- SAGE -

Sage ist ein Sammelbegriff für mündlich überlieferte, sprachlich und stilistisch anspruchslose mundartliche Erzählungen, deren Realitätsanspruch jedoch über dem des Märchens liegt. Man unterscheidet Memorat als Bericht über ein übernatürliches Erlebnis und Fabulat als Bericht mit nicht glaubhaften Elementen. Andere Unterscheidungskriterien sind solche nach inhaltlichen (vgl. Natur-, Toten-, Riesen-, Hexen-Sagen u.ä.), funktionalen (vgl. aitiologische bzw. erklärende Sagen u.ä.) oder formalen Aspekten (Schwank-Sagen u.ä.).

Mythos (Ursprungssage)

Der Mythos (altgriechisch: Wort, Sage, Rede, Kunde, Erzählung) ist „Wort“ im Sinne einer letztgültigen und deshalb nicht mehr zu begründenden Aussage, die Existenz und Geschichte der Welt und des Menschen auf das Handeln von göttlichen Wesen (Numina), deren Wirken im Himmel, auf der Erde, bei ihrer Begenug mit Menschen und in der Unterwelt zurückführt. Der Mythos erwächst am besten in Verbindung mit dem Polytheismus (Polytheismus). Die Vielzahl von Göttern wird einerseits nach ihren Funktionen bei der Schöpfung und Erhaltung der Welt, dem Lauf der Himmelskörper, dem Schicksal und den Tätigkeiten der Menschen, der Setzung und Hütung des Rechts sowie der Bestrafung von Verstößen gegen dieses Recht, andererseits nach ihren Wohnorten im Himmel, auf der Erde und in der Unterwelt differenziert. Der Mythos faßt die handelnden Gottheiten oft nach Analogie des menschlicher Verhältnisse (anthropomorph) in Götterfamilien oder einander ablösende Göttergeschlechter zusammen.

Da der Mythos meist aitiologisch ist und enge Bezüge zum Kult aufweist, unterscheidet man nach der Antwort, die er auf spezielle Fragen gibt, verschiedene mythische Typen: den theogonischen Mythos (Ursprung der Gottheiten), den kosmogonischen Mythos (Entstehung der Welt), den anthropogonischen Mythos (Erschaffung des Menschen), den urständischen Mythos (Lebensbedingungen des Menschen), den transformationistischen Mythos (Abbruch der Paradies-Urzeit, z.B. durch Sintflut-Sagen), den soteriologischen Mythos (Erlösung des Menschen), den eschatologischen Mythos (endzeitliche Ereignisse). Der geistige Gehalt des Mythos liegt darin, die gerade beschriebenen Vorgänge urtümlich zu erzählen, d.h. ihnen einen ursprünglichen wie sinnfällig-bildhaften Rahmen zu geben.

Der Mythos kann sowohl seitens des Glaubens (vgl. Religion, Theologie) als auch des - insbesondere rationalen - Denkens (vgl. Weisheit, Philosophie, Wissenschaft) einer Kritik unterworfen und letztlich sogar auch vernichtet werden. Im Gegensatz zur logischen Erkenntnis bildet der Mythos nämlich keine Urteile, sondern will Realitäten darstellen, für die er keine rationalen Beweise zu erbringen braucht.

Archäologen interessiert am Mythos in erster Linie die „euhemeristische Frage“ nach dem „historischen Wahrheitsgehalt“ (vgl. EuhemerosEuhemeros). Als „Euhemerismus“ bezeichnet man die Überzeugung von einer „historischen (und damit auch archäologisch erhärtbaren) Wahrheit“ der im Mythos begründeten Traditionen. Ein besonders krasser „Euhemerist“ war Heinrich Schliemann (1822-1890), der die homerischen Epen wörtlich nahm und die Geschichtlichkeit der in ihnen geschilderten Ereignisse archäologisch beweisen zu können glaubte. So wurde er zum Begründer der „Homer-Archäologie“, die sich inzwischen von Schliemanns „Euhemerismus“ wieder entfernt hat, obwohl gewisse, freilich durch Kritik gefilterte Elemente gemäßigt „euhemeristischer“ Prägung immer noch zu den Voraussetzungen archäologischer Forschung gehören (z.B. auch das Einordnen von Mythen in kulturmorphologisch und damit auch archäologisch relevante Zusammenhänge, die Suche nach wengstens einem historischen Wahrheitskern in ansonsten sagenhaft ausgeschmückten Überlieferungen). Schliemann nahm also einen extrem „euhemeristischen“ Standpunkt ein, von dem die durch ihn begründete „Homer-Archäologie“ inzwischen wieder abgerückt ist, obwohl die Frage nach einem archäologisch nachweisbaren historischen Wahrheitskern, nach Reflexion historischer Vorgänge in antiken Mythentradtionen noch keineswegs verstummt ist. Ein Musterbeispiel ist die in jüngster Zeit wieder aufgelebte Auseinandersetzung der Wissenschaft mit dem „Atlantis“-Mythos Platons (Platon), dem man zwar seinen „Mythen“-Charakter im ganzen nicht mehr abspricht, in dem man aber gleichwohl gewisse (wahrscheinlich schon in erstellter Form Platon zu Ohren gekommene) Reminiszenzen an die Minoer erkennen zu können glaubt.

NACH OBEN Mythomotorik

Mythomotorik bedeutet Antrieb durch formierende oder identitätsstiftende Geschichten. „Den Ausdruck Mythomotorik hat m.W. Jan Assmann ... eingebracht. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerungen und politische Identität in den frühen Hochkulturen, München, 1992.“ (Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 64).

Ein Beispiel: Die Kulturgeschichte des Abendlandes ist eine Geschichte der Globalisierung. Nachdem die drei für das Abendland unentbehrlichen Faktoren aufeinander getroffen waren - Germanentum, Römerreich und Christenheit -, wurde sie mittels einer zunächst noch wenig konkrete Formen annehmende Mythomotorik des sehr jungen Abendlandes möglich. Der Gedanke an ein Reich spielte also von Beginn an eine ganz besonders wichtige, weil „kulturgenetisch“ bedingte Rolle, nämlich reichshistorisch (römisch), reichsreligiös (christlich) und reichskybernetisch (germanisch), denn eine „Kultur“ kann nur dann Kultur werden, wenn sie auch sich selbst steuern kann. Ohne die Germanen gäbe es keine Abendland-Kultur, kein Europa.

„Die maßgeblichen europäischen Mächte unternahmen immer neue Anläufe, ein Reich nachzuspielen, das ihrer politischen Phantasie als unverlierbares Paradigma vorgeordnet blieb. So könnte man geradezu sagen, daß Europäer ist, wer in eine Übertragung des Reiches verwickelt wird. Dies gilt besonders für Deutsche, Österreicher, Spanier, Engländer und Fransosen .... Der Ausdruck »translatio Imperii« ist also nicht nur eine mittelalterliche fixe Idee; er bedeutet mehr als die staatsrechtliche Konstruktion, mit der die sächsischen Kaiser nach der Krönung Ottos I. im Jahre 962 ihre Herrschaftsprogrammatik vortrugen; es ist nicht weniger als die ideo-motorische oder mytho-motorische Zelle aller kulturellen, politischen und psychosozialen Prozesse, aus denen die Europäisierung Europas hervorgegangen ist.“ (Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 34-35).

NACH OBEN Mythologie

Mythologie meint die Gesamtheit der myth(olog)ischen Überlieferungen eines Volkes und vor allem die wissenschaftliche Darstellung und kritische Erforschung von Mythen, innerhalb derer sich verschiedene Hauptrichtungen herausgebildet haben: die Astralmythologie, deren Vertreter alle mythischen Aussagen auf die Verehrung der Himmelskörper zurückführen; die Natur(personifikations)mythologie, die in Existenz und Wesen der Götter Personifikationen von Naturerscheinungen sieht; die Kult(ur)mythologie, die die ständige Wiederholung des Mythos im rituellen Vollzug betont und für die daher der Mythos der Text eine kultischen Dramas ist; die Religionsmythologie, die den Mythos als unableitbare religiöse Aussage ansehen und ernst nehmen will; die Animismusmythologie, die die Möglichkeit einer Abeleitung des Mythos aus Erlebnissen des Menschen behauptet; Tiefenpsychomythologie, die den Mythos ansieht als den Reflex verdrängter sexueller Triebe (vgl. Sigmund FreudFreud) oder als das Archetypische, d.h. das im kollektiven Unbewußten (bzw. im kollektiven Gedächtnis) gründende urtümliche Leitbild menschlicher Erfahrung, die phylogenetisch ältere menschliche und tierische Generationen angesammelt hat (vgl. Carl Gustav JungJung), und überhaupt als das Urbild des Seienden, d.h. die Idee (vgl. PlatonPlaton). Platons Begriff der Ideen ist ein urtypischer und also auch vorgeburtlicher: Ideen sind aufgrund vorgeburtlicher Erinnerung erfaßbare, Realität besitzende Urbilder der Dinge. Nach Platon sind sie nicht sinnlich, sondern nur geistig erfaßbar, und zwar mit eben jener Anamnese: der vorgeburtlichen Erinnerung. Anamnese sei, so Platon, eine Wiedererinnerung als Erkenntnis, weil jede Erkenntnis ein Sicherinnern der Seele an die Ideen sei, in deren Nähe sie vor ihrer Verbindung mit dem Körper weilte. Ideen sind nach Platon ewige und unveränderliche Urbilder. Das Ding bilde die Ideen ab und hat an der Idee teil. Somit ist die Idee in ihm gegenwärtig und demzufolge das Eigentlich-Seiende.

Laut Platon hat der Mythos (Wort, Sage, Rede, Kunde, nicht ganz wahre Erzählung) seinen schärfsten Gegensatz im Logos (Wort, Rede, Kunde, Sprache, Logik), und vielleicht ist es deswegen auch so schwierig, aus dem Mythischen eine Wissenschaft oder sogar eine ganz wahre Erzählung zu machen. Mythos und Logos sind einerseits gegensätzlich, andererseits sehr ähnlich, weil sehr eng verwandt. Beide Wörter bedeuteten ursprünglich nahezu dasselbe, haben eine gemeinsame semantische Quelle, wobei der Mythos zwar schon viel früher existierte als der Logos, aber eben ursprünglich dasselbe meinte wie später der Logos. Gegenstand der Mythen sind meistens Götter, Halbgötter und Helden; von ihnen wissen wir nichts, nichts Wahres, deshalb benutzen wir die menschlichen Dogmen über sie zu Gleichnissen (vgl. Platon, Kratylos, 425 BC); da die Götter geboren sind (vgl. Platon, Timaios, tim 41 B). können sie kenie ewige Idee sein; die Aufgabe allerdings, die jedem Gott zugewiesen ist, ist sehr wohl eine Idee (vgl. Platon, Phaidros, 247 A); sie selbst sind nicht einmal stets göttlich gewesen, sie wurden es erst, als sie die Ideen auf dem Flug zum überhimmlischen Ort sahen (vgl. Platon, Phaidros, 249 C). Laut Platon sind also die Geschichten über die Götter unwahr, aber die Mythen trotzdem unentbehrlich, ganz besonders für die Erziehung der Kinder. „Von den Worten gibt es eine zweifache Art, die eine ist wahr, Lüge die andere. … Erzogen aber werdenmuß in beiden, erst durch falsche Worte. … Verstehst du denn nicht, daß wir zuerst den Kindern Mythen erzählen?  Das aber ist als Ganzes immer falsch, es ist aber auch Wahres dabei. Dieses Wahre kann nicht vom Mythos kommen, weil er ja stets falsch ist. Doch kann das Wahre von den Dichtern kommen, deren Aufgabe die Schönheit ist. Dann ist die Wahrheit eine musische. Sie kann auch vom Gerechten und vom Guten kommen. Dann ist die Wahrheit eine moralische. Und das ist es, was die Kinder brauchen.“ (Platon, Politeia, 377 A und 377 DE). Weil man die wahre Lüge hassen muß, die wohlmeinende aber getrost anwenden darf, müssen sage, fabel und Märchen einen Zweck haben. „Der Mythos soll einen Zweck haben, und deshalb werden wir ihn nützlich machen.“ (Platon, Nomoi, 274 E). Der Zweck im Mythos ist wichtig, weil durch den Zweck die Schärfe des Gegensatzes zwischen Mythos und Logos verliert. Die meisten Mythen, die in Platons Schriften behandet sind, haben einen Zweck, obwohl das dort nicht ausdrücklich gesagt wird, denn die Erzählung selbst ergibt ihn. Man braucht nur an die Mythen vom Totengericht oder an den Mythos von der Herrschaft des Kronos oder an den Flug zum überhimmlischen Ort zu denken, um zu sehen, daß in den beiden ersteren ein moralischer, im letzteren ein wissenschaftlicher Zweck zu finden ist. Und die Geschichten, die wir den Kindern erzählen, haben, neben ihrer Unterhaltung, einen pädagogischen Zweck. Auch nähern sich die Mythen durch den Zweck dem Logos, der ihnen durch die Gerechtigkeit beigemischt ist, mehr oder weniger. Die schöne Form oder Sprache des Mythos, die schöne Lüge verfolgt einen ästhetischen Zweck. In Platons Georgias (505 C) möchte der unverfrorene Kallikles die Diskussion abbrechen und das Thema wechseln. Sokrates sagt: „Aber man sagt, die Themis erlaube nicht einmal die Erzählung von Mythen zu unterbrechen, sondern man setzt ihnen einen Kopf auf, damit sie nicht ohen Kopf herumgehen.“ (Platon, Georgias, 505 C). In Platons Phaidros (264 CD) sagt Platon: „Das aber, glaube ich, willst du sagen, daß man jedem Satz einer Schrift wie ein Lebewesen aufbauen muß, das ein Köroper ganz für sich selbst hat, so daß es nicht ohne Kopf und ohne Fuß ist, sondern eine Mitte und einen Höhepunkt hat und das Geschriebene zueinander und zu dem Ganzen paßt.“ (Platon, Phaidros, 264 CD). An dieser Stelle steht nicht Mythos, sondern Logos. Ich habe sie trotzdem zitiert, weil der Logos auch ganz einfach ein oder mehrere Worte enthalten und so wie Lysias’ Worte ganz unvernünftig sein kann. Er vertraute dem Leser, er würde im Phaidros einen so scharfen Verstoß gegen die Regel des Timaios über die Verwandtschaft der Begriffe nicht dulden (vgl. Platon, Timaios, 29 BC) und eher die Stelle so verstehen, wie ich sie verstehe. Platon wollte immerhin Lysias nicht einfach beleidigen und seine Schrift einen Mythos nennen. So nannte er sie Logos, machte aber den Verstoß gegen die ja sehr bedeutende Regel durch eine Anhäufung körperlicher Begriffe klar.

NACH OBEN Mythographie

Schriftlich überlieferte Mythologie heißt Mythographie. Die Regel, daß Sagen ausschließlich mündlich überliefert werden, gilt also für Mythen nur bedingt. Schon seit der Erfindung der Schrift (Schrift) bzw. der Historiographie (Historiographie), d.h. seit der Begründung der Historiographik (Historiographik) bzw. der Historienkulturen (Historienkulturen) gibt es auch schriftlich überlieferte Mythen.

 

 

NACH OBEN Anmerkungen:


Euhemeros (ca. 340-260), griechischer Philosoph und Schriftsteller aus Messene, verfaßte um 300 v. Chr. die leider nur noch fragmentarisch erhaltene „Heilige Aufzeichnung“ eine Art utopischen Reiseroman, in dem er berichtet, daß auf Inschriften die ehemalige irdische Existenz von Göttern bewiesen sei, insofern sie als Könige der Vorzeit gepriesen werden; d.h. er erklärte die Götter des griechischen Mythos zu ursprünglich menschlichen, später nur vergöttlichten Kulturbringern der Vorzeit. Laut Euhemeros waren also die Götter mächtige, hervorragende Menschen der Vorzeit, die dann vom Volk idealisiert wurden. Als „Euhemerismus“ bezeichnet man daher die Überzeugung von einer „historischen (und damit auch archäologisch erhärtbaren) Wahrheit“ der im Mythos begründeten Traditionen.

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