Allah ist mit den Standhaften. Begegnungen mit der islamischen
Revolution (1983)
Nach Verlassen der Fatih-Moschee
und ihres öden Fabrikgeländes stand ich im Nieselregen auf der Görlitzer
Straße und sah mich nach meinem geparkten Auto um. Mein Blick fiel auf eine
evangelische Backsteinkirche, die wohl um die Jahrhundertwende gebaut worden war.
Über dem neuromanischen Portal war die Begegnung Christi mit den Jüngern
von Emmaus dargestellt. Darunter stand in gotischer Schrift ein Zitat aus dem
Lukas-Evangelium. In der Wilhelminischen Epoche sollte dieser Bibelspruch wohl
Zeugnis geben von lutherischer Zuversicht und gläubiger Geborgenheit in Gott.
Aber der Zeitgeist hatte sich gewandelt. Im Vorfeld des zutiefst verwirrten Okzidents
und auch im Kontrast zu der sendungsbewußten Moslemgemeinde der nahen Fatih-Moschee
klang die Einladung der Jünger von Emmaus wie der Schrei einer millenarischen
Angst: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 24).
Das Schwert des Islam. Revolution im Namen Allahs (1990)
Bisher
hat das Abendland es nicht vermocht, die Ereignisse des Morgenlandes mit anderen
als westlichen Augen zu sehen. .... Ob der rationale Westen dies anerkennt oder
nicht, mächtige Mythen erheben wieder ihr Haupt. Der Herausforderung der
islamischen Revolution wird der Okzident nicht mit Permissivität begegnen
können. Das 21. Jahrhundert wird ein religiöses sein, hatte der französische
Schriftsteller André Malraux verkündet. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 25).Wer erinnert sich noch der letzten Bilder des
alten kranken Mannes, der den sowjetischen Außenminister Schewardnadse empfing?
Damals hätte die Welt aufhorchen sollen. Die Botschaft Khomeinis an Michail
Gorbatschov lautete: Der Kommunismus der Moskowiter sei geistlich und materiell
gescheitert, und nun wäre es doch an der Zeit, daß die Sowjetunion
ihr Heil im Islam suche. Eine surrealistisch anmutende Aufforderung der Bekehrung
zu Allah. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 28).Niemand
ahnte im Sommer 1989, daß die große Bewegung des koranischen Bekennertums
binnen kürzester Frist auf die schiitischen Muselmanen des südlichen
Kaukasus übergreifen würde. Auf geradezu mystisch anmutende Weise fiel
das Begräbnis Khomeinis mit dem Aufflackern der nationalistischen und religiösen
Volkserhebung in der Sowjetrepublik zusammen. Der Ansturm der iranischen Revolutionsheere
war in den Sümpfen des Schatt-el-Arab liegengeblieben. Doch jetzt sprang
das heilige Feuer nach Norden über. Der islamische Eifer entzündete
sich jenseits des Flusses Arax, der die Grenze zwischen der iranischen Provinz
Aserbeidschan und der kaukasichen Sowjetrepublik gleichen Namens bildet. ... Die
kommunistischen Parteibücher wurden verbrannt, und das Antlitz Khomeinis
verdrängte die Bilder des Gottesleugners Wladimir Iljitsch Lenin. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 28-29).Es war ein schwerwiegender
Fehler westlicher Kommentatoren, daß sie die islamische Revolution auf die
Figur des Ayatollah Ruhollah Khomeini zu reduzieren versuchten. Hier handelt es
sich um ein fast weltumgreifendes Phänomen. Schon der Prophet Mohammed war
sich seiner universalen Mission bewußt. Als unbekannter und damals noch
unbedeutender Anführer einiger Beduinenhorden hatte er Botschafter an die
Großmächte seiner Zeit entsandt. Der Überlieferung zufolge trafen
Emissäre des Propheten beim Kaiser von Byzanz, beim Großkönig
des Sassaniden-Thrones in Persien, beim Koptischen Patriarchen von Alexandrien
ein, um sie aufzufordern, sich der neuen Offenbarung und dem Willen Allahs zu
unterwerfen. Diese Botschaft ist damals abgelehnt worden, aber die drei Herrschaftssysteme,
die da angesprochen waren, sollten später dem großen islamischen Sturm
unterliegen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 29).Das
Erwachen des Islam ist kein lokal begrenztes Problem. Über den Staat Israel
sind die Amerikaner unmittelbar tangiert. Die Sowjetunion spürt den Umbruch
ihrer südlichen Teilrepubliken, die zum koranischen Glauben zurückfinden.
Europa hat längst aufgehört, das Mittelmeer zu beherrschen. Zwischen
dem mediterranen Nord- und Südrand reißt eine Kluft auf. Von Süden
her ist eine Immigrationswelle in Gang gekommen, die einer Völkerwanderung
gleicht. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 29).Am
Anfang einer jeden Betrachtung über die islamische Revolution steht die Frage
der Existenz Israels. Das Verhältnis der Muslime zu den Juden war von Anfang
an gespannt. In der Eröffnungssure des Korans werden die Christen - relativ
harmlos - als Irrende dargestellt. Hingegen spricht Allah von den Juden als denjenigen,
denen er zürnt: »Ma'dub alaihi«. Wer von Mohammed und seinen
Ursprüngen redet, kann nicht umhin, einen Blick auf das Gelobte Land zu werfen
und auch auf Jerusalem, die »Stadt aus Gold«, wie die Israeli heute
singen. Auf arabisch trägt Jerusalem schlicht den Namen »El Quds«
- die Heilige. Aus der islamischen Offenbarungsgeschichte ist sie ebensowenig
wegzudenken wie Mekka und Medina. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
29-30).Für die Muslime bezeichnet die Moschee El Aqsa den
Ort, an dem der Prophet Mohammed auf dem Fabeltier Buraq in den Siebten Himmel
erhoben wurde. In jener Nacht des Schicksals wurde ihm die erhabenste göttliche
Botschaft zuteil. Nicht nur für die Palästinenser und für die Araber,
für den gesamten Islam ist der Besitz Jerusalems deshalb unverzichtbar. Der
koranischen Lehre zufolge haben hier die Stammväter Ibrahim und Ismail präzise
an dieser Stelle, wo sich heute die goldene Kuppel des Felsendoms erhebt, ihr
Sühneopfer dargebracht. Hier soll auch der Prophet Isa, ein Vorläufer
Mohammeds - die Christen nennen ihn Jesus und verehren ihn als Sohn Gottes -,
eines Tages auf den Wolken erscheinen und den Tag des Jüngsten Gerichts »Yaum
ed din« ankündigen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 30).
Das Bekenntnis Mohammeds zu Allah, dem einzigen Gott, seine Verfluchung
der vielen Götzen, die die Jahrhunderte der »Dschahiliya«, der
Unwissenheit, verdüstert hatten, mußten ihn natürlich die Feindschaft
all jener Händler von Mekka einbringen, die von der Wallfahrt zum Sanktuarium
dieses vielfältigen Aberglaubens, dieses »Schirk«, profitierten
und sich daran bereicherten. Von allen Sakralplätzen Mekkas zeichnete Mohammed
die heilige Kaaba (Würfel; zentrale Kultstätte
des Islam; HB) aus, in deren Wand ein schwarzer Meteorit als Zeichen
göttlicher Verheißung eingelassen ist. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 38).Als der prophet vor dem Zorn der Khoreischiten
bei nacht aus mekka fliehen mußte, als er die »Hidschra« nach
der Oase Yathrib im Norden antrat, die nach seinem Tode in »Madinat el Nabi«,
Stadt des Propheten, auch kurz »Medina«, umbenannt wurde, wiegte er
sich noch in der Hoffnung, die zahl- und einflußreichen jüdischen Stämme
Arabiens, deren Glaubensgut seine religiöse Offenbarung entscheidend inspiriert
hatte, auf seine Seite zu ziehen, ja sie zu seinen Jüngern zu machen. In
Yathrib, wo Mohammed sich mit seinen Gefolgsleuten, den »Ansar«, niederließ,
wo er nicht nur als Prediger des göttlichen Wortes, sondern vor allem auch
als Gesezgeber und Feldherr auftrat, stieß er von Anfang an auf die »Verstocktheit«
der dortigen Juden. Er wurde von der Bani Israil mit Spott übergossen und
rächte sich schrecklich, indem er sie erschlagen ließ oder aus Arabien
vertrieb. Bis zu dieser radikalen Entzweiung mit dem mosaischen Zweig der »Familie
des Buches« war er zu manchem Kompromiß bereit gewesen. So war ursprünglich
nicht der Freitag, sondern der Samstag, der Sabbat, der geweihte Tag des frühen
Islam, und erst nach dem Bruch mit den Hebräern wurde Mekka als obligatorische
Gebetsrichtung, als Qibla, fixiert. Bis dahin hatte sich die Gemeinde der »Muhadschirin«
nach Jerusalem verneigt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 38).Die
heiligen Bräuche von Mekka veranschaulichen die enge Verwandtschaft zwischen
Thora und Koran, zwischen Juden und Arabern, diesen verfeindeten semitischen Brudervölkern.
Am Anfang steht nämlich Abraham oder Ibrahim, der aus Mesopotamien ins Land
Kanaan gezogen war. Das Alte Testament wie übrigens auch die christlichen
Evangelien sind integrativer Bestandteil der muslimischen Lehre. Die Offenbarungsschriften
der Juden und Christen wurden letztlich, so heißt es bei den Korangelehrten,
von deren Interpreten verfälscht. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 38-40).An der abrahimitischen Inspiration des Hadsch (Wallfahrt
nach Mekka) läßt sich ermessen, mit welch unerbittlicher Rivalität
Juden und Muslime ihren Streit um die Gunst des Höchsten austragen. Seit
vielen Jahrhunderten setzt sich dieser Erbstreit im Hause Abraham fort. Durch
die Schaffung des Staates Israel ist der Anspruch der Juden auf das Gelobte Land,
ihre Vorstellung, als das auserwählte Volk Jahwes zu gelten, in deutlicher
Weise bekundet und reaktualisiert worden. Dem steht die Heilsbotschaft Mohammeds
entgegen, die inbrünstigen Gefühle der Muslime, daß sie die wahre,
von Irrtümern gereinigte und endgültige Wahrheit besitzen, wie sie dem
»Hanif« (Gottsucher) Ibrahim schon zu
Vorzeiten zuteil wurde. Dem auf das Volk Israel in quasi tribalistischer Einschränkung
umrissenen Erwähltheitsbegriff der Juden, dem Dreifaltigkeitsglauben der
Christen, der den Korangläubigen als eine Spaltung der Einzigkeit Gottes
erscheint, setzt der fromme Muslim die Überzeugung entgegen, daß er
der perfekten Religion anhängt. Er bekennt, daß dem Islam eine universale
Rolle zukommt und daß der Prophet - durch sein exemplarisches Leben als
Offenbarungsverkünder, Gesetzgeber und Feldherr - die Einheit von Religion
und Staat, ja die Unterwerfung der Politik unter das Sakrale für alle Zeit
festgeschrieben hat. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 40-41).Das
drittgrößte Heiligtum des Islam ... ist Jerusalem, und es ließe
sich darüber streiten, ob »El Quds«, die Heilige, nicht einen
höheren sakralen Stellenwert einnimmt als Medina. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 42).Der Hadsch illustriert nicht nur die angebliche
Überlegenheit des Islam über die frühe Lehre des Judentums, er
weist auch auf die Unverzichtbarkeit Jerusalems als Heiligtum des Islam hin. Aus
dieser Perspektive betrachtet, erscheint eine Lösung des aktuellen Konfliktes
um das Heilige Land kaum vorstellbar. Sie wird zu einer Frage des Jüngsten
Gerichts, wie ein renommierter Orientalist es formulierte. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 42).Immer wieder wird die Frage gestellt, warum
die Muslime sich in fremde Kulturen so schwer integrieren lassen. Seitdem das
Christentum aufgehört hat, gottesstaatliche Postulate zu formulieren, wie
das im Mittelalter der großen Päpste der Fall war, seit die römische
Kirche nicht mehr den Anspruch erhebt, allein seligmachend zu sein, haben in Europa
die Reformation und die Aufklärung neue Normen der Toleranz gegenüber
anderen Glaubensformen gesetzt. Wer den Islam mit dem Christentum vergleichen
will, muß auf die beiden Gründerfiguren zurückgreifen, auf Christus
und auf Mohammed. Immer wieder betonen die koranischen Schriftgelehrten, die Ulama,
die Jesus von Nazareth als einen der großen prophetischen Vorläufer
Mohammeds anerkennen, welche grundlegenden Unterschiede zwischen beiden abrahamitischen
Religionen existieren. Man vergißt heute zu leicht, daß das Urchristentum
kein politisches Konzept bereithielt, sondern sich auf einen nahe bevorstehenden
Weltuntergang vorbereitete. Die muslimischen Kenner der christlichen Lehre verweisen
auf den Satz Jesu: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Oder auf
jenes andere Zitat des Neuen Testaments: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers
ist, und Gott, was Gottes ist.« Auch die Mahnung »Wer zum Schwert
greift, wird durch das Schwert unkommen«, wird in diesem Zusammenhang erwähnt.
Tatsächlich haben die ersten Christen als Bekenner, als Märtyrer, zwar
den Tod in der Arena oder durch die Folterknechte des Römischen Reiches gesucht;
das entsprang aber nicht einer grundsätzlichen Ablehnung des alles beherrschenden
Cäsarentums, sondern der Weigerung der ersten Anhänger Jesu, den römischen
Kaiser als Gott anzuerkennen und ihm zu opfern. Was immer auch heute behauptet
werden mag: Die Bergpredigt enthält keinerlei Regierungskonzept, sie zeichnet
den christlichen Heilsweg auf. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 44).Ganz
anders der Prophet Mohammed. Er war im Gegensatz zu Christus nur Mensch, wenn
auch der perfekte Mensch. Mohammed war nicht nur der Künder und das Siegel
göttlicher Offenbarung, er war ein umfassender Gesetzgeber, und er war Feldherr
gegen die Ungläubigen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 44).Die
persönlichen Konflikte Mohammeds mit den Christen seiner Zeit waren zweitrangig.
Eine seiner Frauen war ohnehin Koptin, also Christin, und trug den Namen Maria
oder Miriam. .... Seine wirklichen Gegner ... waren die Juden (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 45).Der Konflikt, die Rivalität mit dem Judentum,
mit dem anderen semitischen Volk, das sich auf die Erbschaft Abrahams beruft,
gilt von jeher als eine Existenzfrage des Islam. .... Die wirklich unversöhnliche
Feindschaft zwischen Juden und Muselmanen brach erst aus, als der Zionismus unter
den europäischen Juden an Boden gewann. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 45).Eine seltsame Umkehrung hat seitdem stattgefunden. Heute
sind es die arabischen Palästinenser, die Nachfahren Ismaels, die in den
Flüchtlingslagern eine karge, verbitterte Existenz führen, die in der
Rolle des ewigen Wanderers Ahasver (Ewiger Jude)
gedrängt wurden, die von der Rückkehr in ihr Gelobtes Land Palästina
träumen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 48).Nicht
Verwestlichung und Modernität, nicht Verweltlichung und Diesseitigkeit hat
Israel den arabischen Nachbarn, den abrahamitischen Brüdern und Erbfeinden,
überzeugend vor Augen geführt. Die jüdische Staatsgründung
hat die muslimischen Rivalen um die Gunst Gottes auf den Weg der eigenen mystischen
Rückbesinnung verwiesen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 58).In
der unerbittlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden semitischen Völkern,
die sich auf Abraham berufen, besitzen die Mohammedaner einen deutlichen Vorsprung.
Während die jüdische Offenbarung auf ein auserwähltes Volk begrenzt
bleibt und keine umfassende Weltbekehrung zum Monotheismus ins Auge faßt,
erhebt die islamische Lehre Mohammeds einen universalen Anspruch. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 58).Die kriegerische Ausbreitung
des Islam, die sich nach dem Tod Mohammeds in Windeseile vollzog und binnen weniger
Jahrzehnte ein immenses Territorium zwischen Südspanien und Zentralasien,
den »Dar-ul-Islam«, umfaßte, vollzog sich im Zeichen des »Dschihad«.
Der Heilige Krieg gehört nicht zu den Grundgeboten, den fünf Säulen
des Islam. (Peter Scholl-Latour, ebd. S. 58). Mohammed
bewährte sich als Feldherr. Aus den Suren des Koran klingt eine ganze Folge
von eindeutigen Appellen an die Gläubigen. Sie sollen auf dem Weg Allahs
streiten, sie sollen töten und getötet werden, um der gerechten Sache
willen. Dann winken ihnen die himmlischen Gärten des Paradieses. Nicht nur
durch Feuer und Schwert, auch durch die Predigt der Schriftgelehrten und die bereitwillige
Unterwerfung ungläubiger Völkerschaften unter das Gesetz Allahs hat
sich der Islam in aller Welt verbreitet und schreitet weiter fort. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 58).Vor allem in Afrika ist der
Islam weiter im Vormarsch. .... Bis zum Kongo und bis tief in den Süden Mosambiks
sind die islamischen Missionare - meist handelt es sich um Händler, die den
Koran predigen - vorgestoßen. (Peter Scholl-Latour, Das Schwert
des Islam - Revolution im Namen Allahs, 1990, S. 59).Der
Erfolg des Islam bei den Schwarzen liegt zum großen Teil an der Einfachheit
seiner Lehre. Er wird zudem als eine antikolonialistische Botschaft betrachtet.
Nur wenige Afrikaner scheinen sich daran zu erinnern, daß der Sklavenhandel,
der zu Recht den weißen Eroberern angelastet wird, auch im arabisch-islamischen
Raum von Anfang an in mindestens ebenso schrecklicher Form gewütet hat. Im
Arabischen bezeichnet das Wort Abid sowohl den Neger als auch den Sklaven.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 59).Hier sollte immerhin
vermerkt werden, daß die koranische Botschaft auch jenseits des Atlantik
in Nordamerika Fuß gefaßt hat. Die dortige schwarze Protestbewegung
hat der militanten Oraganisation »Black Muslims« einen beachtlichen
Raum überlassen müssen. (Peter Scholl-Latour, Das Schwert des
Islam - Revolution im Namen Allahs, 1990, S. 59).Im 13. Jahrhundert
war der Mongolensturm wie ein mörderischer, alles vernichtender Wirbelwind
über den gesamten islamischen Orient hinweggefegt. Es blieben nur Trümmer
zurück, doch auf diesen Ruinen war kein neues arabisches Kalifat entstanden,
sondern der Machtanspruch der osmanischen Türken, deren Padischah (Großherr;
HB) sich zunächst den weltlichen Titel des Sultans zulegte, dann
aber nach Beseitigung der letzten nach Kairo geflüchteten Abbasiden auch
den Titel des Kalifen, des Statthalters auf Erden. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 67-68). Im Gegensatz zur europäischen Geschichte,
die sich (scheinbar! HB) linear entwickelte
und bis auf den heutigen Tag den Fortschrittsglauben hochhält, scheint sich
die islamische Entwicklung in einem ständigen Kreislauf zu bewegen. Nicht
erst der Orientexperte Arnold Toynbee hat diese Gesetzmäßigkeit aufgezeichnet.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 88-89).
Kampf dem Terror - Kampf dem Islam? Chronik eines unbegrenzten
Krieges (2002)
Heute läuft der Westen Gefahr, daß
der »Krieg gegen das Böse«, den Präsident George W. Bush
zur Vernichtung des weltweiten Terrorismus in Gang brachte und dem keine zeitlichen
oder geographischen Grenzen gesetzt sind, zur »Mutter aller Lügen«
wird. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 9).Die Idee einer
weltumspannenden Ausbreitung des westlichen Demokratie-Konzepts und der ihm zugrunde
liegenden Menschenrechtsideologie hatte sich ohnehin als grausame Farce erwiesen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 42).»Präsident
Clinton hat zu erkennen gegeben, daß er nicht gewillt ist, politischen oder
Wirtschaftlichen Druck auszuüben, um (den damaligen Regierungschef) Netanjahu
zur Abänderung seines Programms zu zwingen. Nichts, was Clinton ausrichten
kann, wird Einfluß auf die islamistische Hamas haben. Mrs. Abright kann
also nur die üblichen Platitüden von sich geben, die gewohnten Aussagen
der Entrüstung, des guten Willens und des Vertrauens in eine gute Zukunft,
die sich zweifellos nicht einstellen wird. Sie ist unfähig, mehr zu tun,
weil die Vereinigten Staaten über keine ernsthafte Politik auf diesem wie
auf so manchem anderen Gebiet verfügen. Die Kontrolle über die amerikanische
Politik ist während des letzten Vierteljahrhunderts Kartellen von Sonderinteressen
ausgeliefert worden, und jedes von ihnen ist in der Lage, Initiativen abzublocken,
die ihnen nicht genehm sind. Zu diesen Interessengruppen zählen offensichtlich
die israelische wie die kubanische Lobby in den USA, nicht wegen der Wählermasse,
die sie repräsentieren, sondern wegen der finanziellen Wahlkampfmittel, wegen
der Handelsinteressen, deren finanzielle Unterstützung für die Präsidentschaftskampagne
Bill Clintons unentbehrlich war ....« (William Pfaff, Los Angeles Times,
1997). So arbeitet nun mal die Demokratie, mögen manche sagen. Aber leider
arbeitet so das Geld. Hier handelt es sich um die Macht der Plutokratie, nicht
um die Macht des Volkes .... Niemals zuvor ist die amerikanische Außenpolitik
so eindeutig den Kräften von Privat- und Gruppeninteressen sowie der politischen
Demagogie ausgeliefert gewesen. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 43).Eine andere Befürchtung ist heute nicht mehr von der
hand z uweisen, daß nämlich die Osterweiterung der NATO sich als Rammbock
gegen die immer noch höchst fragile EU erweist. Die neuen bzw. künftigen
Mitglieder der Allianz (die meisten Länder des ehemaligen Ostblocks) richten
sich ohnehin militärisch weit stärker auf Washington aus als auf Brüssel
oder gar Berlin oder Paris. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 45).Der
von Washington seit Jahrzehnten propagierte »zweite europäische Pfeiler«
der NATO beruhte von Anfang an auf bewußter Irreführung. Eine auch
nur begrenzte Eigenständigkeit der europäischen Verteidigung wurde mit
allen Mitteln hintertrieben. Jeder Versuch eines Alleingangs (z.B. atomare Nuklear-Abschreckung)
stieß sofort auf rigorosen Widerspruch aus Washington. Die Abhängigkeit
sollte ... bleiben. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 46).Bei
der dringend notwendigen Anpassung an die neuen Realitäten kommt die Bundeswehr
an einer Reorientierung nicht vorbei, die weit über die vorliegenden Reformpläne
hinausgeht. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 46).Das
abwehrfähige Europa von morgen könnte sich allenfalls auf einen engbegrenzten
Kreis von Partnern beschränken. der politische Anatz für diese geographische
Konzentration, die der verhängnisvollen Osterweiterung von NATO und EU radikal
entgegenstünde, ist jedoch nicht in Sicht. Wo wäre auch ein Staatsmann
von überragender Statur, der diese Perspektive mit Leben erfüllte?
Dennoch ist es an der Zeit, daß die Abendländer sich der eigenen Schmach
und Schande bewußt werden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 47).Zwar
ist ständig von Massenvernichtungswaffen die Rede, doch nirgendwo existiert
eine eigenständige, cis-atlantische Abschreckung gegen eventuelle Erpressungen
durch »Schurkenstaaten«s, fanatische Terrororganisationen oder Mafiastrukturen.
Das Thema ist tabu, zumal in Deutschland schon die zivile Nutzung der Kernenergie
des Teufels ist. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 47).Bei
meinem Gespräch mit dem irakischen Vize-Regierungschef Traiq Asiz verwies
er darauf, daß in dieser Hinsicht die Europäer weit verwundbarer seien
als die durch zwei Ozeane geschützten vereinigten Staaten von Amerika.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 48).Europa steht im Begriff,
alle Voraussetzungen zu erfüllen, um eine leichte Beute der Barbaren zu werden.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 48).Während die Staaten
der EU sich mit dem Bevölkerungsschwund ihrer Ureinwohner abfinden, dauert
in ihrer unmittelbaren Umgebung die Geburtenexplosion an. Die große Migration
ist im vollen Gange. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 48).Das
Abendland ist immer noch immens reich, aber es ist schwach. Ihm fehlt die moralische
Substanz zur dezidierten Selbstbehauptung. Kurzum, alle Prämissen eines fatalen
»Untergangs« sind gegeben. So unrecht hatte Oswald Spengler
wohl nicht. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 48).Wie
unzeitgemäß, wie lächerlich hätte ich hingegen gewirkt, wenn
ich vor einer deutschen Veranstaltung mit den Worten »Gelobt sei Jesus Christus«
oder mit dem Kreuzzeichen aufgetreten wäre in einer Republik, deren Minister
es beim Amtseid mehrheitlich vermeiden, den Zusatz »So wahr mir Gott helfe«
anzufügen. Man stell sich einen us-amerikanischen Senator vor, der die Beteuerung
so help me God verweigerte. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 50).Wir kommen an dieser Stelle nicht umhin, über die türksiche
Erwartung zu sprechen, Vollmitgleid der Europäischen Union zu werden, ein
geographischer Nonsens, denn bis auf weiteres bezeichnet man Anatolien als Klein-Asien
und nicht als Klein-Europa. (Peter Scholl-Latour, Kampf dem Terror -
Kampf dem Islam?, 2002, S. 51). In
jenem Sommer 1993 kannte kaum jemand den Harvard-Professor Samuel Huntington,
und seine Studie über den »Clash of Civilizations«, den »Zusammenprall
der Kulturen«, war noch nicht erschienen, Dafür hatte André
Malraux, der Autor der »Condition humaine«, eine Generation zuvor
die Voraussage gewagt: »Le XXI-ème siècle seru religieux ou
ne sera pas - Das 21. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht
sein«. Düstere Prognose für das Abendland! (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 54).
Die
Fallschirmjäger von Kabul könnten meine Enkel sein, und gerade weil
ich über unendlich mehr Kriegserfahrung verfüge als die ehemaligen Pazifisten,
die uns heute regieren, blicke ich mit Sorge auf diese sympathischen jungen Leute.
.... Wissen die Berliner Politiker, die - um sich nach den antiamerikanischen
Ausfällen ihres Wahlkampfes nun wieder in Washington anzubiedern - ihre Bereitschaft
verkünden, das Kommando von ISAF zu übernehmen, überhaupt, worauf
sie sich einlassen? Mit einer zeitlich begrenzten Truppenpräsenz am
Hindukusch stützt man den proamerikanischen Vasallen Karzai ab und erlaubt
den Energiekonzernen der USA einen lukrativen und relativ sicheren Abtransport
von Erdgas und Petroleum in Richtung Indischer Ozean. Dafür wird das Leben
deutscher Soldaten aufs Spiel gesetzt im Auftrag einer Parlamentarierriege, die
sich früher zu dem törichten Spruch bekannte: »Frieden schaffen
ohne Waffen«. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 83-84).Hekmatyar
... vergleicht die Aktion der USA mit dem Fehlschlag des sowjetischen Expansionsstrebens
und sogar mit der gescheiterten Eroberungspolitik Adolf Hitlers. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 115).Hamed Gul hatte die Expansion
der USA in Zentralasien mit dem kaltblütigen Bestreben Moskaus erklärt,
dem ehemaligen Gegner des »Kalten Krieges« in dieser unbezähmbaren
Weltgegend ein ähnliches Schicksal zu bereiten, wie es die Sowjetunion nach
1979 erlitten hatte. Hamed Gul verwies Scholl-Latour diesbezüglich auf eine
Studie des russischen Generals Gromov. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 122).Aber, so argumentierte er, all dies sei nur ein Vorgeplänkel.
Ihn faszinierte die unvermeidliche Konfrontation, die sich zwischen Washington
und Peking anbahnte. Die USA seien darauf aus, die Volksrepublik von ihren unentbehrlichen
Energiequellen in Zentralasien abzuschneiden. Ähnlich habe es ja Präsident
Franklin D. Rosevelt mit den Japanern im Jahr 1941 getrieben, als er dem General
Tojo jedwede Petroleumlieferung verweigerte. Der Pazifikkrieg sei dadurch für
Nippon unvermeidlich geworden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 122).
Dabei
erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem einflußreichen us-amerikanischen
Senator der Republikanischen Partei, der mich schon vor fünf Jahren mit der
»Enthüllung« überrascht hatte, die Außenpolitik, zumindest
die Nahostpolitik der USA, werde in Jerusalem konzipiert. Er konnte eine solche
Behauptung wohl nur wagen, weil er Träger eines angesehenen jüdischen
Namens war. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 232).Schon
1983 schrieb ich: Im gesamten Orient wird es dem Weißen Haus schwerfallen,
eine Pax Americana imperialen Ausmaßes fest zu etablieren, solange ihnen
keine Legionäre zur Vefügung stehen, die sich »römischer
Tugenden« rühmen. Die US-Amerikaner scheinen nach den Erfahrungen
in Vietnam erst wieder lernen zu müssen, und auch die Israeli scheinen
- spätetsens seit ihrem Libanon-Abenteuer - aufgehört zu haben, das
Sterben für das Vaterland als »dulce et decorum« zu preisen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 246).
Ob
die Strategen des Pentagon wohl eines Tages entdecken werden, daß der Judenstaat
- statt eine solide strategische Bastion der USA im Orient zu bilden - zur Achillesferse
Amerikas zu werden droht? Wer vermag am Potomac die warnende Klage des
Propheten Zacharias zu begreifen, der da im Namen seines Herrn verkündete:
»Siehe, ich will Jerusalem zum Taumelbecher zurichten allen Völkern,
die umher sind. Zur selben Zeit will ich Jerusalem machen zum Laststein allen
Völkern; alle, die ihn wegheben wollen, sollen sich daran zerschneiden.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 285).
Weltmacht im Treibsand. Bush gegen die Ayatollhas (2004)
»Stell
dir vor, es gibt Krieg, und keiner geht hin«, so heißt es angeblich
bei Bertold Brecht. Die deutschen Pazifisten, von denen einige in der jetzigen
Regierung als Minister amtieren, hatten diese Losung begeistert übernommen,
obwohl sie verfälscht ist. Heute müßte sie wohl anders lauten:
»Stell dir vor, es gibt Krieg, und keiner weiß es! «
Welchem Bundesbürger ist denn wirklich bewußt, daß mit Inkrafttreten
des Artikels V der Atlantischen Allianz nach dem 11. September 2001 die europäischen
Staaten weiterhin auf seiten des us-amerikanischen Verbündeten in einen globalen
Feldzug gegen den Terrorismus verwickelt sind, der weder zeitliche noch räumliche
Grenzen kennt? (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 9).Nur
ein Dummkopf kann sich heute schämen, ein »alter
Europäer« zu sein. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
14).Die deutsche Reaktion auf diese neue Situation bestand aus
einem Gemisch aus Willfährigkeit gegenüber der traditionellen atlantischen
Führungsmacht, mangelndem Verantwortungsgefühl gegenüber den eigenen
Soldaten und - trotz vorzüglicher nachrichtendienstlicher Unterrichtung -
verbohrter Verkennung der realen Verhältnisse am Hindukusch. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 18).Wie weit soll der ritt nach
osten noch gehen? Schon gehört Rußland der »partnership for peace«
an. Wird die Bundeswehr eines fernen Tages, wenn die fortschreitende Solidarisierung
zwischen Washington und Moskau eine konkrete Bündnisform annimmt, am Ussuri
und Amur in Fernost Stellung beziehen und sich in eine gemeinsame Front gegen
die chinesische Volksbefreiungsarmee einreihen? (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 18-19).Die wirkliche Allianz der Zukunft wird jedoch
nicht zwischen Europa und Moskau, sondern zwischen Moskau und Washington geschmiedet
werden. Der revolutionäre Islamismus einerseits, die aufsteigende Weltmacht
China andererseits, das sind die ... historischen Herausforderungen, denen sich
der globale Hegemonialanspruch US-Amerikas und die Überlebensstrategie Rußlands
ausgesetzt sehen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 19).Die
Viererberatung von Brüssel, die im Septemver 2003 stattfand, ist als »Konditor-Allianz«
geschmäht worden. dennoch sollte sie als sinnvolle Initiative, ja vielleicht
als einzig praktikabler Weg anerkannt werden. Selten ist ein internationales Treffen
mit so viel Häme übergossen worden wie dieser »Pralinengipfel«.
Die Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs wollten
dort den Grundstein zu einer unabhängigen Verteidigung Europas legen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 22).Daß die USA sich
gegen diese Emanzipation verwahren, ist zwar unklug, aber verständlich. Wenn
jedoch eine ganze Kohorte deutscher Politiker und Publizisten jenen zwei Nationen
des »alten Kontinents« ... jegliche Fähigkeit zur Selbstverteidigung
absprechen, klingt daraus nicht nur Verzagtheit, sondern auch betrübliche
Selbstverleugnung. Immerhin stellt diese »Konditor-Allianz« eine Bevölkerungsmasse
von 150 Millionen Menschen dar, also mehr als das riesige Rußland zwischen
Smolensk und Wladiwostok aufzubieten hat, und ein Wirtschaftspotential, das nur
in den USA seinesgleichen findet. Daß diese »karolingische Achse«
auf militärischem Gebiet irrelevant bleibt, ist vor allem jenen deutschen
Parteien zu verdanken, die nach Ende des Ost-West-Konflikts ihre illusorische
Friedensdividende kassieren wollten und das Wehrbudget verkümmern ließen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 23).Der globale Vormachtsanspruch,
den George W. Bush vertritt, steuert us-amerikanischen Analysten zufolge unweigerlich
auf eine weltweite Konfrontation mit dem revolutionären Islamismus und auf
eine Kraftprobe mit der Volksrepublik China zu. In beiden Fällen decken sich
die Interessen Rußlands und der USA. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 24).Eines haben Europäer und Iraker gemeinsam. Ihre Zukunft
wird durch die türkische Frage überschattet. .... Die Aufnahme (in
die EU! HB) beinhaltet das freie Niederlassungsrecht für die
Bürger aller Mitgliedsstaaten. Die türkischen Deutschland-Experten und
Soziologen in Ankara und Istanbul hegen nicht den geringsten Zweifel, daß
somit eine gewaltige Migration aus Anatolien in Richtung Deutschland stattfände,
eine rapide Zuwanderung von mindestens 10 Millionen Menschen, darunter ein überproportional
großer Anteil von Kurden. Die Bundesrepublik Deutschland verlöre damit
nicht nur ihre ohnehin fragwürdige christliche, sondern auch ihre nationale
Identität. Bei aller Sympathie für die Türken, bei aller Anerkennung
ihres Fleißes, ihrer Disziplin, käme es dann auf deutschem Boden -
zumal in den Wohngebieten der kleinen Leute - zu einem fatalen Kulturschock, ja
zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, an denen gemessen die Streitfälle Nordirland
oder Baskenland, mit denen London und Madrid sich plagen, als Lappalie erschienen.
Sehr bald würden im Bundestag türkische, vielleicht auch islamisch orientierte
Parteien entstehen, die jede Regierungsbildung beeinflussen und - wie heute schon
in gewissen Ballungsgebieten von Türken mit deutschem Paß - das Zünglein
an der Waage bilden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 28-29).Ob
die Bombenanschläge, die im Dezember 2003 jüdische Kultstätten
und britische Einrichtungen in Istanbul verwüsteten - die Täter waren
ausschließlich Türken -, das Hochkommen einer extrem-islamistischen
Welle der Republik Atatürks signalisieren, bleibt noch dahingestellt. Aber
wer von der Geschichtsträchtigen Metropole Konstantinopel als einem Ort der
Toleranz, der multikutltuellen Entfaltung und einer Freizügigkeit der Sitten
schwärmt, sollte einmal das dortige Fatih-Viertel
aufsuchen, wo die Frauen schwarzverhüllt gehen und die Scharia schon wieder
das tägliche Leben bestimmt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
29-30).Für eine diffuse Gespensterjagd gegen den »internationalen
Terrorismus« wurde das Atlantische Bündnis jedoch nicht erfunden. Die
NATO entartet seitdem zum Instrument angelsächsischer Bevormundung und Irreführung.
Das war schon - mit Verlaub gesagt - im Kosovo-Krieg gegen Serbien der Fall.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 32).Die wirtschaftlich-industriellen
Fortschritte im Reich der Mitte sind phänomenal, und die dortige Weltraumtechnik
... wäre auch in der Lage, das sakrosankte Territorium der USA mit nuklearbestückten
Interkontinentalraketen zu erreichen. .... Würde eine Hegemonialmacht, die
in Vietnam versagte, die Torheit begehen, sich zu Lande mit dem gigantischen Drachen
am Westrand des Pazifik in einen Kampf auf Leben und Tod einzulassen? ....
Die Zeit arbeitet für dieses neu entstandene, unbesiegbare Imperium, dessen
Wirtschaftsmetropole Shanghai weder mit Singapur noch mit Tokio rivalisieren will,
sondern mit New York. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 46-47).Schon
aus geographischen Gründen kann die amerikanische Planung weder auf Deutschland
noch Frankreich verzichten. Im extremen Ernstfall, dem die Anrainer des Mittelmeers
und des Balkans bedrohlicher ausgesetzt wären als die durch zwei Ozeane geschützten
USA, könnte nur von Berlin und Paris jene längst fällige Aufstellung
einer europäischen Kernallianz ausgehen, die den Amerikanern als gleichberechtigtre
Partner und Entscheidungsträger weit nützlicher wäre als in der
Rolle eines unterwürfigen und zwangsläufig verbitterten Vasallen. Selbst
das stolze Spanien, das an seinen nordafrikanischen »Presidios« Cëuta
und Melilla festhält und in dieser Frage auf eine unvermeidliche Auseinandersetzung
mit dem Scherifischen Königreich Marokko zutreibt - der Zwischenfall auf
der Petersilieninsel vermittelt einen Vorgeschmack -, wird spätestens zu
diesem Zeitpunkt entdecken, daß der Beistand der »vieja Europa«
(des alten
Europa; HB) wichtiger sein kann als das Protektorat der auf fernen
Kriegsschauplätzen gebundenen »Estados Unidos del Norte«.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 48).»Das
XXI. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein.« Die
Voraussage André Malraux', der dem General de Gaulle als Informations-
und Kulturminister zur Seite stand, hatte ich vor 20 Jahren zum Leitmotiv des
ersten Buches über »Meine Begegnungen mit der Islamischen Revolutuion«
gemacht. Das Wort ist seitdem oft wiederholt worden in deutschen Zeitungsspalten
und auf deutschen Kanzeln. Jedenfalls hat Malraux nicht auf samuel Huntington
und seinem »Clash of Civilizations« gewartet, dessen Thesen über
den weltweiten kampf der Kulturen für die Eingeweihten keine Überraschung
bereithielt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 49-50). Viel
verblüffender ... ist das Erstarken der christlichen Erweckungsbewegung,
des bigotten protestantischen Fundamentalismus in Nordamerika, und dessen politische
Auswirkungen. Damit hatten die wenigsten gerechnet, obwohl dabei ein Grundzug
des amerikanischen Wesens zutage tritt, den der unvergleichliche Alexis de Tocqueville
schon im neunzehnten Jahrhundert definiert hatte. Ich greife hier auf den Kolumnisten
William Pfaff zurück: »Die amerikanische Geschichte - the American
Story - muß von Anfang an als eine Konfrontation zwischen den Erwählten
und den Verdammten beschrieben werden, wie das der mächtige Einfluß
des Calvinismus mit seinem Glauben an Prädestination und Gottesherrschaft
vorgegeben hat. Als die Sowjetunion, der Rolle des Bösen nicht
mehr entsprach, hielt Washington nach eventuellen Nachfolgern Ausschau und fixierte
sich schließlich auf die Schurkenstaaten, das heißt auf
all diejenigen, die radikale unamerikanische Ideen vertraten und nach dem Erwerb
von Nuklearwaffen trachteten. Die Schwäche dieser rogue states
verminderte jedoch ihre Glaubwürdigkeit als Repräsentanten des globalen
Übels. Dann kam der 11. September (2001;
HB), und das Problem war gelöst. Die Schurkenstaaten wurden jetzt
zur Achse des Bösen. Sie wurden Teil einer umfassenden internationalen
Bedrohung, die sogar die Vereinigten Staaten heimsuchen konnte. Die Nation befand
sich von nun an im Krieg gegen den Terrorismus.« (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 50).Der englische Schriftsteller
und Satiriker G. K. Chesterton, der 1936 gestorben ist und als Katholik gegen
die »Heuchelei« des calvinistischen Protestantismus polemisierte,
hatte festgestellt, daß die Vereinigten Staaten von Amerika eine »Nation
mit der Seele einer Kirche« seien, daß sie »keiner Ideologie
bedürften, weil sie selbst eine Ideologie sind«. Der Manichäismus
der amerikanischen Außenpolitik, der Rückgriff auf die dualistischen
Thesen des mesopotamischen Predigers Mani, der seinerseits unter dem Einfluß
des Zarathustra-Kultes stand, war mir bereits aufgefallen, noch ehe ich Chesterton
gelesen hatte. Die Vorstellungen dieses streitbaren »Papisten« klingen
heute aktueller denn je: Die Puritaner der Neuen Welt hätten geschwankt zwischen
der passiven Idee, Amerika in ein »neues Jerusalem« zu verwandeln,
und dem aktiven Vorhaben, mit dem eigenen Beispiel ein Leuchtturm für die
übrige Welt zu sein. Ihm falle diese Missionspflicht zu, zurückgebliebene,
weniger zivilisierte Völker auf amerikanisches Niveau anzuheben, eine neue
Weltordnung zu schaffen, die Welt zu erlösen, die Voraussetzungen für
das Tausendjährige Reich der Gerechtigkeit zu schaffen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 50-51).Diese chiliastische Erwartung einer Heilsgestalt,
die das Ende der Tage und die Ankunft Gottes verkündigt, findet sich seltsamerweise
beim schiitischen Glaubenszweig des Islam wieder, der sehnsüchtig auf das
Erscheinen des »Mehdi«, des Verborgenen Zwölften Imam, wartet.
Ebenso ungeduldig debattieren die jüdischen Orthodoxen, die den zionistischen
Staat ablehnen, über die Parusie des Messias und das Entstehen des wahren,
gottgefälligen Israel. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 51).Schon
bei meinem ersten Amerika-Aufenthalt hatte ich zahlreiche Plakate bemerkt: »Go
to church - somewhere! « Der Publizist Nicholas D. Kristof beschreibt die
Zunahme der »evangelikanischen« Frömmigkeit, die im sogenannten
Bible Belt der Baptisten und ähnlicher Sekten stets zu Hause war, wie folgt:
»Achtundfünfzig Prozent der US-Amerikaner sind überzeugt, daß
man an Gott glauben muß, um moralisch zu sein. Andere hochentwickelte Länder
verhalten sich da anders. In Frankreich stimmen nur dreizehn Prozent mit der amerikanischen
Auffassung überein. Der Glaube an die Jungfrauengeburt Mariä, der seit
der letzten Meinungsumfrage um fünf Prozent zugenommen hat, weist darauf
hin, daß das amerikanische Christentum sich nicht intellektuell, sondern
mystisch orientiert. .... « (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
51).George W. Bush ist ein Anhänger der »fundamentalistischen«
Bibel-Auslegung. Er gehört zu den »Wiedergeborenen - the born again«
und macht heute seine sündigen Jugendjahre, seine frühen alkoholischen
Exzesse durch betonte religiöse Militanz wett. Wie amerikanische Psychologen
feststellten, ist der Präsident von der gottgewollten Mission Amerikas ehrlich
durchdrungen, empfindet sich als »Leader« eines auserwählten
Volkes, könnte ohne Umschweife als »Gotteskrieger im Namen der Freiheit«
definiert werden. Nicht nur im islamischen Orient sammelt sich also die »Hizbullah«,
auch in den USA beansprucht eine fundamentalistisch-christliche »Partei
Gottes« die Lenkung des Weltgeschehens. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 51).Dazu geselte sich im Herzen der Macht die geheimnisvolle
Gemeinde der »Neokonservativen«. deren Einfluß auf die Gestaltung
us-amerikanischer Diplomatie und Strategie ist immens. Ideologischer Ausgangspunkt
dieser konspirativen Gruppe waren wohl die Thesen des Politologen Francis Fukuyama,
der in der globalen Verwirklichung des us-amerikanischen Demokratiekonzepts und
einer ungehemmten Marktwirtschaft den idealen Zustand der Menschheit erblickte
und somit das »Ende der Geschichte« ankündigte. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 52).Fukuyamas Vision durch den Gang
der Ereignisse längst widerlegt. An deren Stelle hat sich eine andere Philosophie
bei den »Neo-Cons« durchgesetzt, die sich auf den aus Deutschland
emigrierten jüdischen Lehrmeister Leo Strauss bezieht. Darüber ist inzwischen
viel geschrieben worden. Es besteht nämlich ein flagranter Widerspruch zwischen
den elitären Ansprüchen, die der Professor aufzeichnet, und der einfaltigen,
trivialen Bibelgläubigkeit des gewöhnlichen Evangelikaners. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 52). Bei
einem gesellschaftlichen Treffen ... bin ich auf Walter Miller gestoßen,
den Mitarbeiter einer jener großen us-amerikanischen Institute, die sich
mit Meinungsforschung und Meinungsbeeinflussung beschäftigen. Miller gab
sich ganz offen als Anhänger der neokonservativen Schule zu erkennen und
ließ sogar den Bezug auf Leo Strauss gelten. Er ... vertrat einen theologisch
anmutenden Eifer beim Vortrag seiner Überzeugungen, wie er bei Konvertiten
oft anzutreffen ist. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 52-53).»Was
bedeutet denn eigentlich die neokonservative Doktrin?« fragte ich ihn rundheraus.
Das war offenbar gar nicht so einfach zu erklären. Als Vorläufer wurden
mir sowohl Theodore Roosevelt als auch Woodrow Wilson genannt, obwohl mir die
beiden Präsidenten der USA bislang als extrem unterschiedliche Typen erschienen
waren. Theodore Roosevelt, der 1898 für den Krieg gegen Spanien plädiert
hatte, der ohne Umschweife Kuba und die Philippinen der amerikanischen Einflußzone
einverleibte, hatte sich als »Rough Rider« einen Namen gemacht. Er
ist als imperial veranlagter Realpolitiker in die Geschichte eingegangen. Die
heutige US-Administration, die viel zu oft und viel zu dröhnend mit ihren
Erklärungen herauskommt, täte gut daran, sich den ersten Teil der außenpolitischen
Maxime Theodore Roosevelts zu Herzen zu nehmen: »Speak softly and carry
a big stick - sprich leise, und habe stets einen dicken Knüppel zur Hand
!« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 53).Woodrow
Wilson hingegen, der die Vereinigten Staaten 1917 in die Koalition gegen Deutschland
einbrachte, war - daran gemessen - ein versponnener Moralist. Aber auch er träumte,
vielleicht in umfassenderem Maße noch als Teddy Roosevelt, von einer universalen
Mission der USA. Seine Abkehr vom überlieferten Isolationismus Amerikas begründete
er mit einem weltverbesserischen, utopischen Anspruch, der sich auf die Grundprinzipien
von »God's Own Country« berief. Wilson hatte sein Programm in vierzehn
Punkten niedergelegt, was den damaligen französischen Regierungschef Georges
Clemenceau zu der spöttischen Äußerung veranlaßte, Gott
selbst habe sich doch mit nur zehn Geboten zufriedengegeben. Auf Betreiben dieses
kontaktarmen Idealisten wurde der Völkerbund gegründet, dem die USA
- was bezeichnend ist für das Scheitern der damaligen Politik - niemals beitrat.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 53).Sehr erhellend und konsequent
sind die Erklärungen nicht, die Walter Miller bei diesem Dinner vortrug.
Wenn ich ihn recht verstanden habe, stützt der Clan der Neokonservativen
... auf ein Gedankengut, das bei den »alten
Europäern« ein gewisses Unbehagen verursacht. Während die
Religion im protestantischen Selbstverständnis der us-amerikanischen Frömmigkeit
die unentbehrliche Grundlage für den Zusammenhalt des Staates ist, ja gelegentlich
als »unerläßliches Opium« für das Volk bezeichnet
wird, bewegt sich die erlauchte Führungselite auf einem ganz anderen Niveau.
Ihr Anspruch läuft nicht darauf hinaus, der Masse der Bürger eine wirklichkeitsbezogene
Wahrheit zu vermitteln, sondern sie kann auf »fromme Lügen« zurückgreifen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 53-54).Die Manipulation der
öffentlichen Meinung wird damit zur Regierungsdoktrin erhoben. Diesem Schema
entspricht wohl die systematische Desinformationspolitik, deren sich die Bush-Administration
gegenüber der eigenen Bevölkerung und den engsten Verbündeten bedient.
Auf Plato und auf Nietzsche beziehen sich angeblich Theorie und Praxis der »Neo-Cons«,
und damit kommen düstere Erinnerungen hoch. Den Streit zwischen diesen neuen
»maltres-penseurs« und den als unpatriotisch abgestempelten »Liberalen«
alten Schlages verglich ich beim Gespräch mit dem endlosen Disput, den im
»Zauberberg« der jüdische Jesuit Naphta mit dem italienischen
»Progressisten« Settembrini führt. Aber Walter Miller hat Thomas
Mann nicht gelesen. Er gab mir hingegen den Rat, zum besseren Verständnis
der neuen Mentalität Amerikas einen Essay zu beachten, den der bekannte Journalist
Robert D. Kaplan in »The Atlantic Monthly« veröffentlicht hat
und der in Deutschland von der »Welt« übernommen wurde. Das Gespräch
mit Miller war trotz unserer unterschiedlichen Meinungen höflich und zivilisiert
verlaufen, ähnlich übrigens wie meine anderen gelegentlichen Kontakte
mit engagierten amerikanischen Anhängern der »Bush-Doktrin«.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 54).Die Ausführungen
von Robert D. Kaplan habe ich später mit gemischten Gefühlen gelesen.
.... Es kommt noch besser: »Da Kriege immer unkonventioneller und asymmetrischer
werden und das Überraschungsmoment immer mehr an Bedeutung gewinnt, wird
immer weniger Zeit für demokratische Beratungen sein, weder mit dem Kongreß
noch mit den Vereinten Nationen. Statt dessen werden die zivil-militärischen
Eliten in Washington und anderswo blitzschnelle Entscheidungen fällen müssen.
Unter solchen Umständen wird die Zustimmung der internationalen Gemeinschaft
allmählich an Bedeutung verlieren, selbst wenn alle feierlich das Gegenteil
behaupten.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 54-55).Das
Vorgehen der USA auf den Philippinen nach ihrem Sieg über Spanien im Jahr
1898 wird von Kaplan als »eine der erfolgreichsten Niederschlagungen eines
Aufstandes durch eine westliche Macht in moderner Zeit« gewertet. Weiß
der Autor, daß die US Marines damals unter General Pershing, »Blackjack«
genannt, hundertfünfzigtausend überwiegend muslimische Filipinos massakrierten
mit dem Ergebnis, daß die Rebellion dieser »Moros« bis auf den
heutigen Tag andauert? Ich zähle weitere Grundsätze der neokonservativen
Ideologie auf: »Weil die Folgen eines Angriffs von Massenvernichtungswaffen
so katastrophal sind«, schreibt Kaplan, »werden die Vereinigten Staaten
immer wieder einmal trotz eingeschränkter Erkenntnislage zu Präventivschlägen
gezwungen sein. Dadurch sind unsere Aktionen den Angriffen der Journalisten ausgesetzt,
ganz zu schweigen von Millionen Demonstranten, die ihre Proteste in wachsendem
Maße weltweit koordinieren können. .... Die beste Informationsstrategie
besteht ohnehin darin, Konfrontationen zu vermeiden, die die öffentliche
Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und das Interesse der Öffentlichkeit möglichst
weit zu streuen. Wir können die Welt nur in aller Stille beherrschen, sozusagen
bei ausgeschalteter Kamera. Militärische Auseinandersetzungen in Kolumbien,
auf den Philippinen, Nepal und anderen Orten könnten sehr wohl insgeheim
stattfinden.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 55-56).Wir
nähern uns dem Höhepunkt. »Der Imperialismus in der Antike war
eine Spielart des Isolationismus: Der Anspruch auf absolute Sicherheit im eigenen
Land führte zu dem Versuch, die Welt um sich herum zu dominieren. Dieses
Modell eines heidnisch-römischen Imperialismus steht im scharfen Gegensatz
zum altruistischen victorianischen Beispiel, das sich etwa im Ausspruch von Premierminister
William Gladstone zeigt, nach dem die »Unantastbarkeit des Lebens in den
Bergdörfern Afghanistans« geachtet werden müsse. Wir Amerikaner
sind von Natur aus große Idealisten. Und doch sind wir zugleich im Interesse
der nationalen Sicherheit gezwungen, unsere Außenpolitik heidnischer zu
gestalten.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 56).Seit
zunehmende Massen us-amerikanischer Gläubiger sich eine sektiererisch intolerante
Auslegung der Heiligen Schrift zu eigen machen, der »Bible Belt« sich
erweitert, die Gottesdienste sich immer häufiger in ekstatische Happenings
verwandeln, steht George W. Bush - über die traditionelle Gefolgschaft der
»Grand Old Party« hinaus - eine neue, begeisterte Gefolgschaft zur
Verfügung. Die christlichen »Gotteskrieger« haben die Tragödie
von »Nine Eleven« als Vorboten der Apokalypse gedeutet. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 57).Präsident Bush kann sich
mit Fug und Recht der traditionellen »WASP« zurechnen, »White,
Anglo-Saxon, Protestant«. Aber jede Rassendiskriminierung, das muß
zu seiner Ehre betont werden, ist ihm fremd. Unter seinen allerengsten Mitarbeitern
befindet sich eine Anzahl Afroamerikaner. Den eben eingebürgerten Neu-Amerikanern
- vorzugsweise den »Latinos« - begegnet er mit Wohlwollen und Sympathie.
Die Streitkräfte der USA haben überaus positiv zur Integration der unterschiedlichsten
Immigranten beigetragen, denen die höchsten Kommandostellen offenstehen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 58).Es läuft wohl nicht
alles nach Plan, seit die imperialen Projekte im Treibsand der syrischen Wüste
steckenblieben. »Dieses sind harte Zeiten für die Architekten der Bush-Doktrin
des Unilateralismus und des vorbeugenden Krieges«, schreibt Krugman. Dick
Cheney, Donald Rumsfeld und deren Gefolge, die ein neues us-amerikanisches Jahrhundert
predigen, betrachten den Irak als ein Pilotprojekt, das ihre Sicht der Dinge bestätigen
und den Weg frei machen würde für zusätzliche Regime-Wechsel.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 61-62).Paul Wolfowitz nahm
die Vergabe von Wiederaufbaukontrakten im Irak zum Anlaß, allein den »Willigen«
der Koalition einen bescheidenen Teil des Kuchens zuzuteilen. »Im Klartext
übersetzt«, so meint Paul Krugman, »können wir andere Nationen
bestechen, ihre Soldaten auszuschicken.« Der Präsident hat sich diesen
Standpunkt zu eigen gemacht mit der lakonischen Äußerung: »Es
ist alles sehr einfach. Unsere Leute riskieren ihr Leben. Freundliche Koalitionspartner
riskieren ihr Leben. Die Vergabe von Aufträgen wird dem Rechnung tragen.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 62).»Blood for oil
- Blut für Öl«, so lautete der Vorwurf bei den Protestmärschen
der Kriegsverweigerer. Ihnen wurde aus Washington erwidert, daß die Kontrolle
der weltweiten Energie- und Petroleumversorgung ein durchaus triftiger Grund sei,
zu den Waffen zu greifen. Dagegen wäre auch wenig einzuwenden, wenn im Hintergrund
nicht die großen Konzerne ihre Profite kassierten. Aber
Calvinismus und Kapitalismus wachsen nun einmal auf einem Holz. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 62).
Ich
fügte hinzu, daß die Europäer ohnehin wenig Einwirkungsmöglichkeiten
auf die Entwicklung im sogenannten Krieg gegen den Terrororismus besäßen,
daß die Amerikaner weltweit das Sagen hätten. Aber da widerspricht
der Afghane heftig. »Ohne die Europäer ist Bush zum Scheitern verurteilt,
hier in Afghanistan wie auch im Irak.« Aber es fehle den Europäern
an Selbstbewußtsein. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 82).Bei
den ... Achtundsechzigern der Regierung Schröder muß die Legende vom
»humanitären Krieg« und von der bewaffneten Friedensstiftung
als Alibi herhalten für exotische Miltäreinsätze, von denen Bismarck
gesagt hätte, daß sie nicht die Knochen eines einzigen pommerschen
Grenadiers wert seien. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 94).Der
Antikriegsstimmung der breiten deutschen Öffentlichkeit wurde Genüge
getan und die Wiederwahl der rot-grünen Koalition wider alle Erwartung ermöglicht.
(Peter Scholl-Latour, Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 96). Schon
kurz nach diesem Zwist mit Washington fand sich die Bundesrepublik zu allen möglichen
Büßergesten bereit. Der unvermeidliche Canossa-Gang des deutschen Kanzlers,
so hoffte man doch insgeheim, würde eines Tages als Spektakel neu geschmiedeter
transatlantischer Verbrüderung gefeiert werden. Der Bundestag erteilte seine
eilfertige Zustimmung zum Projekt der »NATO Response Force«, deren
vornehmliches Ziel es sein soll, die ursprünglich anvisierte Aufstellung
einer europäischen Eingreiftruppe oder »Rapid Deployment Force«
von sechzigtausend Mann zu unterlaufen. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 96).Kein deutscher Militärkommentator - so weit war
die Selbstzensur der deutschen Medien bereits gediehen - hätte es wie ein
renommierter Kommentator der »Los Angeles Times« gewagt, die »NATO
Response Force« als eine »sich selbst finanzierende Fremdenlegion
der Europäer im Dienste der USA« zu definieren, deren kriegerische
Einsätze in fernen Weltregionen mit den europäischen Interessen wenig
zu tun hätten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 96).Das
hohe Sympathiepotential der deutschen Soldaten, der »arischen Vettern«,
wie man hier sagt, droht in dem Maße zu verblassen, wie sie zum Ausführungsorgan
der us-amerikanischen Zentralasien-Strategie degradiert werden. Die Ablehnung,
ja die Feindschaft der Bevölkerung gegen die die US-Truppen ist seit der
Vertreibung der Taliban und der Installierung des allzu willigen Präsidenten
Karzai ständig gewachsen. Sie könnte eines Tages auch auf die deutsche
Militärpräsenz abfärben. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 97).Berlin hatte sich bereit erklärt, das Interimregime
von Kabul mit allen verfügbaren Mitteln zu unterstützen. In den zuständigen
deutschen Ministerien war offenbar niemand auf die Idee gekommen, daß ein
solches Engagement, das nicht ohne eigenes Risiko ist, nun auch für die Bundesrepublik
ein gewichtiges Mitspracherecht und aktive Mitgestaltung am politischen Aufbau
Afghanistans mit sich bringen müsse. Davon ist jedoch nicht die Rede. Die
Weisungen an Karzai kommen aus Washington. Der ominöse Khalizad wird nunmehr
in seiner Eigenschaft als US Ambassador zum Rang eines Statthalters der USA heraufgestuft.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 97). Die deutsche Basis Kundus
würde sich in dieses gegen Peking gerichtete System ebenso einfügen,
wie eine Delegierung der Bundeswehr nach Herat der Umzingelung der Mullahkratie
von Teheran zugute gekommen wäre. Das sind gewiß weithergeholte Hypothesen.
Die verantwortlichen Politiker der Bundesrepublik sollten sich dennoch bewußt
werden, in welch unberechenbare Abenteuer die Expansionspolitik der NATO in die
Weiten Zentralasiens den gefügigen deutschen Bündnispartner Schritt
um Schritt zu verstricken droht. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 100-111).Ich
bin zu Gast im Camp Warehouse und hüte mich, vor den gesellig versammelten
Militärs meine Bedenken auszubreiten. Meiner Meinung nach bleibt zwar das
Atlantische Bündnis für Amerikaner und auch Europäer unentbehrlich.
Deren organisatorische Struktur, die NATO, hingegen, die unentrinnbar dem US-
Kommando untersteht, läuft infolge ihrer Fixierung auf Operationen »out
of area«, des daraus resultierenden »overstretch« und der Verzettelung
bis in die ferne »Tatarensteppe« den realen europäischen Verteidigungsinteressen
zuwider. Wenn aus Washington die Ermahnung tönt, wer nicht bereit sei, »out
of area« zu kämpfen, begebe sich automatisch »out of business«,
sollte sie in Berlin und Paris auf Gelassenheit und notfalls auf Widerspruch stoßen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 111).Nur einfältige
Gemüter kämen auf die Idee, das deutsche ISAF-Detachment, das an der
Opiumschneise von Kundus stationiert ist, sei doch vorzüglich geeignet, diesem
tödlichen Handel über den Pjandsch nach Duschanbe und nach Osch im Fergana-Tal
notfalls mit militärischer Gewalt Einhalt zu gebieten. Eine solche Herausforderung
der mächtigen Trafikanten und ihrer kriegerischen Gefolgschaft käme
für die isolierte Bundeswehr-Garnison von Kundus eventuell einem Todesurteil
gleich. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 114). Während
meiner kurzen Visite bei der multinationalen Kabul-Brigade läßt sich
noch nicht abschätzen, wie die deutsche Bevölkerung auf die Ausdehnung
des ISAF-Auftrages in Afghanistan reagiert. Aber kurz danach sollte eine Umfrage
von Infra-Test folgende Resultate erbringen: Nur 34 Prozent der Deutschen stimmen
der Aktion Kundus zu. In der Bewertung der diversen Parteien ergibt sich ein verblüffendes
Ergebnis: Von den Wählern der SPD lehnen 60 Prozent den Kundus-Einsatz ab;
bei der CDU sind es immerhin 52 Prozent. Massive Zustimmung gibt es hingegen bei
den Wählern der FDP mit 70 Prozent, und bei den Grünen steigt der Anteil
auf 58 Prozent. Zu Zeiten Hans-Dietrich Genschers wäre eine solche außenpolitische
Verirrung der Liberalen kaum vorstellbar gewesen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 114).Weit schockierender erscheint jedoch die Reaktion
der Grünen, die sich unlängst noch als Pazifisten aufführten und
allem Militärischen abhold waren. Die Gefolgschaft Joschka Fischers kann
sich doch nicht ernsthaft an die Illusion klammern, im Namen des »humanitären«
Bundeswehr-Einsatzes ein demokratisches Patenkind Afghanistan hochzupäppeln.
Doch wer nimmt heute schon Anstoß daran, daß die Wehrdienstverweigerer
von gestern die jungen Soldaten von heute in ein potentielles Himmelfahrtskommando
am Ende der Welt verabschieden. Glaubt man etwa in Berlin, daß die Verschickung
eines Bundeswehr-Kontingents von 450 Mann nach Kundus den zürnenden transatlantischen
Hegemon wieder gnädig stimmen wird? Eines sollte bedacht werden: Die
öden Steppen am Amu Daria eignen sich wirklich nicht für die Züchtung
der »blauen Blume« deutscher Politromantik. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 114).Von einer schrittweisen Befriedung, einer
vom Volkswillen getragenen Stabilisierung oder gar von »nation building«
kann heute nicht mehr die Rede sein. Etwa hundert deutsche Elitesoldaten der neu
aufgestellten »Krisen-Spezial-Kommandos« hatten an der NATO-Operation
»Enduring Freedom« im Süden des Landes teilgenommen. Sie hatten
dort das Vorgehen ihrer amerikanischen Kameraden, vor allem deren totales psychologisches
Unvermögen im Umgang mit der Lokalbevölkerung, mit Verwunderung und
wachsender Skepsis wahrgenommen. Wie lange »Enduring Freedom« noch
andauern soll, weiß Allah allein. Das kleine deutsche Kampfkontingent der
KSK wird dieser Tage abgezogen, aber zurück bleibt ja die Friedensbrigade
ISAF. Sie hatte mit dem Segen der Vereinten Nationen bei Kabul ihr Lager aufgeschlagen
und wurde dem Karzai-Regime als Konsolidierungsfaktor, als bewaffneter Garant
des Wiederaufbaus, ja als humanitärer Wohltäter zur Seite gestellt,
ein fragwürdiges Unternehmen, wie sich jetzt herausstellt. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 118).Niemand will offenbar auf die immer dringlicher
vorgetragenen Alarmrufe der alliierten Nachrichtendienste hören, die auf
die unaufhaltsame Verschlechterung der Lage, auf das Erstarken des Widerstandes,
auf das fortdauernde Doppelspiel pakistanischer Geheimagenten verweisen. Wer will
schon in den fernen Kanzleien der Atlantischen Allianz daran erinnert werden,
daß Afghanistan von jeher sämtlichen Invasoren, zumal wenn sie vom
Makel der Ungläubigkeit, des »Kufr«, gezeichnet waren, zum Verhängnis
wurde. Selbst zu Zeiten der Monarchie war ja der Staat in zwei Teile zerfallen,
in die Einflußzone des herrschenden Emirs oder Königs, »Hukuma«
genannt, und die weiten Stammesgebiete des rebellischen » Yaghestan«
andererseits, wo die aufsässigen Krieger sich keiner Zentralautorität
unterordneten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 118).Die
Phase der Euphorie ist längst vorbei. Nunmehr entdecken die verstreuten Garnisonen
der Alliierten, auch die ISAF-Brigade von Camp Warehouse, daß sie in einem
unerbittlichen Land weilen, wo - zumindest bei den Paschtunen - neben dem obersten
Gebot des Schutzes für Asylsuchende, dessen obligatorische Befolgung Osama
Bin Laden zugute kommt, das eherne Gesetz der Blutrache gilt. Die lokalen Bräuche,
Paschtunwali genannt, erlauben nicht einmal den Freikauf des Mörders nach
ausführlicher Verhandlung und Schuldabwägung, der in der koranischen
Gesetzgebung, der Scharia, vorgesehen ist. Durch Generationen schleppt sich die
Vergeltung zwischen den verfeindeten Clans. Eine oft zitierte Anekdote erwähnt
jenen Dorfältesten, der erst nach Ablauf von hundert Jahren seiner Pflicht
als Rächer nachkommen konnte. »Du hast es aber eilig gehabt«,
hätten seine Stammesbrüder gescherzt: Diese Legende dient nur als Hinweis
auf die unendliche Geduld, jenes ganz andere Zeitgefühl, das die Völker
Zentralasiens von ihren jeweiligen fremden Eroberern, vor allem von den stets
zur Hast neigenden Amerikanern, unterscheidet. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 119). Spätestens ein Jahr nach dem trügerischen Triumph
der Nordallianz enthüllt der Krieg seine häßlichste Fratze. In
den südlichen und ösdichen Provinzen nistet sich die Guerilla ein; der
Begriff stammt aus Spanien, wo die Armeen Bonapartes, die sich noch im Glanz ihrer
Siege von Austerlitz und Jena sonnten, durch einen mörderischen, unbeugsamen
Volksaufstand - oft von eifernden Mönchen angeführt - allmählicher
Zermürbung und hohen Verlusten ausgesetzt waren. Seitdem zählt die Partisanenbekämpfung
zu den schwierigsten und grausamsten Kapiteln moderner Strategie. Werden die Bundeswehrsoldaten
der Kabul-Brigade vor Überfällen aus dem Hinterhalt verschont bleiben
? Offenbar klammem sich die Berliner Politiker an die Wunschvorstellung,
die sprichwörtliche Beliebtheit der Deutschen würde ihnen Schutz gewähren.
Deutschland hatte in zwei Weltkriegen, die es gegen die traditionellen Unterdrücker
Afghanistans, die Briten und die Russen, führte, ein beachtliches Kapital
an Sympathie angesammelt. Auch die technische Hilfe, die zur Zeit der Monarchie
von Bonn geleistet wurde, genießt am Hindukusch weiterhin hohes Ansehen.
Doch diese germanische Sonderstellung könnte jäh zu Ende gehen, seit
die Ankunft der Kanadier die Unterstellung von ISAF unter die NATO, also unter
höchstes amerikanisches Kommando, bewirkte. Mit dieser Umdisposition wurde
das bislang recht positive Profil der »Multinationalen Kabul-Brigade«
verwischt. Sie wird nolens volens zum Bestandteil von »Enduring Freedom«,
mit anderen Worten und in letzter Analyse zum ausführenden Organ des Pentagon.
Kaum ein afghanischer Mudschahid dürfte noch einen Unterschied zwischen beiden
Einsätze entdecken können. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 119-120).Ich wiederhole hier die entscheidenden Aussagen Hekmatyars
im Wortlaut: »Der Widerstand gegen die Amerikaner wird von Tag zu Tag intensiver.
In absehbarer Zeit werden die Patrouillen der US-Armee, ihre militärischen
Konvois und Lager extrem verwundbar sein. Der öffentliche Druck auf die Bush-Administration,
ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen, wird dann zunehmen.« Zur Internationalen
Kabul-Brigade äußert sich der Führer der »Islamischen Partei«
wie folgt: »Die USA und ihre Verbündeten führen einen ungerechten
und für die Zivilbevölkerung verlustreichen Krieg. Die Präsenz
der ISAF-Truppe ist da nur eine schmerzlindernde Tablette, ein Alibi, und soll
die verbrecherischen Ziele der US-Strategie kaschieren. Der Verbleib ausländischer
Soldaten in Afghanistan bietet keinerlei Garantie für Frieden und Sicherheit,
sondern bewirkt das Gegenteil. Die ISAF-Brigade bemüht sich lediglich, die
Herrschaft verräterischer Räuberbanden in Kabul zu konsolidieren.«
Den vollen Text dieser Mitteilung aus dem Untergrund habe ich den zuständigen
deutschen Behörden übermittelt. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 121).Hier tritt die Verlogenheit, der interne
Zwiespalt zutage, mit der Soldaten der Bundeswehr von den Berliner Politikern
in eine Situation gebracht werden, wo sie, statt ein utopisches Befriedungsprogramm
auszuführen, in die Repressions- und Vergeltungs-Automatik des »asymmetrischen
Krieges« verstrickt werden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
123).Um mit den Untergrundkämpfern des Terrorismus oder eines
nationalen Widerstandes fertig zu werden, haben sich fast alle regulären
Armeen der Neuzeit zu abscheulichen Fehlleistungen hinreißen lassen. Um
zu verhindern, daß die nächste Bombe hochgeht und unbeteiligte Zivilisten
zerreißt, werden auch heute noch Verhörmethoden angewandt, wie sie
in den Kellern der Gestapo stattfanden. Ob es sich um die Franzosen bei der Verfolgung
der »Befreiungsfront« in Algerien, um die Briten beim Einsatz gegen
die IRA in Nordirland, um die Amerikaner bei der Operation »Phoenix«
in Vietnam, um die Israeli bei der Suche nach Hamas-Verschwörern im Gaza-Streifen,
um die Russen bei der Niederschlagung des Tschetschenen-Aufstandes handelt.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 124)
»Ich
sehe die eigentliche Schwierigkeit Amerikas darin, daß die Amerikaner ihre
Entscheidungen nicht mit Rücksicht auf die Menschen in Amerika treffen können.
Die Entscheidungen für Amerika treffen in der Regel die Zionisten, und für
die sind die Interessen Tel Avivs wichtiger als die Interessen Washingtons. Die
sind es, die die US-Politik im Orient bestimmen, aber diese Region wird mit der
Politik Israels niemals in Einklang kommen.« (Mohammed Ali Abtahi).
(Peter Scholl-Latour, Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 162).
Ein
wagemutiger und hartnäckiger Reporter hat sich mit dem tragischen Schicksal
jener ... »Detainees« befaßt, die ... in der US-Basis Guantanamo
auf Kuba wie Tiere eingesperrt sind und dort außerhalb jeder zuständigen
Jurisdiktion der Willkür ihrer Bewacher und Verhörer ausgeliefert sind.
Es ist schon eigenartig, wie die Bush-Administration in diesem angeblichen Freiraum
die elementaren Rechtsgrundsätze außer Kraft setzt, die bereits im
»Jus Romanum« jedem »civis« zugesichert waren. ... Bagram
sei noch schlimmer als Guantanamo, wagte ein entlassener afghanischer Häftling
immerhin zu äußern, dem der Grund seiner Verschleppung und Zwangsisolierung
niemals mitgeteilt wurde. Nach Schilderung der Methoden, mit denen die »Detainees«
- um »Gefangene« handelt es sich ja angeblich nicht - zu Geständnissen
gezwungen werden, äußerte sich ein hoher britischer Richter, der alles
andere als ein Humanitätsapostel zu sein schien, mit den kurzen Worten: »This
is torture« - das ist Folter. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
215).Ich will den Deutschen vor Augen führen, in welche dubiose
Form der Kriegführung die NATO bereits abgeglitten ist. ... In Berlin sollte
man endlich von der heuchlerischen Behauptung Abstand nehmen, es gehe bei »Enduring
Freedom« oder »Iraqi Freedom« um einen humanitären Militäreinsatz.
Gerade unter dem Vorwand des »nation building«, der staatlichen Stabilisierung,
der Friedensstiftung, zeichnen sich die zunehmend scheußlichen Aspekte des
»asymmetric warfare« ab. Wer solche aktuellen Erkenntnnisse beiseite
schiebt, sollte auch bei der Beurteilung der »Verbrechen der Wehrmacht im
Zweiten Weltkrieg« vom hohen Roß absteigen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 215-216).Es geht mir darum, den verwirrenden Ablauf
dieses Feldzugs »Iraqi Freedom« halbwegs zu rekonstruieren, zu analysieren,
denn eine einleuchtende Schilderung liegt bislang von keiner Seite vor. Wer den
Irak-Krieg ergründen will, befindet sich in der Situation des Ödipus
bei seiner Begegnung mit der Sphinx. Nur sind die Rätsel des bedrohlichen
Ungeheuers, das sich als »Mutter aller Lügen« zu erkennen gibt,
wirklich schwieriger zu lösen als die harmlose Allegorie, die Ödipus
schnell durchschaute. Die Gefahr, in den Abgrund der Irreführungen und Täuschungen
zu zerschellen, ist für den Suchenden ungleich größer. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 216).Die Schiiten wären ...
sicher, ganz legal und gemäß den politischen Normen des Westens, die
Mehrheit im künftigen Parlament von Bagdad und den Anspruch auf die Regierungsbildung
davonzutragen. Daß die US-Administration ... eine solche Machtkonstellation
schwerlich zulassen und voraussichtlich mit allen Mitteln versuchen würde,
das Zustandekommen einer islamisch orientierten Staatsgründung, auch wenn
sie dem Willen der breiten Bevölkerung entspräche, zu hintertreiben,
war den hohen Geistlichen der Hawza von Nedschef sehr wohl bewußt. Aber
sie hatten die Chance erkannt, vor den Augen der Welt als Repräsentanten
der »volonté générale« dazustehen. Somit würden
die Intrigen Washingtons entlarvt, die heuchlerische Beteuerung freiheitlicher
Prinzipien und deren Mißachtung aus Gründen eigennütiger Opportunität
in aller Öffentlichkeit bloßgestellt. (Peter Scholl-Latour,ebd.,
S. 234).Für viele Iraker bleiben die Vereinten Nationen für
die unerbittlichen Sanktionen verantwortlich, unter denen die Zivilbevölkerung
mehr als zehn Jahre lang zu leiden hatte. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 240). Die Weltorganisation gilt in Bagdad weiterhin als der
verlängerte Arm der USA. Der deutsch-französische Vorschlag, das Unternehmen
»Iraqi Freedom« der Patronage des Generalsekretärs Kofi Annan
zu unterstellen, würde - vielen Irakern zufolge - lediglich dazu führen,
die Willkür der US-Besatzungspräsenz mit einem Mäntelchen internationaler
Legalität zu tarnen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 241).Als
ich mich in meiner suspekten Eigenschaft als Repräsentant des von Donald
Rumsfeld verabscheuten »alten
Europa« vorstelle, antwortet Charlie Mayo nur mit einem breiten Lachen:
»Ich betrachte mich überhaupt nicht als Europäer«, sagte
er, »ich bin Brite, und das genügt.« Was auch in Ordnung ist,
und ich unterdrücke meine persönliche Meinung, daß die Europäische
Union ja ohnehin schon zu viele Mitglieder aufgenommen habe. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 241).Aber das hier sind Söldner, und die kommerzielle
Firma, die diese altgedienten Soldaten angeheuert hat, heißt »Global
Security«. Von der gespielten Euphorie seiner anfänglichen Ausführungen
ist der Holländer plötzlich abgerückt. »Sie erleben hier
im Irak den kriegerischen Kapitalismus in Reinkultur. Die Bewachung der Erdölfelder
- um die geht es ja im wesentlichen - wird längst nicht mehr von den Truppen
der Koalition wahrgenommen, sondern von der finanzstarken Privatfirma »Global
Security«, die unweit des CIA-Hauptquartiers in Virginia angesiedelt ist
und die zwielichtigen Auswirkungen der vielgepriesenen Globalisierung schon in
ihrer Namensgebung enthüllt.« (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 254).Gelegentlich würden per E-Mail eine Reihe von naiven
Anfragen europäischer Unternehmen bei seiner Behörde landen, die am
Aufbau des Irak - auch an seiner landwirtschaftlichen Rehabilitierung - beteiligt
werden möchten. Sie sollten sich diese Flausen aus dem Kopf schlagen. »Wer
hier nicht im Auftrag und mit Zustimmung Paul Bremers auftritt, hat nicht die
geringste Chance«, brummt der Niederländer. Sogar die NGOs, die Nichtregierungsorganisationen,
könnten hier nur tätig werden, wenn sie eine Lizenz von US-Aid erhielten.
Die Frage hat sich übrigens von selbst erledigt. Auf Grund der permanenten
Gefährdung hat die UNO ihre regulären Mitarbeiter weggeschickt und operiert
nur noch mit Ortskräften. »Wer hier nicht mit dem Mega-Konzern Halliburton,
dem Vizepräsident Dick Cheney noch unlängst als Chief Executive vorstand,
aufs engste verbandelt ist«, erklärt Ryswiek, »wer nicht mit
dem Unternehmen Bechtel paktiert, bekommt keinen Fuß auf den Boden.«
Angeblich ist sogar der Hafen Umm Qasr an ein an- gelsächsisches privates
Konsortium verpachtet. »Betrachten Sie doch mein persönliches Schicksal«,
nimmt er wieder mit einem Anflug von Humor auf, »meine tägliche Nahrung
in diesem Bunker-System wird ausschließlich von der Firma Kellogg geliefert;
sogar meine Hemden werden von Kellogg gewaschen, obwohl hier viele irakische Frauen
gern damit ein kleines Zubrot verdienen möchten, und dieses Unternehmen ist
mit Halliburton assoziiert.« Ob denn wenigstens die obligatorische Kellogg's-Nahrung
gut schmecke, frage ich. »Der Fraß ist abscheulich«, lautet
die Antwort. Im übrigen würden die hochprofessionellen Spezialisten
von »Global Security«, frühere Elitesoldaten der Special Forces,
der US-Rangers oder des britischen SAS, deren Aktivität in zunehmendem Maße
auch in Bagdad beansprucht wird, extrem gut besoldet. Ihnen stünden 500 Dollar
pro Tag zu. Vielleicht würden die Nepalesen, die der Dritten Welt entstammen,
weniger großzügig entlohnt. »Im Irak wird imperiale Plutokratie
in Reinkultur vorgeführt«, beendet der Holländer seine Klage.
»Wenn das Experiment hier scheitern sollte, dann ist mehr in Frage gestellt
als die Wiederwahl des Präsidenten Bush und die Selbstherrlichkeit der Neokonservativen«.
Ins Hotel zurückgekehrt, lese ich den Artikel der »New York Times«
vom 1. Oktober 2003, den mir Ryswiek als Beleg mitgegeben hat. Ich zitiere nur
einen Absatz: »Das wirkliche Problem besteht darin, daß ohne gesetzliche
Prüfung und Aufsicht viele Milliarden Dollar, die der Steuerzahler autbringt,
infolge mangelhafter Ausschreibung der Kontrakte den politisch verwandten Firmen
wie Halliburton oder Bechtel zugespielt werden. So wurde bisher verfahren. Der
Kongreß sollte zudem darüber wachen, daß bei den Wiederaufbauprogrammen
im Irak die zur Verfügung stehenden Summen nicht vergeudet werden, indem
hochbezahlte amerikanische Arbeiter und Techniker engagiert werden, obwohl qualifizierte,
verläßliche und arbeitslose Iraker den Job ebenso gut und sehr viel
billiger verrichten könnten.« Bei dieser Lektüre muß ich
an meine Erfahrungen in Zentralafrika denken, die erst drei Jahre zurückliegen.
Die Pervertierung des Krieges durch hemmungslose Kommerzialisierung hat im Schwarzen
Kontinent ihren skandalösen Höhepunkt erreicht. Der Verfall gesellschaftlicher
Gesittung, die Reduzierung eines unzureichenden, aber immerhin in Ansätzen
existierenden Völkerrechts, der Bruch mit den mühsam erarbeiteten Vorschriften
der Haager Kriegsrechtsordnung drohen künftig im profitorientierten Verzicht
auf das Gewaltmonopol staatlich kontrollierter Streitkräfte zu gipfeln. Das
Entstehen einer High-Tech-Form des Landsknechtwesens, der Rückfall in eine
kriegerische Tollwut, die sich am spektakulärsten im Dreißigjährigen
Krieg austobte, dürften am Ende dieser fatalen Entwicklung stehen. Der sogenannte
Stellvertreterkrieg, »war by proxies«, ist ja längst zur blutrünstigen
Routine geworden, ohne daß die angeblich überinformierte, in Wirkchkeit
ignorante Weltöffentlichkeit daran Anstoß nimmt. Im Juli 2000 - ich
hielt mich im kongolesischen Kisangani, im »Herzen der Finsternis«
auf - war mir die zunehmende Bedeutung der hochoffiziellen und florierenden »Mercenary
Companies« aufgefallen. Damals wurde immer wieder der Begriff »Executive
Outcomes« genannt. Diese Organisation war 1993 gegründet worden und
nahm »globale« Ausmaße an. Ihre Mitarbeiter wurden als »counter
insurgency«-Berater von regulären Regierungen angeheuert, um bei der
Bekämpfung von Aufstandsbewegungen behilflich zu sein. Zu den Auftraggebern
zählten die Türkei, Algerien, Nigeria, Sri Lanka, um nur diese zu nennen.
»Executive Outcomes« war auch in fast all jene Konflilfte verstrickt,
die um die Mineralvorkommen Afrikas geführt wurden, und begnügte sich
längst nicht mehr mit reinen Sicherungsaufgaben. Sowohl in Angola als auch
in Sierra Leone übernahm diese Privatgesellschaft die Rolle einer aktiven
Bürgerkriegspartei. Daß sie im Jahr 1999 offiziell ihre Tätigkeit
einstellte, bedeutet keineswegs, daß sie nicht unter neuem Namen und geschickter
Tarnung weiterhin aktiv bleibt. Inzwischen sind andere Namen hinzugekommen. Erwähnen
wir nur »Defense Service Limited«, »Falconstar«, »Intersec«
und vor allem »Amor Holding«. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt
bleiben, daß die moderne Kriegführung sich nicht nur auf den »killing
fields« des Kongos oder Sierra Leones ein merkantil entstelltes Gesicht
zugelegt hatte. In Amerika registrierte Spezialfirmen für Militärberatung
und Waffenhilfe mit ihren pensionierten Generalstabsoffizieren und hochqualifizierten
Guerilla-Veteranen waren sogar auf dem Balkan in Erscheinung getreten. Der kroatische
Überraschungssieg über die »Serbische Republik Krajina«
wurde im Sommer 1994 mit Hilfe solcher Dunkelmänner erzielt. Lange bevor
die alliierte Bombardierung 1999 gegen Rest-Jugoslawien einsetzte, waren ähnliche
Unternehmen als Geburtshelfer und Betreuer der »Kosovo-Befreiungsarmee«
tätig und bildeten die albanischen Partisanen der UCK für ihren Einsatz
aus. Ich neige nicht zu moralischer Entrüstung und beschränke mich auf
bittere Ironie. In dieser heißen, stinkigen Nacht im »Merbed«-Hotel
von Basra kommt mir der unziemliche Gedanke: Wie herrlich wäre es doch um
die »brave new world« der Neokonservativen bestellt, wenn man das
Schicksal des Irak unbesehen und exklusiv der artverwandten Markt- und Interessenkombination
von »Global Security« und »Halliburton Inc.« übereignen
könnte! (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 257).Während
wir ein paar Kilometer entfernt die Heilige Stadt Kerbela passieren, erfahren
wir über Funk, daß dort Kämpfe entbrannt sind. Auf seiten der
Araber wie auf seiten der GIs habe es zwei tote gegeben. Eigentlich gehört
diese Zone der heiligsten schiitischen Gräber zum Kontrolgebiet der polnischen
Brigade. Aber die wäre zweifellos an der Wallfahrtsstätte der Schwarzen
Madonna von Tschenstochau besser aufgehoben wäre als im Umkreis
der Gräber der Imame Ali und Hussein. Ich muß an die seltsame Demarche
des polnischen Verteidigungsministers in Teheran denken, der anläßlich
einer offiziellen Visite bei den schiitischen Mullahs der Islamischen Republik
Iran angefragt hat, ob sie wohl etwas zum Schutz seiner Soldaten im Irak unternehmen
und den Unmut der dortigen Muslime gegen die fremden Okkupanten aus Warschau dämpfen
könnten. Der Irak sei ein souveräner Staat, lautete die persische Erwiderung,
und es mag etwas Schadenfreude darin mitgeklungen haben. Der bösartige Witz,
Polen sei der »trojanische Esel« Amerikas innerhalb der Europäischen
Union, hat sich schon im Orient herumgesprochen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 258).Der bösartige Witz, Polen sei der
»trojanische Esel« Amerikas innerhalb der Europäischen Union,
hat sich schon im Orient herumgesprochen. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 258). »Also sprach Zarathustra«, so beginnen tatsächlich
die Verse der »Awesta«, die der Prophet dem ewigen Kampf zwischen
Licht und Finsternis, zwischen Gut und Böse, zwischen Iran und Turan gewidmet
hatte. Dem Lichtgott Ahura Mazda stand die Dämonengestalt Ahriman als Fürst
der Finsternis entgegen. Diese permanente, unversöhnliche Zweiteilung der
Welt in Gut und Böse sowie eine von Anfang an vorgeprägte Bestimmung
der Menschen in Erwählte und Verworfene bilden den Kern dieser Lehre. Die
Schriften der Awesta sind nur in Bruchstücken erhalten. In ihnen spürt
man jedoch die frühe Verwandtschaft mit den Veda-Schriften des Hinduismus
mitsamt ihrer unerbittlichen Kasten-Einstufung und der Vorzugsstellung der arischen
Rasse. »Aria Mehr -Leuchte der Arier«, diesen Titel beanspruchte noch
der letzte Schah von Persien, Mohammed Reza Pahlevi. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 289).Im Westen ist kaum bekannt, welche Fülle
mythischer Vorstellungen, die wir als integralen Bestandteil des Judentums und
der aus ihm abgeleiteten Lehren Christi und Mohammeds betrachten, auf die Visionen
des frühzeitlichen Künders Zarathustra aus Baktrien zurückgehen.
Während der babylonischen Gefangenschaft, als die Stämme Israels - vom
Tyrannen Nebukadnezar an die Flüsse Mesopotamiens verschleppt - die dualistischen
Vorstellungen der »Feueranbeter« entdeckten, verstärkte sich
auch bei den Hebräern die Kunde vom ewigen Widerstreit zwischen Jahwe und
Satan, 'zwischen Himmel und Hölle, kam bei ihnen die Vorstellung des Jüngsten
Gerichts auf, das die Guten von den Bösen scheidet. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 289-290).Die Spuren des zoroastrischen Kults, die
sich auch in gewissen Freimaurer-Riten wiederfinden, wirken bis in unsere politische
Gegenwart hinein. Das gilt nicht nur für Persien, wo ich im Jahr 1974, zur
Zeit der Pahlevi-Dynastie, eines der letzten authentischen Zentren der Zarathustra-Anhänger
in der abgelegenen Stadt Yazd aufsuchte. Etwa dreißigtausend Zarduschti
leben heute noch in der Islamischen Republik Iran. Khomeini betrachtete diese
verstreuten Sektierer, gemäß einer kuriosen Koran-Auslegung, als Monotheisten,
als Angehörige der »Familie des Buches«, obwohl sich bei ihnen
keinerlei Bezug zum Patriarchen Abraham herstellen läßt. Schah Mohammed
Reza war der arischen Urgemeinde mit besonderem Wohlwollen zugetan, suchte er
doch eine Kontinuität zu den Gott-Königen der Achämeniden - zu
Kyros dem Großen, zu Xerxes, zu Kambyses - aufzuzeigen. Deren Imperium hatte
bereits dem Zarathustra gehuldigt, wenn auch mit Vorbehalt und unter Beibehaltung
zahlreicher anderer Kulte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 289-290).Die
dualistische Botschaft des Zarathustra, die geheimnisvoll überlieferten Thesen
des Manichäismus ... haben in der europäischen Geistesgeschichte einen
eminenten Platz eingenommen. ... Sogar die Jungfrauengeburt eines Endzeit-Erlösers
war ja in den iranischen Ur-Mythen enthalten. (). Die Manichäer haben noch
im ausgehenden römischen Imperium und lange nach dem Märtyrertod des
Verkünders seine Botschaft bis nach Indien und China getragen. Die Sekte
besaß einen Schwerpunkt in Nordafrika, wo der heilige Augustinus dieser
Ketzerei beinahe erlegen wäre, ehe er Bischof von Hippo Regius und einer
der bedeutendsten Kirchenväter wurde. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
2004, S. 291). Erst unter den Sassaniden, also zwischen dem dritten
und dem siebenten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, sollten die »Magi«,
die Priester der »Feueranbeter«, wie man sie fälschlich nennt
- entscheidenden Einfluß auf den Staat gewinnen und ihm ihre unduldsame,
hierarchische Sakralstruktur auferlegen. Die Magi oder Magier waren sich ihrer
ursprünglichen Verwandtschaft mit den hinduistischen Brahmanen wohl noch
bewußt. Wenn sie schon den Persern und Mesopotamiern nicht das Kastensystem
in letzter Konsequenz aufzwingen konnten, das auf dem indischen Subkontinent bis
auf den heutigen Tag die Vorrangstellung der indogermanischen Erobererrasse verewigt,
so pochten sie doch auf die strenge Trennung zwischen Klerus und Adel einerseits,
den Bauern und den rechtlosen Parias andererseits. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 290).Die dualistische Botschaft des Zarathustra,
die geheimnisvoll überlieferten Thesen des Manichäismus, so sinnieren
wir in Ktesophon, haben in der europäischen Geistesgeschichte einen eminenten
Platz eingenommen. Wir erwähnten die »babylonische« Einwirkung
dieser theologische Schwarzweißmalerei auf Juden und Christen, sogar die
Jungfrauengeburt eines Endzeit Erlösers war ja in den iranischen Ur-Mythen
enthalten. ( Peter Scholl-Latour, ebd., S. 291).
»Infandum,
regina, jubes renovare dolorem.« (Vergil, 70-19, Aeneis, 2. Gesang,
30-20). Unsäglichen Schmerz, oh Königin, gebietest Du zu erneuern.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 329).Im Schatten des griechisch-römischen
Kulturerbes, dem sich Europa zusehends entfremdet, klingt die These des us-amerikanischen
Professors Francis Fukuyama vom »Ende der Geschichte« wie ein törichter
Frevel. Nicht Demokratie und Marktwirtschaft haben sich inzwischen weltweit und
segensreich ausgeweitet, sondern der Terrorismus wurde »globalisiert«,
und seine blinde Bekämpfung trägt nachdrücklich dazu bei.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 329).Ein lautstarkes lateinamerikanisches
Orchester mit Sombrero erschwerte jede Konversation im Garten von »Les Grand
Horizons«. Die allzu bekannten Schnulzen paßten schlecht zu unserem
ernsten Gespräch. Vom Bandleader wurde ich gefragt, welche Weise ich denn
zu hören wünsche. Er solle das Lied »Guantanamera« spielen,
sagte ich. Der trotzige Gesang: »Yo soy un hombre sincero« bezieht
sich ja auf jenen Landzipfel im Osten Kubas, wo die US-Army Drahtkäfige für
die Kombattanten von El Qaida aufstellen ließ, wo die Häftlinge ohne
Anklage, ohne Rechtsbeistand verharren und in ihrer knallroten Anstaltskleidung
- durch Ketten gekrümmt, durch Gesichtsmasken geblendet - an ihrem Schicksal
verzweifeln. »Guantanamera« würde sich heute als Protestsong
gegen eine Verrohung der Sitten eignen, die man nach dem Zweiten Weltkrieg im
westlichen Kulturkreis nicht mehr für möglich gehalten hätte. Das
schmerzt besonders, weil es ja die Vereinigten Staaten von Amerika waren, die
dem Horror der Diktaturen Europas verdienstvoll und unter hohen eigenen Verlusten
ein Ende gesetzt hatten. »Con los pobres de la tierra quiero yo mi suerte
echar«, steigerte sich der dürftige Text des Liedes. »Mit den
Armen der Erde will ich mein Los teilen«. Von den anwesenden Gästen,
die sich der »bonne société« der Côte d'Azur zurechneten
und müde zu tanzen begannen, hat kein einziger die von mir beabsichtigte
Anspielung begriffen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 335-336).
Koloß auf tönernen Füßen. Amerikas Spagat
zwischen Nordkorea und Irak (2005)
Denjenigen, die an der
dynamischen Erneuerungsfähigkeit des »homo americanus« zweifeln
und bei ihm irreversible Degenerationserscheinungen festzustellen glauben, möchte
ich eine Aussage Helmut Schmidts entgegenhalten, der bei einem Fernsehgespräch
die anhaltende Vitalität der US-Bevölkerung auf die Robustheit, den
Abenteuermut, den brutalen Durchsetzungswillen der sukzessiven Einwandererwellen
zurückführte, die die Gestade der Neuen Welt überfluteten. Im selben
Interview befand der Altbundeskanzler, daß die United States of America
von Anfang an »imperialistisch« veranlagt gewesen seien. Das habe
sich im 19. Jahrhundert bei der Auslöschung der indianischen Stämme
zwischen Atlantik und Pazifik sowie bei der Halbierung des mexikanischen Staatsgebietes
gezeigt, ehe diese Expansion um 1900 mit dem Sieg über Spanien (1898) den
pazifischen Raum bis an die Küsten Chinas einbezog. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 10). Die Propheten des Unheils streiten darüber,
ob interne Krisen und Zwistigkeiten, religiöse und intellektuelle Fehlentwicklungen
das allmähliche Abbröckeln der »Hypermacht« im eben angebrochenen
21. Jahrhundert bewirken können ..., oder die Verwicklung in eine endlose
Serie unlösbarer Regionalkonflikte den USA zum Verhängnis würde.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 10-11). Auf dem Höhepeunkt
der Habsburger Dominanz wurde in den Kanzleien von Wien, Madrid und Brüssel
die anmaßende Formel erfunden: »AEIOU - Austria est imperare orbi
universo«, zu Deutsch: »Alles Erdreich ist Österreich untertan.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 11).In einer internationalen
Debatte ... war mir im Oktober 2004 ein ... Kollége aufgefallen, der das
Auseinanderdriften von USA und Europa in letzter Analyse mit dem unterschiedlichen
Verhältnis zum christlichen Glauben erklärte. Etwa achtzig Prozent aller
US-Bürger suchen jeden Sonntag einen Gottesdienst auf. In Frankreich sei
die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger auf sieben Prozent, in England
sogar auf fünf Prozent geschrumpft. Wenn deutsche Beobachter dem »chief
executive« der USA vorwerfen, er präsentiere sich als »selbstsicherer
Fürst und gleichzeitig als Papst«, so tragen sie dem Umstand Rechnung,
daß George W. Bush über eine Allmacht verfügt wie kaum einer seiner
Vorgänger. .... Dank der Vorherrschaft der Republikaner im Senat, im Repräsentantenhaus
und sogar im Obersten Gerichtshof scheint das vielgerühmte System von »checks
and balances« außer Kraft gesetzt, das den Staatschef einer innenpolitischen
Kontrolle unterwarf. Man könnte argumentieren, daß sogar im abendländischen
Mittelalter weder Papst noch Kaiser eine vergleichbare Verfügungsgewalt besaßen,
waren sie doch zu einer bipolaren Auseinandersetzung verurteilt, die der französische
Dichter Victor Hugo als Kräftemessen der »beiden Hälften Gottes
- les deux moitiés de Dieu« beschreibt. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 14-15). Der patriotische Prediger George Walker
Bush stehe lediglich in einer geistigen Kontinuität, die sich auf die us-amerikanische
Gründungsidee zurückführen lasse, beteuern seine Apologeten. Fast
alle Staatsoberhäupter der USA haben ausdrücklich auf Gottes Schutz
und Gottes Hilfe gebaut. Festzuhalten bleibt immerhin, daß George Washington
sich 1789 auf »jenes Allmächtige Wesen« berief, »welches
über das Universum herrscht«. Diese Ausdrucksweise, ähnlich wie
die Formulierungen Jeffersons, entspricht eher der Gedankenwelt europäischer
Aufklärer und deren Freimaurerlogen als der holzschnittartigen Bibelfestigkeit
jener puritanisch-calvinistischen Pilgerväter, die - wie Max Weber ausführlich
dozierte - die göttliche Erwähltheit, die »Prädestination«
am materiellen Erfolg der Gläubigen maßen und damit die Grundvorstellungen
einer auf Profitdenken ausgerichteten Gesellschaft vorgaben. Im neokonservativen
»New Deal«, das der heutige Präsident einläutet, findet
diese Geistesrichtung eine zeitgenössische Bekräftigung. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 15).
Leopold
von Ranke hatte geschrieben, daß »der Historiker - oder sagen wir,
der Chronist - alt werden muß, da man große Veränderungen nur
verstehen kann, wenn man persönlich welche erlebt hat.« Heute würde
ich die Notwendigkeit hinzufügen, eine intime Kenntnis fremder Kulturen erworben
zu haben. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 34).Der deutsche
Filmregisseur Wim Wenders, der sich in den USA zu Hause fühlt, hatte mir
... von seinem jüngsten Film über den derzeitigen Verarmungsprozeß
weiter Landesteile erzählt, der unter dem ironischen Titel »Land of
plenty - Land des Überflusses« erscheinen würde. Er dokumentiert
darin schonungslos das erbärmliche Schicksal der »Underdogs«,
und wiederum ist es typisch us-amerikanisch, daß über den schäbigsten
Hütten und Wohnwagen stets die Fahne mit den »Stars and Stripes«
weht. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 36-37).Aus diesem
tristen Milieu stammt wohl auch jene Militärpolizistin Lynndie England, die
im Kerker von Abu Ghraib einen nackten gefangenen Iraker wie einen Hund an der
Leine führte und die von den Bibel-bezogenen Medien als »Jezabel aus
den Appalachen« vorgestellt wurde. Ist der »American dream«,
die Zuversicht, daß jedem die Chance zu Reichtum und Glück offensteht,
doch nicht erloschen? Was hat die Gründungsväter überhaupt
dazu bewogen, den Begriff »pursuit of happiness« als Elementarforderung
in ihrer Verfassung zu verankern? Ist damit wirklich jene Vorstellung von
Glück gemeint, die in Europa geläufig ist und zumindest bei den Katholiken
der Alten Welt stets ein bißchen anrüchig klingt? Oder handelt
es sich lediglich um den Erwerb von Reichtum, um materielles Wohlergehen, das
mit dem strengen calvinistischen Selbstverständnis durchaus zu vereinbaren
wäre? (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 37).Da drängt
sich der Nietzsche-Satz auf: »Wir haben das Glück erfunden, sagen die
letzten Menschen und blinzeln.« Doch die Verachtung des Zarathustra bezöge
sich weit treffender auf die in Deutschland beheimatete und hochgefeierte »Spaßgesellschaft«.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat
seinerseits für die »pursuit of happiness« eine prägnante
Formel gefunden: »Man darf nicht vergessen, daß die USA eine rein
eskapistische Nation darstellen. Die Bevölkerung des Landes besteht überwiegend
aus Menschen, die unerfreulichen Verhältnissen entronnen sind, um anderswo
neu anzufangen. Das Land selbst beruht auf der Flucht ins Glück.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 37).Ich will hier nicht die
Gründe aufzählen, warum John F. Kerry trotz des ständigen Hinweises
auf seinen wackeren Kampfeinsatz in Vietnam beinahe zwangsläufig unterliegen
mußte gegen einen Mann, der - obwohl er der plutokratischen Oberschicht
entstammt - bodenständig wirkte und an die einfachsten Instinkte des Durchschnitts(us-)amerikaners
zu appellieren verstand. Sein verhängnisvoller Feldzug in Irak hat ihm bei
seinen Landsleuten nicht wirklich schaden können. Im Sommer 2004 waren 70
Prozent von ihnen noch davon überzeugt, daß Saddam Hussein der eigentliche
Anstifter für den Anschlag auf New York (und Washington)
war. Wie ein liberaler Kollege mir achselzuckend versicherte: »Der normale
US Citizen ist der staatlich gesteuerten Desinformation ebenso hilflos ausgeliefert
wie unsere Indianer früher dem Feuerwasser genannten Alkohol.
Man hat das Volk mit Falschmeldungen besoffen gemacht.« (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 37-38).Wie ein liberaler Kollege mir achselzuckend
versicherte: »Der normale US Citizen ist der staatlich gesteuerten Desinformation
ebenso hilflos ausgeliefert wie unsere Indianer früher dem Feuerwasser
genannten Alkohol. Man hat das Volk mit Falschmeldungen besoffen gemacht.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 38)»Das Ende der Geschichte«
hatte Francis Fukuyama im Jahr 1992 verkündet. Etwa zeitgleich mit dem Erscheinen
des Buches »Kampf der Kulturen« von Samuel Huntington hatte er eine
diametral entgegengesetzte These vertreten, die bei gewissen Europäern, die
mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ihre »Friedendividende« kassieren
wollten, starken Anklang gefunden hatte. Dabei war die Aussage dieses Professors
... von Anfang an absurd. Die weltweite Ausbreitung der parlamentarischen Demokratie
us-amerikanischen Modells und einer ungehemmten Marktwirtschaft würden der
Menschheit einen endgültigen Zustand des Wohlergehens und der Harmonie bescheren.
Damit würde der Schlußstrich gezogen unter die veralteten Antagonismen.
So etwa läßt sich Fukuyamas Vorstellung vom »End of History«
resümieren. Es paßt in diese euphoristische Stimmung, daß kurz
danach die Utopie einer unbegrenzten und permanenten gewinnsteigerung für
die »Shareholder« der »New Economy« selbst die angesehensten
Gurus der nationalökonomie in einen Begeisterungsrausch versetzte. Die Blütenträume
sind inzwischen verwelkt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 47).Bis
zur letzten Konsequenz wagt sic der Autor des »Endes der Geschichte«
jedoch nocht vor. jenen Schritt sollte zu meiner Überraschung Peter Sloterdijk
vollziehen, der den den Satz prägte: »Durch Nation Building
bekommt man bestenfalls demokratisch kaschierte Diktaturen mit Marktwirtschaft«.
Ich hätte hinzugefügt: im Dienste der Marktwirtschaft. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 50).
Als
Wächterin dieses Ortes der Erinnerung waltet eine junge, hübsche Offizierin,
deren Uniform ungewöhnlich elegant geschnitten ist. Sogar die hohe Schirmmütze
mit dem roten Stern steht ihr gut. Sie führt ihre kleine Tochter an der Hand
und bewegt sich geschmeidig auf halbhohen Absätzen. Nach Aufforderung unserer
koreanischen Begleiter schmiegt sie sich zum gemeinsamen Foto eng an meine Schulter.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 74).Glücklicherweise
läuft das Gespräch mit Herrn Ham viel offener und ungezwungener als
mit dem übervporsichtigen Abrüstungsexperten. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 99).Gewiß würden USA und China, die
beiden Weltmächte westlich und östlich des Pazifik, langfristig auf
eine schicksalhafte Kraftprobe zusteuern. Zur Zeit seien sie aber noch aufeinander
angewiesen. Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Peking und Washington sei
stärker als der unvermeidliche Antagonismus. Die finanzielle Symbiose wirke
sich bis auf weiteres als strategische Lähmung aus. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 101).Ob die atomare Aufrüstung Nordkoreas
nicht zwangsläufig das Kaiserreich Japan dazu bringe, sich seinerseits mit
nuklearen Waffen auszustatten, habe ich immer wieder gefragt. Stets erhielt ich
die gleiche Erwiderung. Die japanischen Interkontinentalraketen seien längst
im Weltall erprobt, und die Wissenschaftler im Land der Aufgehenden Sonne hätten
Dank ihrer Spitzenposition in der High Technology alle Entwicklungen der Kernenergie
erforscht. Sie seien mit sämtlichen Facetten der Uran- und Plutonium-Anreicherung
vertraut und hätten de facto die Schwelle zur Atomrüstung bereits
überschritten. »Wenn die Japaner wollen, werden sie morgen schon über
ein nukleares Arsenal verfügen«, wird mir in Pjöngjang mehrfach
versichert. Ähnlich hatten sich ja auch die chinesischen Diplomaten geäußert,
die ich zu diesem Thema in Peking befragte. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 101).Die wirkliche Gefahr der Zukunft sei bei jenen fanatischen
oder kriminellen Banden zu suchen, die auch ohne den Besitz eines ausgereiften
Atomsprengsatzes radioaktives Abfallmaterial, die »schmutzige Bombe«,
erworben hätten und damit jedes beliebige Land durch Verseuchung von U-Bahnschächten,
Wasserversorgung oder Industrieanlagen terrorisieren und erpressen könnten.
Ri Jon Hyok betont das Interesse Nordkoreas an einer Zusammenarbeit mit Europa,
insbesondere mit Deutschland. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 102).Heute
ist in Nordkorea offenbar der Punkt erreicht, wo niemand mehr in der Lage ist,
einen einzigen Traktor oder ein Fahrrad, geschweige denn ein Lastwagen für
den Zivilbedarf herzustellen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 113).Wie
sensationell hebt sich von dieser Tragödie der Demokratischen Volksrepublik
der Höhenflug der südlichen Landeshälfte ab. Nach Abschluß
des Waffenstillstandes von Panmunjom am 27. Juli 1953 stand die Republik von Seoul
gegenüner Pjöngjang sehr unvorteilhaft da. Sie versackte in politischer
Zerissenheit, ökonomischer Inkompetenz und unbeschreiblicher Korruption.
Um aus diesem verrotteten Staatswesen des pro(us-)amerikanischen
Präsidenten Syngman Rhee einen ostasiatischen »Tiger« zumachen,
um Südkorea auf Platz zwölf der größten Wirtschaftsmächte,
auf Platz sechs der Erdölverbraucher zu befördern und eine moderne,
rentable Stahlproduktion anzukurbeln ... (bis auf Platz
5), hat es nicht der freien Marktwirtschaft, des weltoffenen Wettbewerbs
bedurft. Dieser Riesenerfolg war auch nicht der Unterwerfung unter die Anweisungen
des Internationalen Währungsfonds zu verdanken oder den monopolkapitalistischen
Manipulationen, die man heute als »Globalisierung« schönredet.
Die eiserne Faust eines resoluten Militärdiktators hat das Wunder vollbracht.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 113-114).General Park Chung
Hee hat den Wirtschaftsboom Südkoreas in Gang gesetzt, indem er in einer
ersten Phase des eifersüchtigen Protektionismus gewaltige Konzerne aus dem
Boden stampfte, die mit der Disziplin von Kasernen funktionierten. An deren Spitze
delegierte er hohe Offiziere, die ihm für Effizienz und Produktionswachstum
persönlich verantwortlich waren. Der Vietnamkrieg, der Südkorea als
Lieferant der US Army aufwertete, hat ebenfalls zu diesem phänomenalen Aufschwung
beigetragen. Eines bleibt dabei festzuhalten: Nicht Parteienvielfalt, westliche
Demokratie und strikte Respektierung der Menschenrechte haben Südkorea zum
wirtschaftlichen Höhenflug verholfen, sondern die konfuzianisch fundierte
Strenge eines soldatischen Patriarchen. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 114).
Jawohl,
auch in Berlin, denn beim Blick auf die weitgehende Mukde von Dien Bien Phu zwingt
sich der Gedanke an die absurde, extrem gefährliche Situation auf, in die
mehr als 2000 Soldaten der Bundeswehr bei ihrem ISAF-Einsatz in Afghanistan durch
die Ignoranz und den Opportunismus ihrer Parlamentarier (!
!!!) gebracht werden. Mit ihrer Stationierung in »Camp Warehouse«
an der Straße nach Jalalabad ist das Gros der internationalen Kabul-Brigade
in eine Schlucht eingezwängt, die keine realen Verteidigungschancen, ja nicht
einmal eine Evakuierungsmöglichkeit bietet - von den Außenposten in
Kundus oder Faisabad ganz zu schweigen. Offenbar hat niemand daran gedacht, ein
»worst case scenario« zu entwerfen. Man tut so, als sei die NATO am
Hindukusch vor dem Aufbäumen des islamischen Widerstandes gegen die Präsenz
bewaffneter Ungläubiger auf wunderbare Weise gefeit. (Peter Scholl-Latour,
Koloß auf tönernen Füßen, 2005, S. 227-228).
Nicht
nur der Irakkrieg wurde mit verlogenen Argumenten und Fälschungen vom Zaun
gebrochen. Die irreführenden Äußerungen Colin Powells, des bislang
hochgeachteten US Secretary of State, im Weltsicherheitsrat, als er die angeblichen
Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins auflistete, sind noch in aller Gedächtnis,
ebenso die absurde Behauptung Tony Blairs, der Irak sei in der Lage, binnen 45
Minuten ein nukleares Inferno zu entfesseln. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 238).In Südostasien wurde vierzig Jahre zuvor nicht weniger
schamlos getrickst. Es war im Juli 1964. Laut Meldung der US Navy waren us-amerikanische
Zerstörer auf offener See von nordvietnamesischen Schnellbooten angegriffen
worden, hieß es damals. Darauf stützte sich Präsident Johnson,
um die Bombardierung Nordvietnams anzuordnen. Die massive Landung von Bodentruppen
folgte ein knappes Jahr später. In Wirklichkeit hatte sich 1964 alles ganz
anders zugetragen, wie die 1971 veröffentlichten »Pentagon Papers«
eindeutig enthüllen sollten. Der US Destroyer »Maddox«, mit modernstem
Abhör- und Spionage-Equipment versehen, kreuzte schon seit Wochen in den
nordvietnamesischen Hoheitsgewässern. Als Reaktion auf die militärische
Unterstützung, die der Vietcong seit 1960 aus Hanoi erhielt, war Saigon dazu
übergegangen, mit Hilfe us-amerikanischer Kriegsschiffe Sabotagekommandos
von Rangern und Infiltranten an der Küste abzusetzen. Zwei US-Zerstörer,
»Maddox« und »Turner Joy«, befanden sich zur Zeit des
Tonking-Golf-Zwischenfalls in unmittelbarer Küstennähe, und eine nennenswerte
Gegenwehr der kümmerlichen Kriegsmarine Nordvietnams kam überhaupt nicht
in Frage. Das hinderte den US Congress jedoch in keiner Weise, am 10. August 1964
eine Resolution zu verabschieden, die Lyndon B. Johnson den Blankoscheck zur Entfesselung
des Krieges ausstellte. Wer nach Parallelen sucht zwischen den beiden US-Engagements
in Vietnam 1965 und in Irak 2003, sollte diesen Doppelfall gezielter Desinformation
der eigenen öffentlichen Meinung, der eigenen Parlamentarier und des verbündeten
Auslandes stets vor Augen haben. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 278).Für
die Partisanenbekämpfung, die »counterinsurgency«, den Krieg
gegen den Terror, der neuerdings in so vielen Köpfen spukt und sich zum Alptraum
des globalen Imperialanspruchs der USA auswächst, fehlt jedes überzeugende
Konzept. Mit den ethischen Vorstellungen der westlichen Welt ist jene grauenhafte
Analyse absolut unvereinbar, die ich vor einigen Jahren in einer anonymen arabischen
Veröffentlichung entdeckte. »Es gibt nur ein Mittel«, so heißt
es da, »den Aufstand eines Volkes zu brechen, das sich um keinen Preis ergeben
will. Man muß es ausrotten. Es gibt nur ein Mittel, ein Territorium zu unterwerfen,
auf dem sich ein unbeugsamer Widerstand eingenistet hat. Man muß es in eine
Wüste verwandeln. Wo diese extremen Methoden - aus welchem Grunde auch immer
- nicht angewendet werden können, ist der Krieg verloren.« (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 284).
Washington
könnte sehr bald entdecken, daß die Demokratie ein zweischneidiges
Schwert ist. Präsident Bush wird sich nicht ewig der Erkenntnis verschließen
können, daß sich in Bagdad ein System etabliert, das ... auf eine islamische
Republik schiitischer Prägung zusteuert. Anstelle der säkulären
Terrorherrschaft Saddam Husseins, die sich ideologisch zum arabischen Nationalismus
und zur Trennung von Staat und Religion bekannte, hätte er dann dazu beigetragen,
eine Regierungsform in den Sattel zu heben, für die die koranische Gesetzgebung,
die Scharia, die oberste Richtschnur wäre. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 293-294).Welchen schiitischen Politiker er für das Amt
des Ministerpräsidenten vorschlagen wolle, fragte ich Abdul-Aziz el-Hakim.
.... Er zögerte einen Moment, bevor er eine Präferenz für Ibrahim-el-Ja'fari
zu erkennen gab. Ibrahim-el-Ja'fari hat sich als Führer der schiitischen
Partei Da'wa verdient gemacht und wird als »Kleriker im Anzug« bezeichnet.
Er soll folgende programmatische Aussage gemacht haben: »Der Islam wird
die offizielle Staatsreligion sein und eine der wichtigsten Quellen der Gesetzgebung
neben anderen.« (Peter Scholl-Latour, Koloß auf tönernen
Füßen, 2005, S. 294).Wie sehr haben sich doch die
militärischen Bräuche seit meinem eigenen Wehrdienst verändert
! (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 299).Wenn die
Generale des Pentagon glauben, der Ausbau eines weltweiten Stützpunktssystems
sei das adäquate Konzept für die Sicherung globaler Dominanz bei minimalen
Eigenverlusten, sollten sie zur Kenntnis nehmen, daß eine solche Einbunkerung
in uneinnehmbaren Festungen einer »Einmottung« ihrer Einheiten gleichkäme
und ihre Kampftauglichkeit auf jeden Fall beeinträchtigt. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 300).Wenn man den Sirenen aus Washington Glauben
schenkt, dann wäre ein »demokratischer Frühling« über
ganz Arabien erblüht. Mehr noch, der gewaltige geographische Islam-Gürtel,
»Broader Middle East« genannt, der sich von Marokko bis Pakistan erstreckt,
hätte die Vorzüge von Freiheit und politischem Pluralismus entdeckt,
sei auf dem besten Wege - nach dem angeblich triumphalen Durchbruch der Demokratie
bei den irakischen Wahlen -, diesem leuchtenden Beispiel nachzueifern. »Hat
vielleicht George W Bush doch recht gehabt, als er den von ihm umgestalteten Irak
als Leuchtturm der Demokratie anpries?«, kann man lesen. Selbst
renommierte Kommentatoren in den USA und Europa fallen offenbar auf diesen Unsinn
herein. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 308).Man höre
und staune! Den Deklarationen der frisch berufenen Außenministerin Condoleezza
Rice zufolge hat der Irak am 30. Januar den tugendhaften Pfad der freiheitlichen
Emanzipation betreten. Präsident Bush zählt genüßlich die
Länder des Orients auf, in denen die Menschenrechte sich unwiderstehlich
durchzusetzen beginnen. In Saudi-Arabien wurden Kommunalwahlen veranstaltet, an
deren Manipulationen gemessen die bislang übliche Beduinenpraxis der »Schura«
ein weit größeres Maß ehrlicher Mitbestimmung gewährte.
Der Präsident von Ägypten, Husni-el-Mubarak, hat sich seit einem Vierteljahrhundert
als allmächtiger »Rais« im Land der Pharaonen behauptet, sich
alle paar Jahre mit Zustimmung von 97 bis 98 Prozent wiederwählen lassen.
Saddam Hussein, der Resultate von glatten hundert Prozent einheimste, war da ehrlicher.
Jede Form von Opposition hat Mubarak mit Hilfe seiner Nationaldemokratischen Partei
und vor allem seiner brutalen Geheimdienste erstickt. Jetzt hat er auf Druck Washingtons
widerwillig konzediert, daß beim nächsten Volksentscheid über
die Berufung des Staatschefs ein Gegenkandidat zugelassen würde. Daß
dieser Oppositionelle, der wegen eines imaginären Delikts gerade im Gefängnis
saß und entlassen werden mußte, nicht die geringste Chance hat, sich
gegen die Militärdiktatur durchzusetzen, zumal dieser Repräsentant des
liberalen Bürgertums den islamischen Grundvorstellungen der Massen in keiner
Weise entspricht, stört offenbar niemanden am Potomac. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 308-309).Im Emirat Kuweit, wo die us-amerikanische
»Befreiung« im Jahr 1991 wieder die Dynastie der Sabah in ihre Pfründe
einsetzte und die einheimischen Erdölprofiteure ihre elenden asiatischen
Hausangestellten und Hilfsarbeiter wie Sklaven, ja schlimmer als Tiere behandeln
- ein Skandal, der zum Himmel schreit -, hat angeblich eine Gruppe von Damen der
Gesellschaft für das Wahlrecht der Frauen demonstriert. Beim Überprüfen
der Liste dieser »Emanzen« entdeckt man überwiegend die Namen
der einflußreichen Ausbeuteroligarchie dieses Emirats, das den amerikanischen
Streitkräften als rückwärtige Basis bedingungslos zur Verfügung
steht. Über die Gleichberechtigung der Einwohner der Golf-Emirate, wo es
noch relativ duldsam zugeht, wird in der us-amerikanischen Darstellung immer wieder
unterschlagen, daß als Bürger oder Untertanen dieser von Reichtum strotzenden,
aber extrem artifiziellen Gebilde höchstens ein Viertel der Einwohner in
Frage kommt, während der Rest sich aus unterbezahlten Heloten aus den Armutszonen
Südostasiens zusammensetzt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 309).Auf
der Insel Bahrein, deren Herrscher neuerdings den prätentiösen Titel
eines »Malik«, eines Königs, usurpierte und dessen »Liberalität«
ebenfalls aus Washington mit Lob bedacht wird, verschweigt man geflissentlich,
daß drei Viertel der alteingesessenen Einwohner der schiitischen Glaubensrichtung
angehören und als potentielle Staatsfeinde gelten. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 309).Als zwingenden Beweis für die Erfolge
der Bush-Diplomatie im Hinblick auf »liberty and freedom« muß
doch tatsächlich die Islamische Republik Afghanistan als Trophäe herhalten,
obwohl deren Präsident Hamed Karsai sich weiterhin als »Bürgermeister
von Kabulistan« verspotten lassen muß. Die brutalsten Warlords haben
dort weiterhin das Sagen, und die relative Beruhigung, die sich zur Zeit eingestellt
hat, ist den übelsten Methoden der Bestechung und Einschüchterung zu
verdanken sowie dem Umstand, daß die islamische Revolution ihr kämpferisches
Schwergewicht nach Mesopotamien verlagert hat. Das »befreite« Afghanistan
ist schlimmer als ein »failed state«, ein mißglückter Staat.
Es ist als weitaus größter Heroinlieferant zum Ausgangspunkt hemmungsloser
Drogenkriminalität, zum Eldorado der Narkotrafikanten geworden. Die Folgen
dürften sich am Ende verhängnisvoller auswirken als die Herrschaft der
grausamen und fanatischen »Koranschüler«, der Taliban von einst.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 309-310).Der Gipfel der Unverfrorenheit
ist erreicht, wenn das Militärregime des General Parvez Muscharraf von Islamabad
als fortschrittlicher Partner des Westens dargestellt wird, wo doch dessen Mandat
als Staatschef und als Oberkommandierender der Streitkräfte soeben unter
Mißachtung jeder Legalität verlängert wurde. Die Islamische Republik
Pakistan wäre vermutlich auch unter der korrupten Führung der verbannten
Oppositionspolitikerin Benazir Bhutto schweren Krisen ausgesetzt. Aber die Strategen
des Pentagon sollten den Atombombenbesitz dieses zu zügellosem Fanatismus
neigenden Vielvölkerstaates, der nur durch die eiserne Faust der Armee zusammengehalten
wird, mit weit größerer Sorge beobachten und zu kontrollieren suchen
als die durch feindliche Nachbarstaaten zur nuklearen Aufrüstung geradezu
verurteilte Mullahkratie des Iran. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
310).So geht es mit ungebrochener Gewalt- und Willkürherrschaft
weiter von Marokko, wo der Malik Mohamed VI. seinen wirklichen Einfluß in
seiner Eigenschaft als »Amir-el-mu'minin«, als Befehlshaber der Gläubigen,
geltend macht, bis Jordanien, wo ein haschemitischer Saud-König siebzig Prozent
seiner Untertanen, die palästinensischer Herkunft sind, in Schach halten
muß. Absolut schockierend mutet die Generalabsolution an, die dem libyschen
Paranoiker Muammar-el-Qadhafi nicht nur von den USA, sondern auch von den Staaten
der Europäischen Union erteilt wurde. Dieser berüchtigte Organisator
internationaler Terroranschläge genießt plötzlich wieder das Wohlwollen
seiner Petroleumklienten, ohne daß er seiner geknebelten Bevölkerung
auch nur die geringste Erleichterung zukommen ließ. Statt dessen wird sein
Sohn Seif-ul-Islam als dynastischer Nachfolger aufgebaut. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 310).Da gibt es auch ein paar wohlwollende Despoten,
wie den Sultan Qabbus von Oman, aber das Wort »Hurriya« bleibt bei
ihm aus dem offiziellen Sprachgebrauch verbannt. Gewiß, so wird man einwenden,
zeichnet sich in den Palästinensergebieten eine politische Wende ab, eine
Minderung der bislang alles zersetzenden Mißwirtschaft der »tunesischen«
Clique. Aber die ersten Kommunalwahlen haben ergeben, daß die Führung
der islamistischen Hamas, die - im Gegensatz zur Fatah-Bewegung Yassir Arafats
mitsamt den Herren Mahllud Abbas und Ahmed Qurei - soziale Verantwortung übernimmt
und die Nöte der armen Leute zu lindern sucht, an Einfluß gewinnt.
Diese Entwicklung dürfte weder den Israeli noch den US-Amerikanern ins Konzept
passen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 310-311).Es
hat bislang in der arabischen Welt, in der gesamten »Ummat-el-arabiya«,
nur eine einzige ehrliche und freie Parlamentswahl gegeben, und zwar in Algerien
im Dezember 1991. Die dort herrschende Offizierscamarilla hatte offenbar nicht
damit gerechnet, daß die »Islamische Heilsfront« - »jibhat-el-islamiya
lil inqadh« -, die sich bislang durch ihre karitative Fürsorge hervortat
und sich keinerlei Gewaltakte schuldig machte, plötzlich im Begriff stand,
die absolute Mehrheit der Abgeordneten und somit den Anspruch auf Regierungsbildung
zu gewinnen. Die Reaktion ließ nicht auf sich warten und fiel extrem grausam
aus. Die Militärjunta von Algier hat den Volkswillen ignoriert, die bislang
relativ gemäßiste Führungsmannschaft der FIS ermordet oder eingekerkert.
Über ein Jahrzehnt lang hat sie versucht, die sich zunehmend fanatisierenden
»Mujahidin« - die »Afghanen«, wie der Volksmund sie nannte
- mit Stumpf und Stiel auszurotten. Laut vorsichtiger Schätzung haben bei
dem grauenhaften Wechsel von Aufstand und Repression 150000 Algerier den Tod gefunden,
und der Widerstand der Salafisten ist immer noch nicht ganz gebrochen. Im Westen
hat man sich über den brutalen Staatsstreich der Generale nicht entrüstet.
Im Gegenteil, die demokratischen Regierungen Europas und Amerikas haben sich dazu
beglückwünscht, daß der Kelch einer islamischen Machtergreifung
am Südrand des Mittelmeers noch einmal an ihnen vorbeigegangen war.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 311).Ähnliches wie in
Algerien - wenn auch nicht unbedingt mit der gleichen Vehemenz - dürfte sich
im gesamten »Dar-ul-Islam« wiederholen, falls Präsident Bush
es ernst meinen sollte mit der Respektierung des Mehrheitswillens der Bevölkerung.
In all diesen Staaten behauptet sich außerhalb der privilegierten Wohnviertel
einer schmalen Metropolenelite - in den Slums der Armen, in den Provinzstädten,
auf dem flachen Land - das Verharren in der frommen islamischen Lebensgestaltung,
ja es findet eine heimliche Rückwendung zu den koranischen Vorschriften der
Scharia statt. Bevor sie mit der Ausschaltung der Baath-Partei von Damaskus auch
noch das letzte säkulare Regime des »Broader Middle East« beseitigen,
sollten sich die Orientexperten der Bush-Administration bewußt sein, daß
die Einführung der Demokratie in dieser Weltgegend ein gefährliches
Pokerspiel bleibt. Mit ihrer Phraseologie von »freedom and liberty«
sind diese Zauberlehrlinge auf dem besten Weg, die Fundamente ihrer eigenen Fremdherrschaft,
die unweigerlich auf einheimische Tyrannen angewiesen ist, eigenhändig zu
erschüttern. Wenn nun gar die neokonservativen Propagandisten verkünden,
die unwiderstehliche Ausbreitung freiheitlicher Ideale, die Fortschritte der Menschenrechte
vollzögen sich in globaler Dimension, da kann man nur mit den empörten
Spaniern, die sich von ihrem Regierungschef Jose Maria Aznar schändlich betrogen
fühlten, ausrufen: »No somos idiotas - Wir sind doch keine Idioten.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 311-312).So attraktiv für
Völker anderer Kulturkreise sind die neoliberalen Entgleisungen, auf die
sich der Westen neuerdings eingelassen hat, nun wirklich nicht. Der us-amerikanische
Romancier Philip Roth, seit Jahren Anwärter auf den Nobelpreis für Literatur,
hat seine Kritik an dem Bestreben seiner Heimat, die eigenen Verhältnisse
der übrigen Welt zu oktroyieren, auf bissige Weise formuliert: »Dieses
Land wird nicht von seiner Bürgerschaft regiert, in der jeder von uns eine
Stimme hat, sondern von der Börse, die entsprechend ihren Anteilen den Aktionären
gehört.« Mit dem Wort »Demokratie« ist bereits auf skandalöse
Weise Schindluder getrieben worden, als Josef Stalin in Osteuropa sein abscheuliches
Satellitensystem mit dem Pleonasmus »Volksdemokratie« schmückte.
So sollte man wenigstens hoffen, daß nicht auch noch der Begriff »Freiheit«
zum Orwellschen Synonym von Wahlbetrug, Bestechlichkeit und Unterdrückung
wird. Der deutsche Publizist Paul Sethe, der dem konservativen Lager angehörte,
hatte einmal geschrieben, daß die vielgerühmte Pressefreiheit des Westens
mit der »Freiheit« von zweihundert reichen Leuten gleichzusetzen sei,
ihre Meinungen zu veröffentlichen. Die Zahl dieser Privilegierten dürfte
sich inzwischen noch verringert haben. (Peter Scholl-Latour, Koloß
auf tönernen Füßen, 2005, S. 312-313).
Rußland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China
und Islam (2006)
Der territoriale Mißbrauch der NATO-Struktur
»out of area« hat die Bündnisorganisation in einem Maße
ausgelaugt und ausgefranst, daß das US-Oberkammondo Autorität und Kompetenz
eingebüßt hat. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 294).In
Berlin scheinen das Überleben der Eisbären am Nordpol, die Aufstellung
landschaftsverschandelnder Windspargel im Zeichen einer Pseudo-Ökologie und
jener Unterwerfungsreflex, der gerade bei den domestizierten Pseudorevoluzzern
der 68er Bewegung seltsame Blüten treibt, den Vorrang zu genießen vor
der strategischen Selbsterhaltung der Nation und des Kontinents. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 295).In wenigen Jahren wird die
deutsche Verteidigungspolitik vor folgende Alternative gestellt: Entweder beteiligt
sich die Bundeswehr organisch an einem europäischen, das heißt deutsch-französischen
Nuklear-Deterrent, oder sie wird im nationalen Alleingang auf diese unentbehrliche
Form der Abschreckung zurückgreifen müssen, um das deutsche Volk vor
unermeßlichen Schaden zu bewahren. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 298).
Deutschland muß atomar aufrüsten! (in: Cicero, April
2007)
Eine deutsche Außenpolitik
gibt es nicht. Statt in blinder Nibelungentreue den USA zu folgen, muß sich
Deutschland endlich emanzipieren und seine eigenen Interessen vertreten.
(Peter Scholl-Latour, ebd.).Eine deutsche Außenpolitik,
die diesen Namen verdient, gibt es ebenso wenig wie ein deutsches strategisches
Konzept. Die Schuld daran ist nicht nur den in Berlin agierenden Parteien und
Politikern anzulasten. Die überstürzte Ausweitung der Europäischen
Union auf 27 Mitglieder mit extrem divergierenden Interessen hat den Kontinent
und somit auch Deutschland jeder resoluten Handlungsfähigkeit beraubt. Im
militärischen Bereich ist der Atlantischen Allianz mit dem Zusammenbruch
der Sowjetunion der Gegner abhanden gekommen. Seitdem hat sich die NATO out
of area in eine zeitlich und räumlich unbegrenzte Phantomjagd auf den
internationalen Terrorismus eingelassen (Peter Scholl-Latour, ebd.).Wer
die Dinge beim Namen nennt, setzt sich in den deutschen Medien unweigerlich dem
diffamierenden Vorwurf des Antiamerikanismus aus. Dabei sind es prominente amerikanische
Politiker, die George W. Bush als den verhängnisvollsten Politiker in der
Geschichte der USA anprangern. Die Chance einer Pax americana, die
nach dem Ende des Kalten Krieges durchaus bestand, ist durch den blinden Bellizismus
der Bush-Administration wohl endgültig verspielt worden. Heute gilt es für
die Deutschen, endlich den Unterschied zu erkennen zwischen dem Nordatlantischen
Bündnis Europas mit Amerika, das den existenziellen Bedürfnissen beider
Kontinente und ihrer kulturellen Affinität entspricht, und andererseits der
konkreten Struktur dieser Allianz North Atlantic Treaty Organization, die
seit Beilegung des Ost-West-Konflikts obsolet wurde und sich für die europäischen
Partner zunehmend negativ auswirkt. (Peter Scholl-Latour, ebd.).Deutschland
muß atomar aufrüsten, fordert Peter Scholl-Latour. Statt in blinder
Nibelungentreue den USA zu folgen, müsse Deutschland endlich wieder seine
eigenen Interessen vertreten. Eine deutsche Außenpolitik, die diesen
Namen verdient, gibt es ebenso wenig wie ein deutsches strategisches Konzept.
Die Schuld daran ist nicht nur den in Berlin agierenden Parteien und Politikern
anzulasten. Die überstürzte Ausweitung der Europäischen Union auf
27 Mitglieder mit extrem divergierenden Interessen hat den Kontinent und somit
auch Deutschland jeder resoluten Handlungsfähigkeit beraubt. (Peter
Scholl-Latour, ebd.).
Nur nationale Verfügbarkeit von Atomwaffen bietet
Schutz!
Als flagrantes Beispiel für diese Fehlentwicklung lässt
sich die Absicht Washingtons zitieren ohne Information und Konsultation
der übrigen Verbündeten , in Polen und Tschechien einen vorgeschobenen
Raketenabwehrschirm beziehungsweise ein hoch entwickeltes Radarsystem einzurichten.
Die Behauptung, diese Dislozierung an Weichsel und Moldau diene ausschließlich
dem Zweck, das Territorium der USA vor der sich steigernden ballistischen Kapazität
der Islamischen Republik Iran oder gar Nordkoreas zu schützen, klingt absurd
und widerspricht zudem dem Geist atlantischer Solidarität. Die Staaten der
Europäischen Union dürften ja viel eher in die Reichweite nuklearer
Sprengköpfe geraten, die eventuell aus dem Orient abgefeuert würden,
als das durch die Weiten der Ozeane geschützte Amerika. (Peter
Scholl-Latour, ebd.).Die Deutschen sollten endlich begreifen,
daß im Extremfall nicht die perfektionistischen Abwehrsysteme glaubwürdigen
Schutz gegen die nukleare Bedrohung durch blindwütige Feindstaaten bieten,
sondern in Ermangelung eines kontinentalen Konsens die nationale
Verfügung über eine eigene atomare Abschreckung. (Peter Scholl-Latour,
ebd.).Seit George W. Bush und seine neokonservative Umgebung
trotz gelegentlicher Beschwichtigung an die europäische Adresse am Unilateralismus
der US-Politik festhalten und die wirklich relevanten Staaten sich frei nach Nietzsche
als »kälteste aller Ungeheuer« zu erkennen geben, wirken die Beteuerungen
von Nibelungentreue, wie sie aus dem Berliner Reichstag über den Atlantik
klingen, naiv und unzeitgemäß. (Peter Scholl-Latour, ebd.).Hier
offenbart sich ein grundlegendes Dilemma der aktuellen deutschen Außenpolitik.
Wie soll eine diplomatische Leitlinie für 27 Mitgliedstaaten der EU getroffen
werden, wenn die osteuropäischen Beitrittsländer weit mehr auf Washington
als auf Brüssel ausgerichtet sind. Die Konvergenz zwischen Deutschland und
Rußland, die unabhängig von Schröder und Putin einer
historischen Tradition und vor allem einer zwingenden ökonomisch-industriellen
Komplementarität entspricht, stößt somit auf das Mißtrauen
der Vereinigten Staaten einerseits, die sich einer Verselbstständigung Berlins
von der exklusiven atlantischen Einbindung diskret, aber nachhaltig entgegenstemmen,
sowie andererseits auf die offene Kritik der ehemaligen Sowjetsatelliten, denen
die Annäherung zwischen Berlin und Moskau, beziehungsweise St. Petersburg,
allzu oft zum historischen Verhängnis wurde. Kein Wunder, daß das Interesse
Osteuropas an der Europäischen Union sich im wesentlichen auf die Überwindung
bestehender finanzieller Engpässe und die Verheißung ökonomischer
Prosperität beschränkt. Machtpolitik, wie es die Stunde erheischen würde,
unter gemeinsamer Einflußnahme auf die globalen Entwicklungen läßt
sich mit einem so bunt karierten Haufen nicht bewirken. (Peter Scholl-Latour,
ebd.).
Unzeitgemäße Treue im Reichstag
Seit
George W. Bush und seine neokonservative Umgebung trotz gelegentlicher Beschwichtigung
an die europäische Adresse am Unilateralismus der US-Politik festhalten und
die wirklich relevanten Staaten sich frei nach Nietzsche als »kälteste
aller Ungeheuer« zu erkennen geben, wirken die Beteuerungen von Nibelungentreue,
wie sie aus dem Berliner Reichstag über den Atlantik klingen, naiv und unzeitgemäß.
Wer kann es übrigens Wladimir Putin verübeln, daß er den Aufbau
neuer Lenkwaffenstellungen an seiner Westgrenze, die mit einem von Warschau geschürten
»Drang nach Osten« der NATO und der EU einhergeht, als Provokation
empfindet und adäquate Gegenmaßnahmen trifft. Hat bei den patentierten
Kreml-Kritikern jemand bedacht, wie wohl die amerikanische Öffentlichkeit
reagieren würde, wenn russische Ingenieure ihre Raketensysteme unter
welchem Vorwand auch immer in Venezuela, Nicaragua oder gar Kuba einbetonierten?
(Peter Scholl-Latour, ebd.).
Der Krieg im Irak ist bereits verloren!
Allzu
viele Berliner Parlamentarier verweigern sich der Einsicht, daß der Krieg
im Irak wie US-Verteidigungsminister Robert Gates diskret eingesteht
bereits verloren ist, daß eine Ausweitung des Konfliktes auf Iran sich zum
Desaster für den ganzen Westen erweisen würde und was Deutschland
unmittelbar betrifft daß der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen
ist. (Peter Scholl-Latour, ebd.).Vielleicht werden
sich die führenden deutschen Medien endlich der systematischen Zweckentfremdung
der Atlantischen Allianz und der eigenen Unterwürfigkeit bewußt, wenn
die Forderung des Pentagon nach Ausweitung der Allianz auf den Pazifischen Raum,
auf den Nato-Beitritt Australiens, Neuseelands, sogar Japans und Südkoreas
sich bewahrheiten sollte. Eine solche Orientierung in Richtung auf den Stillen
Ozean könnte von Peking nicht anders denn als ein bedrohliches Einkreisungsmanöver
gewertet werden. Die deutschen Abgeordneten, die als Polit-Touristen China bereisen
und die Repräsentanten dieser uralten Kultur immer wieder mit erhobenem Finger
zur Übernahme westlicher Demokratiebegriffe ermahnen, täten besser daran,
die us-amerikanischen Verbündeten von einer umzingelnden Stützpunktstrategie
gegen das Reich der Mitte abzubringen, die den Europäern nur Nachteile bescheren
kann. (Peter Scholl-Latour, ebd.).
Die Verantwortung der Bundesregierung
Seit dem
Debakel von Bagdad, an dem gemessen die US-Niederlage in Vietnam rückblickend
als Episode erscheint, drängt sich der Zweifel an der Fähigkeit Amerikas
auf, den Herausforderungen des asymmetrischen Krieges, der globalen
Auseinandersetzung mit den verzettelten Brandherden der islamischen Revolution
erfolgreich zu begegnen. So wie die US-Army in Falludscha hat ja auch die israelische
»Zahal« im Südlibanon feststellen müssen, daß alle
technologischen Wunder der modernen Rüstungsindustrie gegen einen taktisch
perfektionierten Kampf ihre Wirkung verfehlen, daß jegliche Verwüstungen
und »Kollateralschäden« angerichtet werden. Es wäre überdies
an der Zeit, daß die deutsche Regierung, als treuer und aufrechter Verbündeter,
auf gewisse unverantwortliche Husarenritte der Bush-Regierung aufmerksam machen
würde. Während man auf Capitol Hill verzweifelt nach einem halbwegs
ehrenhaften Ausweg aus dem irakischen quagmire sucht, bricht das Pentagon
den Raketenstreit mit Rußland vom Zaun, hält Vizepräsident Dick
Cheney Brandreden gegen die angeblich weltbedrohende Aufrüstung Chinas. Präsident
Bush fegte die überaus vernünftigen Vorschläge der Baker-Hamilton-Kommission
vom Tisch und schickt sich an wie viele Experten befürchten
im Verbund mit Israel einen Vernichtungsschlag gegen die iranischen Nuklearanlagen
zu führen. Unterdessen erwägt man in Berlin lediglich eine Verschärfung
der Sanktionen gegen Teheran, was sich als wirkungslos erweisen wird, und versucht
mit dem gewohnten Zweckoptimismus die Einsicht zu verdrängen, dass ein Kriegseintritt
Irans der militärischen Präsenz der USA im Irak ein jähes Ende
setzen würde. (Peter Scholl-Latour, ebd.).
Mission impossible am Hindukusch!
In
Afghanistan, so hat sich Brent Scowcroft, der frühere Sicherheitsberater
des Präsidenten Bush senior geäußert, werde sich entscheiden,
ob die NATO an der derzeitigen Krisensituation zerbricht. Die Mißstimmigkeiten
häufen sich und werden auch nicht durch den willfährigen Einsatz von
sechs deutschen »Beobachtungsflugzeugen« vom Typ Tornado ausgeräumt.
Das irakische Szenario scheint sich am Hindukusch zu wiederholen. Seit drei Jahren
liegen der deutschen Regierung ernüchternde und realistische Lagebeurteilungen
der örtlichen Kommandeure, des BND und eines klarsichtigen Botschafters vor,
die das Unternehmen am Hindukusch als »mission impossible« definieren.
Aber die deutschen Regierungsparteien weisen diese Erkenntnis ebenso konsequent
von sich, wie die Bush-Administration seinerzeit die Warnungen mißachtete,
die ihr über den voraussichtlichen Verlauf des Irak-Feldzuges aus diversen
verläßlichen Quellen vorlagen. Entgegen einer gezielten Desinformationskampagne
würde die Welt nicht untergehen, wenn die NATO-Koalition Afghanistan räumen
und die dortigen Stämme ihrem Schicksal überließe, wie das übrigens
dem Wunsch der Bevölkerung entspricht. Auf die Höhlen des Hindukusch
ist Al Qaida längst nicht mehr angewiesen, seit diese nebulöse Terrororganisation
in der pakistanischen Nord-West-Region Zuflucht findet und ihre Kampfkraft auf
den Schlachtfeldern des Irak erprobt. (Peter Scholl-Latour, ebd.).Der
wirkliche Skandal hat sich in den letzten Tagen der rot-grünen Koalition
ereignet, als der Bundestag mit erdrückender Mehrheit, aber ohne jede Debatte
und sachlicher Erörterung die faktische Verschmelzung der ursprünglich
grundverschiedenen Militäreinsätze »Enduring Freedom« und
als ISAF sowie die Aufstockung der deutschen Truppen auf 3000 Mann akzeptierte.
Im deutschen Parlament wird erst über das Thema Afghanistan diskutiert, wenn
ein hysterischer Streit über ein paar Gebirgsjäger aufkommt, die in
törichter Unbekümmertheit mit Totenkopfschädeln hantierten. Da
wird endlos über den Fall des recht dubiosen Deutsch-Türken Kurnaz debattiert
und die Elitetruppe KSK auf die Anklagebank gezerrt. Dabei sollte man sich
statt Kurnaz als Ankläger aufzuwerten dafür schämen, daß
die parlamentarischen Wehrbeauftragten ihrer Fürsorgepflicht für die
eigenen Soldaten nicht nachkamen. Die Angehörigen des besagten Spezialkommandos,
die harte Kampferfahrung im Massiv von Tora-Bora sammeln sollten, wurden nämlich
vom US-Kommando in Kandahar als »KZ-Wächter« der Ausdruck
stammt von einem der prominentesten Minister der Kohl-Regierung - eines von CIA
und US-Army eingerichteten Gefangenen-, Verhör- und Folterzentrums mißbraucht.
(Peter Scholl-Latour, ebd.).
Hysterischer Streit über törichte Gebirgsjäger
Immerhin
hat sich in Berlin Widerspruch geregt, als der Sicherheitsberater des Weißen
Hauses, Steven Hadley, die freie Verfügung des amerikanischen NATO-Befehlshabers
in Kabul über das deutsche ISAF-Kontingent und dessen Einsatz im heiß
umkämpften Süden und Osten des Landes anforderte. So weit, so gut. Der
wirkliche Skandal hat sich in den letzten Tagen der rot-grünen Koalition
ereignet, als der Bundestag mit erdrückender Mehrheit, aber ohne jede Debatte
und sachlicher Erörterung die faktische Verschmelzung der ursprünglich
grundverschiedenen Militäreinsätze »Enduring Freedom« und
als ISAF sowie die Aufstockung der deutschen Truppen auf 3000 Mann akzeptierte.
Im deutschen Parlament wird erst über das Thema Afghanistan diskutiert, wenn
ein hysterischer Streit über ein paar Gebirgsjäger aufkommt, die in
törichter Unbekümmertheit mit Totenkopfschädeln hantierten. Da
wird endlos über den Fall des recht dubiosen Deutsch-Türken Kurnaz debattiert
und die Elitetruppe KSK auf die Anklagebank gezerrt. Dabei sollte man sich
statt Kurnaz als Ankläger aufzuwerten dafür schämen, daß
die parlamentarischen Wehrbeauftragten ihrer Fürsorgepflicht für die
eigenen Soldaten nicht nachkamen. Die Angehörigen des besagten Spezialkommandos,
die harte Kampferfahrung im Massiv von Bora-Bora sammeln sollten, wurden nämlich
vom US-Kommando in Kandahar als »KZ-Wächter« der Ausdruck
stammt von einem der prominentesten Minister der Kohl-Regierung eines von
CIA und US-Army eingerichteten Gefangenen-, Verhör- und Folterzentrums missbraucht
Regierungskunst gründet sich auf Vorausschau!
Das
große Thema der deutschen Außenpolitik ist höchst unerfreulich
und könnte beliebig ausgeweitet werden. (Peter Scholl-Latour, ebd.).Die
ungebrochene Beliebtheit, deren sich die Deutschen weiterhin im ganzen Dar-ul-Islam
erfreuen und die durchaus nicht nur auf die Bewunderung für Hitler zurückzuführen
ist, wird unweigerlich in dem Maße schrumpfen, wie die Bundesrepublik sich
von der manichäischen Weltaufteilung in Gut und Böse korrumpieren läßt,
die der Vision des US- Präsidenten vorschwebt. Die Tragödie des Abendlandes
besteht darin, daß der Schwund us-amerikanischer Glaubwürdigkeit in
Verteidigungsfragen einhergeht mit einer selbst verschuldeten militärischen
Kastration der Europäer. Seit neben Israel und Indien auch die extrem labile
Islamische Republik Pakistan sich in den Atomclub drängte, wird das Fortschreiten
der nuklearen Proliferation auf Dauer gar nicht zu verhindern sein. Auch dieser
Realität muß man ins Auge blicken. (Peter Scholl-Latour, ebd.).
Europa muß Stellung beziehen
Wie wird
die deutsche Bevölkerung reagieren, wenn ihr Staat in den Sog jenes »Clash
of Civilizations« ( )
gerät, dem Europa die eigene Identität verleugnend und die eigene
Wehrkraft vernachlässigend gar nicht entrinnen kann. Was geschieht,
wenn in Berlin oder Hamburg die Bomben von Terroristen explodieren oder falls
die Europäische Union aus ihrem südlichen oder östlichen Umfeld
massiver Erpressung und Einschüchterung ausgesetzt wäre?
(Peter Scholl-Latour, ebd.).Bis dahin sollte die Bundeswehr
sich von den überalterten NATO-Schablonen gelöst haben und über
die Mittel verfügen, notfalls auch im nationalen Alleingang, am besten aber
im engen Verbund mit den französischen Schicksalsgefährten, diesen Gefahren
mit vernichtenden Gegenmaßnahmen, notfalls auch mit gezielten »preemptive
Strikes« zu begegnen. Dabei kommt es nicht auf die Massen an, sondern auf
die kriegerische Eignung einer hochtrainierten Truppe und ihrer speziellen Eingreifkommandos.
Diejenigen europäischen Partner, die sich wie Tony Blair als »Pudel
Amerikas« behandeln lassen und die kontinentale Einigung lediglich als eine
Art Freihandelszone zu akzeptieren bereit sind, würden dann ihrem eigenen
Hang zum Rückfall in Zwist und Mißgunst überlassen bleiben. Die
deutschen Politiker ihrerseits, die mit ihren endlosen internen Querelen gelegentlich
an das christliche Byzanz erinnern, dessen Senat unmittelbar vor der Eroberung
der »Polis« durch die osmanischen Heerscharen Mehmet II. über
das Geschlecht der Engel debattierten, würden ihren Auftrag sträflich
verfehlen, wenn sie sich nicht eine Überlebensmaxime zu eigen machten, die
Napoleon zugeschrieben wird: Regierungskunst
gründet sich auf Vorausschau! (Peter Scholl-Latour, ebd.).
Zwischen den Fronten. Erlebte Weltgeschichte (2007)
Im
Alter von 83 Jahren und nachdem ich mit Ausnahme einiger winziger Eilande im Pazifik
und in der Karibik sämtliche Länder der Welt aufgesucht habe - nur Osttimor
bleibt noch abzuhandeln -, glaube ich mich als Chronist auf die Aussage von Leopold
von Ranke berufen zu können: »Der Historiker muß alt werden«,
so urteilte er, »da man große Veränderungen nur verstehen kann,
wenn man persönlich welche erlebt hat.« Daran hat es in meinem Leben
wahrlich nicht gemangelt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 7).
In
gewisser Hinsicht bleibt selbst im 21. Jahrhundert die Infanterie immer noch die
Königin des Schlachtfeldes. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 194).Wer
Deutschland am Hindukusch verteidigen will, täte gut daran, die geographischen
Dimensionen zu berücksichtigen, seine Aufmerksamkeit den Nachbarländern
unseres Kontinents zuzuwenden und den Grundsatz Friedrichs des Großen zu
beherzigen, der seine Offiziere instruierte, daß derjenige, der alle Positionen
verteidigen will, in Wirklichkeit nichts verteidigt. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 199 ).Der gesunde Menschenverstand
und die politische Klugheit gebieten, sich stets in die Mentalität anderer
Kulturkreise zu versetzen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 199 ).
Der
territoriale Mißbrauch der NATO-Struktur »out of area« hat die
Bündnisorganisation in einem Maße ausgelaugt und ausgefranst, daß
das US-Oberkammondo Autorität und Kompetenz eingebüßt hat.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 294).In
Berlin scheinen das Überleben der Eisbären am Nordpol, die Aufstellung
landschaftsverschandelnder Windspargel im Zeichen einer Pseudo-Ökologie und
jener Unterwerfungsreflex, der gerade bei den domestizierten Pseudorevoluzzern
der 1968er Bewegung seltsame Blüten treibt, den Vorrang zu genießen
vor der strategischen Selbsterhaltung der Nation und des Kontinents. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 295).In
wenigen Jahren wird die deutsche Verteidigungspolitik vor folgende Alternative
gestellt: Entweder beteiligt sich die Bundeswehr organisch an einem europäischen,
das heißt deutsch-französischen Nuklear-Deterrent, oder sie wird im
nationalen Alleingang auf diese unentbehrliche Form der Abschreckung zurückgreifen
müssen, um das deutsche Volk vor unermeßlichen Schaden zu bewahren.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 298).Dem Zufall, den vertraulichen
Warnungen der CIA, der Wachsamkeit der deutschen Sicherheitsbehörden, aber
auch der mangelnden Professionalität der Attentäter war es zu verdanken,
daß die Bundesrepublik Anfang September 2007 vor monströsen Sprengstoffanschlägen
einer gewissen »Islamischen Jihad-Union« verschont blieb. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 300).Was soll man ... von einem
Bundestag halten, der eine Aufstockung der deutschen Afghanistan-Präsenz
beschloß und die Unterstellung von ISAF unter NATO-Kommando ohne ernsthafte
Debatte verabschiedete, sich jedoch in moralischen Vorwürfen gegen die eigenen
Soldaten erging. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 304).Folgende
Prinzipien werden aus der neuen Situation abgeleitet: Nicht mehr das offene Land,
sondern die Städte bieten den Freischärlern den besten Schutz. ....
Mehr denn je bewahrheitet sich die These von Clausewitz, wonach Zufall und Ungewißheit
jede militärische Aktion stärker bestimmen als eine noch so ausgeklügelte
Planung. .... In der derzeitigen Phase des asymmetrischen Krieges kommt der ...
technischen Überlegenheit nur noch begrenzte Bedeutung zu. Von einem erdrückenden
Aufwand feindlicher Mittel bedroht, wird die Aufstandsbewegung ihr Heil in der
Zerstreuung ihrer Kampfgruppen suchen und darauf verzichten, feste Stellungen
zu verteidigen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 306).Dem
Terrorismus, der unweigerlich und unvermeidbar auf uns zukommt, begegnet man am
besten mit kalter Entschlossenheit und - soweit es geht - mit Gelassenheit. Beunruhigend
ist hingegen der Mangel an Kompetenz, der medienbezogene Konformismus, die bündnisfixierte
»political correctness« (**),
die die parlamentarische Debatte in Berlin so realitätsfern erscheinen läßt.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 307).In Deutschland optiert
die Mehrheit der Bevölkerung für eine baldige Räumung Afghanistans,
aber neuerdings ist es bei Parlamentariern und Publizisten Mode gworden, die Meinung
des Bürgers geringzuachten, gemäß der vulgären Redensart
von einst: »vox populi, vox Rindvieh«. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 309).Mit grimmiger Heiterkeit kann ich feststellen,
daß ausgerechnet jene früheren Wortführer eines utopischen Ultra-Pazifismus
sich heute als Bellizisten in die Brust werfen. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 309).Unter den Journalisten plädieren vor allem diejenigen
für einen unbegrenzten und verstärkzen Einsatz deutscher Truppen, die
niemals ihren Fuß auf afghanischen Boden setzten oder sich allenfalls unter
massiven Schutz zu einer Stippvisite aufrafften. Ein deutscher General erklärte
vor laufender Kamera, wenn Deutschland nicht in Afghanistan verbleibe, dann komme
Afghanistan zu uns. Er täte gut daran, einen Blick auf die Landkarte zu werfen.
Was sich zur Stunde im Irak, im Nahen Osten, demnächst auf den Balkan und
übermorgen in Nordafrika abspielt, ist für Europa unenedlich wichtiger
als die Behauptung von isolierten Stützpunkten im hintersten Winkel Zentralasiens.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 309).Die deutsche Öffentlichkeit
unterliegt einer permanenten Desinformation. Wer will denn schon zur Kenntnis
nehmen, daß das abscheuliche Attentat vom 11.09.2001 in den USA nicht das
Werk afghanischer Freischärler, sondern saudi-arabischer Studenten war. Al
Qaida ist keine afghanische, sondern eine saudische Organsiation. Finanziert wird
sie - so berichten US-Medien - zu einem wesentlichen Teil durch den Trust »Dar-el-Maal-el-Islami«
des hoch angesehenen Prinzen Mohammed el Faisal und seinesgleichen. Vergessen
wir nicht, daß Osama bin Laden seine »grüne Fremdenlegion«
in enger Zusammenarbeit mit der CIA rekrutierte, um sie gegen den sowjetischen
Überfall auf Afghanistans einzuzsetzen. Sogar an der Aufstellung der Taliban-Horden
des Mullah Omar waren us-amerikanische und pakistanische Geheimdienstler maßgeblich
beteiligt. Viel zu spät entdeckten sie, daß sie sich mit unheimlichen
Gesellen eingelassen hatten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 309-310).Die
am Hundukusch befindlichen Truppen sind dem Oberbefehl der NATO, das heißt
de facto dem us-amerikanischen Kommando untergeordnet. In diesem Feldzug,
der sich auf abenteuerliche Weise »out of area« abspielt, könnte
die ohnehin obsolete Bündnisstruktur vollends zu Bruch gehen. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 310).Was die bevorzugte Sonderstellung
der Deutschen bei den Afghanen betrifft, so muß mit Ernüchterung festgestellt
werden, daß us-amerikanische Dienste, die sich durch Tarnung mit deutschen
Fähnchen und Nummernschildern einen gewissen Schutz vor den Taliban versprechen,
diese Praxis inzwischen aufgegeben haben. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 310).Eine zusätzliche Täuschung der Öffentlichkeit
findet statt, wenn der Tod von Bundeswehrsoldaten in Kundus und die Entführung
von zwei deutschen Ingenieuren in der Provinz Wardak zu Schicksalfragen hochgespielt
werden. natürlich kann die Berliner Regierung nicht ein strategisches Projekt
aufgeben, weil dabei Soldaten ums leben kommen. Das gehört leider zu jeder
kriegerischen Aktion. Erst recht darf sie sich nicht durch kriminelle Banden erpressen
und zu einer politischen Kursänderung drängen lassen, weil deutsche
Zivilisten auf schändliche Weise als Geiseln mißbraucht werden. Diese
zutiefst schmerzlichen Erfahrungen berühren jedoch nicht den wesentlichen
Punkt, nämlich die Frage, ob der NATO-Einsatz am Hindukusch überhaupt
Sinn macht. Die Antwort kann nur ein deutliches Nein sein. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 310-311).Es gibt keine NATO-Kontrolle über
Afghanistan, weder im umkämpften Süden und Osten noch im relativ ruhigen
Norden, wor die Bundeswehr ihre Schutzburgen aufgebaut hat. Von den Soldaten,
die dort gewissenhaft ihren Dienst versehen, existiert in der Heimat meist ein
falsches Bild. Diese mit Logistik und Versorgungseinrichtungen überfrachtete
Truppe, die sogar ihre gesamte Verpflegung aus Deutschland einfliegen läßt,
als ob es in Afghanistan kein vorzügliches Hammel- oder Rindfleisch sowie
herrliche Früchte gäbe, sind in ihren jeweiligen Basen regelrecht eingesperrt.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 311-312).Die Berliner Regierung
hat lange genug »Feigheit vor dem Freunde« praktiziert. Sie muß
endlich von der us-amerikanischen Führung ernsthaft und zwingend eine Erklärung
verlangen, welches ihre langfristige Planung ist und wie sie sich eine Weiterführung
dieser »mission impossible« am Hindukusch vorstellt. Wer möchte
schon darauf warten, daß die US-Verbände plötzlich und ohne Vorwarnung
den Rückzug natreten wie 1994 nach den Rückschlägen in Mogadischu
während er UNO-Aktion in Somalia. Damals mußte das Bundeswehr-Kontingent,
das in der Nähe der äthiopischen Grenze kampierte, sich beeilen, um
rechtzeitig den Einschiffungshafen zu erreichen. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 316).Warum ich dem deutschen Einsdatz am Hindukusch einen solchen
Raum im Rahmen einer Betrachtung über die Fragmentierung Europas gewidmet
habe? An dieser Stelle könnte die ... Bundesrepublik, die ihre außenpolitischen
Richtlinien in der Ökologie und im Humanitätsdusel zu suchen vorgibt,
von der Nemesis geschichtlicher Unerbittlichkeit eingeholt werden. Für ...
Berlin droht Afghanistan eines Tages den gleichen negativen Stellenwert zu gewinnen
wie der Irak-Feldzug für ... Washington. Kein geringerer als Brent Scowcroft,
der frühere Sicherheitsberater des Präsidenten Bush senior, fragt sich
bereits, ob die NATO an diesem Einsatz in Zentralasien zerbrechen wird.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 317).In den Talk-Shows über
Afghanistan offenbart sich eine skandalöse Diskrepanz zwischen den nüchternen,
meist pessimistischen Aussagen all derer, die sich an Ort und Stelle aufhielten
und in engem Kontakt mit der dortigen Bevölkerung lebten - darunter befinden
sich auch die Repräsentanten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz
-, und einer Riege von besserwisserischen, beschwichtigenden Politikern jeder
Couleur, die sich krampfhaft an getürkte Statistiken und folgenschwere Fehleinschätzungen
klammert. Die traurige Realität am Hindukusch wird in Berlin konsequent negiert.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 346-347).Es ist reale Gefahr
im Verzug, wenn der außenpolitische Sprecher einer großen Koalitionspartei
behauptet, der asymmetrische Krieg und das Auftreten von »illegal combatans«
seien eine originäre, völlig neue Entwicklung unserer Tage. Diese Kampfweise
ist in Wirklichkeit so alt wie David und Goliath. Was der Staat USA als verbrecherischen
Terrorismus brandmarkt, war von jeher die Grundregel eines jeden Partisanenkampfes,
einer jeden Guerilla und der meisten Befreiungskriege. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 347).Die Methodik, die technische Kapazität
des Widerstandes haben sich jedoch - parallel zu den atemberaubenden Rüstungsfortschritten
der regulären Streikräfte in den USA - gründlich gewandelt. Die
Kämpfer des Untergrundes verfügen jetzt ebenfalls über gesteigerte
Vernichtungskraft und ausgeklügelten Erfindergeist. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 347).Man verschone uns mit der Vokabel »feiger
Mord«, wenn ein verzweifelter Kamikaze sich selbst in die Luft sprengt,
während der ihm nachstellende Bomberpilot aus 10000 Meter Höhe seine
tödliche Ladung ausklinkt und absolute persönliche Sicherheit genießt.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 347).Die resignative Formel
»mundus vult decipi« - »die Welt will betrogen werden«
- muß allzuoft als Regierungsrezept herhalten. Wann werden die deutschen
Politiker auf die erwiesenennaßen falsche Argumentation verzichten, die
exakte Planung, die präzise Ausführung des Anschlags vom 11.09.2001
seien in den Höhlen des Hindukusch errfolgt. Mag sein, daß Osama Bin
Laden, der bis 1991 als Rekrutierungs-Agent der CIA in diesem Raum tätig
war, nach seiner plötzlichen, religiös motivierten Kehrtwendung gegen
die USA den Auftrag zur Zerstörung des World Trade Center erteilte. Das hätte
er aber auch von jedem beliebigen Punkt der Erde aus tun können. In den viel
genannten El-Qaida-Lagern Afghanistans fand nicht viel mehr statt als infanteristische
Grundausbildung und eine rudimentäre Anleitung zum Bau von Sprengsätzen.
Das Spezialtraining der überwiegend saudischen Todeskandidaten als Piloten
vollzog sich ausschließlich in den USA, und nur dort konnten die Flugpläne
eingesehen und koordiniert werden, die den Todesengeln den Zeitplan vorgaben.
Im übrigen läßt sich die übliche Behauptung nicht aufrechterhalten,
beim Anschlag vom 11. September 2001 habe es sich um eine bislang vorstellbare,
infernalistische Premiere gehandelt. Schon 1993 hatten die Komplizen des Scheich
Omar Abdurrahman, eines blinden ägyptischen Predigers, der - im Besitz der
»Green Card« - ebenfalls die Werbetrommel für islamische Freiwillige
... gerührt hatte, mit unzulänglichen Mitteln versucht, das Fundament
des gleichen New Yorker Wolkenkratzer-Komplexes zu sprengen. Dafür büßt
Scheich Omar heute in den USA eine lebenslange Haftstrafe ab. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 348).Wenn unsere maßgeblichen Parlamentarier
außerstande sind, die jüngsten Ereignisse zu deuten und statt dessen
gezielten Fälschungen erliegen, wie verhält es sich dann erst bei ihrer
Bewertung weiträumiger geschichlicher Vorgänge. Auf welches Augurernspiel
der Zukunftserkundung lassen sie sich dann ein? (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 348).Am Ende zahlloser Vorträge, die ich in allen Gegenden
der Bundesrepublik hielt, pflegte ich meine festlich gestimmten Gäste gern
mit einem Satz ... aufzuschrecken: Im Abgrund der Geschichte ist Platz
für alle.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 349).
Die Angst des weißen Mannes. Ein Abgesang (2009)

Die
politische Ausrichtung der USA wird nicht mehr durch eine Bevölkerungsminderheit
definiert, die sich rühmte, »White, Anglo-Saxon and Protestant«
zu sein. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 9).Seit Ende
des Zweiten Weltkrieges sieht sich diese transatlantische Allianz globalen Machtverschiebungen
ausgesetzt, denen sie schon aus demographischen Gründen nicht gewachsen ist.
Dem »weißen Mann« ist ja nicht nur das Monopol industrieller
und militärischer Überlegenheit abhanden gekommen. Ihm fehlen heute
vor allem das Sendungsbewußtsein, die Lust am Abenteuer sowei die die Bereitschaft
zur Selbstaufopferung, auf die sich sein immperialer Anspruch gründete.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 9).Ich bin so alt, daß
ich die Stunde einer akuten Bedrohung wohl nicht mehr erleben werde. Doch schon
die kommende Generation wird sich mit der schmerzlichen Anpassung an eine inferiore
Rolle im globalen Kräftespiel, an geschwundenes Prestige abfinden müssen
und mit dem tragischen Fatum leben, daß den weißen Herren von gestern
das sachte Abgleiten in Resignation und Bedeutungslosigkeit bevorsteht. Der Ausdruck
»White Man« ist heute ja schon verpönt und mit dem Odium des
Rassendünkels behaftet. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 10).Obama
... hat ... eingestanden, daß den Vereinigten Staaten nicht länger
die Mittel zur Verfügung stünden, die Welt nach ihren Vorstellungen
auszurichten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 15).
Man
hüte sich vor verallgemeinerungen. Mir ist sehr wohl bewußt, daß
eine beachtliche Zahl von internationalen Hilfswerken vorbildliche und selbstlose
Arbeit leistet. Man denke nur an Caritas, Brot für die Welt, Ärzte ohne
Grenzen, die »Grünhelme« Rupert Neudecks, an die Malteser und
mache andere mehr. Doch die Masse der »Non-Governmenatl Organizations«
- im afghanischen Kabul sind sie in Hundertschaften präsent - steht allzu
oft im Diesnte undurchsichtiger Geschäfte, des exotischen Reiserummels, eine
egoistischen Selbstbestätigung und mehr noch der humanitär getarnten
Spionage. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 23).Denn
während das Mutterland seine Bedeutung einbüßte und auf den Status
eines Kleinstaates an der europäischen Peripherie schrumpfte, entfaltet sich
in unseren Tagen das immense Territorium Brasiliens zur amerikanischen Großmacht,
die dank ihres wirtschaftlichen, morgen wohl auch politischen Potentials das lusitanische
Erbe an die Nachwelt weiterreicht, Brasilien hat die Vasallenrolle, die Washington
den lateinischen Staaten Mittel- und Südamerikas im Sinne der Monroe-Doktrin
so lange angewiesen hatte, längst abgeschüttelt. Auf seltsame Weise
wirkt hier der Schiedsspruch des Borgia-Papstes Alexander VI. nach, der um da
Jahr 1500 die Neuentdeckunegn auf dem gesamten Erdball zu einer Hälfte den
Spaniern, zur anderen den Portugiesen zugesprichen hatte. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 28-29).Die Grausamkeit und die Habgier, mit denen
die Besitzergreifung der iberischen Coqistadoren und auch ihre christliche Missionierung
einhergingen, soll nicht beschönigt werden. Die späteren, überwiegend
angelsächsischen Eroberer - denken wir nur an die Ausrottung der Indianer
Nordamerikas - standen dem Wüten eines Cortés, der Herrschsucht eines
Albuquerque, der Goldgier eines Pizarro übrigens in keiner Weise nach.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 29).Es gehört zu den
absurdesten Kapiteln der europäischen Kolonialgeschichte, daß Protugiesen
und Niederländer sich dreihundert Jahre lang um den Besitz von ein paar entlegenen
und - an Java oder Ceylon gemessen - dürftigen Eilanden bekriegen sollten.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 31).Holland - Bestandteil
des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation - hatte dem Katholizismus
den Rücken gekehrt. .... Wie »global« schon vor einem halben
Jahrtausend die konfessionellen Gegensätze ausgetragen wurden und aufeinanderprallten,
entnehmen wir einer Stophe des Siebten Gesangs der Lusiaden. Da heißt es:
»Ihr seht der Deutschen hochmütige Herde, // Die sich auf weitflächigem
Feld ernährt, // Den neuen Hirten wählt der neuen Lehre (gemeint sind
Calvin und Luther) // Und gegen Petri Erben aufbegehrt.// Ihr seht beladen sie
mit Kriegsbeschwerden, // Da sie der blinde Wahn noch nicht belehrt, // Nicht
um den stolzen Türken zu verjagen, // Nein, um das hohe Joch (des Papstes)
nicht mehr zu tragen» (Louís de Camões, Gesang der Lusiaden,
7. Gesang, 4. Strophe). (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 31-32).Der
greise Camões, der von einer kümmerlichen Rente seines Königs
ein trauriges Dasein fristete, wurde noch verzweifelter Zeuge des Niedergangs
seines Vaterlandes. Es klingt seltsam modern, wenn er am Ende die Habgier und
Verderbtheit seiner Landsleute, die der Sucht nach Ruhm und Reichtum erlegen waren,
für das Scheitern des portugiesischen Imperiums verantwortlich macht. Er
schließt sich damit der Verdammung der »avaritia« an, der wütenden
Kritik an der Habsucht, an der zunehmenden gesellschaftlichen Ausrichtung auf
Profit und Geldwirtschaft, die seiner christlichen Grundhaltung zutiefst widersprach
und von zahlreichen Moralisten und Literaten seiner Epoche geteilt wurde. Schon
damals gab es ideologische Gegner eines weltumspannenden Glücksrittertums,
das uns seltsam vertraut vorkommt. Die Tragödie des Dichters Camões
gipfelte in der Annexion Portugals durch den spanischen König Philipp II.,
die im Jahr 1580, im Jahr seines Todes, stattfand und fast ein Jahrhundert andauern
sollte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 32).Ich will
die Analogien nicht exzessiv bemühen, aber an dieser Stelle sollte einer
der bedeutendsten Exegeten des Camões- Werks, der Deutsche Rafael Arnold,
zu Wort kommen: »Inzwischen sind die Entdeckungen in andere Richtungen gelenkt.
Aus dem geographischen Raum in den Weltenraum oder in den Mikrokosmos atomarer
Kleinstteile. Daneben entdecken wir heute -den Blick auf den Bildschirm geheftet
- am Computer ungeahnte virtuelle Welten. Der Wortschatz der Entdeckungen verdankt
dabei bis heute der nautischen Fachsprache sehr viel. Astronauten bereisen ganz
selbstverständlich in Raumschiffen das Weltall. Explorer helfen
bei der Orientierung im elektronischen Informationsspeicher, und unterstützt
von einem Navigator erkunden wir die novos mundos virtueller
Wirklichkeit, wenn wir durchs Internet surfen. Navegar na internet
nennen das die Portugiesen, von denen Camões einst stolz sagen konnte:
Der Welt werden sie neue Welten bringen. (II, 45)« (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 32-33).Im Rückblick erscheint
der endlos schwelende Konflikt zwischen Portugiesen und Holländern - letztere
hatten vorübergehend, aber ohne bleibenden Erfolg auch in Nordost-Brasilien
Fuß gefaßt als historischer Aberwitz, als extravagantes Vorgeplänkel
jener europäischen Selbstzerfleischung, an deren Ende die düstere Vorahnung
des »Untergangs des Abendlandes« steht. Die merkantile Hartnäckigkeit
der Ostindischen Handelsgesellschaft, die 1799 der staatlichen Autorität
der niederländischen Regierung unterstellt wurde, hat es dem Haus Oranien
immerhin erlaubt, eine riesige koloniale Domäne zwischen der Nordspitze Sumatras
und der Westhälfte Neuguineas extrem gewinnbringend auszubeuten, während
Portugal, das sich in Asien lediglich in winzigen Dependancen behauptete, sich
bis 1974 ohne großen Profit an seine weitflächigen afrikanischen Besitzungen
klammerte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 33).Das
Beispiel dieser europäischen Kleinstaaten, in deren Unterbewußtsein
die Erinnerung imperialen Prestiges nicht erloschen ist, illustriert die profunden
psychologischen Vorbehalte, die sich der heute angestrebten Einigung des Kontinents
entgegenstemmen. Nicht nur Holland und Portugal hatten sich vorübergehend
als Großmächte gebärdet. Neben Briten, Spaniern, Franzosen und
Deutschen .... In der Nachfolge Kaiser Karls V, ȟber dessen Reich
die Sonne nie unterging«, verstieg sich das Haus Habsburg zu der Devise
A. E. I. 0. U.: »Austriae est imperare orbi universo« (es ist Österreich
bestimmt, die Welt zu beherrschen) oder auch: »Alles Erdreich ist Österreich
untertan«. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 33-34).Wer
heute an den zähflüssigen Querelen der Eurokraten von Brüssel,
am frustrierenden Hindernislauf der kontinentalen Einigung, an der von Washington
geschürten Divergenz zwischen »Old and New Europe« verzweifelt,
sollte neben den pompösen Schriften des Barden Camões auch die exaltierten
patriotischen Aufrufe, die nationalistischen Haßpredigten des 19. und 20.
Jahrhunderts zur Hand nehmen, die die machtpolitische Abdankung des Okzidents
begleiteten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 34).Hier
bestätigt sich eine historische Kontinuität. Schon das späte römische
Imperium hatte in der langen Folge seines Niedergangs die unzureichend bemannten
legionen durch Anwerbung von »Barbaren« ergänzen müsse,
wobei den egrmanischen Stämmen jenseits des Limes (denn
es gab auch germanische Stämme diesseits des Limes!HB), aber
auch den Numidiern, Dalmaten oder Nubiern eine besondere Rolle zufiel. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 39).Das britische Empire hatte es
seinerseits meisterhaft verstanden, die unterschiedlichsten rassen in den »Mint«,
in den Prägestock seines militärischen Drills, zu pressen und dieser
Kolonialtruppe sogar das Gefühl zu vermitteln, einer kriegerischen Elite
anzugehören. In der »Grande Armée« Napoleons, die auf
Moskau zumarschierte, wurde mehr Deutsch als Französisch gesprochen. In den
mörderischen Vernichtungsschlachten des Ersten Weltkriegs griffen Franzosen
massiv auf Senegalesen und Algerier zurück. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 39).Die riesigen afrikanischen Territorien von Angola und Mosambik
... waren einer solchen Vernachlässigung und Mißwirtschaft anheimgefallen,
daß vor dem Ersten Weltkrieg Engländer und deutsche vorübergehend
über deren Aufteilung verhandelten. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 40).Wie dieses Land laut offizieller UNO-Darstellung an mangelnder
Ernährung, ja Hungersymptomen leiden soll, läßt sich schwer erklären.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 55).Als Wendepunkt des internationalen
Pokerspiels nennt er den 12. November 1991. An diesem Tage hatten sich in Dili
etwa tausend einheimische Patrioten am Friedhof Santa Cruz versammelt, um den
Tod eines im Kampf gefallenen Widerstandskämpfers zu beklagen. Indonesische
Soldaten eröffneten das Feuer und richteten ein Massaker an. Das war eigentlich
nichts Ungewöhnliches. Aber dieses Mal geriet das brutale Vorgehen des General
Suharto in das grelle Licht der westlichen, vor allem der us-amerikanischen Medien.
Ganz zufällig sei die internationale Anteilnahme wohl nicht zustande gekommen,
bemerkt Fernando mit müdem Lächeln. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 57).Im Jahr 1991 schwelgten die USA in der Gewißheit,
ihr Ziel einer weltweiten Hegemonie erreicht zu haben. Die Sowjetunion war auseinandergebrochen.
Präsident Bush senior hatte Saddam Hussein in die Knie gezwungen.
Im Kapitol zu Washington keimte eine Vorstellung, die unter George Bush II.
zur Obsession werden sollte. Demnach müßten im Zeichen einer ideologischen
Gleichschaltung sämtliche Länder des Erdballs die us-amerikanischen
Vorstellungen von Demokratie und Kapitalismus übernehmen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 57).Dem Diktator Indonesiens, Hadji Mohamed Suharto,
der als unerbittlicher Kommunistenfeind ein willkommener Verbündeter war,
hatte man bislang Grausamkeit und Korruption nachgesehen. Unter der energischen
Führung des »lächelnden Generals« hatte sein gigantischer
Archipel sogar einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Doch
plötzlich wurde der alternde Despot, der sich zunehmend störrisch zeigte
und den Weisungen des Internationalen Währungsfonds mit berechtigtem Mißtrauen
begegnete, ein unbequemer, ja belastender Alliierter. Zudem kam der Verdacht auf,
daß er sich zur Konsolidierung seines Regimes nicht nur auf die unentbehrliche
Armee stützte, sondern gewissen islamischen Kräften zu weiten Spielraum
einräumte. Kurzum, der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte
gehen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 57-58).Es war
ja nicht das erste Mal, daß Washington bewährte Gefolgsleute fallenließ.
Im Gedankenaustausch mit meinem portugiesischen Gesprächspartner erwähne
ich das traurige Schicksal des Präsidenten Ngo Dinh Diem in Vietnam, den
Schah von Persien, diverse Caudillos in Lateinamerika und neuerdings auch die
Pressekampagne gegen General Pervez Musharraf in Pakistan. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 58).Die indonesischen Kommandeure, die Tausende
ihrer Soldaten in der Guerrilla von Ost- Timor verloren hatten und nach der Gefangennahme
des wichtigsten Partisanenführers Xanana Guzmão überzeugt waren,
der »Pazifizierung« dieser rebellischen 27. Provinz nahe zu sein,
hatten sogar den Gedanken an eine begrenzte Autonomie Ost-Timors weit von sich
gewiesen. Die Situation änderte sich jedoch gründlich, als im Jahr 1997
Ostasien durch eine katastrophale Finanzkrise erschüttert wurde. Noch heute
hält sich in den Ländern, die von dieser Rezession getroffen wurden,
der Verdacht, daß sie in einer ersten Phase durch die Manipulationen des
Finanzmagnaten George Soros, seine Spekulation gegen die thailändische Bath-Währung,
ausgelöst und anschließend durch das krampfuafte Festhalten an den
schädlichen Entscheidungen des Weltwährungsfonds auf eine ganze Reihe
anderer Staaten in Fernost -darunter Südkorea- ausgeweitet wurde. Am härtesten
betroffen war Indonesien, wo die Währung, die Rupiah, ins Bodenlose stürzte,
die aufstrebenden Industriezweige plötzlich zusammenbrachen und das Gespenst
des Staatsbankrotts auftauchte. Eine Welle von Verzweiflung, Wut und Gewalt bemächtigte
sich der bislang so passiv und unterwürfig wirkenden Massen. Ganz Indonesien
könnte Amok laufen, so befürchteten die Experten. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 58).Daß die drangsalierten Timoresen am 30.
August 1999 sich dennoch mit 78,5 Prozent der Stimmen für die Unabhängigkeit
aussprachen, traf die indonesischen Militärs wie ein harter Schlag und eine
tiefe Demütigung. .... Im September schlug die Stunde der bewaffneten Intervention
der Vereinten Nationen. .... Die »International Force for East Timor«
(INTERFET) übernahm die militärische Kontrolle. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 59-60).»So lautet die offizielle Story, die
Sie überall nachlesen können«, fahrt Fereira fort, »aber
der wirkliche Hintergrund dieses plötzlichen Sinneswandels und der überstürzten
Intervention der Internationalen Völkergemeinschaft, wie es so
schön heißt, präsentiert sich ganz anders.« Die globale
Strategie spiele natürlich eine vorrangige Rolle. Die Gerüchte, wonach
die US Navy an der Nordküste von Timor-Leste oder auf Atauro eine Marinebasis
errichten wolle, haben sich bisher nicht bewahrheitet. Aber Marineexperten verweisen
weiterhin darauf, daß die tiefen Gewässer der Savu-See und der Wetar
Strait - zummal in der Perspektive eines Konfliktes mit China - eine ideale und
sichere Direktpassage für us-amerikanische Nuklear-U-Boote vom Pazifik zum
Indischen Ozean darstellen. Selbst in harmlosen, völlig unvoreingenommenen
Guide Books wird angedeutet, daß diese günstige maritime Topographie
bei dem plötzlichen Eintreten Washingtons für die Unabhängigkeit
Timor-Lestes eine größere Rolle gespielt haben dürfte als die
Beteuerung heiliger Prinzipien der Menschenrechte und der nationalen Selbstbestimmung.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 60).»Raten Sie, was
beim Engagement Washingtons und Canberras zu Gunsten dieser Zwergrepublik den
wirklichen, den entscheidenden Ausschlag gegeben hat?« fragt mein
portugiesischer Mentor mit bitterem Lächeln. Die Antwort fällt nicht
schwer: »Es ist das Erdöl!« Ich sage einen Spruch auf,
der - nach eigenen Erfahrungen rings um die Welt - weiterhin seine Gültigkeit
besitzt. So wie es zu Zeiten des britischen Empires üblich war, daß
die Seeleute Ihrer Majestät den Finger in das Wasser der Ozeane tauchten
mit der Bemerkung: »Tastes salty, must be British - Schmeckt salzig, muß
also britisch sein«, so erhebt um die Wende zum einundzwanzigsten Jahrhundert
die einzig verbliebene Supermacht USA den Anspruch: »Smells oily, must be
(US[!]-)American« Riecht nach Öl, muß
also us-amerikanisch sein.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
61).Die Timor-See, so wußten die Prospektoren seit geraumer
Zeit, enthält knapp achtzig Meter unter dem Meeresspiegel reiche Vorkommen
an Petroleum und Erdgas. Nun trifft es sich, daß das Bayu-Undan-Feld, wo
die Förderung bereits im Gange ist, nur 250 Kilometer südwestlich des
timoresischen Fischerortes Suai, aber 500 Kilometer vom nordaustralischen Hafen
Darwin entfernt liegt. Schon ist eine Pipeline für Gastransport im Bau, die
nicht nach Suai, sondern nach Darwin führt, von wo der Weiterexport in Richtung
Japan stattfinden soll. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 61).Das
Abkommen, »Timor Gap Treaty« genannt, das unter Mißachtung der
geographischen Fakten und der völkerrechtlich verbindlichen Usancen unterzeichnet
wurde, kam unter massivem Druck Canberras zustande. Eine extrem komplizierte Regelung
wurde mit dem internationalen Konzern Phillips Petroleum vereinbart, aus dem nur
eines mit Klarheit hervorgeht, nämlich die eindeutige Benachteiligung der
Timoresen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 61).Sollte
in Dili eines Tages eine handlungsfähige und selbstbewußte Regierung
ans Ruder kommen, wäre der offene Streit mit Australien vorprogrammiert,
zumal die Ausbeutung der zusätzlichen Reserven und Förderblocks im »Greater
Sunrise Field« noch nicht zugeteilt wurde. Wer wohl als Gegenspieler der
Angelsachsen und als Sekundant der geprellten Timor-Regierung in Frage käme,
frage ich. »Auf lange Sicht kommt nur eine Großmacht in Frage«,
lautet die Antwort. »Das wird mit Sicherheit nicht die Europäische
Union sein, als deren Mitglied Portugal seiner ehemaligen Kolonie beistehen möchte.
Das kann auf Dauer nur die Volksrepublik China sein, die als Aufkäufer des
immensen Mineralreichtums Australiens als wenig beliebter, aber unentbehrlicher,
unersättlicher Kunde über zunehmende Druckmittel verfügt.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 61-62).War es die schlechte
Witterung oder eine gezielte Nachlässigkeit der australischen Fluglotsen,
daß eine russische Maschine, die mit technischem und elektronischem Gerät
aus Portugal zur Aufrüstung der timoresischen Streitkräfte beladen war,
im Jahr 2004 ihr Ziel verfehlte und brennend im Busch aufschlug? Nicht weit davon
sind Soldaten der im Aufbau befindlichen Armee von Timor-Leste in Baracken untergebracht.
Für deren Ausbildung haben die Australier nicht den ausschließlichen
Auftrag übernehmen können. Es sind auch Instrukteure aus Bangladesch
und diversen ASEAN-Staaten präsent, was der Tauglichkeit dieser Truppe mit
Sicherheit nicht zugute kommt. Die Chinesen der Volksrepublik hatten sich ursprünglich
auf die Lieferung von Uniformen beschränkt, sind aber angeblich auch als
Waffenlieferanten und diskrete Advisors über die ganze Inselrepublik verstreut.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 62).Ein paar plumpe Geschütze
oder »Feuerschlangen«, wie man damals sagte, hatten genügt, um
den weißen Mann zu seiner Weltherrschaft über alle Kategorien farbiger
uund exotischer Völker zu verhelfen. Heute dürfte die Anhäufung
der perfektioniertesten Technik, der Einsatz von Wunderwaffen, kaum mehr ausreichen,
um eine so widernatürliche und anmaßende Dominanz zu verewigen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 62).So waren wir nach Grönland
gereist und hatten festgestellt, daß die Klimaerwärmung, die ähnlich
günstige Agrar- und Weidebedingunegn am rande der gewaltigen Eiskappe wiederherstellte
wie zu Zeiten des Wikingers Eriks des Roten, auch den urzeitlich wirkenden Moschusochsen
zugute kam. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 64).Den
Vereinten Nationen - inspiriert durch us-amerikanisch-australische Menschheitsbeglücker
- war für das »nation building«, dem sie sich auch in Ost-Timor
verpflichtet fühlten, nicht besseres eingefallen als die Einführung
der parlamentarischen Demokratie und eines Mehrheitsparteiensystems, das schnursracks
auf bürgerkriegsähnliche Zustände zusteuerte. Von der Illusion
des »nation building« zum »failed state«, das hätte
man spätestens seit Bagdad und Kabul wissen müssen, ist es ja nur ein
Schritt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 66).Ein anderer
schwerer Fehler des Vatikan habe darin bestanden, die überlieferte Lithurgie
ihres triumphialen Glanzes, ihres prachtvollen Zeremoniells zu berauben .... Statt
dessen habe Rom das streitbare Eintreten für die göttliche Offenbarung
den Mudjahidin des Propheten Mohammed überlassen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 76).Alkatiri ist sich der verlorenen Randposition
seines Ministaates voll bewußt. Er weiß, daß es bei der »Befreiung«
Timor-Lestes vom indonesischen Joch vorrangig um den Besitz der vorgelagerten
Erdöl- und Erdgasvorkommen ging, um die Interessen der großen Energiekonzerne.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 82).
Die
Intervention auf Ost-Timor sei nur ein Teilaspekt dieser weit ausgreifenden Planung.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 100).Seit die Republik von
Taiwan sich vorsichtig an Kontinenalchina annähert, baut das Pentagon die
us-amerikanische besitzung Guam zu einer strategischen Drehscheibe und einem mächtigen
Flottenstützpunkt aus. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 101).Weiterhin
traurig und hoffnungslos ist es um die Aborigines bestellt, denen die »Sorry«-Erklärung
von Primierminister Kevin Rudd und eine ganze Serie sozialer Fürsorgeversprechen
wenig geholfen haben. Vor der Ankunft der Weißen mochten diese im Paläolithikum
lebenden Urmenschen, die in einer Vielzahl ethnisch differenzierter Stämme
zweihundert unterschiedliche Idiome sprechen, schätzungsweise eine halbe
Million gezählt haben. Heute werden sie weiterhin auf knapp 500000 veranschlagt
-das sind vier Prozent der Gesamtbevölkerung -, aber sie können sich
nicht einmal, wie die Indianer Nordamerikas, die von den Weißen systematisch
verdrängt und ausgerottet wurden, auf die Legende eines romantischen, heldenhaften
Widerstandes gegen die fremden Eindringlinge berufen, der in der Nachwelt weiterlebt.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 111).Auf den Ur-Australiern
scheint ein schrecklicher Fluch zu lasten. Vor Ankunft der ersten Europäer
lebten sie in Horden als Sammler und Jäger, kannten weder Ackerbau noch Viehzucht.
Sie besaßen keine Eigentumsbegriffe. Unter Windschilden aus Laub suchten
sie Schutz vor der brennenden Sonne und der empfindlichen Kälte des Winters.
Ihr Leben verlief ebenso zyklisch wie die in sich geschlossenen Kreise ihrer mythischen
Traumwelt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. ).Im Jahr
2008, zu einem Zeitpunkt, da ein afroamerikanischer Emporkömmling die Präsidentschaft
der Vereinigten Staaten von Amerika übernimmt und somit zum mächtigsten
Mann der Welt wirdlohnt es sich, an den Antipoden Europas - in Australien und
Neuseeland - Betrachtungen anzustellen über die ungeheuerliche expansive
Kraft, die die weiße Menschheit im verflossenen halben Jahrtausend entfaltet
hat. In dieser Epoche wurde der nordamerikanische Kontinent zu einem riesigen
europäischen Siedlungsgebiet. Die Kosaken des russischen Zaren nahmen die
unendliche Nordhälfte Asiens, ganz Sibirien bis zur Küste des Pazifischen
Ozeans in Besitz. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 112).Die
Eroberung und Besiedlung dieser immensen Territorien hat sich unter sehr unterschiedlichen
Umständen vollzogen. Die USA berufen sich immer noch in historischer Verklärung
auf den calvinistischen Puritanismus und die Sittenstrenge, die Tugenden der Pilgerväter.
Bei der Gründung ihrer ersten befestigten Dörfer in Neu-England schwärmten
sie von einem neuen Jerusalem, »The City of the Hill«. Die Ankunft
der Weißen in Australien stand unter ganz anderen, geradezu konträren
Auspizien. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 112).»Australia
Day« heißt der australische Nationalfeiertag. Ich weiß nicht,
wie er heute begangen wird, aber am 28. Januar 1974 enthüllte diese Festivität
ohne jeden Komplex ein brutales, grausames Historienbild. Die Kolonisation des
Fünften Kontinents, der im siebzehnten Jahrhundert von holländischen
Seefahrern sporadisch entdeckt wurde und im Jahr 1770 durch James Cook bei seiner
Landung in Botany Bay »for King and Country« zum Besitz der britischen
Krone erklärt wurde, begann erst im Januar 1788, als die »First Fleet«
in der Nähe des heutigen Sydney 756 europäische Siedler ausschiffte.
Hier handelte es sich jedoch um Pilgerväter besonderer Art. Es waren Sträflinge
aus dem britischen Mutterland, der kriminelle Ausschuß der frühindustriellen
Gesellschaft. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 112-113).In
jener erbarmungslosen Zeit des von Dickens beschriebenen Frühkapitalismus
genügte es allerdings, daß ein Hungerleider einen Laib Brot stahl,
um ihn hinter Gitter zu bringen, ganz zu schweigen von den katholischen Iren,
die sich gegen die willkürliche Unterdrückung durch ihre englischen
Fronherren zur Wehr setzten. Der erste Gouverneur und Kerkermeister dieser Ansammlung
von Zuchthäuslern war zudem jener Kapitän William Bligh, der anläßlich
der Meuterei auf der »Bounty« traurige Berühmtheit erlangt hatte.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 113).Den Australientag erlebte
ich damals als historische Parodie. Der alte Stadtkern von Sydney war rekonstruiert
worden, und hinter der sorglosen Ausgelassenheit der Gegenwart wurden schmerzliche
Narben sichtbar. Zum Scherz traten Laienschauspieler auf, die die gequälten
Gefangenen und ihre uniformierten Bewacher darstellten. Sie erinnerten daran,
daß allein in denjahren 1830 bis 1837 laut amtlichen Angaben 42000 öffentliche
Auspeitschungen stattgefunden hatten. Die unfreiwilligen ersten Siedler, überwiegend
Opfer der zum Himmel schreienden sozialen Mißstände beim englischen
Proletariat, waren von der herrschenden Klasse Albions wie menschlicher Müll
an diesen fernen, unwirtlichen Gestaden ausgesetzt worden. Es waren schwergeprüfte,
verrohte Menschen, die nach Absitzen ihrer Haft in die unendliche Weite des »Outback«
entlassen wurden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 113).In
den dunkelhäutigen Aborigines mit ihren Zottelmähnen, die nie einen
Sinn für persönliches Eigentum entwickelt hatten und häufig Viehdiebstähle
begingen, sahen die weißen Eindringlinge eine schädliche Tiergattung,
eine Art Untermenschen, die nicht einmal zur Sklavenarbeit taugten. Sie knallten
sie gnadenlos ab oder fielen - in Ermangelung weißer Frauen - über
deren höchst unattraktive Weiber her. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 113).Wie grauenhaft es bis ins späte neunzehnte jahrhundert
zugegangen ist, entdeckte ich bei einem Abstecher auf die Insel Tasmanien in der
festungsähnlichen Sträflingsanstaltvon Port Arthur. Ein vergilbtes Foto
zeigte einejagdpartie weißer Männer, die sich in triumphierender Pose
gruppiert hatten. Die Beute zu ihren Füßen waren keine Tiere, sondern
menschliche Ur-Tasmanier, die in ihrer Entwicklungsstufe nicht einmal den Stand
der australischen Aborigines erreicht hatten und zumindest ein fürsorgliches
ethnologisches Interesse verdient hätten. Doch sie wurden wie nutzlose Tere
zur Strecke gebracht und systematisch ausgerottet. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 113-114).Trotz mancher Zugeständnisse, die
die Regierung von Canberra seit den 1980er Jahren den Eingeborenen machte - dazu
gehörte die Zuweisung riesiger Flächen des Kontinents - kommt es nur
extrem selten zu einer wirklichen Integration oder einer Hinwendung der Aborigines
zu nützlicher, gewinnbringender Tätigkeit. Die wenigen Wortführer
einer berechtigten Auflehnung und Rückbesinnung auf die eigenen Bräuche
sind meist farbige Australier, die zum Teil auf weiße Vorfahren zurückblicken,
und selbst sie gestehen, daß ihr Anspruch auf Gleichheit allzu oft an der
Passivität der eigenen Artgenossen scheitert, daß es aber auch keine
Rückkehr zur angestammten Kultur geben könne. Sogar die christlichen
Missionare und engagierten Philanthropen neigen zur Resignation. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 114).Inzwischen findet eine zunehmende
Verstädterung der Urbevölkerung statt. Vor dreißig Jahren hatten
sich schon ein paar tausend Aborigines im Stadtteil Redfern von Sydney in einer
Art Ghetto niedergelassen. Sie hatten dort sogar ein kleines Theater eingerichtet,
und die Bühnenszene sollte das Leben einer Eingeborenenfamilie vor der Ankunft
der Weißen zeigen. Der Vater brachte dem Sohn bei, wie man ein Känguruh
erlegt. Der »gute Wilde« des Jean-Jacques Rousseau wurde auf der Bühne
von Redfern lebendig. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 114).In
der Pause schlug die Stimmung hoch. Unter den Zuschauern und Schauspielern war
kein einziger reiner Ur-Australier zufinden. Die meisten waren Mischlinge. Manche
weiße Sympathisanten hatten sich ihnen zugesellt. Im Mittelpunkt der allgemeinen
Begeisterung, die durchaus politisch motiviert war, stand ein junger Farbiger
in gut geschnittenem Anzug. Robert Mallet hieß der Autor des Theaterstücks,
das den Niedergang seiner Rasse schilderte. Er war speziell für diesen Abend
aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er eine Haft von sieben Jahren wegen
gewaltsamen Einbruchs verbüßte, und er sollte nach Ende der Aufführung
dorthin zurückkehren. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 114-115).
Die letzte Szene stellte die Unterwerfung der Aborigines dar. Zu dritt waren die
Vertreter der weißen Zivilisation angetreten - ein Missionar, ein Soldat,
ein Siedler. In grotesker Form versuchten sie dem verstörten Eingeborenen
ihre Botschaft und ihre Lebensform aufzuzwingen. Aber der Wilde begriff nicht,
und da er sich zur Wehr setzte, wurde er niedergeschossen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 115).44 Jahre - von 1874 bis 1918 - hat die schwarz-weiß-rote
Fahne des Zweiten Deutschen Reiches über der östlichen Hälfte von
Neuguinea und einer Anzahl von Inseln im pazifischen Ozean geweht. Wer weiß
das überhaupt noch in der heutigen Bundesrepublik? .... Der frühere
deutsche Verwaltungssitz von »Kaiser-Wilhelm-Land«, wie man die ferne
koloniale Erwerbung genannt hatte, war immer noch ein ... Fischerhafen ....
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 118).Lae (Neuguinea), im
Frühjahr 1966 .... Gleich am ersten Abend hielt ich auf Wunsch der kleinen
deutschen Gemeinde von Neuguinea einen Vortrag über den Prozeß der
europäischen Einigung, die - von den Antipoden aus - ziemlich unvorstellbar
erschien. Vor dieser Zuhörerschaft von Kaufleuten und ein paar Missionaren
hatte ich damals noch im Brustton der Überzeugung über das Versöhnungswerk
referieren können, das von Adenauer und de Gaulle kurz zuvor ... zelebriert
worden war. Heute würde ich mit erheblichen Vorbehalten von einer kontinuierlichen
Union des Kontinents sprechen, die durch über ihre überstürzte
Ausweitung weit nach osten ihre Substanz und ihre Kohäsion eingebüßt
hat. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 119).Da hing eine
Reichskriegsflagge, ein schönes Emblem .... (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 119).Der Missionar verwies mich auch auf ein Schild der Deutschen
Reichspost und vor allem auf das Portal »Hospiz für Eingeborene«.
Für die damalige Zeit war eine oslche medizinische Versorgung der schwarzen
Papua- bevölkerung keine Selbstverständlichkeit, sondern wirkte durchaus
fortschrittlich, auch wenn die weißen Kranken in einem strikt getrennten
Gebäude behandelt wurden. Insgesamt scheint die wilhelminische Kolonialverwaltung,
die sich auf die humanitäre Vermittluung katholischer und evangelischer Missionare
stützte, recht tolerant, ja wohlwollend gewesen zu sein in diesen pazifischen
Besitzungen, die die inzwischen umgetauften Inseln neu-Pommern und Neu-Mecklenburg,
den Bismarck-Archipel und die winzigen Eilande Mikronesiens und der Marianen umfaßten.
Ausgedehnte Plantagen von Kokospalmen deuteten auf die rege Entwicklungsarbeit
der damaligen weißen Herren hin. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 119).Als 26. Provinz trug »Irian Jaya«, später
in »Papua« unbenannt, zu einem beträchtlichen Teil dazu bei,
den Staatshaushalt von Jakarta zu finanzieren. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 121).Im Juli 1969 organisierten die Vereinten Nationen einen
»Act of Free Choice« der Eingeborenen, in Wirklichkeit einen schamlosen
Wahlbetrug, der ihnen jedoch erlaubte, der Annexion durch Indonesien ihren Segen
zu geben. Niemand nahm Notiz vom verzweifelten Aufbegehren, von dem aussichtslosen
Widerstand der Papua gegen die übermächtige Armee des Generals Suharto,
des neuen Militärdoktors von Jakarta. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 121).Im Gegensatz zu den Ureinwohnern Australiens, die über
die Stufe von Sammlern und Jägern nie herausgekommen sind, hatten die Steinzeitmenschen
von Neuguinea seit Tausenden von Jahren Landwirtschaft und Viehzucht entwickelt.
Die ersten weißen Entdecker waren überrascht, bei den Kannibalen des
Hochlandes gepflegte Fartenanlagen und ein bescheidenes, ausgewogenes Existenzniveau
vorzufinden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 122).Jedesmal
wenn uns eine der würdigen Gestalten im Adamskostüm begegnete, begrüßte
er uns mit dem Spruch: »Godd evenig, Master.« Ein alter Mann, dessen
Bart weiß schimmerte, trug dem Umstand Rechnung, daß er zwei Weißen
begegnete, und drückte das mit den Worten aus: »Good evening, double
Master.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 123).Zwischen
Guorka und Mount Hagen wurden wir zu zu einer Hochzeitsfeier eingeladen. Die Zahl
der geschlachteten Schweine spielte eine entscheidende Rolle. Die Braut, fast
nackt wie alle Mädchen im heiratsfähigen Alter, schmückte ihr Haar
mit den Federn des Paradiesvogels. Die Ältesten hatten Platz genommen, und
ihre Aufmerksamkeit richtete sich weit intensiver auf die geschlachteten Schweine,
die der Bräutigam zu entrichten hatte, als auf die eingeschüchterte
Braut mit den spitzen Brüsten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
123).
Von
den krampfhaft aufgeblähten Einheiten der »Special Forces«, die
seit 2001 und 2003 in Afghanistan und im Irak die Hauptlast des Kampfes tragen,
unterscheiden sich die »Green Barrets« von Vietnam durch höheren
IQ, durch besseres Training und eine vorzügliche Kenntnis des Terrains.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 170).Das Pentagon hat lange
gebraucht, um zu erkennen, das im Zeitalter des »asymmetrischen Krieges«
die fulminante Perfektionierung von Hi-Tech und Wunderwaffen, die Entfaltung einer
ungeheuerlichen vernichtungskapazität, gekoppelt mit der Omnipotenz eines
an Allwissenheit grenzenden Beobachtungs- und Spionagesystems, nicht in der Lage
sind, das unzureichende Aufgebot an eigenen Bodentruppen zu kompensieren.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 178).Das desolate Abgleiten
der »jungen« afrikanischen Nationen in Chaos und Stammesfehden führte
... vor Augen, wie destruktiv sich die Übertragung des westlichen Parteiensystems
auf den angestammten Tribalismus des Schwarzen Kontinents auswirkte. Die europäischen
Politiker und Publizisten wiederum hatten sich durch die diversen militärischen
Fehlschläge der USA und die dort zunehmende Verrohung der Sitten in ihrer
USA-Gäubigkeit kaum beirren lassen. Sie würden an diesem Vorbild ...
erst irre werden, wenn in Wallstreet der Götzentempel des Goldenen Kalbes
erschüttert, wenn die existentielle Krise des angelsächsisch orientierten
Turbokapitalismus und seiner Derivate auf das gefügig angepaßte System
der europäischen Banken überschwappen würde. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 182).Seit meinem letzten Aufenthalt in Havanna
vor einem Vierteljahrhundert hat sich an den tragischen Verfall des einstigen
Prunkstücks spanischer Kolonisation wenig geändert. Ein Polizeistaat
ist dieses »sozialistische Modell« ebenfalls geblieben .... Die Versorgung
der Bevölkerung mit Lebensmitteln reicht aus, um zu überleben. Aber
die individuelle Rationen, die in Versorgungsheften abgestempelt werden, liegen
weit (weit!) unter dem Niveau, das das Dritte Reich
noch bis zum Ende des Krieges seinen ausgebombten Untertanen bieten konnte.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 186).Bei den in Florida zahlreichen
Castro-Gegnern, die dort Zuflucht vor der Revolution gesucht hatten, schlug John
F. Kennedy, dem Mann, den man für dieses Desaster verantwortlich machte,
nunmehr blanker Haß entgegen. Das Gerücht wurde nie widerlegt, wonach
der tödle Anschlag auf den präsidenten in Dallas, den man krampfhaft
dem Einzeltäter Lee Harvey Oswald anzulasten suchte, den Verschwörungszeirkeln
erbitterter und enttäuschter Exilkubaner in geheimer Komplizenschaft mit
Elementen der CIA sehr professionell angezettelt wurde. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 188).Aus dem Namen Barack Hussein geht eindeutig
hervor, daß sein Vater, der im überlieferten Stammesmilieu aufgewachsen
war, der muslimischen Glaubensgemeinde angehörte. Er hatte eine bemerkenswerte
akademische Karriere durchlaufen, bevor er als Universitätsdozent auf Hawaii
die durch und durch weiße Mutter Obamas kennenlernte und ehelichte. Das
arabische Wort »Barak« ist mit »Segen Allahs« zu übersetzen,
und der Name Hussein bezieht sich auf den Enkel des Propheten Mohammed, der vor
1300 Jahren als Kämpfer der schiitischen Glaubenzweiges in kerbela den Märtyrertod
erlitt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 195).Daraus
leiten manche Schiiten ab, daß Vater Obamas Schiit gewesen sein müsse.
Da das koranische Recht sich an die patrilineare Erbfolge hält und en nachkommen
eines Muslim zwangsläufig in die islamische Umma eingliedert, würde
im Prinzip das Ausscheiden von dieser weltweiten religiösen Gemeinschaft
als »irtida«, als »tedda«, als Abfall vom wahren Glauben
verdammt und mit dem Tod bestraft. So wäre es nicht ausgeschlossen, daß
der neue US-Präsident, der sich zum Christentum bekennt, das Ziel eines islamischen
Fanatikers würde. Die Gefahr jedoch, daß ihn ein rabiater weißer
Rassist, ein Nostalgiker des Ku-Klux-Klan ins Visier nimmt, ist wesentlich größer.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 195).Der neue Staatschef
der USA verfügt über ein intimes Verständnis der koranischen lehre
und Kultur, von der sein Vorgänger nicht die geringste Ahnung hatte. Selbst
die islamistischen Parteien Indonesiens fühlen sich durch die Berufung Obamas
geschmeichelt, auch wenn ihr Geberalsekretär Anis Matta fassungslos reagierte.
»Ich habe größte Mühe, mir vorzustellen«, soll er
gesagt haben, »wie ein Mann, der zur Hälfte Muslim ist, es fertigbrachte,
von der Mehrheit der US-Amerikaner gewählt zu werden.« (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 196).Der Zustrom lateinamerikanischer
Zuwanderer, vor allem aus dem vom Bandenkrieg der Drogenmafia aufgewühlten
Mexiko, hat eine profunde Umschichtring bewirkt. Die spanisch-indianischen Mestizen,
die Hispanics, Latinos oder »Spics«, wie sie von der verbitterten
weißen Unterschicht genannt werden, machen mit schätzungsweise fünfzig
Millionen Menschen bereits ein Sechstel der Gesamtbevölkerung der USA aus,
und ihre Immigration - legal oder illegal - nimmt ständig zu. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 197).Man kann die Dinge jedoch auch
aus einer ganz anderen Perspektive sehen. Nicht die Gringos des Nordens würden
am Ende die Nutznießer dieser ethnisch-kulturellen Annäherung sein,
sondern jene buntgescheckte Staatenwelt, die den USA wirtschaftlich zwar weit
unterlegen bleibt, mit Hilfe ihres demographischen Übergewichts und einer
neu entwickelten Dynamik jedoch die Balance zu ihren eigenen Gunsten verschieben
könnte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 197).Die
Gretchenfrage, die diesseits des Atlantiks an Obama gerichtet wird, lautet bereits:
»Wie hältst du es mit Europa?« Ob er die atlantische Präferenz
weiterführen wird, für die sich seine sämtlichen Vorgänger
entschieden hatten, ob er Europa instinktiveine Priorität einräumen
wird, die bislang der Leitfaden us-amerikanischer Außenpolitik war? Berührungspunkte
zum alten Kontinent hat es in seinem Curriculum Vitae kaum gegeben, und vielleicht
hat ihn der hemmungslose Jubel von 200000 Berlinern vor der Siegessäule im
Tiergarten ähnlich befremdet, wie das angeblich bei John F. Kennedy der Fall
war, als dessen Erklärung »Ich bin ein Berliner« einen Begeisterungstaumel
auslöste, die eines Reichsparteitages würdig war. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 197-198).Heute verfügt die israelitische Minderheit
in den USA in allen Bereichen des ökonomischen, aber auch des intellektuellen
Lebens und der wissenschaftlichen Forschung über Spitzenpositionen und übt
einen politischen Einfluß aus, der den Kritikern der »Jewish lobby«
absolut disproportioniert und unerträglich erscheint. Auf dem Umweg über
die biblischen Heilserwartungen, die die Gründung des Staates Israel bei
den protestantischen Evangelikalen weckte, haben sich paradoxerweise gerade jene
sektiererischen Gegner des Judentums als zuverlässigste Verbündete des
Zionismus erwiesen und stehen der jeweiligen Regierung von Herusalem fast bedingungslos
zur Seite. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 199).Den
Kassandrarufen, die aus Europa über den Atlantik tönen und die den Vereinigten
Staaten einen unaufualtsamen Abstieg voraussagen, wird oft entgegengehalten, daß
der Prozentsatz der Europäer an der Gesamtbevölkerung des Globus binnen
relativ kurzer Frist von zwanzig Prozent auf vier Prozent geschrumpft sein werde
und daß die Überflutung des Abendlandes durch afrikanische und orientalische
Migranten die Form einer Völkerwanderung anzunehmen drohe. Dem könnte
eine nüchterne und deprimierende Analyse der Verhältnisse in der Neuen
Welt entgegengehalten werden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 199).Samuel
Huntington, der durch seine düsteren Prognosen vom Kampf der Kulturen
berühmt wurde, hat in seiner letzten Studie Who are We? einen
beschwörenden Appell an seine weißen und protestantischen Landsleute
gerichtet, die er der rassischen und kulturellen Erosion ausgesetzt sieht. Er
ruft sie dazu auf, dem Substanzverlust mit verzweifelter Energie entgegenzutreten.
Es war wohl ein schicksalhafter Zufall, daß Huntington fast genau an dem
Tag verstarb, an dem der Afroamerikaner Barack Hussein Obama erkoren wurde, das
Schicksal von »God's Own Country« in seine Hände zu nehmen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 199).
Auf
der Fahrt nach Solo habe ich eine bescheidene christliche Kirche entdeckt. Da
fällt mir plötzlich ein, daß - durch einen puren Zufall der unterschiedlichen
Kalender - der Kreuzestod Christi in diesem Jahr an dem gleichen Tag betrauert
wird, an dem die islamische Glaubensgemeinschaft die Geburt ihres Propheten Mohammed
feiert. Ein eigenartiges Zusammentreffen, auch wenn es keinerlei Absicht entspricht.
Nachdenklich hat mich diese Koinzidenz dennoch gestimmt. Hier wird tragisch daran
erinnert, daß die Eroberung der Welt durch den weißen Mann, die vor
genau einem halben Jahrtausend die Ozeane überwand und zu ihrem Triumphzug
ausholte, parallel zur Ausbreitung des Christentums stattfand, daß Kolonisierung
und Missionierung beinahe zwangsläufig Hand in Hand gingen. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 207).Wie unterschiedlich dieses
»heilige Experiment« verlief, das einer tiefen und frommen Überzeugung
entsprang, gleichzeitig jedoch mit extrem grausamen, inquisitorischen Methoden
durchgeführt wurde, läßt sich an der Gegensätzlichkeit der
katholischen und der protestantischen Expansion darlegen. Die Mönche des
heiligen Franziskus und des heiligen Dominikus, im Verbund und oft rivalisierend
mit der elitären Kerntruppe des Papstes, mit den Jesuiten des Ignatius von
Loyola, haben die halbe Welt der religiösen Autorität Roms unterstellt;
von Lateinamerika bis zu den Philippinen, von Südindien bis zum Kongobecken
Zentralafrikas. Die Patres der Societas Jesu, die aufgrund ihres unermüdlichen
Studiums am Hof von Peking den Rang hoher Mandarine bekleideten, hatten sich zeitweilig
in der Hoffnung gewiegt, durch die Taufe des Drachensohns und seines Hofes das
gewaltige Reich der Mitte für die »alleinseligmachende Kirche«
zu gewinnen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 207).Die
protestantischen Konfessionen haben sich in ihrer Vielfalt schwerer getan mit
der kulturellen und ethnischen Verschmelzung, die in den meisten katholischen
Diözesen praktiziert wurde und oft zu erstaunlichen Assimilationsergebnissen
führte. Wenn die Protestanten sich in dieser exotischen Umgebung durchsetzten,
mußten sie - zumal zwischen Kapstadt und Pretoria - das Handicap der protestantischen
Lehre überwinden. So übertrugen die dort lebenden Buren ihre Vorstellung
von der Prädestination auf ihre rassischen Vorurteile und die Differenz zwischen
Weiß und Schwarz. Die prüde Nüchternheit der Reformierten, ihr
Verzicht auf heiligen Kult und liturgisches Decorum, an dem lediglich die Anglikaner
festhielten, förderte das Entstehen von bizarren, oft extravaganten Formen
des Synkretismus mit den im Untergrund schlummernden Naturreligionen. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 207-208).Auf ganz andere Weise wiederum
wurde der ganze Norden Asiens -vom Ural bis zum Pazifik - von den bärtigen
Popen der prawoslawischen Kirche Rußlands, der byzantinischen Glaubensform
des Christentums, einverleibt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 208).In
jenen Kulturkreisen, die sich gegenüber allen Konversionsbemühungen
der christlichen Mächte resistent oder immun erwiesen - in der weltumspannenden
Umma des Islam, im starren Kastengefüge des Hinduismus, in der kontemplativen
Absonderung des Buddhismus - erzielte zumindest das aufrührerische Gedankengut
der Aufklärung verspätete Erfolge, nachdem die Klerisei in den Ruf des
Obskurantismus und der Fortschrittsfeindlichkeit geraten war. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 208).Noch heute zehrt die vielgerühmte »Demokratie«
Indiens von einer importierten Form des »Enlightenments« und dem Gedankengut
der »Fabian Society«. Dieser Trend wurde in der Person des ersten
indischen Regierungschefs Jawaharlal Nehru - wohlweislich ein Brahmane der vornehmsten
Kaste - überzeugend verkörpert. Daß die Aufklärung zwar eine
leidenschaftliche Verwerfung christlicher Dogmatik vollzog, in Wirklichkeit jedoch
auf dem Urgrund der Lehre des Nazareners gedieh, sollten erst spätere Generationen
wahrnehmen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 208).Schon
in früheren Veröffentlichungen habe ich die Aussage des Schriftstellers
André Malraux zitiert, der selbst Agnostiker und alles andere als ein klerikaler
Frömmler war: »Das XXI. Jahrhundert wird religiös sein, oder es
wird nicht sein.« Aus dieser Prognose ließe sich für Europa ein
düsteres Schicksal ableiten. In dem Maße nämlich, wie andere Kontinente
zu ihren Mythen und Riten zurückfinden, verzichtet das Abendland auf die
eigenen Glaubensgewißheiten, löst sich von der ererbten Religiosität.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 208-209).Auf das Modewort
»Leitkultur« sollte man in diesem Zusammenhang lieber verzichten.
Jedenfalls steht der westliche Hedonismus der eifernden, der kämpferischen
Wiedergeburt oder Erneuerung anderer Bekenntnisse, vor allem des unmittelbar benachbarten
Islam, rat- und hilflos gegenüber. »Die Menschenrechte sind kein Religionsersatz«,
heißt es in einer Broschüre des französischen Heeres. Wer wäre
schon bereit, für die Oktroyierung des politischen Pluralismus, für
die erzwungene Weitergabe unserer parlamentarischen Bräuche das eigene Leben
zu opfern, zumal die betroffenen fremden Völkerschaften nicht das geringste
Verlangen nach einer solchen Übernahme bekunden? (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 209).Die verheißungsvolle Epoche, als Kemal
Pascha, der unter dem Namen Atatürk die moderne Türkei mit Brachialgewalt
auf den Trümmern des Osmanischen Reiches errichtete, das Edikt erließ:
»Es gibt nur eine Zivilisation, und das ist die europäische«,
liegt weniger als ein Jahrhundert zurück. Heute hat die radikale Ausrichtung
auf das Vorbild des Abendlandes keinen Sinn mehr. Das läßt sich an
der jüngsten Entwicklung der postkemalistischen Türkei ablesen, die
Schritt für Schritt zur islamischen Tradition und Gesittung, ja zu heimlichen
Kalifatsträumen zurückfindet. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 209).Unbehagen rief die Regensburger Vorlesung Benedikts XVI.
hervor, als der Heilige Vater Manuel ll., einen obskuren Kaiser des ermatteten
Byzantinischen Reiches, zitierte und dessen Behauptung übernahm, die Lehre
Mohammeds habe nichts Neues und ansonsten nur Negatives bewirkt. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 227).Benedikt XVI. habe seinem Auftrag
... geschadet, als er sich in einer Moschee von Istanbul zur nachgiebigen Versöhnungsgeste
bereit fand, zum gemeinsamen Gebet mit dem Ulama in Richtung Mekka. Statt dessen
hätte er mit strenger Mahnung die Gemeinschaft der Völker auf die Verfolgung
und Ächtung aufmerksam machen müssen, denen die uralte apostolische
Christenheit des Orients ausgesetzt ist. Oft genug würden diese Gemeinden
von Zwangsregimen und Potentaten bedrängt, die sich lediglich unter dem Schutz
amerikanischer rund europäischer Waffen auf ihren usurpierten Throme halten
könnten. Der von Ayatollah Khomeini gegründete Gottesstaat im Iran lege
eine glößere Toleranz geegnüber der christlichen und sogar der
jüdischen »Familie des Buches« an den Tag als mancher angebliche
Freund des Westens. Selbst der fürchterliche irakische Diktator Saddam Hussein
habe seine christlichen Untertanen weit wohlwollender behandelt als der NATO-verbündete
und Europa-Kandidat Türkei. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 227-228).Die
wenigen Weißen fallen unangenehm auf. Sogar zum Dinner erscheinen sie in
abscheulichem Freizeitlook. Obwohl sie zweifellos aus vermögenden Verhältnissen
stammen, treten sie wie Landstreicher aug mit halblangen Schlabberhosen und Sandalen,
was wohl »coole« Lässigkeit vortäuschen soll. Fast alle
haben sich am Swimmingpool einen Sonnenbrand geholt, und ihre gerötete Haut
unterscheidet sich unvorteilhaft von den matten Bronzetönen der Eingeborenen.
Ihre lauten Gespräche und dröhnenden Heiterkeitsausbrüche übertönen
gerdaezu peinlich die zurückhaltende Gesittung der Asiaten. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 234).Die Ursachen, die vor vierhundert
Jahren zur plötzlichen Bekehrung der hinduistischen Fürstentümer
Javas zum Islam führten, seien aufschlußreich. Seinerzeit war es darum
gegangen, die unerträgliche Diskriminierung des Kastensystems abzuschaffen,
die Entmachtung der Brahmanen-Oligarchie zu erzwingen und eine neue Grundlage
des Zusammenlebens zu finden. Ähnliche Motivationen für ein plötzliches
Aufbäumen der Massen - wenn auch unter ganz anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen
- würden auch heute bestehen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
235).Wenn man die Überlebenchancen des Christentums in Asien
und der Dritten Welt an der Zahl der dort tätigen Missionare europäischer
und nordamerikanischer Herkunft messen würde, ergäbe sich der tragische
Eindruck, daß in Bälde für die Kirche nur noch der Weg in die
Katakomben oder in die Bedeutungslosigkeit offenstehe, räumt der Jesuit ein.
Das Abendland leide an einem fatalen Mangel an Berufungen zum geistlichen Stand,
an einer Auszehrung der kirchlichen Substanz .... (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 236).Das könne auf Dauer nicht ohne Folgen
bleiben. Gewisse Formen des Synkretismus - zumal mit den afrikanischen Naturreligionen
- würden bereits in Kauf genommen, und das eindeutige Übergewicht des
»Weißen Klerus«, das bislang als gottgegeben abgesehen wurde,
müsse unweigerlich den demographischen und ethnischen Verlagerungen auch
innerhalb der römischen Hierarchie angepaßt und reduziert werden.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 237).
(Philippinen,
1972). - Wir waren in weit größerer Gefahr als während meiner
einwöchigen Gefangenschaft beim Vietkong ... Aber es gab da auch junge Fanatiker,
die teilweise an den Universitäten der Insel Luzon mit dem marxistischen
gedankengut der »New People's Army« in Berührung gekommen waren.
Für sie galten wir als Spione der us-amerikanischen CIA. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 254-255).(Philippinen, 1972). - Einen wahren Schock
empfand ich, als ein langhaariger Unterführer mit Kalaschnikov sich plötzlich
aufrichtete und ich auf seinem grünen T-Shirt ein großes Hakenkreuz
mit der deutschen Inschrift »Sieg Heil« entdeckte. Diese unberechenbaren
Freischärler durften auf keinen Fall erfahren, daß unser Kameramann
Jossi Kaufmann von Geburt Israeli war .... (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 255).Die Geschichte, so heißt es, wiederholt sich nicht.
Das ist nur partiell wahr. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 261).Die
halbwegs einsichtigen Offiziere sind sich voll bewußt, daß der Krieg
am Hindukusch nicht zu gewinnen ist. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 262). Mit einem Schlag schwand unter dem Eindruck der Antivietnam-Psychose,
die von den USA auch auf Deutschland übergriff, der Siegeswille, und die
bis dahin intakte Kriegsmoral der US-Army brach zusammen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 267).Ich habe den plötzlichen Meinungsumschwung
bei so vielen deutschen Intellektuellen, die bislang in ihrer Ignoranz hemrmungslos
auf einen schnellen Waffenerfolg der USA eingeschworen waren und nunmehr ihre
Bündnistreue wie einen alten Hut fortwarfen, stets als schändlichen
Opportunismus empfunden, zumal sie jetzt zu dem Gegröle »Ho-Ho-Ho Tschi
Minh« durch die Städte der Bundesrepublik und West-Berlins stürmten.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 267).Zutiefst erschüttert
war Johnson vor die Kamera getreten und teilte seinem Volk mit, daß er für
die anstehende neue Präsidentenwahl als Kandidat nicht zur Verfügung
stehe. Der ihm nachfolgende Commander-in-Chief, Richard Nixon, war Realist und
Zyniker, kurzum der Mann, den die Stunde brauchte. Mit Hilfe Henry Kissingers
vollzog er eine historische Entscheidung, die längst fällig, aber innenpolitisch
hochriskant war. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 267-268).Im
Jahr 1972 erkannte er die Volksrepublik China an und reiste zu Mao Zedong (Tse-tung)
nach Peking. Von nun an war sein Bestreben nur noch darauf gerichtet, den Rückzug
aus dem indochinesischen »Quagmire«, wie David Halberstarn es nannte,
möglichst schnell anzutreten. Daß er und sein kluger Außenminister
dabei die Vernichtung Kambodschas anstifteten und die südvietnamesischen
Verbündeten nach endlosen, irreführenden Verhandlungen den Erben Ho
Tschi Minhs ans Messer lieferten, konnte einem Mann nichts anhaben, der zwar nach
dem Watergate-Skandal als »Bösewicht« in die us-amerikanische
Geschichtsschreibung eingehen sollte, aber vermutlich zu den wenigen Realpolitikern
der USA in diesem Jahrhundert zählt. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 268).Die aussichtslose Verstrickung in einen endlosen, verlustreichen
Dschungelkrieg hatte es Nixon erlaubt, das kommunistische Reich der Mitte in eine
angespannte, stets prekäre Partnerschaft mit Washington einzubeziehen. Angesichts
der Tatsache, daß es den roten Mandarinen von Peking nach dem Tod des »Großen
Steuermanns« gelang, in einer Spanne von nur dreißig Jahren zur kraftstrotzenden,
dynamischen Weltmacht aufzusteigen, erscheint irn Rückblick das amerikanische
Debakel von Saigon eben doch als ein Meilenstein der modernen Geschichte.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 268).Der gewaltige Umbruch
jedoch, der die Welt erbeben läßt, wie Napoleon es auf Sankt Helena
voraussagte, vollzog sich in China. Nach dem Abflauen, ja dem Scheitern des Maoismus,
der immerhin das Prinzip menschlicher Solidarität mit seiner Maxime »Dem
Volke dienen« angemahnt hatte, kam dort eine originelle Formel für
gigantisches industrielles Wachstum, für Entwicklung von High Technology
und sensationelle Anhebung des Lebensstandards zum Zuge, die sich auf einen seltsamen
Synkretismus stützt. Unter der Autorität der Kommunistischen Einheitspartei
und einer straffen Form des Staatskapitalismus entfesselte sich die wissenschaftliche
und vor allem merkantile Begabung der Han-Rasse. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 274).In der Lehre einer utopischen Harmonie, die das Politbüro
von Peking der parlamentarischen »Streitkultur« des Westens entgegensetzt,
finden sich Konfuzius, Mao Zedong (Tse-tung) und
jener erste legendäre Kaiser Qin Xi Huangdi (Schi Hoang-ti)
wieder. Dessen Reichsgründung zweihundert Jahre vor Christus erlaubt es heute
der offiziellen Propaganda, die verblaßte Doktrin des Marxismus-Leninismus
durch einen ehrgeizigen, alle Normen sprengenden Nationalismus zu ersetzen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 274-275).Das chinesische
Modell hat in dem wiedervereinigten, in kommunistischer Ideologie erstamen Vietnam
Nachahmung gefunden. Noch steht die gigantische Leninstatue vor der Zitadelle
von Hanoi, aber die kommunistische Lao-Dong-Partei ist geschmeidig geworden unter
einem Generalsekretär, der sich diskret, aber effizient mit seinen Reformen
vortastet. An Peking gemessen, wurde Tokio inzwischen in den zweiten Rang verwiesen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 275).Die japanischen Samurai,
die 1941 ausgezogen waren, die »große ostasiatische Wohlstandssphäre«
zu beherrschen, stellen immer noch ein technologisches und wirtschaftliches Potential
erster Güte dar, aber das Klientel-System und die ererbten Gesellschaftsstrukturen
der fast ununterbrochen regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) lassen
sich auf andere Länder nicht übertragen. Die allzu enge, oft unterwürfig
wirkende Beziehung zum ehemaligen us-amerikanischen Feind, die allerdings nicht
ewig dauern dürfte, stößt bei den Nachbarn auf Skepsis und Verwunderung.
In gewisser Hinsicht ist Japan zum England des Pazifik geworden. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 275).In Indonesien, Thailand, um
nur diese zu nennen, begegnet man dem westlichen Wirtschaftssystem mit Argwohn,
seit angeblich die katastrophale Rezession der 1990er Jahre durch die verfehlten
Richtlinien des Internationalen Währungsfonds verursacht wurden. Die neue,
recht beachtliche Wirtschaftserholung Jakartas, die sich auf die Aufnahmefähigkeit
des Binnenmarktes stützt, orientiert sich nicht mehr an den Kriterien, die
einst von Wall Street vorgegeben wurden. Der vielgepriesene Turbokapitalismus
hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten jede schöpferische Qualität
eingebüßt. Er ist leider allzuoft unter der Fratze des Casino- oder
gar Raubtierkapitalismus aufgetreten. Seine Anziehungskraft ist dabei verlorengegangen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 275).Was wird von dem »Way
of Life« des weißen Mannes, zumal des Nordamerikaners, den die junge
Generation in der Dritten Welt und den Schwellenländern weiterhin zu kopieren
sucht, am Ende übrigbleiben? Coca-Cola und McDonald's, das Angebot von Fastfood,
besser gesagt von Junkfood, das monströse Fettleibigkeit zur Folge hat und
zu einer weltweiten Plage wurde; die sportliche, der Modernität angepaßte
Kleidung von Jeans und T-Shirt, eine dem Abendland weit überlegene zeitgenössische
Literatur und eine unerschöpfliche Musikszene, deren Ursprünge jedoch
auf die Spirituals der afrikanischen Sklaven zurückgehen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 275-276).Hollywood hat seine schöpferischste
Phase wohl hinter sich, und wer käme heute schon in Europa auf die Idee,
ein us-amerikanisches Auto zu kaufen? Wie ein Menetekel klingt da der Zusammenbruch,
die unvermeidliche Insolvenz des Automobilgiganten General Motors über den
Adantik, hatte doch unter der Präsidentschaft Eisenhowers dessen Secretary
of Defense Charles E. Wilson, dem man zu enge Geschäftsbeziehungen zu GM
vorwarf, damals überzeugend erwidert: »What is good for General Motors,
is good for the United States.« (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 276).Kurzum, die farbige, die »nichtweiße«
Menschheit wendet sich von einem westlichen System ab, das ihr trotz aller gegenteiligen
Beteuerungen im Namen der Freiheit politische Instabilität und ökonomische
Gradwanderungen zumutet. Sie richtet sich eher auf autoritäre Regime aus,
auf »wohlwollende Despoten« - eine Kategorie, die eingestandenermaßen
extrem selten ist -, und blickt gebannt auf den chinesischen Koloß von 1,3
Milliarden Menschen, der seine Bedeutung als Reich der Mitte zurückgewonnen
hat. Der Han-Rasse ist es auf sensationelle Weise gelungen, der Masse seiner aus
dem Elend auftauchenden Bevölkerung ausreichende Ernährung, soziale
Fürsorge und einen rasant wachsenden Bildungsstand ihrer Kinder zu verschaffen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 276).Die von Washington geführte
Allianz erweist sich als unfähig, den diversen gegnerischen Freischärlergruppen
des radikalislamischen Feindeslagers das Rückgrat zu brechen. Die US-Army
findet sich in den neuen Spielregeln des asymmetrischen Krieges nicht zurecht
und erleidet trotz einer absurden Steigerung ihrer phänomenalen technologischen
Überlegenheit einen Rückschlag nach dem anderen. Das nagt zusätzlich
am unlängst noch strahlenden Prestige der »einzig verbliebenen Supermacht«.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 276-277).Wir sind von den
desolaten Zuständen auf den Philippinen ausgegangen, um zu dieser globalen
Betrachtung zu gelangen. Jenseits der Südchina-See, auf dem asiatischen Kontinent,
vollzieht sich der systematische Aufbau einer militärischen Macht, der Volksbefreiungsarmee,
die einst Mao ins Leben rief und die heute ihre maritimen Ambitionen klar zu erkennen
gibt. Schon seit Gründung der Volksrepublik sind die Archipele Spratley und
Paracel, eine Ansammlung winziger Atolle, in deren Umkreis reiche Vorkommen an
Erdöl und Gas geortet wurden, auf den offiziellen Landkarten als unveräußerlicher
Bestandteil Chinas eingezeichnet. Südlich von Hainan handelt es sich um eine
weite Meereszone, die fast an die Küsten Vietnams, Malaysias und auch der
Philippinen heranrückt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 277).Im
Ernstfall ließe sich hier, falls der territoriale Anspruch verwirklicht würde,
der gesamte maritime Verkehr der Straße von Malacca, die vom Indischen zum
Stillen Ozean führt, kontrollieren und notfalls blockieren. Ein paar winzige
Garnisonen wurden auf einigen dieser Eilande bereits stationiert, was unter den
Anrainern heftigen Widerspruch, berechtigte Sorgen und sogar begrenzte Gegenmaßnahmen
ausgelöst hat. Seit die Mandarine von Peking der ASEAN-Organisation gegenüber
als freundliche Nachbarn auftreten und der riesige Drache, dieses Fabeltier des
Erfolgs, ein harmloses Antlitz zeigt, werden die strategischen Ansprüche
zurückgestellt. Den südostasiatischen Partnern wird eine ertragreiche
wirtschaftliche Zusammenarbeit in diesem Raum angeboten und schmackhaft gemacht.
Die vorübergehend angespannten Beziehungen zwischen den absolut konträren
Regimen von Manila und Peking haben sich weitgehend geglättet, denn man weiß
auch im Malacañang-Palast, wer in absehbarer Zukunft im Westpazifik die
Schiedssprüche fällen wird. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 277).Welch erstaunliches Spektakel und welcher Wandel der Zeiten.
Zwei atlantische Rand- und Kleinstaaten der Europäischen Union unserer Tage
- Portugal und Holland - haben in jenen Tagen ihre imperialen Träume, ihre
merkantile Gier ungezügelt ausgelebt. Am Ende stand wie ein mörderischer
Taifun das kurze japanische Zwischenspiel des zweiten Weltkrieges. Das Hissen
der roten Scheibe der aufeghenden Sonne über der Molukken-See besiegelte
1942 den letzten Akt einer usurpierenden Größe des Abendlandes. »Quis
talia fando temperit a licrimis - Wer vermag sich bei solcher Schilderung der
Tränen zu enthalten?« beklagte der Held Aeneas im Epos des Dichters
Vergil den Untergang von Troja. Man erlaube auch uns, am Ende dieses bunten Kaleidoskops
fernen Weltgeschehens eine historische Träne zu vergießen. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 279-280).
Der
Schlußstrich unter die anmaßende europäische Präsenz in
China - ein halbes Jahrtausend nachdem die Portugiesen an der Küste von Kwantung
ihre Dependenz ausbauten - war erst im Dezember 1999 gezogen worden. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 282).Dem letzten Repräsentanten
der britischen Krone war es gelungen, für die Einwohner des ehemaligen Empire-Juwels
einige parlamentarische Sonderprivilegien durchzusetzen, an deren Gewährung
zur Zeit der Kolonialherrschaft keine Regierung im fernen London jemals gedacht
hätte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 282).Angela
Merkel ... huldigte der »political correctness« (**),
wie sie von Washington vorgegeben war. Sie versäumte keine Gelegenheit, den
roten Mandarinen von Peking ins Gewissen zu reden, sie mit erhobenem Zeigefinger
auf die Einhaltung »demokratischer« und »humaitärer«
(reine Polit-Rhetorik, die auch darauf hinweist, wer die
»Politische Korrekteit« befiehlt [**];
Anm HB) Normen zu verweisen, denen die deutsche Diplomatie in anderen,
weit skandalöseren Fällen nur geringe Bedeutung schenkte. Die Kanzlerin
fühlte sich einer »werteorientierten Außenpolitik« (reine
Polit-Rhetorik, die auch darauf hinweist, wer die »Politische Korrekteit«
befiehlt [**];
Anm HB) verpflichtet und war aich offenbar nicht bewußt, daß
außerhalb des nordatlantischen Kuklturkreises eine Reihe wirtschaftlich
und machtpolitisch aufstrebender »Schwellenländer« über
ganz andere gesellschaftliche Kriterien und Traditionen verfügen, um den
Fortschritt und das Erstarken ihrer Völker zu forcieren. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 284-285).Am Beispiel Chinas offenbart sich mit
betrüblicher Deutlichkeit, in welchem Ausmaß den Europäern und
Amerikanern das geschichtliche Bewußtsein abhanden gekommen ist. Die Fehldiagnose
des Politologen Fukuyama vom »End of History« war auf allzu fruchtbaren
Boden gefallen. So begegnet die westliche Welt dem phänomenalen Aufstieg
Chinas in den Rang der zweiten Weltmacht mit einem Gemisch aus Arroganz und Mißgunst.
Noch halten allzu viele »Experten« an der Vorstellung fest, sie hätten
es bei den 1,3 Milliarden Angehörigen der Ran-Rasse mit einer unterentwickelten,
allenfalls zum Plagiat westlicher Errungenschaften befahigten Menschheitsgattung
zu tun. Auf der anderen Seite erzeugt die explosive Dynamik Chinas wachsende Furcht,
ja die Ahnung des eigenen Rückfalls in unerträgliche Mittelmäßigkeit.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 285).
Nach relativ kurzer Unterbrechung findet China wieder zu jenem
erhabenen Rang zurück, der ihm seit seit vier Jahrtausenden zusteht.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 287).Die Päpste des
Mittelalters waren sich der Bedeutung dieses geheimnisvollen Imperiums bewußt.
Immer wieder hatten sie den Versuch unternommen, durch die Entsendung kirchlicher
Emissäre an den Hofvon Peking... ein Bündnis gegen die rasante Ausbreitung
der islamischen »Futuhat« zu schmieden, die sich des Grabes Christi
bemächtigt hatten. Schon dehnte sich der unaufualtsame Eroberungsritt der
Muselmanen rund um das Mittelmeer, ja bis nach Zentralasien aus. Die Bemühungen
des Heiligen Stuhls sind allesamt gescheitert. Der staunende Okzident blieb in
seiner Kenntnis der blühenden Zivilisation zwischen den Strömen Hoang
Ho und Yangtsekiang im wesentlichen auf die umstrittenen und extravaganten Reiseschilderungen
Marco Polos angewiesen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 287).Eine
wirkliche Verbindung zwischen dem Stellvertreter Christi in Rom und dem chinesischen
Himmelssohn in Peking kam erst zustande, als der Jesuitenorden seine hochgebildeten
Emissäre über Macao in die Verbotene Stadt entsandte. Noch heute gibt
die Sternwarte - von der kolossalen Silhouette der chinesischen Hauptstadt fast
erdrückt - Kunde vom Bemühen der Societas Jesu, auf dem Wege eigener,
zumal astronomischer Wissenschaft Rang und Ansehen in einer exotischen Umgebung
von Höflingen, Feldherren, Kurtisanen und Eunuchen zu finden. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 288).Manche von ihnen, so der Pater
Schall aus Köln, wurden mit den höchsten Würden des Mandarinats
ausgezeichnet. Sogar auf dem Gebiet der Kriegskunst suchte sich die Gesellschaft
Jesu unentbehrlich zu machen, indem sie ihrem Gastvolk, das das Pulver längst
erfunden hatte, das Gießen von Kanonen beibrachte, um die Nomadenvölker
der nördlichen Steppe besiegen zu können, die sich wieder einmal anschickten,
den Drachenthron zu erobern und der erlahmenden Ming-Dynastie den Todesstoß
zu versetzen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 288).Um
die Umgebung des Papstes für ihre Missionsarbeit zu gewinnen, hatten dieJünger
des Ignatius von Loyola ein überaus positives, fast idyllisches Bild vom
Reich der Mitte entworfen. Ihr Ehrgeiz war auf die Bekehrung des Kaisers von China
zum katholischen Glauben gerichtet, in der Annahme, daß die Hinwendung seiner
zahllosen Untertanen zur Botschaft des Kreuzes dann nur noch Frage eines imperialen
Erlasses wäre. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 288).Die
Societas Jesu hat verzweifelt versucht, die starren, dogmatischen Vorstellungen
der Päpste zu durchbrechen und insbesondere den Ahnenkult, der für das
konfuzianische China unverzichtbar war, nach bewährter kasuistischer Methode
mit der heiligen Verehrung der Katholizität in Einklang zu bringen. DieJesuiten
sind nicht nur an der Weigerung Roms gescheitert, dieser exotischen Abschweifung
nachzugeben. Ihr ganzes Konzept war möglicherweise verfehlt. Abgesehen von
einer Reihe hoher Würdenträger, die sich taufen ließen, verharrte
der Hof in der unwandelbaren Rigidität der konfuzianischen Sittenlehre und
ihrer pedantischen Riten. Selbst die Mandschu-Eroberer, die sich, kaum dem Barbarentum
entronnen, auf dem Drachenthron einrichteten, unterwarfen sich den uralten Regeln
des Meisters Kong, ja praktizierten seine Vorschriften mit dem Eifer von Neophyten.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 288-289).Die Berichte der
Jesuiten hatten die päpstliche Riten-Kongregation nicht umgestimmt. lm Jahr
1742 setzte Papst Benedikt XIV. mit seinem kategorischen Edikt einen Schlußstrich
unter diese fernöstliche Akkulturation und verbaute damit möglicherweise
eine einmalige Missionierungschance der Geschichte. Paradoxerweise fanden die
frommen Patres eifrige, begeisterte Lehrer unter ihren schärfsten ideologischen
Gegnern, den kirchenfeindlichen Philosophen und Dichtem der Aufklärung. In
ihrem Bemühen, abendländisches Interesse für das Reich der Mitte
zu wecken, Subventionen und Anerkennung für ihre entsagungsvolle Tätigkeit
in Peking zu gewinnen, war das Reich der Mandschu-Kaiser, das bereits im achtzehnten
Jahrhundert mit vielen Kennzeichen des Verfalls und der geistigen Sklerose behaftet
war, von den europäischen Geistlichen als eine ideale Gelehrtenrepublik platonischen
Zuschnitts beschrieben worden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 289).Der
Kaiser thronte lediglich als wohlwollendes Symbol erdentrückter Despotie
über ihr, während der Stand der Krieger, der im spätfeudalen Europa
hohes, fast exklusives Ansehen genoß, bei den Söhnen des Himmels auf
der untersten Gesellschaftsstufe rangierte und sich keinerlei Achtung bei jenen
Gebildeten erfreute, die die höchste Autorität innehatten. Daß
in Peking das Erlangen mandarinaler Würden an das Bestehen von philosophischen,
ja literarischen Examina gebunden war, die - theoretisch zumindest - jedem begabten
Untertan des Kaisers offenstanden, daß die Rangordnung der hohen Verwaltung
einer »Meritokratie« entsprach, von der im damaligen Europa kaum jemand
zu träumen wagte, schürte zusätzliche Begeisterung. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 289).Die Aufklärung des achtzehnten
Jahrhunderts entdeckte ein utopisches Spiegelbild ihrer eigenen Wunschvorstellungen
in jenem femen Imperium des Ostens, das Europa bereits mit seinen Porzellanfiguren
entzückte. Die Mode der »Chinoiseries« erfreute die Höfe
des Abendlandes. Friedrich der Große ließ im Park von Sanssouci einen
chinesischen Pavillon errichten, und die Philosophen - Leibniz, Voltaire und Fénelon
an der Spitze - waren des Lobes voll für eine asiatische Staatsform, die
Friedfertigkeit, Toleranz, geistige Harmonie und vor allem die Priorität
der Gebildeten zu garantieren schien. Konfuzius, der alte Lehrmeister, der fünfuundert
Jahre vor Christus den Söhnen des Drachen den Weg des Einklangs zwischen
Himmel und Erde gewiesen hatte, wurde an hervorragender Stelle in das Pantheon
der »Lumieres« eingereiht. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 289-290).Wie plötzlich und unerbittlich der Verfall eines
Imperiums ablaufen kann, das sich eben noch als Zentrum des Universums betrachtete,
dem alle anderen mehr oder minder barbarischen Potentaten sich nur mit Geschenken
und Huldigungen als Vasallen nähern konnten, wurde unter der späten
Qing- oder Mandschu-Dynastie auf geradezu exemplarische Weise vorgeführt.
Noch im Jahr 1793 hatte der letzte große Kaiser Qian Long von dem Botschafter
Seiner britischen Majestät Lord Macartney, der ein für beide Seiten
vorteilhaftes Handelsabkommen aushandeln wollte, verlangt, daß er sich dem
demütigenden Ritual des Kotau, dem dreimaligen Niederknien mit jeweilig dreimaliger
Verbeugung bis zum Boden, unterwürfe, was der Beauftragte Londons resolut
ablehnte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 290).Unter
Qian Long hatte die lange Kette kaiserlicher Herrlichkeit noch einmal einen Höhepunkt
erreicht. Er hatte die heutigen Autonomen Regionen der Volksrepublik - die Mongolei,
Ost-Turkestan und vor allem auch Tibet - unter die Autorität seines Drachenthrones
gebracht. Sechzig Jahre lang hatte er regiert, und es war ihm gelungen, seinen
Untertanen jene verheerenden Bürgerkriege und Bauernaufstände zu ersparen,
die die Grundfesten des Staatsgebäudes in vier Jahrtausenden immer wieder
erschüttert hatten. Als Folge dieser Friedensperiode und einer klugen Agrarpolitik
hatte sich die Bevölkerung Chinas von 150 Millionen Menschen auf das Doppelte,
300 Millionen, vermehrt. Zur gleichen Zeit verfügte England über ganze
acht Millionen Einwohner. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 290).Dennoch
war der Niedergang vorprogrammiert .... Kaiser Qian Long hatte - von langer Herrschaft
ermattet - auf den Himmelsthron verzichtet. Er war sich bei aller Glorie seines
Regnums wohl bewußt geworden, daß er einem verkrusteten, in steriler
und immobiler Tradition erstarrten System verhaftet blieb, während Europa
in einer Phase ungestümer industrieller Revolution und strahlender Fortschrittsgläubigkeit
davonstürmte. Das Aufeinandertreffen von zwei so unterschiedlichen Kulturen
war von vornherein entschieden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 290-291).Es
gehörte bis dahin zum Wesen Chinas, daß es ganz auf Beharrung ausgerichtet
war. Konfuzius hatte bei der Dekretierung seines Gesellschaftsmodells, das - fern
von aller Metaphysik - auf das harmonische Zusammenleben der Menschen unter festgefügten
Autoritäten und Regeln ausgerichtet war, stets nach rückwärts geblickt,
auf eine legendäre Vergangenheit, auf das »Goldene Zeitalter«
der mythischen Dynastien Shang (Schang [1500-1000])
und Zhou (Schubzw. Chou
[1000-256]), deren Perfektion es wiederherzustellen galt. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 291).Das Abendland hingegen - an
erster Stelle das Königreich England, das mit der protestantischen Reformation,
mit dem Ausbau seiner welterobernden Flotte, dem Aufkommen einer dynamischen Ethik
von Handel und Bereicherung sich schon auf eine technische Revolution zubewegte
- blickte gebannt auf die Zukunft und widmete sich der Erfüllung seiner »great
expectations«. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 291).Niemals
hat sich der westliche Imperialismus so skrupellos und raffgierig dekuvriert wie
bei dem Opiumkrieg 1839. Das wesentliche Ziel Londons war es, den gewaltigen chinesischen
Markt für den ungehemmten Import und Konsum des Rauschgiftes zu öffnen,
das die britische East India Company auf ihren Plantagen in Indien produzierte.
Den englischen Händlern ging es darum, das Handelsdefizit, das vor allem
durch den Ankauf von chinesischem Tee und chinesischer Seide entstand und sich
laufend zu Ungunsten der Briten vergrößerte, dank des tödlichen
Kompensationsgeschäftes auszugleichen. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 291).Bei dieser Gelegenheit war den Söhnen des Himmels
zum ersten Mal ihre groteske militärische Unterlegenheit vor Augen geführt
worden. Aber es sollte ein volles Jahrhundert vergehen, ehe die kommunistischen
Umstürzler, auf die revolutionäre Inbrunst ihrer Volksbefreiungsarmee
gestützt, die letzten Spuren dieser Unterjochung auslöschten.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 291-292).Schneller noch als
der Absturz in eine schändliche Unterwürfigkeit, die durch die Greuel
der japanischen Besatzung vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ins Unerträgliche
gesteigert wurde, hat sich dann das fulminante Wiedererstarken des Reiches der
Mitte vollzogen. Der Westen mag vor allem die erbarmungslose kommunistische Tyrannei
und deren fürchterliche Hekatomben der Revolution Mao Zedongs (Tse-tungs)
in Erinnerung behalten. Die Masse der heute lebenden Chinesen bewertet diesen
radikalen Umbruch als positive geschichtliche Leistung. Mao schuf die Voraussetzungen
dafür, daß die von ihm gegründete, von Deng Xiaoping (Teng
Xiao-ping) gründlich reformierte Volksrepublik sich neuerdings anschickt,
die Vereinigten Staaten von Amerika aus ihrer hegemonialen Rolle als einzig verbliebene
Supermacht zu verdrängen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 292).Wer
sich heute über die Annexion und Gleichschaltung Tibets durch Peking entrüstet,
sollte zudem bedenken, daß die Qing-Dynastie schon im Jahr 1720 ihr Protektorat
über das Dach der Welt verhängte. Wenn in der Folge der bizarre Mönchsstaat
der Dalai Lama nicht dem britischen Empire angegliedert wurde, das über den
Himalaya nach Norden ausgriff, so war das lediglich dem Erlahmen jenes »great
game« zu verdanken, das sich London und Sankt Petersburg in schwindelnder
Gletscherhöhe um die Kontrolle Zentralasiens lieferten. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 292).
Während die Welt sich über die Annexion Tibets durch
Mao Zedong (Tse-tung) entrüstete, hatte die
im Westen hochverehrte Ministerpräsidentin der Indischen Union, Indira Gandhi,
die Tochter Nehrus, ohne viel Aufhebens den König von Sikkim aus seiner bitarren
Hauptstadt Gangtok vertreiben. Sie hatte die Auflehnung der dort lebenden buddhistischen
Bevölkerung gegen die Eiverleibung in einen überwiegend hinduistischen
Staatsverband ignoriert und in den Klöstern, die der verehrung Gautamas geweiht
waren, ihre Soldaten stationiert. Ich hatte mich persönlich von dieser nilitärischen
Okkupation, die in der Präsenz der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet
in nichts nachstand, im Sommer 2006 an Ort und Stelle überzeugen können.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 298).Der Zeitpunkt für
den spektakulären Aufruhr gegen die chinesische Bevormundung, gegen den »kulturellen
Genozid«, wie der Dalai Lama die Sinisierung seiner Heimat nennt, der plötzlich
über Lhasa und eine Reihe tibetischer Siedlungen hereinbrach, war gut gewählt.
Das internationale Kesseltreiben gegen einen harmonischen Ablauf der Pekinger
Olympischen Spiele war planmäßig vorbereitet worden. Es gipfelte in
der häßlichen Gewaltszene, als in Paris ein paar »Menschenrechtler«
einer körperlich behinderten Athletin die Olympische Flamme brutal entreißen
wollten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 302).Die Gewalt
in Tibet war von rotgewandeten Lamas und ihren Gefolgsleuten ausgegangen, die
angeblich im Namen ihrer buddhistischen Lehre sich solcher Übergriffe hätten
enthalten müssen. Jedenfalls war die Brandschatzung chinesischer Geschäfte
und Niederlassungen, die entfesselte Volkswut, die sich plötzlich nicht nur
gegen die fremden Besatzer, sondern auch gegen die muslimische Minderheit der
Hui entlud, das Produkteiner präzisen Planung. Um das festzustellen, bedarf
es keiner finsteren Verschwörungstheorien. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 303).Die westlichen Medien haben die Zwischenfalle nach Kräften
aufgebauscht. Die Niederknüppelung tibetischer Demonstranten vor der chinesischen
Botschaft in der nepalesischen Hauptstadt Katmandu wurde im Fernsehen so dargestellt,
als seien es chinesische und nicht nepalesische Polizisten, die erbarmungslos
die Schlagstöcke führten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
303).Niemand wird behaupten, daß der Dalai Lama diese Übergriffe
angestiftet habe, die immerhin mehrere Todesopfer forderten, aber ganz ohne Zweifel
wurden die massiven Störaktionen von turbulenten Elementen tibetischer Exilorganisationen
- nicht ohne Mitwirkung ausländischer Geheimdienste - angezettelt, die des
beschwichtigenden Einlenkens ihres kornpromißbereiten Gott-Königs längst
überdrüssig sind. In den westlichen Metropolen waren es überwiegend
exzentrische Figuren des Showgeschäfts, die sich wieder ins Rampenlicht bringen
wollten und die Olympischen Ringe als symbolische Handschellen darstellten.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 303).Darüber hinaus
wirkte es wie eine internationale Absprache, als der Dalai Lama von der deutschen
Bundeskanzlerin fast wie ein Staatsoberhaupt in ihrem Amtssitz empfangen wurde,
während unmittelbar danach George W. Bush die ihm verbliebene Amtszeit nutzte,
um dem höchsten Würdenträger des tibetischen Buddhismus, dem »Herrn
des weißen Lotus«, eine hohe us-amerikanische Auszeichnung zu verleihen.
Wie hätte wohl der damalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
reagiert, falls - um ein absurdes Beispiel zu zitieren - dem Indianerhäuptling
Sitting Bull, dessen Volk vor der physischen Ausrottung stand, irn Ausland eine
ähnliche Huldigung zuteil geworden wäre? (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 303).Die deutsche Regierungschefin, die dem demokratischen
Präsidentschaftskandidaten Barack Obama einen Auftritt vor dem Brandenburger
Tor verweigert hatte, empfand keinerlei Bedenken, dem Dalai Lama diese Tribüne
zu verschaffen. Hunderttausende deutsche Bewunderer dieses »Ozeans der Weisheit«
verfielen in mystische Verzückung. Der Heilsbringer aus Tibet, der sich zu
neuen Reisen in die Bundesrepublik rüstet, ist - wie Der Spiegel bestätigt
- in Deutschland populärer als der deutsche Papst, und der Buddhismus hat
der jungen Generation offenbar mehr zu bieten als das Christentum. Ein kleines
Erlebnis am Rande: Beim Übernachten in einem Luxushotel von Düsseldorf
entdeckte ich in der Schublade meines Nachttischs neben der Bibel, die vermutlich
von den Zeugen Jehovas gestiftet war, auch eine Einführung in die erhabene
Lehre Gautamas, die Gabe einer offenbar recht finanzkräftigen Gesellschaft
für die Förderung des Buddhismus. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 304).Es liegt mir nichts ferner, als eine Person hohen geistlichen
Ranges, die von der Mehrzahl seiner Landsleute als göttliche Wiedergeburt
verehrt wird, in irgendeiner Weise zu schmähen. Daß er mich bei einer
persönlichen Begegnung in Frankfurt nicht sonderlich beeindruckte, kann nicht
als Kriterium dienen. Aber ganz offensichtlich hat eine weltweite Lobby versucht,
sich dieses Mannes zu bedienen, um unter Mißbrauch des olympischen Verbrüderungsfestes
alte Vorurteile und Ängste gegenüber dem schier unwiderstehlichen Aufstieg
der Han-Rasse zu schüren. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 304).Aber
eines muß festgehalten werden: Den Drahtziehern der Anti-China-Kampagne
ist es tatsächlich gelungen, den sportlichen Wettbewerb, von dem sich die
Milliardenbevölkerung des Reiches der Mitte weltweite Gemeinsamkeit und eine
durchaus berechtigte Anerkennung ihrer Leistungen versprach, in einen Schauplatz
von Zank, Eifersucht und Mißgunst zu verwandeln. Wer meint, mit diesen Manipulationen,
die sich sogar in der verzerrten Berichterstattung der Olympischen Spiele von
Peking widerspiegelten, den hehren Zielen von Freiheit und Menschenrechten gedient
zu haben, sollte sich bewußt sein, daß - von einigen Außenseitern
abgesehen - beim größten Volk der Erde der Eindruck entstand, in eine
Diskriminierung und Mißachtung zurückgestoßen zu werden, denen
es ja unlängst noch auf so schmähliche Weise ausgesetzt war.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 304-305).Es geht hier um
weit mehr als um das Macht- und Einflußringen, das sich China und die USA
- letztere gestützt auf indische Schützenhilfe - seit der Machtergreifung
Mao Zedongs (Tse-tungs) im Umkreis des Himalaya liefern.
Die im Westen um sich greifende Schwärmerei für den Buddhismus - inkarniert
in der Person des Dalai Lama - offenbart eine bestürzende metaphysische Ratlosigkeit.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 305).Das religiöse Bedürfnis,
das nun einmal dem Homo sapiens seit seiner Entstehung innewohnt und das
ihn von allen anderen animalischen Gattungen unterscheidet, wird offenbar durch
die Überlieferten abrahamitischen Mythen nicht mehr befriedigt. In dieses
mentale Vakuum drängt sich eine in mancher Hinsicht bewundemswerte Offenbarung,
die aber gerade in ihrer tantrischen tibetischen Auslegung durch düstere
Relikte von Schamanentum verdüstert wird. Allzu viele Amerikaner und Europäer
haben mit ausufernder Phantasie das tibetische Hochland in eine Art Shangri-La
verwandelt. Die Aussicht auf Wiedergeburt und das alles erlösende Nirwana
soll die dem Menschen innewohnende Todesfurcht, die unerträgliche Ungewißheit
dessen, was danach kommt, durch exotisch verklärte Weisheitssprüche
Überwinden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 305).Wohlweislich
werden alle gründlichen Studien verdrängt, die sich mit den realen gesellschaftlichen
Zuständen in Tibet befassen. Die chinesische Volksbefreiungsarmee hatte mit
ihrer atheistisch-materialistischen Ideologie und brutalen Unterdrückungsmethoden
zwar der schauerlichen Rückständigkeit ein Ende gesetzt und die Voraussetzungen
für technischen Fortschritt und die Anhebung des bislang erbärmlichen
Daseins gefördert. Aber sie hat diesem kleinen, in seinen Überlieferungen
lebenden Volk auf dem Dach der Welt die national-religiöse Identität,
ja die Seele geraubt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 305).Seit
der Flucht des Dalai Lama, die durch speziell von der CIA ausgebildete Kampa-Krieger
abgeschirmt wurde, ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Hätte er - unter
den ursprünglichen Gesetzen seines Landes - seine Existenz weiterhin als
Gott-König im Potala-Palast verbracht, wäre er möglicherweise,
wie so manche seiner dreizehn Vorgänger, im Intrigenkampf der Mönchsgemeinschaften
zerrieben oder gar vergiftet worden. Aber heute hat die geistliche Desorientierung
des Westens es diesem über ein eigenartiges Charisma verfügenden Außenseiter
der Weltpolitik erlaubt, Verehrung und Heilserwartungen gerade bei Angehörigen
gehobener Gesellschaftsschichten zu wecken, bei der sogenannten Prominenz des
Showbiz, der Politik, sogar diverser Wirtschaftsmanager Herolde seiner Botschaft
zu finden. Wenn allerdings Reinhold Messner, der in Begleitung seiner tibetischen
Sherpas nach Überwindung des Höhenrausches auf den höchsten Gipfeln
des Himalaya eine tiefe Affinität zu dem »Herrn der Ringe« empfindet,
dann sollte das respektiert werden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
305-306).Ob dem Dalai Lama der Titel »Seine Heiligkeit«
zusteht, der selbst einem gläubigen Katholiken bei der Benennung des Papstes
nur schwer über die Lippen kommt, mag er selbst entscheiden. Erich Follath,
der den Dalai Lama durchaus wohlwollend beschreibt, kommt nach langen Dialogen
zu dem Schluß, daß für eine Vielzahl Abtrünniger, die an
den Werten unseres westlichen Kulturkreises verzweifeln, dieser eigensinnige Schamane
zum »Repräsentanten einer sanften Weltmacht, zur höchsten moralischen
Instanz, zuständig für die Grundfragen der Menschheit, wie Lebenssinn,
Glück, Gerechtigkeit und Frieden« geworden ist. Als postmoderner Engel
mit urzeitlichen, in der Wiedergeburt stets reinkarnierten Wurzeln, als letzter
gemeinsamer Nenner für Begeisterungsfähige und Skeptiker, Ohnmächtige
und Übermächtige, Neurotiker und Naturburschen - eine Art Trostpflaster
für die in Globalisierungsgewinner und -verlierer zersplitterte Erde, so
sieht Erich Follath, auf dessen Urteil ich stets viel gegeben habe, den Dalai
Lama. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 306).»Wenn
so viele Menschen im Westen in seiner Person immensen spirituellen Trost gefunden
hätten, so äußert sich der »Abgrund der Weisheit«,
dann sage das mehr aus über sie als über ihn«, zitiert FoIlath
den »weisen Clown«, der nach dieser Aussage in dröhnendes Gelächter
verfallen sei. Schonungsloser und scharfzüngiger kann die Entwurzelung des
»weißen Mannes« am Ende seines Parcours durch Christentum, Aufklärung,
mörderisches Neu-Heidentum, Verwerfung von Vernunft und Maß nicht angedeutet
werden. Der »Herr des weißen Lotus« - in seine rote Mönchskutte
gehüllt - sollte dem Abendland eher als ein Künder seines Niedergangs
denn als Prophet einer weltabgewandten Erlösung erscheinen. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 306-307).
Der
religiösen Weisheit und Würde des Buddhismus soll hier durchaus gehuldigt
werden. Aber zum Rezept beglückender Staatsführung oder zur Friedensstiftung
ist er nun einmal nicht geeignet. Darin unterscheidet sich die Lehre Gautamas
übrigens nicht sonderlich von den anderen uns bekannten Religionen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 307).Meine persönlichen
Erfahrungen beziehen sich im wesentlichen auf den Bereich der ursprünglichen
Theravada- oder Hinayana-Schule, deren in safrangelbe Togen gehüllte Mönche
zu früher Stunde aus ihren Klöstern, ihren Sanghas, in langer Reihe
ausschwärmen, um in Tonkrügen von den knienden Gläubigen ihre Nahrung
einzusammeln. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 307).Besonders
am Herzen lag mir das Königreich Kambodscha, das unter der extravaganten,
aber klugen Herrschaft des Prinzen Sihanouk meiner Vorstellung vom Paradies auf
Erden am nächsten kam. Über dieses heitere Land, das -von jeder Erbsünde
verschont - in familiärer Ungezwungenheit und materieller Sorglosigkeit in
den Tag lebte, ist imJahre 1970 ein grauenhafter Horror hereingebrochen. Das von
Präsident Nixon und Henry Kissinger geschürte Komplott hatte die Sakralfigur
Norodom Sihanouk, der sich ihren Plänen der Kriegsausweitung widersetzte,
durch einen Armeeputsch gestürzt. Diese Insel des Friedens mitsamt ihren
zahllosen Pagoden wurde den Vernichtungsschlägen der US Air Force ausgeliefert.
Urplötzlich wurde das idyllische Kambodscha ein Opfer der Verwüstung,
der sittlichen Verrohung durch das Vordringen primitiver Mörderbanden. Die
sogenannten Roten Khmer, die sich von einer pseudorevolutionären Agrar-Utopie
blenden ließen, hatten in den Tiefen des Dschungels auf ihre Stunde gewartet.
Etwa zwei Millionen Menschen wurden von den Roten Khmer gezwungen, ihre eigenen
Massengräber, die »Killing Fields«, auszuheben. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 307-308).In jüngster Vergangenheit
hat vor allem die dumpfe Militärdiktatur von Burma oder Myanmar die Entrüstung
aller aufrechten oder verlogenen Demokraten wachgerufen. Unter der Kolonialherrschaft,
als das hinterindische Irrawaddy- Tal mit dem Lied verklärt wurde: »On
the way of Mandalay where the flying fishes fly«, galt bei den britischen
Verwaltungsbeamten der Satz: »To be a Burmese means to be a Buddhist.«
Diese mystische Grundausrichtung hat nicht verhindert, daß seit dem Tag
der Unabhängigkeit eine brutale Militärclique die Hauptstadt Rangoon
in ein stählernes Korsett zwang, die in frommer Schicksalsergebenheitverharrende
Bevölkerung tyrannisierte und die auseinanderstrebenden ethnischen Komponenten
der Burmesischen Union mit Waffengewalt unterwarf. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 308).Noch schlimmer ist es einem anderen, im Theravada-Buddhismus
verwurzelten Staatswesen an der Südspitze des indischen Subkontinents ergangen.
In Ceylon, das heute Sri Lanka heißt, hatte ich einst in Kandy in einer
endlosen Schlange Gebete murmelnder Gläubiger den »authentischen«,
allerdings überdimensionalen Zahn Buddhas bestaunt. Dessen Ermahnungen zur
Versöhnlichkeit und zum Gewaltverzicht haben jedoch nicht verhindern können,
daß die Regierung von Colombo einen endlosen Vernichtungskrieg gegen die
Minderheit hinduistischer Tamilen auslöste, die als Plantagenkulis aus dem
indischen Teilstaat Tamil Nadu rekrutiert worden waren und in ihrem nördlichen
Schwerpunkt Jaffna politische Unabhängigkeit von der buddhistischen Mehrheit,
zumindest ein weites Maß an Autonomie von Colombo forderten. Gegen diese
Rebellion, vor allem gegen die gefürchteten »Tamil- Tiger« ist
die Armee des buddhistischen Commonwealth-Staates mit allen zur Verfügung
stehenden Vernichtungsmethoden vorgegangen. Als schließlich im Sommer 2009
der bewaffnete Widerstand der Tamilen zusammenbrach, wurde die wehrlose Zivilbevölkerung
in scharf bewachten Baracken zusammengepfercht, die den Ausdruck »Konzentrationslager«
verdienen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 308-309).Dem
Kerngebiet des Theravada-Buddhismus, dem Königreich Thailand, sind solche
Greuel erspart geblieben, was zu einem wesentlichen Teil der gottähnlichen
Autorität und der Weisheit des greisen Königs Bhumibol zu verdanken
ist. Doch das alte Siam taumelt seit Jahrzehnten von einem Militärcoup zum
nächsten. Die Korruption in den Ministerien Bangkoks und die fröhliche
Lasterhaftigkeit, die allenthalben vorherrscht, lassen sich mit dem buddhistischen
Tugendkanon allerdings kaum vereinbaren. Neuerdings verschärft sich zudem
der blutige Konflikt mit den malaiisch-muslimischen Separatisten in den äußersten
Südprovinzen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 309).Aus
unmittelbarer Nähe habe ich in den frühen 1960er Jahren erlebt, wie
auf Weisung von Präsident Kennedy der Versuch unternommen wurde, die in Südvietnam
stark vertretene Mahayana-Schule politisch zu instrumentalisieren und als Gegenkraft
gegen die ideologische Ausweitung des Kommunismus aufzubauen. Der Opfertod eifernder
Mönche, die sich selbst mit Benzinflaschen in Brand setzten, erregte damals
weltweites Aufsehen. Die schöne Madame Nbu, eine Schlüsselfigur der
katholischen Diktatur Ngo Dinh Diems, hat das grausige Schauspiel allerdings nur
zu der zynischen Aussage veranlaßt, sie sei nicht verantwortlich dafür,
daß diese Narren ihr eigenes »Barbecue« veranstalteten. Lange
dauerte es nicht, da mußte auch die CIA erkennen, daß der Vietcong
die Klöster der Jünger Gautamas infiltrierte und für seine Ziele
zu nutzen verstand. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 309).Aus
fernster mythischer Vergangenheit ist uns die Saga des buddhistischen Herrschers
Ashoka (Asoka) aus der Maurya-Dynastie überliefert,
der etwa zweihundert Jahre vor Christus fast den ganzen indischen Subkontinent
auf die Lehre Siddharthas ausrichtete, den Hinduismus weitgehend verdrängte,
ohne jedoch dessen Kasten-Strukturen überwinden zu können. Doch Ashoka
war alles andere als ein Held der Sanftmut und der Duldsamkeit. Der Legende zufolge
ließ er seine 99 Brüder und Rivalen hinrichten und jeden Widerstand
seiner Untertanen im Blut ersticken. Dann allerdings habe seine Läuterung
und seine Bekehrung zur wahren Lehre stattgefunden. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 309-310).Ashoka (Asoka)
schickte seine buddhistischen Missionare bis nach Indonesien und in den afghanischen
Hindukusch aus. Auf Java ist als Monument dieser Bekehrungsarbeit die kolossale
Tempelkonstruktion von Borobodur erhalten geblieben, während im afghanischen
Bamyan die riesigen, in hellenistischen Faltenwurf gekleideten Fels-Buddhas dem
Bildersturm stupider Taleban zum Opfer fielen und gesprengt wurden. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 310).Manche Historiker behaupten
übrigens, daß der listige König Ashoka (Asoka)
sich der Friedens- und Entsagungslehre Buddhas bedient habe, um besonders räuberische
und kriegerische Stämme an den Grenzen seines Reiches in unterwürfige
und fromme Untertanen zu verwandeln und zu pazifizieren. Ähnlich sollen ja
auch chinesische Kaiser der Ming-Dynastie vorgegangen sein, um die Konversion
barbarischer Steppenhorden zur sanften Besinnlichkeit der buddhistischen Sanghas
zu betreiben und die ungezähmte Wldheit in resignierte Unterwürfigkeit
zu verwandeln. Manche Mongolen, so vernahm ich, beklagen heute noch diese »psychische
Kastration« ihrer stürmisch-aggressiven Veranlagung. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 310).
Wer
den Buddhismus als Märchen unserer Tage, als verwirklichten Traum von Shangri-La
erleben will, der begebe sich nicht nach Dharamsala, dem Amtssitz des Dalai Lama
auf indischem Boden, wo sich im Umkreis eines recht harmlosen Gott-Königs
alle nur denkbaren Geheimdienste tummeln. Statt dessen beeile er sich, das in
Sichtweite des Mount Everest gelegene Königreich Bhutan aufzusuchen, dessen
Herrscher - mit vier Schwestern verheiratet - den Entschluß faßte,
das grob-materialistische Streben des Westens nach »Gross National Product«
durch die vergeistigte Mehrung einer »Gross National Happiness« zu
überwinden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 310-311).Im
Sommer 2005 habe ich mich an Ort und Stelle überzeugen können, daß
es sich dabei um keine Scharlatanerie handelte, sondern daß Jigme Singye
Wangchuk, Urenkel des Gründers der dortigen Drachen-Dynastie, bei seinen
rund sechs Millionen Untertanen einen Zustand allgemeiner Zufriedenheit und frommen
Wohlbehagens schuf. Das bescheidene Dasein und die begrenzten Möglichkeiten
der Bedürfnisbefriedigung werden von der Bevölkerung keineswegs als
Entbehrung oder Benachteiligung empfunden. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 311).Die asiatischen Nachbarstaaten waren überrascht, als
dieser wohlwollende Despot nach relativ kurzer Regentschaft im Jahr 2006 auf seinen
Thron verzichtete und seinen Sohn Jigme Khesar Namgyal als Nachfolger einsetzte.
Er empfahl seinen Untertanen sogar, gewisse Praktiken westlicher Demokratie zu
übernehmen und ein Mehrparteiensystem einzuführen. Vielleicht tat er
das, um eventuellen Vorwürfen mangelnder Liberalität zuvorzukommen,
die in Washington und vor allem in Neu-Delhi erhoben werden könnten. Das
Volk ging höchst widerstrebend zu den Urnen. In freier Wahl verschaffte es
spontan der Partei des »Gelben Drachen«, das heißt der Partei
des Königshauses, die Gesamtheit der Abgeordnetensitze. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 311).Noch ist Bhutan, das den Tourismus aufs Äußerste
beschränkt, sich selbst treu geblieben. Das Königshaus hat eine einheitliche
Landestracht angeordnet: Für Männer ist das ein kiltähnlicher Rock
und Wollsocken, die bis zum Knie reichen. Sämtliche Neubauten müssen
den Stil ästhetischer Eleganz einhalten, der von den großen Monasterien,
den festungsähnlichen »Zhong«, vorgegeben wurde. Die Klöster
verharren im altüberlieferten Ritual. Von den fremden Besuchern wird hier
kaum Notiz genommen. Während der endlosen Rezitation der Mantras und Sutren,
die die Mönche in den exakt ausgerichteten Karrees ihrer weinroten Roben
vornehmen, wachen ein paar ältere, grimmige Aufseher darüber, daß
zumal bei den Novizen keine Zerstreutheit und kein Gespräch aufkommt. Sonst
bekommen sie die mehrschwänzigen Peitschen zu spüren. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 311).Mit demselben Strafinstrument verfolgten die
Bonzen auch unsere Schritte, als wir den Zhong verließen. Es galt wohl,
jene Dämonen und Schlangengeister zu vertreiben, die sich auf unseren Spuren
in die langen Alleen goldener Buddha- und Bodhisattva-Statuen eingeschlichen haben
könnten. In dieser archaisch esoterischen Umgebung fühlte ich mich ein
wenig in jene Klosteratmosphäre versetzt, die Umberto Eco in seinem Roman
Der Name der Rose beschrieben hat. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 312).Prüde und sonderlich schamvoll geht es bei diesem
entkrampften Gebirgsvolk übrigens nicht zu. Die Wohnhäuser sind häufig
mit außergewöhnlichen Fabeltieren bemalt, vor allem aber auch mit realistischen
Darstellungen männlicher Genitalien, die mit blauen und rosa Schleifchen
verziert sind. Besonders fiel mir an dieser kuriosen Mahayana-Schule der Kult
auf, der ihrem Lieblingsheiligen, dem »zweiten Buddha« und höchsten
Guru Rinpoche, gewidmet ist. Im achten Jahrhundert hatte er, auf einem Tiger reitend,
die Berge von Bhutan erreicht. Mit krausem Bartwuchs wird er wie ein ausgeflippter
Hippie unserer Tage dargestellt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 312).Dieser
heilige Lama, auch als Lotus-geborener Padmasambhava verehrt, hat sich durch erotische
Extravaganzen und grobe Scherze hervorgetan. So soll er bei einer einzigen Mahlzeit
eine ganze Kuh und eine Ziege mit Haut und Haaren verspeist haben. Es folgte ein
gewaltiger Rülpser, und Guru Rinpoche erbrach ein kurioses Tier, das nur
in dieser Himalayazone anzutreffen ist und als eine Art Wunderwesen gilt. Ich
habe die »Rinder-Gemse« mit den Ausmaßen eines Kalbes und zotteligem
grauem Fell als besonders häßliche Tiergattung empfunden. Doch dieses
Mißgeschöpf, »Takin« genannt, genießt Schutz und
ernährt sich von extrem stacheligem Laub, dessen bloße Berührung
mit der menschlichen Haut wie ein schmerzhafter Nadelstich wirkt. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 312).Der kurze Aufenthalt in Bhutan
verhalf mir zu einem seltsamen Zaubererlebnis, das meiner eher skeptischen Veranlagung
gegenüber jeder Form von Magie überhaupt nicht entsprach. Unser stämmiger
Begleiter Udai - in die vorgeschriebene Landeskluft gekleidet- kam mir zu Hilfe,
als mein Schädel mit voller Wucht auf die scharfe, kantige Steinverkleidung
einer niedrigen Klosterpforte knallte. Eine tiefe Kerbe hatte sich in meine Stirn
eingeschnitten. Der Kopf dröhnte vor Schmerz. Da nahm Udai mich beiseite,
umkreiste meine Verletzung weihevoll mit seinen Händen, holte tief Atem und
blies mir mehrfach ins Gesicht. Mit einem Schlag war die unerträgliche Qual
verschwunden und sollte sich auch nicht mehr einstellen. Die Narbe hingegen ist
erst nach zwei Wochen allmählich verblaßt. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 312-313).Wie lange die Idylle von Bhutan erhalten
bleibt, liegt im Ratschluß Buddhas. Schon kommt es zu Spannungen mit den
hinduistischen Zuwanderern aus Nepal, die sich am Südrand des Königsreichs
angesiedelt haben. Auf ähnliche Weise war eine Migration von Nepalesen dem
Königreich Sikkim zum Verhängnis geworden, als die indische Regierung
sich ihrer als umstürzlerisches Element bediente. Aus dem östlich gelegenen
Assam dringen neuerdings Freischärler in die entlegenen Dschungelgebiete
Bhutans ein, um dort Schutz vor ihren indischen Verfolgern zu suchen. Schon geht
die Sorge um, die Lockerung der Tourismusbegrenzung sowie die Zulassung der trivialen
Fernsehprogramme aus »Bollywood« könne geistige Verwirrung auslösen.
Die Zunahme von Selbstmorden gerade bei jungen Leuten wird mit Ratlosigkeit registriert.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 313).Auf keinen Fall darf
der Fremde jedoch dem Irrtum verfallen, die Glückseligkeit des Drachenreichs
von Bhutan, die sanfte Lebensfreude seiner Menschen ließen sich mit den
Zuständen vergleichen, die vor dem Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee
im Gottesstaat der rotgewandeten Lamas von Tibet vorherrschten. Selbst Guru Rinpoche,
der sich in Bhutan als eine Art heiterer, glückspendender Kobold präsentiert,
gewinnt am Nordrand des Himalaya ein furchterregendes Antlitz und unterwirft die
auf ihn eingeschworene Gefolgschaft des Dalai Lama seinen zornigen Launen, seiner
unberechenbaren Willkür. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 313).
»Es
ist unglaublich, fast unheimlich, mit welcher Ignoranz die treuherzigen Deutschen
den Dalai Lama, diesen gelb-roten »Gott zum Anfassen«, der erst im
zwanzigsten Jahrhundert dem finstersten Mittelalter entsprungen ist und der sich
mit erstaunlichem Geschick westliche Begriffe von Liberalismus, Humanismus und
Psychologie angeeignet hat, als »Jesus der Neuzeit« anbeten.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 314).Das Zitat habe
ich den Tibet-Experten Victor und Victoria Trimondi entliehen. Aus persönlichem
Antrieb hätte ich nicht gewagt, ein so vernichtendes Urteil zu fallen. Ich
will nicht behaupten, daß die anbetende Hinwendung so vieler unserer Landsleute
zu einem exotischen Heilskünder aus dem Himalaya einem dauerhaften Rückfall
in schamanistisch anmutende Pseudospiritualität entspricht. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 314).Was die einfaltige Bewunderung
einer obskuren tantrischen Form des Buddhismus jedoch zum Ausdruck bringt, ist
die intellektuelle und psychische Verwirrung des »weißen Mannes«.
Nach seiner Abkehr von der eigenen theologischen Überlieferung ist es geradezu
Mode geworden, den Trugbildern und Phantasmen anderer Kulturen nachzulaufen. Dabei
geht aus seriösen Studien des Lamaismus hervor, daß Leibeigenschaft,
Sklaverei, Erbfolge durchaus übliche Praktiken der damaligen feudalistischen
Gesellschaft waren. Dazu gehörten auch eine strenge klerikale Hierarchie,
düsterer Dämonenglaube, Geheimriten und »sexual-magische Praktiken«.
Die seltenen Filmdokumente in Schwarzweiß, die uns aus der Epoche vormaoistischer
tibetischer Unabhängigkeit erhalten sind, veranschaulichen eine Serie von
kultischen Ritualen, deren grauenhafter Spuk und die an Epilepsie grenzenden Trancezustände
tiefstes Befremden auslösen sollten. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 314).Die Denaturierung des wahren Heilsweges, den der authentische
Buddha predigte und der die Ausübung weltlicher Macht weit von sich weist,
wird in der profunden Analyse der Tibetologin Jane Bunnag ohne jede Spur von Polemik
beschrieben. »Die Schlüsselrolle der Mönche und ihrer »Sanghas«,
so schreibt sie, »prädestiniert sie theoretisch zu einer führenden
Stellung auf vielerlei Gebieten. Aber die Gläubigkeit ihrer frommen Gefolgschaft
verwehrt sich dagegen, daß sich die Mönche ihre Hände mit gesellschaftlichen
und nationalen Entwicklungsprogrammen - im wörtlichen wie im übertragenen
Sinne - schmutzig machen. Die Stärke der Mönche liegt darin, zwar in
der Gesellschaft zu leben, aber nicht Teil der Gesellschaft zu sein, was den Wert
ihres moralischen Einflusses steigert, ihre praktische Nützlichkeit jedoch
auf ein Minimum reduziert.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
314-315).Am Abend vor meiner Abreise aus Lhasa habe ich meine beiden
Gefährten zu einem Abschiedsessen geladen. Ich hatte bei Fangyi darauf gedrängt,
daß mir die zuständige tibetische Religionsbehörde am Ende doch
noch einen in Fragen buddhistischer Religiosität erfahrenen Experten als
Informationsquelle zur Verfügung stelle. Meine Bemühungen, von Wang
Chuk Einblicke in die lokalen Mahayana-Strukturen zu gewinnen, waren an dessen
Ignoranz und nicht zuletzt am unzureichenden englischen Vokabular kläglich
gescheitert. So verwechselte er bei meiner Frage nach den vier Schulen des tibetischen
Tantrismus die Begriffe »Philosophie« und »Photokopie«.
Zweifellos hielt auch er - wie die große Mehrheit seiner Landsleute - an
der Idealvorstellung jener theokratischen Herrschaft seines Dalai Lama fest, der
lange vor seiner Geburt aus dem Potala-Palast hatte fliehen müssen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 315).Bei der selbstbewußten
Han-Chinesin Fangyi hatte ich das Gefühl, der mönchische Mummenschanz,
die obskurantistische Magie auf dem Dach der Welt, wo wundertätige Gurus
per Telepathie miteinander kommunizieren, seien für ihr teils konfuzianisch,
teils maoistisch geprägtes Weltbild ohne das geringste Interesse. Gewiß,
der Buddhismus hatte, wie der volkstümliche Roman Die Reise nach Westen
beschreibt, auch Zugang zum Reich der Mitte gefunden, und jedem Chinesen ist die
Märchenfigur des Mönches Xuan Zang bekannt, der in Begleitung des »Goldaffen«
auf seiner Wanderung nach Indien so manches Abenteuer bestand. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 315-316).Aber die Mahayana-Bräuche, die bei
breiten Volksschichten der Han-Rasse starken Anklang fanden, verschmolzen in einem
typisch chinesischen Synkretismus sehr bald mit den ursprünglichen Zauberpraktiken
des Taoismus zu einem vielfältigen Sammelsurium. Größter Beliebtheit
erfreute sich die Figur des lachenden Buddha, der mit strahlendem Gesicht auf
seinem von reichem Essen prall gefüllten Bauch weist und von der Askese des
Religionsgründers weit entfernt ist. Diese Importreligion aus Indien entsprach
im wesentlichen den abergläubischen Bedürfnissen der bescheidenen Gesellschaftsschichten,
während die intellektuell und literarisch gebildete Elite des Mandarinats
den Schriften und Geboten des Meister Kong absoluten Vorrang einräumte und
sich an dessen Ahnen- und Ritenkult orientierte. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 316).Ich war angenehm überrascht, als wir im Jingcheng-Hotel
von einem hochgewachsenen jungen Tibeter abgeholt wurden, der sich durch seinen
hellen Teint und sein gewandtes, urbanes Auftreten von der Mehrzahl seiner Landsleute
unterschied. Lhundup, wie wir ihn nennen wollen, hatte zwei Jahre in Kalifornien
verbracht, sprach ein sehr gutes Englisch und vertrat jenen Typus ideologischer
Unbefangenheit, mit der sich in autoritär regierten Staaten die Angehörigen
des Nachrichtendienstes durchaus vorteilhaft von der üblichen Mitteilungsscheu
und Verschlossenheit ihrer Mitbürger unterscheiden. Jedenfalls hatte die
geheime Amtsstube, die Lhundup geschickt hatte, einen vorzüglichen Gesprächspartner
ausgewählt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 316).Das
Abendessen fand - das mußte wohl so sein - wieder im »House of Shambhala«
statt. Dort wird neben schwer genießbarem Essen auch Yogi-Unterricht, geistliche
Erbauung in separaten Räumen geboten. Gelegentlich werden sogar lokale Modekollektionen
vorgeführt. »Sie wollen ja nicht gleich mit mir über den Dalai
Lama sprechen?« fragte Lhundup scherzhaft und stimmte ein Lachen an,
das fast so dröhnend klang wie die Heiterkeit des »Ozeans der Weisheit«.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 316).Er versuchte gar nicht,
die Zustände in seiner Heimat, auch das problematische chinesische Protektorat
schönzureden, wie das in den offiziellen Propagandabroschüren üblich
war. Er mokierte sich ohne Umschweife über die Fabelbilder, die von so manchen
Abenteurern, Hobbyforschern, Spionen und Wirrköpfen aus dem Westen entworfen
würden, bis hin zu jenen Exzentrikern, die auf dem Dach der Welt eine von
der Sintflut verschonte Menschengattung und im Umkreis der Klöster die Spuren
einer arischen Urrasse entdeckt zu haben glaubten. »Eines sollten Sie bedenken«,
fuhr er mit ernstem Unterton fort, »wenn wir Chinesen nicht unsere alten,
organischen Bindungen an Tibet wiederaufgenommen hätten, Würden die
Inder sich längst mit us-amerikanischer Hilfe in Lhasa etabliert haben.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 317).Der hochgebildete Mann
gab mir auch die Erklärung des Wortes »Shambhala«. Der Weg nach
Shambhala führe laut tantrisch-buddhistischer Lehre den Erleuchteten zu jenem
Ort der Erlösung, des Eingehens in einen immateriellen Zustand des Glücks,
der nur durch Verzicht auf alle trivialen Bedürfnisse und Verlockungen des
Lebens erlangt werden könne. »Es mag Sie interessieren, daß laut
dem Kalachakra-Mantra aus dem zehnten Jahrhundert, dem auch der vierzehnte Dalai
Lama anhängt, dieser Zustand der Perfektion, die Verwandlung Shambhalas aus
einer mystischen Vision in eine erhabene Wirklichkeit, erst nach einer grauenhaften
Phase kosmischen Zusammenpralls und menschlicher Verderbtheit erreicht werden
kann.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 317).Offenbar
war Lhundup über meine enge Beschäftigung mit dem revolutionären
Islam unterrichtet, denn er verwies auf eine seltsame Verwandtschaft der großen
Weltreligionen. Immer wieder trete die gemeinsame Vision nach einer Zwischenphase
blutiger Wirren auf. Das Auftauchen falscher Propheten oder die höllische
Erscheinung des Antichristen werde in der Schlacht von Armageddon gipfeln, jener
grauenhaften Prüfung und quälenden Vorstufe der Läuterung, bevor
der Himmel sich öffnet für die Parusie des Messias, Mehdi oder des Buddha
Shakyamuni. Es bestehe doch eine eigenartige Parallelität zwischen den endzeitlichen
Hinweisen der jüdischen Kabbala, der chiliastischen Erlösungserwartung
der protestantischen Evangelikalen in USA, zwischen der schiitischen Mystik der
»Hodschatiyeh«, der auch der jetzige iranische Präsident Ahmadinejad
nahestehe und die alles Heil von der Wiederkehr des Verborgenen Zwölften
Imam erwartet, zu gewissen geradezu apokalyptisch anmutenden Schreckensvisionen
des tibetischen Tantrismus. In diesem Punkt habe sich die theologische Interpretation
der Mönchsgemeinschaften von Lhasa und Shigatse weit von dem erhabenen Prinzip
der »Ahimsa«, des Gewaltverzichts, entfernt, das der authentischen
Lehre Gautamas im Westen so viele Junge zutreibe. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 317-318).Wir plauderten anschließend noch
eine Weile über geopolitische und strategische Zustände in Zentralasien,
bevor wir uns, dem chinesischen Brauch entsprechend, nach dem letzten Bissen unverzüglich,
fast grußlos trennten. Fangyi und Wang Chuk hatten sich während der
sprunghaft verlaufenen Unterhaltung jeder Äußerung enthalten.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 318).Am Flughafen von Lhasa
verabschiedete sich Wang Chuk am folgenden Tag mit einer buddhistischen Sutra,
die dem Namen »Shambhala« eine hintergründige Bedeutung verlieh.
Ob er damit auf meine rastlose Reisetätigkeit anspielen wollte? In dem Sakraltext
hieß es: »Ein meditierender Mensch gewinnt eine ganz besondere Sicht
der Dinge. Der eilfertige Reisende gewinnt einen ganz anderen Standpunkt. Es gibt
so viele unterschiedliche Deutungen. Welches ist die wahre? Ein Mensch, der auf
der Suche nach Shambhala durch die Welt reist, kann diese Erleuchtung kaum finden.
Aber das bedeutet nicht, daß Shambhala nicht entdeckt werden kann.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 318).
Dem
Abendland kann es nicht gleichgültig sein, je es stellt sich die nackte Überlebensfrage,
wenn - um nur diese Beispiele zu erwähnen - die Zahl der Algerier zwischen
1960 und 2000 von 8 auf 30 Millionen, die der Iraker zwischen 1050 und 1990 von
5 auf 25 Millionen hochgeschnellt ist, währen der eigene Bevölkerungsstand
nur durch den unablässigen Zustrom außereuropäischer Migranten
auf dem bisherigen dem bisherigen Niveau gehalten wird. Für die außereuropäischen
großen Siedlungsgebiete der weißen Menschheit - Nordamerika und Sibirien
zumal - gelten ähnlich düstere Perspektiven. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 319-320).Vor zweihundert Jahren waren die europäischen
Kolonialmächte noch zutiefst davon überzeugt, ihnen sei der göttliche
Auftrag erteilt, den in barbarischer Rückständigkeit und Willkür
dahindämmernden Völkern Asiens und Afrikas die erlösende Botschaft
des Christentums oder der Aufklärung zu vermitteln. Rudyard Kipling bezeichnete
diese zivilisatorische Mission als »Bürde des weißen Mannes«.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 320).Mit einem ähnlichen
Gefühl kultureller Überlegenheit und technologischer Brisanz dürften
heute die Chinesen den rückständigen Rassen in ihren Randzonen begegnen
und sich rühmen, ihnen den Weg in eine bessere, würdigere Zukunft zu
weisen. Seit die höchsten Gremien der Kommunistischen Partei von Peking begriffen
haben, daß die von Mao Zedong (Tse-tung) vorgegebene
Richtlinie der »Einkind-Familie« zu gesellschaftlicher Vergreisung
und sozialen Engpässen führt, ist die drakonische Geburtenbeschränkung
relativiert und der normale Wachstumsrhythmus wiederhergestellt worden.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 320).Die aus Amerika und
Europa unablässig vorgetragenen Ermahnungen an das Reich der Mitte, sich
den westlichen Prinzipien von freier Meinungsäußerung (an
die sich der Westen selbst nicht hält; HB), parteipolitischer
Vielfalt (hier gilt ähnliches; HB) und
peinlicher Observanz der Menschenrechte (hier gilt ähnliches;
HB) unterzuordnen, klingen zunehmend bizarr und unglaubwürdig.
Selbst im Berliner Reichstag dürfte sich allmählich herumsprechen, daß
die im Westen gepriesene paralamentarische »Streitkultur«, die sich
- unter Vernachlässigung der wirklich relevanten Probleme - in Debatten über
den Mindestlohn von Briefträgern und die Spitzfindigkeiten von Hartz IV erschöpft,
nicht einmal mehr den Erwartungen und Bedürfnissen eines 83-Millionen Volkes
gerecht wird. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 320).Ich
war seinerzeit nach Peking geeilt, um mir zwei Tage nach der Niederschlagung dieser
im Westen so überschwenglich gefeierten »Konterrevolution« ein
eigenes Urteil zu bilden. Gewiß, auch ich hatte Sympathien empfunden für
die jungen Aufrührer und Idealisten, die sich im Namen eines Freiheitsbegriffs,
den sie selbst nicht zu definieren vermochten, in ein Abenteuer stürzten,
an dessen Ende - laut Amnesty International - etwa neunhundert Tote zu beklagen
waren. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 323).Aber in
der Zwischenzeit haben sich von Bogotá bis Algier unendlich grausamere
Tragödien abgespielt, und die sind von der flammenden Wut der professionellen
Menschenrechtler weitgehend verschont geblieben. Bei manchen allzu selbstherrlichen
Philanthropen kommt mir das Zitat in den Sinn: »Der Freund des Menschengeschlechts
ist niemandes Freund.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 323).Was
wäre denn die Alternative gewesen, wenn sich die »Reformer« durchgesetzt
hätten? Die Partei und die Volksbefreiungsarmee hätten ebenso nachhaltig
gegen den Ausbruch einer »weißen Kulturrevolution« und die damit
verbundenen Bürgerkriegszustände eingreifen müssen wie einst gegen
die exzessiven Ausschreitungen der Rotgardisten, die Mao mit seiner Order »Bombardiert
das Hauptquartier!« aufgeputscht hatte. Nach deren Zügelung und
Disziplinierung waren - vorsichtigen Schätzungen zufolge - fünf Millionen
Todesopfer zu beklagen gewesen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 323).Der
kritische Höhepunkt, der den damaligen starken Mann im Zhongnanhai, Deng
Xiaoping (Teng Xiao-ping), und den unerbittlichen
Regierungschef Li Peng geradezu zwang, gegen den zunehmend gewalttätigen
Aufruhr am Platz des Himmlischen Friedens mit Waffengewalt vorzugehen, war erreicht,
als eine plumpe Kopie der us-amerikanischen Freiheitsstatue das Tor zur Verbotenen
Stadt verstellte und die revoltierende Masse dem aus Moskau herbeigeeilten Michail
Gorbatschov, einem Experten für Staatsauflösung und Chaosstiftung, den
Zugang zum Großen Volkspalast versperrte. Der Generalsekretär der KPdSU
mußte durch eine Hintertür eingeschleust werden. Dem Politbüro
von Peking war die unerträglichste Schmähung zugefügt worden, die
China kennt. Es hatte »das Gesicht verloren«. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 323-324).Realpolitiker wie Helmut Schmidt oder
Henry Kissinger haben sehr bald eingesehen, daß der chinesischen Führung
gar keine andere Wahl blieb, als zum Wohl des Staates und des Volkes mit harter
Hand durchzugreifen, daß es - um eine zynische Maxime chinesischer Politik
zu erwähnen - an der Zeit war, »durch das Schlachten eines Huhns eine
Horde Mfen zu vertreiben«. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 324).Jeden
Vorwurf eines reaktionären Zynismus, den man mir machen könnte, weise
ich weit von mir, seit ich beobachten konnte, daß sich unter den westlichen
»Herolden der Freiheit«, die mit Schaum vor dem Mund das Massaker
am Tien An Men verfluchten, ausgerechnet jene Scharlatane und Narren wiederfanden,
die sich zwanzig Jahre zuvor mit der »Großen Proletarischen Kulturrevolution«
und ihren blutigen Exzessen solidarisiert hatten. Sie hatten sogar in Peking -
zur Erheiterung der Chinesen - die Mao-Mütze mit dem roten Stern aufgesetzt,
trugen das Abzeichen mit dem Großen Steuermann stolz auf der Brust und skandierten
im Chor Auszüge aus dessen Roter Bibel, jenem einfältigen Text, der
lediglich für die Indoktrinierung unwissender chinesischer Massen konzipiert
war, als handele es sich um die höchste Offenbarung revolutionärer Weisheit.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 324).
Einem
hochrangigen Funktionär des Olympischen Komitees ist der geniale Gedanke
gekommen, in Zukunft sollten die weltumspannenden sportlichen Wettkämpfe
nur in Staaten ausgetragen werden, die den Ansprüchen von Menschenrechten
und westlicher Demokratie entsprechen. Damit würde jedoch die Zahl der qualifizierten
Veranstalter auf eine extrem bescheidene Anzahl der sogenannten Völkerfamilie
reduziert. Das Atlantische Bündnis sollte sich nicht länger um die Erkenntnis
herumstehlen, daß nicht nur gewisse Prozeduren des Parlamentarismus ihre
Fragwürdigkeit offenbaren, sondern daß der pauschale Begriff »Demokratie«,
der im klassischen Griechenland alles andere als einen Idealzustand menschlichen
Zusammenlebens definierte, einer globalen Erosion ausgesetzt ist. Um nur ein griffiges
Beispiel zu erwähnen: In Schwarzafrika ist die tribalistische Bindung und
Verpflichtung das oberste und exklusive Gesetz politischen Kräftemessens.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 325).Bei der überwiegend
negativen Berichterstattung deutscher Politiker und Publizisten über die
Entwicklung in der Volksrepublik China dürfte neben einer schwärmerischen
Präferenz für Indien vor allem die Tatsache den Ausschlag gegeben haben,
daß Peking im Begriff steht, die Bundesrepublik wirtschaftlich und industriell
zu überholen, ihr den Rang der bedeutendsten Exportnation streitig zu machen,
auch wenn die Qualität chinesischer Produkte oft noch zu wünschen übrigläßt.
Aber auf Dauer werden sich die als beleidigte Verlierer auftretenden Industriellen
aus Europa und Amerika nicht damit herausreden können, die Erben Mao Zedongs
(Tse-tungs) seien zwar unübertreffliche Meister
der Nachahmung, aber zu eigener Kreativität nur in geringem Maße befähigt.
Mit solchen Behauptungen versucht man, unser Wissen um das erfinderische Genie
zu verdrängen, das dem Reich der Mitte zwei Jahrtausende lang gegenüber
dem Abendland einen deutlichen Vorrang verschaffte. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 325-326).Noch versteifen sich die Auguren des Westens
auf die Behauptung, daß sich der asiatische Gigant nur unter Verzicht auf
seine sozialistische Ideologie zu einer rüden Form des Frühkapitalismus
durchgerungen habe .... Inzwischen haben die völlig unerwartete Finanzkrise
des Jahres 2008 und die drohende Rezession in der Realwirtschaft die extreme
Fragilität der angelsächsisch-calvinistisch ausgerichteten Finanzkonzepte
bloßgelegt. In der breiten Öffentlichkeit des Westens kommt der Verdacht
auf, daß die jüngsten Auswüchse des spekulativen Vabanquespiels
den Anforderungen einer anfangs überschwenglich gepriesenen Globalisierung
nicht gewachsen sind. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 326).Wer
hätte vor zehn Jahren vorauszusagen gewagt, daß New York und London
das Heil ihrer Börsen in der Verstaatlichung einiger Großbanken suchen
würden, daß die unbegrenzte Wachstums-Euphorie der Friedman-Schule
und ihrer Chicago Boys mit einem Schlag recht altmodisch aussehen würde,
während eine Rückwendung zu John Maynard Keynes und seiner These des
»deficit spending« neuen Zuspruch gewänne? (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 326).Geradezu demütigend für
die europäischen Hasardeure der »New Economy« ist die Tatsache,
daß der ungebrochene Wirtschaftsaufstieg Chinas weit weniger durch die allgemeine
Ratlosigkeit und Katastrophenstimmung betroffen war als die Systeme der übrigen
großen Industrienationen. Die Bank of China ist infolge einer gewaltigen
Anhäufung us-amerikanischer Wertpapiere, Schatzanleihen und Dollarreserven
ein lebenswichtiger Partner der Vereinigten Staaten von Amerika und für eine
eventuelle Stabilisierung beziehungsweise Konsolidierung der US-Ökonomie
unentbehrlich geworden. Die Europäer sind demgegenüber auf eine zweitrangige
Position zurückgefallen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 326).Daß
das gewaltige Reich der Mitte vor Zerreißproben nicht gefeit ist, dessen
dürfte sich das Parteikollektiv des Generalsekretärs Hu Jintao, dessen
interne Spannungen selten nach außen dringen, sehr wohl bewußt sein.
Der »Drachensohn«, der gottähnliche Kaiser in der Verbotenen
Stadt, mußte stets befürchten, daß - als Folge von Naturkatastrophen,
administrativer Mißwirtschaft oder militärischen Niederlagen - das
Volk sich gegen ihn auflehnte und er selbst des »Auftrags des Himmels«
verlustig ging. Da half es ihm auch nicht, daß jedes seiner Dekrete mit
der Weisung »Zittere und gehorche!« endete. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 326-327).So war der kriegerische Tumult der »Roten
Turbane«, der im vierzehnten Jahrhundert der mongolischen Fremdherrschaft
der Yüan-Dynastie ein Ende setzte, Ausdruck der geballten Unzufriedenheit
des Volkes. Er war durch die Wühlarbeit von Geheimgesellschaften, deren Strukturen
sich unter dem Namen »Triaden« bis auf den heutigen Tag erhalten haben,
vorbereitet worden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 327).Schon
tausend Jahre zuvor hatte eine Art chinesischer »Bundschuh« der »Gelben
Turbane« die kaiserliche Herrschaft erschüttert. Für den Bestand
des Reiches stellte die kurz darauf folgende mystische Massenbewegung der »Gelben
Kopftücher« jedoch eine weit größere Gefahr dar, entsprach
sie doch einem Hang zu magischer Sektenbildung, die im Taoismus wurzelte und gegen
die Mißstände des konfuzianischen Mandarinats anstürmte.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 327).Noch im neunzehnten
Jahrhundert wäre die Mandschu-Dynastie fast vom Thron gefegt worden, als
der Bauernsohn Hong Xiuquan sich in seinem religiösen Wahn als jüngerer
Bruder Jesu Christi ausgab. Er predigte die »allgemeine Gleichheit auf Erden«,
die manche Elemente der maoistischen Zwangskollektivierung auf verblüffende
Weise vorwegnahm. Nach einer Periode unsäglicher Greuel und Massaker, die
fast fünfzig Jahre andauerte, wurde der Usurpator, der sich den Titel eines
»Himmlischen Königs des Himmlischen Reiches des Friedens« zugelegt
hatte, aus seinem Regierungssitz Nanking vertrieben. Es hatte eines Aufgebots
europäischer Söldner und Abenteurer unter dem Befehl des britischen
Generals Gordon bedurft, um die Taiping-Revolte -unter diesem Namen ist sie in
die Geschichte eingegangen -im Blut zu ersticken. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 327).Die derzeitige Staatsführung weiß,
daß die ansonsten so nüchtern und pragmatisch wirkende Rasse der Han
gegen gewaltsam ausufernde Anwandlungen mystischer, chiliastischer Hirngespinste
keineswegs gefeit ist. So läßt sich in unseren Tagen die unerbittliche
Verfolgung der Falun-Gong-Sekte erklären. Mit allen Mitteln versucht Peking
zu verhindern, daß der beachtliche Zulauf, den Falun Gong vor allem bei
der Jugend findet, sich nicht zu einer neuen pseudo-religiösen Erweckungsbewegung
ausweitet. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 328).Fremdherrschaft
ist den Chinesen nicht erspart geblieben. Aus Westen kommend, eroberten die mongolischen
Erben Dschingis Khans das Reich der Mitte und verhalfen ihm unter Kaiser Kublai
Khan zu beachtlicher Expansion. Knapp dreihundert Jahre später stürmten
die Mandschu-Horden aus Norden heran und bemächtigten sich des Pekinger Drachenthrones.
Ihre am Ende dekadente und in Palastintrigen erstickende Yüan-Dynastie wurde
erst im Jahre 1911 nach der Ausrufung der Republik durch Sun Yatsen aus der Verbotenen
Stadt vertrieben. Aber die der Han-Rasse und ihrer Zivilisation innewohnende Kraft
erwies sich als so gewaltig und überlegen, daß die Eindringlinge binnen
kurzer Zeit einer totalen Assimilation erlagen und sämtliche Bräuche
und Riten des konfuzianischen Hofes übernahmen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 328).In diesen geschichtlichen Prüfungen kam
den Chinesen zugute - so unterschiedlich ihr Aussehen zwischen der Hoang-Ho-Ebene
und den Bergen Yünans auch sein mochte, so sehr sie bislang durch diverse
Sprachbarrieren, die erst heute durch die obligatorische Einführung des Mandarin
überwunden werden, getrennt waren -, daß sie sich stets allen anderen
Völkern des Erdballs weit überlegen fühlten. Die Geringschätzung
aller Fremden macht übrigens auch vor den Europäern nicht halt, wie
jeder bestätigen kann, der gelegentlich von seiner erzürnten chinesischen
Geliebten als »redfaced Barbarian« beschimpft wurde. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 328).Man mag einwenden, daß
- um im ostasiatischen Raum zu bleiben- die Vietnamesen mit ähnlicher Geringschätzung
auf die artfremden Gebirgsvölker herabblicken, die sie als »Moi«,
als Wilde, bezeichneten .... Sogar die sanftmütigen Laoten suchten die ethnischen
Gegensätze ihres kleinen Mekong-Staates zu überwinden, indem sie die
fremdrassigen Meo, Yao oder Kha kurzerhand zu »Lao Theung«, Laoten
der Berghänge, deklariertenähnlich wie Atatürk im femen Anatolien
aus seinen kurdischen Untertanen »Bergtürken« gemacht hatte.
Die entscheidende Differenz besteht allerdings darin, daß sich der Superioritätskomplex
der Han auf die ganze übrige Menschheit erstreckt und sie zu potentiellen
Vasallen ihrer riesigen Einzigartigkeit herabstuft. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 328-329).Das törichte Gerede von der »gelben
Gefahr« hat vor allem in USA neue Aktualität gewonnen. Wie sähe
sie wohl aus, die chinesische Weltherrschaft, die manche Phantasten bereits an
die Wand malen? Eine »Pax Sinica« würde vermutlich kaum länger
dauern als die »Pax Americana«, die gerade zu Ende geht. Sie böte
auch keinerlei Gewähr dafür, daß sich unter ihrer Ägide eine
harmonische Konvivialität und eine für alle ersprießliche Zukunft
einstellen würde. Aber hüten wir uns vor den Schimären des verstorbenen
Kaisers Wilhelm II. (gemeint ist dessen sogenannte »Hunnenrede«;
HB). (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 329).
Für
politische Informationsgespräche in Peking blieb nicht viel Zeit nach den
Umbuchungen, die ich vorgenommen hatte. Ich tröstete mich damit, daß
ich jenseits der üblichen Freundschaftsbeteuerungen über den Rüstungsstand
der Volksbefreiungsarmee ohnehin nichts Relevantes erfahren hätte. Die in
Peking akkreditierten Verteidigungs-Attaches des Westens werden systematisch von
jeder realistischen Einschätzung abgeschirmt oder ganz gezielt mit falschen
Angaben gefüttert. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 329).Ich
bat das Hotelpersonal, die Telefonnummer eines alten Kollegen aus der Zeit des
us-amerikanischen Vietnamkrieges ausfindig zu machen, eines englischen »Schlachtrosses«,
dessen profunde Kenntnis des Femen Ostens mich stets beeindruckt hatte. Seine
Heirat mit einer Singapur-Chinesin hatte ihm auch einen Zugang zur chinesischen
Mentalität verschafft, die den meisten Ausländern verschlossen ist.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 329-330).Nach Erreichen der
beruflichen Altersgrenze war Derrick Turner als Freelancer in Peking geblieben.
Der joviale, immer noch robuste Engländer stand im Ruf, für den britischen
Auslandsdienst MI6 eine wertvolle Nachrichtenquelle zu sein. Nach längerem
Suchen entdecke ich sein diskretes Büro in einem der monströsen Hochhäuser,
deren Spitze in der gelben Dunstglocke der Hauptstand verschwindet. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 330).Nichts verbindet so sehr wie
gemeinsame Erlebnisse auf exotischen Schlachtfeldern. Wir sind beide gealtert,
aber die Herzlichkeit ist schnell wiederhergestellt. Derrick gehört zu jener
Kategorie von »gentlemen adventurers«, die heute kaum noch anzutreffen
ist und für die nachwachsende Generation so fremd bleibt wie Kiplings »Der
Mann, der König sein wollte«. Seine chinesische Ehefrau Suey serviert
uns lächelnd und diskret den Tee und verzieht sich dann in ihre Wohngemächer.
»Es ist seltsam«, bemerkt Derrick, »daß ich eine ganze
Reihe von Europäern und Amerikanern getroffen habe, die mit Töchtern
der Han-Rasse verheiratet und im allgemeinen damit recht gut gefahren sind. Hingegen
sind mir kaum chinesische Männer bekannt, die eine Weiße geehelicht
haben.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 330).Wir
erwähnen beiläufig die rassischen Vorurteile, die bei den »Himmelssöhnen«
mindestens so weit verbreitet sind wie im Westen. Während ich mich in dicht
gedrängten asiatischen Massen niemals durch Körpergeruch belästigt
fühle, nehmen die Chinesen bei den Weißen spezielle Ausdünstungen
wahr. Derricks Frau Suey hatte im Scherz erwähnt, daß ihr Mann ähnlich
rieche wie ihr heißgeliebter Hund Dragon, bei dem man stets auf der Hut
sein müsse, daß er nicht als Leckerbissen in einem chinesischen Kochtopf
enden werde. Für andere Töchter der Han-Rasse, so hatte ich erfahren,
schmecke der Weiße irgendwie nach Milch oder Butter. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 330).Nachdem Suey die Teekanne durch eine Whiskyflasche
ersetzt hat - glücklicherweise verzichtet Derrick auf Gin and Tonic, das
Standardgetränk englischer Journalisten, das sie in riesigen Gläsern
in sich hineinzuschütten pflegen -, kommen wir zur Sache. »Sehr nützlich
kann ich dir mit meinen Kenntnissen über die chinesischen Rüstungsfortschritte
nicht sein«, gesteht der englische Kollege. »Aus reiner Freundlichkeit
bin ich vor ein paar Wochen zu einem großen Manöver eingeladen worden,
bei dem ansonsten nur die Militärattaches der diversen Botschaften zugelassen
waren. Die Volksbefreiungsarmee hat uns bei dieser Gelegenheit mit aller Deutlichkeit
zu spüren gegeben, daß sie sich nicht in die Karten schauen läßt.
Die donnernden Übungen, die uns dort mit fingierten Panzerschlachten und
Artillerieduellen vorgeführt wurden, waren so altertümlich und konventionell,
als gelte es, noch einmal die Armee Tschiang Kaischeks und seiner Kuomintang zu
besiegen. Von irgendeiner Anpassung an den asymmetric war der Gegenwart
war jedenfalls keine Spur zu entdecken.« (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 331).Hingegen ist dem englischen Kollegen von us-amerikanischer
Seite eine Studie zugespielt worden, die vor einem dramatischen Machtverfall der
USA warnt, falls es dem Pentagon nicht gelänge, im Verbund mit den Streitkräften
der Indischen Union ein Gegengewicht zu den Ambitionen Chinas herzustellen. Nun
neigen die us-amerikanischen Chiefs-of-Staff seit langem dazu, das zunehmende
militärische Gewicht Pekings ins Gigantische zu steigern, um für den
eigenen maßlosen Kreditbedarf die Zustimmung des US-Kongresses zu erlangen.
Derrick erscheint der vorliegende Situationsbericht dennoch interessant, weil
er das strategische Schwergewicht vom Atlantik und sogar vom Pazifik weg auf die
Fluten des Indischen Ozeans verlagert. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 331).Das Dokument »Marine Corps Vision and Strategy 2025«
betont diese Umschichtung mit Nachdruck. Natürlich wird in diesem Zusammenhang
auf jene gewaltige Armada verwiesen, die im vierzehnten Jahrhundert zur Zeit der
Ming- Dynastie mit ihren riesigen Dschunken alle verfügbaren Flotten jener
Zeit bei weitem überragte. Unter dem Befehl des Eunuchen-Admirals Zheng He
übte sie die absolute Seeherrschaft zwischen China und Indonesien, Sri Lanka
und dem Persischen Golfbis hin zur Ostküste Afrikas aus. Die Vormachtstellung,
über die die USA auf sämtlichen Ozeanen noch verfügten, sei zeitlich
ebenso begrenzt wie die Allmacht der britischen Royal Navy, die heute eine geringere
Feuerkraft aufzubieten habe als die französische Marine Nationale. Die Zahl
der us-amerikanischen Kriegsschiffe sei seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von
1600 auf etwa 300 geschrumpft. Dem stehe eine rasante Vermehrung der chinesischen
Flotte gegenüber. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 331-332).Die
Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes in Washington würden
zweifellos weit übertreiben, so meint Derrick, wenn sie der Volksrepublik
China binnen einer Dekade eine erdrückende maritime Überlegenheit zutrauen.
Vor allem der Erwerb von U-Booten übertreffe jedoch das entsprechende us-amerikanische
Potential um das Fünffache. Dazu geselle sich eine formidable Entwicklung
neuwertiger Seeminen, perfektionierter Trägerwaffen und vor allem einer ausgefeilten
Computertechnologie, die auf die Lähmung der us-amerikanischen Kommandosysteme
im Falle eines gigantischen Cyber War hinziele. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 332).Diese Kassandra-Rufe werden relativiert durch die Tatsache,
daß die chinesische Admiralität noch über keinen einzigen Flugzeugträger
verfügt. Doch die Seeschlachten der Zukunft, so vermutet der Militärexperte
Martin van Crefeld, werden nicht mehr, wie im 2. Weltkrieg, durch die stählernen
Ungeheuer der Air Force Carrier entschieden. Die Gefährdung der Flugzeugträger
durch die Entwicklung geräuschloser U- Boote dürfte deren Bedeutung
drastisch reduzieren, und der Vergleich mit den britischen Super-Schlachtschiffen
des Ersten Weltkrieges, den »Dreadnoughts«, die zu keinem sinnvollen
Einsatz gelangten, sei angebracht. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
332).Überschätzt Washington nicht die Bereitschaft Indiens,
in die Bresche zu springen, die Delhi durch den Zustand US-Amerikas als »slowly
declining hegemon« zugewiesen wird? Kann Indien ein neues militärisches
Schwergewicht bilden in einer »post-us-american world«? Die forschen
Aussagen des indischen Planers Raja Mohan aus dem Jahr 2006 klingen recht anmaßend,
wenn er vorgibt: »Indien hat niemals auf eine us-amerikanische Erlaubnis
gewartet, wenn es galt, ein Gegengewicht zu China zu bilden.« (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 332-333).Derrick Turner ist vor
einer Landkarte Asiens stehengeblieben, die eine ganze Wand seines Büros
ausfüllt. Er äußert sich als erfahrener Beobachter, wenn er von
den allzu theoretischen Spekulationen der Militärakademien auf seine persönliche,
frontnahe Erfahrung zurückgreift. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 333).»Ist dir eigendich aufgefallen, daß seit dem
Triumph der Alliierten über Deutschland und Japan kein einziger Krieg mehr
nachhaltig gewonnen wurde?« doziert er. »Nirgendwo, nicht einmal
in den belanglosen Scharmützeln von Somalia, beim gescheiterten Blue-Strike-Unternehmen
im Iran, bei der dilettantischen Landung in Suez im Jahr 1956, beim Einsatz der
Contras in Nicaragua - von dem Debakel Kennedys in der kubanischen
Schweinebucht ganz abgesehen - ist es den beiden Supermächten und ihren Trabanten
gelungen, einen dauerhaften militärischen Erfolg an ihre Fahnen zu heften.
Selbst die Israeli stolpern seit dem fatalen Rückschlag des Yom-Kippur-Krieges
von einer Fehlentscheidung zur anderen.« (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 333).Im Bodenkampf, so kommen wir überein, habe sich im
Südlibanon, im Irak, in Afghanistan längst bestätigt, daß
die konventionelle Kriegführung der NATO-Stäbe, aber auch Rußlands
und Israels, mit der Abnutzungsstrategie, die den Kern des »asymmetrischen
Krieges« bildet, nicht zurechtkommt. Die ungeheuerliche Durchschlagskraft
neuer Monsterbomben, inklusive der »bunker buster«, hat sich sowohl
im Hindukusch als auch im levantinischen Küstengebiet als untauglich erwiesen,
die El-Qaida- Truppe Osama bin Ladens oder die Hizbollah des Scheikh Nasrallah
in irgendeiner Weise zu zermalmen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
333-334).Der klarsichtige Professor van Crefeld ... zitiert den
Nordvietnamesen Truong Chinh als Kronzeugen einer erfolgreichen Guerrilla. Bei
diesem Gefahrten Ho Tschi Minhs heißt es: »Das Leitprinzip der Strategie
unseres gesamten Widerstands muß es sein, den Krieg in die Länge zu
ziehen. Den Krieg zu verlängern ist der Schlüssel zum Sieg. Warum muß
der Krieg verlängert werden? Weil es offensichtlich ist, wenn wir unsere
Kräfte mit denen des Feindes vergleichen, daß der Feind noch stark
ist und wir noch schwach sind. Wenn wir unsere ganzen Truppen in wenige Schlachten
werfen und versuchen, die Entscheidung zu erzwingen, dann werden wir mit Sicherheit
geschlagen werden, und der Feind wird siegen. Wenn wir auf der anderen Seite unsere
Kräfte bewahren, sie ausweiten, unsere Armee und das Volk ausbilden, militärische
Taktiken lernen und gleichzeitig die feindlichen Kräfte zermürben, dann
werden wir sie so sehr demoralisieren und entmutigen, daß sie, so stark
sie auch sein mögen, schwach werden und die Niederlage sie erwartet, nicht
der Sieg.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 334).Ähnlich
hatte sich Henry Kissinger geäußert, von dem man erhofft hätte,
daß er den zunehmend sinnlosen Einsatz der NATO in Afghanistan mit Kritik
überzöge: »Die Ordnungskräfte«, so argumentierte der
ehemalige Außenminister Richard Nixons, »die Ordnungskräfte verlieren,
weil sie nicht gewinnen. Rebellen hingegen gewinnen dadurch, daß sie nicht
verlieren. Das trifftweitgehend zu, ob die Täter nun Weiße oder Schwarze
sind, traditionalistisch oder modern, kapitalistisch oder sozialistisch und so
weiter. Es gilt auch unabhängig davon, ob es sich um gottesfürchtige
Amerikaner oder um atheistische Kommunisten handelt.« (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 334).Mein Freund Turner hält plötzlich
inne. Er hat sich zu einer Mitteilsamkeit hinreißen lassen, die für
ihn ganz ungewohnt ist. »Der Arzt hat mir mit Rücksicht auf den hohen
Blutdruck von Whisky dringend abgeraten, und jetzt erlebst du meine Geschwätzigkeit.
Aber mit wem soll ich mich denn noch aussprechen? Etwa mit unseren Militärexperten,
die krampfuaft versuchen, auf den Niedergang unseres Empire mit der ihnen anerzogenen
stiff upper lip zu reagieren? Oder mit einer Crew jüngerer Fernost-Reporter,
die sich auf Geheiß ihrer Chefredakteure am allgemeinen Chinabashing
beteiligen?« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 334-335).Es
sei doch ein schändlicher Witz, daß an einer Schlüsselstellung
internationaler Seefahrt, im Golf von Aden, vom Bab-el-Mandeb bis zum Archipel
der Komoren eine lächerliche Fischereiflotte somalischer Hungerleider mit
ihren brüchigen Schlauchbooten allein im Jahr 2008 annähernd 100 Handelsschiffe
und Tanker attackiert und 35 von ihnen ohne nennenswerte Gegenwehr mit ein paar
Kalaschnikovs gekapert hätten. Inzwischen hat sich eine internationale Streitmacht
ungewöhnlichen Ausmaßes, darunter auch zwei chinesische Fregatten,
dort eingefunden, und eines Tages werde es dieser Koalition wohl gelingen, dem
Spuk dieser primitiven Korsarenmannschaft ein Ende zu bereiten. Aber welcher Blamage
habe der Westen sich dort ausgesetzt! (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 335).Am Beispiel der somalischen Freibeuter lasse sich ermessen,
welche Katastrophe über die US Navy hereinbrechen könnte, wenn das Pentagon
sich zu einem Militärschlag gegen die Islamische Republik Iran aufraffen
würde. Die perfektionierten, mit Sprengstoff gefüllten Schnellboote
der Revolutionswächter, der Pasdaran, die nur darauf warten, als Märtyrer,
als »Schuhada«, in die Gärten Allahs einzugehen, würden
in der schmalen Fahrrinne von Hormuz die weitaus wichtigste Erdölversorgung
des Westens zum Erliegen bringen, ganz zu schweigen von dem Raketenhagel, der
über den Petroleumfeldern und Raffinerien Kuwaits, Saudi-Arabiens und der
Emirate niedergehen würde. Ob es wirklich so weit kommen wird, wie es der
us-amerikanische Kommentator Robert D. Kaplan beschreibt: »Zum ersten Mal
seit dem Eindringen der Portugiesen in den Indischen Ozean im frühen sechzehntenjahrhundert
befindet sich hier die Macht des Westens in einem Zustand des Niedergangs.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 335-336).In Zukunft werden
die Inder und die Chinesen in diesen Gewässern ihre dynamische Großmacht-Rivalität
austragen.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 336).Mein
englischer Gefährte hat das neu gefüllte Glas erhoben. »Ich bin
kein törichter Nostalgikervon Empire-Größe«, meint er, »und
neige nicht dazu, historische Tränen zu vergießen. Aber ich muß
dir gestehen, daß mich jedes Mal auf dem Höhepunkt des Londoner Concert
of the Proms Wehmut überkommt, wenn die Hymne angestimmt wird: Rule
Britannia, Britannia rule the waves.« (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 336).Suey hat unserem Austausch sehr aufmerksam
zugehört. Sie streicht sich eine graue Strähne aus der Stirn und lächelt
uns zu. »Ich bin ja froh, daß ihr wenigstens darauf verzichtet habt,
eure Erlebnisse aus dem Vietnamkrieg wieder aufzuwärmen.« Liebevoll
beugt sie sich über Derrick, dessen Gesicht unter der Einwirkung des Whiskys
tatsächlich die Farbe eines »red lobster« angenommen hat. - »Do
not listen to him«, scherzt Suey, »he is a silly old man.« »So
am I«, füge ich hinzu und umarme sie freundschaftlich. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 336).
Im
trügerischen Gewand der kommunistischen »Völkerverbrüderung«
war die russische Überfremdung angetrieben worden. In Moskau hatte mir ein
Kollege , der Kasachstan bereist hatte, von der Verachtung der Russen für
die Asiaten erzählt. »Die Asiaten werden als Neger oder Schwarzärsche
bezeichnet und von den Slawen stets geduzt«, hatte er mir gesagt.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 348).Rassisch gemischte Brautpaare
entdecke ... ich nicht. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 349).Sankt
Petersburg verfügte - entgegen allen feierlichen Abmachungen - die Rekrutierung
junger kasachischer Männer in die berüchtigten Arbeitsregimenter ....
Als die Nomaden-Clans sich dagegen auflehnten und zum offenen Widerstand übergingen,
fand eine gnadenlose Strafaktion statt, die die kasachische Bevölkerung um
ein Fünftel reduzierte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 351).Nach
dem Sturz der Romanov-Dynastie war es Stalin, der den Horror auf die Spitze trieb,
als er nach dem Scheitern diverser bolschewistischer Kollektivierungskampagnen,
die mittels »Roter Karawanen« oder »Roter Jurten« veranstaltet
wurden, Mitte der 1930er Jahre die Seßhaftmachung, die Sedentarisierung,
der Hirten und Viehzüchter anordnete. Ein Drittel der einheimischen Bevölkerung
dürfte dem Terror, der die Form eines Genozids annahm, zum Opfer gefallen
sein. Die Viehbestände verringerten sich um achtzig Prozent. Eine halbe Million
Kasachen flüchteten nach China. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 351).Der Zustrom russischer Neusiedler wurde von Moskau systematisch
betrieben. Die Immigration erreichte in den fünfziger Jahren ihren Höhepunkt,
als Nikita Chruschtschow die Steppe Nordkasachstans - nach der Ukraine - in die
zweite große Kornkammer der Sowjetunion umwandeln wollte. Die Vergewaltigung
von Natur und Mensch vollzog sich unter hochtrabenden Parteiparolen, die das neue
Kasachstan als »Laboratorium der Völkerfreundschaft«, als »Planet
der hundert Sprachen« priesen. Am Ende dieses Leidensweges stellten die
authentischen Kasachen nur noch eine Minderheit von 29 Prozent in ihrer eigenen
Heimat dar. Die Russen hingegen waren in der Überzahl. Ein Jahrhundert zuvor
hatte der kasachische Bevölkerungsanteil noch bei neunzig Prozent gelegen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 351).Die tanzenden Paare
waren säuberlich nach Rassen getrennt. Muslimische Sowjetbürger laden
gelegentlich pralle, blonde Russinnen ein. Nur ausnahmsweise tanzte ein Slawe
mit einer Asiatin. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. )352.Viele
dieser gebirgsstämme hatten die deutsche Wehrmacht im Frühsommer 1942
als Befreier begrüßt und mit ihr zusammengearbeitet. Die Tschetschenen
und Inguschen seien daraufhin 1944 von Stalin ebenso ausgesiedelt worden wie die
Volksdeutschen drei Jahre zuvor. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 354).In
Tadschikistan, wo die alten Kommunisten, »Kulabi« genannt, einen Ausrottugsfeldzug
gegen Demokraten und Islamisten mit russischer Unterstützung angezettelt
hatten, seien Folterungen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. ).Nunmehr haben die milliardenschweren
Oligarchen das Sagen. .... Im »Rahat Palace« ist die Mafia nicht nur
zugegen, sie ist allgegenwärtig. .... Die Suiten, so erfahre ich, sind samt
und sonders von Mafiabossen und ihren »Gorillas« belegt. Ich bin wohl
der einzige Gast, der sich keinen Bodyguard leistet. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 369).»Die Kriminalität hat unbeschreibliche
Ausmaße angenommen«, warnt er. »Die früheren Sicherheitssorgane
des KGB sind von Gewalttätern unterwandert. Es passiert immer wieder, daß
Menschen umgebracht werden, um ihnen die Nieren zu rauben. Mit Transplantationen
läßt sich sehr viel Geld verdienen.« (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 374).
Erst
um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurde Rußland vom Alptraum des Tatarenjochs
erlöst .... (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 382).Im
Westen und im Kaukasus ist Rußland heute auf die demütigenden Territorialverluste
des Friedens von Brest-Litowsk zurückgeworfen, der en Bolschewiki noch zu
Beginn des Jahres 1918 von dem Kaiserreich Wilhelms II. aufgezwungen wurde (im
Vergleich zum späteren Versailler
Diktat war der Vertrag von Brest-Litowsk sogar ein Freundschaftsvertrag; Anm
HB). (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 383).In
Fernost hat die chinesische Volkrepublik den (flächenmäßig!)
gigantischen russischen Nachbarn, der um 1900 im Begriff stand, dem Reich der
Mitte weitere riesige Landfetzen zu entreißen, als zweite Weltmacht bereits
überflügelt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 383).Der
besorgte Blick Moskaus richtet sich aber vor allem auf das islamische Aufbegehren,
eine türkisch-mongolische Wiedergeburt, die unter berufung auf den Heiligen
Koran düstere Erinnerungen an das »Tatarenreich« von einst in
Erinnerung ruft. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 383).Dieser
Experte wußte, daß innerhalb der imemr noch (flächenmäßig!)
gewaltigen russischen Föderation etwa 25 Millionen Mulime lebten, deren nationale
Ansprüche über kurz oder lang - zumal in den autonomen Republiken Tatarstan
an der Wolga und Baschkortastan am Ural - durch die sich abzeichnende religiöse
»Nahda« zusätzliche Impilse erhalten würde.Schon sammeltem
sich ja die frommen Pilgergruppen an den Ruinen von Bolgar an der Wolga, wo der
maghrebinische Weltreisende Ibn Batuta im vierzehnten Jahrhundert ein blühendes
islamischen Staatswesen vorgefunden hatte. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 383).Im Kaukasus war trotz der Gefügigkeit jener Muftis,
die von Moskau bestallt und überwacht wurden, der geheime Wunsch zu spüren,
zwischen Dagestan am Kaspischen und Abchasien am Schwarzen Meer eine Art nordkaukasisches
Kalifat zu gründen. In Kazan wiederum wölbte sich die riesige blaue
Kuppel der neuen Moschee Kul Sharif hoch über jenen goldenen Zwiebeltürmen
des Christentums .... Die wahhabitischen prdiger sind inzwischen von Bosnien bis
nach Indonesien ausgeschwärmt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
383).Primakov sah ... keinen Grund, sich der verkrampften Angstpsychose
anzuschließen, die in Amerika und Europa das Verhältnis zur Islamischen
Republik Iran belastete. Was Rußland zu befürchten hatte, war das Übergreifen
des sunnitischen Radikalismus auf die Erblande der früheren Sowjetunion in
Zentralasien, eine verzerrte Form der Salafiya, die ständig an Boden gewann.
Dort gehörte jedoch lediglich die südkaukasische Republik Aserbaidschan
mehrheidich der schiitischen Glaubensrichtung an. Die späteren Safawiden-Schahs
waren es, die im sechzehnten Jahrhundert die schiitische Auslegung der koranischen
Lehre, die »Schiat Ali«, zur Staatsreligion Persiens deklarierten.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 385).Seitdem hat sich die
erbitterte Feindschaft zu den Sunniten, die seit Selim I. den osmanischen Sultan
von Istanbul als ihren Kalifen anerkannten, ständig vertieft. Für die
rauhen Steppenvölker - seien sie nun Turkmenen oder Kasachen -, die sich
bei aller Verhaftung im Aberglauben ihrer Derwisch-Orden rühmten, rechtgläubige
Angehörige der Sunna zu sein, galten die Schiiten von Anfang an als abscheuliche
Abtrünnige vom rechten Weg Allahs, als Ketzer und »Kuffar«. Falls
Anhänger dieser auf den Imam Ali und die zwölf Imame gegründeten
Glaubensrichtung in die Hände der Nomadenhorden fielen, wurden sie entweder
zu Tode gefoltert oder als Sklaven verkauft. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 385).Aus diesem Grund hat die Russische Föderation unserer
Tage von einem schiitisch inspirierten Staatswesen wie der Islamischen Republik
Iran keinen ernsthaften konfessionellen Zusammenprall zu befürchten. Die
frommen Schiiten hingegen verharren im Haß ihrer sunnitischen Gegner und
insbesondere jener in Saudi-Arabien alles beherrschenden, extrem intoleranten
Sekte der Wahhabiten, die seit ihrem Entstehen im achtzehnten Jahrhundert die
Heiligtümer der »Partei Alis« in Nedschef und Kerbela häufig
zerstören ließ. Da auch die Terroristenorganisation EI Qaida in der
Korandeutung des Wahhabismus wurzelt, ein Radikalismus, der auch auf die Taleban
Afghanistans übergreifen sollte, kann es keine Gemeinsamkeit geben zwischen
Osama bin Laden und seinen Gefolgsleuten mit den Mullahs von Teheran. Dieser Gegensatz
steigerte sich sogar nach dem iranisch-irakischen Golfkrieg zu glühendem
Haß. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 385).Wenn
also eines Tages eine militante sunnitische Form des Islam auf Usbekistan, Kirgistan,
Turkmenistan übergreifen sollte, wofür ein von den Taleban beherrschtes
Afghanistan die ideale Ausgangsbasis böte, dann könnte Rußland
zumindest auf ein stillschweigendes Einvernehmen, wenn nicht auf aktive Komplizenschaft
mit jenem Khomeini-Staat zurückgreifen, der sogar den US-Amerikanern zu Beginn
der Operation »Enduring Freedom« eine lockere Zusammenarbeit gegen
die »Koranschüler« und deren dumpfen Obskurantismus angeboten
hatte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 385).Für
Moskau wäre eine iranische Atombombe weniger furchterregend als das nukleare
Potential, das bereits in den Arsenalen Pakistans lagert. Sollte sich dort eines
Tages das befürchtete Chaos einstellen und Islamabad die Kontrolle verlieren,
dann könnten sich verfeindete Fraktionen der Atombombe als ultima ratio
ihrer Auseinandersetzungen bedienen. Der Westen, so hatte ich in Moskau erfahren,
wird also auf vorsichtige Zurückhaltung stoßen, falls er bei den Russen
eine tatkräftige Unterstützung gegen Teheran sucht und gegen die atomare
Aufrüstung des Iran mit verschärften Sanktionen oder - auf Drängen
Israels - sogar mit militärischen Präventivschlägen vorgehen sollte.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 385).Der weitgehend säkularisierte
Westen ist offenbar nicht mehr in der Lage, diese tiefgreifenden mythischen Gegensätze
des Orients zu begreifen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 386).
Die
zunehmende Gewalttätigkeit gehe im wesentlichen vom Fergana-Tal aus, wo gleich
vier Staaten - Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan - aufeinanderstoßen.
In letzter Zeit sei die überlieferte Feindseligkeit zwischen den Kirgisen,
die mehrheitlich im Norden der Republikvon Bischkek siedeln, und den Uiguren,
die im südlichen Umfeld von Osch für Unruhe sorgen, wieder vehement
aufgeflammt. Seit der Präsident Usbekistans, Islam Karimov, vor vier Jahren
unter den meuternden Einwohnern der Stadt Andijan ein Blutbad anrichtete, hätten
zahlreiche Islamisten dieser Region in der kirgisischen Nachbarschaft Zuflucht
gesucht. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 397).Ich erwähne
einen früheren Besuch in der Fergana-Ortschaft Namangan, die als traditionelles
Zentrum religiöser Auflehnung unter besonders strenger Überwachung durch
den Repressionsapparat des ehemaligen Parteisekretärs Karimov steht. Die
jungen Mudjahidin aus Usbekistan, die sich in der »Partei der Befreiung
Hizb-e-tahrir« sammeln, hatten - auf seiten der Taleban kämpfend -
bei den us-amerikanischen Flächenbombardements von 2001 in ihren Abwehrstellungen
rund um Kundus schwere Verluste erlitten. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 398).Die Überlebenden und Neuanhänger haben sich seitdem
in den unzugänglichen Stammesgebieten Nordpakistans neu gruppiert. Emissäre
der koranischen Revolution sind neuerdings auch in Kirgistan aktiv. Zusätzliche
Spannungen gehen von Tadschikistan aus. Dort seien die Wunden des fürchterlichen
Bürgerkrieges, der zwischen Exkommunisten und Islamisten, zwischen den Clans
der Kulabi und der Gharmi getobt hatte, längst nicht verheilt. In gewissen
Gebirgsfestungen hätten sich bereits Inseln des Widerstandes gegen das Regime
des Altkommunisten Rachmonow formiert. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 398).»Die Gefahr chaotischer Zustände in Tadschikistan
sollte den Deutschen zu denken geben«, betont Francis und zeigt auf eine
Landkarte. »Der von der Bundeswehr abgesicherte Sektor Nordafghanistans
ist von dem neuen Unruheherd in Tadschikistan nur durch den Flußlauf des
Pjandsch getrennt, und dann sind noch knapp fünfzig Kilometer vorzüglicher
Asphaltstraße zurückzulegen, um zu dem neuralgischen Punkt der deutschen
Armeepräsenz, zum Stützpunkt von Kundus, vorzudringen.«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 398).Ich hatte diese Strecke,
deren Ausbau durch chinesische Kontraktfirmen durchgeführt wurde, noch drei
Jahre zuvor befahren, ohne an eine spezielle Gefährdung durch Taleban-Überfälle
zu denken. Aber das hat sich wohl seitdem gründlich geändert, und bei
der exzessiven Behutsamkeit, die sich die Bundeswehr in ihrem Sektor zwischen
Masar-e-Scharif und Faizabad auferlegt, dürften nur noch in Ausnahmefällen
gepanzerte Konvois mit dem Balkenkreuz entlang dieser strategisch eminent wichtigen
Grenzzone patrouillieren. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 398).Wer
erinnert sich heute noch daran, daß seinerzeit die fanatischen und finsteren
Horden der Taleban durch die kombinierte Aktion der USA und Pakistans ins Leben
gerufen wurden? Den unersättlichen Ölkonzernen und ihren Lobbys war
es in erster Linie darum gegangen, eine Stabilisierung der internen Verhältnisse
Afghanistans zu erwirken, wo die diversen Mudjahidin-Fraktionen nach Abzug der
Sowjetarmee in eine unbeschreibliche Anarchie abgeglitten waren. Die Bush-Administration
war bereit, die schlimmsten Auswüchse des islamischen Fundamentalismus am
Hindukusch in Kauf zu nehmen, wenn ihr als Gegenleistung ausreichend Sicherheit
geboten würde, um den Transport der immensen ÖI- und Gasreserven Zentralasiens
an Rußland und Iran vorbei durch afghanisches Territorium über Herat
und Shindand bis zu den pakistanischen Häfen am Indischen Ozean zu gewährleisten.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 399).Das Abkommen
zwischen Mullah Omar, dem Emir der Koranschüler, und dem US-Konzern Unocal
war in Kandahar reif zur Unterschrift, und niemand fragte damals danach, ob die
Frauen Afghanistans weiterhin die Burka tragen würden und ob die einheimische
Bevölkerung einer exzessiven Auslegung der Scharia ausgeliefert sein würde.
Diverse anti-us-amerikanische Anschläge der mit den Taleban verbündeten
Organisation EI Qaida, die in der Tragödie von »Nine Eleven«
gipfelten, hatten dieser skrupellosen Planung ein radikales Ende bereitet.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 399).Dem us-amerikanischen
Geheimdienst war es in Zusammenarbeit mit obskuren NGOs und diversen Agentengruppen
gelungen, durch sorgfaltig geplante Verschwörung und unter dem fadenscheinigen
Vorwand der Demokratie und der Menschenrechte die »Rosen-Revolution«
Georgiens und die »Orange-Revolution« der Ukraine zu inszenieren.
Neokonservative Kreise in Washington hatten versucht, die in der gebirgigen Einsamkeit
Asiens isolierte Republik Kirgistan ebenfalls zu einer us-amerikanischen Einflußzone
zu gestalten und auf die us-amerikanischen Vorstellungen von »Nation Building«
auszurichten. Was wirklich die us-amerikanische Diplomatie bewogen hatte, ausgerechnet
in Kirgistan die sogenannte »Tulpen-Revolution« auszulösen und
den Präsidenten dieser Republik, den Kirgisen Askar Akajew, zu stürzen,
der als einziger der dortigen Potentaten kein prominentes Mitglied der sowjetischen
Führungsclique, ja nicht einmal Mitglied der Kommunistischen Partei war,
bleibt ungewiß. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 399-400).Bei
ihrem Drang, zusätzliche Positionen zu okkupieren, die einerseits die Russen
auf die ihnen verbliebene Föderation zurückgedrängt, andererseits
die Chinesen einer systematischen Einkreisung aus allen Himmelsrichtungen ausgesetzt
hätten, waren die us-amerikanischen Emissäre auch in Usbekistan rigoros
vorgegangen. Sie hatten sich dabei den Zorn und das Mißtrauen des Tamerlan-Verehrers
Islam Karimow zugezogen, der sich immerhin auf eine Masse von 25 Millionen Untertanen
stützen konnte (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 400).In
Kirgistan, wo die US Air Force über die Basis Manas verfügte, mag ihre
Forderung, eine zusätzliche Awacs- Überwachung für die ganze Region
einzurichten, den ansonsten recht verträglichen Staatschef Akajew mit Rücksicht
auf das immer noch beachtliche Gewicht Moskaus zu einer schroffen Ablehnung veranlaßt
haben. Daß dieser ehemalige Präsident der Akademie der Wissenschaften,
der auch im Ausland ein gewisses Ansehen hatte, in einen Sumpf familiärer
Korruption verstrickt war, daß er sich an den öffentlichen Finanzen
schamlos bereicherte, hätte niemand schockieren dürfen, denn in dieser
Hinsicht wurde der Kirgise von seinen Kollegen weit übertroffen. Wie dem
auch sei, es kam in Bischkek zur »Tulpen-Revolution«. Plündernde
Banden meist usbekischer Herkunft fielen über die Hauptstadt her und verwüsteten
deren Zentrum. Die Polizei erwies sich als machtlos, und Akajew flüchtete
nach Moskau. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 400-401).Als
Nachfolger im Präsidentenamt riß im Jahr 2005 der robuste Intrigant
Kurmanbek Bakijew, halb Kirgise, halb Usbeke, die Macht an sich. Ob die US-Amerikaner
mit diesem Wechsel eine sehr glückliche Wahl getroffen hatten? Was Bestechlichkeit,
Veruntreuung von Staatsgeldern und Ausbau einer raffgierigen Mafia angeht, so
übertraf Bakijew seinen unglücklichen Vorgänger bei weitem. Pro
forma ließ er zwei Oppositionsparteien zu, aber als es im Dezember 2007
zu Parlamentswahlen kam, sorgte er dafür, daß seine Fraktion, »Ak-Zhol«,
das heißt »Heller Pfad«, über sämtliche Abgeordnetensitze
verfügte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 401).Seinen
us-amerikannischen Gönnern spielte er einen üblen Streich, indem er
ihnen plötzlich die Nutzung des Luftwaffenstützpunktes Manas am Rande
der Hauptstadt Bischkek entzog. Hinter dieser Geste patriotischer Auflehnung wurde
der Einfluß Moskaus vermutet, wo man der US-Präsenz einen Riegel vorschieben
wollte. In Wirklichkeit ging es Bakijew vermutlich um die Aufbesserung seines
Budgets, denn wenig später fand er sich zu einem Kompromiß mit dem
Pentagon bereit; die Pachtgebühren für Manas, das nunmehr offiziell
zum »Transit Center« herabgestuft wurde, wurden schlicht und einfach
verdreifacht. Die Masse der kirgisischen Bevölkerung, die in Ermangelung
einträglicher Rohstoffvorkommen in Armut lebt, dürfte davon jedoch nur
in geringem Maße profitieren. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
401).In diesem rauhen Gebirgsland, von dem die meisten Europäer
nicht einmal den Namen kennen, kam es nunmehr zu einer seltsamen militärischen
Koexistenz zwischen USA und Rußland. Die Russen verfügten nämlich
ihrerseits - etwa vierzig Kilometer von Bischkek entfernt - über die Basis
»Kant« und standen im Begriff, im äußersten Süden,
am Rande des turbulenten Fergana-Beckens, einen zusätzlichen Stützpunkt
für ihre Streitkräfte einzurichten. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 401).Die Präsenz von islamistischen Partisanen im Rascht-Tal,
das Kirgistan und Tadschikistan verbindet, das bedrohliche Auftauchen eines Kommandeurs
des Heiligen Krieges, des Mullah Abdullah, der längs der Nordgrenze Afghanistans
ein Sammelsurium von Usbeken, Kirgisen, Tadschiken und auch Arabern für eine
neue Phase gewaltsamer Auflehnung zusammentrommelt, läßt bei den regierenden
Despoten der GUS-Republiken Befürchtungen um die Stabilität ihrer Länder
und das Überleben ihrer autokratischen Regime aufkommen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 401-402).Francis richtet seinen Zeigestock auf
das Rascht-Tal. »Hier vergeht kein Tag ohne blutige Zwischenfälle«,
kommentiert er, »und vielleicht haben US-Amerikaner und Russen endlich begriffen,
daß es töricht und zutiefst schädlich für die eigenen vitalen
Interessen wäre, wenn sie ihre Querelen um den Besitz von Erdöl und
Erdgas auf die Spitze trieben.« (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 402).»Werfen Sie einen Blick
auf die deutschen Positionen in Afghanistan und vor allem auf Kundus, wo die Bundeswehr
offenbar in Bedrängnis gerät«, wendet er sich an mich. »Einer
Ihrer Verteidigungsminister hat doch einmal erklärt, Deutschland würde
am Hindukusch verteidigt. Offenbar hat dieser Mann nie einen Blick auf die Landkarte
Asiens geworfen. Nicht Deutschland, sondern Rußland, dessen Sicherheitsvorfeld
bis zum Amu Daria reicht, wäre durch die Machtergreifung der Taleban oder
anderer islamischer Extremisten in Kabul unmittelbar bedroht. Ein ausufernder
Jihad Richtung Norden könnte sich, wenn wir unsere Phantasie spielen lassen,
wie ein Flächenbrand bis zum Ural, ja bis zur Wolga fortpflanzen, von der
Situation am Kaukasus, wo ein schleichender Bürgerkrieg bereits im Gange
ist, ganz zu schweigen.« (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 402).Von
Anfang an, so fügt Francis mit bemerkenswerter Offenheit hinzu, habe er sich
gewundert, aus welchen Gründen Barack Obama das strategische Schwergewicht
US-Amerikas aus dem Irak nach Afghanistan verlagern und die dortige Truppenpräsenz
massiv verstärken wolle. Noch schwerer sei die Einrichtung eines AFPAK -Kommandos
unter Richard Holbrooke zu erklären, das die Gefahr heraufbeschwöre,
die unberechenbare Masse von 170 Millionen Pakistani, deren Armee zudem über
die bislang einzige islamische Atombombe verfügt, in diesen aussichtslosen
Feldzug »Enduring Freedom« einzubeziehen. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 402).»Wann wird man in Washington begreifen,
daß Afghanistan landlocked und in sich selbst verkapselt - allenfalls
ein Nebenkriegsschauplatz ist? Wann wird man in Langley zu der Erkenntnis gelangen,
daß die Tragödie von Nine Eleven kein afghanisches, sondern
ein überwiegend saudisches Unternehmen war, auch wenn Osama bin Laden sich
zu diesem Zeitpunkt in irgendeiner Felshöhle des Hindukusch aufhielt?«
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 403).Ich muß an einen
Kommentar der International Herald Tribune denken, wo man das sich steigernde
Engagement Barack Obamas in Afghanistan mit dem vietnamesischen »quagmire«
verglich, in dem Lyndon B. Johnson gescheitert war. Auch in Vietnam hatte die
Strategie des General Westmoreland zwischen den beiden unvereinbaren Alternativen
der »counter-insurgency« geschwankt, zwischen »search and destroy«
und »clear and hold«. Auch am Mekong hatten sich die US-Strategen
- ähnlich wie heute die durchaus fähigen Generale Petraeus und McChrystal
- immer wieder der Illusion hingegeben, es sei möglich und unverzichtbar
»to win hearts and minds« -die Herzen und die Gemüter der exotischen
Bevölkerung zu gewinnen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 403).Das
war in Vietnam gründlich mißlungen, und in Zentralasien kam erschwerend
hinzu, daß man es hier mit einer unerschütterlichen islamischen Glaubensgemeinschaft
zu tun hatte, für die die Präsenz bewaffneter Ungläubiger auf einem
Gebiet des »Dar-ul-Islam« einem entsetzlichen Frevel gleichkam und
die frommen Muslime zum »qital fi sabil Allah« (»Kampf auf den
Pfaden Allahs«) verpflichtete. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 403).Als ich mich verabschiede, gestehe ich Francis, daß
mich soviel kritische Freimütigkeit von seiten eines us-amerikannischen Interessenvertreters
überrascht habe. Er reagiert mit einem ironischen Lächeln. »Als
mir Ihr Besuch angekündigt wurde, habe ich mich über Ihren Werdegang
und Ihre Meinungen erkundigt«, sagt er. »Aber nehmen Sie nicht an,
daß der düstere Realismus, den ich hier vortrage, der vorherrschenden
Meinung im Weißen Haus oder im State Department entspricht. Soviel hat sich
noch nicht verändert, seit Barack Obama im Weißen Haus residiert. Seltsamerweise
sind es die hohen Militärs, die als erste dazu neigen, sich von gewissen
Wunschvorstellungen der Vergangenheit zu verabschieden.« (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 403-404).Die übrigen Erkundungen, die ich
in Bischkek einholte, waren weit weniger ergiebig als der Dialog mit dem us-amerikannischen
Institutsleiter. Für einen kirgisischenjournalisten oder Politiker wäre
es ohnehin nicht ratsam, seine Kritik an den Zwangsmaßnahmen des Bakijew-Clans
oder seine Entrüstung über die staadiche Entmündigung freimütig
zu äußern. So mancher Oppositionelle wurde eingekerkert, in einzelnen
Fällen auch durch Auftragskiller beseitigt. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 404).Ein Hauptmann der kleinen kirgisischen Armee, der gerade
einen Lehrgang in Rußland absolviert hatte, lieferte eine durchaus plausible
Analyse der russischen Einstellung zum militärischen Engagement US-Amerikas
in Afghanistan. In Moskau beobachte man mit kaum verhohlener Schadenfreude, wie
die US-Army, die sich aus purer Arroganz bei den Veteranen des sowjetischen Feldzuges
am Hindukusch niemals um irgendeinen Ratschlag oder Erfahrungsbericht über
die Tücken und Gefahren der dortigen Kriegführung bemüht hätte,
nun ihrerseits in ein vergleichbares Dilemma gerate. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 404).Bei aller Überlegenheit ihrer Waffen
seien die US-Amerikaner der psychologischen Belastung eines »war of attrition«
- eines Abnutzungskrieges - auf Dauer nicht gewachsen. Selbst beim Scheitern der
Sowjetunion habe seinerzeit die psychologische Erschlaffung den Ausschlag gegeben.
Zudem werde der Zusammenhalt der Atlantischen Allianz in diesem konfusen Unternehmen,
das zwischen der robusten Kriegführung von »Enduring Freedom«
einerseits, den behutsamen Pazifizierungsbemühungen von ISAF andererseits
hin- und herschwanke, einer fatalen Zerreißprobe ausgesetzt. Für Medwedew
und Putin könne es nur von Vorteil sein, wenn Barack Obama auf Drängen
seiner Generale die US- Truppenpräsenz im Sektor AFPAK, im Raum Afghanistan/Pakistan,
ständig verstärke und für eventuelle zusätzliche Krisenfalle
über keine ausreichenden Reserven mehr verfüge. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 404).Eine Audienz bei dem kirgisischen Außenminister
Kadyrbek Sarbajew, der dem Typus nach eher einem Tadschiken glich, blieb bei aller
Herzlichkeit des Umgangs ohne nennenswerte Informationen. Mit jovialer Überzeugungskraft
versuchte er zu erklären, wie sehr sein Staat darauf angewiesen sei, eine
Balance zwischen Rußland, USA und China zu wahren. Gravierende Probleme
für die Republik Kirgistan wies er weit von sich. Für den Minister galt
offenbar die Leibnizsche Maxime, daß »in der besten aller Welten alles
zum Besten bestellt« sei. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 404-405).Das
Sternenbanner der USA flattert wieder über dem kirgisischen »Transit
Center« Manas am Rand von Bischkek. Der Anblick der »Stars and Stripes«
wirkt beinahe anheimelnd in dieser barbarischen Umgebung am Rande der Tatarenwüste.
Vielleicht spüre ich auch deshalb ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit
und Solidarität mit dem transatlantischen Verbündeten, weil der eigene,
europäische Kontinent, in den man so große Hoffnungen gesetzt hatte,
durch seine überstürzte Ausweitung nach Osten einem Entfremdungsprozeß
unterliegt. Die Europäische Union, die nicht in der Lage ist, sich zu einer
gemeinsamen Außenpolitik, geschweige denn zu einer koordinierten Strategie
durchzuringen, erscheint - von den Gletschern des Pamir aus betrachtet - wie eine
schillernde Schimäre. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 405-406).Vielleicht
unterliege ich einer Autosuggestion, aber die Soldaten des 376th Air Expeditionary
Wing, die ich treffe, scheinen aus einem anderen Holz geschnitzt als ihre Kameraden
von »Iraqi Freedom«, die mir in Bagdad häufig auf die Nerven
gingen. Ist es nur ein günstiger Zufall oder liegt es am sympathischen Auftreten
der uns betreuenden Offiziere, daß ich wieder die kameradschaftliche Verbundenheit
empfinde, die sich einst in Vietnam einstellte, wenn wir mit den US-Marines oder
den Soldaten der 1st Cav unter den Beschuß des Vietcong gerieten?
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 406).In Manas sehen die Wachen
von exzessiven Kontrollen ab, die in der Umgebung der »Green Zone«
von Bagdad in fast hysterischer Anspannung stattfinden. Das Kamerateam kann ungehindert
seiner Arbeit nachgehen und in aller Ruhe das Beladen der mächtigen Transportmaschinen
C 17 Globemaster filmen, die am Rande der Rollbahn aufgereiht sind. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 406).Der Public Affairs Officer
lädt mich zu einem ausführlichen Bericht in seinen Briefing Room ein.
Militärische Geheimnisse gibt er natürlich nicht preis, aber ich erfahre
doch, wie unentbehrlich der Stützpunkt Manas für die us-amerikannische
Truppenversorgung in Afghanistan geworden ist. Ein großer Teil der hier
versammelten Mannschaften macht in der Regel eine Zwischenlandung in der zentralen
Militärbasis von Bagram östlich von Kabul. Zum Teil aber führt
der Transport auch direkt in die Kampfzonen, ob diese sich nun bei Kandahar, Jalalabad
oder Kunar befinden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 406).Der
Stützpunkt selbst verfügt über ein ständiges Militärpersonal
von 1100 Mann. Auch ein begrenztes französisches und spanisches Kontingent
ist hier zugegen. Der Kommandeur von Manas, Colonel Holt, hat als Pilot die unterschiedlichsten
Typen geflogen und es auf mehr als 3700 Flugstunden gebracht. In seine Zuständigkeit
fällt auch jene disparate Bodentruppe, die in Kabul unter dem Namen »International
Safety Assistance Force« (ISAF) in Erscheinung tritt. Die Koordination einer
so kunterbunten Koalition, deren Auftrag nie präzis definiert wurde, dürfte
ihm manches Problem aufgeben. Die Einheit, die er befehligt, hatte sich bereits
im Zweiten Weltkrieg bewährt, als er im Jahr 1942 an der vernichtenden Bombardierung
der rumänischen Erdölfelder von Ploesti teilnahm und dabei schwerste
Verluste erlitt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 406-407).Die
Russen ... haben alles Interesse daran, daß die um die USA gescharte Atlantische
Allianz durch die radikalen islamischen Kräfte, darunter die Taleban, aber
auch die Partisanen der usbekischen »Hizb-e-Tahrir«, die ihren Einfluß
auf ganz Zentralasien ausdehnen möchten, am Hindukusch festgenagelt wird.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 407-408).Der von Barack
Obama berufene Oberbefehlshaber in Afghanistan, General McChrystal, hat nach den
katastrophalen Folgen des wahllosen Bombenkrieges seiner Vorgänger und der
damit verbundenen »Kollateralschäden« nunmehr auf eine Strategie
der Schonung und Zurückhaltung umgestellt, um unnütze Verwüstungen
zu vermeiden und die Verluste unter den Zivilisten niedrig zu halten. Er tut das
in der Hoffnung, ein Minimum an Vertrauen und Sympathie bei der afghanischen Bevölkerung
zurückzugewinnen, trotz des zwingenden Gebots der Blutrache, das im »Paschtunwali«,
dem Sittenkodex der Paschtunen, vorgegeben ist. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 408).Ich habe längst gemerkt, daß ich bei dem »Briefing«
mehr Mitteilungen von mir gebe, als der zuständige Major sie mir bieten kann.
Es besteht ebenfalls kein Zweifel, daß unser Gespräch aufgezeichnet
und den zuständigen Experten der Military Intelligence überstellt wird.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 408).Ein Kontingent Soldaten
in sandgelber Tarnuniform ist inzwischen in einem riesigen Hangar angetreten.
Die GIs nehmen unter der weitgespannten Zeltplane ihre Kampfausrüstung für
den bevorstehenden Einsatz in Empfang. Sie sind in einem dichten Karree aufgestellt.
Die bleischweren kugelsicheren Westen haben sie bereits umgeschnallt. Nun fixieren
sie noch den übrigen Ballast an ihrem Gurt und heben den viel zu schweren
Rucksack auf den Rücken. »Wenn einer von den Männem im steilen
Gebirgsgelände zu Fall kommt, bleibt er doch wie ein Maikäfer hilflos
auf dem Rücken liegen«, wende ich ein, und niemand widerspricht mir.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 408).Als ich mich
zur Zeit des Afghanistan-Krieges gegen die Sowjetunion auf den extrem beschwerlichen
Steilpfaden der Mudjahidin mühsam fortbewegen mußte, hatten wir unser
gesamtes Gepäck auf Maultiere und Esel gepackt. Immer wieder passierte es,
daß wir von unseren kleinen, kräftigen Pferden absteigen mußten,
weil die Hänge zu steil aufstiegen und die Kraft der Tiere überfordert
hätten. Wir pflegten dann die Schwänze der Rösser zu packen und
uns an den schwierigsten Passagen von ihnen hochziehen zu lassen. Aber NATO-Truppen
durchkämmen wohl nur in extrem seltenen Ausnahmefällen diese zerklüftete
Wildnis und sind dabei auf ihre Hubschrauber angewiesen. Jedenfalls wären
gepanzerte Fahrzeuge - sie nun Marder, Dingo, Wolf oder Wiesel heißen -
für dieses Terrain total ungeeignet. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 408-409).Die us-amerikannischen Soldaten, die ihre Rüstung
Stück um Stück ergänzt haben, wirken plötzlich so archaisch
und erstarrt wie eine gepanzerte Rittertruppe des Mittelalters. Ihre Gesichter
sind - wohl bei dem Gedanken, welche Mühsal und Gefahr ihnen bevorstehen
- sehr ernst geworden. Plötzlich fällt mir ein, wo ich eine ähnlich
bewegungsunfähige Armee schon einmal gesehen hatte. Die GIs, die in dem ausgeschachteten
Hangar wie in einer Grube massiert sind und sich anschicken, ihre Globemaster
zu besteigen, gleichen zum Verwechseln jener Gespensterarmee aus Ton und gebrannter
Erde, die am Rande der chinesischen Residenzstadt Xian aufgereiht steht, um den
ersten großen Gründungskaiser des Reiches der Mitte, Qin Xi Huangdi
(Schi Hoang-ti), auch jenseits des Todes als Leibgarde
zu schützen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 409).Der
slawische Bevölkerungsanteil ... ist auf ein Minimum geschrumpft. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 412).Die fruchtbare Fergana-Senke
war als Zentrum radikal-islamistischer Agitation berüchtigt (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 412).Osch ist Knotenpunkt künftiger
Konflikte. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 412).»Sie
haben eben ein paar Exemplare der Mafia, eine Bande von Betrügern gesehen,
die uns regiern .... Diese Ausbeuter haben durch Betrug riesige Vermögen
erworben und schämen sich nicht, ihre Korruption und Verderbtheit vor den
armen Leuten auszubreiten.« Unter Präsident Akajew sei es geistteter
zugegangen als unter dem Nachfilger, den die US-Amerikaner durch die »Tulpen-Revolution«
an die Macht gebracht hätten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S.
416).
Was
mich am Tage unserer Expedition östlich von Osch faszinierte, waren die verblüffenden
Meldungen aus Urumqi, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Xinjiang, »Westmark«
in der Übersetzung. Wir befanden uns ja in unmittelbarer Nachbarschaft dieser
Region. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 419).Am 5.
Juni 2009 hatten sich in Urumqi chaotische, mörderische Szenen abgespielt.
Mit einem solchen Haßausbruch des türkisch-islamischen Volkes der Uiguren,
das etwa neun Millionen Menschen zählt, gegen die Bevormundung und Knebelung
durch die im Reich der Mitte dominierende Han-Rasse hatte ich nicht gerechnet,
obwohl ich in Xinjiang intensive persönliche Erfahrungen gesammelt hatte.
Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, daß sich dieser östlichste
Zweig der großen turanischen Völkerfamilie, dessen Angehörige
in Urumqi infolge massiver chinesischer Zuwanderung noch höchstens ein Drittel
der Einwohner ausmacht, zu einem kollektiven Amoklauf dieses Ausmaßes gegen
die fremden Eindringlinge aufraffen könnte. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 419).Von den überraschten Sicherheitsorganen kaum behindert,
hatten die Aufrührer laut offiziellen Angaben 194 Chinesen ermordet, deren
Geschäfte verwüstet und staadiche Einrichtungen in Brand gesetzt. Wie
viele Opfer dann die Niederwerfung dieser Revolte unter den Uiguren forderte,
läßt sich nicht überprüfen. Selbst der akute Auslöser
dieses Pogroms der Unterdrückten gegen die allmächtige Überzahl
der Han bleibt ungeklärt. Bei den Uiguren, deren Typologie ihren türkischen
Verwandten in Anatolien ähnlicher ist als den stark mongolisch geprägten
Kasachen und Kirgisen, muß sich das Gefühl einer unerträglichen
Diskriminierung und Benachteiligung durch die Pekinger Staatsorgane angestaut
haben, um eine solche Explosion auszulösen, die stellenweise in einer Hetzjagd
auf alle Zuwanderer ausartete. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 420).Warum
haben diese spektakulären Häuserkämpfe von Urumqi in der wesdichen
Öffendichkeit - gemessen an den Entrüstungsstürmen, die das chinesische
Vorgehen gegen die tibetischen Protestaktionen in Lhasa entfachte -relativ geringe
Beachtung und wenig Solidarisierung gefunden? In das »de Luxe«-Hotel
von Osch zurückgekehrt, bin ich darauf von einem ungewöhnlich mitteilungsfreudigen
kirgisischen Studenten, vermutlich einem Verwandten unseres »Fixers«,
angesprochen worden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 420).Sein
Argument klang einleuchtend. Während die buddhistischen Mönche von Lhasa
einer Erbauungslehre anhingen, die dem Prinzip der Gewaltlosigkeit und der politischen
Abstinenz huldigt, sind die Uiguren seit Jahrhunderten zum Islam bekehrt und haben
in Fragen der koranischen Religionsausübung - inklusive des Jihad - eine
rigorosere Haltung eingenommen als die noch weitgehend in schamanistischen Bräuchen
verhafteten Kasachen und Kirgisen. Unter den Uiguren fand sich auch eine beachdiche
Anzahl von »Gotteskriegern« bereit, als Freiwillige in der »grünen
Legion« Osama bin Ladens am Heiligen Krieg gegen die gotdosen russischen
»Schurawi« und - nach deren Vertreibung aus Afghanistan - gegen jene
Feinde Gottes anzutreten, die im Namen des US-Imperialismus die muslimische »Umma«
zu knechten suchten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 420).Noch
viel krasser, so meinte der junge Mann, trete diese westliche Voreingenommenheit
gegen die Jünger des Propheten Mohammed in Kaschmir in Erscheinung, wo die
indische Regierung von Delhi, der angeblich »größten Demokratie
der Welt«, der muslimischen Bevölkerungsmehrheit das von der UNO gewährte
Selbstbestimmungsrecht konsequent verweigere. Aus der paradiesischen Landschaft
rund um den Dal-See, wo ich einst an Bord eines Hausbootes als »Sahib«
zu den Zauberschlössern der Mogul-Herrscher gerudert worden war, war inzwischen
ein tückisches Kampfgebiet geworden. Die Hauptstadt von Jammu-Kaschmir, Srinagar,
wurde in ein befestigtes Lager verwandelt. Zeitweise hatte Delhi eine halbe Million
Soldaten in diesem Unionsstaat am Rande des Himalaya stationiert. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 420-421).Der Repression der indischen
Staatsorgane, die vom Westen wie eine »heilige Kuh« geschont wurden,
seien bereits 70000 Widerstandskämpfer oder Jihadi zum Opfer gefallen. Aber
von den Medien der USA und Europas würden diese Freiheitskämpfer als
blutrünstige »Terroristen« diffamiert. Ob es wohl jetzt dem Politbüro
in Peking gelingen würde, auch das national-religiöse Aufbäumen
der Muslime von Xinjiang in jene Kategorie von brutalen Gewalttätern einzureihen,
deren Ziel es sei, die ganze Welt durch ihre Anschläge in Angst und Schrecken
zu versetzen, bleibe abzuwarten. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 421).Die
Tatsache, daß auch in Guant:inamo rund ein Dutzend Uiguren den dort üblichen
Verhör- und Foltermethoden ausgesetzt waren, könnte in diese Richtung
weisen. Im übrigen, so fügte der junge Unbekannte hinzu, der sich nach
dem Gespräch hastig verabschiedete, hätten bereits 400000 Uiguren aus
China im Umkreis von Osch Zuflucht und Asyl gesucht. Die einheimische Bevölkerung
habe auf diese Zuwanderung recht unfreundlich reagiert. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 421).Wer hätte sich während der Kanzlerschaft
von Willy Brandt vorstellen können, daß die behauptung eines sozialdemokratischen
Verteidigungsministers, »Deutschlad wird am Hindukusch verteidigt«,
die mehrheitliche Zustimmung des Bundesrates finden würde? Irgendwie scheint
eine kuriose Form von Wilhelminismus in Deutschland wieder aufgelebt zu sein,
seit die Ministerien und das Parlament sich an die Spree zurückbegeben haben.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 421).Die chinesische Einwohnerschaft
Xinjiangs, die bei Machtantritt Mao Zedongs (Tse-tungs)
höchstens ein Viertel betrug, steht im Begriff, die dortigen Turkvölker
zu überflügeln. In den Jahren der großen politischen Wirren war
die Westmark ein bevorzugter Ort der Verbannung für alle politisch unzuverlässigen
Elemente. Hier sollte laut Weisung des Großen Steuermanns auch das rote
Mandarinat lernen, daß schwere körperliche Arbeit, die traditionell
verpönt war, ein vorzügliches Mittel ideologischer Ertüchtigung
sei. Die Rotgardisten sorgten nach Ausbruch der großen Kulturrevolution
für einen zusätzlichen Strom aufbaufreudiger Pioniere. Seit in der Taklamakan-Wüste
ergiebige Erdölund vor allem Erdgasvorkommen entdeckt wurden, reißt
der Zustrom chinesischer Fachkräfte nicht ab. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 423-424).Während meines Aufenthalts in Urumqi
im Oktober 1995 war mir vom offiziellen chinesischen Propagandabüro eine
Broschüre überreicht worden, die den historischen Anspruch Pekings auf
die Westmark zu untermauern suchte. Einen Absatz daraus lohnt es sich im Wortlaut
zu zitieren, weil dort - trotz aller Freundschaftsbeteuerungen gegenüber
den Nachbarstaaten - die verjährt geglaubten geographischen Ansprüche
des Reiches der Mitte weit über die heutigen Grenzen hinaus erwähnt
werden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 424).»Zu
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts«, so schreibt der Autor Chen Dajun,
»begannen die Kolonialmächte des Westens aktiv mit ihren Angriffs-
und Expansionsfeldzügen. Von Indien aus wiegelten die Briten immer wieder
die Nachfahren uigurischer Fürsten auf, die am Hofe des Khans von Kokand
lebten, um in Süd-Xinjiang Unruhe zu stiften. Nach 1840 steigerten die westlichen
Mächte ihre militärische Bedrohung, um die Qing- oder Mandschu-Dynastie
zum Abschluß ungleicher Verträge zu zwingen. China wurde Schritt für
Schritt auf den Status einer halbkolonialen Gesellschaft heruntergedrückt.
Nachdem das zaristische Rußland die kasachische Steppe und die kleinen Emirate
Zentralasiens besetzt hatte, nahm Sankt Petersburg auch weite Gebiete entlang
der chinesischen Westgrenze in Besitz. Ein Territorium von 400000 Quadratkilometern,
östlich und südlich des BaIkaschsees gelegen, der früher zu China
gehörte, wurde durch das zaristische Rußland besetzt.« Das von
Chen Dajun beschriebene Gebiet entspricht dem Kernland der heutigen Republik Kasachstan
mitsamt ihrer früheren Hauptstadt Almaty. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 424-425).Schon fünfzehn Jahre früher, im Sommer 1980,
war es mir vergönnt gewesen, die zu jener Zeit noch streng abgeschirmte Provinz
Xinjiang aufzusuchen und dort einen Dokumentarfilm zu produzieren, dem ich den
Titel »Chinas wilder Westen« gab. Damals war Urumqi ein grauenhafter
Platz. Dort lebten etwa eine Million Menschen, aber die niedrige, gedrängte
Häusermasse, über der die Fernsehantennen in den rußigen Qualm
ragten, sah wie eine immense Siedlung von Höhlenbewohnern aus. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 425).Es war bemerkenswert, daß
die chinesischen Behörden unser Kamerateam beim Filmen dieser Misere in keiner
Weise behinderten. Wir konnten nach Belieben die Linse auf jene niedrigen Hütten
der Industriearbeiter richten, die gegen die eisigen Winterstürme mit einer
dicken Lehmschicht bedeckt waren und ihre Einwohner zur Existenz von Troglodyten
verdammten. Bei unserer Suche nach muslimischen Gebetshäusern stießen
wir auf die Verwüstungsspuren der Rotgardisten. Die entfesselten jungen Fanatiker
der Kulturrevolution hatten gegen die Muslime besonders heftig gewütet, sie
zum Verzehr von Schweinefleisch gezwungen und viele treue Korangläubige erschlagen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 425).Seitdem ist ein radikaler
Wandel eingetreten. Aus den riesigen Elendsquartieren, aus der asiatischen Slum-Metropole
Urumqi ist binnen fünfzehn Jahren eine saubere, hochmoderne Stadt von 1,5
Millionen Menschen geworden. Untergebracht sind wir dieses Mal, 1995, in dem luxuriösen
Holiday Inn von U rumqi, der über Kommunikations- und Computereinrichtungen
verfügt. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 425).Bei
ihrer Suche nach Gastländern, die sich bereit fänden, den Häftlingen,
die durchaus nicht alle harmlos waren, Unterkunft zu gewähren, hatte die
US-Administration die Bundesrepublik Deutschland als Bestimmungsort für die
chinesischen Dissidenten Xinjiangs auserkoren. Daß eine Zustimmung Berlins
zwangsläufig von Peking als Mfront empfunden und das deutsch-chinesische
Verhältnis nachhaltig getrübt würde, hätte man am Potomac
bereitwillig in Kauf genommen. Die große Koalition von Berlin hat immerhin
den Mut aufgebracht, dieser amerikanischen Zumutung eine Absage zu erteilen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 429).Am Ende verfiel man
in Washington auf einen seltsamen Ausweg. Unter den westpazifischen Inseln Mikronesiens
waren ja diverse Atolle, die nur ein paar tausend Einwohner zählten und von
der allmählichen Überflutung durch den Ozean bedroht sind, nach der
Befreiung von den Japanern in souveräne Staatswesen verwandelt worden, die
den USA als willfährige Klienten zur Verfügung standen. Zu diesen kuriosen
Gebilden zählte auch die winzige Inselgruppe von Palau, deren Regierung sich
gegen eine substantielle finanzielle Abfindung auch bereit fand, die gestrandeten
Jihadisten vom Volk der Uiguren unter ihren Palmen unterzubringen. Der Vorgang
entbehrt nicht einer gewissen Komik. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 429).Wer weiß denn heute noch in Deutschland, daß
die Insel Palau in den Jahren von 1900 bis 1914 deutscher Kolonialbesitz war.
Die große Koalition von Berlin hatte sich gegen die Überstellung der
Uiguren erfolgreich zur Wehr gesetzt. Der Zufall hat es gefügt, daß
das Häuflein von Islamisten aus Xinjiang auf einer winzigen Inselgruppe im
Stillen Ozean stranden würde, wo vor hundert Jahren noch die schwarz-weiß-rote
Fahne des wilhelminischen Kaiserreiches wehte. Ein Treppenwitz der Geschichte.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 429).
Das
wirkliche Problem für die USA heißt Mexiko. Die Grenzstadt Ciudadju:irez
ist bereits ins Chaos der violencia abgeglitten. Hier trennt nur das Rinnsal
des Rio Grande del Norte diese Hochburg des Verbrechens von der texanischen Drehscheibe
El Paso, wo sich binnen zwanzig Jahren eine gründliche Bevölkerungsumschichtung
vollzogen hat. Seien es naturalisierte US-Citizens oder illegale »wetbacks«,
die Mexikaner machen in El Paso inzwischen neunzig Prozent der Einwohnerschaft
aus. Ähnlich verhält es sich entlang der endlosen Grenze, die sich von
Laredo in Texas bis Tijuana in Baja California hinzieht. Die illegale Immigration
der Latinos kann durch Drahtzäune und andere Sperren behindert werden, aber
die us-amerikanische Border Police ist sich ihrer relativen Ohnmacht bewußt.
Die Überflutung der USA durch eine Masse von Zuwanderern aus Mittel- und
Südamerika, wobei Mexiko weit an der Spitze liegt, hat die ethnische Zusammensetzung
der US-Bürgerschaft, vor allem auch des US-Wählerpotentials, so gründlich
verändert, daß es sich ein Kongreß-Abgeordneter reiflich überlegen
muß, ehe er zur Treibjagd auf die Eindringlinge bläst. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 435-436).Die größte Überraschung
erlebte ich, als ich in Minneapolis, einer Stadt nahe der kanadischen Grenze,
die mir sehr vertraut ist, den schier unaufhaltsamen Zustrom der Latinos konstatierte.
Bis vor kurzem gab es hier nur eine kleine Zahl von »Negroes« und
heruntergekommenen Indianern, während die eigentliche Substanz deutsch und
skandinavisch war. Neuerdings gehört es in Minneapolis zum guten Ton, die
eigenen Kinder auf eine neugegründete Schule zu schicken, deren Hauptunterrichtssprache
Spanisch ist. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 436).Im
Krieg von 1846 hatte Washington, nachdem es bereits die Sezession von Texas begünstigt
hatte, das Territorium der Estados Unidos Mexicanos etwa um die Hälfte reduziert.
Die heutigen US-Bundesstaaten Kalifornien, Neu-Mexiko, Arizona, Nevada und Colorado
wurden kurzerhand annektiert. Inzwischen findet hier eine Revanche, eine Art Reconquista
statt. Die Sprache Cervantes' verdrängt Schritt um Schritt die bislang exklusive
Dominanz des Angelsächsischen. Eine gewisse Anhänglichkeit gegenüber
den hispanischen Herren von einst ist offenbar - trotz aller Verehrung für
die Helden der Unabhängigkeit Simón Bolivar und San Martin - selbst
beim einfachen Volk erhalten geblieben. So ist es nicht selten, daß sogar
auf Kuba Besucher aus Spanien von farbigen Inselbewohnern als Söhne und Töchter
der »madre patria« gefeiert werden. (Peter Scholl-Latour, ebd.,
S. 436).Als der schwarze Kontinent auf der Berliner Kongokonferenz
im Jahr 1885 unter den europäischen Mächten aufgeteilt wurde, beließ
man den Portugiesen den Besitz von Angola und Mosambik. Aber um 1900 befanden
sich diese Gebiete in einem derartigen Zusatnd der Vernachlässigung und Rückständigkeit,
daß zwischen Berlin und London über deren Aufteilung ernsthaft beraten
wurde. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 438).»Frankreich
sinkt auf den rang Portugals herab«, soll de Gaulle gesagt haben .... In
Wirklichkeit hätte Charles de Gaulle allen grund gehabt, die Portugiesen
zu beneiden. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 439-440).Brasilien
ist ... ein postkolonialer Koloß, der ... innerhalb der multipolaren welt
unserer Tage den Anspruch auf Großmachtstatus erhebt. Unter der Abkürzung
BRIC haben die Medien einen Sammelbegriff für jene »Schwellenländer«
erfunden - Brasilien, Rußland, Indien, China -, die Europas Bedeutung in
den Schatten stellen und mit den USA zusehends auf Augenhöhe kommunizieren.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 440).Der bärtige Franziskaner
... entwarf ein düsteres Bild von den Irrungen seienr Kirche und des Klerus
in Brasilien. Der Besuch des deutschen Papstes sei eine bittere Enttäuschung
gewesen. Er habe in diesem von sexueller Vitalität strotzenden land auf dem
Verbot der Empfängnisverghütung bestanden, Keuschheit gepredigt und
die Nutzung von Kondomen verboten. Im Vatika habe man offenbar immer noch nicht
begriffen daß allein die vom heiligen Stuhl verworfene Befreiungstheologie
der materiellen Not und der politischen Aufbruchstimmung dieses Subkontinents
gerecht würde, statt der ständigen Beschwörung des sechsten Gebotes.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 444).Wo sind die Zeiten geblieben,
in denen der Mann einen Schips umbinden mußte, um ins Kino gelassen zu werden?
Die Menschen fallen durch abenteuerliche Aufmachung auf, doch Eleganz ist kaum
zu spüren. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 445).Seit
vor der atlantischen Küste reiche Ölfelder geortet wurden, steht Brasilien
im begriff, zu einer der maßgeblichen Wirtschaftsmächte aufzusteigen.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 445).Brasilien wäre
binnen kurzer Frist in der Lage, nuklear aufzurüsten und seine eigene Atombombe
zu bauen. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 445).Unter
allen Ländern unserer Erde, die ich aufsuchte, erscheint mir Brasilien als
das unerklärlichste. (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 446).Mit
seiner vielfältigen Harmonie der Rassen nimmt Brasielien eine ethnische Vermengung
vorweg, die für den ganzen Globus Gültigkeit gewinnen könnte.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 446).Es kann einem ... ein
Schauer überkommen bei der Perspektive auf eine globale Entwicklung, an deren
Ende das biologische Ende des »weißen Mannes« stünde.
(Peter Scholl-Latour, ebd., S. 446-447).Es wird so viel
über Klimawandel und ökologische Verseuchung gesprochen. Aber aufgrund
der Kommunikationsmöglichkeiten, von denen unsere ... Vorfahren nicht zu
träumen wagten, aufgrund einer subkutanen kulturellen Anpassung und Osmose,
deren Ausmaß wir noch nicht ermessen, aufgrund einer technischen und elektronischen
Beschleunigung der menschlichen Geistesentwicklung ... wäre auch eine Beschleunigung
der Evolution, ja das jähe Auftreten von Mutationen nicht auszuschließen,
die das Bild des »Homo Sapiens« erheblich verändern könnten.
Der typologische Unterschied zwischen den Generationen ist bereits klar erkennbar.
Dazu kommt das Phänomen einer durch einseitige Ernährung bewirkten Verfettung,
die selbst auf China überzugreifen beginnt. Der androgyne Wuchs vieler Frauen
ist weit vom Schönheitsideal der Vergangenheit entfernt. (Peter Scholl-Latour,
ebd., S. 447).Während sich die Öffentlichkeit
dazu beglückwünscht, daß das Durchschnittsalter des Menschen demnächst
auf über hundert Jahre ansteigen könnte, stellen sich nur die wenigsten
die Frage, ob eine solche Langlebigkeit mit der im Rhythmus von Jahrtausenden
entstandenen Normalität, den natürlichen Gesetzen, denen wir unterliegen,
überhaupt zu vereinbaren ist. Die ständige Vermehrung von Demenz- Erkrankungen
im hohen Alter könnte eine schreckliche Mahnung beinhalten. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 447).Befinden wir uns an der Schwelle
einer neuen Evolution unserer Gattung? Werden die Allmacht des Computer-Systems,
des Internets, die Omnipräsenz der elektronischen Überwachung und die
Perspektive eines eventuellen Cyber- Wars gewisse Hirnfunktionen ausschalten,
umgestalten oder weiterentwickeln? Im Jubiläumsjahr des Darwinismus sind
solche Überlegungen ja wohl erlaubt. Wir haben die Schreckensvision Orwells,
die er in seinem Buch 1984 aufzeichnete, längst überholt, und
die düsteren Vorstellungen H. G. Wells' von einer »Brave New World«
liegen bereits hinter uns. Man bedenke, daß das nationalsozialistische Deutschland
noch vor siebzig Jahren von der Reinheit der nordischen, der germanischen Rasse
fabulierte, von der Vorherrschaft der blonden Herrenmenschen, um festzustellen,
wie plötzlich diese Utopie einer Gemischtrassigkeit gewichen ist, die uns
täglich auf den Straßen Europas und Amerikas begegnet. (Peter
Scholl-Latour, ebd., S. 448).In diesem Zusammenhang die
existentielle »Angst des weißen Mannes« zu erwähnen, entspringt
keiner Verzagtheit, keiner Phobie, sondern verweist auf eine Veränderung
unserer Spezies .... (Peter Scholl-Latour, ebd., S. 448). Zitate:
Hubert Brune, 2005 (zuletzt aktualisiert: 2009). 
Anmerkungen: Altes
Europa versus neues Europa. - Spätestens seit Januar 2003, als US-Verteidigungsminister
Rumsfeld vom Alteuropa sprach, fragt man sich, ob es sich dabei um
reine Rhetorik handelte oder nicht. Ob damit der von den USA schon vor
dem 11.09.2001 geplante Angriffskrieg auf den Irak durchgesetzt, ein Kriegsverbrechen
wieder einmal vertuscht werden sollte oder nicht: Rumsfeld, der Alteuropa
offenbar die Bündnistreue absprechen wollte, bezog sich jedenfalls hierbei
auf einen geographischen Raum, der in doppelter Hinsicht verstanden oder mißverstanden
werden könnte: (1.) Das alte Europa ist nicht
das neue Europa. (2.) Das alte NATO-Europa ist nicht
das neue NATO-Europa.Alteuropa hat außerdem zwei verschiedene
Bedeutungen, weil er sich einerseits auf die antike, andererseits auf die abendländische
Kultur beziehen kann. Für die Antike gilt ein anderes kulturelles Zentrum
als für das Abendland; die geographischen Bezüge sind zwei zu unterscheidende.
Wer heutzutage von Europa spricht und sich ausschließlich auf
eine noch existierende Kultur bezieht, der kann nicht das antike, sondern nur
das abendländische Europa meinen. So gesehen bezieht sich Alteuropa
(als nicht-rhetorisches Mittel!) auf die Frühzeit des Abendlandes, z.B. auf
dessen Geburt und damit primär auf den deutsch-französischen
Raum, den das Reich Karls des Großen erstmals als Einheit umfaßte.
Sicheres Stehvermögen erlangte das Abendland durch Deutschlands
Sachsen-Kaiser, insbesondere seit 962, als Otto I. zum Kaiser gekrönt wurde.
Fatih
heißt der Eroberer!Es ist natürlich kein Zufall,
daß viele Moscheen im christlichen Teil der Welt Fatih heißen. |