen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 251

„Die Botschatt des Mythos ist rational zu entziffern: Läßt man den Abgrund zur Fortpflanzung zu, so legt er unvermeidlich sein stärkstes Wesensmerkmal, das Prinzip Diskontinuität, in seine Brut. Die setzt sich nicht umsonst aus lauter vom Herkommen losgerissenen Mißgestalten zusammen, von denen die Mehrzahl zugleich die ersten, die einzigen und eo ipso die letzten ihrer »Art« sind. Der wahre Name des väterlichen Tartaros ist Bodenlosigkeit: Nach Hesiod würde ein eherner Amboß neun Tage und Nächte im freien Fall stürzen, bevor er auf dem Grund aufschlüge.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 261

„Wenn der Abgrund Vater wird, trItt sem »Erbgut« in einer Nachkommenschaft aus Lebewesen zutage, die keinen Halt in gattungs- und artgemäßen Formen finden. Allen diesen Monstren, Abgrundwesen und grellen Schimären ist ihre mahnende Funktion im Imaginären der griechischen Kultur gemeinsam. Da die Selbstauffassung der Griechen durchwegs auf der Entgegensetzung von Zivilisation und Wildnis oder besser: von Stadt und undomestizierter Natur beruht, verkörpern die monströsen Lebewesen der Urzeit nicht anders als die Mischgeschöpfe am Rand der Welt, von denen Herodot soviel Seltsames zu berichten weiß - die zivilisatorisch unverzichtbare Aufgabe, die Menschen der kultivierten Zone unablässig an ihr Engagement zugunsten des human-politischen modus vivendi zu erinnern. (Dem vorsokratischen Philosophen Empedokles (ca. 495 - ca. 435) sind Ansätze einer Evolutionstheorie zu verdanken, in der hesiodische Motive rationalisiert werden. Ihm zufolge brachte die Erde anfangs zusammenhanglose Glieder hervor: »Ihr entsprossen viele Köpfe ohne Hälse, Arme irrten für sich allein umher, ohne Schultern, und Augen schweiften allein herum, der Stirnen entbehrend.« [Die Vorsokratiker, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, 1968, S. 216]. Empedokles führt die hesiodischen Komposit-Monstren auf disiecta membra zurück, die alle möglichen Zusammensetzungen erproben, ehe sie sich zur stimmigen Gestalt fügen. Man könntein seinen isolierten Gliedern eine organische Vorübung zum Elementarismus sehen. Die wohldefinierte Spezies ist auch bel diesem Denker spätes Resultat, nicht Ausgangspunkt der Entwicklung. Noch in Johann Gottlieb Herders Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784-1791], Band I, S. 273 f., wirkt das vorsokratische Motiv einer experimentierenden Natur weiter, in welcher die »Buchstaben« der organischen Gestalten sich schließlich zu einem »natürlichen Consensus der Formen« bzw. zu wohldefinierten Spezies und Gattungen zusammensetzen, indes Mißgestalten oder »Bastardarten« wie der Centaur, der Satyr, die Scylla, die Meduse nicht reproduktionsfähig sind.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 261-262

„Ja, die Zivilisation selbst ist nach der Auffassung ihrer antik-hellenischen Mitglieder nichts anderes als ein Bollwerk gegen die Auflösung der Grenzen zwischen den Arten und Ordnungen. Auch die ständige Warnung vor der Hybris jener kategorische Imperativ des griechischen ethos verfolgt kein anderes Ziel, als die Sterblichen zur Respektierung der Grenzen nach oben, nach unten und nach außen zu ermahnen: Sie sollen sich weder mit den Göttern verwechseln noch mit den Tieren und den Barbaren vermischen. Das Leben der Polis setzt die ständige Zurückweisung des Abgrunds voraus, der sich virtuell jedesmal auftut - bessser: der immer dann seine Chance wittert -, sobald Individuen einer wohldefinierten Spezies, namentlich ein Paar von Angehörigen des menschengestaltigen zoon politikon, den Versuchunternehmen, ihre Art und ihre Lebensweise in eigenen Nachkommen formkonstant zu wiederholen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 262

„Mit diesem Hinweis vor Augen läßt sich die Frage untersuchen, ob nicht auch in den geglückt scheinenden Generationsprozessen traditionsgerecht hervorgebrachter Menschenein monströses Moment zum Vorschein kommen kann, sobald die sozialen Verhältnisse es zulassen, daß der unter allen Umständen zu verdeckende Hiatus sich im Übergangvon Vätern zu ihren Söhnen erneut in aggressiveren Formen manifestiert.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 262-263

„Mögen die Väter in der Polis scheinbar wohlgeratene Nachkommen in die Welt setzen - gegen das Risiko der psychischen und moralischen Monstrosität bei ihren Kindern bleiben sie nur unzulänglich geschützt. Gerade in der riskanten Lebensform der großen Macht-Stadt, in der sich Völker, Mythen, Finten und Ambitionen mischen, macht sich das zivilisationsdynamische Grundgesetz bemerkbar, wonach durch den aktuellen modus vivendi unvermeidlich mehr unvorhersehbare Energien, mehr unbekannte Unruhen und mehr neuartige Störungen der bestehenden Ordnung freigesetzt werden, als diese mit ihren bordeigenen Mitteln unter Kontrolle bringen kann.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 263

„Zur Bewältigung dieser Herausforderung hatten die Griechen die in ihrer Zeit neuartige Disziplin der paideia geschaffen, die als die Matrix der okzidentalen Pädagogik gilt. Das Wort paidagogós weckte im athenischen Altertum durchaus keine noblen Vorstellungen: Es bezeichnete den Sklaven, der dafür zu sorgen hatte, daß sich die Jungen auf dem Weg zur Schule anständig benahmen. Sie sollten mit gesenktem Blick zum Unterricht streben, ohne den lüsternen Augen der erfahrenen Päderasten mit Gegenblicken zu antworten. Die paidagogoi waren in erster Linie Aufseher und Dompteure, damit beauftragt, die Knabenwildheit zu dämpfen wobei häufige Schläge als das allgemein empfohlene Mittel zur Erzeugung tugendhafter Verhaltenheit geschätzt waren. Die wirklichen Lehrer der Jugend, die didáskoloi, traten hingegen als »Sophisten«, sprich als Weisheitsvermittler oder »Klugmänner«, auf, bevor sie von ihren Konkurrenten, die sich in plakativer Bescheidenheit »Philosophen«, Liebhaber der Weisheit, nannten, in die Schranken gewiesen wurden. Der Wettbewerb zwischen den beiden Typen von Lehrern um ihre junge Klientel und deren schwankende Eltern wurde auf kürzeie Sicht von den Sophisten zu ihren Gunsten entschieden, da sie ihre Kunst der Knabenlenkung plausibler und ohne Rücksicht auf die Herkunft der Kinder, wenn auch teurer, anzupreisen wußten, während in ideengeschichtlicher Perspektive die Philosophen aus ihm als Sieger hervorgingen. Erst in jüngerer Zeit erlebt die Sophistik ein diskretes Comeback, bei dem sie als Quelle von Design, Rhetorik, Reklame und Demokratie rehabilitiert wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 263-264

„Erziehung beruhte in den griechischen poleis der klassischen Zeit auf dem Konzept der gespaltenen Vaterschaft, wonach der leibliche Vater den Knaben in einem geeigneten Alter der Lenkung durch einen »Lehrer« zu übergeben hatte. (Vgl. Dieter Lenzen, Vaterschaft, a.a.O., S. 76f.. Die antike Übergabe des Zöglings an den Lehrer präfiguriert von ferne die in der Neuzeit sich aufzwingende Arbeitsteilung zwischen Elternhaus und Staat, wobei der letztere die Tendenz erkennen läßt, immer mehr vormals familiäre Aufgaben an seine Funktionäre, namentlich Erzieher, Lehrer, Therapeuten und Sozialarbeiter, zu übertragen.) Dieser sollte von da an die Funktionen geistiger Vaterschaft ausüben und die Jungen bis zum Epheben-Alter von 18 Jahren in die Künste des polis-gemäßen Erwachsenenlebens initiieren - dem schloß sich eine teils militärische, teils musische Weiterbildung an.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 264

Paideia bedeutete an erster Stelle die höhere Kultivierung der Redefähigkeit, ohne welche die Existenz des zoon politikón nicht zu denken war. Auf dem Umweg über das hellenisierte Rom, das vorchristliche wie das christianisierte, wurde das griechische System der Doppelvaterschaft für die alteuropäische Erziehungskultur folgenreich: Die in der athenischen Antike erprobte Arbeitsteilung zwischen Vätern und Lehrern behielt ihre Kraft bis zum Beginn der nahezu ungebrochen, von den seltenen Fällen abgesehen, in denen Vaterschaft und Lehramt konvergierten wie in den rabbinischen Familien und den protestantischen Pfarrhäusern. Funktionslos wurde das klassische Arrangement erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Feminisierung der Lehrberufe die männlichen Lehrer marginalisierte und ihren Zweitväterstatus zerstörte - um von der allgemeinen Degradierung der Vaterposition in den modernen »Gesellschaften« noch nicht zu reden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 264-265

„Daß sich die Bevölkerung der griechischen Städte schon um die Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts über die ethischen Risiken und politischen Nebenwirkungen desneuen sophistischen paideia-Betriebs Gedanken machte, läßt sich unter anderem an den Produktionen des athenischen Theaters ablesen: In seiner Komödie Die Wolken, im Jahr 423 erstmals aufgeführt- ohne Erfolg im Dramatiker-Wettbewerb -, bringt Aristophanes den Betrieb einer Sophisten-Anstalt auf die Bühne, wobei er sich auf Kosten des Erz-Sophisten Sokrates über die amoralischen Tendenzen der Rhetorik- und Dialektik-Schulen in der aggressivsten Weise lustig macht. Für den unerbittlichen Komödiendichter steht fest, daß die neuerdings so erfolgreiche Zunft der Lehrer nichts anderes ist als eine Organisation von Profiteuren der Krise, die aus dem raschen Zerfall der städtischen Sitten Vorteil ziehen: Sie unterweisen ihre Schüler inder bedenklichen, um nicht zu sagen korrupten, gleichwohlzeitgemäßen Kunst, als Anwälte einer schlechten Sache vor Gericht und in der Volksversammlung zu siegen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 265

„Aristophanes gelingt in seinem Stück eine Entdeckung, die man im Licht heutiger Erfahrungen als prophetisch bezeichnen kann: Er legt den inneren Zusammenhang zwischen dem urbanen Kreditsystem und den ideologischen Künsten seiner Zeit offen, die in der Verdrehung überlieferter Kulturmuster gründen - in der Tradition Brechts wäre hier von einer »Umfunktionierung« zu sprechen. Bei dem athenischen Komödiendichter fragen an erster Stelle die zahlungsunwilligen Schuldner nach den Diensten der Sophisten, um sich ihrer Pflichten gegen die Gläubiger zu entledigen. Wenn sie jedoch - wie der attische Bauer Strepsiades, die Hauptfigur der genannten Komödie - außerstande sind, die Kunst der Wort- und Sinnverdrehung im Rechtsstreit noch selber zu erlernen, so schicken sie eben ihre Söhne, im gegebenen Fallden jungen Pheidippides, in die Sophisten-Schule, damit sie sich dort zu unbesiegbaren Advokaten ausbilden lassen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 265-266

„Es sind demnach zwei Arten von Unredlichkeit, die inder Komödie dem Spott der Öffentlichkeit preisgegeben werden - die des betrügerischen Schuldners, der seine Gläubiger täuschen möchte, und die des skrupellosen Rhetoriklehrers, der die legitimen Ansprüche der Gläubiger durch Verfahrensfinten und Wortverdrehungen wirkungslos machen soll. Der junge Mann erscheint somit - über seine eigenen Tendenzen zur Verwahrlosung hinaus - als das Opfer und Medium von zwei gleichzeitigen Korruptionen, die sich in ihm zu einer monströsen Individualität vereinen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 266

„Was Aristophanes in Die Wolken vorführt, ist nicht nur eine »wertkonservative« Satire über das moralische Abdriften der Polis, das augenfällig wurde, seit vor Gericht wie in der Volksversammlung die offensichtlich schlechte Sache die erfolgreiche wurde - eine Beobachtung, die als frühes Indiz für die zunehmende Abspaltung des förmlichen Prozeßrechts von den alltäglichen Gerechtigkeits-Intuitionen streitender Parteien gewertet werden kann. Das Bühnengeschehen reflektiert darüber hinaus die Auflösung des griechischen Patriarchats im Verlauf städtischer Aufklärung, zuder die neuen Erziehungsangebote aus der »Denkerei« der Sophisten das Ihre beitragen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 266

„In ihren letzten Szenen legt die bittere Komödie den Hiatus inmitten der bürgerlichen Gesellschaft ohne Umschweife offen: Der Abgrund zwischen dem zeugenden und dem gezeugten Element klafft unter zivilisierten Menschen wieder auf, als ob erneut die Monstren-Generierung auf dem Planstünde, nicht eine humane Filiation in der kulturstolzestender Städte Attikas.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 266-267

„Um den Einbruch des diskontinuierlichen Faktors in das generative Geschehen zu demonstrieren, stellt Aristophanes dem Publikum Athens zunächst die basale pädagogischeTriade vor: den Vater Strepsiades, den Lehrer Sokrates und den Sohn Pheidippides. Hierbei achtet er darauf, daß es der Vater ist, der seinen Sohn dem Lehrer in aller Form zuführt, damit dieser an ihm die im häuslichen Milieu begonnene Erziehungsarbeit vollende. Freilich werden Vater und Lehrer von Anfang an als selbstsüchtige Parteigänger der schlechten Sache präsentiert - weswegen dIe Aushändigung des Sohns[ an den Lehrer kein anderes Resultat erbringt, als daß dieser seinerseits in die Korruption initiiert wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 267

„Aus diesen Ausgangsbedingungen folgt nicht bloß die gewöhnliche Schlechtigkeit, wie sie vom unredlichen Schuldner verkörpert wird, es entsteht eine Kunstform der Korruption, die nur als Ergebnis der sophistischen Rhetorik erlangt werden kann: Die wortverdreherische Ungerechtigkeit wird zur Grundlage eines ertragreichen Berufs. Bei diesem Erziehungsversuch erweist sich der junge Pferdenarr Pheidippides als Naturtalent: Hatte er bis dahin sein Leben als Tagedieb und Verschwender des väterlichen Vermögenszugebracht, so entwickelt er sich in der Schule des Sokrates über Nacht zu einem diplomierten Monstrum, entschlossen,die neuerworbene Kunstfertigkeit am eigenen Vater zu erproben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 267

„Pheidippides hatte die Quelle der Ungerechtigkeit durch den Anschauungsunterricht seines Vaters erfaßt - sein Sprung an die Mündung jedoch setzt eine Beihilfe zum höheren Betrug voraus, wie nur die neue »Bildung« sie liefert: Wenn der alte Strepsiades seinem Sohn vorgemacht hatte,wie das erste Unrecht aus der Gesinnung des zahlungsunwilligen Schuldners entpringt, so wird Sokrates dem verblüfften Zögling erklären, wie Unrecht sich vollenden läßt, indem man die Idee der Zurückzahlung als solche mit den Mitteln sophistischer Umkehrung unterwandert. Durch solche Nachhilfe gewitzt, wendet der junge Mann seine neuen Erkenntnisse unmittelbar auf sein persönliches Verhältnis zum Vater an, indem er sich zynisch als dessen loyalen Schuldner präsentiert: »Wohl ist's ein Glück, vertraut zu sein mit dem System des Tages, // Und hoch herabzusehen auf den Quark der alten Sitte: // Solang ich die Gedanken nur auf Roß und Wagen lenkte, // Vermocht ich ohne Anstoß nicht drei Worte vorzubringen. // Seit mich mein Vater selbst von all den Possenabgezogen, // Und ich mir Dialektik und Rhetorik angeeignet, // Da zeig ich klar: der Sohn hat recht, der seinen Vater prügelt! // ... Ich ... frage dich vor allem: hast du mich als Kind geschlagen?« // Strepsiades: »Nun ja, aus Lieb und Sorge nur für dich!« // Pheidippides: Aha! Nun sage, // Ist's da nicht billig, daß auch ich dir meine Liebe zeige, // Und prügle dich, da offenbar dies Lieben heißt: das Prügeln?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 267-268

„Gegen den Einwand des Vaters, es sei in aller Welt verboten, daß Kinder die Hand gegen die Eltern erheben, plädiert Pheidippides in bestem sophistischem Stil dafür, dieses veraltete Gesetz durch ein Gesetz von heute abzulösen, wonach der Sohn dem Vater künftig die Schläge heimzahlen solle, die er in seiner Kindheit von ihm erhalten hat. Ganz unverkennbar parodiert der bedenkliche Sohn die in der Zurückzahlungspflicht gegründete Idee des Kredits, indem er an falscher Stelle zurückzahlen möchte. Auch läßt er das Argument des Vaters nicht gelten, er, Pheidippides, besitze ja seinerseits das Züchtigungsrecht, falls ihm einmal ein Sohn geboren werde: Sollte er nämlich kinderlos bleiben, so habe er in seinen jungen Tagen »ganz umsonst geheult«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 268-269

„Zu guter oder schlimmer Letzt läßt Pheidippides den Vater wissen, es sei mit der Androhung von Schlägen für ihn selbst nicht genug: Er habe vor, ebenso die Mutter zu verprügeln wie den eigenen Erzeuger. Strepsiades: Wie, was? Was sagst du? Noch einen ärgern Frevel! Pheidippides: Wie? Und wenn ich nun als Anwalt der schlechten Sach erhärten kann, Pflicht sei's, die Mutter durchzubleun? Strepsiades: Vermagst du das, dann bleibt dir nichts mehr übrig, als vom Felsen dich zu stürzen ins Verbrecherloch, mit Sokrates und deiner schlechten Sache! (Vgl. Aristophanes, Die Wolken, in: Sämtliche Komödien, a.a.O.,; Neubearbeitung der Ubersetzung von Ludwig Seeger [1845-1848], S. 166-168.)“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 269-270

„Daß der Komödiendichter nicht eine bloße Satire auf das Schulwesen seiner Zeit im Sinn hat, ist kaum zu bezweifeln. Er bringt das Resultat einer mißlungenen Filiation zur Anschauung, indem er den sophistisch aufgeklärten Sohn metaphorisch unter die Monstren versetzt: Das Geschöpf, das sich, seinem Schicksal gehorchend, vom Felsen in die Tiefe stürzen soll, ist ja kein anderes als die Sphinx, die Tochter der Echidna und des Typhon, die einst als Stadtgöttin Thebens ihre Tyrannei ausübte und vom Rätseldeuter Ödipus überwunden worden war. Strepsiades begreift, daß sein Sohn zu einer Kreatur des Abgrunds geworden ist, seit er ihn der Sophistenschule ausgeliefert hatte. Die erwies sich nicht nur als ein Seminar der Respektlosigkeit, vielmehr geradewegs als ein Treibhaus genealogischer Verwirrungen. In ihm wird der Sinn für Transmission und Erbe durch eine unangebrachte Konzeption von symmetrischen Transaktionen zwischen Vorgänger und Nachfolger verdrängt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 270

„Zugleich dürfte Aristophanes einer der wenigen Zeugen sein, die den latent muttermörderischen Grundimpuls der Philosophie als solcher in deren Entstehungszeit bemerkten und komödiantisch zu Protokoll gaben: Der Sohn, der beweisen kann, daß er jetzt auch die Mutter schlagen müsse, hat das Geheimnis der Schule im Schnelldurchgang begriffen. Nachdem der unbußfertige Schuldner den Ur-Meter der Polis-Gerechtigkeit, die Zurückzahlung des Kredits, in Gefahr gebracht hat, unterhöhlt die Sophistik den Archetypus der Moral, die Kindestreue zu den Eltern - die im übrigen auch in der konfuzianischen wie in der römischen Ethik den Grundpfeiler alles Wohlverhaltens bildete. Über dem Portal der platonischen Akademie hätte nicht nur die bekannte Ausladung an die Adresse der mathematisch Ungebildeten (ageometroi) stehen können, sondern ebenso die Devise: »Willkommen im Muttermord-Labor!«“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 270

„Beobachtungen dieser Tendenz bilden den harten Kern des Vorwurfs der »Gottlosigkeit« - aseheia -, der gut zwanzig Jahre später im Prozeß gegen Sokrates (399 v. Chr.) erhoben wird. Der Vorwurf ist nicht ganz unbegreiflich, wenn man weiß, daß die athenische öffentliche »Religion« (eusebeia) auf der Ehrfurcht vor den Göttern, den Eltern und den Vorfahren beruhte. Wurde eines dieser Elemente angegriffen, rückte der Sturz der übrigen Größen in drohende Nähe. Von nichts anderem handeln die aristophanischen Wolken: Sie stellen der Sache nach einen theatralisierten Asebie-Prozeß dar, an dessen Ende die Höchststrafe: Gelächter gegen die Schuldigen, verhängt wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 270-271

„Wie tief die Griechen bereits in klassischer Zeit das Aufklaffen des Hiatus in den generativen Prozessen verspürten, drückt sich in einer Vielzahl von mythischen und anekdotischen Motiven aus, die das prekäre genealogische Band zwischen der Stadtkulturfamilie und ihren schrecklichen Kindern umkreisen. Waren nicht auch die zahlreichen Geschichten, die über Alkibiades, den glänzendsten und unberechenbarsten der Söhne Athens, im Umlauf waren, im Grunde nur besorgte Hinweise auf den Einbruch des Monströsen in die biedere Stadt - in diesem Fall des Genialisch-Monströsen, das in der Gestalt eines überbegabten jungen Mannes über die bestehende Ordnung hinausdrängte? Nichts bezeugt die zivilisationsdynamische Verwandtschaft zwischen Sokrates, dem beunruhigenden Sophisten, undAlkibiades, dem übermobilen Strategen, nachdrücklicherals die Tatsache, daß gegen beide von ihrer Vaterstadt der Vorwurf religiöser Unkorrektheit erhoben wurde. Alkibiades selbst hatte zudem die Monstrosität des Sokrates durch den Vergleich mit den Silenen offengelegt. Es scheint plausibel zu vermuten, Sokrates sei nach dem über ihn verhängtenTodesurteil auch deswegen in Athen geblieben, weil er sich auf keinen Fall nachsagen lassen wollte, er habe sich seinen hochverräterischen Schüler zum Vorbild genommen, der nach seinem mit einem Schuldspruch beendeten Asebie-Prozeß (415 v. Chr.) aus der Stadt geflohen und ins Lager des spartanischen Erzfeinds übergelaufen war, um von dort aus, horribile dictu, auf die Seite des Überfeindes aller Griechen, der Perser, zu wechseln.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 271

„In Alkibiades war für die Hellenen das Problem der Spätkultur« spürbar geworden: Diese bringt unvermeidlich das Herauswachsen der schrecklichen Kinder aus den patrioi nomoi mit sich. Alkibiades tauchte als Vorbote des »freien Individuums« unter seinen Landsleuten auf - frei nicht nur von den vergilbten Vätersitten, sondern auch vonden Loyalitätspflichten gegenüber der eigenen Polis. Seine verheerende Modernität zeigte sich in dem Umstand, daß er über die Gabe verfügte, allen alles zu sein - ein inspirierender Redner, solange er zu Athenern sprach, ein frugaler Kriegsmann, wenn er mit Spartanern ins Feld zog, ein prunkvoller Asiate, sobald er inmitten von Persern tafelte. In ihm kündigte sich der Sieg der Mode über die Sitte an. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus begann in der polyvalenten Stadt die Nachahmung des Gegenwärtigen die Nachahmung des Alten zu übertreffen. Gegen einen Mann von solcher Statur und Tendenz sollte den Geistern von gestern allein noch der Auftragsmord Abhilfe schaffen: vollstreckt im Jahr 404 im Namen der herrschenden Biederkeit Athens.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 271-272

„Der erzwungen-freiwillige Tod des Sokrates im Jahr 399 hingegen bezeichnet die Schwelle, von welcher an die neuen »freien Individuen« den Auftrag verspürten, die von altersher bestehenden Sitten im Namen von empirisch unerwiesenen, doch schon allgemein Geltung beanspruchenden Prinzipien zu unterwandern. Nichts anderes war der soziale Effekt der post-sokratischen Aufklärung und ihrer Konsolidierung in den kanonischen Philosophenschulen. Was man in römischer Zeit das »Abendland« und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 272

„Der Name Platons erinnert daran, daß nach 399 v. Chr. der »wahre Schüler« seines Meisters zur Schlüsselfigur des weiteren Kulturprozesses werden sollte: Er zeigte seine souveräne Lehrbefugnis aus der Position des Schüler-gewesen-Seins vor, indem er die eigene umstürzend neue Lehre von den Ideen dem Lehrer Sokrates unterschob. Als Paulus fast ein halbes Jahrtausend später die Figur des »Apostels« erfand, um seine Botschaft vom Kreuz in die Welt hinauszutragen, war die rebellisch umgebaute Autoritätsmaschine komplett, um die zivilisatorische Ausnahme, die Europa heißt, auf ihre unverwechselbare Weise in Gang zu setzen. Europa ist das Resultat einer Jahrtausende währenden Unterwanderung väterlicher Transmissionen durch die kombinierten Wirkungen von machthabenden Schülern und etablierten Aposteln - mithin von Söhnen, die aus dem Schatten der Väter treten, um die Überlieferung in unvorhergesehene Richtungen zu lenken. Was man heute das »freie Individuum« nennt, ist der Endverbraucher von Subversionen, an deren Anfänge sich niemand erinnert. Ob der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, ist nicht wichtig, solange er ins Bodenlose fällt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 272-273

„Auch der wirkungsmächtigste Mythos des griechischen Theaters die Geschichte vom König Ödipus, läßt sich unterdem Licht der Sorge um die drohende genealogische Deregulierung mit erneuertem Verständnis wiederlesen: Sie spiegelt das Monströs-Werden des Helden wider, dem es durch eine Laune des Schicksalsloses bestimmt worden war, mitseiner ihm unbekannten Mutter Nachkommen zu zeugen. Hierdurch verletzte er, ohne es zu wollen und zu wissen, die sakrale Asymmetrie zwischen den Generationen, die eine rückwärtsgewandte Paarung als Rückfall in den Abgrund der Animalität untersagt, mehr noch: Er ließ die Diskretion vermissen, die praktisch jede Zeugung zwischen Verwandten ersten Grades als Sturz in den Höllenschlund einer titanischen Chaotik verbannt. Wo man die konstitutive Asymmetrie des Generationengeschehens mißachtet, werden die zur falschen Fortpflanzung verführten Individuen in die Position von letzten Menschen katapultiert, die sich in perverser Gleichzeitigkeit nebeneinander positionieren und miteinander paaren, statt nach dem heilsamen Gesetzen aufeinanderzufolgen. - Die Paarung von Mutter und Sohn ist weit davon entfernt, nur eine erotische Aberration zu bilden - sie steht für eine Mesalliance von ontologischer Mächtigkeit: Sie zieht Wahnsinn, Reue und Irrfahrt nach sich, weil sie das Subjekt aus der positionellen Ordnung des Lebens entwurzelt. Indem sie die genealogische consecutio temporum auf den Kopf stellt, lädt sie das Anfangschaos ein, sich inmitten der humanen Ordung einzunisten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 273-274

„Es besteht kein Zweifel, daß man eines Tages begreifen wird, wodurch Sigmund Freuds epoche-machende Fehllektüre des Ödipus-Mythos bedingt war. Sie wird die lectio iudaica eines griechischen mythos über das genealogische Intervall gewesen sein. Das Mißverständnis war seit dem Altertum kunstvoll programmiert, und noch Freud war gern bereit, der klug arrangierten Orakel-Täuschung von einst zu erliegen. Die Griechen selbst, die ersten Opfer und Konsumenten der ödipalen Irreführung, hätten es mit einer kleinen Wende zur Nüchternheit durchschauen können: Ödipus hatte aus seiner Sicht nicht seinen »Vater« ermordet, er hatte einen anmaßenden Verkehrsteilnehmer, der die Vorfahrt mißachtete, aus dem Weg geräumt. Er hatte nie seine »Mutter« geheiratet, er hatte eine politisch attraktive Witwe zur Frau genommen und an ihrer Seite den vakanten Platz in einer Dynastie eingenommen. Längst waren seine Zieheltern die »wahren« (Anführungsstsriche von mir; HB) Eltern geworden, und die leiblichen Erzeuger substanzlose Schatten. Zu keiner Zeit hatte er in Betracht gezogen, den eigenen Vater zu liquidieren oder mit der eigenen Gebärerin Nachkommen zu zeugen, die nicht nur seine Knder, sondern auch seine Geschwister wären. Ödipus selbst, bei Lichte betrachtet, war schon der vollendete Anti-Ödipus: Eine jahrtausendelange Verschwörung des Falschlesens hatte seine Fixierung in der Falle bewirkt, die im 20. Jahrhundert als Ödipuskomplex klassisch wurde. Ohne Zweifel war der fatal erfolgreich Mythos von Anfang an eine von delphischen Priestern in Umlauf gebrachte Fiktion, mit deren Hilfe die sinkende Autorität des Orakels wiederaufgerichtete werden solle. Was war der Mythos von Ödipus anderes als eine Machination, um zu beweisen, daß das Orakel immer recht behält? Er vollzog zudem eine Finte der Gegenaufklärung, die in der Morgendämmerung der griechischen Rationalitätskultur die dunkle Majestät des Schicksals restaurieren wollte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 276-277

„Überschattet war das Dasein des thebanischen Kindes ausschließlich von der Tatsache, daß sein abergläubischer Vater es hatte töten wollen. Ein Ödipus-Komplex, hätte es ihn je gegeben: Er hätte in der Sorge des hilflosen Kindes bestehen müssen, von seinem illoyalen Erzeuger ermordet zu werden. Auf das 20. Jahrhundert zurückblickend, das als historisches Eldorado der Halbwahrheiten auch die Ära der Psychoanalyse war, stellt sich die Frage, welche Verbrechen alle diese zahllosen Analysanden begangen haben könnten, um so viele mit der Fahndung nach den Tätern unbegangener Untaten verbrachte Stunden zu rechtfertigen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 277

„Matthäus (13) zufolge ...: »Und ihr sollt niemand Vater heißen auf Erden ....«“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 285-286

„Mit dem Aufritt des vaterlosen Jesus von Nazareth, des schrecklichsten Kindes der Weltgeschichte, verbindet sich in psychohistorischer Sicht eine neue Form von Personalisation, die von der direkten Einwohnung des patro-poietisch erzeugten Vaters im inspirierten Sohn ausgeht. Das christliche Muster medialer Personhaftigkeit zielt auf die Realpräsenz des Übervaters im Übersohn. Was auch immer der Sohn sagt und tut, sagt und tut nach dessen eigener Überzeugung der Vater präsentisch aktuell durch ihn. Johannes faßt den Sachverhalt in die Formel, wo nach das Wort Fleisch geworden sei und unter uns gewohnt habe (vgl. Johannes, 1,14).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 288

„Das gesamte Schriftwerk des Paulus kann gelesen werden, als habe er unablässig den für ihn nicht aussprechbaren Satz umkreist: »Wo Generation war, soll imitative Nachfolge werden«. Wir zeugen nicht mehr, wir taufen und rufen hervor. Wir pflanzen uns nicht fort, wir lehren und bekehren. Wir glauben nicht mehr an eine Zukunft, die in eigenen Kindern liegt, wir bereiten uns für eine völlig andere Welt vor, die sich uns durch das baldige Ende des aktuellen Äons erschließen wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 291

„Der Übergang zum Dasein christlicher Zeit hatte seinen Preis: Mit der Erfindung der Geschichte als der Zeitspanne »nach Christus« drängt sich den Führern der Gemeinde in zweiter, dritter und späterer »Generation« die Bemühung auf, die Vernichtung des Patriarchats durch die jesuanische Ekstase rückgängig zu machen. Diese Absicht führt bei der Verschriftlichung der Botschaft die Regie. Wenn sich schon die Spuren der Herkunftsanomalie bei dem begeisterten Propheten ebenso wenig auslöschen lassen wie die zahlreichen Zeugnisse seines präsentischen, anti-traditionalen und anti-genealogischen Furors, so geht doch die leitende Intention der Evangelisten, die vermutlich zwischen 75 und 110 n. Chr. tätig waren, darauf aus, den urgemeindlichen Ausnahmezustand aufzuheben und die abenteuerliche Illegitimität der jesuanische Auftritte in eine vor aller Zeit gestiftetet Hyperlegitimität zu überführen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 298

„An dieser Stelle treibt die unberuhigbare jesuanische Herkunfts-Anomalie mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Predigers ihre grellste Blüte. Der Messias soll unmißverständlich als der Sohn Gottes aus asexueller Zeugung und supranaturaler Verkörperungskausalität hervorgegangen sein. Gleichzeitig soll er einen Nachkommen Abrahams und Davids in direkter Zeugungslinie darstellen - obschon der letzte Zugwaggon vor der Ankunft am Ziel abgekoppelt wurde.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 300-301

„In den Redaktionen der Evangelisten Matthäus und Lukas kündigen sich die späteren Schicksale des Christentums an: Sie sind am besten mit der Formel »Re-Genealogisierung der anti-genealogischen Revolte« zu umschreiben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 302

„Die Wandlung des Christentums zu einer Religion von Söhnen, die durch Ausübung von Pastoralmacht in die von Jesus verbotene Vaterrolle zurückdrängten, spiegelt das unerkannte spirituelle Hauptereignis der Spätantike wider: Man könnte es die Konterrevolution der Bischöfe nennen - oder die klerikokratische Restauration.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 303

„Die bischofskirchliche Rückwende setzte - über die schon bei den Evangelisten angestrebte Re-Genealogisierung und Re-Familialisierung der Botschaft hinaus - jene extreme Re-Paternalisierung des christlichen Gemeindelebens in Gang, ohne die man sich von der Physiognomie des Christentums zwischen 300 und 1800 n. Chr. weder nach seiner alltäglichen noch nach seiner doktrinalen Seite ein angemessenes Bild zu machen vermöchte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 303

„Im Einflußbereich des römischen Katholizismus, wie auch in den griechischen und russischen Orthodoxien, ist dieses patrozentrische Bild bis heute aktuell, sosehr es neuerdings durch die Aufdeckung im katholischen Klerus getrübt wird - auch diese sprechen weniger für väterliche Kompetenzen im geistlichen Personal als für das von Paulus und Augustinus vorgeprägte sexualneurotische Erbe des Christentums, um von der schier unsterblichen Unterströmung ekklesiopathischer Verschrobenheiten inmitten der spirituellen Kooperationen nicht weiter zu reden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 303-304

„Da die Klerikokratie des europäischen Mittelalters durchwegs die Formen einer politischen »Patristik«, sprich einer para-patriarchalischen Ekklesial-Aristokratie angenommen hatte, versteht sich leicht, wieso der paternalistische Klerus jener Jahrhunderte schon bei den Gedanken an eine Laienlektüre der Bibel erschauerte. Was hätte ein Pater, ein Abt, ein Papst einem Laien antworten können, der bei seiner Lektüre des Matthäusevangeliums auf den Satz gestoßen wäre: »Und ihr sollt niemand Vater heißen auf Erde, denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist«?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 304

„Der Sinn der protestantischen Reformation bestand nicht zuletzt darin, die brüdergemeindliche Anarchie gegen die politische Patristik der katholischen Kirche - von Carl Schmitt als Macht der römischen »Form« verteidigt - wieder ins Recht zu setzen - und dies im Leben jedes einzelnen Gläubigen, außerhalb der Klostermauern, zwischen lärmerfüllten Werkstätten und choralsingenden Gemeinden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 304

„Die zweite, noch folgenreichere Modifikation der gültigen Modelle von Generationenprozeß und Nachfolge betrifft das Schema der Familie als solcher. Wenn auch - von idiosynkratischen Entwicklungen auf dem asketischen und monastischen Flügel der Kirche abgesehen - eine Re-Familialisierung der christlichen Botschaft unvermeidlich schien (um re-familialisiert zu werden, hätte die christliche Botschaft von Anfang an eine familiale Botschaft sein müssen - sie war aber von Anfang an eine anti-familiale Botschaft, also kann sie auch nicht re-familialisiert werden; HB), so könnte diese doch nur um den Preis einer tiefgreifenden Subversion des Familienmodells geschehen. Mit dem kleinfamiliären Dreieck aus Maria, Joseph und Jesus - ob im Stall von Bethlehem oder auf der Flucht nach Ägypten - erscheint das unvertreibbare Phantom der Heiligen Familie auf der Bühne des alteuropäischen Imaginären, von dem Albrecht Koschorke gezeigt hat, wie weit die von ihm bewirkten Modifiaktionen des profanen familiären Lebens reichten (vgl. Albrecht Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen, 2000). Mit ihr wird zwischen Mann und Frau nicht nur ein neuartiges asexuelles oder übersexuelles Band gestiftet, das dem Mann auch in der Ehe eine bis dahin unbekannte Zurückhaltung auferlegt, indes sich für die Frau aufgrund ihrer Sonderbeziehung zum göttlichen Pol neue Freiheitsgrade auftun. Zugleich bildet sich in der Heiligen Familie zwischen Mutter und Sohn ein unvergleichliches Psychodrama heran, das einer matriarchalischen Renaissance zuarbeitet (ein Matriarchat hat es nie gegeben; HB). An dessen Ende bettet die anfangs überfürsorgliche, dann zurückgewiesene Mutter den toten Sohn wieder auf ihren Schoß - diese Laptop-Szene im Absoluten, von der bildenden Kunst im Genre der Pietà dargestellt, bietet den Ansatz zu grenzenlosen Überhöhungen der Goittesgebärerin und zieht Tendenzen zu einer globalen Marianisierung der Weiblichkeit im christlichen Überlieferungsraum nach sich. - Was die männliche »Achse« (ebd., S. 66 f.) der Heiligen Familie angeht, so wird sie durch die subversiven Wirkungen des antik-christlichen Konzepts von zweifacher Vaterschaft (ein Schema, das über die griechische Verdoppelung der Vaterrolle in biologischen Vater und Lehrer hinausgeht; vgl. S. 264 f. in diesem Band) am heftigsten erschüttert: Indem sich der Sohn auf der einen Seite in Beziehung setzt zu einem bescheidenen irdischen Quasi-Vater, sich aber gleichzeitig mit einem glorreichen göttlichen Übervater identifiziert, weiß er sich virtuell aus der Ordnung des familiären Herkommens herausgesetzt. - »Die christliche Identität des Sohns mit dem Vater stiftet kein genealogisches Kontinuum, sondern durchbricht es« (ebd. S. 69).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 304-306

„Im Wirkungsbereich des Modells »Heilige Familie« wird mithin jeder christlich erzogene Sohn kraft seiner Einfühlung in die jesuanische Position dazu angeleitet, sein Dasein potentiell als das eines von Gott erzeugten Bastards zu verstehen: In seinen Adern fließt das Blut des transzendenten Herrn; in seine Seele ist der Abdruck einer rätselvollen und unausschöpfbaren Herkunftsvornehmheit eingeprägt; in seinem Geist glüht der Funke einer Berufung, die über jedes empirische Familieninteresse hinausgeht.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 306

„Die christliche Personalisation sprengt den Sohn - später auch die Tochter sofern sie filia spiritualis ist - aus dem genealogischen Kontinuum heraus und positioniert ihn oder sie, an jedem Herkommemn vorbei, in einer Gottunmittelbarkeit von explosiver psychopolitischer Dynamik. Man sagt von ihr nicht zuviel, wenn maan sie als eine der wichtigsten Quellen des okzidentalen Individualismus bestimmt. Sie wird vor allem in der Sektenbewegung des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit mächtig, ohne daß es der katholischen Kirche gelang, die hierdurch freigesetzten Überschüsse an wilder Subjektivierung ganz zu resorbieren. (Vgl. S. 339-369 in diesem Band). In der Kirchen- und Sektengeschichte der Neuzeit - später auch in der Kunst- und Ausdrucksgeschichte der Moderne - macht sich der zivilisationssynamische Hauptsatz dramatischer als irgendwo sonst geltend, wonach im Fortgang der systemimmanenten Übermittlungsprozesse viel mehr Energien entbunden werden, als durch Funktionen und Formkräfte der bestehenden Institutionen je wieder re-integriert werden können.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 307

„Wo diese Situation erreicht ist, begreift sich das christliche Subjekt nicht nur als einen auserwählten Bastard Gottes, sondern in der Regel als einen der letzten Menschen im buchstäblichen Sinn: Wer sich erst einmal ganz mit dem Sohn aller Söhne identifiziert hat, kehrt nicht mehr in die genealogische Reihe zurück und verzichtet angesichts des nahenden Reichs Gottes auf Nachkommenschaft, um bereit zu sein, wenn die Stunde schlägt.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 307-308

„Die zivilisationssynamische Konsequenz der vom Schema der Heiligen Familie mitgeformten Gesellschaftsordnung zeigt sich in einer tiefgehenden Spaltung der alteuropäischen Legitimitätsvorstellungen. Während Legitimität aus Sicht der jüdischen, griechischen, römischen und nordwesteuropäischen Kulturen in erster Linie aus patriarchalischen Transmissionen resultiert, bringt die apostolische Sukzession eine zweite Legitimitätsquelle ins Spiel. Die europäische Geistesgeschichte war in weiten Teilen nichts anderes als das Produkt einer Bemühung, die antagonistischen Legitimitäten von weltlicher Erbfolge und apostolischer Sukzession zur Kongruenz zu zwingen, insbesondere bei christlichen Herrscherhäusern - wobei das Scheitern der Versuche in der Natur der Sache lag. Wer das Patriarchat und das Filiarchat in eins setzt, sollte sich nicht wundern, wenn ihm eines Tages das Dach über dem vorgeblich gemeinsamen Haus weggesprengt wird.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 308

„Die Anfänge des zweiten Legitimitätssystems gehen auf den Ausbruch des absoluten Sohns aus den Linien der lokalen Geschlechtergeschichten zurück. Sosehr die zweite Ordnung nach dem Übergang der Urgemeinden in die frühe Kirche unter neo-patriarchalischen Ausdrücken re-kodiert wurde: Die anarchische Energie der christlichen Söhne-und-Töchter-Welt ließ sich niemals mehr ganz unter der Bleidecke der politischen Patristik verschließen. In ihr wurde ein Paradoxon überliefert, das für die europäische Zivilisationsdynamik konstitutiv werden sollte: Im Namen des Sohnes wurde die Legitimität des Illegitimen unvergeßlich gemacht, während zugleich ein ständig aktualisierbarer Verdacht aufkam, wonach sich im Herzen des offiziell Legitimen eine abgründige Illegitimität verberge. Dies wurde möglich, seit der der Sohn aller Söhne er verstanden hatte, seine ins Auge springende Illegitimität kraft seiner intimen Einheit mit dem Vater als eine höhere Form legitimer Beglaubigung zu präsentieren. Im Über-Es des alteuropäischen Überlieferungsgeschehens ist seither ein nicht stillzustellender Widerspruch am Werk. Der Stoff, aus dem die filiarchischen Transmissionen sind, ist aus anti-autoritärer Autorität und autoritärer Gegenautorität gemacht. Als ob zu beweisen gewesen wäre, daß nur Unmögliches Zukunft hat, sicherte diese Widersprüchlichkeit dem Chistentum seine Fortdauer als unheilbare Irritationsbewegung.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 308-309

„Mochte die Kirche als Vehikel der alternativen Legitimität zweitweilig noch so tief in Zustände interner Korruption versinken: Ihre Funktion als Übermittlerin eines Menschenrechts auf Nicht-Zugehörigkeit zu einem unterjochenden Kollektiv, es heiße Familie, Sippe oder Volk, konnte davon nicht wirklich berührt werden. Ja, auch wenn die Kirche selber, solange sie machthabende Ideologie war, sich der psychischen Versklavung vieler Generationen schuldig gemacht hatte: Ihren Gründungsmomenten wohnte nichtsdestoweniger ein unauslösbarer Impuls zur Freilassung aus Erbgefangenschaften inne.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 309-310

„Die modernen Menschenrechte gründen vor allem in der vom Christentum behaupteten - und durch die Taufe bekräftigten - Freiheit des einzelnen vom Zwang des ersten Herkommens - gewiß auch im Bekenntnis der der frühen Philosophie zur kosmopolitischen Freibeweglichkeit des Geistes aufgrund und dessen Abstandnahme von Poleis und Mutter Erde. In diesem teils produktiven, teils illusorischen Freiheitslehren hat die neuerdings wieder beobachtbare »Sakralität der Person« in den Verfassungs-Präambeln und Werte-Tafeln der Moderne ihren ideengeschichtlichen Grund.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 310

„Den Gedanken, wonach Zivilisation von einer gewissen Entwicklungsstufe an die »Integration« eines Elements an Störendem, Heterogenem, Fremdem zu ihren Voraussetzungen zählt, hat zuerst Hegel in seinen Reflexionen über das frühe Griechentum als Einheit von »aufgehobenen« Gegensätzen ausgesprochen: »Der wahrhafte Gegensatz, den der Geist haben kann, ist geistig; es ist eine Fremdartigkeit in sich selbst, durch welche allein der Geist die Kraft zu sein, gewinnt .... Jedes welthistorische Volk ... hat sich auf diese Weise gebildet. So haben sich die Griechen, wie die Römer, aus einer coluvies, aus einem Zusammenfluß verschiedener Nationen entwickelt.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philsosophie der Geschichte, 1. Abschnitt, Die Elemente des griechischen Geistes).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 314

„Es war Gabriel Tarde, der den Strukturwandel der Nachahmungen an den tag förderte, indem er die Überordnung der Mode über die Sitte als ein Merkmal modernisierter Verhältnisse hervorkehrte. In dem Begriff der Mode ... verbirgt sich, wie oben ausgeführt, der zivilisationsdynamische explosive Sachverhalt, daß in ihr die Nachahmung des Gleichzeitigen die Oberhand gewinnt, während im passéistisch strukturierten Universum der Sitte die Nachahmung von Vorfahren den Ton angab. “
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 327

„Aus dem Dispens-Betrieb der römischen Kirche entwickelte sich im Spätmittelalter ein mit einzigartiger Routiniertheit ausgebauter Wirtschaftszweig: Gemeinsam mit dem Reliquiengeschäft umd dem Ablaßhandel rief er am Vorbaend der Reformation eine veritable Volkswirtschaft der Sünde ins Leben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 333-334

„Der Angriff auf die erblichen Differenzen wird mit der Freisetzung eines permanenten Wettbewerbs zwischen neuen, vorgeblich chancengleichen Kandidaten auf die besseren Plätze bezahlt, der unvermeidlich zahllose Verlierer produziert. Dies mag den sozialpsychologisch paradoxen Effekt erklären, warum moderne Gesellschaften bei historisch beispiellosem hohem Wohlstand, massiver Umverteilung und explodierender Lebenserwartung mit der chronischen Verdüsterung ihrer Grundstimmung zu ringen haben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 392

„Im Europa der Übergangsjahrhunderte zwischen Mittelalter und Moderne vollzieht sich ein psychopolitischer Prozeß, den man in Analogie zu den Transformationen derselben Periode auf ökonomischen Gebiet als eine ursprüngliche Akkumulation von dissidenter, subversiver, revoltischer Subjektivität charakterisieren könnte - vielleicht als Gründungsphase von Subjektivität ohne Beiwort.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 392

„In dieser Zeitspanne wird das Phänomen der schrecklichen Kinder chronisch und obsessiv. Nun schießen die Sprößlinge des Hiatus allenthalben aus dem Boden - teils filiationsfähige, teils filiationsunwillge Nachkommen mehr oder weniger problematischer Eltern, angetrieben durch die ihnen deutlich werdende Unmöglichkeit, als loyale Kopien ihrer Erzeuger ins »soziale Leben« einzutreten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 392

„Kafkas Brief an den Vater (geschrieben im November 1919, 1952 veröffentlicht), beispielslos in seiner Detailgenauigkeit, seiner gedächtnisstarken Unerbitterlichkeit und seiner resignierten Versöhnlichkeit, stellt darum vielmehr dar als das lokale Zeugnis einer zufälligen Verfehlung zwischen Eltern und Kind. Er ist das Monument eines Entfremdungsrisikos, das chronisch durch die Familien der Neuzeit wandert, jüdische, christliche und säkulare. In seiner polemischen wie seiner befriedenden Tendenz legt er offen, daß es nicht selten die Seelenarbeit der auf Klärung drängenden Kinder ist, die den Hiatus zwischen den Generationen durch entgegenkommende Gesten überbrückt. Es dürfte nicht so sehr die »Trauerarbeit« gewesen sein, die für die Überbrückung der genealogischen Intervalle bei den Modernen von Bedeutung war, sondern die Arbeit am Vergeben-Können. War nicht das 20. Jahrhundert dadurch das psychoanalytische Zeitalter, weil es durch die Erfindung der »Psychotherapie« ein neues Regime im Umgang von schecklichen Kindern kaum weniger schrecklichen Eltern einführte? War nicht Sigmund Freud der bislang erfolgreichste Interpret und Ausbeuter der bezeichneten Schrecklichkeit, indem er sie unter dem Begriff »Neurose« ins Selbstgespräch der bürgerlichen Kultur einbrachte? Und hatte nicht Freud - mit welchem Recht auch immer - den größeren teil des Schrecklichen bei den Kindern angesiedelt, als er diese, nach der Preisgabe der »Verführungstheorie«, mit einem passabel monströsen Triebleben ausstattete?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 392-393

„Befeuert wird der so beunruhigende wie faszinierende Vorgang von einem einzigen, über alle soziale Schichten verbreiteten und für die Betroffenen existentiell unausweichlichen Motiv: In jedem Moment und überall geht es im Weltalter der erwachenden Aspirationen um die progressive Delegitimierung des »Bestehenden« durch die Einsprüche der Entrechteten und Illegitimen, offen vorgetragen oder im verborgenen agiert - ob es die Träger eines Herkunftsmakels sind, die Opfer eines Statusnachteils oder die Subjekte einer ererbten Entrechtung. Wo auch immer man das Buch der rebellischen und bastardischen Moderne aufschlägt, stößt man regelmäßig auf Verbrecher aus verlorener oder nie erwiesener Ehre.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 393-394

„Es waren praktisch durchwegs erbliche positionale Nachteile, die bei ihren Inhabern den direkten Vergleich mit den Bessergestellten provozieren und den Reflex des Nicht-Einverständnisses mit der Lage und ihren Voraussetzungen im Normensystem der »Gesellschaft« auflösten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 394

„Was man in heutigen Diskursen den Egalitarismus nennt, ist in seinen konkreteren Anfängen rückblickend leicht als die Offensive der Bastarde und anderen Trägern von Erbnachteilen gegen das bestehende System rechtlich verfestigter Diskriminierungen zu erkennen. Wer in das Wort »Gleichberechtigung« hineinhorcht, wird Chöre des Ressentiments und der Bitterkeit bemerken.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 395-396

„Vom Zeitalter der Religionskriege an springt das bastardische Schemas auf die politische Sphäre über ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 396

„Als die folgenreichste Bewegung auf diesem Feld eriwes sich die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, welche die Konsolidierung ihrer 1776 deklarierten Unabhängigkeit einem beharrlich durchgefochtenen Kampf um Entkolonialisierung verdanken, besiegelt durch den Frieden von Paris 1783. Die von Anfang an evidente, auch später nie dementierte bastardische Konstitution der USA mag einen der Gründe bilden, warum es in diesem Land bis heute, namentlich in seiner multi-kulturalistisch agitierten, multi-aspirativ verworrenen Akademia, eine erhöhte, gelegentlich exzentrische Sensibilität für Probleme der Post-Kolonialität in anderen Kulturen gibt. Sie schließt die Neigung ein, die absurdesten Metastasen post-kolonialer Aktivismen als Vorstufen von Emanziaptionen zu mißdeuten.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 396-397

„Im Fortgang der genealogischen Modernisierung beweist der zivilisationsdynamische Hauptsatz mitsamt seinen zahlreichen Untersätzen seine Durschlagskraft: Indem der Eintritt von vormals Erbelosen und Illegitimen in den ausgeweiteten Spielraum legitimer Forderungen voranschreitet, setzt der Prozeß zu jedem Zeitpunkt sehr viel mehr Reklamationen nach Würden, Chancen und Vorzugspositionen frei, als mit Mitteln des jeweiligen aktuellen Zustands befriedigt werden können. Nie wird sich das drastischer enthüllen als im Gefolge der us-amerikanischen und französischen Erklärungen allgemeiner »Menschenrechte« am Ende des 18. Jahrhunderts. Mit diesen Sprechakten, zeitgemäß, unumgänglich, hochherzig und uneinlösbar, wie sie waren, setzte das nie mehr zu beendende Weltalter der Reklamationen ein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 425

„Tatsächlich vollzieht sich das, was man die bürgerlichen »Aufstiege« nennt, in Form eines Prozesses, bei dem sich eine Subversion an die andere, eine Reklamation an die folgende, eine Umwertung der Werte an die nächste reihte, bis die irreversible Umdeutung der genealogischen Verhältnisse erreicht war, das heißt der Nullpunkt der Legitimierung durch Herkommen und die förmliche Gleichstellung aller in einem genealogisch unmarkierten Raum. Daß das mit »Chancengleichheit« nur wenig zu tun hat, illustriert das Werk des Historikers Gregory Clark: The Son also Rises: Surnames and the History of Social Mobility, 2014, das versucht, den Beweis zu führen, daß ein relativ kleiner Stock von Elite-Familien während der letzten 300 bis 400 Jahre ihre Position zu verteidigen wußte, indes auf der Vorderbühne der Historie überwiegend neue Gesichter den Ton angaben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 427

„Der weltlich und kirchlich mißbilligte Wucher war die naive Antwort des früheren Geldsystems auf die empirisch erwiesene Unwilligkeit vieler vornehmer Schuldner, ihre Kontrakte zu erfüllen. Zur Zeit des dritten spanischen Staatsbankrotts von 1596 (nach den Ausfällen von 1557 und 1575) unter Philipp II. machten die Zinszahlungen der Krone 40 Prozent des Staatshaushalt aus. Dennoch konnten zahllose Kredite nicht zur Zufriedenheit der Gläubiger bedient werden. Im Jahr 1787 mußten von den Einnahmen der französischen Krone, die sich auf 427 Millionen Livres beliefen, 285 Millionen für Schuldendienste ausgegeben werden, während der Staatsdefizit weiter wuchs - woraus im übrigen hervorgeht, daß der auf Dauer gestellte Betrug des Fiskus an der Gesellschaft der Produktiven - abgesichert durch legale Enteignungsmacht - keine Erfindung des 20. und 21. Jahrhunderts darstellt: Er rechnete lange vor der Wende zu demokratischen Prozeduren, unter die Gründungsgeheimnisse des neuzeitlichen Staatswesens.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 428-429

„Als ein tausendjähriges Reich des Defizits hatten die alteuropäische Aristokratie und ihr »Staat« Bestand gehabt. Sobald man besser zu rechnen lernte, waren ihre Tage gezählt. Was man später »Ausbeutung« nannte, war nichts anderes als das weltalterlange Zugeständnis der Reichen an die Armen, für ihre Überziehungen aufzukommen. Dieses Regime gelangte mit dem »Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft« an sein uvermeidliches Ende.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 429

„Wie Hegel vorhersah, hatte die Geschichte tatsächlich aufgehört, die Lehrmeisterin des Lebens zu sein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 446

„Stirner verstand wie kein Denker vor ihm, daß das Existieren eine tautologische Affäre darstellt: Der Existentialismus ist ein Tautologismus. Er gründet in der Entschlossenheit, einen Satz zu wiederholen, der vormals nur einem brennenden Dornbusch zu entnehmen gewesen war. Er tönt heute aus jedem bewußten Leben: »Ich bin, der ich bin.« »Ich werde sein, der ich sein werde.« Dasein und immer dasselbe sagen sind rechtens identisch, wenn auch die ausgesagten Zustände fortwährend andere sind. Jedes real verkörperte Dasein - origineller als welches nichts gedacht werden kann - ist ein Geschehen jenseits von Rechtfertigung und Nicht-Rechtfertigung. Wer »zu sich« gekommen ist, kann die Sorge um die Rechtfertigung des eigene Daseins fallenlassen. Er »existiert«, indem er sich nimmt, wie er ist, und sich gibt, wie er will, jenseits von Konsequenz und Inkonsequenz.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 454-455

„Der wahre Name der Existenz lautet Einzigkeit. Stirners primärer Existentialismus reklamiert für sich den Ruhm, dem realen Ego, mithin dem jeweils unverwechselbaren und unvertretbaren eigenen Dasein, erstmals einen Auftritt im Raum der Theorie gestattet zu haben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 455

„Allein das aktualisierte Ich besitzt das Vermögen, an sich selbst zu denekn, jenseits von Begriff und Schema.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 455

„Niemand denkt an mich so, wie an mich gedacht werden müßte, wenn ich wirklich existieren soll, außer ich selbst. Doch auch ich selber kann richtig an mich nur denken, wenn ich nicht länger von aufgelesenen Allgemeinheiten und infiltrierten Glaubensdogmen besessen bin. Da die Operation des richtigen Denkens an mich allein durch mich geleistet werden kann, muß meine Besiedelung durch verblasene Ideale und andere Abkömmlinge gesellschaftlicher Invasionen in mich gründlich verhindert werden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 455

„Der Einzige geht aus der Arbeit an seiner Selbst-Vereinzigung hervor: Das geschieht im Modus der vollständigen Evakuierung des Ich von idealistisch-sozialen Okkupationen. Die Räumung - die primordiale Dekonstruktion - setzt sich so lange fort, bis zu guter Letzt die furchtlos unverschämte Tautologie erreicht ist, die ihre »Sache« in jeder Hinsicht auf nichts stellt. Ich bin Ich und somit reales freies Nichts von dem Moment an, an dem ich die Übergriffe des Etwas und des Anderen auf mich in mir erfolgreich zurückgeschlagen habe - ob diese Größen nun die »Gesellschaft«, die Klasse, das Allgemeine, das Gute, das Gewissen, das Ideale, das Familiale heißen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 455-456

„Ist es noch nötig zu betonen, daß das, was Sigmund Freud in seiner metapsychologischen Studie Das Ich und das Es von 1923 das Über-Ich nennen wird, nichts anderes ist als eine affirmative Formulierung dessen, was in Stirners Diktion von 1844 unverblümt »Besessenheit« durch verinnerlichte kollektive Normen hieß? Das Freudsche Über-Ich ist die Formalisierung der Instanz, die das Ich in den Status des Angeklagten versetzt. Was Freud in seiner Rolle als Generalstaatsanwalt der Zivilisation nicht zu den Akten nahm, ist die fast 80 Jahre zuvor getätigte Aussage des Zeugen Stirner, in der sich das Ich zu seiner Unanklagbarkeit geäußert hatte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 456

„Der Egoist muß gleichsam seine Erziehung rückgängig machen ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 456

„Nach Stirners anti-autoritärer Intervention stellt sich der Zusammenhang zwischen Sünde und Erbe unter einem veränderten Licht dar: Erblichkeit selbst scheint die Sünde zu sein, die sich durch Tradition verewigt hat und weiter perpetuieren will. Mithin: Nur wem es gelingt, das Erbe-Sein als solches im eigenen Dasein zunichte zu machen, gewinnt Aussicht auf wirklichen Selbstbesitz - wobei Stirner, materiell einer unter jenen gebildeten Habenichtsen seiner Zeit, die man später »intellektuelles Proletariat« genannt hätte, es seiner Lage gemäß wohlweislich unterläßt, zwischen stofflichem und geistigem Erbe zu unterscheiden. (Stirner lebte zumeist fast mittellos in semi-proletarischen Verhältnissen ....)
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 457

„Folgerichtig verlängert Stirner (übrigens: als er ein halbes Jahr alt war, starb sein Vater; zwei Jahre später heirate seine Mutter erneut; HB) die Gespensteraustreibung zur Famileinasutreibung weiter, bildet doch die Familie von alters her den Schauplatz aller Erbgeschichten - den Knotenpunkt jeder von Nachkommen erlittenen, verinnerlichten, geglaubten und wiederholten »Übermacht und Oberhoheit« (Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844, S. 95). Hellsichtig stellt er fest, wieso diese Austreibung bei vormaligen Protestanten schwieriger gerät als bei Katholiken: weil die ersteren aufgrund der Integration des Priesteramts in die Familie mit tieferen Verinnerlichungen zu ringen haben. Sogar wer sich als erwachsener Ex-Protestant von seiner konkreten Familie emanzipiert und für seine Person aufgehört hätte, Vater und Mutter über Gebühr zu ehren, bleibe fürs erste dem Begriff der Familie als einer erhabenen Fiktion hörig, die zum Begriff der Menschen als umfassender Familie hinaufreicht.
»Und diese zu einem Gedanken, einer Vorstellung, verinnerlichte und entsinnlichte Familie gilt nun als das ›Heilige‹, dessen Despotie noch zehnmal ärger ist, weil sie in meinem Gewissen rumort. Diese Despotie wird nur gebrochen, wenn auch die vorgestellte Familie Mir zu einem Nichts wird.« (Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844, S. 95 f..)
Mit der imaginären Institution Familie, der heiligen wie der profanen, wird das physische Symbol des verinnerlichten Heiligen, die christliche Hostie, drastisch verabschiedet: »Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!« (Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844, S. 95 106.) Es lohnt sich also, ein letztes mal zum Abendmahl zu gehen, da es nicht genügt, im Blasphemie-Modus auf das Heilige zu pfeifen. Du sollst das stoffliche Symbol des Heiligen in dich aufnehmen, um es nach seinem Durchgang durch deine Organe ein für alle Mal auszuscheiden. Zu einem realen Einzigen wirst du durch das Scheißen auf das Allgemeine und seine inneren Sedimente. Der Einzelne, der sich selbst ganz ernst nimmt, muß nicht nur - an einem Anti-Allerheiligen-Fest der Freiheit - Gott und die Familie ausscheiden, er hat vor allem den verinnerlichten Staat als seine Götzen in die Latrinen zu schicken. .... Wer ein Einziger sein möchte, darf nicht davor zurückschrecken, in den Augen der Guten als Unmensch zu erscheinen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 458-459

„Stirner ... wählt die Position der strikt lokalen und von jeder Verallgemeinerung himmelweit entfernten, hier und da erneuerten selbstgenießenden Selbsterzeugung. So tritt er aus der Geschichtszeit aus und wechselt in die Sphäre des nachgeschichtlichen Rentenbezugs über. Er meidet die Überanstrengung, indem er sich implicite auch bei der Selbstproduktion das Recht auf Faulheit zuspricht: Zwar setzt das Ich sich selbst, aber nur, wenn es dazu Lust hat.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 460

„Wo Fichte doziert hatte: »Handle wie keiner!«, repliziert Stirner: »Tu, was allein du auf der Welt tun kannst: Genieße dich selbst!«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 461

„An der letzten Front moderner Mentalitätskämpfe rücken ständig zwei Lager gegeneinander vor: Mission gegen Konsum, Protest gegen Rente, Militanz gegen Unterhaltung. In diesem Kontext ist einzusehen, warum 2007 ein Epochenjahr (Beginn der Finanzkrise als Teil einer Weltwirtschaftskrise; HB) bedeutete: weil die großen Terraingewinne der Rentner- und Konsumpartei während der belle epoque ... bis zur Lehman-Krise seither durch neu-linke Gegenangriffe zunehmend verringert werden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 461

„Angesichts der auto-konsumistischen Provokation des Werks Der Einzige und sein Eigentum ist begreiflich, aus welchen Gründen die Vordenker des »wissenschaftlichen Sozialismus«, Karl Marx und Friedrich Engels, sich in den polemischen Exerzitien der Deutschen Ideologie (1845) besonders an den Thesen Stirners abarbeiteten: Hatte dieser doch mit seiner Proklamation des sich selbst verzehrenden singulären Ich einen radikalisierten Konsumenten-Standpunkt eingenommen, dem nur durch die Entgegensetzung eines ebenso radikalisierten Produzenten-Standpunkts beizukommen war. Ideenhistoriker haben in der Regel nicht bemerkt, in welchem Maß der spätere Marxismus mit seinen beiden Pathos-Formeln »Produktoon« und »Klassenbewußtsein« von der Sorge um die Neutralisierung des Stirnerschen Konsumismus beunruhigt war. Ob allerdings die Marx-Engelssche Kritik an Stirners Thesen wirklich als Fortsetzung des kritischen Prozesses gelten darf, ist mit starken Gründen zu bezweifeln. Könnte es einen massiveren Rückfall in den Dogmatismus geben als die sozialontologische Grundannahme der Autoren, wonach die »Wirklichkeit« eines Subjekts »in letzter Instanz« durch seine Stellung im Ganzen der »Produktionsprozesse« bestimmt sei?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 461-462

„In den Augen von Marx und Engels bedeutete Stirners Wendung in den affirmativen Egoismus ein »ideologisches« Konstrukt, das die Klassenvergessenheit des immer noch von falschen Abstraktionen umnebelten deutschen Kleinbürgertums zum Ausdruck bringe. Als dessen frecher Exponent habe Stirner das Wort ergriffen: Nach der Ansicht der totalistischen Soziologen kommt im Individuum aber immer nur seine Klasse zu Wort. Das Einzelne ist nicht nur unaussprechlich (vgl. Aristoteles, Metaphysik, 7,4), es kann auch letztlich nichts Eigenes zu sagen haben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 462

„Aufgrund der Sprachregelung, die von der Marx-Engelsschen Kritik eingeführt und verfestigt wurde, wandelt sich der Begriff der »Klasse« zum terminus technicus einer Sozialphilosophie mit problematischen holistischen und anti-individualistischen Implikationen. Sie fragt ausschließlich nach »Stellungen« eines »Subjekts« in den vorgeblich alles bestimmenden »Produktionsverhältnissen«, ohne den Einzelnen eine Eigenwirklichkeit jenseits aller Beiträge zur »Reproduktion der Produktionsverhältnisse« zuzubilligen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 462

„Mit der kultischen Überinterpretation des Proletariats trat die marxistische Arbeiterbewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Flucht nach vorn an, indem sie die »Klasse ohne Eigenschaften« zum All-Produzenten proklamierte. Als Menschen des »Ohne« sollten die Träger des erwachsenden bastardischen Kollektivs jene werden, die eines Tages aus der Fülle schöpfen würden, überlegitimierte Erben aller Schätze der Menschheitsgeschichte. Bis dahin allerdings hätten sie bei vorläufig fortbestehender Entfremdung die Last der »Reproduktion der Produktionsverhältnisse« zu tragen. Die Umwandlung des entrechteten allgemeinen Produzenten in den zu allem berechtigten allgemeinen Konsumeneten war für das letzte, auf unbestimmte Zeit vertagte Kapitel im großen Produktionsroman vorgesehen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 464

„Vom Standort der marxistischen Polemik aus lag der Fehler von Stirners Existentialismus in seiner Überreilung hinsichtlich des Anspruchs auf Genuß. Niemand sollte konsumieren dürfen, bevor nicht alle ihren Platz an der gedeckten Tafel der Fülle eingenommen haben. Keiner soll vorgeben, selbst zu sein, bevor nicht in aller Welt die Verhältnisse so weit gediehen sind, daß das Produkt zum Produzenten zurückkehrt. Der Marxsche Historismus was am Erreichen der Gleichzeitigkeit sämtlicher Produzenten-Konsumenten ausgerichtet. Ohne Synchronie keine Egalität. Wer hingegen schon heute genießen will, wird Parteigänger der Ungerechtigkeit, die den »Klassengesellschaften« innewohnt. Reklamierst du ein induividuelles Leben in der Gegenwart, übst du Verrat an der gemeinsamen Zukunft.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 464-465

„Dies macht den Skandal des Einzigen erst ganz begreiflich. Seit dem Erscheinen von Stirners Manifest verfügte die moderne »Gesellschaft« über die Metaphysik eines Konsums, der keinen Aufschub mehr hinzunehmen bereit war. Nur Demagogen werben für Aufschub zugunsten ferner Ziele. Wer Zukunft sagt, will betrügen. Hat ein Einzelner aktuellen Zugang zu Konsumgütern, lebt er potentiell jenseits der Geschichte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 465

„Konsum ist das Alpha und Omega der Posthistorie, indes die »Geschichte« weiterhin das Reich des Kosumverzichts um der Zukunft Willlen bedeutet. Diesem Axiom huldigt die Welt der zeitgenössischen Verbraucher auf breitester Front, ohne wissen zu wollen, wo, wann und in welchen Ausdrücken ihren Grundsätzen zu expliziter Darstellung verholfen wurde. Stirners Erklärung der Allgemeinen Verbraucherrechte wurde nie rezipiert. Die Ideengeschichte ging hochmütig über sie hinweg - sofern man von dem Kuriositätenkabinett der subkulturell blühenden Stirner-Renaissance zwischen 1890 und 1930 absieht, aus dem man den Autor längst wieder ins Pantheon der Zweimal-Vergessenen überführte. Es scheint zu den unausgesprochenen Spielregeln der modernen »Konsumgesellschaft« zu gehören, daß sie sich zu keiner Zeit auf eine explizite »Verfassung« berufen muß, da ihre Mitspieler den Kosum als ein präkonstitutionelles Recht in Anspruch nehmen, das allen bestimmten Rechten vorausgeht. Konsum verkörpert, als allgemeines Habe-Recht, eine Menschenrecht vor den »Menschenrechten«.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 465-466

„Vier Jahrzehnte nach Stirners Manifest gab Nietzsche - im Prolog zu Also sprach Zaratghustra, 1. Teil, 1883 - dem Endverbraucher seinen gültigen Namen, indem er ihn sich selbst als den Letzten Menschen vorstellte. Ironischerweise stimmen bei Nietzsche die so Bezeichneten ihrem neuen Titel begeistert zu: In ihren Augen kann es nichts Erfüllenderes geben, als ein letzter Mensch zu sein.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 467

„Zu realen und pragmatisch Letzten werden Individuen in der Konsum- und Erwerbs»gesellschaft« von dem Augenblick an, in welchem sie in die Daseinsweise von herkunftsschwachen und nachkommenlosen Selbstverzehrern einwilligen. Dieser Sachverhalt manifestiert sich in den meisten modernisierten Nationalstaats-Populationen durch das rapide Absinken der Geburtenquote. Solche Rückgängen der Natalität schließen die Hochkonjunktur der »monoparentalen Familien«, der kinderlosen Haushalte und der autoerotischen Lebensformen ein. Noch scheint die Lage der Dinge bis auf weiteres mit dem Fortbestehen von Fragmennten herkömmlicher Familien kompatibel. (Vgl. Tilman Allert, Die Familie - Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform, 1998.) Demographen umschreiben die aktuelle tendenz in den sechzig meistentwickelten Ländern der Erde mit dem Begriff »Schrumpfvergreisung«. Selbstverständlich gibt es in diesen Teilen der Welt noch Eltern und Kinder wie von alters her; die prekär gewordenen genealogischen Fäden dünnen sich jedoch weiter aus. Auch die »Kinder von etwas« (S. 433) bleiben bis auf weiteres die Kinder von jemand, selbst wenn sie in vitro erzeugt und aus synonymen Samenbanken bezogen worden wären. Nur selten noch gehen sie aus Familien hervor, die sich dank der Bewahrung von Relikten der Vateridee darauf verstehen, das »unschätzbar wertvolle Objekt der Übermittlung« weiterzugeben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 467-468

„In Stirners Der Einzige und sein Eigentum erreicht das schreckliche Kind der Neuzeit seine Reflexionsgestalt. Er tritt als Endverbraucher von Chancen, Gütern und Beziehungen auf. Der unbußfertige fröhliche Egoist schneidet seine Verbindungen nach rückwärts wie vorwärts förmlich, mit expressiver Unhöflichkeit ab. Seine erste Regung ist das Bedürfnis, niemandem zu Dank verpflichtet zu sein. Nicht länger läßt er sich von seinen Vorfahren in Verbindlichkeiten bannen. Von der Hervorbringung von Nachkommen zieht er sich instinktiv, gelegentlich programmatisch, zurück.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 468

„Moralische Selbstsicherheit gewinnt der artikulierte Egoist, indem er ... die These vorträgt, sämtliche Nicht-Egoismen seien als verkappte Egoismen zu durchschauen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 468

„Der in die Offensive gegangene Ego-Praktikant legt Wert darauf, sich an die Spitze der Reflexionspyramide zu stellen, indem er seine Sache auf den Gipfel des Glaubens an nichts gründet, während die Idealisten, mitsamt ihrem Anhang aus Sozialphilosophen und anderen Zwischenhändlern des Guten, auf ihren positiven Fiktionen bestehen. Niemand soll auf ihn herabsehen, indessen er auf die übrigen ironisch von oben blickt - mit Vorliebe auf die deklarierten Guten. Die Gutmenschenverspottung auf deutschem Boden beginnt im Herbst 1844. Keiner kann sich rühmen, besser zu sein als der bekennende Egoist, während dieser den moralisch nicht unbedeutenden Vorzug genießt, die Maxime seines Handelns - »ich selbst an erster Stelle« - freimütig offenzulegen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 468-469

„Das Licht des bekennenden Egoismus bzw. des programmatischen Individualismus bricht sich in einem breiten Spektrum von existentiellen Farben: Der deklarierte Selbstbvorzuger kann sämtliche Masken moderner Subjektivität aufsetzen, die des Altruisten ausgenommen, und sich in vielfältigen Individualitätsprogrammen proklamieren. Er verwirklicht sich als: »Anarchist, Übermensch, Psychopath, Sozialist, Kleinbürger, Intellektueller, Faschist, Genie, Paranoiker, Bohemien, Satanist, Existentialist, Individualist, Terrorist, Mittelständler, Totalitarismus-Kritiker, Solipsist, Prophet, Nihilist, Metaphysiker ...« (Diese nahezu satirische Aufzählung spiegelt das Spektrum von subkulturellen Stirner-Rezeptionen in Deutschland zwischen 1890 und 1930 wider. Vgl. Alexander Stulpe, Gesichter des Einzigen - Max Stirner und die Anatomie moderner Indivdualität, 2010. In dem breitangelgten Werk entfaltet der Verfasser seine These: »Stirner ist heute vergessen, weil der Einzige selbstverständlich geworden ist.“ [S. 45]) In allen diesen Rollen, Posen und Gesichtsbemalungen präsentiert sich das modernisierte Individuum als sein eigener Maskenbildner.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 469

„Was aber der Einzige auch immer aus sich macht, er tut es in der Haltung des Endverbrauchers, der zugleich Endkreativer sein möchte: Für ihn gibt es nach der Spuk-. Gott- und Staatsaustreibung so wenig eine ernst zu nehmende Nachwelt wie ein dem Ich vorausgehendes Höheres. Hierdurch nimmt der Einzige die moderne Definition von Individualität vorweg, die nach systemtheoretischer Auskunft nicht mehr durch inklusion und Zugehörigkeit, sondern nur »extrasozietal« und durch Exklusion bestimmt werden kann. (Vgl. Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik - Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 3. Band, 1989, S. 149-258. Luhmann deutet die Modernisierung des Verhältnisses der Gesellschaft zur Individualität als Umstellung von Inklusionsindividualität auf Exklusionsindividualität.)
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 469-470

„»Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Das Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich vor sich .... Im Rhizom geht es um ... ›Werden aller Art‹.« (Gilles Deleuze & Félix Guattari, Rhizom, S. 35.) Das unsichtbare unterirdische Geflecht gegen den sichtbar aufsprossenden, nach oben strebenden Baum ....“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 472

„Es konnte nicht ausbleiben, daß spätere Leser des Anti-Ödipus (Anti-Ödipus - Kapitalismus und Schizophrenie; 1972; HB) und des Rhizom-Essays (1976; HB) von den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts an auf unfreiwillige Resonanzen und ironische Neubeleuchtungen dieser Schriften im Kontext zeitgenössischer ideologischer Wandlungen aufmerksam wurden: Es schien mit einem Mal, als hätten die beiden Autoren, obschon (oder eher: weil? HB) sie sich eines eigensinnig verfremdetetn linksradikalen Diskurses bedienten, in Wirklichkeit einen nicht intendierten vorauseilenden Hymnus auf den in entfesselten Strömen prozessierenden Finanzkapitalismus verfaßt, noch bevor dieser in sein »neo-liberales« Stadium eingetreten war, das von den Reagonomics 1981-1989 eröffnet wurde. Nichts konnte die Kritereien des Deleuze-Guattari-Universums vollkommener erfüllen als das virtualisierte, volatilisierte, inflationierte und amoralisierte große Geld, dem in seinem Nomadismus per definitionem weder Vaterland noch Territorium heilig sind.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 475

„Zur selben Zeit als die Verfasser des Anti-Ödipus ihre »subversiven« Projektionen des Lebens in stetiger Bewegung auf Migranten und Neo-Nomaden bezogen, schickte der globalisierte Tourismus sich an, die erste Stelle unter den Industriezweigen der Welt zu erobern: Er übersetzte das Wechselspiel von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung ins Stadium finaler Trivialität, als fahrplanmäßiger Zyklus von Departure and Arrival.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 475

„Das von Deleuze und Guattari unbeirrbar gesungenen Lob der neuen Verknüpfungen stellte dem Innovationismus einer weltweit agierenden Konsultationsindustrie Stichwörter zur Verfügung, die seither um Hohlbegriffe wie »Kreativität«, »Erfindung«, »Exzellenz« und , »Incentive« keisen. Sehr naiv wirkt heute ihre von manchen Autoren wiederaufgenommenen Suggestion, die erfinderischen Prozesse würden, wären sie von kapitalistischen »Fesseln« befreit, um ein Vielfaches gesteigert.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 475-476

„Vor allem hatten Deleuze und Guattari mit dem Konzept »Rhizom« die flachen Raumbilder und die interaktiven, interdeliranten, interautistischen Sozialphantasmen der emergenten Internet-Weltkultur vorweggenommen. Mit vorauseilender theoretischer Phantasie propagierten sie das post-historische, post-genealogische, post-familiale Lebensgefühl der »Netz- oder Peer-to-Peer-Gesellschaft« im beginnenden 21. Jahrhundert, anderthalb Jahrzehnte bevor der von Tim Berners-Lee und Robert Cailliau am Forschungsinstitut CERN in Genf zwischen 1989 und 1991 entwickelte Suchmechanismus des World Wide Web der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Infolge der Snowden-Enthüllungen im Frühjahr 2013 hat sich erwiesen, daß das vielgepriesene »Netz« als das Rhizom der Rhizome nicht nur ein leistungsfähiges Instrument zur Synchronisierung von subjektiv besetzten Knotenpunkten im globalisierten Datenverkehr darstellt. Es bildet ebenso die Infrastruktur eines paranoid überdehnten imperialen Überwachungssystems, das keinem Netzteilnehmer mehr das Privileg des Unbeobachtet-Seins zugesteht. Diese Offenlegungen werden binnen kurzem eine Neubewertung der »Netzkultur« und ihrer rhizomatischen Romantik nach sich ziehen. Man muß kein Prophet sein, um eine rapide Abkühlung der Euphorien in bezug auf die progressiven Energien der Tele-Rhizomatik vorherzusehen. Deleuze und Guattari schwelgten hingegen noch in Visionen einer ent-»ödipalisierten«, abstammungsfreien »Gesellschaft«, die den vitalen »Vielheiten« als Spielfeld dienen sollte: »im Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen ... Es ist nicht das Eine, das Zwei wird, jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel .... Das Rhizom läßt sich weder auf das Eine noch auf das Viele zurückführen ....« (Ebd, S. 34). Es ist »ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General ..., es ist ausschließlich durch die Zirkulation der Zustände definiert« (Ebd., S. 35). Es geht nur darum, »... ein Milieu zu schaffen, in dem mal dies mal jenes auftauchen kann: wie mürbe Brocken in der Suppe.« (Ebd., S. 40).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 476-477

„ Im freier gewordenen Rückblick auf die Vorstöße und Todes-Salti der vorauseilenden rhizomatischen Realitätsauslegung von 1976 durch Deleuze und Guattari drängt die Einsicht sich auf, daß die Autoren in Wahrheit ein neues bastardisches Kollektiv“ konzeptualisiert und evoziert hatten: einen feldförmig verfaßten, weltweit agierenden Über-Bastard, der um ein ganze Dimension herkunftsloser operieren würde, als jeder emersonianisch-nonkonformistisch inspirierter Amerikaner es sich je hätte träumen lassen. Sie postulierten ein artifizielles Meta-Volk von Bricoleuren und Chancenjägern, die sich auf dem Kontakthof der Weltgesellschaften durch »Gelegenheiten« ansprechen lassen. Unter dem Namen »Rhizom« hatten sie ein diffuses post-industrielles, von Wünschen, Gütern und Zeichenströmen durchpulstes Hyper-Proletariat heraufbeschworen, arbeitslos und werktätig, rebellisch und angepaßt, im Zentrum lebend oder an der Peripherie, prostituiert oder autonom, prekär oder fest angestellt, neben dem die Arbeiterklasse des Marxismus wie eine altehrwürdige Dynastie wirkte.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 477-478

„Die ererbte und erworbene Blindheit der konventionellen westlichen Kulturwissenschaften für Fragen der Filiation kehrt ... in den post-colonial studies schematisch wieder. Sie wiederholen den Basisfehler der westlichen Moderne, die immer die »soziale Frage« in den Vordergrund rückte und die genalogische Frage zu stellen »vergaß«. Diese Wiederholung ereignet sich gewiß auch aufgrund der Tatsache, daß die auf dem Feld führenden Autoren, durchwegs arrivierte Figuren der okzidentalen, zumeist nordamerikanischen Akademia, bisher nicht fähig waren, ihre persönliche Stellung zur bastardischen Kondition der Moderne inihre Begriffsarbeit einzubeziehen.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 480

„Man kann den Ausdruck »Weltzivilisation« nicht verwenden, ohne daß Benutzungsgebühren anfallen. Macht man sich eine prozessule Sicht auf die globale Dynamik zu eigen, kommt man nicht umhin, das Gesetz wachsender Fragilität bei zunehmender Verfestigung zu unterschreiben. Die Systemarchitektur des Globalitätsgebäudes wird sich infolge machtgetriebener Gegenseitigkeiten auf absehbare Zeit dem aktuellen modus operandi gemäß replizieren, manifester Einsturztendenzen ungeachtet. Der Weltinnenraum des Kapitals dehnt sich unaufhaltsam aus.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 484

„Die entropischen Konsequenzen aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz für das Kommende sind evident: Bei fortschreitender Mobilisierung werden die Freisetzungen den moderierenden Instamnzen mit wachsender Fluchtgeschwindigkeit davonlaufen. Synchronisierung (Vernetzung), Aspirisierung (Ausweitung der Forderungszone), Urbanisierung (Wachstum der Komfortchancenzone) und Skurisierung (Expansion der Paranoiazone) bleiben die regierenden Vektoren - wobei der Monetarisierung die Funktion des Mediators zufällt. Die Ausweitung der Staatsdienste in den rund 200 im UNO-Raum angemeldeten politischen Körpern zieht die Modernisierung der Korruption nach sich - für diesmal konventionell verstanden als Unterwanderung des Rechts durch Angehörige der öffentlichen Dienste, die nicht sehen, was dem Charme eines zweiten Einkommen widerstehen könnte. Die wachsende Aktivität der »Staatsdiener« in staatsunfähigen Kulturen wird ohne explodierende Korruption - und mitwachsende Klagen gegen sie - nicht zu haben sein. Als Garanten der Korruption wird die Mehrheit der etablierten wie der improvisierten Nationalstaaten das 21. Jahrhundert zu dem machen, was es aus der Sicht des 22. gewesen sein wird. Sie bereiten ihr Versagen vor, das man ihnen vorwerfen wird, sollten die Bilanzen eines Tages offengelegt werden.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 484-485

„Wer glaubt im Ernst mit dem Philosophen Neurath daran, man könne Schiffe auf hoher See umbauen? Ja, wer behauptet noch, auf unserem Schiff gebe es eine Kommandobrücke?“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 488

„Kurzum, in unseren Tagen kann niemand wissen, was den Sachgehalt von sirenischen Wörtern wie »Nachhaltigkeit« und »Zukunftsfähigkeit« ausmacht. Wer imstande wäre, zwischen Gang, Drift und Sturz zu unterscheiden, müßte prophetisch begabt sein. Dies ist der Zustand, auf den Heidegger anspielte, als er seine Bemerkung aussprach, nur noch ein Gott könne uns retten. Mit einem Satz entzoge er dem Futurismus den Boden. An dessen Stelle hatte er leider nichts Besseres anzubieten als einen Pietismus des Wartens.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 488

„Während der Passéismus - die von alters her herrschende Überzeugung vom Vorrang des Vergangenen - heute als der Verlierer der Evolution feststeht, ist der Streit zwischen dem Futurismus der Moderne und dem Präsentismus der Postmoderne vorerst nicht entschieden (vorausgesetzt, man akzeptiert diese Deutung; HB).“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 488

„»Wenn das nur gutgeht auf die Dauer«. Schon zur Zeit seiner Formulierung (vgl. S. 114; HB) war der Ausspruch mehr ein Bannwort gegen nahendes Unheil als ein Zeugnis von Zuversicht. Den schrecklichen Kindern der Neuzeit vermittelt er den Wink, es könne nicht schaden, sich in der verlernten Kunst des Dauerns zu üben.“
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S. 489

„Vielleicht bin ich auch ein bißchen der Lexikon-Mann.“
Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014

„Materialreichtum ist eines meiner Markenzeichen. Ich schreibe immer im Zwiegespräch mit einer Bibliothek. .... Meine Frau haßt das, sie meint, es sei ein Ausweichen ins Historische. Ich sehe das aber ganz anders. Zu meiner Autorenethik gehört, daß ich Zitate nicht kleiner drucken lasse als den eigenen Text. Die Germanisten-Halunken und die Soziologen-Canaille erkennt man daran, daß sie Sätze von Goethe und Max Weber zwei Punkte kleiner setzen lassen.“
Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014

„Ich habe keine Fragen an tote Philosophen, ausgenommen an Fichte, mit dem ich nicht ganz fertig bin. Es gibt aber einen Denker, den ich für den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts halte, obwohl fast niemand ihn kennt: Gotthard Günther. Mit ihm würde ich gern über mehrwertige Logik reden und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sie mit der zweiwertigen Alltagsvernunft in ein überschaubares Verhältnis zu setzen.“
Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014

„Die Lektion, die von ihr (gemeint ist die Tochter Mona; HB), kam, war nicht philosophischer Art, sie führte zur Gewahrwerdung eines Schwindels, dem ich bis ... 1993, ihrem Geburtsjahr, erlegen war. In meinem Milieu war ich umgeben von Leuten, die von der Fortpflanzung abrieten, ausnahmslos: »Kinder? Herrje! Bloß nicht! Schlaflose Nächte, endloses Geschrei, geborene Tyrannen – du kommst zu nichts mehr!« Ich stellte fest, in dieser Angelegenheit war ich immer irregeführt worden, rundum. Nicht ein einziger Mensch hatte mir verraten, daß es nichts Wundervolleres gibt. Meine Frau und ich waren über das Kind unvorstellbar froh. Die ersten zwei Jahre lebten wir in einem Delirium. Ständig haben wir gejubelt, und die Kleine mit uns. Die Lektion bestand darin, daß man sich vom Erwachsensein erst einen halbwegs realistischen Begriff macht, wenn man in der Elternposition angekommen ist. Sonst wird man nur älter, aber erwachsen nie. Andererseits: Erwachsenheit ist ein schwieriger Begriff, man sollte mit ihm nicht renommieren.“
Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014

„Ich denke über das Wort »konservativ« in letzter Zeit anders als früher und beklage die Situationen, in denen dieser Begriff als Schimpfwort gebraucht wird. Andauernd nicht-konservativ sein: das würde ja heißen, alle Menschen der progressiven Tendenz müssen sich zu der Stümperei der ständigen Neuanfänge bekennen. Wer ständig fortschreitet, geht über zu viel hinweg. Die Welt ist so reich an Vollendungen, daß ich nur durch den Verrat am Vollkommenen fortschrittlich bleiben könnte. Früher dachte ich, Konservatismus sei nur in zwei Fällen plausibel: Wenn du eine Bibliothek hast mit allem Wesentlichen in Leder, oder einen Weinkeller mit denkwürdigen Tropfen aus Jahrzehnten. Ansonsten wäre ausnahmslos immer Progressivität verpflichtend. Ich überzeuge mich mit jedem Lebensjahr mehr davon, wie verfehlt diese Ansicht war. Man muß täglich konservativer werden, damit man rezeptiver wird für die Werke, die auf uns warten. Die meisten Menschen von heute, darunter erschreckend viele Künstler, lassen freiwillig das Beste links liegen, weil sie selber etwas Schlechteres, aber Eigenes, vorhaben.“
Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014

„Im Jahr 1848 veröffentlichte Kierkegaard einen Aufsatz, kaum sechs oder sieben Seiten lang, von einer Luzidität, die alle Bibliotheken Roms und Wittenbergs überstrahlt. Den lese ich fast jedes Jahr unter fast zeremoniellen Umständen wieder: Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel. Danach weiß man erst, was Autor-Sein in heutiger Zeit bedeutet. Nach Kierkegaard genügt der genialische Künstler allein den selbstgesetzten Maßstäben und den immanenten Gesetzen seiner Disziplin. Sein Lohn ist humoristische Selbstzufriedenheit oder die Bewunderung anderer. Wer hingegen Apostel ist, agiert unter einem absoluten Mandat. Der apostolische Beruf belohnt sich anders als der ästhetische, notfalls auch mit der Art von erlesenem Misserfolg, die man Martyrium nennt. Ein solches Mandat kann man nicht vorweisen, wenn man seine Botschaften selber in die Maschine tippt, ohne einen göttlichen Absender hinter sich zu wissen. Ich kann ja nicht an der Tür der Leute klingeln: »Ich hätte da ein Evangelium günstig, das sollte Sie interessieren. Der Verfasser bin übrigens ich persönlich.« Hier beginnt das moderne Autorenproblem: Ein bisßhen Genie, das stellt man zur Not selbst auf die Beine. Ein paar Creative-writing-Seminare, und fertig ist der Jungautor. Aber ein Apostolat, ein echtes Mehr an Zu-sagen-Haben, wie kann das außerhalb der Kirchentradition entstehen? Sartre hatte gemeint, er könne die Frage mit seiner Lehre vom freien Engagement beantworten. In Wahrheit war er dem Problem ausgewichen.“
Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014

„Seit fast dreißig Jahren gerate ich 14 Tage vor meinem Geburtstag Ende Juni endogen in Verdüsterungen, die dazu führen, daß ich mit Migränen kämpfe und kotzen möchte. Dieser Zusammenhang von Sommer und Stress von innen ist die anscheinend am wenigsten auslöschbare Komponente in meiner Privatmythologie.“
Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014

„Der Philosoph meines Namens würde gern mit der Formel durchkommen: »Leben heißt Immunität ins Unendliche ausdehnen.« Beim Publikum hat das für die nächsten hundert Jahre keine Chance. Verstehen Sie dies nicht als Resignation. In meinen späteren Tagen möchte ich mich noch einmal an die Arbeit machen und Metaphysik als allgemeine Immunologie darstellen, als Lehre von der Welt als Aggression und Schutz. Nach dem Jahr 2200 wird es Schulstandard sein. Letztlich aber geht es mir darum, den Abgrund zwischen Leben und Philosophie zu überbrücken. Ich frage mich, ob dazu nicht vielleicht ein einziger Satz genügt, bei welchem dem Kollegen Descartes die Ohren klingen: Man denkt an mich, also bin ich. Mit etwas Glück wird daraus: Ich bin, seit sie an mich denkt. Je mehr Plagiatoren in der Zukunft herumlaufen, die die Quelle weder kennen noch nennen, desto besser.“
Peter Sloterdijk, in: SZ-Magazin, 12. November 2014

„Der Philosoph ... soll seinen Lesern beweisen, daß der Armutsverdacht gegen sich selbst ... unbegründet ist, daß wir von der Tiefe her eugentlich reiche Geschöpfe sind - und diesen Beweis führe ich seit ich denken kann mit wachsender Intensität.“
Peter Sloterdijk, in: Spiegel-Film, 2015

„Das kann nicht gutgehen.“
Peter Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016

„Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.“
Peter Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016

„Die Europäer werden früher oder später eine effiziente gemeinsame Grenzpolitik entwickeln. Auf die Dauer setzt der territoriale Imperativ sich durch. Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.“
Peter Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016

„Der Nationalstaat ist das einzige politische Großgebilde, das bis zur Stunde halbwegs funktioniert. Als lockerer Bund hat die EU mehr Zukunft, als wenn sie auf Verdichtung setzt.“
Peter Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016

„Der Lügenäther ist so dicht wie seit den Tagen des Kalten Kriegs nicht mehr.“
Peter Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016

„Das Wort »Lügenpresse« setzt mehr Harmlosigkeit voraus, als es in diesem Metier gibt.“
Peter Sloterdijk, in: Cicero, 28.01.2016

„Ich-lüge-also-bin-Ich. - Man weiß, das erste Opfer der steigenden Polemik ist die Nuance. Wir haben es seit einer Weile mit einem bedenklichen Zug zur Nuancenvernichtung zu tun – bedenklich vor allem deswegen, weil allgemeine Lebenserfahrung weiß, daß zwischen Gut und Böse gelegentlich nur haarfeine Unterschiede liegen. Die Nuancenvernichtung stützt sich auf einen furchtbaren Verbündeten: das menschliche Bedürfnis, recht gehabt zu haben und zu behalten. Daß Menschen in ungewissen Welten an internen Kontinuitätskonstrukten arbeiten, versteht sich ohne Aufwand. Die gelassene Beobachtung solcher Manöver zu je eigenen Gunsten gilt als die Vorschule des Humors. Dieser weiß, das Ich-lüge-also-bin-Ich gehört zur Grundausrüstung jedes Einzelnen, der zu den Gerechtfertigten gehören möchte. Das Ich-sehe-wie du-dich-Gutlügst wird Teil entweder der Menschenverachtung oder des Allesverstehens. Man hat zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwendet, da0 in einer alphabetisierten Zivilisation das Lügen eine Variante entwickelt: das absichtliche schlechte Lesen, das heißt die praktische Ausübung des Nuancen-Mords. Es sind naturgemäß politisierte oder politologisierende Intellektuelle, die bei diesem Vergehen die Täterstatistik überproportional bevölkern.“
Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016

„Im übrigen stellt es ein klassisches Pavlov-Phänomen dar, wenn man nun sogar Rüdiger Safranski als xenophoben Extremisten und als Stimmungsmacher für rechtslastige Agitationen darstellen wollte. Ich habe in meinem Leben keinen großherzigeren, menschenfreundlicheren und integrativeren Geist kennengelernt als ihn. Mit seinem gesamten Werk hat sich Safranski um die Versöhnung einer geschichtskranken Kultur mit ihren besseren Potenzialen bemüht. Dank einer Reihe exzellenter Bücher über einige Große unserer Kunst- und Ideengeschichte hat er zahllosen Zeitgenossen den Zugang zu den Klassikern deutscher Sprache neu erschlossen. Daß sein Name jetzt von politischen Krankheitsgewinnlern für eine Agitation gegen einen Autor, der ihr Therapeut hätte sein können, mobilisiert werden soll, kann man nur als Verkehrung ansehen.“
Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016

„Ein kurzes Wort will ich anfügen zu der Polemik von Herfried Münkler gegen Safranskis und meine Äußerungen über deregulierte Migrationen und übers Ufer getretene Flüchtlings-»Ströme«. Der Fall hat eine aparte Seite, da Münkler kein kleiner Kläffer ist, wie ein Philosophie-Journalist aus der Narren-Hochburg Köln, der offensichtlich immer noch nicht weiß, wer und wie viele er ist. Münkler jedoch hat sich als Autor von Statur erwiesen. Umso erstaunlicher bleibt seine Fehllektüre-Leistung, die er in einem Artikel dieser Zeitung von vor wenigen Wochen zum Besten gegeben hat.“
Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016

„Es trifft zu, daß Safranski und ich gegen die »Flutung« Deutschlands mit unkontrollierbaren Flüchtlingswellen Bedenken ausgedrückt haben. Aus meiner Sicht bringen unsere Einlassungen eine linkskonservative Sorge um den gefährdeten sozialen Zusammenhalt auf den Begriff. Linkskonservatismus, der meine Farbe ist seit langem, rechnet unter die Nuancen, die in Gefahr sind, im differenzenfeindlichen Klima ausgelöscht zu werden.“
Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016

„Da ich aber unter Intellektuellen nie an »Mißverständnisse« glaube (bei Naiven ist das anders), sondern durchweg von intentionalen Falschlektüren ausgehe, das heißt bedingten Reflexen zweiten Grades, halte ich es für sinnvoll, den Motiven von evidenten Fehldeutungen nachzugehen. Für den Augenblick beschränke ich mich auf den Fall Münkler, da bei ihm keine pavlovschen Stichwort-Mechanismen unterstellt werden müssen. Seine Irritation durch Äußerungen von Safranski und mir sollten in der Sache von anderer als bloß reflexologisch zu deutender Art sein.“
Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016

„Tatsächlich entwickelt sich unser Dissens aus gegensätzlichen Beantwortungen der Frage, ob die Merkel-Politik angesichts der Flüchtlingswelle seit dem letzten Sommer mehr ist als eine hilflose Reaktion auf Unerwartbares. Safranski und ich haben, unabhängig voneinander, der Volksmeinung recht gegeben, die in breitester Mehrheit dem Eindruck zustimmt, es habe sich bei der Merkelschen Willkommens-Propaganda um eine Improvisation in letzter Minute gehandelt, die aus einer Verlegenheit eine überlegte Maßnahme machen wollte.“
Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.03.2016

„Wenn die Einwanderung eine Form annimmt, in der es keine Grenze mehr gibt, sondern nur ein wüstes offenes Feld, liegt Staatsversagen vor.“
Peter Sloterdijk, in: Der Tagesanzreiger, 15.04.2016

„Man kauft sich Zeit, man tut so, als gewinne man Spielräume, aber man nutzt sie nicht - unterdessen türmen sich die Berge ungelöster Probleme am Horizont immer höher auf.n kauft sich Zeit, man tut so, als gewinne man Spielräume, aber man nutzt sie nicht - unterdessen türmen sich die Berge ungelöster Probleme am Horizont immer höher auf.“
Peter Sloterdijk, in: Der Tagesanzreiger, 15.04.2016

„?Unter alt-ständischen Verhältnissen wäre unser Bundespräsident ein kleiner Dorfpfarrer in Mecklenburg-Vorpommern, Angela Merkel Haushaltshilfe auf einem Pfarrhof, ich selber mit etwas Glück Kanzlist in einer rheinischen Kleinstadt ….“
Peter Sloterdijk, in: Der Tagesanzreiger, 15.04.2016

„Die herkömmliche Linke war die politische Speerspitze einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der das vielzitierte Proletariat die Mehrheit bildete. Die übrigen Lohnabhängigen, namentlich die wachsenden Kreise der Angestellten, waren zu guten Anteilen in die sozialdemokratische Klientel eingemeindet. Heute jedoch ist das Merkmal Lohnabhängigkeit kein zureichendes Motiv für die Bindung an die alte Partei mehr. Immer mehr Menschen können es sich leisten, gegen ihr vermutetes »Klasseninteresse« zu stimmen. Insgesamt bemerkt man im aktuellen Parteiensystem, daß sich die gewachsenen Loyalitäten zwischen Wählerschaften und Parteien auflösen. Der Grund hierfür ist unter anderem darin zu suchen, daß die Politik seit längerem, genauer seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, ins Spektakelstadium eingetreten ist. Infolgedessen benehmen sich die Wähler nicht mehr so sehr als politische Ensembles, sondern wie ein Publikum. Der heutige Bürger konsumiert Ausdruckschancen in der Wahlkabine. Diese neuartige Situation bricht klassischen Linken das Genick. Denn wenn es je eine wirkliche Loyalitätspartei gab, dann wäre es die Linke gewesen, die radikale an erster Stelle, die gemäßigte danach. Die Sozialdemokratie geht offenbar wieder einmal an ihren eigenen Erfolgen zugrunde – in dem Augenblick, wo sie überall eingesickert ist, scheint sie in ihrer Originalgestalt überflüssig. Sie war das Therapeutikum gegen verschleppte feudale Zustände im späten 19. und Teilen des 20. Jahrhunderts. Jetzt regieren die Generika.“
Peter Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016

„Immer mehr Menschen verstehen, daß das Zeitalter selbst uns vor die Alternative stellt, entweder Demokrat, das heißt im weitesten Sinn Sozialdemokrat, zu bleiben oder Neofeudalist zu werden.“
Peter Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016

„Internationalität setzt wirksame nationale Agenturen voraus, das vergessen die Schwärmer für das Postnationale so leicht. Die konservative Essenz des klassischen Sozialdemokratismus zeigt sich in den Fragen, für die es jenseits des nationalen Formats noch keine überzeugenden Antworten gibt – vor allem beim Sozialstaat. Man kann das Errungenschaftskonservatismus nennen. Wenn man einen gewissen Grad der Teilhabe an sozialen Gütern erlangt hat, entwickelt man ein Bewahrungsinteresse. Der Sozialstaat ist strukturell konservativ-expansiv. Auch der Rechtsstaat lebt davon, daß es in jeder Generation genügend viele Akteure gibt, die ihn erhalten und weiterdenken wollen. Ohne Errungenschaftskonservatismus kann ein Gemeinwesen unseres Typs nicht existieren, deshalb habe ich vor kurzem eine Vokabel wie »linkskonservativ« benutzt, um die Gegend zu kennzeichnen, aus der ich argumentiere. Das Echo war bezeichnend: Sobald man daran erinnert, daß gerade die progressiven politischen Systeme, und die Bundesrepublik Deutschland gehört dazu, Bewahrungs- und Abgrenzungsinteressen haben, heftet sich die Meute der abstrakt Universalistischen an deine Fersen.“
Peter Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016

„Der klassische Nationalstaat ist das altmodische, aber nach wie vor fahrtüchtige Vehikel für die errungenschaftskonservativen Optionen. Der Nationalstaat als Träger rechtsstaatlicher Strukturen – ich sehe überhaupt nicht, wie ein übernationales Analogon zu ihm funktionieren könnte ....“
Peter Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016

„In dem Buch »Was geschah im 20. Jahrhundert?« wird ein Rahmen entwickelt, innerhalb dessen man verstehen kann, warum das Megathema unserer Zeit Wanderung heißt, Migration. Man muß sich erinnern: Europa hat sich zwischen 1800 und 1950 in einer permanenten Revolution der De-Agrarisierung befunden. Landflucht war das Megathema der vergangenen Epoche bei uns, das Parallelthema hieß Urbanisierung. Diese Beobachtung gilt heute und für die kommenden 100 Jahre in globalen Maßstäben. Sie trifft auf alle Schwellenländer und Länder mit beginnender Modernisierung zu. Weltweit finden riesige Binnenwanderungen vom ländlichen in den städtischen Raum statt.“
Peter Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016

„Zwei der größten Völkerwanderungen aller Zeiten geschehen innerhalb Chinas und Indiens, wo Populationen von über zwei Milliarden Menschen von ländlichen auf städtische bzw. suburbane Lebensformen umgeschichtet werden. Der Rest der Welt begreift noch nicht, was für ein Glück man hat, daß China und Indien nicht zu den gescheiterten Staaten rechnen. Diese Länder verarbeiten den Migrationsdruck bis auf weiteres in nationalen Räumen. Wir sind, ohne es zu wissen, Parasiten der Integrationskraft von China und Indien. Migration ist in evolutionärer Sicht das Megathema unserer Epoche. Migration liefert den Ersatz für eine unmögliche Revolution. Ein Unterthema bilden die grenzüberschreitenden Bewegungen in Form von Flucht, Vertreibung, Asylsuche und Auswanderung. Das alt- und neu-europäische Asylrecht erweist sich heute als ein untaugliches Mittel, massenhafte Wanderungen zu bewältigen. Diese Lektion lernen die Menschen Europas in diesen Tagen.“
Peter Sloterdijk, in: Berliner Zeitung, 31.05.2016

„Es war eine trügerische Hoffnung der Politik, Europa aus dem Katastrophenschatten der Geschichte herausgeführt zu haben. Wir leben wohl wieder in einem Zeitalter der Angst. Die aktuelle Angst kennzeichnet die heiße Phase der Globalisierung.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122

„Globalisierung bringt den Triumph der Indiskretion mit sich. Jetzt schaut jeder jedem ins Wohnzimmer. Globalisierung heißt die Weltform, in der die Chinesen uns näher sind als die Belgier. Oder um anthropologisch zu reden: Wie wollen wir aus einem Hordenwesen, das von Natur aus ein Kleingruppengeschöpf war, einen Weltbürger machen? Es war schon schwer genug einen Nationalmenschen aus ihm zu formen – und die Umformatierung der Nationalmenschen zu Europäern wird uns noch den Rest des 21. Jahrhunderts beschäftigen (wohl mit dem Ergebnis: ohne Erfolg! HB). Die Globalisierung als chronische Mobilisierung, als Einladung zum Dasein in ständiger Bewegung, erfaßt ja nur einen kleinen Teil der Menschheit, obwohl man den Tourismus als eine Schule des Weltbürgertums im weitesten Sinne auffassen darf. Darin sind die Deutschen weit fortgeschritten. Für viele Menschen bedeutet das Reisen die Einlösung eines Guthabens an Globalisierungskapital. Für die vielen, deren Radius nur wenige Meilen um ihren Wohnort reicht, wie bei zahlreichen Trump-Wählern, ist die kosmopolitische (weltbürgerliche) Tendenz furchterregend. Sie nehmen an der res publica, am öffentlichen Raum und am Weltverkehr fast gar nicht teil.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122

„Die Metapher (Wort mit übertragener Bedeutung) der Familie ist außerordentlich dehnbar. Daß sie am Ende die ganze Menschheit einschließen soll, daß alle Brüder und Schwestern sind, das leuchtet dann doch nicht jedem unmittelbar ein. Diejenigen, welche die Grenzen der Familie enger ziehen wollen, fallen heute als Populisten und Neonationalisten auf.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017

„Wir besitzen heute keine hinreichend starke Vision der Welt mehr, um das Ganze unter einem Dach zu erfassen. Philosophie entstand ursprünglich als therapeutische Kosmologie – das heißt, den Menschen in der erweiterten Welt heimisch zu machen. Der Philosoph ist heute zum öffentlichen Intellektuellen mutiert. Er kann nicht mehr als Designer des Ganzen auftreten. Wenn’s gut geht, fungiert er als Berater oder Beiträger.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017

„Philosophie, Religion und Politik haben die Gemeinsamkeit, sich um die Welt als Ganzes zu sorgen und das Bedürfnis nach Sicherung der Zukunft zu stillen. Das wichtigste Prädikat des Glaubens wie auch der Philosophie wurde in der Geschichte mit dem Begriff der »securitas« umschrieben. Auch Luther hat in seinen 95 Thesen das Paradies oder den vollkommenen Glauben mit dem Wort »securitas« wiedergegeben. Darin steckt eine sehr tiefe anthropologische Verankerung nach Gewißheit. Die Moderne produziert dagegen Desorientierung. Mit Gewißheit läßt sich nicht mehr paktieren. Die ... Hoffnung, die Welt sicher für die Demokratie zu machen, ist verflogen. Überhaupt müssen wir uns heute vor einer Überstrapazierung des Universalismus der Aufklärung hüten. Die Rechtspflege und die sozialen Solidarsysteme lassen sich bisher nur im nationalen Rahmen erhalten und ausbauen. Nichtmitgliedern unbeschränkten Zutritt zu beschaffen, mutet da wie eine Geste zur Selbstzerstörung an. Wie viel Fremdheit verträgt eine Kultur, die an einer gewissen Selbstähnlichkeit festzuhalten interessiert ist? Es gibt immer noch eine Fraktion von Linken oder Linksanarchisten beziehungsweise von politischen Masochisten, die jeden Hinweis auf so etwas wie Nation oder nationales Interesse, Identität und Tradition für ein Verbrechen an der Menschheit halten.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122

„Ich stehe für den historischen Konservatismus. Dieser beruht auf der Einsicht, daß zivilisatorische Errungenschaften verloren werden können. Es gibt keine Garantie, daß die gleiche Welt in der nächsten Generation weiterbesteht. Das gilt auch für Frieden, Wohlstand und den Schutz des Sozialstaats. Man könnte vielleicht damit leben, daß es in der nächsten Generation keine großen Erzähler oder Künstler mehr gibt oder keine großen Komponisten. Dramatisch wird es, wenn der Rechtsstaat, der Sozialstaat und die Wohnkultur gefährdet werden. Das letzte nenne ich nicht willkürlich: Von der Behausung hängt das Grundgefühl des In-derWelt-Seins von Menschen ganz wesentlich ab. Wenn das Bewußtsein der Verlierbarkeit von Zivilisationen den Menschen durchdrungen hat, erledigt sich ein Teil des frivolen Universalismus von selbst.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122

„Wie reversibel demokratische Errungenschaften sind, kann man heute in aller Welt studieren. Hierzu liefert der Populismus ein tägliches soziologisches Seminar. Der Begriff Demokratie enthält ein sehr hohes pseudodynamisches Potenzial, er ist eine Fehl- oder Deckbezeichnung für Strukturen der Machtausübung, die man sofort verwerflich fände, wenn man sie bei ihrem wahren Namen riefe: Oligokratie, Fiskokratie, Mobokratie, Phobokratie. Vor allem das Prinzip der Oligokratie ist das große Betriebsgeheimnis politischer Strukturen, die sich als demokratisch ausgeben. Hoi Oligoi heißen im Griechischen die wenigen. Die Welt ist nach wie vor oligokratisch organisiert, sie gehört den wenigen, nicht den vielen. Im übrigen kann man in diesem Kontext das Wunder der Bewegung von Emmanuel Macron ermessen: daß sie über Nacht die gesamte alte französische Oligokratenklasse, soweit sie Politiker waren, in den Urlaub geschickt hat. Das hätte ich den Franzosen am allerwenigsten zugetraut (es waren ja auch nicht »die Franzosen«, sondern es war nur Macron, der diese »Politkier ... in den Urlaub geschickt hat«; HB).“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 22.06.2017, S. 118-122

„Für Konservatismus gibt es zwei Definitionen, die erste ist anthropologisch, die andere prozessual oder historisch. Der primäre Konservatismus zeichnet sich durch seinen anthropologischen Pessimismus aus. .... Der prozessuale oder historische Konservatismus beruht auf der Einsicht, daß zivilisatorische Errungenschaften verloren werden können. Es gibt keine Garantie, daß die gleiche Welt in der nächsten Generation weiterbesteht. Das gilt auch für Frieden, Wohlstand und den Schutz des Sozialstaats. Man könnte vielleicht damit leben, daß es in der nächsten Generation keine großen Erzähler oder Künstler mehr gibt oder keine großen Komponisten. Dramatisch wird es, wenn der Rechtsstaat, der Sozialstaat und die Wohnkultur gefährdet werden. Das letztere nenne ich nicht willkürlich: Von der Behausung hängt das Grundgefühl des In-der-Welt-Seins von Menschen ganz wesentlich ab. Wenn das Bewußtsein der Verlierbarkeit von Zivilisationen den Menschen durchdrungen hat, erledigt sich ein Teil des frivolen Universalismus von selbst.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 30.06.2017

„Man kann universalistische Elemente sehr wohl auch von einem konservativen Standpunkt aus verteidigen. Der frivole Universalismus aber setzt bedeutende Errungenschaften aufs Spiel, um kleine Verbesserungen zu erreichen, von denen nicht gewiß ist, ob man sie bekommt. Wie reversibel demokratische Errungenschaften sind, kann man ja heute in aller Welt studieren. Hierzu liefert der Populismus ein tägliches soziologisches Seminar. Der Begriff Demokratie enthält ein sehr hohes pseudonymisches Potenzial, er ist eine Fehl- oder Deckbezeichnung für Strukturen der Machtausübung, die man sofort verwerflich fände, wenn man sie bei ihrem wahren Namen riefe: Oligokratie, Fiskokratie, Mobokratie, Phobokratie. Vor allem das Prinzip der Oligokratie ist das große Betriebsgeheimnis politischer Strukturen, die sich als demokratisch ausgeben. Hoi Oligoi heißen im Griechischen die wenigen. Die Welt ist nach wie vor oligokratisch organisiert, sie gehört den wenigen, nicht den vielen.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 30.06.2017

„Die Philosophie beginnt schon als Kulturrevolution. Als solche hat sie vor 2500 Jahren in der von Karl Jaspers sogenannten Achsenzeit eingesetzt, als die Hoch- und Schriftkulturen entstanden. Sie ist permanente Aufklärung. Mit der Kunst und der abgeklärten Religion ist sie die Dritte im Bunde, um auf die Herausforderungen der Existenz zu antworten. Aufklärung muß als Langzeitprojekt gedacht werden. Es ist eine sehr tonische Idee, sich in einer so weiten Tradition zu begreifen. Für die Wahrheit muß man sich viel Zeit lassen können. Man darf in der Philosophie alles sein, nur nicht ungeduldig. In der Langzeitperspektive erscheint vieles reversibel und heilbar, was einem kurzfristig irreversibel und unheilbar vorkommt. Das gibt Anlaß zur Hoffnung. Wenn er in größeren Zeiträumen denkt, überkommt den Zeitgenossen eine gewisse Gelassenheit.“
Peter Sloterdijk, in: Der Spiegel, 30.06.2017

„Als Staatsbürger bin ich konservativer als in meiner Rolle als Philosoph. Ich habe das Recht, Angela Merkel zu kritisieren, daß sie nach dieser außerordentlichen Situation des Herbstes ‘15 (am 4. September 2015 begann diese »außerordentliche Situation« mit der Öffnung aller Grenzen, so daß Millionen Flüchtlinge ungehindert nach Deutschland kommen konnten; HB) nicht klar gemacht hat, daß es sich hier um eine Ausnahmesituation gehandelt hat von unwiederholbarem Charakter. Sie hat sich jahrelang geweigert, den Begriff der Obergrenze zu benutzen.“
Peter Sloterdijk, in: Deutschlandfunk, 18.11.2018

 

 

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- Literaturverzeichnis -