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- Kulturenvergleich -
Antike und Abendland
Urdenker Vordenker Frühdenker Hochdenker Spätdenker Nachdenker Enddenker

Spät-Denker

Früh-Modernistik
Hoch-Modernistik
Spät-Modernistik
Fazit
Tiefblick
Tabelle
Tabelle

 

- Spätdenker sind Denker „erwachsener“ Art -

Wenn nach dem „Denkhebel“ verlangt wird, weil man mit ihm das „Denkspiel“ ideenreich noch einmal herumreißen will, dann ist die Zeit der Spätdenker gekommen. Sie beginnt als Frühmodernistik z.B. mit dem Deutschen Idealismus, der Romantik, dem Frühhistorimus und dem Frühnihilismus, erreicht als Hochmodernistik ihren Höhepunkt (Tiefpunkt) z.B. mit dem Totalnihilismus und dem Hochhistorismus, hat als Spätmodernistik ihre Spät- bzw. Endphase z.B. mit dem Spätnihilismus, dem Späthistorismus und dem vernetzenden Globalismus, der sowohl eine Vollendung als auch eine vielversprechende, „adventische Geistesgeburt“ darstellt. Erwachsen und zivilisiert geworden, schaffen die Frühmodernisten ein die Endgültigkeit visionär vorwegnehmendes Philosophiesystem, das die Hochmodernisten auf den Kopf stellen oder neostilistisch ausbauen und die Spätmodernisten noch einmal zusammenfassen, weil sie es allen, jedem und keinem recht machen wollen. Sie alle sind Spätdenker, denn die „Wissensräume“ sind eng geworden, seitdem sich die Systeme und Disziplinen als Wissenschaften von der Philosophie getrennt haben. (Wissenschaft und Philosophie). Aus der mehr Wissen vermittelnden rationalen Philosophie der Hochdenker (Hochdenker), durch die tatsächlich die Trennung von Philosophie und Wissenschaft vollzogen wurde, kann nur noch eine systematisierende, mit dem Leben und dem Tod der Wissenden, mit deren Geistesgeburt sich beschäftigende Philosophie werden. Doch nur diese Neu-Theologie kann die Spätdenker in die Lage versetzen, ihre „Fackel“ an die Nachdenker (Nachdenker) und/oder die Vordenker (Vordenker) zu übergeben, damit das Nachdenken und/oder Vordenken mit einer Neu-Religion - quasi als Neu-Übung - beginnen kann. Die Spätdenker sind also die Vordenker der Nachdenker und/oder die Vordenker der Vordenker. Das ist, als wolle man das Unmögliche möglich machen. Spätdenker müssen es schaffen, Retrospektive und Prospektive so in Übereinstimmung zu bringen, daß sogar z.B. das „Denken im Uterus“ vorstellbar, weil vordenkbar, wird. Sie müssen „das Spiel lesen“ können. Die Spätdenker können Philosophie nur noch betreiben, indem sie, vom letzten Stand der Hochdenker-Dinge - der Neu-Theologie - ausgehend, eine Neu-Religion schaffen. So wie die „Fußballgötzen“ in der demokratischen Alltäglichkeit, wie die „Mediengötzen“ in der plutokratischen Wirklichkeit, so haben die „Denkgötzen“ nur noch im religiösen Glauben eine Chance, sich zu behaupten. Der Modernismus ist die eine (kirchliche), die Modernistik die andere (weltliche) Seite einer Neu-Theologie bzw. Spätphilosophie. Der Idealismus kann nur durch seine streng realistische Antithese, sofern ihn der Nihilismus nicht doch noch untergehen läßt, auf ein erhöhtes Niveau gebracht werden, und in der Phase der Befruchtung muß die sich daraus ergebende Synthese die These in erhöhter Form in sich aufbewahren (= aufheben, ganz im Sinne Hegels). Mit Platon und Aristoteles ist der Antike diese denkerische Leistung gelungen. Und dem Abendland?

Zum Vorverständnis: Was in der Antike zwischen 370-350 begann, das begann im Abendland 1780-1800. Ja geistig, aber auch seelisch, ja vor allem körperlich und also auch demographisch gesehen, denn für eine jede Kultur bedeutet das, daß die zu ihr gehörenden erwachsenen Menschen anfangen, immer weniger Kinder zu bekommen - zuerst Geburtenrückgang, dann Geburtendefizit, zuletzt Tod des Volkes -, während die Kultur selbst Nachkommen erwartet, nämlich aus Angst davor, selbst unterzugehen und in Zukunft einer neuen Kultur Platz machen zu müssen. Da nicht vorhersehbar ist, ob und, wenn ja, wann das wirklich eintreten wird, kommte es immer häufiger zum „Aufschub“.

Schon Ende des 18. Jahrhunderts zeigten sich die ersten Anzeichen des abendländischen Geburtenrückgangs in Frankreich. Die große Revolution von 1789, die hier den Übergang zur Zivilisation vermittelte, bedeutet gewissermaßen auch den Wendepunkt von der Fruchtbarkeit zur Unfruchtbarkeit des französischen Volkes.
Geburtenrückgang in Frankreich
1783 / 17891801 / 18101811 / 18201821 / 18301831 / 18401841 / 18501851 / 18601861 / 18701871 / 18801881 / 18901891 / 19001901 / 19101911 / 1913
38,432,231,630,829,027,426,326,325,423,922,120,718,8
Geburtenrückgang in Frankreich
 1921  1924  1925   2003 *Prozentualer Geburtenrückgang1783/1789 - 1871/18801871/1880 - 19251925 - 2003 *
20,719,219,6  13,0 *1783/1789 - 2003: 66% *34%23%34% *
Quellen: Richard Korherr, Geburtenrückgang, a.a.O., 1927, S. 164; * Fischer Weltalmanach, 2006, S. 504.

 

Frühes Spätdenken

Idealismus als Frühmodernistik oder Frühnihilismus als Frühmodernistik?

Idealismus als eine philosophische Phase jeder Kulturgeschichte scheint auf Langfristigkeit, wenn nicht sogar auf Endgültiglkeit abzielen zu wollen. Bereits im frühen Herbst beginnt auch jede denkende Kultur „instinktiv“ für den späteren Winter so viel (Geistes-) Nahrung wie möglich anzulegen. Bekanntlich muß für ein Lebewesen bis zum Ende des Winters zumindest noch ein kleiner Teil der Nahrung vorhanden sein, der ihm das Überleben trotz der vielen anderen Todesgefahren sichern kann. Auch eine angesammelte Geistesnahrung bedeutet nicht gesichertes Überleben, aber immerhin trägt sie erheblich dazu bei. Was die abendländische Kultur erst zukünftig beweisen kann, ist der antiken Kultur zumindest nahrungstechnisch gelungen. Obwohl die Antike noch im kulturellen Winter verstarb, sollten nämlich zwei ihrer Philosophie-Schulen ihn überdauern und in der neuen Kultur des christlichen Abendlandes auf Linie gebracht werden: Platon (427-347) und Aristoteles (383-322) waren deren Begründer. Sie verhalten sich zueinander wie z.B. Kant (1724-1804) und Hegel (1770-1831). Aber man muß zwei zeitlich gegeneinander austauschen, um auch die inhaltliche Übereinstimmung zu bekommen. Der Grund dafür liegt in der Tiefe der beiden Kulturseelen, in zwei gegensätzlichen Seelenbildern und Ursymbolen.Wer einzelkörperlich und punktuell denkt, der bringt auch die großen politischen Visionen in eine entsprechende Körperordnung (Platon) und erst danach bezüglich der Einzelheiten in eine Epistemologie (Aristoteles). Wer aber vom unendlichen Raum ausgeht, agnostizierend und indem er jedem wahrnehmungslosen, bloß spekulativ-konstruktiven Denken die Fähigkeit zu irgendeiner Wirklichkeitserkenntnis abspricht (Kant), der läßt das Göttliche als Transzendenz außen vor und konzentriert sich zunächst auf das Wesentliche und die Erfahrungen, die ihm eine faustische Kultur bereits als Grundlage liefert; erst danach widmet sich der Nachfolger den Ideen und dem All-Einen, abendländisch ausgedrückt: der Phänomenologie des Geistes und dem Panlogismus (Hegel). Deshalb folgten in der Antike die Einzelwissenschaften den Ideen und im Abendland die Ideen den Einzelwissenschaften. Hierdurch wird der Gegensatz Antike-Abendland deutlich erkennbar: die Antike ging in ihrer Kindheit und Jugend durch die familiäre und schulische Lehre der Kosmos-Idee und verpaßte die eigene experimentelle Erfahrungswissenschaft, das Abendland ging in seiner Kindheit und Jugend durch die familiäre und schulische Lehre der experimentellen Erfahrungswissenschaft und verpaßte die eigene Kosmos-Idee. Jetzt versuchten beide deshalb über den zweiten Bildungsweg das nachzuholen, was sie zuvor verpaßt hatten. Das Schicksal hatte ihnen zuvor via Seelenbild und Ursymbol andere Wege vorgezeichnet. Man kann sich das auch klar machen, wenn man sich die Begriffe Kosmos und Universum auf der Zunge zergehen läßt: in der Antike bedeutete Kosmos Ordnung, während wir unter Universum eher Chaos als Ordnung verstehen, jedenfalls assoziativ. (Vgl. Kosmos). Den Kosmos experimentell- wissenschaftlich zu untersuchen, kam den antiken Menschen gar nicht in den Sinn, und wenn doch, dann nur über eben diesen zweiten Bildungsweg. Der fällt aber, wie erwähnt, in den meisten Fällen so aus, daß er das Seelenbild einer Kultur eher bestätigt als verändert. Der faustische Abendländer weiß schon aus Erfahrung der klösterlichen und wissenschaftlichen Vergangenheit heraus, was ihm zu tun übrig bleibt. Die Dinge, die wahrnehmbar sind, werden verändert, und erst in Reaktion darauf wird über den Rest der Dinge spekuliert. Wenn also die Antike wie das Abendland gewesen wäre, dann wäre aus Platon ein Kant und aus Aristoteles ein Hegel geworden. Weil sie aber kulturell sozialisiert waren - die Enkulturation und primäre Sozialisation (6-12) lagen längst hinter ihnen -, verliefen die Dinge auf umgekehrte Weise. Ein Antike-Abendland-Tausch sähe dann Kant, der platonisch erschienen wäre, und Hegel, der aristotelisch um die Säulen gewandert wäre. Analog gesehen kommt Platon natürlich eher Hegel und Aristoteles eher Kant gleich. Elterliches Erbgut sowie primäre und sekundäre Sozialisation sind also nicht nur für sogenannte Individuen das alles Entscheidende, sondern auch für Kulturen.

Platon (eigtl. Aristokles, 427-347) Sohn des Ariston und der Periktione, stammte mütterlicherseits aus reicher und vornehmer Familie Athens. Nach dem Tod des Sokrates (399), dessen Schüler Platon 8 Jahre lang war und dessen Prozeß er erlebte, hielt er sich eine Zeitlang bei dem Eleaten Eukleides von Megara auf, der ebenfalls ehemaliger Schüler des Sokrates war. Eukleides' megarische Schule war eine der an Sokrates orientierten Philosophenschulen, die eine Synthese zwischen dem sokratischen Begriff des Guten und dem unbeweglichen, unveränderlichen Sein der eleatischen Philosophie zum Ziel hatte. Auf Reisen nach Unteritalien und Sizilien lernte Platon auch die Denkweise der Pythagoräer kennen. Platon war zu Beginn seiner Karriere Dichter, wandte sich von der Dichtung jedoch ab, weil sie seit 387 v. Chr. laut Gesetz ziemlich grausame Theaterstücke aufführen durfte und deshalb u.a. zu einer Götter-Blasphemie herabsank. Platon gründete wahrscheinlich deshalb 385 v. Chr. eine Schule, die (dem altattischen Heros) Akademos gewidmet war; und diese Akademie sollte sich bis 529 n. Chr. halten. Die Ältere Akademie war stark pythagoräisch beeinflußt: das Problem von „Idee“ und „Zahl“ spielte erkenntnistheoretisch eine große Rolle. Später sollten noch die Mittlere Akademie, seit 270 v. Chr., und die Neuere Akademie, seit 160 v. Chr., folgen: vgl. die Akademien im Altplatonismus, den Mittleren Platonismus, die Auswirkungen auf die Gnosis, den Neuplatonismus, die Patristik. Platon setzte sich mit der Ideenlehre von Sokrates ab, obwohl er sie in den (mittleren und späteren) Dialogen seinem Dialoghelden Sokrates in den Mund legte. Für ihn waren die unveränderlichen Ideen die Urbilder der veränderlichen Dinge, ihr Programm, ihr Ziel und Zweck. Er nahm bei seiner Ideenlehre die Mathematik (Geometrie) zum Vorbild aller anderen Wirklichkeit, wie schon vor ihm Pythagoras (580-500) und seine Schüler. (Tabelle). Platon schrieb Dialoge, tatsächliche und fiktive Gespräche mit Sokrates (470-399), seinem Lehrer. Platon lehrte, daß die Sinnenwelt scheinhaft sei und von archetypischen Urbildern oder Ideen abstamme. Ein nicht sinnlich erfahrbares geometrisches Gebilde, z.B. ein gleichseitiges Dreieck, wird hinter dem sinnlich erfahrbaren Dreieck, dessen Darstellung es ist, „gedacht“ oder in nicht sinnlicher, formaler Anschauung vorgestellt. Die gerade Linie, der Punkt, eine Fläche: das sind alles mathematische Gegenstände. Es gibt sie nicht in Wirklichkeit. Aber die Wirklichkeit ist durch sie erkennbar, rekonstruierbar. Über dem Eingang der Akademie Platons soll deshalb der Satz gestanden haben:


Alternative „KEIN DER GEOMETRIE UNKUNDIGER SOLL DIESEN ORT BETRETEN“ Alternative


Das platonische Denken entwickelte sich vor dem Horizont einer doppelten Krisensituation: zunehmender Zerfall des Gemeinwesens und Verlust der Verbindlichkeit mythischer Weltbilder. Der Mythos bot keine lebendige Orientierung mehr. Er war zum formelhaften Ritual erstarrt und zum Spielball inhaltloser und nur noch auf Überredung angelegter Rhetorik (der Sophisten) geworden. Das Schlimmste daran war für Platon, daß kein Bewußtsein darüber vorhanden war. Hier, bei der Bewußtseinsbildung, wollte Platon eingreifen. Die Methode seines Helden Sokrates besteht darin, zunächst einmal ein Bewußtsein für das Gute bzw. für das Schlechte bei seinen Gesprächsteilnehmern zu wecken, indem er ihnen z.B. zeigt, daß sie nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit u.s.w. im Munde führen. Die Verbindlichkeit ihrer Rede zerfällt in dem Maße, in dem Sokrates als ihren Grund private Interessen und Willkür erweist. Ihrer schützenden ideologischen Haut entledigt, muß die Gewalt letztlich ihr wahres Gesicht zeigen: sie muß den Sokrates vernichten. Insofern gehörte der Tod des Sokrates (399) mit zu seiner Beweisführung. Sein Tod war geradezu der letzte Beweis dafür, daß er Recht hatte.

Platon bestimmte die Philosophie als Einüben ins Sterben. Für ihn war Philosophie die Erkenntnis des Seienden oder des Ewigen und Unvergänglichen. Er definierte: Philosophen sind die, welche mit dem, was sich für ewig als dasselbe unwandelbar verhält, in Berührung kommen wollen. Es gelingt ihnen durchs Denken, d.h. durch die Begriffe. (Vgl. Ideenlehre und Meta-Sprache) - (Vor- und Früh-PhilosophieHoch- und Spät-PhilosophieInnere Analogien). Wir sind gewiß weiter als Hippokrates (460-370), der griechische Arzt; wir dürfen kaum sagen, daß wir weiter seien als Platon (427-347). Nur im Material wissenschaftlicher Erkenntnisse, die er benutzt, sind wir weiter. Im Philosophieren selbst sind wir vielleicht noch kaum wieder bei ihm angelangt. Vergleich

Aber auch Mythos und Religion standen Pate bei Platons Ideenlehre. Die Idee, so Platon, im „Timaios“, ist gewissermaßen der Vater oder das Original eines Dings, das, wie das Kind, mit dem Namen des Vaters benannt wird. Die Mutter ist der abstrakte Raum, in dem die Zeugung der Dinge, d.h. der Kinder des Vaters, stattfindet und in dem sich die Dinge dann auch bewegen. Jede Art oder Rasse besitzt nur eine Form oder Idee. Im „Staat“ (Politeia) heißt es: „Gott hat also nur jenes eine wesentliche Bett hergestellt. Zwei dieser Art oder noch mehr wurden weder von Gott erschaffen, noch werden sie je von ihm erzeugt werden; auch wenn er zwei einzelne schüfe und nicht mehr, dann würde doch ein weiteres zutage treten, nämlich die eine gemeinsame Form, die sich in beiden darstellt. Sie, und nicht jene beiden, wäre dann das wesentliche Bett“. Die Ähnlichkeit der Dinge ist ihrer Idee verdankt, ihrem Ursprung, wie die Ähnlichkeit der Kinder ihrem Vater. Harte Dinge haben an der Idee der Härte teil, weiße an der Idee des Weißen. Sie haben an jenen Ideen teil im gleichen Sinne, in dem die Kinder an den Besitztümern und Gaben der Väter Anteil haben. Platons Ideenlehre ermöglicht Wissen, das sich auf die veränderlichen Dinge anwenden läßt, von denen sich, weil sie sich ständig verändern, eigentlich nichts Bestimmtes aussagen läßt. Platon nahm an, daß es innere Kräfte, unwandelbare Wesenheiten der wahrnehmbaren Dinge gibt, und von denen ist wahres Wissen möglich. (Vgl. dagegen: Kant). Die Ideenlehre ermöglicht eine Theorie der Veränderung und des Verfalls. Die Ideen sind Urbilder, die selbst durch Verfall (Degeneration) der höchsten Idee entstehen. Entsprechend ist die historische Tendenz der Gesellschaft die des Zerfalls und der Degeneration. Außerdem bietet die Ideenlehre den Weg zu einer Sozialtechnik, zur Herstellung des besten, idealen Staates, der sich nicht verändert und nicht zugrunde gehen kann, und zwar durch Anhalten der politischen Veränderung und Rückkehr zum idealeren Anfang, der alten Stammesfrom des sozialen Lebens (Stammesaristokratien). Platons Philosophie, die er selbst auch Weltverabschiedung und Einübung ins Sterben nannte, lehrt die Notwendigkeit einer „zweiten Geburt“, insbesondere seine Lehre von der Umkehr durch Ausstieg aus der Höhle („Höhlengleichnis“). Durch die natürliche, die physische Geburt gelangen wir aus einer Höhle (der Uterus-Höhle der Mutter) ans Licht der (sichtbaren) Welt. Aber diese Welt ist nach Platons Meinung nur Schein, nur vituell. Wir bedürfen einer zweiten metaphysischen Geburt, um aus der Scheimwelt in die wirkliche (unsichtbare) Welt der Ideen zu gelangen. Für diese „zweite Geburt“ ist der Philosoph der „Geburtshelfer“.

Platons Schriftwerke:


„Protagoras“

Kritik der Sophistik bezüglich der Einheit und Lehrbarkeit der Tugend.

„Apologie“
Verteidigungsrede des Sokrates vor Gericht.

„Euthyphron“
Über die Frömmigkeit.

„Gorgias“
Gegen die Sophistik, für das absolute sittliche Gute, über die Seele im Jenseits.

„Kratylos“
Über die Sprache.

„Menon“
Erkenntnis als Wiedererinnerung.

„Phaidon“
Über die Unsterblichkeit der Seele und die Philosophie als Einüben ins Sterben.

„Symposion“
Über den homoerotischen Eros und seine Sublimierung in der Philosophie.

„Politeia“
Über den Idealstat und die Seele.

„Phaidros“
Über die Seele und die Ideen.

„Theaitetos“
Über das Wissen.

„Parmenides“
Über die Einheit und Vielheit, Sein und Nichtsein.

„Sophistes“
Über das Wesen des Sophisten.

„Nomoi“
Über den Staat und die Erziehung der Bürger.

„Timaios“
Naturphilosophie.


Das „Höhlengleichnis“ ist laut Platons „Staat“ (7.Buch) ein Vergleich des menschlichen Daseins mit dem Aufenthalt in einer unterirdischen Behausung. Gefesselt, mit dem Rücken gegen den Höhleneingang, erblickt der Mensch nur die Schatten der Dinge, die er für die alleinige Wirklichkeit hält. Löste man seine Fesseln und führte ihn aus der Höhle in die lichte Welt mit ihren wirklichen Dingen, so würden ihm zuerst die Augen wehtun, und er würde seine Schattenwelt für wahr, die wahre Welt für unwirklich halten. Erst allmählich, Schritt für Schritt, würde er sich an die Wahrheit gewöhnen. Kehrte er aber in die Höhle zurück, um die anderen Menschen aus ihrer Haft zu befreien und von ihrem Wahn zu erlösen, so würden sie ihm nicht glauben, ihm heftig zürnen und ihn vielleicht sogar töten.

In seinem „Liniengleichnis“ unterschied Platon den Bereich des Sichtbaren von dem des Unsichtbaren. Er veranschaulichte das durch die Teilung der Strecke im Verhältnis a:b. Er wiederholte diese Teilung in den beiden Bereichen a und b und veranschaulichte damit die vier Wissensbereiche bzw. Wissensarten: Gerücht (eikasia), Meinung (doxa), Wissenschaft und Philosophie. Im Sonnengleichnis sah Platon die Analogie zwischen der Sonne und der Idee (des Guten) einerseits und zwischen Auge und Seele andererseits: So wie die Sonne durch ihr Licht dem Auge ermöglicht, etwas zu sehen und den Gegenständen ihre Sichtbarkeit verleiht, so ermöglicht die Idee des Guten durch das Licht der Ideen der Seele die Erkenntnis und den Dingen ihre Erkennbarkeit und Wahrheit. Dabei ist die Sonne selbst „Sprößling des Guten“.

Der Mensch gehört beiden Welten an: der Welt der Ideen und der Welt der wandelbaren Dinge, deren Vorbilder die Ideen sind. Er gehört der Ideenwelt an durch seine Seele mit ihrer Vernunft. Der Körperwelt gehört er an durch den Leib. Mit dem Tode trennt sich die Seele vom Leib. Entscheidend ist, in welchem Zustand sie dann ist. Philosophie hat ihr Motiv in der Sorge um die Seele oder im Tod. Die Sorge um den Staat ist darin eingeschlossen. Der ideale Staat ist nämlich beschaffen wie die Seele, dreiteilig. Lehrstand, Wehrstand und Nährstand im Staate entsprechen den drei Seelenteilen: dem vernünftigen, dem mutigen und dem begehrenden Teil. Hier wie da kommt es auf die Harmonie der drei Teile an - durch Hierarchie. Die Vernunft soll herrschen in der Seele, so wie im idealen Staate die Philosophen die Könige sein sollten. Sinn des Staates ist, die Seelen der Bürger zu retten, ihre Heimführung bzw. Rückführung ins Ideenreich zwecks Reinkarnation zu ermöglichen.

 

Erwachsen Durch Platon wurde die antike Philosophie erwachsen. Erwachsen
Platon bildete den geistigen Übergang von jugendlicher zu erwachsener Kultur.
Dieser Denkarchitekt baute die Brücke zwischen Hochdenkern und Spätdenkern.
Der jüngere Platon war ein Hochdenker, der ältere Platon war ein Spätdenker.
Nach ihm wurde die Philosophie zu einer Denkgeschichte der Fußnoten zu ihm.



NACH OBEN
Aristoteles (383-322), in Stageira als Sohn des Leibarztes am Makedonischen Hof geboren, studierte seit seinem 19. Lebensjahr bei Platon, ohne eigentlich so richtig dessen Schüler zu werden. Aristoteles war der Erzieher Alexander d. Gr. (356-323), gründete 335 v. Chr. die sogenannte „Peripatetische Schule“, wurde nach Alexanders Tod der Gottlosigkeit angeklagt und floh nach Chalkis. Aristoteles begründete die wissenschaftliche Philosophie und die philosophiedurchleuchteten (Einzel-) Wissenschaften. Neben Platon war er der wirkungsmächtigste antike Philosoph. Sein philosophisch-wissenschaftliches Disziplinensystem wurde wohl nur teilweise ausgearbeitet - so ist es jedenfalls überliefert. Er machte die Logik und die Metaphysik zu seinen Grundlagen und wurde zum Schöpfer der Logik im Sinne einer „Analytik“, wie er sie nannte: eine Lehre von den logischen Grundgesetzen, von Begriff, Urteil, Schluß, von Definition, Beweis sowie setzender bzw. widerlegender Methode. Die Kategorienlehre (Substanz, Beziehung, Raum, Zeit, Qualität, Quantität, Tun, Leiden, Haltung, Lage) steht auf der Grenze zwischen Logik und Metaphysik. In dieser unterschied Aristoteles Stoff (Materie) und Form (Kraft, Denken). Oberste Wirklichkeit ist Gott: Denken des Denkers, reine Form, unbewegter Beweger. Die inhaltlichen Disziplinen der Philosophie teilte Aristoteles ein in die theoretischen („1. Philosophie“, später Metaphysik genannt; Mathematik, Physik einschließlich Psychologie), die praktischen (Ethik, Politik, Ökonomik) und die poiëtischen (Technik, Ästhetik, Rhetorik). Die Physik bzw. Naturphilosophie war für Aristoteles zunächst die Lehre von der endlichen, ewig unbewegt inmitten des Fixsternhimmels schwebenden Erde, von den vier Elementen (4 Elemente): Feuer, Erde, Luft, Wasser, von den vier Qualitäten bzw. Kräften: Kalt-Warm, Trocken-Feucht, von den sechs Arten der Bewegung: Entstehen-Vergehen, Wachsen-Sichrückbilden, Qualitäts- und Orständerung, von den zwei Arten der Kräfte: anorganische Energie und organische Entelechie (Ziel in sich selbst Habendes; die Form, die sich im Stoff verwirklicht), von den drei „Ursach“-Arten: Substanz, Kausalität, Finalität. Besonders die Naturphilosophie des Organischen war bei Aristoteles weit entfaltet: im Menschen ist das Denken, die Vernunft das eigentlich Menschliche; er hat an den Grundfunktionen des Tieres, z.B. Reizbarkeit (Empfindung) und willkürlichen Ortswechsel durch Leibesbewegung, Anteil, diese schließlich an denen der Pflanze: Ernährung und Fortpflanzung. Die Seele des Menschen reicht in seine pflanzenhaften und seine tierhaften Grundlagen hinein als „erste Entelechie des Leibes“, von ihnen frei ist der Intellekt, der passiv ist als Behältnis der Ideen, aktiv und zugleich unsterblich als forschendes Denken. Diese „theoretische Leben“ ist zugleich auch, wie Aristoteles' Ethik lehrt, der Sitz des höchsten, der theoretischen (dianoeëtischen) Tugenden und der wahren Glückseligkeit. Die praktischen Tugenden sind dagegen der Herrschaft der Vernunft unterworfen; hier gilt deshalb die Regel: vermeide die Extreme und halte Mitte ein. Für die Entwicklung der abendländischen philosophischen Ethik blieb Aristoteles, der für seinen Sohn Nikomachos die „Nikomachische Ethik“ geschrieben hatte, richtungsweisend bis Kant (!). Aristoteles ging in seiner Politik vom Menschen als „Zoon politikon“ aus, der in den Lebenskreisen Familie, Gemeinde, Staat lebt. Den Staat (ebenso die Wirtschaft) faßte Aristoteles bürgerlich und sehr realistisch auf: der Staatsmann darf nie ideale politische Verhältnisse erwarten, sondern soll mit der bestmöglichen Verfassung die Menschen, wie sie einmal sind, auf bestmögliche Weise regieren, vor allem die Jugend leiblich und sittlich ertüchtigen. Gute Staatsformen sind: Monarchie, Aristokratie, gemäßigte Demokratie, schlechte deren Kehrseiten: Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie (Pöbelherrschaft).


Aristoteles wirkte über seine Älteren und Jüngeren Aristoteliker (Peripatetiker) sowie über die Aristotelische Stoa über die Antike hinaus. Dieser antike Universalgelehrte bestimmte mit seinen Klassifikationen und Begriffsprägungen die gesamte nachfolgende Philosophie, dominierte später insbesondere die Scholastik. Die sich auf Aristoteles stützende Art des Philosophierens, der Aristotelismus, wurde danach auch von den Arabern (z.B. Averroes, 1126-1198) und Juden (z.B. Maimonides, 1135-1204) gepflegt und beherrschte insbesondere seit dem 13. Jh. das philosophische Denken des Abendlandes, vermittelt vor allem durch Albert dem Deutschen (den Großen, 1193-1280) und Thomas von Aquino (1225-1274), allerdings mit wesentlichen, durch das Christentum bedingten Änderungen. Dieser oft auch „Thomismus“ genannte Aristotelismus wurde (als Neuthomismus) die Grundlage der katholischen Neuscholastik (bis heute!). In der Zeit der Renaissance wurde der Aristotelismus in unscholastisch-humanistischer Art von nach Italien gelangten byzantinischen Gelehrten neu belebt: in Deutschland fußten also sowohl die protestantische Neuscholastik (z.B. durch Melanchthon, 1497-1560) als auch die katholische Neuscholastik (z.B. durch Suárez, 1548-1617) auf dem Aristotelismus.

Der Name Aristoteles steht in besonderer Weise für Logik bzw. logisches Denken, denn die von ihm begründete Disziplin „Logik“ erfuhr bis ins 19. Jahrhundert kaum Veränderungen. Hier herrschte Aristoteles am längsten mit seiner auf vier Formen allgemeiner Urteile (alle sind, keiner ist, einige sind, einige sind nicht) beschränkten Prädikatenlogik. Die Logik, wie sie von Aristoteles entwickelt und in der Scholastik noch etwa ausgebaut wurde, handelt von den Bedingungen der Gültigkeit von Argumenten. Diese Bedingungen sind nach Aristoteles richtige Begriffe, Urteile, Schlüsse, Beweise bzw. Widerlegungen. Die Lehre von den Begriffen formulierte Aristoteles in der Kategorienschrift. Kategorien sind Hinblicke für die begriffliche Bestimmung von etwas. Bestimmt werden kann z.B. das, was etwas ist (Substanz), seine Menge (Qualität), die Beziehung (Relation), zudem Ort und Zeitpunkt. Erst Kant deduzierte eine „vollständige“ Tafel der Kategorien des Aristoteles - von den Urteilsformen her.

Nach Aristoteles' Lehre vom Satz sind die Urteilsformen zu unterscheiden in bejahende (p wird von S ausgesagt, oder: S ist p) und verneinende, allgemeine (alle S sind p) und besondere, und in solche, die Mögliches, Wirkliches und Notwendiges (als Sein) aussagen. In der Lehre vom Schluß (Syllogistik, in der 1. Analytik) steht ein axiomatisches System aller gültigen Schlüsse, d.h. der Möglichkeiten der Begründung eines Urteils durch zwei Prämissen. Eine brillante Leistung! Denn dieses Stück hält, anders als die Lehre vom Begriff oder Beweis, der Prüfung durch die moderne Logik im wesentlichen stand. Aber die aristotelische Syllogistik ist theoretisch wegen ihrer Beschränktheit auf nur vier Formen allgemeiner Urteile eine Sackgasse. Und praktisch ist sie bedeutungslos. Logistik

Erst mit der Begriffsschrift (1879) des Philosophen und Mathematikers Gottlob Frege (1848-1925), d.h. seiner Einführung einer formalisierten Sprache mit symbolischer Wiedergabe von Sprachausdrücken, konnten die Probleme gelöst werden, die eine Weiterentwicklung der formalen, nicht symbolischen Logik des Aristoteles hin zu einer Logik aller allgemeinen Urteile verhindert hatten. Beispielsweise konnte ein gültiges Argument wie „Alle Gelehrte sind Menschen => Alle Gelehrtenköpfe sind Menschenköpfe“ bis dahin nicht abgehandelt werden, weil die hier vorkommenden Prädikate nicht als Beziehungsprädikate begriffen werden konnten. Das ging erst mit der Einführung von Existenzquantor (es gibt mindestens ein x, für das gilt ...) und Allquantor (für jedes x gilt) durch Frege. (Vgl. Logistik).

1892 erschien Freges Schrift Sinn und Bedeutung, mit der er die Logik von der Psychologie abgrenzt, worin ihm später Husserl folgen sollte. Der Sinn eines Ausdrucks, z.B. „Dreieck“, wird unterschieden von der Vorstellung, die jemand beim Wort „Dreieck“ hat. Diese ist bei der jedesmaligen Vorstellung psychologisch-privat. Jener, der Sinn, kann aber Eigentum von mehreren Subjekten oder vom selben Subjekt beim jedesmaligen Vorstellen sein. Und der Sinn wird noch einmal unterschieden von der Bedeutung, die bei Ausdrücken verschiedenen Sinnes, wie „Dreieck“ und „Dreiseit“, dieselbe sein kann. Sind die Ausdrücke Sätze, z.B. „Die Sonne ist aufgegangen“, heißt der Sinn des Satzes bei Frege „Gedanke“. Die Bedeutung ist dann das „das Wahre“ oder „das Falsche“.

Gedanken sind objektiv, keine Bewußtseinsinhalte (Vorstellungen). Sie gehören, so Frege in seiner Schrift Der Gedanke, in ein „drittes Reich“ ewiger Wahrheiten oder Ideen, die unsinnlich sind und keines Trägers bedürfen, in dessen Bewußtsein sie (wie die Vorstellungen) vorkommen. Wieso sind sie aber doch ab und zu meine Wahrheiten, kommen sie in mein Bewußtsein? Frege wußte, daß sie von einem Ich ergriffen werden können, sie können dann das Bewußtsein des Subjekts und durch es die Welt verändern. Denn: Sicher ist, daß ich keine bloße Vorstellung bin. Das heißt: Nicht alles ist Vorstellung. Also können auch Gedanken an sich sein, und nicht bloß vorgestellt. Die Sicherheit, daß es mich gibt und die bloße Wahrscheinlichkeit, daß es noch anderes wirklich gibt (z.B. andere Menschen und eben Gedanken, z.B. den Satz des Pythagoras): das ist das Zentrum von Freges Philosophie. Aber die Sicherheit des Ich ist logisch erschlichen. Alles stürzt einmnal wieder im Ich zusammen. Frege behauptete, daß ich selbst nicht neben der Mondvorstellung auch ein Teil meines Bewußtseinsinhaltes sein kann, wenn ich urteile, daß ich den Mond betrachte. Denn dann hätte dieser Teil wieder ein Bewußtsein, und ich wäre „ins unendlich in mir eingeschachtelt“! „Das ist doch wohl undenkbar“, so Frege: „Ich bin nicht meine eigene Vorstellung“! „Nicht alles ist Vorstellung. So kann ich denn auch den Gedanken als unabhängig von mir enerkennen.“ Das Ich ist auch keine unendliche Fraktalisierung oder Selbstabbildung.

Der Begründer der modernen mathematischen Logik, der Logistik und der modernen philosophischen Logik, Frege, war auch der Begründer des Antipsychlogismus, denn er war der erste, der gegen den Psychologismus kämpfte, besonders gegen den in der Logik.

Frege wirkte besonders maßgeblich auf z.B. Russel, Church, Quine u.a., ja auf die gesamte angelsächsische Philosophie bis heute, wirkte auf den Wiener Kreis (Neupositivismus), dessen Begründer Schlick war und zu dem sonst noch z.B. Wittgenstein, Carnap, Reichenbach gehörten, und wirkte auch u.a. auf Husserl und Heidegger. **
Aristoteles' Schriften
(Auswahl):

1.) Logik
Kategorien
Lehre vom Satz
1. und 2. Analytik
Topik
Sophistische Widerlegungen

2.) Naturwissenschaft
Physik
Die Seele
Bau der Tiere
Astronomie

3.) Metaphysik
Bücher 1-14

4.) Ethik
Nikomachische Ethik
Eudemische Ethik
Magna Moralia
Politik
Staat der Athener

5.) Rhetorik
Rhetorik 1-8

6.) Poetik

 

Kants Tafel der
12 Kategorien (KategorienKategorien):

1.) Quantität
Einheit
Vielheit
Allheit

2.) Qualität
Realität
Negation
Limitation

3.) Relation
Substanzialität
Kausalität
Wechselwirkung

4.) Modalität
Möglichkeit
Wirklichkeit
Notwendigkeit

 

Erwachsen Durch Platon wurde die antike Philosophie erwachsen. Platon
Erwachsen Durch Aristoteles wurde diese zivil-moderne Reife eine Spätlese: 1. Herbsternte. Aristoteles


Für Platon war Wissen Wiedererinnerung und deshalb eigentlich nichts Neues möglich. Für Aristoteles aber war neues Wissen möglich, allerdings hatte auch er eine Vollendung des Wissens im Sinn: die Erkenntnis des Göttlichen oder das göttliche Wissen selbst. Doch diese Gotteserkenntnis ist mit der Welterkenntnis verbunden, geht von ihr aus. So konnte man in der Christenwelt auf Aristoteles zurückgreifen, sich mit ihm der Welt öffnen; man nannte ihn „Wegbereiter Christi im Felde des Natürlichen“. Im Abendland (besonders im angelsächsischen Raum) gab man Aristoteles wegen seiner realistischeren Einstellung meist den Vorrang vor Platon. Bis an die Schwelle der Neuzeit galt Aristoteles' Lehre in allen Stücken, wie sonst nur bei der Bibel, als „unfehlbar“. Aristoteles war der Lehrer des (jungen) Abendlandes. Er begann seine Metaphysik mit der Bemerkung, daß alle Menschen natürlicherweise nach Wissen streben, das beweise die Freude an der Sinneswahrnehmung. Bei Platon war das anders. Bei ihm mußten die Menschen durch bereits eingeweihte Philosophen zur Wissenserlangung gezwungen werden, d.h. von ihren bereits in die Haut eingewachsenen Ketten befreit und aus der Höhle heraus in die blendende Helle geführt werden. Dies, obwohl sie auch Freude an der Sinneswahrnehmung hatten. Denn bei Platon galt es, sich von dieser abzuwenden. Doch für Aristoteles führte der Weg vom Sinnlichen ausgehend hin zum an sich Wahren. Es galt, den Erscheinungen folgsam zu sein. Daß die Welt existiert und kein Schein ist, war für ihn Tatsache. Das Streben nach Wissen selbst verlor durch Aristoteles seine transzendente Verankerung, es wurde rein immanent erklärt aus einer lebensdienlichen Funktion. Aber auch Aristoteles suchte, wie Platon, nach dem Wesen von allem, was ist, nach dem Wesen des Einzelseienden. Für Aristoteles konnte das nichts anderes als das Einzelne selbst sein, also nichts abgehobenes Allgemeines wie Platons Ideen. Es mußte etwas mit dem Einzelseienden Verbundenes sein. Denn das Einzelne sollte ja, wie schon bei Platon, durch es seine Existenz haben. Das Wesen konnte für Aristoteles nur als Wesen des Einzelnen, d.h in diesem selbst und durch es hindurch erscheinen.

Nach Platons Gründung der Akademie (385 v. Chr.) und Aristoteles' Peripatetiker-Schule (335 v. Chr.) entstanden Pyrrhons Skeptiker-Schule (312 v. Chr.), Zenons Stoiker-Schule (um 300 v. Chr.), Epikurs Schule (um 300 v. Chr.) und die bereits erwähnten 13-bändigen Elemente des Mathematikers Euklid (um 312/300), dessen Parallelenaxiom genau einen Weltmonat lang Gültigkeit haben sollte, bis Gauß (um 1800) die erste nicht-euklidische Geometrie entwickelte. (Gauß). Ebenfalls einen Weltmonat nach den antiken sehen wir neue abendländische Denkschulen, wobei man hier immer wieder auf den apollinisch-austischen Gegensatz zurückkommen muß, um zu verstehen, weshalb Form und Inhalt dieser Schulen Oppositionen darstellen, in der Genetik einer Kultur aber immer wieder analoge Kriterien der Evolution am Werk sind. Im Vergleich zu Platon, der seinen Idealismus auch politisch zu verwirklichen suchte (im Reich des Tyrannen Dionysios I. in Sizilien), blieb Kant praktisch ziemlich apolitisch und entwickelte statt dessen seinen kategorischen Imperativ. Auch Aristoteles kann in praktischer Hinsicht als apolitisch gelten, auch und gerade wegen der Tatsache, daß er Alexander den Großen erzogen hatte, denn seine Beweggründe waren nicht das, was man ihm nach Alexanders Tod zu unterstellen versucht hat: Gottlosigkeit. Für Hegel und (sein eigentliches Analogon) Platon bedeutete erkennen sich erinnern und begreifen rekonstruieren; diese beiden großen Idealisten hatten auch ähnliche Staatsideen. Hegel sah im Staat den erscheinenden Gott, weil die Einheit rechtlichen Verhaltens und moderner Gesinnung das Entscheidende und im Staat höchste Form Erreichende sei - das Ideal schlechthin, weil es allgemeiner Natur sei. Diese allgemeine Form sollte Inhalt werden. Ob sie es dann wurde, war eine andere Frage. Man hatte die Idee, und das war entscheidend. In einer antiken körperlichen Polis war die Idee anderer Natur. Man ertrug hier keinen Inhalt, weil er nur Chaos zu bedeuten schien, und ging gleich zur Form über. Die Antike war stets populär, was wir populistisch nennen würden, weil wir die Antike nicht wirklich verstehen können und wollen. Das Abendland war stets unpopulär, was die Antike unfertig oder nicht vorhanden genannt hätte, weil sie uns nicht wirklich hätte verstehen können und wollen. Das liegt an der antiken arch.

Der Unterschied zwischen Form und Inhalt zeigt ebenfalls den Gegensatz zwischen apollinischer und faustischer Kultur an. Für derartige Gegenpole gilt, daß hier Inhalt ist, wenn dort Form war und daß hier Form ist, wenn dort Inhalt war. Wahrscheinlich ist diese Polarität der Grund dafür, daß wir uns jede antike Form zum Inhalt und jeden antiken Inhalt zur Form machen. Da aber in der Antike auch der Inhalt förmlich gedacht wurde, als Substanz oder Urstoff (arch), so kann man zu der Vermutung gelangen, daß es im Abendland eigentlich kein Formdenken geben könne. Und in der Tat wird hier jede Form so lange analysiert oder ins Grenzenlose idealisiert, bis man auf jene mathematischen Formen trifft, die Gauß (1777-1855) geometrisch begründet hat und später in der Physik auf andere Weise durch Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation wieder auftauchen sollten. (20-22). Über lange wissenschaftliche Wege ist man also zu einem Gedanken gelangt, den Platon auf ähnliche Weise schon vertreten hatte, ohne naturwissenschaftlich zu experimentieren. Er experimentierte nur mit seinen Gedanken und denen seiner Akademieschüler. Als Platon seine Akademie betrieb, d.h. sich und seine Schüler aus der athenischen Grausamkeit nahm, sollte eine Philosophieschule in Gang gesetzt werden, die die Antike bis dahin nicht gekannt hatte. Als Kant im fernen Königsberg, das er nie verließ, wirkte, geschah durch die idealistisch-romantischen Bewegungen Ähnliches auf abendländische Weise.

 

Immanuel Kant (1724-1804; Kant) stammte aus einer Handwerkerfamilie mit 12 Kindern, studierte in Königsberg Mathematik und Naturwissenschaften, Philosophie bei dem Wolff-Schüler Martin Knutzen. Kant verbrachte sein ganzes Leben in Königsberg, wirkte ab 1756 als Privatdozent, ab 1770 als ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik mit großem Lehrerfolg, und er lehrte auch Naturwissenschaften, insbesondere Geographie. 1794 wurde der Begründer des Kritizismus bzw. der Transzendentalphilosophie durch eine königliche Kabinettorder verwarnt: wegen Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums. Kant hat den Begriff der Metaphysik geändert, den der Erkenntnistheorie neugeschaffen, beides in der Kritik der reinen Vernunft (1781). Er sah in der Metaphysik nicht mehr die Wissenschaft vom Absoluten, wie noch die dogmatischen Philosophen, besonders die Wolff-Schule, sondern die Grenzen der menschlichen Vernunft. Die Erkenntnistheorie sollte die Grenzpolizei gegen alle Anmaßungen und Grenzüberschreitungen über das Erfahrbare hinaus sein. Erkenntnisse beruhen nach Kant einzig und allein auf Erfahrung, auf Sinneswahrnehmung. Die Sinne allein geben Kunde von einer realen Außenwelt. Kant begründet das in etwa so: Erkenntnis entspringt nicht vollständig aus der Erfahrung, vielmehr wird sie geformt durch die apriori bereitliegenden Anschauungsformen des Raumes und der Zeit und die Denk- bzw. Verstandesformen der Kategorien. Die Kategorien sind einerseits die allgemeinsten Wirklichkeits-, Aussage- und Begriffsformen, also die Stammbegriffe, von denen die übrigen Begriffe ableitbar sind (Erkenntniskategorien), andererseits die Ur- und Grundformen des Seins der Erkenntnisgegenstände (Seins- oder Realkategorien). Die Erforschung der Kategorien nannte Kant transzendental. Die Erkenntnistheorie als spezialisierte Untersuchung der Erkenntnis gliedert sich in Erkenntniskritik, die von einem vorher bestehenden Erkenntnistypus ausgeht, an dem sie die vorhandenen Kenntnisse kritisch mißt, so Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781), und die Erkenntnismetaphysik, die das Wesen der Erkenntnis erforscht. Kant erschütterte aber eine Art von Metaphysik, die wahrnehmungslos und bloß spekulativ-konstruktiv vorgeht, indem er ihr die Fähigkeit zu irgendeiner Wirklichkeitserkenntnis absprach. Freilich räumte er ein, daß auch die durch Erfahrung gegründete Erkenntnis nicht auf die Dinge an sich, sondern nur auf deren Erscheinungen (Phänomene) zurückgeht. Reine Gedankenkonstruktionen hinsichtlich der Dinge an sich aber sind nach Kant erst recht keine Erkenntnisse. Dies versuchte er zu beweisen an der psychologischen, kosmologischen und theologischen Idee der bisherigen scholastischen, ontologischen, rationalistischen, damit als dogmatische Scheinwissenschaft entlarvten Metaphysik und natürlichen Theologie: der Unsterblichkeit der Seele, der Entstehung der Welt, der Existenz Gottes. Vgl. unten

Kritizismus heißt nach Kant das Verfahren, Möglichkeit, Ursprung, Gültigkeit, Gesetzmäßigkeit und Grenzen des menschlichen Erkennens festzustellen. Kant parallelisierte geistig das „Kindesalter“ mit dem „Dogmatismus“, das „Jünglingsalter“ mit dem „Skeptizismus“, das „reife Mannesalter“ mit dem „Kritizismus“. Systematisch hält der Kritizismus die Mitte zwischen Rationalismus und Sensualismus. Kants Kritizismus wendet sich


1.) gegen die Mißachtung der Wahrnehmung beim Erkennen,
2.) gegen die Behauptung, man könne aus bloßen Begriffen (Kategorien)
ohne Grundlegung durch Wahrnehmung Erkenntnisse bilden,
3.) gegen die Behauptung, Gott, Seele, Welt seien erkennbare Gegenstände,
während sie in Wirklichkeit (systembildende) Ideen sind.

Der Hauptsatz des Kritizismus:
Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen leer.


Der transzendentale Idealismus Kants besagt, daß nicht die Dinge an sich, sondern die Dinge nur als Erscheinungen erfaßbar sind. Transzendent bedeutet demzufolge, daß Erfahrungen bzw. Erkenntnisse überstiegen werden, wenn sie jenseits des Bewußtseins liegen, dieses also überschreiten. Transzendental dagegen bedeutet nicht etwas, was über alle Erfahrung hinübersteigt (= transzendent), sondern was vor ihr (a priori) zwar hervorgeht, aber doch zu nichts weiterem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. Der Begriff des Transzendentalen bezeichnet somit offenbar das Problem der Erkenntnislehre, aber auch die Erkenntnislehre selbst und ihrer Methoden. Die transzendentale Idee ist nach Kant ein Vernunftbegriff, ein Begriff, der nur in der Sehnsucht des Verstandes, das ihm Gegebene zu überschreiten, seinen Ursprung hat und die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, aber für die formale Anordnung der Begriffe und Erkenntnisse in einer vollständigen Wissenschaft unentbehrlich ist. Die 3 Ideen der Metaphysik sind nach Kant: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Platons Begriff der Ideen ist dagegen ein urtypischer (vorgeburtlicher), weil er methodisch in genau die andere Richtung zeigt: Ideen sind aufgrund vorgeburtlicher Erinnerung erfaßbare, Realität besitzende Urbilder der Dinge. Nach Platon sind sie nicht sinnlich, sondern nur geistig erfaßbar, und zwar mit eben jener Anamnese: der vorgeburtlichen Erinnerung. Anamnese sei, so Platon, eine Wiedererinnerung als Erkenntnis, weil jede Erkenntnis ein Sicherinnern der Seele an die Ideen sei, in deren Nähe sie vor ihrer Verbindung mit dem Körper weilte. Ideen sind nach Platon ewige und unveränderliche Urbilder. Das Ding bilde die Ideen ab und hat an der Idee teil. Somit ist die Idee in ihm gegenwärtig und demzufolge das Eigentlich-Seiende. Das Abendland hatte sich mit der platonischen Ideenlehre seit ihrem Bekanntwerden immer schon auseinandergesetzt, und mit Fichte, Schelling und Hegel erhielt sie jetzt erneut Bedeutung, aber an die eigentliche platonisch-antike Bedeutung kamen selbst diese 3 Hauptvertreter des Deutschen Idealismus und auch Goethes Urphänomene nicht heran. Keinem Menschen ist es möglich, kulturell gegensätzliche Seelenbilder und Ursymbole zu überwinden. Auch eine Synthese muß aufheben, wenn auch auf erhöhter Ebene. (Vgl. Aufheben und Dialektik). Ideen (Vergleich)

Antinomie nennt man den Widerstreit zwischen mehreren Sätzen, deren jeder für sich Gültigkeit hat. Kant stellte 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft eine besondere Antinomienlehre auf, in der er 4 Antinomien - 2 mathematische und 2 dynamische - unterschied, die jeweils aus Thesis (Behauptung) und Antithesis (Gegenbehauptung) bestehen. Kant erblickte die Hauptleistung des Verstandes in der „Synthesis der transzendentalen Apperzeption“, wodurch empirische Anschauungen zur Einheit einer Erkenntnis werden.

Rationalismus und Empirismus zusammengebracht zu haben, ist das Verdienst der Kritik der reinen Vernunft (1781): Kants Buch wurde damit zum Buch der Bücher der neueren Philosophie (Spätdenker). Kant definierte einerseits, was die Vernunft von sich her an Erkenntnis mitbringt (was a priori ist) - im Rationalismus schien das nahezu alles zu sein -, und andererseits, was die Vernunft sich durch die sinnliche Erfahrung geben lassen muß (was später als die Vernunft ist, oder a posteriori) - das schien dem Empirismus fast alles zu sein. Objektive Erkenntnis sei nämlich immer ein Zusammengesetztes aus beiden. Damit geht es allerdings der Metaphysik an den Kragen, denn ihre Gegenstände gehen ja nicht selten über alle sinnliche Erfahrung hinaus. Wenn es stimmt, daß von der Metaphysik seit Kant nichts anderes übrig geblieben ist als die theoretische Basis sicherer Naturwissenschaft und das Gewissen, dann hätten ja die metaphysischen Ideen - z.B. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit - nichts Antinomisches, Widersprüchliches, die Vernunft Zerbrechendes mehr an sich. (Beispiel). Hier findet man Kants zündende Idee, die stark an Platon erinnert: er unterscheidet nämlich die Welt, wie sie unabhängig von unserer Anschauung und unserem Verstand ist (die Dinge an sich), von der Welt, die uns als räumlich-zeitlicher Geschehenszusammenhang erscheint (die Dinge als Erscheinungen). Dann ist jedes Ding zweierlei:

1) Gedankending oder Ding an sich selbst (noumenon)
2) Erscheinung oder Ding als Gegenstand der Erfahrung (phainomenon)

Kant konnte, anders als der skeptische Hume, der Naturwissenschaft Sicherheit verschaffen: die Realität ist Meßbares, Empfindbares, kausal Erfolgendes in Raum und Zeit, aber das Ganze, diese Realität, ist nur Erscheinungswelt, Vorstellungswelt des Ich. Sie richtet sich in ihrer Erkennbarkeit nach dem Ich. Das nennt man die kopernikanische Wende in der Philosophie durch Kant. Die Dinge an sich, die Welt ohne das vorstellende Ich mit seinen Kategorien (Quantität, Qualität und Kausalität) und Anschauungsformen (Raum und Zeit), sind unerkennbar, aber eben denkbar. Und nun kommt das Entscheidende: zu dieser Welt der Dinge an sich gehört auch das Ich, sofern es sich selbst nicht sinnlicher oder „intelligibler Gegenstand“ sein kann. Und das geschieht, wenn der Mensch spürt, daß er soll. Sollen kommt in der ganzen Welt nicht vor, so Kant, nur im Menschen. Hier also, in der Freiheit, im Sollen, in der Moral, ist der Punkt, wo sich das Ich hinein ins Jenseits rettet, in eine intelligible Welt. Unsterblichkeit ist Verdienst der sittlichen Anstrengung:


Wir sind und jetzt durch die Vernunft schon als in einem intelligiblen Reiche befindlich bewußt,
nach dem Tode werden wir das anschauen und erkennen und dann sind wir in einer ganz anderen Welt,
die aber nur der Form nach verändert ist, wo wir nämlich die Dinge erkennen, wie sie an sich selbst sind.“
Kant, 1781

Kant äußerte sich also auch (pflichtgemäß) zum Sollen, zur Moral, kurzum: zur Ethik, deren Erörterung schon in der letzten Hochdenker-Phase zur Höchstform aufgelaufen war (antik wie abendländisch). Pflicht ist die verbindliche Pflege, für etwas zu sorgen. Diese als inneres Erlebnis auftretende Nötigung muß er vor Augen gehabt haben, um den von ethischen Werten ausgehenden Forderungen entsprechen und das eigene Dasein diesen Forderungen gemäß gestalten zu können. Kant kam in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) zu einer autonomen Pflicht-Ethik, die als eine bedeutende philosophische Leistung gelten kann. Kants Gedankengang ist in etwa folgender: Der Vernunft ist es zwar unmöglich, Gegenstände rein apriori, d.h. ohne Erfahrung theoretisch zu erkennen, wohl aber den Willen des Menschen und sein praktisches Verhalten zu bestimmen. Seinem empirischen Charakter nach, d.h. als Person, steht der Mensch unter dem Naturgesetz, folgt er den Einflüssen der Außenwelt, ist er unfrei. Seinem intelligiblen Charakter gemäß, d.h. als Persönlichkeit, ist er frei und nur nach seiner (praktischen) Vernunft ausgerichtet. Das Sittengesetz, dem er dabei folgt, ist ein „Kategorischer Imperativ“. Nicht auf äußere Güter gerichtetes Streben nach Glück, nicht Liebe oder Neigung machen ein Tun moralisch, sondern allein die Achtung vor dem Sittengesetz und die Befolgung der Pflicht. Getragen ist diese Ethik der Pflicht von der nicht theoretischen, sondern praktischen Überzeugung von der Freiheit des sittlichen Tuns, von der Unsterblichkeit des sittlich Handelnden, da dieser in diesem Leben den Lohn seiner Sittlichkeit zu ernten nicht befugt ist, von Gott als dem Bürgen der Sittlichkeit und ihres Lohnes. Diese 3 Überzeugungen sind nach Kant die praktischen Postulate von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Von religiöser Heteronomie - Fremdbestimmung u.s.w. - ist nach Kant die Sittlichkeit frei, weil sie autonom ist. In diesem Zusammenhang sah Kant seine Auffassungen über Recht, Staat, Politik und Geschichte, deren Wirklichkeit er sehr skeptisch gegenüberstand, besonders der des von ihm als ethisch-politisches Ideal anerkannten Ewigen Friedens.

Mit der Kritik der Urteilskraft (1790) schloß Kant seine Darlegungen zu seinem System des Kritizismus ab. Nach Kant ist Urteilskraft

1) das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d.h. zu unterscheiden, ob etwas
unter einer gegebenen Regel stehe oder nicht (subsumierende Urteile).
2) das Vermögen (die Fähigkeit), das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen
(Regel, Prinzip, Gesetz) zu denken (reflektierende Urteile).

Synthetisch heißt nach Kant ein Urteil, dessen Prädikats-Inhalt noch nicht im Subjekt-Inhalt enthalten ist, vielmehr durch den Urteilsvollzug erst neu hinzukommt. Synthetische Urteile, von Kant in synthetische Urteile a posteriori und synthetische Urteile a priori (z.B. mathematisch) eingeteilt, bringen also zu dem Begriff des Subjekts ein Prädiakt hinzu, welches in jenem noch gar nicht gedacht war (alle Körper sind schwer). Kant machte sie zu seinem sachlichen Ausgangspunkt für seine kritische Untersuchung der Erkenntnis. Daß sie möglich sind, ja vorhanden sind, wird dabei vorausgesetzt. Analytische Urteile dagegen sind nach Kant solche Urteile, deren Prädikat im Subjekt bereits enthalten ist (alle Körper sind augedehnt).

Kants Philosophie, in Fachkreisen seine theoretische, in weiteren Kreisen, z.B. bei Goethe und Schiller, seine praktische, rief schon zu seinen Lebzeiten eine starke Bewegung hervor. Auf Schiller wirkte Kant vor allem durch seine Sittenlehre, wenn auch Schiller die Härte der Kantschen Pflichtethik bekämpfte. Goethes anschauender Natur war zwar Kants Kritik der reinen Vernunft in ihrer Abstraktheit fremd, doch beeindruckte ihn Kants Kritik der praktischen Vernunft mit ihrer strengen Pflichtethik, und Kants Kritik der Urteilskraft habe ihm sogar die philosophische Grundlage für sein „Schaffen, Tun und Denken“ gegeben. Hamann, Herder und Jacobi traten als Gegner Kants auf. Fichte, Hegel, Schelling knüpften mit ihrer (aber nicht mehr kritizistischen!) spekulativ-idealistischen Metaphysik an Kant an. (Vgl. Idealismus).

Das Ganze der „Drei Kritiken“ - die Transzendentalphilosophie - besteht also aus den Bedingungen der Möglichkeit allgemeingültiger Naturerkenntnis (Wissenschaft), allgemeingültiger Willensbestimmung (Moral) und allgemeingültigen Geschmacks (Ästhetik). Neben dieser Durchführung seiner Philosophie betrieb Kant auch noch „Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung“. Darunter verstand er praktische Menschenkenntnis. Er publizierte sie 1798 unter dem Titel Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und in zahlreichen kleineren Schriften über die Menschheitsgeschichte, über Politik und Moral. Auf Kants Vernunftidee einer friedlichen Völkergemeinschaft (in der Schrift Zum ewigen Frieden, 1795) sollten sich später der Völkerbund (1919) und die UNO (1945) berufen.


Erwachsen Durch Kant wurde die abendländische Philosophie erwachsen. Erwachsen
Kant bildete den geistigen Übergang von jugendlicher zu erwachsener Kultur.
Dieser Denkpolizist fand den Grenzraum zwischen Hochdenkern und Spätdenkern.
Als jüngerer Vorkritiker war er Hochdenker, als älterer Nachkritiker war er Spätdenker.
Durch Kant erhielt auch das Abendland seine eigenen denkgeschichtlichen Fußnoten.

 

Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) war der Philosophielehrer der Romantiker und der Verkünder des modernen Individualismus. Er leitete die Philosophie der Menschen aus ihren Handlungen ab. Nicht nur alle Personen, sondern auch alle Dinge sind „im Leben“, das „Gott“ ist, behauptete er. Bei Jacobi finden sich sowohl lebens- als auch existenzphilosophische Ansätze. (Beispiele). Großes Aufsehen erregte seine Schrift „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Moses Mendelssohn“ (1785); er teilte darin ein Bekenntnis Lessings zum Spinozismus (Spinozismus) mit und erklärte den Atheismus für eine Folge des Spinozismus wie aller Verstandesphilosophie, während die wahre Philosophie auf Gefühl und Glauben beruhe und erst anfange, wo der Spinozismus aufhöre. In diesem Sinne bezeichnete sich Jacobi als „Heiden mit dem Verstande, Christen mit dem Gemüte.“ In seiner Jugend war Jacobi mit Lessing und Goethe befreundet, von 1807 bis 1813 war er Präsident der bayrischen Akademie der Wissenschaften in München. Jacobi führte den Nihilismus als Terminus bereits 1799 in seinem „Sendschreiben an Fichte“ ein.

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), für die meisten Romantiker der bedeutendste Philosoph, hatte zunächst die französische Revolution gefeiert (später aber nicht mehr!), galt als „Philosoph der Freiheit“, ja er wurde selbst zum „Napoleon der Philosophie“. Die 1788 erschienene Kritik der praktischen Vernunft von Kant hatte Fichte aus seinem „dogmatischen Schlummer“ erweckt. Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) war zunächst als ein Werk Kants angesehen worden war, nämlich als die lange erwartete, jedoch erst 1793 tatsächlich erschienene Religionsschrift Kants (Spinozismus); nachdem aber Kant Fichte für den doch 1792 erschienen Versuch einer Kritik aller Offenbarung als Verfasser genannt hatte, wurde Fichte schlagartig berühmt. Fichte bekam auf Betreiben Goethes in Jena eine Professur und verkündete dort 1794 sein „System der Freiheit“, seine Wissenschaftslehre; er erklärte: „Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation von den äußeren Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich, des äußeren Einflusses los, ... und stellt ihn in seinem ersten Grundsatz als selbständiges Wesen hin.“ Der Grundsatz lautet: „Das Ich setzt sich selbst.“ In diesem Grundsatz hängen alle Sätze des Systems zusammen. Sie bilden die systematische Form allen möglichen Wissens. Daher das Wort Wissenschaftslehre für dieses System. Fundament und Prinzip des Wissens ist demnach nicht etwas Vorgefundenes, keine Tatsache, auch nicht das Ich als Tatsache, sondern eine Tathandlung, schöpferische Tätigkeit, nämlich die, in der das Ich zu sich kommt und sich, wie sonst nur Gott, selbst erzeugt. Also gehört dazu, daß sich das Ich unterscheidet, von allem unterscheidet, was es nicht ist. Der zweite Grundsatz der Wissenschaftslehre lautet also: „Das Ich setzt sich einem Nicht-Ich entgegen.“ Da nun die entgegengesetzten Gegenstände im Bewußtsein sind, lautet der dritte Grundsatz, der die beiden anderen verbindet und umfaßt: „Das Ich setzt sich im Ich einem Nicht-Ich entgegen.“ Die drei Grundsätze bilden als These, Antithese und Synthese die Grundfigur der Dialektik. Alles, was im menschlichen Geiste vorkommen kann, muß sich, so Fichtes Forderung, aus den aufgestellten Grundsätzen ableiten lassen.
Idealismus
Transzendal:
z.B.
Kant
 Subjektiv: 
z.B.
Fichte
Objektiv:
z.B.
Platon
Schelling
Hegel
Magisch:
z.B.
Schlegel
Schelling
(Romantik)
Abslout:
Hegel
Fichte ging also von Kants ethischem Rigorismus und Aktivismus aus. Fichtes Philosophie ist die wissentliche Selbstbeobachtung der schöpferisch-ethischen Aktivität der Persönlichkeit, des Ich. Also heißt seine Philosophie Wissenschaftslehre (1794). Fichte stellte in diesem Sinne drei Tathandlungen des Ich fest: 1.) Das Ich setzt sich selbst; 2.) Das Ich setzt sich einem Nicht-Ich entgegen; 3.) Das Ich setzt sich im Ich einem Nicht-Ich entgegen. Das Ich war für Fichte der Inbegriff des gegen die Trägheit ringenden Willens der Menschen. Demnach gäbe es ursprünglich nur eine absolute Tätigkeit: das Ich. So betrachtet stellen wir uns Dinge außer uns dadurch vor, daß das Ich eine Realität in sich aufhebt (außer sich setzt) und diese aufgehobene Realität in ein Nicht-Ich setzt, das ja auch eine Tathandlung des Ich ist.
Ich-Idealismus
1.)
Ich
setzt Ich
2.)
Ich
setzt Nicht-Ich
3.) Ich setzt im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen

Die Überzeugung, daß das Bewußtsein einer dinglichen Welt außer uns absolut nichts weiter sein soll als das Produkt unseres eigenen Vorstellungsvermögens, soll uns zugleich die Gewißheit unserer Freiheit geben. Nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern als die Dinge bestimmend ist das Ich zu denken. Für Fichte war die Welt nichts anderes als das Material unserer Tätigkeit, das versinnlichte Material unserer Pflicht. Alles, was zur Tätigkeit gefordert ist, ist auch sittlich gefordert. Dahin gehört vor allem die Ausbildung des Körpers und des Geistes und die Eingliederung in die menschliche Gemeinschaft, denn die Arbeit an der Sinnenwelt, die Kulturarbeit, kann nur eine gemeinsame sein. Andererseits haben alle Staatsbürger das Recht sowohl auf formale Freiheit und Schutz vor Vergewaltigung als auch auf Eigentum, Arbeitsgelegenheit und Teilnahme an den Erträgen der Staatswirtschaft, wie Fichte in seinem Geschlossenen Handelsstaat (1800) dargelegt hat.

Weil seit Fichtes Wissenschaftslehre (1794) von Gott nicht mehr die Rede war, kam es zum Atheismusstreit - Fichte verlor dadurch auf ungeschickte Weise seine Professur in Jena und wurde 1810 Rektor der Berliner Universität -, obwohl Fichte sich schon in der 1800 erschienen Bestimmung des Menschen auf Gott besonnen hatte, als ein durch ihn hindurch fließendes und wirkendes und nur mystisch erfahrbares All-Leben. Das Ich war also hier schon wieder durch das Absolute oder Gott ersetzt, das im Ich erscheint. Gott war nämlich für Fichte in den blinden Fleck des Bewußtseins, in eine Art schwarzes Loch, geraten; seine geistige Erweckung hatte Fichte laut eigener Auskunft dem Berliner Domprobst Spalding zu verdanken, und seitdem sah Fichte vieles wieder anders: Die Bestimmung des Menschen besteht aus den drei Teilen Zweifel, Wissen, Glaube. Wie, wenn ich selbst nur geträumt bin?  - „Es erscheint der Gedanke, daß ich empfinde, anschaue, denke; keineswegs aber: ich empfinde, schaue an, denke, Nur das erstere ist Factum; das zweite ist hinzu erdichtet. ... Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder. .... Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird ..., das Denken ... ist der Traum von jenem Traum.“ Fichte schaute also in den Abgrund der negativen Selbstreferenz, stieß ans unvorstellbare Nichtsein, an den Tod. Etwas „außer der bloßen Vorstellung Liegendes“ heißt das, nach dem Fichte von da an verlangte und fand, daß zumindest sittliches Tun Bestimmung des Menschen sei, denn: „unser Bürgerrecht ist im Himmel“, und die ganze Bestimmung kenne nur er, der „Vater der Geister“. Der Welt absterben, sich von der Welt lösen, um wiedergeboren zu werden in einem anderen Leben - das war von da an die die religiös-platonistische Devise des Idealisten Fichte. Er wurde weiterhin bekannt durch seine Reden an die deutsche Nation (1807-1808).

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) kreierte ein System, das aus 3 Teilen besteht (Hegel): der Logik (Ontologie), die das Sein Gottes vor Erschaffung der Welt nachvollzieht, der Naturphilosophie, die Gottes Entäußerung in die materielle Welt zum Inhalt hat, und der Philosophie des Geistes, die die Rückkehr Gottes aus seiner Schöpfung zu sich selbst (zu seinem Selbstdenken) im menschlichen Geiste schildert. Am Ende steht wiederum die Logik - diesmal jedoch die von Gott im Menschen vollzogene, die sich aber inhaltlich von der ersten nicht unterscheidet. Das Prinzip der dialekischen Entwicklung (Dialektik Dialektik) ist die aus dem Widerspruch resultierende Bewegung. Schon in der Natur findet ein allmähliches „Insichgehen“ der Äußerlichkeit statt, aber die eigentliche „Rückkehr“ des Geistes aus seinem „Anderssein“ (= Natur) vollzieht sich erst im Menschen. Der Mensch, der zunächst naturhaft seelenhaft (Anthropologie) existiert, trennt sich auf der Stufe des „erscheinenden Bewußtseins“ (Phänomenologie) von seinem unmittelbaren Dasein und tritt in Gegensatz zu ihm, bis er als Geistwesen (subjektiver Geist) seine eigene geistige Substanz als identisch mit seinem bewußten Verhalten erkennt. Die gleiche Entwicklung machen die von der Gemeinschaft der Menschen geschaffenen Formen wie Recht, Moralität, Sittlichkeit durch, bis hin zum Staat (objektiver Geist). Auch hier ist die 3. Stufe wiederum die Synthese der beiden ersten, die sich antithetisch zueinander verhalten. In der konkreten Sittlichlkeit (von Familie, Gesellschaft und Staat) ist eine Einheit von rechtlichen Verhalten und moralischer Gesinnung das Entscheidende. Diese Einheit erreicht im Staat ihre höchste, weil allgemeinste Form. Daher ist der Staat für Hegel der erscheinende Gott, denn Gott ist die Einheit von Subjektivität und Objektivität schlechthin. Über den Gebilden des objektiven Geistes stehen die 3 Gestalten des Anschauens, Vorstellens und Wissens (diese 3 als absoluter Geist) der absoluten Identität von Substanz und Subjekt. In der Kunst wird diese Einheit nur erst „angeschaut“, das Gedankenhafte (Ideelle) scheint durch die Materie hindurch, in der Religion wird sie in einer jenseitigen Person „vorgestellt“, die zugleich Gott (Denken des Denkens) und Mensch (im sittlichen Dasein) ist, und erst im absoluten Wissen wird diese Einheit als vollkommene Identität von subjektivem (menschlichem) und absolutem (göttlichem) Geist gewußt, erst hier erreicht die Erhebung des endlichen Wesens Mensch zum Unendlichen ihr Ziel.


Für Hegel steht über den Staaten nur noch der Weltgeist,
der sich durch den dialektischen Kampf der Volksgeister hindurch entwickelt.
Die gesamte Weltgeschichte wird als Prozeß der Selbstbewußtwerdung des Weltgeistes
aufgefaßt und zugleich damit als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“.

 

Hegels Freiheit besteht aber darin, daß der Mensch seine Wesensidentität mit dem Absoluten erkennt und sich mit den letztlich auch vom Absoluten geschaffenen Gebilden des objektiven Geistes und ihrem Wollen - Staat und Recht - identifiziert. Kein deutscher Denker, selbst Kant nicht, hat so nachhaltig auch auf fremde Nationen gewirkt wie Hegel. So wie Alexander von Humboldt (1769-1859) als „wissenschaftlicher Entdecker Amerikas“ gilt, so gilt Hegel als der „universalierende Weltgeist der Weltgeschichte“. Sein bekanntestes und genialstes erstes größeres Werk, die „Phänomenologie des Geistes“, ging um die ganze Welt. Der Hegelianismus (Gegenteil: Aristotelismus?), der sich in eine „Rechte“ (theistische), eine „Mitte“ (Gans, Michelet u.a.) und eine radikale „Linke“ aufspaltete, also Althegelianer (Gegenteil: 1. Aristoteliker?) und Junghegelianer (Gegenteil: 2. Aristoteliker?) und damit die folgenreichsten Hegel-Nachfolger - auch Marx und Engels waren Hegelianer - hervorbrachte, verbreitete sich weltweit und mündete in den Neu-Hegelianismus (Gegenteil: Aristarchos' Neu-Aristotelismus?). Könnte es deshalb in Zukunft nicht auch einen Hegelianischen Soziologismus (Gegenteil: Aristotelische Stoa?) geben? Auch der Kantianismus (Gegenteil: Platonismus), der Altkantianer (Gegenteil: Alte Akademie?), Neu-Kantianer (Gegenteil: Mittlere Akademie?) und Neu-Neu-Kantianer (Gegenteil: Neuere Akademie?) hervorbrachte, könnte in Zukunft weitere Kantianismen entwickeln und auch Mittlerer Kant(?)ismus (Gegenteil: Mittlerer Platonismus?) und Neuerer Kant(?)ismus heißen, wobei letzterer dann tatsächlich ein Neukantianismus (Gegenteil: Neuplatonismus?) wäre. Überhaupt entwickelte sich ja der gesamte Idealismus über bestimmte Neoismen zum Neu-Idealismus (vgl. 20-22) und über weitere neue Ismen (Neo-Neoismen) zum Neu-Neu-Idealismus. (Vgl. 22-24). Die über die eigene Kultur hinausreichende Wirkung, die Platon und Aristoteles erreichten, könnte auf abendländische Weise auch für Kant und Hegel gelten. Eine Wirkung bis ins Unendliche?

Idealismus
IDEALISMUS

Kantianismus
Altkantianer

Hegelianismus
Althegelianer (Rechte)
Hegelsches Zentrum (Mitte)
Junghegelianer (Linke
)

Neu-Idealismus
Neu-Idealismus
Neu-Idealismus

Neu-Kantianer
(Lange, Mach, Cohen u.a.)
(Kant-Gesellschaft)

Neu-Hegelianer
(Dilthey, Fischer u.a.)
(Hegel-Bund)
(Hegel-Gesellschaft)

Neu-Neu-Idealsimus
Neu-Neu-Idealismus
Neu-Neu-Idealsimus

Neu-Neu-Kantianer

 

„Gott ist ein Schluß, der sich mit sich zusammenschließt.“ (Hegel)

Hier sei noch einmal an das „Problem der Universalien“ erinnert: Die Universalien sind im Geiste Gottes vor den Dingen, in der Realität in den Dingen und im menschlichen Geist nach den Dingen. Man kann den möglichen drei Antworten (vor, in, nach) die drei großen Philosophen zuordnen: Platon, Aristoteles und Kant; aber der vierte große Philosoph, Hegel (für den „Alles Schluß“ war), stellte in seiner „Enzyklopädie“ und ihren drei Teilen (syllogistisch) die Dreieinigkeit von Logik, Natur und Geist dar, entsprechend der Dreieinigkeit von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist. Die Einheit der drei ist ein Schluß. Die Logik wird der Natur entgegengesetzt und im Geist mir ihr verbunden. Dies ist die dialektische Figur der von Fichte aufgestellten drei Grundsätze. Das System ist ein System aus Dreiecken, die sich durch selbstähnliche Abbildung, wie bei einem Fraktal, vermehren. Hegel hat das selbst in seiner Zeichnung vom „göttlichen Dreieck“ angedeutet. Hegels „Enzyklopädie“ endet und kulminiert in einem Zitat des Aristoteles. „Denn der Vernunft wirkliche Tätigkeit ist Leben, die Gottheit aber ist die Tätigkeit; ihre Tätigkeit ist ... ewiges Leben“. Hegel meinte damit, die Entgegensetzung von Glauben und Wissen endgültig überwunden und zugleich alles begriffen zu haben - alles, bis ins kleinste Detail hinein.

 

„Nach Hegel heißt philosophisch denken
die Ernte des Seienden nach Hause bringen; ...
der Wein der Wahrheit wird aus Spätlesen gewonnen.
Hegels typische Zeiten sind darum Herbst und Abend;
seine bevorzugte Denkfigur ist der Schluß,
seine innerste Farbe das nachtnahe Grau. ...
Bedeutet das Werden eine Schule,
muß diese doch zu einem Abschluß führen;
ist es Prozeß, so kann in ihm
der Moment des Urteils nicht ausbleiben.
In diesem Sinne ist Hegel der Denker der Reife ...
Hegel hätte, im Traum wie in Wirklichkeit,
Napoleon gegenübertreten können mit dem Satz:
Ich bin der Gedanke zu deiner Tat.
...
Durchbruch zum vollbrachten Verfassungsstaat.“

(Peter Sloterdijk; Verbindung zu Sloterdijk?)

 

Hegels Philosophie trifft im Großen und Ganzen das, was,
wie Hegel selbst sagte, die meisten Leute immer schon glaubten:
- (1) -
Daß die Welt und der Lauf der menschlichen Geschichte verstehbar seien,
in sich vernünftig und daß alles in Fortentwicklung begriffen ist,
um so zu werden, wie es sein soll gemäß seiner Idee.
- (2) -
Daß Gott mit seinen Ideen in allem ist, daß es allerdings manches gibt, was nicht
den Namen eines Wirklichen verdiene, weil es nicht so ist, wie es sein soll.

 

Erwachsen Durch Kant wurde die abendländische Philosophie erwachsen. Platon
Erwachsen Durch Hegel wurde diese zivil-moderne Reife eine Spätlese: 1. Herbsternte. Aristoteles

 

Mit Hegel begann die Vollendung der Metaphysik, weil die unbedingte Gewißheit als die absolute Wirklichkeit zu ihr selbst kommt; aber dies ist erst der Beginn der Vollendung, also noch nicht die Vollendung selbst, denn noch ist die Möglichkeit des unbedingten Eingehens auf sich als dem Willen des Lebens nicht vollzogen; noch ist der Wille nicht als der „Wille zum Willen“ in seiner von ihm bereiteten Wirklichkeit erschienen, weshalb die Metaphysik mit der absoluten Metaphysik des Geistes noch nicht vollendet ist! Metaphysik

Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854) war theologischer Mitstudent von Hegel und Hölderlin, schloß sich der Philosophie von Kant und Fichte an, erweiterte sie naturphilosophisch und gelangte schließlich zu einer Philosophie der Offenbarung. Mit Fichte und Hegel zusammen gilt Schelling als Hauptvertreter des Deutschen Idealismus bzw. des Übergangs zur Romantik. Wegen seiner steten Wandlung wurde Schelling auch der „Proteus der Philosophie“ genannt. Nach Schelling ist das Absolute (Ideal-Real-Identität) unmittelbar erfaßbar durch die intellektuelle Anschauung und in der Kunst, die gleichberechtigt neben, grundsätzlich sogar über der Philosophie steht und alles Trennende vereinigt. In den Gegenständen der empirischen Wirklichkeit ist je nach der Stufe die Natur oder der Geist stärker vertreten. Infolgedessen bildet das Reich der Natur wie das Reich des Geistes (die Geschichte) eine (Entwicklungs-) Reihe, deren einzelne Stufen Schelling als „Potenzen“ bezeichnete. Verwandt sind diese Potenzen nur durch ihren gemeinschaftlichen Urgrund, das Absolute; insofern entsteht nicht eine Stufe aus der anderen, sondern das Absolute läßt sie direkt aus sich hervorgehen, um so zu seiner völligen Entfaltung zu gelangen. (Identitätsphilosophie). Schellings Entwicklungslehre ist idealistisch wie diejenige Hegels. Seit 1807 wandte sich Schelling dem Problem der Freiheit des Menschen und seines in seinem Willen begründeten Verhältnisses zu Gott zu. Anschließend entwickelte Schelling in seiner Metaphysik der Religionsgeschichte Grundlagen zur späteren Religionswissenschaft. Das letzte Stadium seiner Philosophie ist besonders tiefsinnig, aber schwer zugänglich - vielleicht ein Versuch, die Neumystik wieder zum Leben zu erwecken (?!).

Was im Abendland mit dem Sturm und Drang, dem freien Gefühl gegenüber der Vernunft begann (16-18), das begann in der Antike mit Platons periagoge. Beide Bewegungen sind Umdrehungen, d.h. Revolutionen der Seele, was ich Erwachsenwerden nenne. Platons Höhlengleichnis und seine Abwendung von der immer schrecklicher werdenden griechischen Tragödie, die ihn die Akademie erst zu gründen veranlaßte (385 v. Chr.), ist zu vergleichen mit dem räumlichen Pendant der Deutschen Bewegung, die durch die Vergangenheit in das Innerste schaut. Fast gleichzeitig beginnt mit ihr die Industrialisierung, die Bevölkerungsexplosion: Ruhrpott und Romantik gehören doch irgendwie zusammen. Die Idealismus-Romantik ähnelt der platonischen Akademie, während die wissenschaftlichen Einzelgänger und Kant-Anhänger in der abendländischen Klassik den wissenschaftlichen Einzelgängern und Aristoteles-Anhängern gleichen, auch in den weiteren Entwicklungen. Als idealistischen Universalismus und Enzyklopädismus kann man die Romantik ansehen, insbesondere den Jenaer Romantik-Kreis um die Brüder Schlegel. In Friedrich Schlegel (1772-1829) hat sich das Schicksal der Romantik philiosophisch am deutlichsten ausgedrückt. Der gebürtige Hannoveraner begann nach seiner Kaufmannslehre in Leipzig ein geisteswissenschaftliches Studium in Göttingen und Leipzig und war mit Schleiermacher (1768-1834) befreundet. Er arbeitete mit Fichte (1762-1814), Schelling (1775-1854), Novalis (1772-1801) und Tieck (1773-1853) zusammen. Von 1820 bis 1823 gab Schlegel die konservative Zeitschrift Concordia heraus. Als Ästhetiker, Literaturtheoretiker, Literaturhistoriker, Dichter und Kritiker war er geistiger Mittelpunkt der Frühromantik.

Freidrich Schlegel begründete mit seinen Schriften die Theorie der romantischen Dichtkunst; er verstand die Romantik als progressive Universalpoesie, d.h. als Erschließung der transzendental-poetischen Struktur der Schöpfungswirklichkeit. Goethe und Schlegel lernten sich 1797 in Jena kennen und trafen sich auch später des öfteren. Goethe las Schlegels Aufsätze (z.B. Die Griechen und die Römer), seine Geschichte der Poesie und seinen Roman Lucinde; Schlegel stellte in seinen Fragmenten, vornehmlich in der Zeitschrift Athenäum veröffentlicht, die Goethesche Dichtung als musterhaft hin. Vor allem erschien ihm Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) und nicht mehr die Tragödie als Höhepunkt der Dichtung überhaupt. Er nannte ihn neben der Französischen Revolutuion und Fichtes Wissenschaftslehre eine der 3 größten Tendenzen des Zeitalters. Mit der Charakteristik des Wilhelm Meister (1798) und dem Gespräch über die Poesie (1800) setzte Schlegel den Beginn einer wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung. 1802 brachte Goethe Schlegels Tragödie Alarcos (1802) in Weimar zur Aufführung und las ohne Zustimmung Schlegels Schrift Über die Sprache und Weisheit der Inder (1808). Schlegel war der Begründer des Sanskrit-Studiums und Wegbereiter der vergleichenden Sprachwissenschaft. (Vgl. Schlegel/Grimm und ).

Die abendländische Romantik kann als Versuch einer Nationalisierung des humanistisch-idealistiscn Universalismus und als eine Verknüpfung des schon erwähnten Neuplatonismus mit dem Germanischen bezeichnet werden, in der eine idealistisch-pantheistische Denkweise vorherrschend ist. Sie war eine Deutsche Bewegung. Die Vertreter ihrer Entwicklungsstufen - aus Sturm und Drang, Klassik und Romantik - kennt wohl jeder. Eine Romantisierung des von der humanistischen Generation geschaffenen Werkes (vgl. 10-12 und 12-14) sowie die Erfahrung des Ich und der Tiefen der menschlichen Seele ist ihr Wesenszug. In Goethe und Schelling trat der stoffgläubig-mechanistischen Naturwissenschaft des Westens eine schöpferische Naturlehre gegenüber. Auf diesen Wesensgegensätzen beruht auch die starrdogmatische Ablehnung der Newton'schen Farbenlehre durch Goethe. Im Mittelpunkt der Naturauffassung Goethes stehen die Begriffe Urphänomen, Typus, Metamorphose und Polarität. Nüchtern und realistisch dachte Goethe über die Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre“. Zusammengefaßt ist dies das erste erwachsene, frühherbstliche, frühabendliche Projekt zum Selbstverständnis und zur Feststellung der eigenen (Kultur-) Geschichte. Nicht umsonst hat die historische Methodik durch Leopold von Ranke (1795-1886) und hat die sprachwissenschaftliche Methodik durch Franz Bopp (1791-1867) und die Märchen sammelnden Gebrüder Grimm (1785-1863 und 1786-1859) gerade in dieser Zeit ganz entscheidende Impulse erhalten. Und während sich Physik, Chemie, Biologie, Medizin, Verkehrstechnik, Nachrichtentechnik, Drucktechnik, Kriegstechnik und die Photographie rasant weiterentwickelten und das Licht angeknipst wurde, ging den Menschen jenes Licht noch nicht auf, welches die mit Geld und Geist gerüstete Technik benutzt, wenn sie Massenmeinungen unter Kontrolle bringen will. Und sie wollte schon damals.Analog dazu kann man für die Antike die Errungenschaften nennen, die seit der Gründung der Bibliothek in Alexandria (287 v. Chr.) zu deren Geistesblitze führten. Der Geist denkt und Gott lenkt, hatte es früher geheißen. Jetzt hieß es: der Geist denkt und das Geld lenkt. Die Menschen mußten jetzt immer mehr das denken, was die freie Meinungsäußerung ihnen vorgab. Sie ahnten, aber wußten noch nicht so recht, wer der Lenker sein sollte. Die klassisch-romantische Eisenbahn fuhr noch eingleisig.

Was ist der Mensch?  Nach Kant lassen sich in dieser Frage alle Fragen der Philosophie zusammenfassen. Nach seiner Meinung braucht man für die Antwort auf die Frage nach der Reichweite des menschlichen Geistes keine Erforschung der „paranormalen“ Phänomene, bei denen der Geist des Menschen ohne Vermittlung des Körpers auf außerkörperliche Dinge wirkt (z.B. Telekinese) und auch ohne Vermittlung der Sinnesorgane wahrnimmt (z.B. Hellsehen). Kant bestritt diese Phänomene in seiner Schrift „Träume eines Geistersehers(1766). Er hielt sie für Scharlatanerie und gab damit dem berühmten Wissenschaftler und Ingenieur Emanuel Swedenborg (1688-1772), der damals durch seine okkultem Fähigkeiten, besonders den Kontakt mit Geistern, von sich reden machte, der Lächerlichkeit preis. Als Kant dann etwas später dahinter kam, daß Raum, Zeit und physikalische Kausalität nur subjektive Formen für die Erscheinung der „Dinge-an-sich“ sein könnten, hätte er allerdings sein Urteil revidieren und zumindest die Möglichkeit solcher von Raum und Zeit unabhängiger Wirksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit des Geistes zugestehen müssen. Er tat es nicht. (Kant). Aber Schopenhauer (1788-1860) hat dann in seiner Schrift „Versuch über das Geistersehen(1851) an seiner Stelle nachgeholt. Für ihn ist die Natur an sich das, was wir in uns selbst unmittelbar als Willen finden. Dieser Wille ist allmächtig, allsehend und allwissend. Die okkulten Phänomene der actio et visio in distans (Fernwirken und Fernsehen) geschehen durch Teilhabe des einzelnen Individuums am metaphysischen Willen. Später sollte der von Haeckel (1834-1919) beeinflußte Biologe und Philosoph Hans Driesch (1867-1941) nicht nur zur Aufstellung des Systems eines kritischen antimaterialistischen Vitalismus (Neu-Vitalismus) gelangen, sondern in seinem Buch „Alltagsrätsel des Seelenlebens“ (1938) auch ganz im Sinne Schopenhauers die normale Wirksamkeit des Geistes (mittels des Leibes) als Aufhebung einer Einschränkung und als Kanalisierung der Allwirksamkeit und Allwissenheit des Geistes durch den Leib erklären. Allwirksamkeit und Allwissenheit sind in den leiblichen Individuen als gänzlich maskiert oder eingeschränkt anzunehmen. Diese Maskierung und Einschränkung werden bei gewissen Hirnreizungen partiell aufgehoben. Was man das Paranormale nennt, ist also eigentlich das „Normale“: das universelle Allwissen und Allwirken (vgl. Leibniz' Ideal der Monade als wahrer Spiegel der Welt), das gelegentlich, meistens durch „emotionale Verbundenheit“ von seiner Verdeckung durch die leibliche Individuation befreit wird. Neben Schopenhauer waren auch Fichte und Hegel Kants Idealismus gefolgt, d.h. sie übernahmen Kants spätere Lehre der Idealität (Imaginiertheit) von Raum und Zeit. Entsprechend war ihre Einstellung zu parapsychologischen Phänomenen positiv. Parapsychologie war damals, Ende des 18. Jahrhunderts, durch die Wirksamkeit des Franz Anton Mesmer (1734-1815) im Gespräch. Man nannte sein Erforschen und seinen Umgang mit okkulten Kräften deshalb Mesmerismus. Mesmer selbst sprach vom tierischen oder animalischen Magnetismus, weil er die dabei hauptsächlichen Hypnosephänomene durch Magnetismus erklärte. Hegel stellte 1830 in der „Enzyklopädie IIIfest, daß die „endlichen Auffassungen des Geistes“ von empirischer Seite „mit aller Brutalität einer ausgemachten Tatsache“ vom animalischen Magnetismus verdrängt worden seien und daß nun auch von theoretischer Seite diese Phänomene eines von den Schranken des Raums und der Zeit befreiten unendlichen Geistes begriffen werden müßten. Seine spekulative Philosophie sei die einzige, für welche der animalische Magnetismus kein unbegreifliches Wunder ist. Parapsychologie


Der 1825 zum Protestantismus konvertierte Heinrich Heine z.B. „sah in der Geschichte der neueren (d.h.: modernen) deutschen Philosophie in erster Linie den Abfall vom Christentum. Der zum Abdruck gebrachte Teil der philosophischen Entwicklung von Kant bis Hegel gilt als Meisterstück populär-philosophischer Darstellungskunst. Mit Recht hat man bemerkt, daß die weitverbreitete Annahme, Kant habe den moralischen Gottesbeweis - nachdem er die spekulativen Beweise widerlegt hatte - nur ironisch gemeint, auf Heine zurückzuführen sei. So zieht Lampe, Kants Diener, in die Unsterblichkeit ein, denn allein ihm zuliebe ließ Kant - so sagt wenigstens Heine - den moralischen Gottesbeweis gelten.“ (Leo Winter in der Einleitung zu: Heinrich Heine, Zeitkritische Schriften, 1834). Heine schrieb 1834 unter anderem: „Es ist entsetzlich, wenn die Körper, die wir geschaffen haben, von uns eine Seele verlangen. Weit grausamer, entsetzlicher, unheimlicher ist es jedoch, wenn wir eine Seele geschaffen und diese von uns ihren Leib verlangt und uns mit diesem Verlangen verfolgt. Der Gedanke, den wir gedacht, ist eine solche Seele, und er läßt uns keine Ruhe, bis wir ihm seinen Leib gegeben, bis wir ihn zur sinnlichen Erscheinung gefördert. Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden. .... Die Welt ist die Signatur des Wortes. .... Maximilian Robespierre war nichts als die Hand von Jean-Jacques Rousseau, die blutige Hand, die aus dem Schoße der Zeit den Leib hervorzog, dessen Seele Rousseau geschaffen. .... Wenn aber Immanuel Kant, dieser große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf, so hat er doch mit diesem manche Ähnlichkeiten, die zur Vergleichung beider Männer auffordern. .... Nachdem die Kantianer ihr terroristisches Zerstörungswerk vollbracht, erscheint Fichte, wie Napoleon erschienen, nachdem die Konvention ebenfalls mit einer reinen Vernunftkritik die ganze Vergangenheit niedergerissen hatte. Napoleon und Fichte repräsentieren das große unerbittliche Ich, bei welchem Gedanke und Tat eins sind, und die kolossalen Gebäude, welche beide zu konstruieren wissen, zeugen von einem kolossalen Willen. .... Der ehemalige (= jüngere) Schelling repräsentiert, ebenso wie Kant und Fichte, eine der großen Phasen unserer philosophischen Revolution, die ich in diesen Blättern mit den Phasen der politischen Revolution Frankreichs verglichen habe. In der Tat, wenn man in Kant die terroristische Konvention und in Fichte das napoleonische Kaiserreich sieht, so sieht man in Herrn Schelling die restaurierende Reaktion, welche hierauf folgte. (Heine). Aber es war zunächst ein Restaurieren im besseren Sinne. Herr Schelling setzte die Natur wieder ein in ihre legitimen Rechte, er strebte nach einer Versöhnung von Geist und Natur, er wollte beide wiedervereinigen in der ewigen Weltseele. Er restaurierte jene große Naturphilosophie, die wir bei den altgriechischen Philosophen finden, die erst durch Sokrates mehr ins menschliche Gemüt selbst hineingeleitet wird und die nachher ins Ideelle verfließt. Er restaurierte jene große Naturphilosophie, die, aus der alten, pantheistischen Religion der Deutschen heimlich emporkeimend, zur Zeit des Paracelsus die schönsten Blüten verkündete, aber durch den eingeführten Cartesianismus erdrückt wurde. Ach, und am Ende restaurierte er Dinge, wodurch er auch im schlechten Sinne mit der französischen Restauration verglichen werden kann. Doch da hat ihn die öffentliche Vernunft nicht länger geduldet, er wurde schmählich herabgestoßen vom Throne des Gedankens, Hegel ... nahm ihm die Krone vom Haupt und schor ihn, und der entsetzte Schelling lebte seitdem wie ein armseliges Mönchlein zu München, einer Stadt, welche ihren pfäffischen Charakter schon im Namen trägt und auf Latein Monacho monachorum heißt. Dort sah ich ihn gespenstisch umherschwanken, mit seinen großen blassen Augen und seinem niedergedrückten, abgestumpften Gesichte, ein jammervolles Bild heruntergekommener Herrlichkeit. Hegel aber ließ sich krönen zu Berlin - leider auch ein bißchen salben - und beherrschte seitdem die deutsche Philosophie. Unsere philosophische Revolution ist beendet. Hegel hat ihren großen Kreis geschlossen. Wir sehen seitdem nur Entwicklung und Ausbildung der naturphilosophischen Lehre. Diese ist in alle Wissenschaften eingedrungen und hat da das Außerordentlichste und Großartigste hervorgebracht.“  (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834, S. 2-3, 5, 17, 33-34 Heine). Was von Hegels Denken allein zur Wirkung kam, war das System des reifen Denkers. Dieses System ist, nach Hegels Anspruch, als die Selbstwerdung des Absoluten zu verstehen. Die Philosophie teilt ihren Gegenstand - Gott, das Absolute - mit der Religion, doch erscheint das Absolute erst im reinen Denken in seiner angemessenen Form. Das „absolute Wissen“ - die in Hegel vollendete Philosophie (genauer: der Vollendungsbeginn! Beginn der Vollendung) - ist deshalb das „Selbstbewußtsein Gottes“ im Menschen, das Wesen Gottes ist aber (da er Geist ist) nichts anderes als solches Selbstbewußtsein, Denken des Denkens.


Ein Verteidiger des Skeptizismus war Schopenhauers Lehrer Gottlob Ernst Schulze (1761-1833), der sich selbst nach Ainesidemos (Änesidemus) benannte und den skeptizistischen Standpunkt besonders in seinem Hauptwerk Änesidemus oder ... Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßung der Vernunftkritik (1792) begründete. Schulze wandte sich in seiner Erkenntnislehre mit grundlegenden Argumenten gegen die alte Verwechslung des Wahrnehmens mit dem Vorstellen. Schopenhauers Lehrer Schulze wurde auch als Änesidemus-Schulze bekannt.

Aus der Tabelle geht klar hervor, daß, analog zu Pyrrhon (360-270) und seiner Skeptiker-Schule, ein abendländischer Skeptizist ein dem Abendland gegenüber relativ pessimistisch eingestellter Lebensphilosoph wie der Willensmetaphysiker Schopenhauer (1788-1860) wäre und einer seiner Schüler, der es mit dem Pessimismus besonders ernst nimmt, beispielsweise der Existenzsubjektivist Kierkegaard (1813-1855). In einer abendländischen Stoa dieser erwähnten Zeit hätte man dann die zum ersten Mal von Comte (1798-1857) so bezeichnete Soziologie zu sehen. Abendländische Kyrenäiker wären dann aber die das allgemeine Wohl fördernden sensumotorischen Material-Positivisten, zu denen ich, neben Sensualismus (Condillac, 1715-1780) und Positivismus (d' Alembert, 1717-1783) - beide als eine ältere Richtung (16-18) -, auch Materialismus, Anarchismus, Sozialismus (nicht soziologisch!) und Kommunismus rechne. „Über Vergangenes soll man nicht klagen, vor Zukünftigem nicht bangen“ - das ist z.B. ein Satz, den Aristippos von Kyrene (435-355) prägte und den seine hedonistischen Schüler, die Kyrenäiker, aber auch jene abendländischen doppelt unterstrichen hätten und vielleicht auch haben, insbesondere die letzteren (jüngeren). Epikuräisch auf abendländisch wäre z.B. die Philosophie von Johann Friedrich Herbart (1776-1841); er hat die Psychologie als Wissenschaft begründet, weil er sie auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik zurück- und an die Naturwissenschaft so nah wie möglich heranführte, während Comte, der stoische Positivist, sie auf Soziologie und Biologie verteilte. Fechner (1801-1887) gehört jedoch sicherlich in die Reihe der epikuräischen Abendländer. Zwecks Naturerkenntnis und zur Glückseligkeit und zum zurückgezogenen Leben (ataraxia) von Staat und Kultur zu kommen, riet Epikur (342/341-271/270); und so hat sich auch die abendländische Psychologie entwickelt. In Übereinstimmung mit der Natur leben, das allgemeine Wohl fördern und Gentleman bleiben, lautete in etwa die Devise der Stoiker. Ihr Begründer Zenon (354-264) war zunächst Schüler der Kyniker. (Vgl. 16-18). Der heute wohl bekannteste Kyniker ist Diogenes von Sinope (412-323), obwohl nicht er, sondern Antisthenes (444-368) der Gründer der Kyniker-Schule war. (Kyniker). Antisthenes predigte Bedürfnislosigkeit (autarkie) und Charakterstärke; er forderte Rückkehr zur Einfachheit des Naturzustandes, während Diogenes den Begriff der sokratischen Selbstgenügsamkeit zur inneren Askese, die äußerste Bedürfnislosigkeizt zur Pflicht machte, jeder verfeinerten Lebensart abhold. Er erkannte die geltenden Sittengesetze nicht an und wurde zum Urbild der kynischen Schamlosigkeit, der unser Ausdruck für Zynismus geworden ist. Diogenes ließ sich gehen. Anfänglich aber zählen die ersten Sokratiker, Kyniker und Kyrenäiker noch zu der letzten Phase der Sophistik bzw. Aufklärung. (Vgl. 16-18). Abendländisch gilt das für Rousseau (1712-1778), den Sturm und Drang und die Sensualisten (um Condillac bzw. Protopositivisten um Hume). Der auf Gefühle statt Vernunft setzende Sturm und Drang war allerdings für den Übergang zur (Weimarer)Klassik, damit zu Idealismus und Romantik eine fast unentbehrliche Voraussetzung, die ansonsten Kant allein hätte meistern müssen. (Vgl. „Übersicht“ und „Schulen“).

Die Schule des Skeptizismus, der sachlich auch viele Akademiker angehörten, vertrat in praktischer Hinsicht eine relativistische Ethik, die auch Pyrrhonismus genannt wird. Pyrrhon war der Ansicht, daß nichts in Wirklichkeit schön oder häßlich, gerecht oder ungerecht sei, denn an sich sei alles gleichgültig (ununterschieden), weil es ebensosehr und ebensowenig das eine wie das andere sei. Alles Nichtgleichgültige, Unterschiedliche nämlich sei willkürliche menschliche Satzung und Sitte. Die Dinge seien unserer Erkenntnis unzugänglich, darum gezieme dem Weisen Urteilsenthaltung (epoch). Als praktisch-sittliches Ideal des Weisen aber folge daraus die Unerschütterlichkeit (ataraxia). Der Skeptizismus erhebt den Zweifel zum Prinzip des Denkens, besonders den Zweifel an einer sicheren Wahrheit. Der gemäßigte Skeptizismus beschränkt sich auf die Erkenntnis der Tatsachen, während er sich gegenüber allen Hypothesen und Theorien Zurückhaltung auferlegt. Dieser antike Skeptizismus enstand als Rückschlag auf den metaphysischen Dogmatismus der vorhergehenden philosophischen Schulen. Man sieht also leicht ein, daß der Skeptizismus, wie die anderen neuen Schulen, als Reaktion auf die beiden großen von Platon und Aristoteles, einen Mittelweg darstellte, der als Ausweg gedacht war. Demzufolge müßte es im Abendland auch eine oder mehrere Alternativen zu Transzendental-Idealimus und Romantik-Idealismus gegeben haben, diesich als überlebensfähig herausstellen sollten. Tatsächlich wurde die von Arthur Schopenhauer begründete Lebensphilosophie wie seine Willensmetaphysik nicht nur zur Modephilosophie des 19. Jahrhunderts, sondern auch ein Wegbereiter für Nachfolger und Nachahmer. (Tabelle). Solch einer war wohl tendenziell bereits Kierkegaard mit seinem Existenz-Subjektivismus. Noch später sollten Nietzsche und Spengler, die Existenzphilosophen Heidegger, Jaspers und Sartre, tendenziell auch Sloterdijk, um nur einige Beispiele zu nennen, dieser ersten abendländischen Lebensphilosophie, dem Skeptizismus treu bleiben. Schopenhauers „Gesellschaft“ sollte also eine Schule von langer Dauer sein, und sie wird es wohl auch in Zukunft bleiben, denn ebenso verlief in der Antike die Weiterentwicklung des Pyrrhonismus (Pyrrhons Skeptizismus). Doch auch die Schulen der Stoa und der Epikuräer hielten sich lange, was man aus Sicht der Zukunft für die abendländischen Soziologie- und Psychologie-Schulen sicherlich auch annehmen darf. Auch nicht zu vergessen sind die Schulen aus längst vergangenen Phasen, die reanimiert worden sind. Die klassische (attische) Philosophie jedenfalls, die schon durch Sokrates berühmt, aber durch Platon und Aristoteles berühmter denn je wurde, wirkte erfolgreich, wie ihre abendländische Entsprechung, auf ihre Anhänger, auf ihre Skeptiker und auf ihre Gegner.

 

Werke Für Schopenhauer war der Tod der Musaget der Philosophie,
ein Musenanführer, Freund, Förderer, d.h. rettende Verneinung des
Willens zum Leben
, die zur Aufhebung des Individuationsprinzips führt,
also zum Übergang ins Nichtsein (Nirwana). Diese radikale Skepsis - ein
Nihilismus - ist eine Reaktion auf die Ideale bzw. auf den Idealismus. Idee
Seelenbild und Ursymbol Der faustische Nihilist flüchtet vor den (alten) Idealen bis ins Unendliche,
der apollinische Nihilist enthält sich ihnen bis zur Unerschütterlichkeit:
auch der Philosophie als das Einüben ins Sterben, wie Platon sie bestimmte.Platon
(Vgl. Schopenhauers „Nichtsein“ und Pyrrhons „epoch“ und „ataraxia“).

Notwendigkeit Alle Kulturen folgen der Notwendigkeit eines Skeptizismus (radikal: Nihilismus).
Die Richtungen des „Entgegengesetzten“ in Antike und Abendland sind jedoch
ebenfalls gegensätzlich, weil auch diese beiden Kulturen gegensätzlich sind:
Faustisch versus apollinisch und Unendlichkeitsraum versus Einzelkörper
kommen auch in der „Selbstverneinung“ deutlich zum Ausdruck. Seelenbild und Ursymbol


Schopenhauer bestand darauf, die gegenwärtige erfahrbare Welt mit einem einzigen Satz erklären zu können: Die Welt ist Wille und Vorstellung. Schopenhauer begann mit der Vorstellung und einer Negation. Kant hatte gelehrt, daß die von unseren Sinnen aufgenommene Welt nur Erscheinung ist, und daß die Erscheinung nichts aussagen kann von dem eigentlichen Seienden, dem Ding an sich; daß dies also unerkennbar bleibt. Schopenhauer gibt dies zu: die ganze Körperwelt ist ideal, d.h. unsere Wahrnehmung ist dem Denkgesetz unseres Intellekts unterworfen, ist nur innerlich dieses Gesetzes möglich. Subjekt und Objekt bedingen einander. Ohne das Subjekt kann das Objekt nicht gedacht werden. Mit dem Subjekt muß es fallen. Der Intellekt vermag nur aufzunehmen unter der Vorstellung von Zeit und Raum, und in kausalen Verbindungen, undurchbrechlichen Relationen. Zeit und Raum bedingen Nacheinander und Nebeneinander, also die Vielfalt der Erscheinungen; sie sind darum das principium individuationis, Grund des Einzelnen. Schopenhauer schrieb 1813 „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“. Unberührt von den Stürmen dieses Befreiungsjahres schrieb er im Hotel „Ritter“ in Rudolstadt diese Abhandlung als Grundlegung seiner Erkenntniskritik, ja seiner ganzen Philosophie. Der Satz vom Grunde (principium rationis sufficientis, Satz vom zureichenden Grunde) besagt: „Nichts ist ohne Grund warum es sei“. Für alles Bestehende stellt der Satz des Grundes einen Grund fest, aus dem es rechtmäßigerweise abgeleitet oder gefolgert werden kann. In allen seinen Gestalten ist der Satz vom Grunde das alleinige Prinzip und der alleinige Träger aller und jeder Notwendigkeit. „Die Notwendigkeit kommt also nicht dem Dinge an sich zu, sondern der Vorstellung. Nur Notwendiges kann vorgestellt werden.“ Der Satz, daß nichts ist ohne zureichenden Grund seines Seins, wurzelt in folgenden 4 Bereichen: 1) den anschaulichen empirischen Vorstellungen; 2) den Begriffen, also abstrakten Vorstellungen; 3) der a priori gegebenen Anschauung von Raum und Zeit (die also für Schopenhauer nicht absolut sind); 4) im menschlichen Willen, der, innerhalb der Erscheinungswelt, streng kausal unter der Wirkung der Motive handelt. Eine jede Handlung ist die unausbleibliche Folge des Zusammentreffens eines Motivs mit einem bestimmten Willen. Der Intellekt also baut die ganze Vorstellungswelt auf. Sie ist an die Vergänglichkeit des Subjekts gebunden. Über das eigentlich Seiende, das Unveränderliche, Ungeteilte, Unbedingte, Freie sagt sie nichts. Bis dahin glaubte Schopenhauer mit Kant einig zu sein. Nun aber machte er die Entdeckung des Dinges an sich, und zwar in seinem eigenen Wollen. Ein jeder hat die Erfahrung, die Erkenntnis seines eigenen Wollens. Sie ist unmittelbare Realität, nicht Anschauung, nicht leere Form, nicht als Gesetz der Vorstellung a priori gegeben. Der Wille ist das unmittelbar Bekannte; und von ihm ausgehend - nicht umgekehrt - ist der Weg zu suchen zum mittelbar Bekannten, der in der Vorstellung erscheinenden Körperwelt. Der Wille ist der „Schlüssel zu allem Andern“, die „enge Pforte zur Wahrheit“. Die ganze vom Intellekt aufgebaute Welt ist Objektivierung des Willens in ihm. Das ist die kühne Verknotung höchst verschiedener Erfahrungen, Schopenhauers einziger Gedanke, absurd für die Einen, genial für die Anderen, vielleicht eine geniale Absurdität. Diese Verknotung ist nicht zu erklären: er verzichtet darauf. Sie ist eben der „Weltknoten“, die Tatsache, die angenommen werden muß. Nach Schopenhauer ist der Wille das Seiende, unabhängig von Raum, Zeit, Kausalität, jeglicher Relation. Er ist das Wesen des Subjekts und der Welt, in der und mit der wir sind. Der Wille hat den Intellekt als sein Instrument geschaffen, aufnehmendes, vergängliches, dem principium individuationis (als dem Grund des Einzelnen) unterworfenes Bewußtsein - während der Wille unsterblich ist und, als Absolutum, unteilbar, das unauslöschliche Feuer, in das alle Erscheinungen zurückstürzen; aus dem neue in Ewigkeit aufsteigen werden. Die Individuen sind für den Willen nichts. Innerhalb der Erscheinungswelt zerteilt er sich in sie ohne Unterlaß, opfert er sie rücksichtslos. Tod ist ja nicht Tod, ist nur eine Phase sich fortgebärenden, unersättlichen Lebens. Lebensphilosophie


Unglücklich war das Leben des Philosophen Sören Kierkegaard (1813-1855), und wohl auch deshalb darf man gerade ihn einen Existenzphilosophen nennen. Wie später Nietzsche, vermochte er es nicht, „ein Mädchen glücklich zu machen“. Das schrieb er 1841 an seine Braut Regine Olsen und löste damit die Verlobung. Im selben Jahr war er Hörer Schellings; wandte sich später jedoch schroff gegen ihn und Hegel und bekämpfte die Unangemessenheit der Philosophie als reiner Theorie des absoluten Geistes zur existierenden Wirklichkeit und zur wirklichen Existenz des Menschen. Kierkegaards einziger Gegenstand war sein Leben, seine Existenz. Seine Philosophie ist Autobiographie - wie bei Nietzsche auch. Kierkegaard war der Meinung, daß man auch durch eine lebenslange Beschäftigung mit Logik nicht selbst zur Logik wird, sondern man „existiert selbst in anderen Kategorien“. Kierkegaard unterschied drei Existenzweisen: die ästhetische, die ethische und die religiöse, je nachdem man nach Genuß strebe, oder unabhängig vom Äußeren nach moralischen Maßstäben lebe, oder im Glauben. - Später sollte Heidegger in seiner Existenzphilosophie solche Kategorien des Existierens „Existenzialien“ nennen und sein Denken dann bereits „Hermeneutik“ des Daseins heißen. - Kiergegaard schrieb, daß der Denker, der vergißt, ein Existierender zu sein, den Versuch mache, mit dem Menschsein aufzuhören und selbst zu einem Buch oder einem objektiven Etwas zu werden. Das Dasein spottet dessen, der im Begriff ist, rein objektiv werden zu wollen. Die einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender nicht bloß weiß, ist seine eigene Wirklichkeit, daß er da ist. Auch für Marx, Feuerbach und Stirner konnte die universalontologische Frage nach dem Sein nur in ihrer entschlossenen Konzentrierung auf die Frage nach dem menschlichen Dasein philosophisch sinnvoll sein. Das ist exakt der Grundvorgang und das Grundanliegen der Existenzphilosophie. Existenzphilosophie

 

Die Anfänge der Soziologie als selbständiger Wissenschaft liegen im 19. Jh; ihr Begründer ist Auguste Comte (1798-1857), von dessen sechsbändigem „Cours de philosophie positive“ (1830-42) die drei letzten Bände die Soziologie enthalten. Von Comte stammt auch das Wort Soziologie. Er entwickelte auf der Basis seiner empiristischen, von ihm „positivistisch“ genannten Philosophie eine Soziologie als Naturwissenschaft. Danach ist Soziologie die Lehre vom menschlichen Gemeinschaftsleben als dem Inbegriff der Wechselwirkung der Individuen aufeinander. Von d' Alembert (1717-1783), dem ersten „Positivisten“ oder Hume (1711-1776), ebenfalls Vertreter des Positivismus, unterscheidet sich Comte durch das von ihm erstellte System des Positivismus. Comte verwarf jede Metaphysik. Er lehrte, daß der menschliche Geist in seiner Entwicklung drei Stadien zu durchlaufen habe (später sagte er, daß dazu noch eine „Religion der Menschheit“ nötig sei): das theologische, metaphysische und positivistische Stadium. (Vgl. rechts).

Comtes Gesetz gilt für die Vernunft wie für die Gesellschaftsentwicklung. Im ersten, theologischen Stadium werden alle Phänomene theologisch, also durch göttliche Mächte erklärt. Die Gesellschaft ist entsprechend theokratisch und kriegerisch organisiert. Im zweiten, metaphysischen Stadium werden alle Phänomene durch abstrakte Ideen und Ursachen erklärt, und die Gesellschaft ist durch einen juristischen Machtapparat organisiert. Im dritten, positiven Stadium gibt es nur noch erfahrungswissenschaftliche Erklärungen, auch für gesellschaftliche Phänomene. Exakte Prognosen sind möglich.


Kant
(1724-1804)

Kindesalter: Dogmatismus


Jünglingsalter: Skeptizismus


Mannesalter: Kritizismus

 

?

 

Comte (1798-1857)


theologisch


metaphysisch


positivistisch


?


Hegel
(1770-1831)

Familie: Natur-Seele
(anthropologisch)

Gesellschaft: Bewußtsein
(phänomenologisch)

Staat: Identität
(geistig)


?

 

gläubig (-religiös)
(Urdenker)

religiös-theologisch
(Vordenker)

theologisch-philosophisch
(Frühdenker)

philosophisch-theologisch
(Hochdenker)

theologisch-religiös
(Spätdenker)

religiös-theologisch
(Vordenker)

Soziologie entsteht und mit ihr ein wohlgeordnetes Gesellschaftsleben. Später meinte Comte, dazu sei noch eine „Religion der Menschheit“ nötig, ein Kult des „großen Wesens“. Um den Fortschritt zu beschleunigen, bedarf es also zuletzt der Aktivierung der Gefühle durch eine allgemeine Menschheitsreligion, deren höchster Gegenstand die Menschheit selbst sein soll. Die Anliegen dieser Religion: Liebe als Prinzip, Ordnung als Grundlage, Fortschritt als Ziel. Tatsächlich fand Comte mit seiner dem Katholizismus sehr ähnlichen Religionslehre ziemlich großen Anklang. Seine Anhänger, also eigentlich „Wissenschafts-Gläubige“, verehrten Comte selbst als Heiligen.

 

- Kapitalismus (Thesis) -
- Diktatur des Proletariats (Antithesis) -
- Klassenlose Gesellschaft und gleiches Glück für alle (Synthesis) -

Wie Auguste Comte stellte sich auch Karl Marx (1818-1883) die Geschichte als einen in Stadien ablaufenden Prozeß vor. Dessen treibende Kraft sah er in der Selbstvergegenständlichung des Menschen durch Arbeit. Er übernahm von Hegel die Idee einer Entwicklung durch Entzweiung und Aufhebung der Entzweiung, oder durch Entäußerung und Vereinnahmung. Marx meinte im „Kapital I“ (1867), die Dialektik sei nichts Geistiges wie bei Hegel, sondern das Bewegungsprinzip des Materiellen, wobei der Geist dessen Widerspiegelung sei. Entfremdung und ihre Aufhebung sah Marx also als etwas Materielles, nämlich: Verlust der eigenen Vergegenständlichung, d.h. der Arbeitsprodukte als entfremdeter Arbeit, und Wiederaneignung, d.h. Genuß der Früchte der eigenen Arbeit. (Nicht nur deshalb muß man Sensualismus, Positivismus und Materialismus als zusammengehörig auffassen; TabelleVgl. oben). Marx hatte dabei den eigenen Nachwuchs (lat. „proles“, Nachwuchs, Nachkomme, Sprößling) im Sinn, so daß sein Ökonomismus nicht weniger mystisch wurde als Hegels Dialektik, die Marx als mystisch apostrophierte, nämlch: sexual-mystisch. Die sexuelle Aneignung eigener sexueller Produkte zwecks sexueller Selbstfortpflanzung war Marx' Grundidee, sein Prinzip des menschlichen Gattungslebens. Auf Grund dieser Sexualmythologie unter der Parole „Genuß der Früchte der eigenen Arbeit“ konnte Marx' Philosophie so effektiv popularisiert werden.

„Es war die Stärke der marxistischen Doktrin, den idealistischen Elan ... durch eine breite Schicht materialistischer und pragmatischer Argumente zu untermauern - und dies zu einer Zeit, als Materialismus und Pragmatismus im Begriff waren, zur Religion der Vernünftigen zu werden.“ (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 197). Mehr

Mit seiner Verwandlung des Hegelschen Idealismus in einen Materialismus knüpfte Marx an die Religionskritik des ebenfalls positivistisch-materialistisch gestimmten Hegelianers Ludwig Feuerbach (1804-1872) an. (Vgl. Jung- bzw. Links-Hegelianer). Feuerbach erklärte in seinem Buch „Das Wesen des Christentums“ (1841), daß Gott nur der personifizierte Gattungsbegriff des Menschen sei, sein Wesen, sein Innerstes. Gott solle nicht im Jenseits, sondern im Diesseits gesucht werden: als der Mensch selbst, so wie er sich wünscht, zu sein. Der Mensch soll an sich selbst glauben, soll sich sein an den Himmel projiziertes Wesen wieder aneignen, die Selbstentfremdung aufheben im Sinne der Hegelschen Dialektik-Figur der Entzweiung und Wiedervereinigung oder Versöhnung. Feuerbach setzte also die Menschengattung an die Stelle Gottes. Er forderte, daß sich die Philosophie ins menschliche Elend zu begeben habe, um den Menschen aus dem Morast, in dem er versunken ist, herauszuziehen. Die Religion als Gottesglaube sei Ausdruck dieses Elends, sei - wie Marx und Engels (1820-1895) dann auch meinten - „Opium des Volkes“. „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks, schrieb Marx im Sinne Feuerbachs. Feuerbach sah, wie Marx auch, den Grund des Elends im Geschlechterverhältnis. Feuerbach forderte die Aufnahme der Frau „in die Gemeinschaft des Geistes“, denn sie sei das „lebendige Kompendium der Moralphilosophie“. Er forderte die Aufnahme des Weiblichen in die Wesensbestimmung des Menschen oder in das Göttliche. (Vgl. Feminismus und seine Berufung auf Feuerbach).

Marx wünschte die Rückkehr zu einem natürlichen (nach Rousseau: gutartigen) Geschlechterverhältnis durch die Auflösung der kapitalistischen, Waren produzierenden Gesellschaft. Für diese sei nämlich die Frau der Prototyp der Ware, weshalb Marx und Engels in ihrem „Kommunisischen Manifest“, das 1844-47 verfaßt und 1848 veröffentlicht wurde, diese Gesellschaft als die der Prostitution bezeichneten. Der Kommunismus schaffe den Frauentausch ab. Für Marx selbst bedeutete das, auch den Wegtausch des weiblichen Nachwuchses (lat. „proles“, Nachwuchs, Nachkomme, Sprößling), wie er dem Inzesttabu entspricht und wie er bislang überall Prinzip der Gesellschaft war, aufzugeben und eine neue Art von Gesellschaft zu bilden. Der Kommunismus schafft die Entfremdung der Arbeit ab, so heißt es. Was das eigentlich bedeutet, zeigen Marx' Ausführungen im „Kapital I“ (1867). Prototyp der entfremdeten Arbeit sei, so Marx immer wieder, die „geronnene“ Verausgabung der Begattungskraft, die „Gallerte“ oder die „schleimige Masse“ unnützen Spermas. Die Wiedergewinnung des Menschen solle durch die proletarische Revolution erfolgen, in der die gesamte Gesellschaft zunächst aufgelöst und dann durch nicht entfremdete Arbeit neugeschaffen werde. In der Aufhebung des Proletariats und Bildung des neuen Menschen verwirkliche sich die Philosophie, so Marx, aber: „Das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (Karl Marx, Kapital I, 1867). Später sollte sich in der marxistischen Philosophie (besonders in der Sowjetunion) das Schicksal der mittelalterlich-scholastischen Philosophie, die sich der Religion fügen mußte, in gewisser Weise wiederholen: Philosophie oder Vernunft sollte sich dann dem Glauben an das kommunistische Evangelium fügen: die Verlautbarungen von Marx und Engels. (Vgl. Vordenker und Frühdenker).

Marx machte also Hegels Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ zum Angelpunkt seiner gegen alle bisherige Überlieferung und Kultur gerichtete Kritik, dabei unbestreitbare Mißstände kapitalistischer und klerikaler Art zur Stützung seiner Auffassung verwendend. Für ihn war der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis entfernt, eine reine scholastische Frage, weshalb er eine umwälzende, die Welt verändernde Praxis forderte. Marx deutete die Geschichte und Zukunft also nach Hegels dialektischer Methode, die er zu seinen „Dialektischen Gesetzen“ umdeutete. Nach Marx liegt die Macht beim Interpreten; aber wer ist der richtige Interpret, wenn die Menschen die Welt immer nur falsch gedeutet haben und es darauf ankommt, sie zu verändern? War Marx ein Bote des neuen Gottes, eines kategorischen Interpretativs? War er selbst der neue Gottvater? Öffentlich vertrat er zwar nicht, wie z.B. Stirner (1806-1856) mit seinem Nihilismus, eine radikale existentialistische Ich-Philosophie, aber ähnliche nihilistische Gedanken dürften bei ihm als einzigen Deuter schon mit im Spiel gewesen sein. Vielleicht sogar gerade in den Augenblicken seines unaufhörlichen Kampfes gegen Stirner? Waren Marx und Stirner nicht in Wirklichkeit zwei Seiten derselben linkshegelianischen Schallplatte (Münze), die sich um die A-Seite stritten, weil es für sie nur diese eine Seite gab? War nicht gerade Marx ein besonders Einseitiger, wenn er die andere Seite nur deshalb hörte, um sie sogleich ins Nichts zu befördern? Interessierte sich Marx für andere Interpretationen und andere Interpretatoren nur, um sie gefügig oder lächerlich machen zu können? War nicht sogar sein Freund Engels in seiner Eigenschaft als Geldgeber gefügig? Natürlich wollte Marx, daß die Welt nur im Sinne seiner Interpretation der Welt, wonach der Kapitalismus ihr Untergang ist, verändert werden soll. Für Marx durfte nur Marx der Erlöser der Welt sein, nur seine Interpretation der Welt durfte die einzige Möglichkeit zur Überwindung des Elends sein. Der Marxismus war und ist die Ich-Philosophie für Ohnmächtige, für Sprößlingstyrannen (Prolesdiktatoren). Erst durch die Bewußtwerdung der marxistischen Interpretation kann also ein solches Sein auch das Bewußtsein bestimmen (falls das Design paßt). So gesehen lag nicht der Schüler Marx, sondern sein Lehrer Hegel richtig. War es nicht so, daß Marx sich nur selbst überwinden wollte? Waren und sind die Marxisten nicht ihr gemeintes Gegenteil? Ist auch der marxistische, d.h. der historische Materialismus lediglich Teil des Sensualismus (Condillac u.a.) und des Positivismus (d'Alembert u.a.) oder nicht doch viel eher des Hegelianismus, der von Marx nur aus Eifersucht auf den Kopf gestellt wurde? (Hegelianer).? War Marx nur deshalb ein Vertreter des Nihilismus, weil er die Arbeit sterben sah? Sollte oder wird das „Kommunistische Manifest“ (1848) eine „neue Bibel“ werden? Das eine der neuesten 2 Testamente?


„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volks ist die Forderung seines wirklichen Glücks. ... Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht , nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist , die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844).


Der Marxismus strebte mit seiner Neu-Theologie eine Neu-Religion an. (Neu). Aus der „Ersten Welt“ kommend, sollte sein neu-theologisches System später auf ganz feudale Art die „Zweite Welt“ beherrschen, dabei zumindest auch die „Dritte Welt“ missionierend. Auch in der Antike war die Pseudomorphose zunächst von West nach Ost und erst Jahrhunderte später in umgekehrter Richtung verlaufen. Aber es war keine andere als die antike Kultur selbst, die diesen pseudomorphen Synkretismus eingeleitet hatte, ihn aber später nicht mehr überlebte. (Pseudomorphose). Wird es dem Abendland ähnlich ergehen? Wird der Marxismus, diese von West nach Ost gezogene Unterart des Romantik-Idealismus, in der Zukunft noch eine Chance haben? Wird der Marxismus dies als Ganzes schaffen oder nur als ein Teil, in seinem Überbegriff „Linker Hegelianismus“ eingebettet, d.h. als Teil eines Teils des Hegelianismus? Wird ein wie auch immer gearteter Hegelianismus oder wird eher ein Kantianismus oder werden beide, und zwar als Neu- oder Neu-Neu-Idealismmus, zu einer sowieso kommenden Neu-Religion?


Oder wird doch eher ein ethischer Sozialismus (Staatssozialismus), gar als ein Soziologismus, die neue Religion?
Sie würde den Glauben jedenfalls noch stärker als jetzt an die (Sozial-) Wissenschaft binden. Glaube


Seit Ende des 18. Jahrhunderts, spätestens aber seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist „Dekadenz“ bei den Kulturhistorikern „ein ›geschichtlicher Perspektivbegriff‹, der zur Bezeichnung eines Gesamtprozesses des sozialen oder kulturellen ›Niedergangs‹ einer Kultur dient. ... Im Unterschied zur ›optimistischen‹ Fortschrittsgeschichtsschreibung wird die Dekadenzhistorie z.T. als die ›pessimistische‹ Schule der Historiographie bezeichnet. Wo es für die einen immerzu ›vorwärts‹ und gleichzeitig ›aufwärts‹ geht, geht es für die anderen ›abwärts‹, allerdings nicht unbedingt ›rückwärts‹, im Gegenteil: der ›Niedergang‹ wird als Abfall von einem Zustand höherer Kultur interpretiert, der meist in die Vergangenheit verlegt wird. Die meisten Dekadenzhistoriker treffen sich mit den Fortschrittshistorikern in der Vorstellung eines ›gesetzmäßigen‹ und irreversiblen Ablaufs der Geschichte, den sie freilich unterschiedlich ›bewerten‹. Es ist trotzdem zweifelhaft, ob man den Begriff der Dekadenz generell als ›Gegenbegriff‹ zu ›Fortschritt‹ bezeichnen kann. Im Unterschied zum Fortschrittsparadigma wird nämlich im Dekadenzbegriff die ›Altersmetaphorik‹ nicht ›denaturalisiert‹. Auch die Dekadenztheoretiker der Nachaufklärung knüpfen bewußt an die lebensweltlichen Erfahrungen des ›Alterns‹ und der ›Vergänglichkeit‹ alles Irdischen an. Die Folge ist, daß sie das ›Ende‹ der ›Welt‹ oder einer ›Kultur‹, im Unterschied zu den klassischen Fortschrittshistorikern, nicht in eine unendliche, offene Zukunft verschieben. Das Ende bleibt endllich. Wie im Kosmos oder in der ›Natur‹ dieselben Ereignisse nach einem festen Gesetz stets in derselben ›Reihenfolge‹ ablaufen, so auch in der ›Geschichte‹. ... Da die ›komparatistischen‹ Dekadenzhistoriker die ›bessere Zeit‹ (›Goldenes Zeitalter‹, ›Zeit der Götter‹, ›Klassik‹ u.s.w.) immer in der Vergangenheit suchen, gerät aus ihrer Sicht eher ›der Fortschritt‹ in den Verdacht der Dekadenz als der ›Rückschritt‹. Bei den Zyklentheoretikern unter ihnen fällt die ›fortschrittliche‹ Entwicklung allerdings insofern mit einem ›Rückschritt‹ zusammen, als sie die einmal erreichte ›Bestform‹ hinter sich läßt; dieser ›Rückschritt‹ kann jedoch auch als ›Fortschritt‹ verstanden werden, weil er im Zyklus der Wiederkehr die Voraussetzung für einen neuen Anfang ist.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 229-230). So schreiten also die Menschheit aus der Barbarei der ›Wilden‹ durch die an sich verschiedenen, aber miteinander vergleichbaren, weil analogen Phasen der Kultur und Zivilisation vorwärts in die „Barbarei der Reflexion“, die zugleich der Höhepunkt des „Fortschritts“ und der Tiefpunkt seiner „Dekadenz“ ist. Hier wird die ewige Wiederkehr der Barbarei zur Garantie.

„Die Vorstellung eines linearen Prozesses, der endlos in dieselbe Richtung läuft, ist selbst denjenigen Dekadenztheoretikern fremd, die die Geschichte als ›Entwicklung‹ begreifen.. Irgendwann kommt immer ein Punkt, wo die ›Entwicklung‹ abbricht oder eine Wende vollzieht. Wo die ›Dekadenz‹ als progressive Paralyse verstanden wird, steht am Ende der Tod ... Niemand dat je im Ernst die Ansicht von einer unendlichen Steigerung der Dekadenz vertreten. Im Unterschied zu den Fortschrittsphilosophen der Aufklärung setzen ihre ›Gegner‹ immer stillschweigend voraus, daß der Verfall seine Grenzen hat. Einmal ist Schluß. Was man bei den Dekadenztheoretikern der Vergangenheit vergeblich sucht, ist die Einsicht in die Partikularität und Relativität des Niedergangs. Es ist immer gleich die ganze Kultur, die ihrem Ende entgegentreibt.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 230). In einigen Bereichen geht es während des Untergangs tatsächlich eher aufwärts, jedenfalls sehr blühend zu, weshalb dennoch (oder: gerade deswegen) die ganze Kultur untergehen kann. Deshalb gibt es für Kultur ja auch zwei Begriffe: Kultur und Zivilisation. Beide haben „Aufs“ und „Abs“. Beide sind Teil einer Gemeinsamkeit (Gemeinschaft), die - „oberbegrifflich“ - Kultur genannt wird.


Was Alexander der Große und Napoleon auf politischer Seite sind, das sind Euklids Parallelenaxiom und Gauß' nicht-euklidische Geometrie auf geistiger Seite, denn sie vertreten das jeweilige Ursymbol auf zivilgeistiger Ebene. Sie repräsentieren das jeweilige erwachsene, zivile Ursymbol am ehesten, weil sie es aus der rein kulturellen in die Ebene der Zivilisation brachten und durch die Ehe mit einer anderen Kultur transferierten. Sie haben die antike begrenzte Körperlichkeit bzw. den abendländischen unbegrenzten Endlosraum der geistigen Nachwelt erst verdeutlicht, Euklid auf typisch antik-populäre Weise, Gauß auf typisch abendländisch-esoterische Weise, denn er veröffentlichte seine nicht-euklidischen Erkenntnisse nicht; seine Ergebnisse waren offenbar für ihn selbst bestimmt. Er hat dreißig Jahre lang seine Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrie verschwiegen, weil er das Geschrei der Böoter fürchtete (Gauß). Die Antike nannte sich schließlich seit ihrer Ehe mit dem Osten hellenistisch, das Abendland seit seiner europäisch. Neben der politischen gab es also auch eine geistige Heirat - durch Euklid mit antik-hellenistischem Geist um 312 v. Chr. und mit Gauß und abendländisch-europäischem Geist um 1800. Vielleicht ist ein geistiger Napoleonismus (Alexandrinismus) immer auch die ideale, idealistisch-romantische Version einer Heirat mit gutem Geschmack.

Ein Kontinuum ist bekanntlich das stetig sich Ausdehnende. In der Physik gelangte die Theorie vom vierdimensionalen oder Riemannschen Kontinuum, nach dem Begründer Bernhard Riemann (1826-1866) benannt, zu großer Bedeutung. Diese Theorie faßte die drei Dimensionen des Raumes und die eine Dimesion der Zeit zu einem formalmathematischen Gebilde von vier Dimensionen zusammen. Nach Gauß (1777-1855), der als bedeutendster Mathematiker aller Zeiten gilt, schon 1801 das grundlegende Werk der modernen Zahlentheorie abgeliefert hatte und noch zu Lebzeiten als Princeps mathematicorum bezeichnet wurde, war Riemann der zweitbedeutendste Mathematiker (zumindest im 19. Jahrhundert). Er entwickelte bereits in seiner Dissertation die Funktionentheorie, und in seinem Habitilationsvortrag von 1854 das begriffliche Fundament für das moderne mathematische Verständnis der Struktur des Raumes, das später besonders in der Relativitätstheorie Bedeutung erlangen sollte. Während also schon damals, im 19. Jahrhundert, die mathematisch-naturwissenschaftliche Denker das Vorhandensein eines Kontinuums des Zusammenhangs in allem Geschehen, dem geistigen und dem materiellen, behaupteten, wurde ein solches Kontinuum von nicht wenigen philosophisch-anthropologischen Denkern, vor allem von Kierkegaard, als reine Abstraktion aufgefaßt. Kierkegaard

 

Hohes Spätdenken

Totalnihilismus als Hochmodernistik oder Hochnihilismus als Hochmodernistik?

Der Nihilismius ist der Standpunkt der absoluten Negation und wurde als Terminus schon von Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) in seinem „Sendschreiben an Fichte“ (1799) eingeführt. Der theoretische Nihilismus verneint die Möglichkeit einer Erkenntnis der Wahrheit (wie der Agnostizismus die Erkennbarkeit des wahren Seins), der ethische die Werte und Normen des Handelns, der politische jede irgendwie geartete Gesellschaftsordnung. Vielfach ist der Nihilismus nur ein radikaler Skeptizismus, z.B. bei Schopenhauer (1788-1860), Nietzsche (1844-1900) u.a.. Man muß sich nur bestimmte Namen (z.B. Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Goethe u.s.w.) in Erinnerung rufen, um festzustellen, daß es natürlich kein Zufall ist, wenn der Nihilismus in allen Kulturen in der Phase des Idealismus entsteht. Er stellt eine Reaktion auf die klassische (auch „klassizistisch“ genannte), auf die („napoleonisch“) unumschränkt herrschende idealistische Allmacht dar. Er entwickelt sich also als unmittelbare Folge auf den Idealismus und erreicht seinen Höhepunkt - eher sollte man von „Tiefpunkt“ sprechen -, wenn die „Klassiker“ endgültig von der Bühne abgetreten sind und sich das Gefühl durchsetzt, daß die obersten Werte sich entwerten, jene Werte, die allem Tun und Leiden der Menschen erst Sinn geben, daß es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben oder zu sterben lohnt, daß das Bewußtsein aufkommt, es sei alles umsonst. Alles, was ist, auch das menschliche Erkennen, ist ab jetzt Erscheinungsform des Willens zur Macht; hier gibt es kein absolutes Sein mehr, denn Sein ist ab jetzt Werden, aber kein endloses Neuwerden, sondern „ewige Wiederkehr“ dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist. „Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht“. (Nietzsche). So sehr Wahres in Nietzsches Aussagen steckt, so sehr sind bestimmte spätere Folgen, die sich daraus für Menschen ergeben können, als ein wohl kaum noch zu therapierendes Symptom zu bezeichnen, das sich in einer „180°-Drehung“ (vgl. Negation der Negation, Hegel) und schließlich in einer absoluten Selbst-Negation ausdrücken kann. Überwinden sollte Nietzsches „Sei du selbst“ (NietzscheNietzscheNietzsche) den „Scheinmenschen“, den Heidegger (1889-1976) später als „Man“ bezeichnete, aber nach dem alles entscheidenden Weltmachtskrieg gab es besonders auf der Seite der Kriegsverlierer einen Seitenwechsel, durch den das „Sei du selbst“ zwar noch nicht aufgehoben, aber bereits neo-nihilistisch relativiert wurde zu einem „Sei du selbst der alliierte Sieger“ (auch als Verlierer!?). Später, im „Postnihilismus“ gelang die „180°-Drehung“ mit dem Slogan „Sei du selbst der Fremde“ („Sei du selbst der Ausländer“). Also war man spätestens seit etwa 1968 Sieger statt Verlierer und später auch Nicht-Deutscher statt Deutscher, Ausländer(In) statt Inländer(In). Man war immer nur der gute Mensch, zwar ein selbstbewußtloser, aber gut. „Und das ist auch gut so“, wurde zu einer ernst gemeinten Rechtfertigung der völlig Verunsicherten. Die Tatsachen wurden verdreht, man machte die ältere Generation einfach zum Buhmann, die entweder abzutreibende oder abzuschreibende jüngste Generation zum Scheidungsproblem und wähnte sich dennoch als der ewig gute, stets moralisch die Grundstellung einnehmende Missionar. Ohne Geschichte wirklich (!) zu bedenken, bestand die nach dem 2. Weltkrieg erfolgte „Geschichtsverarbeitung“ also darin, sich selbst zu verleugnen. Heute ist es nicht mehr nur die elterliche Herkunft, sondern sogar die eigene Sprache, die verleugnet wird: „Wir können alles, außer Hochdeutsch“ (!). Hochdeutsch entwickelte sich primär aus dem Oberdeutschen (Alemannisch, Bairisch). (Vgl. DEUTSCH: AHD, Früh-MHD, Klassisches MHD, Spät-MHD,  Früh-NHD, Klassisches NHD, Hochklassik des NHD und Spät-NHD).

Geschichtlichkeit ist eines der wesentlichen Erkennungsmerkmale des Abendlandes, und genau deswegen waren schon die ersten abendländischen Nihilisten dazu verdammt, die eigene Geschichte ganz aktiv zu verdrängen oder sie als abschreckendes Beispiel ganz dynamisch auf die Zukunft zu projizieren: „Der faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale“, der apollinische, Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen; der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück“. (Oswald Spengler, 1917 S. 456). Geschichtlichkeit

Vermutlich kam Oswald Spengler (1880-1936) besonders durch Friedrich Nietzsche (1844-1900) zu der Erkenntnis, wie sehr das Abendland sich seiner Kulturkleider bereits zu seiner Zeit entledigt hatte, um zu Bett zu gehen. Wenn der Kulturherbst die meisten Blätter bereits von den Bäumen geblasen hat, dann ist an den halbnackt dastehenden Bäumen, nimmt man sie als Metapher, der Kulturabbau besser zu erkennen als z.B. im immergrünen und trotzdem bereits abbauenden Sommer, der, so gesehen, vom Frühling profitiert (wie die Hochdenker von den Frühdenkern). Die ersten, noch winterlichen Gewächse (z.B. die Germanenreiche), die ersten Blüten im Frühling (z.B. das fränkische und sächsische Reich) und die hellgrün leuchtenden Bäume im Frühling (z.B. das salische und staufische Reich): sie stehen für den Kulturaufbau. Deshalb ist die Gotik und sind die gotischen Kalhedralen der Inbegriff für den Abschluß des Kulturaufbaus, der kulturelle Sommer aber der Inbegriff für dessen Fortsetzung als stolzes Beharren und Verteidigen (ganz im Sinne der Gegenreformation und des Barock) - mit dem absolutistisch-barocken Höhepunkt im Hochsommer (wie sollte es auch anders sein). Aber zur der Zeit, als Nietzsche und Spengler lebten und der kulturelle Herbst wie ein nahender Untergang am stärksten zu spüren war, da war selbstverständlich auch der Nihilismus am stärksten. Daß er heute nicht mehr so stark bzw. modifiziert ist, ändert nichts an der Tatsache, daß sich der Untergang weiter fortsetzt, denn ab jetzt ist es nicht mehr der Nihilismus selbst, sondern sind es seine Folgen, die diesen Prozeß mit gleicher Geschwindigkeit oder gar mit Beschleunigung vorantreiben, wie später z.B. die rapide Zunahme von Kinderlosigkeit und Kinderfeindlichkeit beweisen sollte. Kinderfeindlichkeit

Die von Arthur Schopenhauer (1788-1860) entwickelte willensmetaphysische Lebensphilosophie wurde nicht nur zur Modephilosophie des 19. Jahrhunderts, sondern auch ein ernster Wegbereiter für Nachfolger und Nachahmer. (Tabelle). Bereits Kierkegaard mit seinem Existenz-Subjektivismus, dann Nietzsche und Spengler, später die Existenzphilosophen Heidegger, Jaspers und Sartre, um nur einige Beispiele zu nennen, blieben dieser ersten abendländischen Lebensphilosophie, diesem Skeptizismus treu. Ob auch Sloterdijk dieser Richtung folgten oder sogar eine abendländische neu-akademische Skepsis begründen wird, ist noch nicht abzusehen, denn er gehört unserer Gegenwart an und ist noch jung. Jedenfalls wird die internationale „Schopenhauer-Gesellschaft“ wohl auch in Zukunft eine Schule von Dauer bleiben, denn ebenso verhielt es sich in der Antike mit der Weiterentwicklung des Pyrrhonismus (Pyrrhons Skeptizismus). Einer der Schopenhauer-Anhänger, der Nietzsche-Freund Paul Deussen, (1845-1919) und die beiden Schüler Gwinner und Kohler, gründeten am 30.11.1911 jene internationale Gesellschaft mit dem Ziel, „das Studium und das Verständnis der Schopenhauerschen Philosophie zu fördern“. Diesem Ziel dienen natürlich noch heute das Schopenhauer-Archiv, als Zentralstelle der Schopenhauer-Forschung, die seit 1912 erscheinenden Jahrbücher der Gesellschaft und ihre internationalen „wissenschaftlichen“ Tagungen. Paul Deussen war auch Übersetzer und Darsteller der indischen Philosophie, deren Gedanken er mit der Philosophie Schopenhauers zu einer Metaphysik vereinigte.

Friedrich Nietzsche (1844-1900) war von Schopenhauers Willensmetaphysik und vom Kampf-ums-Dasein-Prinzip seiner Zeit stark beeinflußt. Der „Kampf ums Dasein“ stammt also ursprünglich von Schopenhauer und nicht von Darwin, der Schopenhauer nur kopierte - 40 Jahre später (!). Daß ihm Schopenhauer nicht nur ein Lehrer, sondern vor allem ein Erzieher gewesen ist, betonte Nietzsche in seiner 1867 verfaßten Abhandlung über Schopenhauer deutlich und mit Nachdruck. Trotzdem kommt man nie auf Nietzsches Resultat. Sein „Zarathustra“ (1883) ist vielleicht der romantisch verkleidete „Wille zur Macht“. Nietzsche nannte sein bekanntestes Werk nach Zarathustra (7. / 6. Jh. v. Chr.), weil dieser „im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge“ gesehen habe. (Zarathustra). Da Nietzsche für sein eigentliches Hauptwerk mit dem Titel „Der Wille zur Macht - Versuch einer Umwertung aller Werte“ nur Notizen und Aphorismen hinterließ, gab seine Schwester Elisabeth dieses Material als Buch unter dem Titel „Der Wille zur Macht“ heraus. Nietzsches Wort Nihilismus bedeutet die Erscheinung, daß die obersten Werte sich entwerten, jene Werte, die allem Tun und Leiden der Menschen erst Sinn geben, daß es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben oder zu sterben lohnte, daß das Bewußtsein aufkommt, es sei alles umsonst. Von Schopenhauer und Darwin ausgehend, wollte Nietzsche den neuen Menschen, den Übermenschen schaffen, dessen Aufgabe es sein sollte, alles Verlogene, Krankhafte, Lebensfeindliche zu vernichten. (Nietzsche). Seine Philosophie sollte an die Stelle eines philosophischen Nihilismus treten, den er herannahen sah. Nietzsches metaphysische These läuft auf den Willen zur Macht und auf eine Schicksalhaftigkeit hinaus. Alles, was ist, auch das menschliche Erkennen, ist Erscheinungsform des Willens zur Macht; es gibt kein absolutes Sein, sondern Sein ist Werden, aber kein endloses Neuwerden, sondern „ewige Wiederkehr“ dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist. „Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht“. Nietzsches Bedeutung liegt aber nicht in der Metaphysik, sondern in dem Beitrag, den er für die Bekämpfung des spekulativen Denkens und vor allem für die Einbeziehung des Denkens in das Leben geleistet hat. „Der Denker auf der Bühne“ heißt er bei Sloterdijk (*1947). Nietzsche lehrt einen Amor fati: „Schicksal, ich folge dir freiwillig, denn täte ich es nicht, so müßte ich es ja doch unter Tränen tun“. (Vgl. Macht & Schicksal). Die Botschaft an die nächsten Erben der Lebensphilosophie:


„Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören,
gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft:
»sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst«.“
(Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6)


Dieser „öffentlich meinende Scheinmensch“ läßt sich als Vorwegnahme des „Man“ bei Heidegger (1889-1976) deuten - laut Heidegger wird das Dasein in der Öffentlichkeit in der Regel vom „Man“ beherrscht: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst“; und „die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus“. Die Öffentlichkeit ist also etwas ganz anderes als die Offenheit, das Offene („Lichtung“). Die Öffentlichkeit ist das Gegenteil zur „Eigentlichkeit“. (Heidegger). Es besteht also eine Linie von Schopenhauers Lebensphilosophie (Lebensphilosophie), dem „Analogon“ zu Pyrrhons Skeptizismus, über Nietzsche und Heidegger zu Sloterdijk und einigen Zukünftigen. Es besteht Einigkeit darüber, daß Nietzsche, dieser freie Hyperbel-Kritiker (= Skeptiker), ein sprachschöperischer Schriftsteller hohen Ranges, daß er einer der bedeutendsten Aphoristiker und Essayisten und daß er ein Dichter war. Das Verständnis seiner Philosophie ist allerdings erschwert durch die sophistische Form, in der er sie vorträgt. Er war ein großer Bühnendenker. - Also sprach Friedrich:

- „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 6) -
„»Ich muss, gleich dir,   u n t e r g e h e n  ,   wie es die Menschen nennen, zu denen ich hinab will.
.…
„»Siehe ! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.«
 –   Also begann Zarathustra’s Untergang.“

- „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 8) -
„»Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem
Walde noch Nichts davon gebört, dass   G o t t   t o d t   ist!«“

- „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 8) -
„I c h   l e h r e   e u c h   d e n   Ü b e r m e n s c h e n .    Der Mensch ist
Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?
Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser
grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?
Was ist der Affe für den Menschen?  Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas
soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham:
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm.
Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze
und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!“

- „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 13-14) -
„Seht! Ich zeige euch den  l e t z t e n   M e n s c h e n .
Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht?
Was ist Stern? – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte
Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar,
wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.
»Wir haben das Glück erfunden« –
sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben;
denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar
und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht
achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine und Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume.
Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung.
Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich.
Wer will noch regieren ?  Wer noch gehorchen?  Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche.
Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.
»Ehemals war alle Welt irre« –
sagen die Feinsten und blinzeln.
Man ist klug und weiß Alles, was geschehn ist:
so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch;
aber man versöhnt sich bald - sonst verdirbt es den Magen.
Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen
für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit.
»Wir haben das Glück erfunden« –
sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

- „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 16) -
„»Nicht doch«, sprach Zarathustra, »du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht,
daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde:
dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.«“

- „Von den drei Verwandlungen“ (S. 25-27) -
„Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum
Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.
Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem
Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.
Was ist schwer?  so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder,
dem Kameele gleich, und will gut beladen sein.
….
Neue Werthe schaffen - das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit
sich schaffen zu neuem Schaffen - das vermag die Macht des Löwen.
Freiheit sich schaffen zu neuen Werthen und ein heiliges Nein auch
vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen.
….
Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel,
ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens:
s e i n e n   Willen will nun der Geist,  s e i n e   Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“

- „Von der Nächstenliebe“ (S. 75) -
„Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht:
ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.“

- „Vom Wege des Schaffenden“ (S. 78)-
„Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber!
Und an dir selber führt dein Weg vorbei,
und an deinen sieben Teufeln!“

- „Von alten und jungen Weiblein“ (S. 82)-
„Du gehst zu Frauen?  Vergiss die Peitsche nicht!“

- „Von der schenkenden Tugend“ (S. 98) -
„»Todt sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe.«
- diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! -“

- „Von den Priestern“ (S. 115) -
„Und noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder, erlöst werden,
wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab es einen Übermenschen.
Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten Menschen: -
Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten fand ich - allzumenschlich!“

- „Von der Selbst-Ueberwindung“ (S. 145) -
„Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern … Wille zur Macht!“

- „Von der unbefleckten Erkenntnis (S. 153) -
„Wo ist Unschuld?  Wo der Wille zur Zeugung ist.
Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen.
Wo ist die Schönheit ?  Wo ich mit allem Willen wollen muss;
wo ich lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe.
Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten.
Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode.
Also rede ich zu euch Feiglingen!“

- „Vor Sonnen-Aufgang“ (S. 205) -
„Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre:
ȟber allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld,
der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.«
….
Diesen Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte:
»bei Allem ist Eins unmöglich - Vernünftigkeit!«
Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, - dieser Sauerteig
ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt!
Ein wenig Weisheit ist schon möglich, aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen:
dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls - tanzen.“

- „Der Genesende“ (S. 268-269) -
„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins.
Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.
Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins.
Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.
In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort.
Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“

- Der Genesende (S. 273) -
„Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort:
so will es mein Loos -, als Verkünder gehe ich zu Grunde!
Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet.
Also - e n d e t   Zarathustra’s Untergang.“

- „Die sieben Siegel“ („oder: Das Ja-und Amen-Lied“; S. 283-287) -
„Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und
nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring der Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte,
es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
D e n n   i c h   l i e b e   d i c h ,   o h   E w i g k e i t ! “

(Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885)


„Gott ist tot“ und mit ihm „unsere ganze europäische Moral“, verkündet der „tolle Mensch“ in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft (1882). „Wir Philosophen und freien Geister fühlen uns bei der Nachricht, daß der alte Gott tot ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung - endlich erscheint uns der Horizont wieder frei.“ Im Jenseits von Gut und Böse (1886) schildert Nietzsche Jesu Martyrium als sein eigenes: „Das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, ... das Liebe, Geliebtwerden und Nichts außerdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten. ... Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiß, sucht den Tod.“ Nietzsche preist in seinem Buch Morgenröte (1881) im Gegenstaz zu den bisherigen Werten des Wohlbefindens, der Wissbegier, des Friedens, des Mitleidens und der Arbeit die Grausamkeit, die Verstellung, die Rache, den Wahnsinn als Tugend. Denn das seien die ehemals geltenden, durch die spätere Kultur, besonders des Christentums, verdeckten und unterdrückten eigentlichen, beim früheren kriegerischen Menschen noch zu findenden Charaktere des Menschen, die den Menschen der Zukunft wieder auszeichnen sollten. Nietzsche

„Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. »Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden«: das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes -  u n s e r  Leben,  u n s e r  Glück.« ... Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn  s o n s t? – Der moderne Mensch etwa? »Ich weiss nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus noch ein weiss« – seufzt der moderne Mensch ... An  d i e s e r  Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Comppromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz ... des Herzens, die Alles »verzeiht«, weil sie Alles »begreift«.“
(Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, S. 5).
„Ich kenne mein Loos, es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures
anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine
Entscheidung, heraufbeschworen  g e g e n  Alles, was bis dahin geglaubt und geheiligt war.
Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. - Und in alledem ist Nichts in mir von einem
Religionsstifter - .... Ich  w i l l  keine »Gläubigen«, ich denke, ich bin zu boshaft dazu,
um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen. .... Ich habe eine schreckliche
Angst davor, dass man mich eines Tages  h e i l i g  spricht: man wird errathen, weshalb
ich dies Buch  v o r h e r  herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt. ....
Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. .... Vielleicht bin ich ein Hanswurst. ....
Und trotzdem oder vielmehr  n i c h t  trotzdem - denn es gab nichts Verlogeneres als Heilige -
redet aus mir die Wahrheit. - Aber meine Wahrheit ist  f u r c h t b a r :  denn man hiess bisher
die Lüge Wahrheit.  -  U m w e r t h u n g  a l l e r  W e r t h e :  das ist meine Formel für einen
Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.“

(Friedrich Nietzsche, Warum ich ein Schicksal bin, in: Ecce homo, 1889, S. 111).

„Nietzsche war der Chefdesigner des mächtigsten Mentalitätsstroms der Moderne: des Individualismus.“
(Peter Sloterdijk, 2000)

Zu der Zeit, als Nietzsche seine modernen Werke schrieb, waren z.B. das Telefon, die Mendelschen Gesetze, das Periodensystem der Elemente, der Viertakt-Motor, die Elektrolokomotive schon bekannt, die Mengentheorie, die Gruppentheorie, der Benzin-Motor, der Kraftwagen wurden gerade entwickelt, der Elektromagnetismus wurde gerade bewiesen, die Arktis intensiv erforscht, der Kinematograph nahezu vollendet, und auch Benzin- und Diesel-Motor sowie Röntgen-Strahlen wurden ebenfalls bekannt. (Vgl. Transportmaschinen, Strom. Funk, Netz usw.). Als Nietzsche 1900 starb, startete Graf Zeppelins erstes Luftschiff gen Himmel und Plancks Quantentheorie in die diskrete Natur (von Quanten und Chaos): die mikrophysikalischen Größen machten infolge Bestehens von Unschärferelation den prinzipiell nicht mehr zu vernachlässigenden Einfluß der Meßgeräte auf den Ausgang einer Messung an einem mikrophysikalischen System sowie den experimentell gesicherten Welle-Teilchen-Dualismus deutlich. Hier war man erstmals an die Grenzen der „klassischen Physik“ gestoßen und mußte sich auf die Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit einstellen. (Heisenberg). Ähnlich revolutionierend wirkten in der Antike um 250 v. Chr. Aristarchos (ca. 312-230) und Archimedes (285-212). Spengler nannte solche ähnlichen Entwicklungen, Phänomene und Personen „gleichzeitig“. (Spengler). Für ihn waren Pythagoräer und Puritaner, Polykrates und Wallenstein, Sokrates und Rousseau, Phidias und Mozart, Platon und Hegel, Stoiker und Sozialisten, Pergamon und Bayreuth genauso „gleichzeitig“ wie für mich Aristarch bzw. Archimedes und Planck oder Einstein bzw. Hahn oder Heisenberg. Sie und ihre Zeit stehen für die revolutionäre „Denkart“, die die traditionelle ihrer jeweiligen Kultur erschütterten: Aristarch und Archimedes, indem sie die statische Denkweise der Antike mehr in Richtung auf eine dynamische lenkten, Planck und Einstein (Hahn, Heisenberg u.a.), indem sie die dynamische Denkweise des Abendlandes relativierten. (Denkweisen). Diese Denkweisen zeigten die Grenzen der bis dahin gültigen wissenschaftlichen Denkweisen genauso auf wie die Nihilisten die bis dahin gültigen philosophischen, wobei es in der Antike um einen Ausbruch aus den geschlossenen Grenzen und im Abendland um einen Einbruch in die offenen Unbegrenztheiten ging. (Ursymbol). Und trotz dieser Erschütterungen behielten in den beiden Kulturen die alten Normen ihre Wertigkeit - jedenfalls wissenschaftlich: das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik (Galilei, Newton u.a. Hochdenker) wurde durch ein zweites (Planck, Einstein u.a.) ergänzt, aber nicht ersetzt! In der Antike wurde die Folgelosigkeit der Erschütterung, d.h. ihre Unerschütterlichkeit (ataraxia), sogar besonders deutlich, weil z.B. das heliozentrische Weltbild des Aristarchos bald in Vergessenheit geriet. Das Entscheidende (und auch Unterscheidende) ist, daß es sich bei den Analogien nicht um „malerische“ Pendants oder anekdotische Spielereien handelt, sondern um ein schöpferisches Erfassen von Gestalten und Bildungen, in denen die tiefste und innerlichste Symbolik eines jeden Zeitalters sich ihren Ausdruck erzwungen hat. Nach Spengler sind Jugend, Reife, Verfall keine poetischen Floskeln, sondern biologische Formzustände, morphologische Tatsachen, mit denen er geradezu experimentierte. Sie sind geeignet, Vergangenheit zu enträtseln, Zukunft zu entschleiern:

 

„Der antike Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt.
Der des Abendlandes muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen ... soll, durch und durch historisch sein.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 63f.).

„Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe
westeuropäischer Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 481).

 

Typische Züge des Skeptizismus sind das Mißtrauen gegen die Sinneswahrnehmnug, die überlieferten Denkgewohnheiten sowie gegen ethische und politische Wertvorstellungen und Vorurteile. Die völlige „Enthaltung“ (epoch) des Urteils, für die Pyrrhon sich so stark gemacht hatte, ließ natürlich nur noch aporetische Argumente zu, aber genauso ausweglos oder ratlos (aporetisch) stand man mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit da, den die mittlere, vor allem aber die neuere Akademie favorisierte. Da die Unerschütterlichkeit und Unverwirrtheit (ataraxia), die Pyrrhon als das praktisch-sittliche Ideal ansah, für die praktische Orientierung des Handelns gelten sollten, resultierte daraus, zusammen mit der theoretischen Orientierung des Denkens - der epoch - eine nur noch von den Indern zu übertreffende Gelassenheit. Während die abendländische Kultur die energischste Art einer Inhaltsdynamik ist, forderte die antike Kultur genau gegenüber dieser Art die Zurückhaltung. epoch geisterte durch alle Schriften der Antike und deshalb wahrscheinlich auch durch die gesamte Lebensart dieser statischen Kultur. Aber gerade diese Gegensätze erlauben es uns, unsere eigenen Fehler im Spiegel der Antike zu erkennen und von dieser verstorbenen Kultur zu lernen, denn ihre Geschichte ist uns ziemlich gut bekannt. Die Möglichkeit, von uns auf diese Weise zu lernen, hatte die Antike nicht. Die Analogien von Akademie und Idealismus einerseits sowie Skeptizismus und Lebensphilosophie andererseits lehren uns z.B. die in jeder zivilisierten Kultur notwendig werdende Skepsis, deren Höhepunkt (eher: Tiefpunkt) wir Abendländer noch vor uns haben. (Vgl. Beispiel).

 

„Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und
endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. .... Anders als der Kritizismus,
der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für
Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen.“
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273).

„In der Beängstigung und Verwirrung die plötzliche Ruhe im Gedanken an den Fötus, der man war.“
(Emile Cioran, De l'inconvénient d'être né, „Vom Nachteil geboren zu sein“, 1973, S. 20).

„In der Nachbarschaft dieser Sätze, die ausreichen würden, um Ciorans Stellung als
zweiter Patriarch des Eurobuddhismus zu festigen - der erste war Schopenhauer -,
schreibt der Autor eine Bemerkung nieder, von der es mir undenkbar erscheint,
daß sie nicht eines Tages als Axiom einer philosophischen Psychologie anerkannt würde.“
(Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 107).

„Die 'empirische' Psychologie hat das Unglück, nicht einmal ein Objekt im Sinne irgend einer
wissenschaftlichen Technik zu besitzen. Ihr Suchen und Lösen von Problemen ist ein Kampf
mit Schatten und Gespenstern. Was ist das - Seele ?  Könnte der bloße Verstand
darauf eine Antwort geben, so wäre die Wissenschaft bereits überflüssig.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 381f.).

 

Vom Nihilismus abgesehen, entstanden in der Antike und im Abendland in dieser Phase der Krise keine wirklich neuen philosophischen Richtungen mehr. Die wichtigsten alten Schulen, insbesondere die der Klassik, wirkten weiter: Platonische Akademie, Aristotelischer Peripatos, Skeptizisten, Stoizisten, Epikuräer sowie Reste der noch älteren Richtungen wie die der Sokratiker, Kyniker und Kyrenäiker (Hedoniker), wobei die mittlere platonische Akademie eine mehr skeptische Richtung unter Arkesilaos (315-241) bekam. Er war von 270 bis 241 deren erster Vorsteher. (Paulus). Von Zenon (354-264), dem Begründer der Stoa, ging die Leitung der stoischen Schule 262 über auf seinen Schüler Kleanthes, der persönliches Ansehen genoß. Seinen Ausspruch „In ihm (Gott = Kosmos) leben, weben und sind wir“ sollte Paulus später in Athen zitieren. (Paulus). Nach Kleanthes' Tod (232) leitete Chrysippos die stoische Schule bis 208 (205). Er schuf eine Lehre von der periodischen Weltverbrennung und Welterneuerung durch die Gottheit. Chrysippos war bestrebt, die stoische Lehre in allen ihren Teilen systematisch durchzuarbeiten und trug maßgeblich dazu bei, daß sich die Stoa fest konsolidierte. Mit großer dialektischer Schärfe gelang es Chrysippos, dieses Lehrgebäude gegen die Akademie, von der er anfangs viel gelernt hatte, zu verteidigen.

Wie auch in der Antike geschehen, wirkten im Abendland die alten Schulen weiter: Neu-Kantianismus, Neu-Idealismus, Neu-Hegelianismus, Neu-Positivismus, Neu-Realismus, Neu-Morphologie, Neu-Universalismus, Neu-Sensualismus, Neu-Ontologie, Neu-Marxismus, Neu-Strukturalismus, (Neu-)Lebensphilosophie (weil zweite Art), (Neu-)Psychologismus (weil zweite Art) sowie Neu-Aufklärer und Neu-Aussteiger, die antiken Neu-Kyniker, Neu-Kyrenäiker (Neu-Hedoniker), Neu-Sokratiker, Neu-Sophisten, Neu-Akademiker (weil jetzt mittlere), Neu-Peripatetiker (weil jetzt jüngere), Neu-Stoiker (weil jetzt mittlere oder römische), Neu-Skeptiker (weil auch die mittleren Akademiker skeptizistischer wurden). In der Antike bewegten sich viele Denker auf den Skeptizismus zu, im Abendland auf eine von Schopenhauer ins Leben gerufene Lebensphilosophie, z.B. Kierkegaard, Dilthey (neu-hegelianisch), Nietzsche, Freud, Bergson, Simmel, Klages, der Kulturmorphologe Spengler, der Fundamentalontologe Heidegger (1889-1976) oder der Neu-Ontologe N. Hartmann (1882-1950). Zumeist blieben diese daher (neu-)lebensphilosophisch (Nachfolger), (neu-)idealistisch bzw. (neu-)hegelianisch oder auch (neu-)kantianisch orientiert und verfaßt. Auch bezogen auf die anderen „Altschulen“ gilt also, daß sie auf eine wie auch immer geartete Neo-Weise romantisch-klassizistisch verhaftet blieben. (18-20). Auch sind die charakteristischen Ähnlichkeiten mit den Richtungen der historisierenden, eklektizierenden Kunst evident. Das gilt für die Antike und für das Abendland gleichermaßen. Die eben erwähnten Leistungen stellten hier wie dort zwar enorme Bereicherungen dar, vor allem in wissenschaftlich-technischer Hinsicht, aber philosophisch-metaphysisch setzten sie nur (radikaler) fort, was vorher bereits gedacht worden war.

 

„Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. ....
Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine
Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang.“

(Martin Heidegger, 1966)

 

Ausgerechnet das seelenkundliche Genie Nietzsche inspirierte die Tiefenpsychologie als eine Disziplin der modernen analytischen Psychologie und Psychotherapie, und Sigmund Freud (1856-1939) „hatte zeitlebens Anlaß zu leugnen“, daß er durch dieses Nietzsche-Tor „zu seinen Ansichten gelangt sei und daß er seine Grundbegriffe von Nietzsche geliehen hatte“. (Sloterdijk, in: Focus 34, 2000; S. 85). Eugen Bleuler (1857-1939) prägte den Begriff der Tiefenpsychologie, um die Bedeutung unbewußter Prozesse zu betonen. Daß das Seelenleben ausschließlich oder überwiegend durch den Sexualtrieb, durch Macht und Geltungstrieb oder durch das libidinöse Kollektiv-Unbewußte bestimmt sei, wird zwar hin und wieder von den tiefenpsychologischen Vertretern als die Wirklichkeit verfälschende Simplifikation und als Biologismus abgelehnt, doch einig scheinen sie sich darüber zu sein, daß die Tiefenpsychologie sich auf die Lehren von Sigmund Freud, Alfred Adler (1870-1937) und Carl Gustav Jung (1875-1961) zu stützen habe. Die Tiefenpsychologie entstand jedoch bereits in der Romantik bzw. im Idealismus, als auch die Psychologie selbst, zunächst als Mesmerismus, und die klassische Homöopathie sowie andere individualisierende oder „selbstversuchende“ Projekte entstanden waren. (Tabelle). Als dann später Nietzsche sein eigenes Werden exemplarisch untersuchte, entdeckte er selbst und durch ihn bald auch die Öffentlichkeit „den Ernst des Selbstgeburtkampfes, den das einzelne Individuum mit sich und seinem Schicksal auszufechten hat.“ Nietzsche hob „den Sachverhalt ans Licht, daß die Aufgabe, das eigene Leben aus dem rohstoffartigen Zustand herauszuführen und es zu einem Werk zu machen, den Charakter eines Ringens ums Ganze annehmen kann.“ Letztlich war Nietzsche vielleicht auch „mehr Psychagoge als Psychologe - und das will etwas sagen, denn zu Recht durfte man ihn ... als den größten Psychologen seines Zeitalters im Gedächtnis behalten“. (Peter Sloterdijk, in: Focus 34, 2000; S. 84f). Entscheidend für Freud war die Annahme des Unbewußten (oder des Es) als Teil des Psychischen außer dem Bewußten (Ich) und die Annahme einer Kraft, die dafür sorgt, daß es unbewußte Vorstellungen gibt: die Verdrängung. Sigmund Freud fand in der psychoanalytischen Technik Mittel, diese widerstrebende Kraft aufzuheben und die betreffenden Vorstellunegn bewußt zu machen. Neurosen schienen für Freud durch das Vorwalten wirksamer unbewußter Vorstellungen bestimmt zu sein und könnten demnach durch Bewußtmachen auch beseitigt werden. Freud sah sich mit seiner Entwicklung des Unbewußten als ein zweiter Kant. Die Korrektur, die Kant an der äußeren Wahrnehmung gemacht hatte, daß sie subjektiv bedingt sei und daß hinter ihr das unerkennbare Ding-an-sich stünde, machte er nun für die innere oder Selbst-Wahrnehmung. So wie nach Kant die Dinge an sich nicht so zu sein brauchen, wie sie uns erscheinen, so braucht nach Freud auch das Psychische, also das innere Objekt, nicht so zu sein, wie es uns erscheint. Ganz so unerkennbar wie Kants Dinge an sich sei das innere Objekt allerdings nicht, meinte Freud, denn in dessen Erkenntnis und Behandlung bestehe schließlich die ganze Psychoanalyse als Therapie und Technik der seelischen Kräfte. Freud verglich auch die Philosophie, neben Kunst und Religion, mit der Neurose. „Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion und der Philosophie. Andererseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems“. Der Neurotiker, meinte Freud, wendet sich von der Wirklichkeit ab, weil er sie - ihr Ganzes oder Stücke desselben - unerträglich findet, und ersetzt sie durch eine Wahnwelt. Sind also Künstler, Religiöse und Philosophen Neurotiker? (Und Freud?). Schon Hegel hatte Kunst, Religion und Philosophie als „Selbstbefriedigungen des absoluten Geistes“ bezeichnet, gwissermaßen als Selbsttherapien des Geistes. (Hegel). Nietzsche vermutete, daß hinter der Logik und Philosophie physiologische Forderungen stünden, daß Philosophie bisher ein „Mißverständnis des Leibes“ gewesen sein könnte. Freud konnte an Nietzsches Versuche psychoanalytischer Aufklärung anknüpfen. Allerdings verschonte er - wohl zum Dank - Nietzsches Philosophie selbst von einer psychoanalytischen Aufklärung. Oder lag das an Freuds eigenem Komplex? Der Ödipuskomplex bildete ja für Freud als das inzestuöse Verlangen (die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht auf den Vater) den Kern aller Verdrängungen (des Mannes). In der unzulänglichen Bewältigung des Ödipuskomplexes sah er den Grund für seelische Störungen und Neurosen. Und wo für Männer der Ödipuskomplex war, da sollte für Frauen der Elektrakomplex werden. Analog zu Freuds Ödipuskomples ist Jungs Elektrakomplex zu sehen: der verdrängte Wunsch der Tochter, mit dem Vater inzestuöse Beziehungen einzugehen. Jung nannte seine Lehre „Analytische Psychologie“, in der das Unbewußte den schöpferischen Mutterboden des Bewußtseins darstellt und persönliche, der Ontogenese, und kollektive, der Phylogenese entstammende Inhalte umfaßt. Letztere seien die artbedingten Aktions- und Reaktionsweisen der Psyche: die Archetypen (z.B. Animus vs. Anima).


Selbsterkenntnis kann nach dem Tode des Selbst, sprich nach dem Tode Gottes,
nur noch eine Vorstufe zu dem Projekt der Selbstverwirklichung sein.“

(Peter Sloterdijk, 2000)


Max Weber (1864-1920), laut Karl Jaspers „der größte Deutsche unseres Zeitalters“, war der Diagnostiker der Moderne. In seinem berühmten Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904) zeigte er die Bedeutung des religiösen Rationalismus, d.h. der reformatorischen Weltauslegung, die das Diesseits entzauberte oder entsakralisierte und die mit dem Berufsgedanken das alltägliche Leben mit dem Jenseitsschicksal verband, für die Entstehung des modernen Betriebskapitalismus: im Berufserfolg und Gelderwerb bewährt sich der je eigene Gnadenstand. Weber, Begründer der Religionssoziologie, suchte die Sozialwissenschaften zum Range strenger Wissenschaftlichkeit zu erheben, indem er ihre Methoden prüfte und sie als rein beschreibende auffaßte. Er suchte scharf zu trennen: Erfahrungswissenschaft und wertende Beurteilung, einseitige partikulare Erekenntnis und Ergreifen des Totalen, empirische Wirklichkeit und Wesen des Seins. Entgegen der intuitiven Verstehens-Theorie Diltheys (Dilthey) muß nach Weber die verstehende Soziologie, als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“, rational hauptsächlich nach Zweck und Mitteln fragen, weil allein dadurch das Verstehen eine besonders hohe Evidenz erreicht. Als Hauptbegriff entwickelte Weber den des „Idealtypus“. Durch diesen Terminus wurde eine für die sozialwissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung zentrale Konstruktionsmethode bezeichnet. Der Idealtypus wird „durch gedanklich einseitige Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen“, die dann „zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammengefügt“ werden. „Der Idealtyp ist ein »Gedankenbild«, welches nicht die historischen Wirklichkeit oder gar die eigentliche Wirklichkeit ist, ... sondern die Bedeutung des eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchenm die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ (Max Weber). Die Bildung des Idealtypus ist ein heuristischer Schritt der Begriffs- und Theoriebildung, der deutlich von der überprüften Theorie zu unterscheiden ist.

Alfred Weber (1868-1958) wollte die Soziologie mit der Strukturlehre der Geschichtswissenschaft verbinden; seine Kultursoziologie zeigt, daß die eigentliche Grundlage der großen Kulturen immer ein bestimmter charakteristischer Typus der betreffenden sozialen Organisation ist, und beschreibt die geschichtlichen Entwicklungsstufen dieser Typen. In seinem Werk Kulturgeschichte als Kultursoziologie (1935) heißt es, das Ergebnis der bisherigen Geschichte sei, daß die Menschen zu der Welt- und Daseinsangst der Primitiven zurückkehre. „Sozialreligionen“ sind laut Weber der demokratische Kapitalismus, der demokratische Sozialismus und der sozialistische Kommunismus; ihr Ursprung ist die Erklärung der Menschenrechte von 1776 mit ihrem religiös-sozialen Gehalt als Ausdruck eines neuen Menschenbildes. „Diese Sozialreligionen sind weithin an die Stelle der Transzendentalreligionen getreten; ideell und zugleich sozialstrukturell bilden sie in unerhörtem Maße die praktisch-dynamischen Umwälzungskräfte des heutigen Daseins. Keine der Transzendentalreligionen, der Islam vielleicht ausgenommen, hat heute noch eine Missionskraft, die auch nur im entferntesten vergleichbar wäre derjenigen dieser Sozialreligionen.“ (Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, 1935, S. 423).


Seit in Europa der Geburtenrückgang eingesetzt hat, also spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts (in Frankreich schon seit Ende des 18. Jahrhunderts!), ist „die Befürchtung, man habe es hier mit einem echten Anzeichen des ›Untergang des Abendlandes‹ zu tun, nicht mehr verstummt. Vor allem in Frankreich, wo in den Jahren 1890, 1891, 1892, 1895 und 1900 ein Geburtendefizit registriert wurde, hat man die ›décadence de la natalité‹ schon früh mit dem Dekadenz-Paradigma in Verbindung gebracht. Arsène Dumont leitet 1890 das erste Kapitel seiner demographischen Studie ›Dépopulation et Civilisation‹ mit der Frage ein: ›La France est-elle une nation en décadence?‹  ›Die Geschichte‹, schreibt er, ›bietet mehr als ein Beispiel sozialer Auszehrung. Mitten im Frieden, im Überfluß, in der Sekurität, umgeben von allem, was an Spannkraft und Vitalität anstacheln sollte, schmilzt ein Volk dahin und erlöscht; es war fruchtbar und wird steril, tapfer und wird feig, eroberungslustig und wird schließlich selbst erobert. Daß ein allzu schwacher Staat von einem stärkeren zerstört wird, ist leicht zu verstehen. Aber diese Hinfälligkeit ohne äußere Einwirkung, diese Art Anämie, die ein Volk stillschweigend hinwegrafft und es geräuschlos unterminiert, ist ein schreckliches und mysteriöses Phänomen.‹ (Ebd., S. 3). ... Im Jahre 1905 hält Pontus Fahlbeck, seines Zeichens Professor für Geschichte, Staatslehre und Statistik an der Universität Lund, bekannt geworden durch seine demographisch-genealogischen Untersuchungen über das Aussterben der schwedischen Aristokratie, einen Vortrag ... und ... gibt ... zu bedenken, daß die Statistik neben Fragen des unmittelbaren Nutzens die großen Probleme der Zukunft nicht vergessen dürfe, die wissenschaftlich auch von größerem Interesse seien als die kleinen Problemchen der Tagespolitik. Und zu diesen großen Problemen rechnet er den Untergang der Völker. Der Untergang von Völkern sei zwar kein alltägliches Ereignis, aber die Geschichte sei insgesamt doch eine einzige Nekropole von Staaten und Völkern, die einmal zugrunde gegangen seien. Sofern diese Staaten und Völker nicht einfach einem übermächtigen Angriff von außen erlegen seien, hätten die Historiker schon immer Symptome einer ›inneren Krankheit‹ registriert, deren typischer Verlauf von Demographen näher untersucht werden sollte, da eine ›soziale Krankheit‹ sich stets auch in ›demographischen Tatsachen‹ manifestiere. Fahlbeck untersucht dann am klassischen Paradigma des ›Untergangs der antiken Welt‹ mögliche demographische Indikatoren der ›Dekadenz‹. Er findet das Symptom der Symptome im Geburtenrückgang aufgrund der abnehmenden Heiratsneigung und des 2-Kinder-Systems. In unserem Zusammenhang ist vor allem der zweite Teil des Vortrags von Interesse, in dem er seine Fragestellung auf die ›zivilisierten Völker‹ Europas überträgt, und der in der Prognose eines langfristig anhaltenden Geburtenrückgangs kulminiert. Man kann diese Prognose im Rückblick nicht anders als ›schlagend‹ nennen. Fahlbeck hat ... den ... Geburtenrückgang in großen Zügen fast genau so vorhergesagt, wie er im Endeffekt dann auch tatsächlich abgelaufen ist. Ich will das am Beispiel Großbritanniens demonstrieren. Nach Fahlbecks Extrapolation schneiden sich die Kurven der Geburten- und Sterbeziffern etwa im Jahr 1957 auf dem Niveau von 16‰. Tatsächlich ist es in England erst 20 Jahre später auf einem Niveau von 12‰ zu einem Gleichstand von Geburten- und Sterbeziffern gekommen. Wie aus der Grafik zu ersehen ist (vgl. Robert Hepp, a.a.O., S. 193), hat sich der schwedische Statistiker nur in zwei Hinsichten verschätzt, wobei der erste Punkt ziemlich belanglos ist: Der Geburtenrückgang verlief zeitweise rasanter, als er annahm, und die Mortalität sank weiter ab, als er offenbar glaubte. Wenn man seine Projektion von diesem Irrtum bereinigt, stimmt der Trend mit dem tatsächlichen Verlauf ziemlich genau überein. Die ausgezogenen hypothetische Geburtenkurve schneidet die reale Kurve der Sterbeziffer um 1977, was auch tatsächlich der Fall gewesen ist. Ich führe das Beispiel nicht als Meisterstück einer guten statistischen Prognose an. Wenn es um die Treffsicherheit ginge, gäbe es in der älteren Literatur viele andere mehr oder weniger schlagende Beispiele. ... Dazu gehörte meist nur ein Schuß Pessimismus und die Einsicht in die Tatsache, daß die Grenzen, die der Tod dem menschlichen Leben setzt, nicht unendlich verschoben werden können, während die menschliche Fruchtbarkeit im Prinzip bis auf Null heruntergefahren werden kann. Heute weiß man, wie recht Fahlbeck hatte, als er sich über Kollegen wie den berühmten Statistiker Jacques Bertillon mokierte, die aus unerfindlichen Gründen daran glaubten, daß die geburten- und Streberaten immer gleichsinnig miteinander steigen und fallen würden, oder wenn er sich über die Ideologen des Null-Wachstums lustig machte, die damalas John Sturat Mill oder Rauchberg hießen.“  (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 191-194). Demographie

Anfangs hielt man den Geburtenrückgang für eine typisch französisches Phänomen (), doch die Tatsachen widerlegten diese Ansicht, denn spätestens um die 1870er Jahre herum griff der Geburtenrückgang auch auf die anderen Staaten des Abendlandes über. Zum Vergleich sind hier auch nichteuropäische Länder erwähnt:
Geburtenraten
seit 1871
1871 / 18801881 / 18901891 / 19001901 / 19101911 / 1913 1921  1924  1925 Prozentualer
Geburtenrückgang
1871/1880 - 1925
  2003 *Prozentualer
Geburtenrückgang
1871/1880 - 2003
*
Deutschland39,136,836,133,429,025,320,520,647%10,074%
England35,532,530,027,224,022,418,918,348%12,066%
Schottland34,932,330,728,025,725,221,921,339%12,066%
   Frankreich *25,423,922,120,718,820,719,219,623%13,049%
Schweden30,529,027,125,823,721,418,117,543%11,061%
Schweiz30,828,128,727,423,820,818,718,440%10,068%
Belgien32,730,228.926,723,121,919,919,740%11,066%
Norwegen30,930,830,327,625,623,921,720,035%12,061%
Dänemark31,531,930,228,726,724,021,921,133%12,062%
Niederlande36,434,232,530,728,027,425,124,234%12,067%
Italien36,937,834,932,531,930,328,227,525%  9,076%
Ungarn43,444,240,536,835,431,826,827,736%10,077%
Spanien37,936,234,834,531,230,029,929,323%10,074%
Rumänien35,041,440,640,042,637,436,236,2+ 3% 10,071%
Rußland49,347,247,143,943,737,242,7Die Zahlen von 1921 an sind unbrauchbar!
Massachusetts27,227,026,026,525,623,722,3Keine Angaben
Australien36,834,829,426,627,425,023,222,938%13,065%
* Frankreich mit Geburtendefizit ! Quellen: Richard Korherr, Geburtenrückgang, a.a.O., 1927, S. 164; * Fischer Weltalmanach, 2006, S. 504

Die Fruchtbarkeit scheint die Schlüsselvariable des gesamten Bevölkerungsprozesses zu sein. Nur spekulieren die einen auf das „Hoch“ und die anderen auf das „Tief“. Anders gesagt: „Die einen befürchten eine Bevölkerungsexplosion, die anderen eien Bevölkerungsimplosion. ... Da anfangs in Europa, dann nach und nach weltweit, die Sterberate schneller zurückging als die Geburtenrate und also die Bevölkerung trotz des Geburtenrückgangs ständig zunahm, sprach prima vista alles für die malthusianische Position. Sie ist eigentlich erst heute - und speziell in Deutschland - von der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung dementiert worden. Und damit werden auch die Dekadenztheoretiker wieder aktuell und interessant. Sie haben mit ihrem demographischen Pesseimismus ... recht behalten. ... Dabei hat sich ... eine ganze Schule herausgebildet, die den ... Geburtenrückgang ständig mit kritischen Kommentaren und düsteren Untergangsprognosen begleitet hat. (Demographie). All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, daß sie den Geburtenrückgang als demographischen Prozeß irgendwie mit ›Dekadenz‹ oder ›Niedergang‹ in Zusammenhang bringen, sei es als Ursache oder als Folge, als Symptom, Symbol oder Indikator eines allegemeinen kulturellen und politischen Verfalls. Bei den meisten Autoren bezeichnet ›Dekadenz‹ einen Gesamtprozeß sozialen und kulturellen Wandels, in dem der Geburtenrückgang nur eines von vielen parallel oder gleichlaufenden Symptomen ist. In Spenglers Interpretation wird der Geburtenrückgang zum ›körperlichen‹ Ausdruck einer allgemeinen ›Unfruchtbarkeit‹ des ›zivilisierten Menschen‹ und seiner ›durchaus metaphysischen Wendung zum Tode‹, die sich auch im ›Erlöschen der großen Kunst, der gesellschaftlichen Formen, der großen Denksysteme, des großen Stils überhaupt‹ manifestiert; die Fruchtbarkeit des ›letzten Menschen‹ ist in jeder Hinsicht ›erschöpft‹. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 678ff. Spengler). Die Demographen unter den Dekadenztheoretikern ... interpretieren den Geburtenrückgang zwar auch als ›Symbol‹ eines allgemeinen soziokulturellen Niedergangs, wobei sie aber immer mit Nachdruck betonen, daß der Geburtenrückgang die wichtigste aller Dekadenzerscheinungen sei, weil es da sozusagen ... ums Leben geht und weil - um Landry ... zu zitieren - ›das Leben das Substrat aller Ziele‹ ist. Außerdem ist nach ihrer Ansicht der Geburtenrückgang das ›sicherste‹ aller Dekadenzsymptome, weil man ihn - im Unterschied zu den meisten anderen - präzise messen kann. Wenn einmal der kontinuierlich anhaltende Bevölkerungsrückgang eingesetzt hat, kann man das Ende eines Volkes mit mathematischer Sicherheit vorausberechnen. Sobald die Zahl der Sterbefälle über einem längeren Zeitraum hinweg die der Geburten übersteigt und die Kurve der Geburtenziffern unter die der Sterbeziffern absinkt, sind die Tage eines Volkes gezählt. Rein demographisch betrachtet, steht das Ende des Zerfallsprozesses also fest, unter gewissen Bedingungen ist es sogar in seinem weiteren Ablauf ziemlich genau prognostizierbar. Da mit der Bevölkerungsabnahme gewisse Struktureffekte einhergehen, kann man auch die Formen des weiteren Verlaufs im wesentlichen vorhersehen. Was man als ›Überalterung‹ bezeichnet, der wachsende Anteil der älteren Bevölkerung und die Verminderung des Anteils der jüngeren, ist als latenter Vorgang ja schon lange vor dem Stadium des Bevölkerungsrückgangs zu registrieren. Auch diese Strukturmerkmale haben eindeutig angebbare ›Ursachen‹ und Konsequenzen. ... Wenn es um die Ursachen des Geburtenrückgangs geht, müssen auch die Bevölekruingswissenschaftler soziale und kulturelle ›Einflußfaktoren‹ in Betracht ziehen. Auch die Dekadenztheoretiker unter den Bevölkerungswissenschaftlern suchen sie unter den ›Faktoren‹, die heute noch von empirischen Demographen für ›Ursachen‹ des Geburtenrückgangs gehalten werden. (Geburtenrückgang). Schon die älteren Vertreter dieser Schule unterscheiden sich aber von den meisten ihrer zeitgenossen, vor allem von den orthodoxen Malthusianern, darin, daß sie den monokausalen Erklärungen ›multifaktorielle Modelle‹ vorziehen. Das Ensemble aller Faktoren bezeichnen sie dann oft mit dem Sammelnamen ›Dekadenz der Kultur‹. Dieser ›Sammelbegriff‹ ist oft mißverstanden worden.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 194-196).

Nicht selten stört am Fortschrittsglauben seine „Megalomanie“ oder die typisch abendländische „Tendenz ins Unendliche, der faustische Ausgriff, die imperialistische Geste, der ›Wikinger-Geist‹ des ›Eroberers‹. Die Wachstumskritiker verkörpern ... vielleicht das Bindeglied der ›demographischen‹ und der allgemeinen ›kulturellen‹ Dekadenz. Der Engländer, der sich - in Sauvys Parabel - beim Wirt darüber beklagt, daß zu viele Gäste am Tisch sitzen, statt noch ein Hähnchen zu bestellen, ist zugleich der Prototyp des Neomalthusianers und des Wachstumskritikers. Angesichts der Diskrepanz zweier Größen, die einander angeglichen werden müssen, entscheidet er sich ›instinktiv‹ für eine ›Anpassung nach unten‹; er fürchtet den ›Exzeß‹ und das Risiko. Wo dieser ›Kleinbürger‹ und ›Kleinhäusler‹ den Ton angibt, verbreiten sich Kleinmut und Megalophobie. Wie eine Litanei zieht sich jenes ›siao-sin‹ (›Mache mein Herz klein!‹), der Drang zur ›Selbstverkleinerung‹, der nach Nietzsche für ›Zivilisationen‹ typisch ist, durch Bußpredigten der modernen Wachstumskritiker. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, § 267 ). In politicis entspricht dieser Einstellung die ›kleine Politik‹ (Georges Sorel), deren kühnster Ausdruck die ›Hochschornsteinpolitik‹ (Inneminister Zimmermann) ist. An die Stelle der ›Großmachtambitionen‹ - ›Supermächte‹ sind an sich böse! - tritt die Fellachensehnsucht nach dem ›ewigen Frieden‹. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 678ff. Spengler). Um wenigstens zu ›überleben‹, duckt und unterwirft man sich. ›Wenn man keine Eroberungen mehr macht‹, sagt Cioran, ›willigt man ein, erobert zu werden‹.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 231-232). Spengler


Im 3. Jahrhundert v. Chr. war das Museion in Alexandria mit einer Bibliothek von mehreren hunderttausend Papyrusrollen, später auch die Bibliothek von Pergamon, kultureller Mittelpunkt der hellenistischen Wissenschaft. Kennzeichen dieser hellenistischen Wissenschaft war jetzt die zunehmende Spezialisierung. Athen blieb aber weiterhin die antike Weltuniversität, wobei das Wort Universität weder im Gebrauch war noch wiedergibt, was Athen eigentlich wirklich war: Mittelpunkt der antiken Liebe zur Weisheit (Philosophie). Ein Schüler des Straton, der den neuen Peripatos (vgl. 2. Aristoteliker) gründete und von 287 bis 269 leitete, war Aristarchos von Samos (ca. 310-230), der einzig uns überlieferte Astronom, der bereits das heliozentrische Weltbild, die Achsendrehung der Erde und die Drehung der Erde um die Sonne erkannte (272). Archimedes von Syrakus (285-212) machte mathematische und physikalische Entdeckungen, z.B. die antike Form der Integralrechnung, die Bestimmung des spezifischen Gewichts der Körper, ein erstes Himmelsmodell mit beweglichen Sternen und Wurfmaschinen für die Verteidigung von Syrakus gegen die Römer. Eratosthenes von Kyrene (280-200) entdeckte durch Erdmessung die Kugelgestalt der Erde (Berechnung des Erdumfangs), zeichnete eine Weltkarte und betrieb auch sonstige Geographie und Chronographie (Trojazug: 1184 v. Chr., vgl. 8-10; Lykurg: 844 v. Chr., erste Aufzeichnungen der Olympischen Spiele: 776 v. Chr., vgl. 10-12). Der Entdecker der Nerven und des Gehirns als Zentralorgan des Nervensystems war Herophilos (335-250), während Erasistratos (300-240) der Ergründer der Pneuma-Lehre war und sich mit dem Blutkreislauf beschäftigte. Beide führten auch Sektionen am menschlichem Körper durch.

In der Philologie wirkten Aristophanes von Byzantion (257-180), der Begründer der wissenschaftlichen Grammatik und Klassikerausgaben mit Einleitung, Aristarchos von Samothrake (217-145) mit explizitenn Kommentaren. Krates von Milet (um 170) in Pergamon glänzte mit seinen allegorischen Erklärungen zu Homer. In Alexandria brillierten dichterisch: Kallimachos von Kyrene (310-240) mit Elegien, Epihrammen und Hofgedichten, Theokrit von Syrakus (um 270) durch seine Hirtengedichte und Idyllen sowie Apollinios von Rhodos (295-215), der das Argonauten-Epos schrieb. Das griechische Bildungsideal wurde im Römischen Reich übernommen und gefördert, vor allem durch den Kreis der Scipionen. Dieser anfängliche Enthusiasmus für den gesamten griechischen Kulturbereich im lateinischen Sprachraum (Sprachkörper) wich mehr und mehr einem eigenen Kulturbeitrag, welcher gefordert und gefördert wurde von Livius Andronicus (285-204), der eine Literatur in lateinischer Sprache begründete, die Odyssee (Odusia) des Homer und die griechischen Tragödien übersetzte. Damit kann er als der Erfinder der Übersetzungskunst gelten. Gnaeus Naevius (3. Jh. v. Chr.) schrieb lateinische Komödien (Zeitkritik), die nationalrömischen historischen Dramen namens Praetexta und ein Epos über den 1. Punischen Krieg. Titus Maccius Plautus (254-184) verfaßte Komödien mit volkstümlichen, obszönen und burlesken Bildern. Ennius (239-169) dichtete ein Epos über die römische Geschichte in Hexametern (Annales). Begründer der römischen Geschichtsschreibung ist Fabius Pictor (3.Jh./2.Jh.) mit seinem Werk Annales, eine Annalistik, d.h. eine nach Jahresabschnitten geordnete Darstellung, die jedoch in griechischer Sprache erschien (197). Cato (234-149) gab ein Geschichtswerk über Rom und Italien mit dem Titel Origenes (Usprünge) und das älteste landwirtschaftliche Fachbuch heraus. Als hätten die Römer es geahnt: im 2. Jahrhundert v. Chr. kam es zu einer geistigen Reaktion in den hellenistischen Gebieten des Ostens; die einheimische Bevölkerung wehrte sich immer mehr gegen die Hellenisierung durch ihr Festhalten an der eigenen (magischen) Kultur und Sprache. Diese orientalische Gegenwirkung, die zunehmende Macht der Randstaaten, z.B. der Parther und Inder, und eine allgemeine Wirtschaftskrise förderten den langsamen Niedergang der hellenistischen Kultur. Das herbstliche Fallen der Blätter setzte jetzt vermehrt ein. Die nackten Tatsachen kamen immer mehr zum Vorschein. Herbst

Der abendländische Nationalismus war wie der antike Hellenismus auch ein Versuch, sich und der gesamten dazugehörigen Kultur mittels einer Rückbesinnung eine zivilisierte Identität zu geben und eine Eigenbilanz zu erstellen, die nicht von der eigenen Kultur wegführen sollte, wie es die Renaissance versucht hatte, sondern zu ihr hin. Deshalb mußten solche Entwicklungsvertreter stark historisierend vorgehen. Sie leiteten geistig die jetzige Historismus-Hochphase ein. Leopold von Ranke (1795-1886) war der Begründer der mit hohen Ansprüchen auf Objektivität zu Werke gehenden modernen Geschichtswissenschaft, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dem von ihm geprägten Historismus stark verpflichtet blieb. Ranke brachte die methodischen Grundsätze der Quellenforschung und -kritik im akademsichen Lehrbetrieb zu allgemeiner Geltung über Deutschland hinaus, besonders groß war der Einfluß auf Großbritannien und die USA. Das Wesen des Historismus drückte Ranke in dem Satz aus, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, daß jedes geschichtliche Ereignis aus sich selbst heraus verstanden und geschildert werden müsse. Neben dem Individulitätsprinzip, das Ranke auf die politische Welt (Staaten, Völker) anwandte, gilt der Objektivitätsanspruch als der eigenste Zug seines Geschichtsdenkens. Der Historiker soll nicht über die Vergangenheit richten oder die Gegenwart belehren; er soll „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“. In den Geisteswissenschaften gilt der Historismus als eine Betrachtung der kuklturellen Erscheinungen unter dem leitenden Gesichtspunkt ihrer historischen Gewordenheit, d.h. Geschichtlichkeit (Geschichtlichkeit) und der damit verbundenen Betonung der Einmaligkeit und der Besonderheit. In der Individualität sah der Historismus die schlechthin bestimmende Kategorie historischer Erkenntnis. Die Geschichtswissenschaft hat daraus starke Antriebe für Forschung und Deutung der Gegenwart gezogen, gleichzeitig aber durch Absolutsetzung dieses methodischen Prinzips, das die Unvergleichbarkeit historischer Prozesse und Strukturen voraussetzt, sich der Gefahr des Wertrelativismus ausgesetzt und von der Entwicklung der anderen Sozialwissenschaften abgesondert. Der Begriff Historismus entstammt eigentlich erst der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, obwohl der Historismus schon Ende des 18. Jahrhunderts aufkam (Früh-Historismus; vgl. 18-20). Die Phase von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts heißt Hoch-Historismus (vgl. 20-22) - ich nenne sie auch Krise oder Kampf ums Ei, denn auch im Hoch-Historismus geht es nicht nur um Höchstform, sondern auch um Tiefstform, um Krise oder Kampf ums Ei, und das Ei ist in diesem Fall der Historismus. Für Geschichts- und Gegenwartsbewußtsein erreichte der Historismus seine größte praktische Bedeutung in der Zeit der 2. Deutschen Reichsgründung als grundlegende quellenbezogene geisteswissenschaftliche Position mit Auswirkung auf Sprachwissenschaft, historische Rechtsschule und historische Schule der Nationalökonomie. Eine andere Folge war die immer mehr zunehmende Politisierung der Historiker. Mommsen

Die Krise des Historismus fiel mit dem Ende des 1. Weltkriegs zusammen. Sie führte zur methodologischen Neuorientierung der modernen Geschichtswissenschaft. Krisen, auch eine 1. Weltwirtschaftskrise (ab 25.10.1929), mußten in dieser Phase alle durchmachen. Während die Wissenschaft auch jetzt in vielen Bereichen großartige technische Erfolge erzielte, erfuhr die für Weltanschauungen so wichtige Physik zum ersten Mal Grenzgefühle. Vergleichbar mit Aristarch und Archimedes während ihrer großen Zeit  (272/260, 237), wurde der Physik 1900 von Planck durch „Wahrscheinlichkeit“, d.h. durch seine Quantentheorie als fundamentale Innovation die Absolutheit des Wissens genommen, was Plancks Nachfolger nur noch in Weiterführung bestätigen konnten, so 1905-1916 Einstein und 1924-1927 Heisenberg mit seiner Feststellung, daß die Kausalität an ihr Ende kommen kann und sich mit „Wahrscheinlichkeiten der Wahrscheinlichkeit“ begnügen muß, wenn sie noch Erfolge verzeichnen will. Der technischen Anwendung tat das keinen Abbruch, wie allgemein bekannt. Heureka! soll Archimedes gerufen haben, nachdem er das hydrostatische Grundgesetz entdeckt hatte, und auch die Abendländer versuchten sich in vielen Bereichen, heuristisch zu betätigen. Die Moderne ging munter weiter. Im Abendland sollte sie bald auch Postmoderne genannt werden, um zu deklarieren, daß die linear-progressive Entwicklung unter umgekehrten Vorzeichen weitergehen werde - wie eine Rolltreppe. Kommunikationstheoretische Ansätze gehören ebenso hierher wie die Erkenntnis, daß gegenwärtige Zustände durch ihre Historizität zu erklären seien. Ein Beobachter sei selbst ein zu Beobachtender samt seiner Geschichtlichkeit. (Geschichtlichkeit). Die Beobachtung wurde also zu einem Prozeß, der mit seiner Umkehrung zu rechnen hatte; was physikalisch ermittelt worden war, ging auch immer mehr in die Alltäglichkeit der Kultur ein. Überhaupt schien es für nicht wenige Menschen so zu sein, daß Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und ihre Nachbardisziplinen projektiv vorgaben, was aus ökonomischen, technischen und medialen Motiven gefiel. (Macht). Abendländisch-mathematische Gebilde waren kaum von der Anschauung abhängig; jetzt wurden sie von ihnen immer mehr unabhängig. In der Antike verlief dieser Prozeß genau umgekehrt. Aus einer heiligen Zahl wie der 3 wurde im Abendland eine viel heiligere - n. Man denke nur an die Übersteigung des dreidimensionalen Raumes durch Exponenten, die größer gleich 4 oder gar unendlich groß sind. Ob wir die antike Mathematik, euklidisch oder archimedisch, die abendländische nach Gauß oder Cantor benennen; in beiden Fällen geht es darum, dem kulturellen Ursymbol auf die Schliche zu kommen, ob den Forschern dies bewußt ist oder nicht. Dort das Begrenzte, hier das Unendliche; dort der Körper, hier der Raum. Im Abendland gingen die moderne Zahlentheorie und die Mengenlehre in eine Algebra der Logik ein, und damit wurde die moderne Axiomatik vollkommen zum Kapitel der Erkenntnistheorie.

Die Relativitätstheorie der Physik, die zuvor nur eine, die alte Relativität kannte, hatte ab jetzt drei: 1.) Das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik besagt, daß in allen gleichförmig-geradlinig bewegten Systemen die mechanischen Vorgänge genauso ablaufen wie in ruhenden. (Vgl. Galilei, Newton u.a. Hochdenker). Es ist also die geradlinig gleichförmige Bewegung des betreffenden Systems ohne Zuhilfenahme eines außerhalb des Systems befindlichen Körpers nicht feststellbar. Wird z.B. in einem gleichförmig geradeaus fahrenden Eisenbahnwagen ein Ball senkrecht in die Höhe geworfen, so fällt er, als ob der Wagen stillstände, wieder senkrecht nach unten. Dagegen würde ein Beobachter, der außerhalb steht, etwa am Bahndamm, die Wurfbahn als eine Parabel sehen. Aus der Form der von außen beobachteten und gezeichneten (photographierten) Parabel kann man die Geschwindigkeit des Zuges relativ zum Standort des Beobachtes bestimmen. Ähnlich verhält es sich mit der Bewegung der Himmelskörper im Weltraum. Versuche durch elektromagnetische (optische) Mittel ein absolutes Bezugssystem im Weltraum festzustellen - etwa einen ruhenden „Äther“ als absoluten, unbeweglichen Raum im Sinne Newtons -, fielen negativ aus. 2.) Die von Einstein 1905 begründete spezielle Relativitätstheorie schuf einen neuen Zeitbegriff für die Physik: die Zeit wird nicht mehr durch die Drehung der Erde, sondern durch die Geschwindigkeit des Lichts (ca. 300 000 km/s) definiert. Diese Zeit wird in der formaltheoretischen Betrachtung mit dem Raum so verknüpft, daß sie zusammen mit den drei Raumdimensionen einen vierdimensionalen Raum (Kontinuum) aufspannt. Als Koordinate büßte die Zeit ihre Absolutheit ein, wurde zu einer nur „relativen“ Zahl in einem Bezugssystem. Eine den Tatsachen der gesamten Physik angemessene Raumzeitauffassung war gefunden worden. Eine weitere Folgerung aus der speziellen Relativitätstheorie ist die Äquivalenz von Masse (m) und Energie (E), so daß E = mc² ist (Äquivalenzprinzip). 3.) Die von Einstein 1915 begründete allgemeine Relativitätstheorie dehnte die Erkenntnisse der speziellen Relativitätstheorie auf beschleunigte Systeme aus. Schwerkraft und Beschleunigung sind gleichwertig. Es ist für einen Beobachter innerhalb eines begrenzten Bereichs der Raumzeit unmöglich zu entscheiden, ob er eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung ausführt oder sich in einem Gravitationsfeld befindet (Prinzip der Äquivalenz von Trägheit und Masse). Ein abgeschlossener Beobachter kann also durch keinerlei Experimente herausfinden, ob er sich in einem Gravitationsfeld befindet oder außerhalb eines solchen beschleunigt bewegt. Nach Einstein ist die Gravitation nicht allein als eine Kraft anzusehen; er sah sie als eine Folge der Raumkrümmung. In der allgemeinen Relativitätstheorie stellt sich der Raum jedenfalls als Folge der Anwesenheit von Massen dar; in der Nachbarschaft einer besonders großen Masse ist die Raumkrümmung entsprechend größer und nimmt mit zunehmendem Abstand von dieser Masse ab. Die Gesamtheit aller Massen im Weltall bedingt die Gesamtkrümmung des Universums. - Die Relativitätstheorie löste Probleme, die sich aus der Beobachtung der Ausbreitung elektromagnetischer und optischer Erscheinung ergaben, insbesondere der Ausbreitung des Lichts in beliebig bewegten Systemen. Die Resultate der mit Hilfe der Realativitätstheorie gedeuteten Beobachtungen weichen von den Beobachtungsresultaten der klassischen Mechanik und Elektrodynamik nur dann erheblich ab, wenn es sich um sehr große Entfernungen im unendlichen Kosmos handelt.

Die physikalische Relativitätstheorie hat ihre Grundlagen
in verifizierbaren kosmologischen Hypothesen sowie
im Ralationismus der verwendeten mathematischen Theorien.
Und vom Mathematischen her betrachtet
- also vom Reiche reiner Begriffe aus -
ist die Logistik reiner Rationalismus.

In der Zukunft sollte es vor allem für die Fragen der Kosmologie,
der zeitlichen und räumlichen Struktur des Universums, sowie
der Hochenergiephysik notwendig sein, die (allgemeine)
Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu vereinen.


Relativierte Denkweisen entstehen aus dem Grenzdenken, daß jede Kultur auf ihre Weise bewerkstelligt. 1900 gab Max Planck (1858-1947) der Physik eine völlig neue Richtung durch seine Quantentheorie. Vor seinem Studium war ihm noch abgeraten worden, Physik zu studieren, weil man annahm, daß die Physik nichts mehr zu entdecken habe. Aber gerade Planck war es, der durch seine Entdeckung der gequantelten, d.h. der nur in diskreten (nicht kontinuierlichen) Größen meßbaren Natur der Energie zur fundamentalen Innovation der Physik beitrug und damit auch das alte Axiom „Die Natur macht keine Sprünge“ außer Kraft setzte. Seit Planck nahm die Physik endgülig Abschied von der Absolutheit des Wissens, denn im Kern besagt Plancks Quantentheorie, daß sich nur noch die Wahrscheinlichkeit eines Vorgangs beschreiben läßt. Das Aussenden oder Aufnehmen der Strahlungsenergie durch die Atome geschieht immer nur stoßweise, unkontinuierlich, und zwar in bestimmten Quanten (Energiequanten), deren Größe sich aus der Schwingungszahl (Lichtgeschwindigkeit geteilt durch Wellenlänge) der betreffenden Strahlungsart multipliziert mit dem Planckschen Wirkungsquantum (Elementarquantum) ergibt. Diese Plancksche Konstante ist die von Max Planck bei der Aufstellung des ebenfalls nach ihm benannten Strahlungsgesetzes eingeführte Konstante h (Plancksches Wirkungsquantum). Sie besitzt die Dimension einer Wirkung und ist gleichzeitig der Proportionalitätsfaktor in der Beziehung W = hv zwischen der Frequenz v einer elektromagnetischen Welle und der Energie W der in ihr enthaltenen Energiequanten (Photonen). Plancks Quantentheorie war Voraussetzung für eine Reihe weiterer Forschungsergebnisse, so etwa der Lichtquantenhypothese von Albert Einstein (1879-1955) oder des Atommodells von Niels Bohr (1885-1962). Nach der aus der Quantentheorie hervorgegangenen Lichtquantentheorie (Korpuskulartheorie des Lichts) besteht auch das Licht aus mit Lichtgeschwindigkeit bewegten Quanten (Lichtquanten, Photonen). Die Quantenmechanik, von Werner Heisenberg (1901-1976) begründet, ist das Rechenverfahren, daß die mathematische Beschreibung der Quantentheorie, also die quantenmäßiger Energieabgabe und -aufnahme der Atome, ermöglicht. Dasselbe leistet die Wellenmechanik, die von Erwin Schrödinger (1887-1961) ausgebaute Theorie der Atome, die die Korpuskelnatur mit der Wellennatur mathematisch zu koordinieren und dadurch zu deuten sucht. Ein Materieteilchen kann so als der Energieknoten eines Bündels von Wellen gedacht werden, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten und „Materiewellen“ heißen. Die Wellenfunktion eines Elektrons gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, wieweit das Elektron an einem bestimmten Ort gemessen werden kann, was jeweils vom Stand der Kenntnis des Beobachters abhängt. Die Wellenmechanik kam also, wenn auch auf anderen Wegen, zu den gleichen Resultaten wie die Quantenmechanik.

Heisenberg, der Begründer der Quantenmechanik, stellte 1924-1927 fest, daß sich die Elementarteilchen durch weitere Teilungen nicht mehr in weitere (z.B. kleinere) Teilchen, also Körperformen zerlegen lassen, sondern lediglich und für kurze Zeit in mathematisch-geometrische Formen, die nicht lokalisierbar sind und dann wieder in ihre ursprüngliche Teilchenform übergehen. Man kann also keine exakten Vorhersagen mehr machen und ist statt dessen auf Wahrscheinlichkeiten der Wahrscheinlichkeit angewiesen. Heisenbergs Unschärfe-, Unbestimmtheits- oder Ungenauigkeitsrelation ist in der Quantentheorie eine Beziehung, die festlegt, wie genau zwei physikalische Größen eines mykrophysikalischen Systems (z.B. eines Elementarteilchens) gleichzeitig gemessen werden können. Wird z.B. der Impuls eines Teilchens exakt gemessen, dann ist keinerlei Aussage mehr möglich über den Ort dieses Teilchens zum Zeitpunkt dieser Messung. Dieses „Naturgesetz“ der Unbestimmtheitsrelation bedeutet, daß das Produkt der Ungenauigkeit von Impuls- und Ortsbestimmung eine Korpuskels, z.B. eines Elektrons im Atom mindestens gleich der Planckschen Konstante (h) ist. Der Impuls und der Ort, z.B. eines Elektrons im Atom, ist also nicht genau bestimmbar. Jede Steigerung der Genauigkeit im Bezug auf den einen Faktor durch Veränderung der Versuchsordnung würde einen Eingriff in das atomare Geschehen bedeuten, der die Bestimmbarkeit des anderen Faktors beeinträchtigt. Metaphysisch gesehen gibt die Unbestimmtheitsrelation die Grenze der Überprüfbarkeit und der begründeten Anwendung der Kausalität an: die letzten Gleichungen, zu denen ein Physiker gelangt, sind Wahrscheinlichkeitsgleichungen, jedoch nicht solche, bei denen es sich um statistisch gewonnene handelt, sonden solche, deren Veränderliche selbst eine Wahrscheinlichkeitsfunktion ist. Das mikrophysikalische Geschehen läßt sich so interpretieren, als käme ihm eine Art von Spontaneität, von „fehlender Ursächlichkeit“ zu. Heisenberg stellte somit seine Unbestimmtheitsrelation (Unschärferelation) für die Quantenmechanik auf, nach der das Geschehen im Atom einer streng deterministischen Behandlung grundsätzlich unzugänglich ist. Die Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes wurde dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wohl aber erwies es sich als notwendig, die Begriffe „Kausalgesetz“ und „Determinismus“ einer gründlichen neuen Analyse zu unterziehen. Heisenberg beeinflußte mit seinen fundamentalen Beiträgen zur Atom,- und Kernphysik die Entwicklung der modernen Physik nachhaltig.



Platonische Urkörper Denkgeschichtlich gesehen kam Heisenberg hier Platon,
kulturgeschichtlich gesehen das Abendland der Antike wieder näher.


Die Konsequenzen aus dem „Grenzdenken“ dieser hoch- und tiefmodernen Phase
- der Hochmodernistik -
geben den Weg frei für die „Denkumkehr“ einer hochmodern gewordenen Kultur.
Die abendländische Umkehrrichtung geht nun ausgerechnet in die antike Richtung
und die antike Umkehrrichtung ausgerechnet in die abendländischen Richtung. Ursymbol und Seelenbild

 

Spätes Spätdenken

Globalismus als Spätmodernistik oder Spätnihilismus als Spätmodernistik?

Karneades (214-129) aus Kyrene war (Alt-) Platonist und stiftete um 160 v. Chr. die dritte Akademie, die „Neuere Akademie“. (Vgl. Platonismus). Er entwickelte die akademische Skepsis bis zur äußersten Konsequenz und leugnete Wissen und Möglichkeit eines endgültigen Beweises. Karneades war der erste Theoretiker einer „Wahrscheinlichkeit“. Er kam 156 v. Chr. nach Rom, wo er die Philosophie heimisch machte. Ainesidemos aus Knossos auf Kreta lehrte um 70 v. Chr. in Alexandria und war der Erneuerer der Lehren des aus Elis (Peloponnes) stammenden Pyrrhon (360-270), Begründer der älteren skeptischen Schule. (Vgl. Skeptizismus). Ainesidemos begründete somit die Schule des „Jüngeren Skeptizismus“. Die Grundlage hierfür waren seine 10 Gründe zur Rechtfertigung der zweifelnden Skepsis:

1) Die Verschiedenheit der Lebewesen
2) Die Verschiedenheit der Menschen
3) Die Verschiedenheit der Sinnesorgane
4) Die Verschiedenheit der Zustände des Indivduums
5) Die Verschiedenheit der Lagen, Entfernungen, Orte
6) Das Vermischtsein des Wahrnehmungsobjekts mit anderen Objekten
7) Die Verschiedenheit der Erscheinungen, je nach ihrer Verbindung
8) Die Relativität überhaupt
9) Die Abhängigkeit von der Anzahl der Wahrnehmungen
10) Die Abhängigkeit von Bildung, Sitten, Gesetzen, religiösen und philosophischen Anschauungen


Auch im heutigen Abendland wird man mehr und mehr darauf aufmerksam, daß auch an jeder „rein“ wissenschaftlichen Erkenntnis der Glaube einen großen Anteil hat, z.B. der Glaube an die - wenn auch nicht vollkommene - Übereinstimmung der Erkenntnis- und der Seinskategorien. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß besteht aus einer psychophysischen Grundrelation (a posteriori) und einer kategorialen Grundrelation (a priori) als Verhältnis zwischen Erkenntnis- und Seinskategorien. Im Wahrnehmungsakt sind beide Grundrelationen im Spiel: die kategoriale bringt die Allgemeincharaktere des Gegenstandes zum Bewußtsein, die psychophysische die individuellen Sondercharaktere. „Durch die kategoriale Grundrelation begreifen wir, wissen wir aber nicht um das Dasein; durch die psychophysische Grundrelation wissen wir um das Dasein, begreifen es aber nicht.“ (N. Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, 1921). Schon Philosophen wie Leibniz („Prästabilisierte Harmonie“), Spinoza, Schelling, Schopenhauer und Fechner hatten z.B. für das Verhältnis zwischen Denken und Sein oder Psychischen und Physischen einen psychophysischen Parallelismus angenommen, wonach die beiderseitigen Verläufe einander sachlich und zeitlich streng entsprechen, ohne im mindesten in Wechselwirkung zu stehen. Fechner (1801-1887), der Begründer der Psychophysik, wollte die gesamte Leib-Seele-Frage über den psychophysischen Parallelismus lösen. (Aporie). Er gelangte durch Verallgemeinerung, Erweiterung und Steigerung der Gesichtspunkte über das Erfahrbare hinaus zu einer panentheistischen und panpsychistischen Naturphilosophie. Nach dem Panpsychismus sind alle Dinge beseelt, haben Leben und Bewußtsein, als ob nichts wirklich Totes existiere. Der Panentheismus ist die Vereinigung von Theismus, der das All, die Natur, von Gott machen läßt, und Pantheismus, der das All, die Natur zu Gott macht. Der Panentheismus aber ist keine All-Gott-Lehre, sondern behauptet nur das Enthaltensein des Weltganzen in Gott. Von der romantischen Naturphilosophie beeinflußt, bemühte sich der Physiker, Psychologe und Philosoph Fechner, für das Psychische ein physikalisches Maß zu finden und die Beziehung von Leib und Seele mathematisch zu formulieren und begründete nebenbei die experimentelle Psychologie und damit die Psychophysik, die von Wilhelm Wundt (1832-1920) und seinem psychologischen Institut in Leipzig weiter ausgebaut und zu einer der wichtigsten Grundlagen der Psychotechnik wurde. Wundt sagte über den psychophysischen Parallelismus, „daß alle diejenigen Erfahrungsinahlte, die gleichzeitig der mittelbaren, naturwissenschaftlichen und der unmittelbaren, psychologischen Betrachtungsweise angehören, zueinander in Beziehung stehen, indem innerhalb jedes Gebiets jedem elementaren Vorgang auf psychischer Seite ein solcher auf physischer entspricht“. Die Gesamtheit der im Großhirn liegenden Endabschnitte der von den Sinnesorganen ausgehenden chemisch-physikalischen Wirkungsreihen (vgl. Reize) wird häufig auch als psychophysisches Niveau bezeichnet. Nur diejenigen Prozese in den Nervenbahnen und überhaupt im nervösen System des körperlichen Organismus sind bewußtseinsfähig und können eine Empfindung oder Wahrnehmung konstituieren, die sich im psychophysischen Niveau abspielen. Weil Näheres unbekannt ist, bleibt die Angelegenhiet eine Leib-Seele-Frage, und die Beziehungen zwischen Leib und Seele, die besonders in der heutigen Medizin, Psychotherapie und Psychopathologie eine zentrale Rolle unter der Bezeichnung Psychosomatik spielen, sind überhaupt nicht geklärt. Die Vorgänge im psychophysischen Niveau müssen als metaphysisch und metapsychisch zugleich aufgefaßt werden ; nur gewisse Glieder dieser Vorgänge treten als physiologische Erscheinungen auf.


„Der Seele Wissen kannst Du nicht ausfinden,
auch wenn du jeglichen Weg abschrittest,
so tief ist ihr Wesen“ (Heraklit)


Ob man im Bereich der Seele überhaupt noch weiterkommen kann?  Vielleicht mit einer Parapsychologie?  Seitdem sich die Naturwissenschaft, d.h. die naturwissenschaftlichen Disziplinen, auch mit Parapsychologie, d.h. mit denjenigen Äußerungen seelischer Kräfte beschäftigt, die ihrer Art nach naturwissenschaftlich sein müßten, es aber nicht sind (!), hat man den Mesmerismus natürlich längst vergessen, spricht statt dessen von Psi-Phänomenen und unterscheidet hierbei Psi-Gamma-Phänomene (Wahrnehmungserscheinungen: Hellsehen, Präkognition, Vorwegnahme künftiger Ereignisse u.s.w.) und Psi-Kappa-Phänomene (Bewegungserscheinungen: Psychokinese, seelische Fernbeeinflussung eines Objekts u.s.w.). Eine „Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie“ wurde z.B. 1950 in Freiburg (Breisgau) gegründet. Ist hier die Wissenschaft zu optimistisch geworden oder resigniert sie vor sich selbst, indem sie Wissen zu erreichen zwar vorgibt, aber den Glauben meint,ohne es zu wissen?  Sucht die Wissenschaft im Optimismus einen Halt, um den Pessimismus aus der Phase des Nihilismus zu überwinden oder verstärkt sie ihn unterschwellig dadurch sogar noch? Oder will sie einfach nur Geld ?  Man darf hier skeptisch bleiben.

Die typischen Züge des Skeptizismus wurden also von Ainesidemos noch weiter intensiviert: das Mißtrauen gegen die Sinneswahrnehmnug, die überlieferten Denkgewohnheiten sowie gegen ethische und politische Wertvorstellungen und Vorurteile. Die völlige „Enthaltung“ (epoch) des Urteils, für die Pyrrhon sich so stark gemacht hatte, ließ natürlich nur noch aporetische Argumente zu; aber genauso ausweglos oder ratlos (aporetisch) stand man mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit da, den die mittlere, vor allem aber die neuere Akademie favorisierte. (Vgl. Karneades). Da die Unerschütterlichkeit und Unverwirrtheit (ataraxia), die Pyrrhon als das praktisch-sittliche Ideal ansah, für die praktische Orientierung des Handelns gelten sollten, resultierte daraus, zusammen mit der theoretischen Orientierung des Denkens - der epoch - eine nur noch von den Indern zu übertreffende Gelassenheit. Während die abendländische Kultur die energischste Art einer Inhaltsdynamik ist, forderte die antike Kultur genau gegenüber dieser Art die Zurückhaltung. epoch geisterte durch alle Schriften der Antike und deshalb wahrscheinlich auch durch die gesamte Lebensart dieser statischen Kultur. Aber gerade diese Gegensätze erlauben es uns, unsere eigenen Fehler im Spiegel der Antike zu erkennen und von dieser verstorbenen Kultur zu lernen, denn ihre Geschichte ist uns ziemlich gut bekannt. Die Möglichkeit, von uns auf diese Weise zu lernen, hatte die Antike nicht. Die Analogien von Akademie und Idealismus einerseits sowie Skeptizismus und Lebensphilosophie andererseits lehren uns z.B. die in jeder zivilisierten Kultur notwendig werdende Skepsis, deren Höhepunkt (eher: Tiefpunkt) wir Abendländer noch vor uns haben. (Vgl. Beispiel).

Tatsächlich wurde die von Arthur Schopenhauer begründete Lebensphilosophie ein Wegbereiter für Nachfolger und Nachahmer. (Tabelle). Allgemein gesehen ist Lebensphilosophie jede Philosophie, die nach Sinn, Ziel, Wert des Lebens fragt, besonders wenn sie sich vom theoretischen Wissen ab- und der unverfälschten Fülle des unmittelbaren Erlebens zuwendet. Die eigentliche Lebensphilosophie will „das Leben aus ihm selber verstehen“. Nietzsche, Freud, Simmel, Bergson, Klages, Spengler und Keyserling, um nur einige Beispiele zu nennen, waren dieser Lebensphilosophie, diesem abendländischen Skeptizismus, genauso treu geblieben wie nach ihnen die Existenzphilosophen Heidegger, Jaspers und Sartre. In der Existenzphilosophie werden z.B. drei verschiedene Gestalten unterschieden: die Existenzial-Ontologie von Heidegger, deren Leitfrage die nach dem Sinn des Seins ist; die Existenzerhellung von Jaspers, die jene Frage als unmöglich ablehnt und sich auf die Erhellung der Seinsweise der menschlichen Existenz und ihrer Bezüge zur (göttlichen) Transendenz konzentriert; der Existentialismus von Sartre, der, von Husserl und Heidegger ausgehend, einen realistischen Standpunkt im Bezug auf Sinn und Zweck des Daseins vertritt. (). Ob auch Sloterdijk, der an der „wahren Geschichte“ der Globalisierung arbeitet, dieser Richtung der Lebensphilosophie treu bleiben oder seher eine abendländische neu-akademische Skepsis begründen wird, ist noch nicht abzusehen, denn er gehört unserer Gegenwart an und ist noch jung. Jedenfalls wird die internationale „Schopenhauer-Gesellschaft“ wohl auch in Zukunft eine Schule der Längerfristigkeit bleiben, denn ebenso verhielt es sich in der Antike mit dem Pyrrhonismus (= Pyrrhons Skeptizismus). Tabelle


Auch die Schulen der Stoa und der Epikuräer hielten sich lange, was man mit Blick auf die
Zukunft für die abendländischen Soziologie- und Psychologie-Schulen sicherlich ebenfalls annehmen darf.


Panaitios von Rhodos (um 180-110), der Begründer der Mittleren Stoa, verpflanzte die griechische Bildung nach Rom und wurde dadurch der Begründer des römischen Stoizismus. Panaitios entfernte aus der Stoa die orientalische Mystik und die asketische Härte der altstoischen Ethik. (Stoa). Er gilt auch als Schöpfer des Begriffs „Humanität“. Poseidonios (um 135-51) wurde zum einflußreichsten Denker der Mittleren Stoa und war ebenfalls Leiter der von Panaitios in Rhodos gegründeten Schule, wo Cicero (106-43) und Pompeius (106-48) ihn hörten. Poseidonios war Philosoph, Naturforscher, Mathematiker, Astronom, Geograph, Historiker, Ethnograph zugleich und deshalb wahrscheinlich der universalste Gelehrte seiner Zeit. Er schuf ein eklektizistisches philosophisch-wissenschaftliches System, das den dualistisch in Leib und in (zur Strafe in den Leib eingekerkerte) Seele aufgespaltenen Menschen im Mittelpunkt der göttlichen Allnatur sieht. Für das römische Volk wurde die Stoa immer mehr zu einer Art ethischer Religion, besonders in der schon bald folgenden Kaiserzeit, in die auch die Gründung der Neuen Stoa fiel (etwa 20/50). Gott und Natur waren der Stoa, die nach Art des Eklektizismus bzw. Synkretismus die verschiedensten Lehren in sich aufnahm, eins, das Menschenwesen ein Teil der Gott-Natur:

Alles Wirkliche und Wirkende ist körperhaft; die Kraft ist nicht etwas Inmaterielles oder Abstraktes, sondern der feinste Stoff selbst. Die wirkende Kraft im ganzen der Welt ist die Gottheit. Sie durchdringt die Welt als ein allverbreiteter Hauch (Lichtäther); sie ist die Weltseele, die Weltvernunft. Aller Stoff ist eine Modifikation dieser göttlichen Kraft, und alles löst sich in ewigem Wechsel wieder auf in die göttliche Kraft. Alles geschieht nach einer inneren und absoluten Notwendigkeit, und das absolut Notwendige ist zugleich das absolut Zweckmäßige. Andererseits lehrte die Stoa die Willensfreiheit. Eben darum lautet die ethische Forderung: (aus Freiheit) in Übereinstimmung mit der Natur leben! Weil aber die menschliche Vernunft, sofern sie wirklich diesen Namen verdient, ein Teil der Weltvernunft ist, so heißt naturgemäß leben zugleich auch vernunftgemäß leben. Alles sittliche Handeln ist nach der Stoa nichts anderes als Selbsterhaltung und Selbstbehauptung; aber sich selbst fördern heißt, wenn es im rechten Sinne geschieht, zugleich auch das allgemeine Wohl fördern. Alle Sünde und Unsittlichkeit ist nichts als Selbstzerstörung, Verlust der eigensten Menschennatur, Krankheit der Seele.


NACH OBEN
Ein kurzer Rückblick auf die „Linguistische Wende“: Ausgehend von der Linguistik - vom postum erschienenen Werk Cours de linguistique génerale (1916) des Schweizers Ferdinand de Saussure (1857-1913 [**]) - beeinflußte der Strukturalismus rasch auch die Methoden aller anderen „Wissenschaften vom Menschen“, darunter z.B. Anthropologie, Ethnologie, Psychologie, Soziologie, Kunstästhetik u.a.. Der Strukturalismus sieht in der Sprache, die er oft auch als „Kode“ („Code“ [**]) bezeichnet, d.h. als ein nach bestimmten Regeln kombinierbares Zeichensystem mit vor allem kommunikativer Funktion, den Prototyp jeder ganzheitlichen Organisation der Wirklichkeit. Die vom Strukturalismus synchronisch untersuchten Sprachmodelle werden methodisch auf den gesamten Bereich des Verhaltens ausgedehnt.

7 Haupt-Sätze (nach Wittgenstein):
1) Die Welt ist alles, was der Fall ist.
2) Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.
3.) Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.
4.) Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.
5.) Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze.
6.) Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: (P, x, N(x)).
7.) Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.
Ludwig Wittgenstein (1889-1951) beschäftigte sich zunächst mit einer Idealsprache zur Abbildung der Tatsachenwelt, und dann, mit seiner Idee der Sprachspiele, der Umgangssprache. „Alle Philosophie ist Sprachkritik“, sagte Wittgenstein: „Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemeint haben muß, um sie darstellen zu können - die logische Form. Um sie darzustellen, müßten wir uns mit dem Satz außerhalb der Logik aufstellen können, d.h. außerhalb der Welt.“ Er kam zu dem zum Schluß: „Das Resultat der Philosophie sind nicht philosophische Sätze, sondern das Klarwerden von Sätzen. .... Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“

In den „Philosophischen Untersuchungen (erschienen 1953) revidierte Wittgenstein diese Ansichten teilweise: „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben“. Wittgensteins Kunde, daß alle Philosophie Sprachkritik, der Rest Schweigen und alle Wahrheit auf das klar Sagbare, also die Naturwissenschaft, eingegrenzt sei, verrät, weil ja die Eingrenzung selbst beredt ist, den Grund seiner Philosophie: eine unsagbare private Subjektivität.

Der Strukturalismus sieht, wie gesagt, in der Sprache, die er oft auch als „Kode“ („Code“) bezeichnet, d.h. als ein nach bestimmten Regeln kombinierbares Zeichensystem mit vor allem kommunikativer Funktion, den Prototyp jeder ganzheitlichen Organisation der Wirklichkeit. Die vom Strukturalismus synchronisch untersuchten Sprachmodelle werden methodisch auf den gesamten Bereich des Verhaltens ausgedehnt. Der Ethnologe Lévi-Strauss (1908-2009) übertrug das Modell der linguistischen Strukturanalyse von Ferdinand Saussure auf die „Human-“ und „Sozialwissenschaften“ und entwickelte z.B. eine Theorie, die davon ausgeht, daß „Kulturerscheinungen in einer anderen Ordnung der Wirklichkeit Phänomene vom gleichen Typus wie die sprachlichen sind“. Dieser Ansatz eröffnet die Möglichkeit, bestimmte Beziehungen zwischen der Sprache als dem Benennungssystem und dem System der menschlichen Werthaltungen und Einstellungen gegenüber natürlichen Phänomenen herauszuarbeiten. Bei Lévi-Strauss verschwindet das Subjekt zugunsten der Strukturen: „Ich habe nie das Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sich darauf. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereignet sich andeswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls.“
„Le dejeneur sur l’herbe estructuraliste“ von Maurice Henry
„Le dejeneur sur l’herbe estructuraliste“ von Maurice Henry. V.l.n.r.: Foucault, Lacan, Levi-Strauss, Barthes.
Lévi-Strauss entleerte in seiner strukturalen Anthropologie das Subjekt von außen, Lacan (1901-1981) von innen - wie Freud. (Freud). Das Unbewußte ist sprachlich strukturiert, und: „da ich nicht über mein Unbewußtes verfüge, kann ich kein autonomes Subjekt sein“, so der strukturalistische Psychoanalytiker Lacan. „Das Unbewußte ist als vom Bewußtsein getrennt gesetzt. Es hat, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen, keinen Zugang zum Bewußtsein. Lacan sagt das gegen Sartre, der Subjekt und Bewußtsein unlöslich verbunden sieht. Für Lacan ist das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert, die durch uns hindurch spricht, wenn wir zu sprechen meinen. Sartre widerspricht: Zumindest für die Sprache des Linguisten bedürfe es eines sprechenden, linguistischen Subjekts. Er sieht einen Rückfall in den Positivismus, nicht den der Tatsachen, sondern jetzt den der Zeichen. So auch bei Althusser (1918-1990), wenn er den Menschen von den Strukturen bedingt sein läßt. Ist denn der Mensch nicht auch immer über die Strukturen hinaus? Bei ihnen stehen zu bleiben ist für Sartre „ein logischer Skandal“. Er definiert: »Der Philosoph ist derjenige, der versucht, dieses Überschreiten zu denken«. - Aber ist das Denken frei? Michel Foucault (1926-1984) meint: nein. Man denkt immer innerhalb eines anonymen und zwingenden Gedankensystems. Und wenn er nun das System denkt, dann werde er schon von einem System hinter dem System gezwungen, ohne es zu kennen, daß er aber in dem Maße zurückweisen würde, indem er es bzw. es sich entdeckt. Foucault repräsentiert die neue, sich von Sartre absetzende Philosophengeneration, die sogenannte 2. Generation. Wer ist das? »Man frage micht nicht, wer ich bin«, bittet Foucault. Nun, zumindest ist er ein Nietzscheaner und: Er ist anders. Wie Nietzsche ist er auf der Suche nach neuen Lebensformen, die gerechtfertigt sind durch neue Weltinterpretationen. Denn nach Nietzsches Lehre des Perspektivismus beruhen verschiedene Lebensformen auf verschiedenen Interpretationen. Entsprechend definiert Foucault Philosophie als Verschiebung und Transformation der Denkrahmen und Modifizierung der Werte, um anders sein zu können. »um anders zu werden, als man ist«. Philosophie ist eine Bewegung, so schreibt er, mit deren Hilfe man sich »von dem frei macht, was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht«. Seine Rationalitätskritik gilt dem »Recht auf Anderssein«. Er kritisert die Ausgrenzung von Lebensformen. Er thematisiert das als Ausgrenzung des Anderen, der Vernunft, des Wahnsinns, durch die Vernunft. Mit dem Buch »Wahnsinn und Gesellschaft« von 1961 wird er berühmt. Sein Hauptwerk heißt »Sexualität und Wahrheit« (1977). Foucault war anders, nämlich homosexuell wie Nietzsche, wie Wittgenstein .... »Die Welt ist Wille zur Macht und nichts außerdem«, hatte schon Nietzsche verkündet. Er verstieg sich genau so wie Foucault zu einer mystischen Metaphysik der Diskurse. Ähnliche existenzielle Geheimnisse waren ja der Motor und Projektor ihrer Philosophie. So auch bei Roland Barthes (1915-1980) .... »Das Objekt, das von aller menschlichen Ewigkeit her Macht hat, ist die Rede oder, genauer, ihr bindender Ausdruck: die Sprache«, heißt es da. Denn, so meint Barthes mit dem Linguisten Roman Jakobson: Ein Idiom ist weniger durch das definiert, was es zu sagen erlaubt, als durch das, was es zu sagen zwingt. Und er weist sogleich auf das ihm existenziell Wichtigste: der Auschluß des Neutrums oder Bisexuellen durch die erzwungene Unterscheidung des Maskulinen und Femininen in der französischen Sprache (obwohl le und la nichts mit dem Sex, dem Geschlecht zu tun haben; es sind Artikel, denn Geschlecht meint hier Art, Sorte [genauer: grammatisches Geschlecht; HB] und der Ausschluß affektiver Unentschiedenheit duch das Entweder-Oder von tu und vous. »Sobald die Sprache hervorgebracht wird«, erkärt Barthes, »und sei es im tiefsten Inneren des Subjektes, tritt die Sprache in den Dienst der Macht«. Wie ihr ausweichen? Durch die Kunst, die Literatur als Utopie der Sprache. Hier findet er seinen Freiraum für ein anderes Sprechen und ein anderes Subjekt. Alle Klassenbarrieren und Ausschließlichkeiten werden niedergerissen, alle Sprachen vermengt. Kein Gesetzesterror mehr. »Das Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen.« So heißt es in seinem Buch von 1973: »Die Lust am Text«.“ (Günter Schulte, Schnellkurs Philosophie, 2001, S. 160-166). Ich glaube nicht, daß Barthes wirklich Lust am Text hatte, weil er doch überall in der Sprache den Zwang, das Diktat, die Unterdrückung am Werke sah. Oder ist er etwa Sprachkünstler geworden? Wohl kaum. Künstler gibt es außerdem sowieso kaum noch. Es gibt kaum noch Hersteller von Kunst, sondern nur fast nur noch Aussteller von etwas, mit dem der Aussteller so tut, als ob es bei ihm um Kunst ginge. Wer andere belügen und betrügen will, muß stets zuerst sich selbst belügen und betrügen.

Analytische Philosophie setzt auf die formal erweiterte Logik (mehrwertige Logik bzw. Logistik), auf Sprache, ihre Syntax. Es sollen künstliche Sprachen aufgebaut werden, zurückgreifend auf den einfachen sprachlichen Inhalt der Sätze (Syntakteme). Beim Versuch, die Welt wissenschaftsgültig zu beschreiben, stieß z.B. Rudolf Carnap (1891-1970) mit seinem Konstitutionssystem auf Sprachschwierigkeiten. Deshalb versuchte er die Sprachprobleme durch formale, künstliche Sprachen zu lösen. Er glaubte, wissenschaftliche Erkenntnisse darstellen zu können.

 

Postmoderne bedeutet problemlose Vielfalt der Lebensformen oder Lebensstile, die ja nach Wittgenstein Sprachspiele sind. „Die Postmoderne ist der Zweifel an allen großen Erzählungen, also auch an Ideologien, Ideale oder Utopien wie Psychoanalyse, Marxismus, Christentum und andere Religionen“, philosophierte Lyotard (1934-1998). Er verfaßte 1979 die Programmschrift „Das postmoderne Wissen“, wobei er den in amerikanischen Architektur-Debatten bereits gängigen Begriff „postmodern“ aufnahm, welcher Vielfalt der Stile (Codes) bzw. Silelemente in einem Objekt bedeutet, mindestens Zweiheit eines elitären und eines populären Codes. Dieser Begriff aus der Ästhetik, angewendet auf das Wissen, die Sprachspiele, die Diskurse, meint: Ästhetisierung der Vernunft. Alle Denkformen, Interpretationen, Sprachspiele sind möglich. „Anything goes“, formulierte Karl Feyerabend (1924-1994) und machte, wie Lyotard, damit einen Befund von Max Weber (1864-1920) geltend, der schon zu Anfang des Jahrhunderts einen nicht mehr synthetisierbaren Pluralismus und Widerstreit letzter Sinngebungen in der abendländischen Gesellschaft konstatierte. Es gibt keinen umfassenden, maßgebenden Metadiskurs, keine „großen Erzählungen“ mehr „wie die Dialektik des Geistes (Hegel), die Hermeneutik, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts (Marx), des Sinns (Heidegger)“, schrieb Lyotard in einer Studie. Das soziale Leben ist ein Ensemble von Zügen in Sprachspielen, die nirgendwo ihre Legitimation haben.

A u t o p o i e s i s   d e r   G e s e l l s c h a f t
/ | \
Kommunikation Evolution Differenzierung
| | |
SOZIAL ZEITLICH SACHLICH
\ | /
S e l b s t b e s c h r e i b u n g   d e r   G e s e l l s c h a f t
Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1138 (Luhmann).

Niklas Luhmann (1927-1998) betrachtete Gesellschaft als Kommunikationssystem mit vielen mehr oder weniger selbständigen Subsystemen. Kommunikation bezieht sich dabei immer nur auf sich selbst. Die Subjekte oder Menschen mit ihrem Körper und ihrer Psyche gehören nicht mit zum System. Sie bilden die Umwelt des Systems oder der Gesellschaft. Luhmann kann sich sogar vorstellen, daß die Kommunikation weiterläuft, auch wenn es längst schon keine Menschen mehr gibt (!). Wissen und Vernunft befinden sich nicht in den Köpfen oder Psychen, sondern in Büchern, Datenspeichern oder im Internet. Das Verschwinden des Subjekts ist im Buddhismus ein religiöses Ideal. Luhmann hat aus seiner Sympathie mit dem Buddhismus keinen Hehl gemacht. (Vgl. Eurobuddhismus). Das eine Auge, das alles sieht, Gott, gibt es nicht mehr, nicht mehr die Wahrheit und den Blick aufs Wirkliche. Statt dessen nur mehr Beobachtung der Beobachtung, selbstreferentielle, rekursive Beobachtung: Luhmanns Beobachter des Beobachters ist eine tragische Figur. Ihm ist die Welt abhanden gekommen. Er beobachtet nur, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ... u.s.w.; aber er sieht nicht, wie er selbst beobachtet; denn das kann nur ein anderer beobachten, der auch nicht beobachten kann, wie er beobachtet ... u.s.w.: Jeder hat seinen blinden Fleck. Und außer diesem gibt es nichts zu sehen. Beobachtung

 

„Die Kritische Theorie ist tot.“
(Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.09.1999)

„Wenn kritische Theorie nur als Hyperbelkritik möglich ist, ..., so kann das Prädikat
»kritisch« nur einer durchgehaltenen skeptischen Theorie vorbehalten sein.
...
Die emanzipierte Hyperbelkritik wird nicht mehr berabsetzend oder dekonstruktiv gegen die Gebilde vorgehen; sie nimmt sich, ohne sie abzuleiten, die Freiheit, Steigerungen des Lebens zu applaudieren, grundlos. Es genügt, daß der »Himmel Übermuth« (Nietzsche) über einer Übertreibung steht, um ihr
Recht zu geben. Dies entzieht der Skepsis nichts von ihrer zivilisierenden Kraft. .... Nietzsche ersetzt die Logoshyperbel durch die Kunsthyperbel, ja durch die freie Hyperbel, kraft welcher jetzt Leben und Übertreiben gleichgesetzt werden.
...
Die Hyperbelkritik beendet die kritische Theorie, indem sie den Vorzug der Übertreibung vor ihrer Einebnung statuiert. Gegen Hyperbeln helfen nur Hyperbeln. Wirklichkeit ist die Gewaltenteilung der Übertreibungen. Wem dies bewußt war, der mochte seine Gründe haben, warum er Jahr für Jahr unbeirrbar nach Sils-Maria reiste, um sich in Nietzsches Höhe von Mißverständnissen in der Mainsenke zu erholen.“
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273, 274).

 

In Wissenschaft und Technik verzeichnen wir in dieser spätmodernistischen Phase sowohl eine mehr als je zuvor zunehmende Spezialisierung als auch eine, insbesondere dem Wohlstand dienende Verbesserung und Verfeinerung mit globalen Auswirkungen. (22-24). Was wir Abendländer heute Globalisierung nennen, gab es auf euklidisch-begrenzte Art auch in der Antike, und zwar einzigartig und punktuell. Das Abendland vernetzt heute denjenigen Weltraum, den die Antike als körperlich-stoffliche Ordnung dem Chaos geburtshelferisch abgerungen hatte. (Vgl. Kosmos). Die Antike kannte keine Raumfahrt, stellte dem Weltraum aber auf euklidisch-statische Art eine Ordnung, ein ptolemäisches Weltbild entgegen. Dennoch brillierte die Antike in der Zeit von 200/150 bis 80/180 in den Bereichen, die das Abendland zum größten Teil in ihren faustischen Entsprechungen noch vor sich hat, weil diese Phase hier gerade erst begonnen hat.

Was am Ende der Gotik durch den Buchdruck erreicht worden war, wird ab jetzt, im weltweit vernetzten Rahmen allerdings, ergänzt durch Bildschirme und Computer, die man, neben den Autos, Raketen und Weltraumschiffen, als Symbole für die Phase der Globalisierung im unendlichen Raum (Globalik) ansehen kann. Die Informationen rasen wie Raketen durch den Raum und kommen auf ähnlich individuelle Art zum Ziel wie Autos und andere moderne Mobile. Nicht umsonst heißen die Wege der Daten auch Datenautobahnen. In beiden Fällen sind es möglich gewordene Eindrücke der Fernsehenden und Fernreisenden. In der Konsequenz gibt es neben Autobahnen auch Datenautobahnen, neben Weltraumfahrt auch Datenweltraumfahrt. In dieser Globalphase steht uns das Erreichen des Zivilisationshöhepunkts bevor, dessen Anfänge wir gerade erleben. Schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts, am Ende der Gotik, erreichte derabendländische Kulturspracherwerb auch den ersten Kulturhöhepunkt mit den portugiesischen Globuseroberungen, dem deutschen Erdglobus und dem deutschen Buchdruck: die Zunahme der Leser, Globuskenner und Kulturreisenden bedeutete eine kultursymbolische Schriftfähigkeit. Mit der in der Gotik offenbar gewordenen Kompetenz zur eigenspezifischen Kultursymbolik ging am Ende auch der Humanismus einher, der sich heute sozusagen auf der gegenüberliegenden Seite befindet und wohl oder übel in einen Hominismus umgewandelt werden wird.

Humanismus und Hominismus bedeuten nicht nur Vollendung zweier Phasen - Gotik einerseits, Globalik andererseits -, sondern zugleich Vollendung einer ganzen und auch einer doppelten Kulturjahreszeit. Der gotische Humanismus beendete nicht nur das scholastische Quartal, den Frühling desMittelalters, sondern auch die geographisch auf Europa beschränkte 1. Hälfte der Abendlandkultur: Winter und Frühling (Spätantike und Mittelalter). Er bereitete den Sommer der Neuzeit vor. (Vgl. 10-12). Und am Anfang des 23. Jahrhunderts wird der global befruchtende Hominismus nicht nur den Herbst der Moderne endgültig beendet haben, sondern auch die Sommer und Herbst umfassende 2. Hälfte der Abendlandkultur: den Globalzeitraum. Durch ihn wird sogar die gesamte Sphäre der 4 Kulturjahreszeiten beendet werden. Mit der vollendeten Befruchtung wird er den Kreis geschlossen und den Winter der anderen Zeit vorbereitet haben.

Was vorher rein ursymbolisch-seelenbildlich vorbereitet worden war und in der Gotik auf der Oberfläche der Ozeane zum Beginn der konkreten Welteroberung führte, das wird in der jetztigen Phase mit der Weltalleroberung in aller Tiefe vollendet werden. Der Computerbau zeigt vielleicht schon jetzt an, wie weit wir mit bestimmten Beispielen aus der Technik kommen könnten: Mathematiker haben ausgerechnet, wann die Computerbauer spätestens an ihre Grenzen stoßen werden. Sollten sie mit derselben Geschwindigkeit fortfahren wie bisher, dann wird dieses Limit etwa im Jahre 2230 erreicht sein, dann nämlich, wenn die Computer 5,4 x 1050 Operationen pro Sekunde ausführen und dabei 1031 Bit an Informationen speichern können. Dann tritt ein physikalischer Zustand ein, der unser heutiges Vorstellungsvermögen sprengt: alle Materie des Rechners wird dann in Energie umgewandelt - d.h. er verschwindet (!).

Bis spätestens zum Beginn des 23. Jahrhunderts wird sich die abendländische Kultur auf die anderen Umstände vorbereitet haben müssen, um mit der schwangeren Kulturpartnerin und dem kommenden Nachwuchs gemeinsam überleben zu können, auch weil dann der letzte, vollendende Zivilisationshöhepunkt erreicht sein wird. In der römisch-lateinischen Antike wurde der Höhepunkt dieser Phase mit einem (cicero-cäsarischen) Goldenen Zeitalter erreicht: eine Befruchtung und ein Cäsarismus, der von Marius bis Augustus einen Wechsel von pessimistischer zu optimistischer Stimmung erlebte, wenn auch auf antik verhaltene Art. Das Verhalten eines Gentleman, wie wir heute sagen würden, war in dieser Zeit besonders ausgeprägt, besonders in der mittleren (römisch werdenden) und neueren (explizit römischen) Stoa, die einst von Zenon in Athen gegründet worden war. (Vgl. oben). Die Antike war ja bekanntlich eine ständig sich Enthaltsamkeit und politische Zurückhaltung (epoch) auferlegende Kultur. Gerade deswegen waren in der zivilisatorischen Urteilsenthaltung Persönlichkeiten sehr gefragt und die Antike, als populäre Kultur, in der Phase des Cäsarismus viel mehr auf Personenkult, Führer- und Gefolgschaft ausgerichtet als das heutige Abendland, das im Vergleich dazu als unpopuläre Kultur zu bezeichnen ist. (Vgl. Spengler). Weil die Antike an sich schon populär war, war sie es in der Zeit des Cäsarismus um so mehr. Heute assoziiert jeder durchschnittliche Zeitungsleser mit dem Begriff Antike Personennamen wie Cäsar, Augustus, Caligula oder Nero. Sie waren Staatsmänner, Diktatoren, Prinzeps oder Kaiser (Caesares), aber sie standen im politischen Mittelpunkt: als polisartig strahlend-euklidischer Punkt, der auf seiner ganzen Liniekeine Parallele kannte. Im Abendland hingegen gibt es seit Gauß mathematisch und seit Wegfall der Demarkationslinie auch politisch unendlich viele Parallelen zur eingefahrenen Linientreue. Deshalb ist man hier auch ständig böse auf die lenkenden Medien, obwohl man ihnen unentwegt nach dem Mund redet und weil man es satt hat, es ständig tun zu müssen. Autolenker und Meinungslenker sind sich offenbar zu ähnlich. Man möchte die unendlichen Möglichkeiten auch repräsentiert sehen, obwohl man sich gleichzeitig nach antiken Mustern umschaut und weil man es satt hat, unendlich viele, aber nicht das eigene Exemplar sehen zu dürfen. Es ist das antik-väterliche Erbe, das zum Durchbruch kommen will und, wenn es erschiene, doch wieder abgelehnt würde. Da die Antike aber tot ist, kann sie auch nicht erscheinen. Die Suche nach dem Cäsar bleibt, und weil das Abendland das Gegenstück zur Antike ist, geht diese Suche immer weiter. Der Cäsarismus steht uns in seinem größten Ausmaß erst noch bevor, und zwar mit dem angenehmen Nebeneffekt einer künstlichen Befruchtung. Wahrscheinlich wird er geklont daherkommen, weil die Opfer-Täter-Rollen dadurch vertuscht werden können. Ein solcher Cäsarismus steht dem Abendland auch viel besser zu Gesichte, denn es möchte nicht populär, sondern esoterisch erscheinen. Denn schon jetzt gilt: der abendländische Cäsarismus sieht anders aus als der antike, aber er ist genetisch mit ihm verwandt. Und noch eines ist sicher: die Festsetzung der Geburt Jesu als Zeitpunkt 0 (die wahre „Stunde Null“?) und damit der Beginn des Hinaufzählens der Jahre bis ins Unendliche ist nicht nur aus christlich-kirchlichen Gründen bedeutungsvoll, sondern auch aus ursymbolischen Gründen für das damals noch werdende Abendland, denn zu dieser Zeit wurde die genetische Information weitergegeben, d.h. zwei Kulturen liefen zu Höchstformen auf und lenkten ihr Interesse derart aufeinander, daß dadurch einer dritten das Leben ermöglicht wurde. Unter Augustus und Tiberius sollte das freie Germanien römisch werden, was Arminius verhinderte, und es sollten die Christen unbefruchtet bleiben, was Jesus verhinderte. (Und Paulus!). Die magische Kultur war schwanger, aber sie wußte es noch nicht. Und die noch nicht sichtbare faustische Kultur - das Abendland - war bereits auf dem Weg zur „Schlüpfung“ aus der ursprünglichen „Eizelle“, aber sie weiß es heute nicht mehr. Befruchtung und Schlüpfung

Im Verlauf der hier erwähnten Phase läßt sich am Grad der noch oder nicht mehr ausgeübten traditionellen Kulte in jeder Kulturgeschichte ganz genau ablesen, ob eine Befruchtung vollzogen wurde oder mißlungen ist. Alte religiöse Kulte z.B. können weiterhin gepflegt oder zugunsten neuer aufgegeben werden. Am Ende dieser Phase wird man wissen, wo im Koordinatenkreuz der Dichotomie Fruchtbarkeit-Unfruchtbarkeit sich das hierfür zur Hälfte verantwortliche Abendland dann befinden wird. Wahrscheinlich wird man dann auch wissen, ob und, wenn ja, welche werdende Kultur aus dem befruchteten, ursprünglichen Ei geschlüpft und auf dem Wege zur Einnistung sein wird. Befruchtung/Schlüpfung und Schlüpfung/Einnistung

 

Kulturphilosophisches Fazit -
Die Wissenschaft, die sich eigentlich schon in der Zeit der rationalistischen Hochdenker von der Philosophie getrennt hatte, ihr aber hyponym treu geblieben war, verselbständigte sich immer mehr. Sogar die sogenannten „Humandisziplinen“ wie Geistes-, Sozial- und Kunstwissenschaften trennten sich von der „Königin der Wissenschaften“. Technologie, Wissenschaft, Philosophie und Theologie starteten das Spätdenken als Neu-Theologien, wobei die einst ruhmreiche Theologie (ironischerweise) die ungünstigste Startposition innerhalb einer größtenteils säkularisierten Welt einnehmen mußte. So wie in der Antike Platon den Zerfall des Gemeinwesens und den Verlust der Verbindlichkeit mythischer Weltbilder erkannt und sie auf neue Weise in seiner Akademie idealistisch zu wiederinnernden Urbildern (Ideen, Archetypen) gemacht hatte, so versuchten die abendländischen Idealisten, über ihre Wiederinerung dem kulturellen Zerfall zu begegnen, indem sie romantizierend und national (lat. natio, Geburt; nationis, Abstammung, Volksstamm) ihrer vorgeburtlichen Geschichte auf die Schliche zu kommen, was dazu führte, daß auch ihre Anamnese, ganz im Sinne Platons, zu einer wiedererinnernden Erkenntnis werden und den Weg in eine Neu-Religion ebnen konnte. Sowohl in der Antike als auch im Abendland beduetete ein solcher Weg, daß er von einer Neu-Theologie (z.B. Idealismus, mit Pantheismus, Panentheismus u.s.w.) auzugehen und in eine Neu-Religion zu münden habe, auch und gerade dann, wenn dies verschwiegen wurde. (Marx). Dieser Weg wird immer vom Idealismus beschritten, vom Nihilismus negativ verstärkt, um dann vom Globalismus, und zwar auf global-eklektizistische Weise, synthetisch bestätigt zu werden. Und diese Entwicklung von einer Neu-Theologie zu einer Neu-Religion bedeutet antik, daß sie passiv und statisch respektiert oder bekämpft wird, und abendländisch, daß sie aktiv und dynamisch respektiert oder bekämpft wird. (). Auch hierin zeigt sich der Gegensatz zwischen antiker Gelassenheit, die wir heute gelegentlich noch stoische Ruhe nennen, und abendländischem Wettbewerb, den wir als den welweit größten Konkurrenzkampf kennen. Man kann die apollinische Kultur auch deshalb als eine Nähe-Kultur bezeichnen, weil hier fast jeder über fast alles informiert war, ja sein sollte, und das bei Passivität. (Vgl. Popularität). Dagegen muß man die faustische Kultur auch deshalb als eine Distanz-Kultur bezeichnen, weil hier fast alle über fast nichts informiert sind und trotz aller Dynamik und Höchstanstrengung auch bleiben sollen. (Vgl. Esoterik). Also: Wettbewerb!

Wie die Kultur insgesamt, ist auch die Philosophie der Spätdenker durch einen rigorosen, letztlich globalen Imperialismus gekennzeichnet. In der Antike gab es in der globalistischen Phase nicht mehr nur griechische Philosophen, sondern auch römische, die ihren Pragmatismus genauso einbringen konnten wie die angloamerikanischen Philosophen den ihrigen in die europäische Denkgeschichte. (Pragmatismus). In Europa stieß das amerikanische Nützlichkeitsdenken zunächst auf heftigen Widerstand, weil das Erklären des Nützlichen zum Wahren hier oftmals als ein Angriff auf die abendländische Kultur verstanden wurde. Außerdem meinte man hier, daß derartige Grundideen schon bei Schopenhauer und Nietzsche zu finden wären. Aber die Überwindung der Subjektphilosophie stand auch hier an. Georg Simmel vertrat eine pragmatistische Wahrheitstheorie noch vor William James, bestimmte das Erkennen als „freischwebenden Prozeß“, übertrug die Aprioritätslehre Kants auf die Historik und analysierte das Phänomen der historischen Zeit. (James). Max Scheler und Martin Heidegger übernahmen pragmatische Ideen, und für den zu der Zeit aufkommenden Nationalsozialismus erfüllte der Pragmatismus, gekappt um seine intersubjektiv-sozialen Züge, alsbald die Funktion einer aktivistischen Ideologie. Arnold Gehlen verband in seiner Anthropologie, die den Menschen als handelndes Wesen herausstellte, den Pragmatismus mit einer autoritären Theorie der Institutionen. (). Und Hugo Dingler gründete in seinem Buch Ergreifung des Wirklichen Erkenntnis auf Praxis. Sicher waren für ihn nur Willensaussagen und Handlungsanweisungen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1960er Jahren, kam es, allerdings auf sehr opportunistische und also scheinmoralische Weise, mit Habermas' Universalpragmatik und Apels semiotischer Transformation der Transzendentalphilosophie zu einer (angeblich „vorurteilsfreien“, in Wahrheit aber mit vielen anderen Vorurteilen behafteten) Rezeption des USA-Pragmatismus, insbesondere von Peirce und Mead. Mit Peirce betrat die Philosophie gewissermaßen erstmals amerikanischen Boden. Ähnlich kritisch und polemisch wie die Stoa sich mit der Akademie und dem Peripatos auseinandersetzte, setzt sich heute auch der angloamerikanische Soziologismus (Pragmatismus) mit den Kantianern und Hegelianern auseinander. Der Stoizist Panaitios, Begründer der mittleren Stoa und damit des römischen Stoizismus, verpflanzte die griechische Philosophie und Bildung nach Rom, entfernte aus der Stoa die orientalische Mystizität und die asketische Härte der altstoischen Ethik. Panaitios war Schöpfer des (wohl gemerkt!)  antiken Begriffs „Humanitas“; wer aber im Abendland einmal Schöpfer des kulturell akzeptablen Begriffs „Hominität“ sein wird, bleibt abzuwarten, obwohl das Thema selbst mittlerweile schon aktuell geworden ist.

 

- Tiefblick -
Daß die Zukunft der Philosophie globalistisch ausgerichtet sein soll, bestätigte auch das Ergebnis der vor einigen Jahren durchgeführten Umfrage unter 100 Berufsdenkern, d.h. Universitätshilosophen. (). Die meisten Antworten bezogen sich auf eine „planetare Verantwortungsethik für eine »multikulturelle Weltgemeinschaft«“, wie es z.B. Otto Apel formulierte. (Multi-Kulti). Ziele sind dabei die „Humanisiserung des Cybermenschen“, der Helden des 21. Jh., durch die Wiedereinsetzung der Grundideen politischer Theorie und Praxis und auch die Rettung von „Flora, Fauna und genetischer Substanz des Menschen“ durch eine neue „wahrhaftige und moralisch bindende Beziehung zur Menschheit als dem Stamme“. Die Philosophie der Zukunft will demnach praktische Philosophie sein, will der Menschheit helfen, unter den sich rasant verändernden Umständen, d.h. mit den neuen technischen Mitteln, zu leben und zu überleben. Sie will selbstlos sein. Das eigene Leben des Philosophen tritt da ganz in den Hintergrund. Zwei Philosophen nannten aber auch das Bewußtsein als das eigentliche Problem der Philosophie. Bewußtseinsphilosophie schließt ja die Ziele der praktischen Philosophie nicht aus, denn Bewußtsein hat auch mit dem Leiblichen zu tun und ist auch immer affektiv bestimmt durch das, was Schopenhauer Willen nannte. Freud nannte es Eros (Libido). Bewußtsein und Vernunft sind durch und durch vom Lebens- oder Zeugungswillen bestimmt oder besessen. Die Bewußtseinsphilosophie hat hier die Neuro- und Genbiologie einzubeziehen, sie sollte Anthropologie des Bewußtseins sein. Indem sie sich selbst aus dem (Zeugungs-) Willen heraus versteht, hat sie ihre eigene Psychonalyse zu betreiben. Die Sexualität des Bewußtseins, d.h. seine Affektivität und „Lebensbesessenheit“, die es natürlich immer schon gab, hat es heute mit einer neuen Situation zu tun: mit einer von der Sexualität, d.h. der Kopulation der Geschlechter, auf die das sexuelle Erkennen zielt, getrennten biotechnischen Lebensreproduktion. Bald schon wird es von „verantwortungsvollen und vermögenden“ Eltern keine „natürlich“ gezeugten und ausgetragenen Kinder mehr geben. Ebenso entscheidend wie die Lebensweitergabe ist die Lebenserhaltung. Durch die Fortschritte in der Genetik und Neurobiologie werden unsere Krankheiten und unser Ableben immer genauer prognostizierbar. Unser Leben wird immer weiter fortsetzbar durch Organtransplantationen und künstliche Organe, bald auch durch nanotechnische Reparatur der Organe und Körperteile - Stück für Stück, Molekül für Molekül.

Wenn Menschen wissen, daß sie ihr Leben nur noch dann verlieren können, wenn sie getötet werden, womit würden sie dann ihr ewiges Leben sonst verbringen als mit Maßnahmen gegen das Getötetwerden? Das anthropotechnische Wissen ist ein Wissen vom Leben, das uns womöglich hindert, „human“ zu leben. Weil wir dann die „Neu-Hominiden“ sein werden, werden wir uns wohl oder übel jetzt schon auf die neuartige „Hominität“ einstellen müssen.

Wie genau wird unsere zukünftige Religion, diese zusätzlich „neohominid“ daherkommende Neu-Religion, definiert sein? Wird sich bis dahin ein revolutionäres oder reaktionäres Potential gegen alle bisherigen gesellschaftlichen Traditionen entwickelt haben? Es gibt ja schließlich noch einen dritten Komplex außer Sex und Tod, der unser Bewußtsein bestimmt: Transzendenz, ein Jenseits oder Gott. Denn Bewußtsein ist immer auch Bewußtsein vom möglichen Ganzen des Daseins, der Welt. Doch auch wenn Bewußtsein sich im jenseitigen Raum Gottes gegenüber der diesseitigen Welt befindet, bleibt der menschliche Körper doch faktisch in der letzteren. Auch wenn er sich noch so weit in den Weltraum vorwagt, sich also durch die extraplanetarischen Ausflüge und Aktivitäten zugleich Gott nähert, bleibt er im Diesseits gegenüber der Welt Gottes. (Kosmos). Vielleicht aber wird die Informationsstechnologie sogar für einen realen Gott sorgen, der die Geschicke, Gedanken und Taten der Menschen leitet. Ist der von Menschen gemachte Mensch, der künstliche Mensch, der Mensch der Zukunft? Unser eigenes Bewußtsein wird wohl lernen müssen, sich als Bewußtsein einer Maschine, als gemachtes und doch in seinem faktischen Sein unhintergehbares, in sich geschlossenes Dasein zu verstehen. Bereits heute werden Organe (auch Gehirne) mit nicht-biologischer Intelligenz aus- und aufgerüstet oder repariert. In Zukunft werden Kleinstcomputer (Nanobots) von der Größe einer Zelle unsere Gehirnfunktionen verbessern. Man wird mit ihnen das Gehirn erkunden, Synapse für Synapse abtasten, Transmitter für Transmitter, und ein Gehirn kopieren können. Ray Kurzweil prognostizierte dies bereits 1999 in seinem Buch Homo S@piens - Leben im 21. Jahrhundert. Mit solchen Kleinstcomputern wird man virtuelle Realität erzeugen. Milliarden von Nanobots werden dann als künstliche Neuronen in unser Gehirn geschickt, die sich an jedem einzelnen, von unseren Sinnesorganen herkommenden Nervenstrang festsetzen. „Wenn wir reale Realität erleben wollen, dann halten die Nanobots still. Für das Erlebnis virtueller Realität unterbrechen sie die Zufuhr realer Reize und setzen künstliche Signale an ihre Stelle“. Bald schon wird das World Wide Web aus virtuellen Begegnungsstätten bestehen, die genauso real sind wie jeder Ort der Welt. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, auf dem Weg zu einer neuen Existenz. Deshalb kann die zukünftige Philosophie eigentlich nur eine Existenzphilosophie: eine Lebensphilosophie, die nicht der zu radikalen Skepsis, d.h. dem Nihilismus, folgt, sondern einer mehr gemäßigten Variante, die die globalistischen Skeptiker bevorzugen, so wie einstmals die antiken Skeptiker (skeptikoç) mit ihrer Epoché (epoch - An[sich]halten, Urteilsenthaltung) und Ataraxie (ataraxia - Unerschütterlichkeit).

 

Tabelle
 Philosophie Analoge (Spät-) Philosophien Philosophie 
antik von ca. 400 v. Chr. bis ca. 150 n. Chr.
abendländisch von ca. 1750 bis ca. 2300

(18-20, 20-22, 22-24)
3) Pythagoräer Rel.-pol.-arist. Rationalismus seit -550
4) Subjektivisten Elemenekinetik; Heraklit u.a. seit -520
5) Atomisten Naturph.; Leukipp/Demokrit, .. seit -490/-460
6) Sophisten Anthropologie/Aufklärung seit -475/-450
7) Sokratiker Sokrates, Maieutiker seit -440
8) Megariker Eristiker (Streiter) Euklid v. Megara seit -430
9) Kyrenäiker Aristippos von Kyrene, Hedoniker seit -400
10) Kyniker (Autarkisten) Antisthenes, Diogenes seit -400
11) Platoniker Platon, Alte Akademiker seit -385
12) Aristoteliker Aristoteles, Peripatetiker seit -335
13) 2. Kyniker Älterer Diogenes seit -330
14) Skeptizisten Pyrrhon, Zweifler/Pyrrhonisten seit -315
15) Stoizisten Stoizismus (Stoa poikile) Zenon seit -300
16) Epikuräer Epikur seit -300
17) 3. Kyniker seit -300
18) 2. Aristoteliker Jüngere Peripatetiker seit -287
19) 2. Platoniker Mittlere Akademie seit -270
20) 4. Kyniker seit -270
21) Aristarchos (Neu-Aristoteliker) seit -270
22) 5. Kyniker seit -190
23) 3. Platoniker Neuere Akademie seit -160
24) 2. Stoizismus Mittlere Stoa seit -150
25) 2. Skeptizismus Jüngere Skeptiker seit -70 (-50)

26) 2. Epikuräismus Jüngere Epikuräer seit -70 (-50)
27) 3. Stoizismus Neue Stoa seit 20 (50)
28) 1. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 20 (50)
29) 1. Patristik Apostolische Kirchenväter seit 70 (80)
30) 6. Kyniker Dion Chrysostomos von Prusa seit 70 (80)
31) Mittlerer Platonismus (Plutarch u.a.) seit 70 (80)
32) 2. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 150
33) 2. Patristik Apologeten seit 150
34) Aristotelischer Stoizismus seit 160 (180)
35) 3. Skeptizismus Letzte Skeptiker seit 200 (250)
36) Neu-Platonismus (Plotinos u.a.) seit 220 (250)
PSEUDO
PSEUDO
PSEUDO
PSEUDO
3) Pol.-rel. Empirismus Polit. Rationalismus seit 1600
4) Subjektivismus Rationalismus; Descartes u.a. seit 1630
5) Atomismus Monaden/Infinitesimal., Leibniz seit 1660-90
6) Aufklärung seit 1685 (1700)
7) Naturalismus-Subjektivismus seit 1710
8) Naturalismus/Deismus Freidenker seit 1720
9) Sensualismus Positivisten/Materialisten seit 1750
10) Früh-Romantik Sturm-und-Drang seit 1760
11) Kantianer Transzendental-Idealismus, Kant seit 1770
12) Hegelianer Idealismus, Hegel, Alt-Hegelianer seit 1800
13) Hoch-Romantik „Klassische“ Romantik seit 1800
14) Lebensphilosophen Existentialisten seit 1820
15) Soziologisten seit 1820
16) Psychologisten seit 1820
17) Spät-Romantik seit 1840
18) Jung-Hegelianer Jüngerer Idealismus seit 1850
19) Neu-Kantianer Neu-Idealismus seit 1860/1870
20) Neu-Romantik seit 1870/1890
21) Neu-Hegelianer Neu-Idealismus seit 1880/1900

22) Neu-Neu-Romantik Neu-Ökologismus seit 1960
23) Neu-Neu-Kantianer Neu-Neu-Idealismus seit 1990
24) 2. Soziologismus seit 2000
25) 2. Lebensphilosophie ab 2080 (2100)
26) 2. Psychologismus ab 2080 (2100)
27) 3. Soziologismus ab 2170 (2200)
28) 1. ..................... ab 2170 (2200)
29) 1. ..................... ab 2220 (2230)
30) Neu-Neu-Neu-Romantik ab 2220 (2230)
31) Mittlerer Kant..?..ismus ab 2220 (2230)
32) 2. ..................... ab 2300
33) 2. ..................... ab 2300
34) Hegelianischer Soziologismus ab 2310 (2330)
35) 3. Lebensphilosophie ab 2350 (2400)
36) Neu-Kant..?..ismus ab 2370 (2400)

Theologie Analoge Theologien Philosophie
- PURITANISMUS -
26) Dionysos-Kult zu: Rationalismus; seit Pythagoräer
27) Theogonie zu: Idealismus/Real.; seit Platon - Aristoteles
28) Gegenreformation (6) Zeus-Götterwelt seit - 7. / - 6. Jh.
26) Neuscholastik (5) zu: Rationalismus; seit Leibniz - Wolff
27) Neumystik zu: Idealismus/Romantik; seit Kant - Hegel
28) Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.
Nur die Zeus-Welt (Rom: Jupiter-Welt) bleibt: Gegenreformation und deren Neuscholastik.


=> Alle analogen Schulen der Antike und des Abendlandes im Überblick <=


Philosophie
Spät-Denker
Hoch-Denker
Früh-Denker
Vor-Denker
Ur-Denker
Glaube (Religion, Theologie)

 

Die stürmenden Spätdenker erzielen ein gültiges „Tor“ nur dann,
wenn sie das „Abseits“ vermeiden, aufheben oder aber verleugnen,
weil der „Schiedsrichter“ ja auch nicht alles sieht und „pfeift“.
Spätdenker sollten die „Abseitsfalle“ nicht zu spät bedenken.
Spätdenker dürfen nicht zu spät denken. Auch für Denkspiele gilt:
Der Ball ist rund“ (Sepp Herberger, *28.03.1897, †28.04.1977).
(*)

 

Urdenker Vordenker Frühdenker Hochdenker Spätdenker Nachdenker Enddenker
WWW.HUBERT-BRUNE.DE

 

Anmerkungen:

 

Der Abendländer darf es so formulieren: „Es möge sich fernhalten, wer unwillig ist, die Geschichte wie eine Goldmünze zu hüten“.

Oswald Spengler (28.05.1880 - 08.05.1936), Der Untergang des Abendlandes, 1918 (Band I), 1922 (Band II). Zum Buch

Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen - wie unzählige andere Beispiele auch - für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.

„Jede Kultur hat ihren ganz bestimmten Grad von Esoterik und Popularität, der ihren gesamten Leistungen innewohnt, soweit sie symbolische Bedeutung haben.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 419). Die Antike war populär, weil nicht esoterisch. Das Abendland ist esoterisch, weil nicht populär.

Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. (Vgl. Spengler, 1922, S. 847f.). Magien

„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes (2. Band), 1922, S. 784ff.. (Vgl. unten).

Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle Kirchen des Ostens in Kulte westlichen Stils überführt wurden. Das ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. Seit Hadrian (117-138) verschwanden die echt antiken Stadtgötter im Hintergrund, auch wenn die östlichen Kulte noch sämtliche Merkmale des antiken Einzelkults trugen, jede Gemeinde für sich stand und örtlich begrenzt war. „Alle diese Tempel, Katakomben, Mithräen, Hauskapellen sind Kultorte, an welche die Gottheit nicht ausdrücklich, aber gefühlsmäßig gebunden ist; aber trotzdem liegt magisches Empfinden in dieser Frömmigkeit. Antike Kulte übt man aus, und zwar in beliebiger Zahl, von diesen gehört man einem einzigen an. Die Mission ist dort undenkbar, hier ist sie selbstverständlich, und der Sinn religiöser Übungen verschiebt sich deutlich nach der lehrhaften Seite. Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem 2. Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation. Und aus der Gottheit des Ortes wird, ohne daß jemand sich der Schwere dieser Wendung bewußt wäre, die am Orte gegenwärtige Gottheit.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. II, 1918-1922, S. 801). Vgl. auch: „Vordenker“.

Der Synkretismus kristallisierte sich als eine der vielen Arten der Pseudomorphose heraus, als die Kirchen des Ostens in Kulte des Westens verwandelt wurden und in umgekehrter Richtung die Kultkirche entstand. Die Formenbildung ging also erst von West nach Ost und dann von Ost nach West. Das 2. Jahrhundert war die Zeit der Umkehrung: die Kulte des Westens wurden zu einer neuen Kirche des Ostens. Es entstand ein neues Griechentum als magische Nation.

Sfaira (griech: Kugel), Sphäre. Zu diesem Thema eine Literauturempfehlung: Peter Sloterdijk; „Sphären“, I) Blasen (1998), II) Globen (1999), III) Schäume (2004).

Das „Höhlengleichnis“ ist laut Platons „Staat“ (7.Buch) ein Vergleich des menschlichen Daseins mit dem Aufenthalt in einer unterirdischen Behausung. Gefesselt, mit dem Rücken gegen den Höhleneingang, erblickt der Mensch nur die Schatten der Dinge, die er für die alleinige Wirklichkeit hält. Löste man seine Fesseln und führte ihn aus der Höhle in die lichte Welt mit ihren wirklichen Dingen, so würden ihm zuerst die Augen wehtun, und er würde seine Schattenwelt für wahr, die wahre Welt für unwirklich halten. Erst allmählich, Schritt für Schritt, würde er sich an die Wahrheit gewöhnen. Kehrte er aber in die Höhle zurück, um die anderen Menschen aus ihrer Haft zu befreien und von ihrem Wahn zu erlösen, so würden sie ihm nicht glauben, ihm heftig zürnen und ihn vielleicht sogar töten. Vgl. Platon (427-347).

Die Stoa, um 300 v. Chr. von Zenon (354-264) aus Kition gegründet, war eine weit verbreitete Strömung der griechischen Philosophie, die eine Alte, Mittlere, Neue und eine späte Aristotelische Stoa (vgl. Stoizismus) entwickelte. In dem Lehrsatz, daß Sein und In-Ordnung-Sein dasselbe meinen, faßten die Stoiker den Glauben an die Macht der Regeln zusammen. In der römischen Kaiserzeit war die Stoa so etwas wie eine ethische Religion des römischen Volkes geworden. Gott und Natur waren der Stoa eins, das Menschenwesen ein Teil der Gott-Natur. Die Stoa nahm nach Art eines Globaleklektizismus bzw. Synkretismus die verschiedensten Lehren in sich auf. Andererseits übernahmen später Gnosis und Neuplatonismus Elemente auch aus der Stoa. (Vgl. Tabelle).

Der Neuthomismus, der Kern der Neuscholastik seit Beginn der Gegenreformation bis heute, entwickelte sich aus dem Thomismus. Er gehört noch heute zu den bedeutendsten philosophischen Bewegungen und ist am stärksten in Frankreich und Belgien entwickelt, aber in fast allen Ländern vertreten. Das heute wichtigste Studienzentrum ist das von Kardinal D. Mercier (1851-1926) begründete Institut superiéur de philosophie an der UniversitäLöwen. Der Neuthomismus beschäftigt sich auch heute noch hauptsächlich nit Metaphysik (Neuthomismus), Naturphilosophie (Neuthomismus), Geist (Neuthomismus), Erkenntnis (Neuthomismus), Gott (Neuthomismus), Ethik (Neuthomismus).

Neuthomistische Metaphysik beinhaltet z.B. die „Akt-Potenz-Lehre“: passive Potenz besagt reale Begrenzung des Aktes. Das Dasein ist der Akt des Soseins. Fas Werden ist ein Übergang von Potenz zu Akt. (Vgl. Neuthomismus).

Neuthomistische Naturphilosophie beinhaltet z.B. den „Hylemorphismus“: die Hyle (Urstoff) verhält sich zur Form wie die Potenz zu Akt (Neuthomismus); Ordnung des Seienden nach der Seinsfülle (tote Körper, Pflanze, Tier, Mensch). (Vgl. Neuthomismus).

Neuthomistisches Thema „Geist“, z.B. mit den beiden Grundfunktionen Erkennen und und Wollen. (Vgl. Neuthomismus).

Neuthomistisches Thema „Erkenntnis“: grundlegende Unterscheidung zwischen sinnlicher und geistiger Erkenntnis. (Vgl. Neuthomismus).

Neuthomistisches Thema „Gott“: das Dasein aller Dinge hängt vom freien Willen Gottes ab; endliches Sein ist auf Gott als Seinsfülle ausgerichtet. (Vgl. Neuthomismus).

Neuthomistisches Thema „Ethik“:: Glückseligkeit des Menschen ist nur durch letzte Hinordnung auf das reine und vollkommene Sein erreichbar. (Vgl. Neuthomismus).

Hylemorphismus (von griech. 'ule, Holz, Wald, Stoff, Material, Vorrat und morfh, Gestalt, Form) ist die neuscholastische Bezeichnung der von Aristoteles begründeten Lehre, daß alle körperlichen Substanzen aus dem Stoff (der an sich nur Möglichkeit ist) und der Wirklichkeit verleihenden Form bestehen. Hyle war für Aristoteles der noch nicht zu realen Dingen geformte „Urstoff“, der als bloße, noch nicht verwirklichte „Möglichkeit“ die einzige Eigenschaft der Formbarkeit besitzt.

Spinozismus ist die Lehre und die philosophiesche Weiterbildung der Lehre Spinozas (1632-1677). In Deutschland entwickelten besonders im 18. Jahrhundert Lessing (1729-1781), Herder (1744-1803), Goethe (1749-1832), Jacobi (1743-1819), Schleiermacher (1768-1834) u.a. einen Spinozismus, dessen „Gott-Natur“-Symbol viel weniger rationalistisch gestaltet war, als Spinozas Deus-sive natura. Ähnliche Witerbildungen in emotional-voluntaristischer Richtung erfuhr der Spinozismus bei Fichte (1762-1814), Schelling (1775-1854), Schopenhauer (1788-1860), Fechner (1801-1887), Wundt (1879-1963) u.a.. Der Spinozismus war eine der wirkungsvollsten Strömungen in der zeit der Deutschen Bewegung. Lichtenberg (1742-1799) sagte damals: „Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl vonJjahren steht, so wird die Universal-Religion geläuterter Spinozismus sein“, womit er vornehmlich Spinozas Pantheismus meinte. Der Pantheismus war z.B. für Schleiermacher „die heimliche Religion der Deutschen.“

Ding an sich ist das Ding, wie es unabhängig von einem erkennenden Subjekt für sich selbst besteht, das wahre Sein, dessen Erscheinungen die empirischen Dinge sind, auf welches eben die Erscheinungen hinweisen. Wir erkennen ein Ding als Gegenstand unserer Wahrnehmung nur so, wie es uns - eingekleidet in den Ausbauungsformen von Raum und Zeit, in den Kategorien und Verstandesgesetzen - so erscheint. Wie es an sich beschaffen ist, werden wir niemals erfahren. (Frei nach: Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781).

Beispiel „Freiheit“: der menschliche Wille als Ding, das in den Handlungen erscheint, ist nicht frei. Was erscheint, ist immer notwendige Wirkung von vorlaufenden Ursachen im Sinne von Naturkausalität. (Vgl. „Phainomenon“). Aber als Ding an sich könnte der Wille frei, d.h. nicht der Naturkausalität unterworfen sein. (Vgl. „Noumenon“).

Ethik meint hier die Sittenlehre als praktische Philosophie, die nach einer Antwort sucht auf die Frage: was sollen wir tun? Beide Kulturen - Antike und Abendland - suchen die Antwort zunächst im Selbst bzw. in der Selbsterkenntnis. Aber dieser Subjektivismus hatte in der Antike wegen des Seelenbildes (und Ursymbols) eine andere, entgegengesetzte, Richtung als im Abendland. Die Antike suchte auch ethisch die Antwort am Außen des Körpers (in der begrenzten Äußerung), weil es für sie kein Geheimnis im Innen geben durfte; das Abendland suchte im Innen des faustischen Willens und kategorischen Imperativs (im Raum der unendlichen Verinnerlichung), weil es hier nur Geheimnisse gab. In beiden Fällen stelle man sich in den Dienst einer sozialanthropologischen Ethik. Ein Angebot, das man auch Hilfe zur Selbsthilfe (Selbsterkenntnis) nennen könnte. Wie kann ich dienen? ist eine typische Frage der dienerischen Phase (16-18). (Vgl. auch: Kant).

Der kategorische Imperativ oder Imperativ der Sittlichkeit wurde von Kant (1724-1804) folgendermaßen formuliert: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. 1785 schrieb Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: 1.) „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“ 2.) „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant). Ob ein Mensch als Persönlichkeit das prinzipiell wollen kann oder nicht auch (oder vielleicht eher) etwas Eigenes in seinem Verhalten liegt, sollten später die Kritikpunkte an Kants Imperativ sein, z.B. von Nicolai Hartmann (1882-1950; vgl. 20-22): „Sofern das besagt, daß wirklich die jedesmalige »Maxime« der Handlung ihre Richtschnur daran hat, ob sie zugleich allgemeines Gesetz sein könnte oder nicht, so liegt darin offenkundig etwas, was der Mensch als Persönlichkeit nicht prinzipiell wollen kann. Er muß vielmehr zugleich wollen, daß über alle Allgemeingültigkeit hinaus noch etwas Eigenes in seinem Verhalten sei, was an seiner Stelle kein Anderer tun sollte oder dürfte. Verzichtet er hierauf, so ist er eine bloße Nummer in der Menge, durch jeden Anderen ersetzbar, seine persönliche Existenz ist vergeblich, sinnlos.“

Immanuel Kant (1724-1804), Werke ():
1) 1747-1758: Dominanz der Naturwissenschaften ():
- Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747)
- Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse einige
Veränderungen seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe
(1754)
- Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels
(1755)
- Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens (1756)
- Von den Ursachen der Erderschütterungen (1756)
- Entwurf und Ankündigung eines Collegii über die physische Geographie
nebst ... Betrachtung über die Frage, ob die Westwinde in unseren Gegenden
darum feucht sind, weil sie über ein großes Meer streichen
(1757)
- Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758)
2) 1758-1781: Von der Wollfschen zur kritischen Metaphysik ():
- Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759)
- Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762)
- Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes
(1763)
- Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen
(1763)
- Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen
(1764)
- Versuch über die Krankheiten des Kopfes
(1764)
- Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral
(1764)
- Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik
(1766)
- Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume
(1768)
- Über Form und Grundlagen der Wahrnehmungs- und der Vernunftwelt
(1770)
- De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770)
- Rezension der Schrift von Moscati über den Unterschied der Struktur der Tiere und Menschen (1771)
- Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775)
3) 1781-1793: Kants kritische Philosophie (Kritizismus []):
- Kritik der reinen Vernunft (1781)
- Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783)
- Über Schulz' Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (1783)
- Ideen zur einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)
- Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784)
- Rezension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
(1785)
- Über die Bestimmung des Begriffes einer Menschenrasse (1785)
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
- Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786)
- Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786)
- Über Hufelands Grundsatz des Naturrechts (1786)
- Was heißt: sich im Denken orientieren?  (1786)
- Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788)
- Kritik der praktischen Vernunft (1788)
- Kritik der Urteilskraft
(1790)
- Über Schwärmerei und die Mittel dagegen
(1790)
- Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche der Theodizee (1791)
- Über die von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisaufgabe:
Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz' und Wolffs Zeiten gemacht hat?
(1791)
- Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
(1793)
- Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793)
4) 1793-1804: Kants nachkritische Phase (Bindeglied zwischen vollendetem Kritizismus [] und Deutschem Idealismus)
- Über Philosophie überhaupt (1794)
- Etwas über den Einfluß des Mondes auf die Witterung
(1794)
- Das Ende aller Dinge
(1794)
- Zum ewigen Frieden
(1795)
- Zu Sömmering über das Organ der Seele (1796)
- Ausgleichung eines auf Mißverstand beruhenden mathematischen Streits (1796)
- Metaphysik der Sitten
(1797):
I) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre
II) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
- Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen
(1797)
- Der Streit der Fakultäten (1798)
- Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
(1798)
- Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre (1799)
u.a.

Kants 3 Kritiken: Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788), Kritik der Urteilskraft (1790).

Kant und Platon (vgl. Fußnoten) sind, wie Abendland und Antike, Gegensätze und nur auf analoge Weise zu vergleichen, denn auch antike und abendländische Philosophie sind Gegensätze. Antike Philosophie ähnelte immer auch einem geschlossenen Einzelkörper (z.B. einer Kugel = sfaira, Sphäre), aber abendländische Philosophie eher einem offenen Unendlichkeitsraum. In der Antike schloß man sich einem philosophischen System auch mit dem ganzen Körper an; im Abendland schließt man sich einem philosophischen System allenfalls geistig an, ansonsten schließt man sich lieber von ihm aus: jeder verliert sich mit seiner eigenen Philosophie im Philosophie-Universum. Antike Philosophie war „Wissenschaft“ im Sinne einer eher statischen Liebe zur Weisheit oder Epistemologie (antike Wissenschaftslehre). Eine Wissenschaft, wie sie das Abendland kennt, spielte in der Antike kaum eine Rolle. Abendländische Wissenschaft ist „Philosophie“ im Sinne einer eher dynamischen Empiriologie oder Historiotechnik (abendländische Wissenskunst). Eine Philosophie, wie sie die Antike kannte, spielt im Abendland kaum eine Rolle. (Vergleich). Aus diesen Gründen kann man Platon und Kant nicht gegeneinander aufrechnen. Die Philosophie ist eine antike Größe (wie der Name schon verrät) und deshalb von anderen Kulturen so kaum erreichbar. Die technologische Wissenschaft ist eine abendländische Größe und deshalb von anderen Kulturen so kaum erreichbar. Für das Abendland scheint folgender Satz Gültigkeit zu haben: „Was aus zwingenden Gründen von jedermann anerkannt wird, das ist damit eine wissenschaftliche Erkenntnis geworden, ist nicht mehr Philosophie, sondern bezieht sich auf ein besonderes Gebiet des Erkennens.“ (Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, 1950). Und natürlich darf dieser Prozeß für Abendländer nie enden, muß dieser Prozeß für Abendländer bis ins Unendliche fortgesetzt werden! Seelenbild und Ursymbol

Dialektik bezeichnete im Abendland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die übliche (Schul-)Logik, und hier heißt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: bis zum Deutschen Idealismus. Laut Kant ist Dialektik ein Pseudophilosophieren beziehungsweise eine „Dialektik des Scheins“, weil sie allein durch die Vernunft, ohne die notwendige Stützung auf die Erfahrung, zu Erkenntnissen (metaphysischer Art) kommen will. Kants „transzendentale Dialektik“ ist also eine „Kritik des dialektischen Scheins“, eine „Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs“, sofern sie sich übernatürlicher Erkenntnisse rühmen. „Wissenschaftlich“ ist die Dialektik von Fichte und Hegel. Kants Dialektik ist transzendental, Fichtes Dialektik ist subjektiv (später auch objektiv), Hegels Dialektik ist objektiv, Schellings Dialektik ist zunächst objektiv und dann magisch bzw. romantisch (wie bei den Brüdern Schlegel, vgl. Romantik). Laut Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ist die Dialektik „die wissenschaftliche Anwendung der in der Natur des Denkens liegenden Gesetzmäßigkeit und zugleich diese Gesetzmäßigkeit selbst“, als die Bewegung, die als eigentlich geistige Wirklichkeit allem zugrunde liegt, und zugleich die des menschlichen Denkens, das als Spekulation an dieser Bewegung allumfassenden. absoluten Anteil hat.

Deutscher Idealismus meint - fußend auf Leibniz und vorbereitet u.a. durch Lessing und Herder - die Entwicklung der deutschen Philosophie von dem späten Kant (um 1780) bis zum späten Hegel (um 1830), aber auch die philosophische Grundhaltung der deutschen Romantik (Jenaer Frühromantik-Kreis um die Brüder Schlegel und Heidelberger Romantik um Brentano, Görres, Grimm u.a.). Bei Schiller strahlte z.B. der Menschenbildungs-Idealismus ganz besonders - wie ein Stern. Schelling z.B. stand auf dem Boden des Deutschen Idealismus, war mit Fichte und Hegel zusammen dessen Hauptvertreter und bildete den Übergang des Idealismus zur Romantik. Er wurde wegen seiner steten Wandlung auch der Proteus der Philosophie genannt. Im Anschluß an Kant und Fichte entwarf Schelling eine spekulative Naturphilosophie der Hierarchie der Naturkräfte (Potenzen), die schließlich in eine Identitätsphilosophie mündete: Die Gegensätze von Subjekt und Objekt, von Realem und Idealem, Natur und Geist lösen sich für ihn im Absoluten auf als Identität von Idealem und Realem. Nach Schelling ist dieses Absolute unmittelbar erfaßbar durch die intellektuelle Anschauung und in der Kunst. (Vgl. Tabelle).

Mesmerismus, nach dem deutschen Arzt Franz A. Mesmer (1734-1815), ist eine Bezeichnung für die Lehre von der Heilkraft des „animalischen Magnetismus“; überhöhte Anschauung von den Erscheinungen der Hypnose und Suggestion. (Vgl. hierzu auch: Peter Sloterdijk, „Der Zauberbaum“, 1985).

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832): „Urfaust“ (1772-1775); Faust (Teil I), 1806, S. 27, Faust (II), 1831, S.113ff.

Urphänomen ist nach Goethe das empirische Phänomen, das jeder Mensch in der Natur erkennen kann und das durch Versuche zum wissenschaftlichen Phänomen erhoben wird, indem man es unter anderen Umständen und Bedingungen und in einer mehr oder weniger glücklichen Folge darstellt, so daß zuletzt das reine Phänomen als Resultat aller Erfahrungen und Versuche dasteht. Es ist ideal als das letzte Erkennbare, real als erkannt, symbolisch identisch mit allen Fällen, weil es alle Fälle begreift. (Vgl. Urpflanze).

Urpflanze ist ein Begriff aus der Naturbetrachtung Goethes für das Urbild (Idee, begriffliche Urgestalt), nach dem alle anderen Pflanzenarten durch Abwandlungen entstanden sein sollen. Goethe suchte die Urpflanze in der Natur als eine noch unbekannte Art, oder auch etwa in der Grundgestalt eines Blattes oder eines Stammes zu finden, während Schiller in einem Gespräch mit ihm darüber auf den platonischen Ideencharakter der Urpflanze hinwies. (Vgl. Urphänomen).

Begriff wird in der Logik verstanden als einbfachster Denkakt im Gegensatz zu Urteil und Schluß. Urteil meint einen Akt der Bejahung oder Verneinung, in dem 2 Begriffe (Subjekt und Prädikat) in Beziehung zueinander gesetzt werden. Im Urteil bezieht das Denken einen Begriff auf einen Gegenstand und setzt diesen zugleich mitsamt seinen Prädikaten, und zwar durch die Kopula „ist“, die stets auf absolute Geltung des behaupteten Sachverhalts abzielt. Der Schluß (conclusio) ist das formale logische Verfahren, aus mehreren Urteilen (als Voraussetzungen oder Prämissen) ein einziges Urteil, die Schlußfolgerung, begrifflich abzuleiten. (Vgl. Syllogismus bei Aristoteles).

Fichtes „Staatssozialismus“ (so Spengler, 1917, S. 465): „die großartige Idealisierung des Zweckes und also der Arbeit. Will man dem römischen »Panem et circenses«, dem letzten epikuräisch-stoischen und im Grunde auch indischen Lebenssymbol, das entsprechende Symbol des Nordens und auch wieder des alten China und Ägypten zur Seite stellen, so muß es das Recht auf Arbeit sein, das bereits dem durch und durch preußisch empfundenen, heute europäisch gewordenen Staatssozialismus Fichtes zugrunde liegt und das in den letzten, furchtbarsten Stadien dieser Entwicklung in der Pflicht zur Arbeit gipfeln wird.“ (Spengler, 1918, S.464f.). (Vgl. Fichtes „Geschlossener Handelsstaat“, 1800). Arbeit ist jede auf ein wirtschaftliches Ziel gerichtete, planmäßige Tätigkeit des Menschen (gleichgültig ob geistige oder körperliche Kräfte eingesetzt werden), und als Phänomen der Ethik bedeutet Arbeit so etwas wie Einsatz, Aufwand, Drangeben: die Person setzt sich ein, wendet Kraft auf, gibt ihre Energie dran. Im Sinne der Soziologie ist Arbeiter, wer in einer fremden Wirtschaft für einen anderen - den Unternehmer, Arbeitgeber - arbeitet. Seit Marx ist dieser Arbeiter zum Gegenstand leidenschaftlicher Auseinandersetzungen geworden. Marx schuf den Begriff des „Proletariers“, d.h. des Arbeiters, der ohne Besitz und deshalb gezwungen ist, seine Arbeitskraft „zum Marktpreis“, also auch zu ungünstigen Bedingungen zu verkaufen, um nicht zu verhungern.

Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Freiherr, war Philosoph, Sprachforscher und Staatsmann und wirkte nach rechtswissenschaftlichem Studium (von 1787 bis 1790) als Privatgelehrter in Jena (von 1794 bis1797), war preußischer Ministerresident in Rom (von 1802 bis 1808) und Direktor für Kultus und Untericht im Innenministerium (von 1809 bis 1810). Humboldt reformierte das preußische Bildungswesen und gründete u. a. die Berliner Universität (1811). Seit 1810 war er Gesandter in Wien (Teilnahme am Wiener Kongreß), seit 1817 in London, 1819 wieder Minister. Im Mittelpunkt seines Denkens stand ein stets auf die Gesellschaft hin orientiertes Humanitätsideal. Als Sprachwissenschaftler befaßte sich Humboldt v. a. mit amerikanischen Sprachen, mit Sanskrit, Ägyptisch, Koptisch, Chinesisch, Japanisch. In der Einleitung zu seinem Werk „Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java“ entfaltete Humboldt die Grundthese seiner Sprachphilosophie, daß „in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltsicht“ liege; sie sei Ausdruck der Individualität einer Sprachgemeinschaft und werde durch die „innere Sprachform“ dargestellt. Dabei wird Sprache als „Tätigkeit“ (Energeia) bestimmt, die im Sprechen und Verstehen, in der Einheit von Ich und Du im Dialog aktualisiert werde. Die späteren Bemühungen der Linguistik um eine generative Grammatik (Noam Chomsky u.a. Sprache) verstehen sich weithin als Erfüllung Humboldtscher Ideen. (Vgl. auch: „Nativismus“). Humboldt selbst dienten die sprachtheoretischen Untersuchungen zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie. Seine Weltanschauung zeigt drei Grundideen: Universalität, Individualität, Totalität (= Formung des Lebens zu einem Kunstwerk). Die Erforschung der Geschichte ebenso wie die der Sprache ist nach Humboldt nicht eine Sache des bloßen Intellekts, sondern hat die Mitwirkung der Gesamtheit der menschlichen Seelenkräfte zur Voraussetzung. Der Historiker muß sich in das Innere der Personen und Epochen, mit denen er zu tun hat, hineinversetzen, wenn er mehr als eine zusammenhanglose Aufzählung äußerer Ereignisse bieten will. Der Sprachforscher muß die Sprache als Äußerung und Werkzeug des Volksgeistes zur Gewährleistung der Sprachgemeinschaft begreifen. Im Sinne seines Humanitätsidals war Humboldt ideell sowie praktisch beteiligt an der Gründung der Universität Berlin (1811). Aus seiner Reform des höheren Schulwesens ging das „Humanistische Gymnasium“ in seiner heutigen Gestalt hervor. In seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ bestimmte er die Aufgabe des Staates dahin, für Schutz nach außen und Rechtssicherheit nach innen zu sorgen, im übrigen aber sich möglichst zurückzuhalten und der freien individuellen und nationalen Entwicklung Raum zu lassen. Humboldts Reformen, besonders die der Bildung, wurden Vorbild für die ganze Welt!

Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770-1843) stand seinen Studienkollegen Hegel und Schelling nahe. Seine geistige Entwicklung war bestimmt durch eine innere Entfremdung vom Christentum sowie von dem Idealismus der deutschen Romantik und von der Verehrung des griechisch-antiken Geistes. Letztere findet ihren Niederschlag in dem Briefroman „Hyperion“ (1799 veröffentlicht). Hölderlin ersehnte ein „neues Griechenland“, wiedergeboren von der „Jungfrau Germanien“. Die neueste Hölderlin-Forschung, die meist unter existenzphilosophischen Gesichtspunkten durchgeführt wird, erschließt einen tiefen philosophischen Gehalt in Hölderlins Elegien. Friedrich Beissner (1905-1977) gab 1943 Hölderlins „Sämtliche Werke“ heraus, Martin Heidegger (1889-1976) schrieb z.B. die bekannten „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“ (1951) und Kurt Hildebrandt (1881-1966) „Hölderlins Philosophie und Dichtung“ (1939). Die Handlung des „Hyperion“, die in Briefen gespiegelt wird, greift auf die Erhebung der Griechen gegen die Türken 1770 zurück und beschreibt exemplarisch den (scheiternden) Versuch eines griechischen Jünglings, diese Erhebung als als innere Wiedergeburt seines Volkes zu bewirken. Unübersehbar sind die mittelbaren und unmittelbaren Bezüge zur deutschen Situation (als Hölderlin seinen „Hyperion“ schrieb, hatte Napoleon bereits die linksrheinischen Gebiete Deutschlands besetzt). Der Briefpartner Bellarmin vereinigt in Namen und Funktion den Widerspruch von deutschem Ideal und deutscher Wirklichkeit: der „schöne Arminius“ (Bellarmin) ist ein Schweiger, Hyperions Briefe bleiben unbeantwortet! Das „Nächstens mehr!“  am Ende des 2. Bandes, zugleich der Schluß der endgültigen Veröffentlichung 1799, konnte weder aus inneren noch aus äußeren Gründen eingelöst werden; philosophischer Ansatz wie politische Realität boten keine Lösungen mehr.

Aufheben bedeutet in der Dialektik Hegels, der Mehrdeutigkeit des Wortes entsprechend, sowohl emporheben als auch bewahren, als auch vernichten (negieren). Das in der Thesis Gesetzte wird in der Antithesis aufgehoben, d.h. negiert, und dann durch Negation der Negation von neuem gesetzt, jetzt aber auf einem erhöhten, über den Ausgangspunkt der dialektischen Bewegung emporgehobenen Niveau. Daraus ergibt sich die Synthesis, die die Thesis in erhöhter Form in sich bewahrt, d.h. aufhebt. (Vgl. Dialektik Dialektik). Anders als Platons Dialektik ist Hegels Dialektik der Prozeß der Produktion der Subjektivität des absoluten Subjekts. Sie ist Spiegelung und Einung des Entgegengesetzten als der Prozeß des Geistes, und damit gilt sie als Grundzug aller Wirklichkeit. Hegel

„Das Aufheben stellt seine wahrhafte gedoppelte Bedeutung dar, welche wir an dem Negativen gesehen haben; es ist ein Negieren und ein Aufbewahren zugleich; das Nichts, als Nichts des Diesen, bewahrt die Unmittelbarkeit auf und ist selbst sinnlich, aber eine allgemeine Unmittelbarkeit.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807, S. 94). „Aufheben und das Aufgehobene (das Ideelle) ist einer der wichtigsten Begriffe der Philosophie, eine Grundbestimmung, die schlechthin allenthalben wiederkehrt, deren Sinn bestimmt aufzufassen und besonders vom Nichts zu unterscheiden ist. – Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das Unmittelbare; ein Aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseiende, aber als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist; es hat daher die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich. Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß soviel als aufbewahren, erhalten bedeutet und zugleich soviel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten. – So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Vorrede zur zweiten Auflage, 1812, in: Ders., Werke, 5, 114).

Ihre wissenschaftliche Durchbildung erfuhr die Metaphysik durch Kant, aber ihre Vollendung begann mit Hegel - mit seiner Metaphysik des absoluten Geistes. Hegels Dialektik setzte an mit der Kritik der Logik, aber nicht um deren Herrschaft zu beenden, sondern um sie zu erweitern, denn ihrem Wesen nach ist die Dialektik ja selbst Logik! Mit Hegel begann die Vollendung der Metaphysik, weil die unbedingte Gewißheit als die absolute Wirklichkeit zu ihr selbst kommt; aber dies ist erst der Beginn der Vollendung, also noch nicht die Vollendung selbst, denn noch ist die Möglichkeit des unbedingten Eingehens auf sich als dem Willen des Lebens nicht vollzogen; noch ist der Wille nicht als der „Wille zum Willen“ in seiner von ihm bereiteten Wirklichkeit erschienen, weshalb die Metaphysik mit der absoluten Metaphysik des Geistes noch nicht vollendet ist.

Hegelianer heißen Hegels Anhänger bzw. Vertreter seiner Philosophie, des Hegelianismus. Allgemein unterteilt man den Hegelianismus in eine „Rechte“ (Alt- bzw. Rechtshegelianismus), eine „Mitte“ und eine „Linke“ (Jung bzw. Linkshegelianismus). Später auch: Neu-Hegelianismus. Der Hegelianismus erfuhr auch im Ausland eine sehr starke Weiterentwicklung, v.a. in Italien, Großbritannien, den USA, Holland, Belgien, Frankreich, Skandinavien, und im slawisch-baltischen Raum. Kein Denker hat so nachhaltig auf fremde Nationen gewirkt wie Hegel (selbst Kant nicht!). Hier einige deutsche Vertreter des Hegelianismus:
- Alt- bzw. Rechtshegelianer: Carl Friedrich Göschel, Georg Andreas Gabler, Karl Daub, Ernst Theodor Echtermeyer u.v.a..
- Mittlere Hegelianer: Eduard Gans, Karl Ludwig Michelet, Karl Rosenkranz, Ernst Kapp, Johann Eduard Erdmann u.v.a..
- Jung- bzw. Linkshegelianer: Arnold Ruge, B. Bauer, Ludwig Feuerbach, M. Stirner, D. F. Strauß, K. Marx, F. Engels u.v.a..
   Organ der Junghegelianer:
   „Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst“; Hrsg.: Ruge und Echtermeyer, 1838,
    ab 1841: „Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst“ (1843 verboten!)
    auch: „Deutsch-Französische Jahrbücher“; Hrsg.: Ruge und Marx, 1844
- Neuhegelianer: W. Dilthey, K. Fischer, H.-G. Gadamer, K. Löwith, J. Ritter M. Riedel u.a.. Wahrscheinlich läßt sich auch die Ritter-Schule noch zum Neuhegelianismus (oder bereits zum Neuneuhegelianismus?) rechnen.

„Wie die ›Kritik der reinen Vernunft‹ das Hauptbuch von Kant, so ist die ›Wissenschaftslehre‹ das Hauptbuch von Fichte. Diese Buch ist gleichsam eine Fortsetzung des ersteren. Die Wissenschaftslehre verweist den Geist ebenfalls in sich selbst. Aber wo Kant analysiert, da konstruiert Fichte. Die Wissenschaftslehre beginnt mit einer abstrakten Formel (Ich-Ich), sie erschafft die Welt hervor aus der Tiefe des Geistes, sie fügt die zersetzten Teile wieder zusammen, sie macht den Weg der Abstraktion zurück, bis sie zur Erscheinungswelt gelangt. Diese Erscheinungswelt kann alsdann der Geist für notwendige Handlungen der Intelligenz erklären. .... Fichte ... lehrte ...: Es gibt gibt nur ein Wesen, das Ich, das Absolute; er lehrte Identität des Idealen und des Realen. In der Wissenschaftslehre ... hat Fichte durch intellektuelle Konstruktion aus dem Idealen das Reale konstruieren wollen. ... Schelling hat aber die Sache umgekehrt: Er suchte aus dem Realen das Ideale herauszudeuten. Um mich noch klarer auszudrücken: Von dem Grundsatze ausgehend, daß der Gedanke und die Natur eins und dasselbe seien, gelangt Fichte durch Geistesoperation zur Erscheinungswelt, aus dem Gedanken schafft er die Natur, aus dem Idealen das Reale; dem Herrn Schelling hingegen, während er von demselben Grundsatz ausgeht, wird die Erscheinungswelt zu lauter Ideen, die Natur wird ihm zum Gedanken, das Reale zum Idealen. Beide Richtungen, die von Fichte und die von Herrn Schelling, ergänzen sich gewissermaßen. Denn nach jenem obersten Grundsatze konnte die Philosophie in zwei Teile zerfallen, und in dem einen Teil würde man zeigen, wie aus der Idee die Natur zur Erscheinung kommt; in dem andern Teil würde man zeigen, wie die Natur sich in lauter Ideen auflöst.“ (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834, S. 16, 28). Laut Heine haben sich durch Kant, Fichte und Schelling „revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, ... bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten .... Doch noch schrecklicher als alles wären Naturphilosophen, die handelnd eingriffen in eine deutsche Revolution und sich mit dem Zerstörungswerk selbst identifizieren würden. Denn wenn die Hand des Kantianers stark und sicher zuschlägt, weil sein Herz von keiner traditionellen Ehrfurcht bewegt wird; wenn der Fichteaner mutvoll jeder Gefahr trotzt, weil sie für ihn in der Realität gar nicht existiert; so wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, daß er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, daß er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann und daß alsdann in ihm jene Kampfeslust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden und die nicht kämpft, um zu vernichten noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen.“ (Heinrich Heine, ebd., 1834, S. 36-37). Heine sah in Kant das Umstürzlerische (vgl. Bürgerliche Revolution, terroristische Konvention u.s.w.), in Fichte das Napoleonische und in Schelling das Restaurative. Das gilt auch für deren jeweilige Schüler bzw. Nachfolger. Tabelle

Menschliche Sprache ist nicht nur rein natürlich (kosmisch); natürlich-kulturell ist sie eingebettet in die Sprache aller Lebewesen; rein kulturell ist sie das, was allgemein unter Sprache (Mutter- oder Nationalsprache) verstanden wird; kulturell-natürlich ist sie jedoch eine Metasprache (eine „Sprache-über-Sprache“: Theorie, Religion, Theologie, Philosophie, Mathematik u.s.w.). Vgl. Meta-Sprache (Große Vereinheitlichte Theorie) und Sprache (Sprachtheorie) sowie Feuer () als 1. Kultursymbol. Urdenker

Carl Friedrich Gauß (1777-1855) veröffentlichte seine nicht-euklidischen Geometrien nicht, weil er das Geschrei der denkfaulen, schwerfälligen und unkultivierten Menschen fürchtete. Er nannte sie Böoter, weil die Einwohner dieser antiken Landschaft (Hauptstadt: Theben) von den Einwohnern anderer Griechenstädte als denkfaul und schwerfällig beschrieben worden waren. Gauß meinte zu Recht, daß man die Menschen nicht wirklich würde überzeugen können. (Esoterik). Die erste der nichteuklidischen Geometrien entdeckte Gauß nach Vollendung seines Hauptwerkes Disquisitiones arithmeticae (1801), durch deren in sich widerspruchslose Existenz bewiesen wurde, daß es mehrere streng mathematische Arten einer dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, die sämtlich a priori gewiß sind, ohne daß es möglich wäre, eine von ihnen als die eigentliche Form der Anschauung herauszuheben. (Gauß). - Nach Gauß benannt sind u.a.:
- G (Gauß) = Einheitszeichen der magnetischen Flußdichte (magnetische Induktion).
- Gauß-Krüger-Abbildung (Projektion): eine konforme Abbildung eines auf dem Erdellipsoid liegenden geographischen Koordinatensystems in ein ebenes kartesisches Koordinatensystem. Wurde in Deutschland, später auch in zahlreichen anderen Ländern eingeführt.
- Gaußsche Abbildung (Projektion): die idealisierte optische Abbildung, bei der durch die Abbildungsgleichungen alle Geraden und Ebenen des Dingraumes in Geraden bzw. Ebenen des Bildraumes abgebildet werden.
- Gaußsche Gleichung: die bei einer optischen Abbildung durch eine einzelne brechende Kugelfläche (Radius r) zwischen den Schnittweiten (s, s') und Brennweiten (f, f') geltende Beziehung: n' / s' + n / s = (n' - n) / r = n' / f' = n / f, wobei n und n' die Brechungsindizes im Dingraum bzw. Bildraum sind.
- Gaußsche Glockenkurve: Graph der Wahrscheinlichkeitsdichte (siehe: Gaußsche Normalverteilung bzw. Gauß-Verteilung).
- Gaußsche Koordinaten: Koordinaten auf gekrümmten Flächen (krummlinige Flächen), z.B. geographische Länge und Breite auf einer Kugel.
- Gaußsche Krümmung: Krümmungsmaß; in der Theorie der Flächen im dreidimensionalen Raum der wichtigste Krümmungsbegriff neben der mittleren Krümmung.
- Gaußsche Normalverteilung: siehe: Gauß-Verteilung.
- Gaußsche Zahlenebene: eine Ebene mit einem kartesischen Koordinatensystem zur Darstellung der komplexen Zahlen; die Abzisse (x-Achse) liefert den Realteil, die Ordinate (y-Achse) den Imaginärteil. Jedem Punkt der Gaußschen Zahlenebene ist genau eine komplexe Zahl zugeordnet und umgekehrt. Gauß
- Gauß-Typ: photographische Objektive vom Gauß-Typ, d.h. durch symmetrische Verdoppelung des von Gauß angegebenen Fernrohrobjektivs geschaffene Doppelanastigmate (Doppel-Gauß-Varianten), z.B. Gauß-Typ 1. Art (innere Linsenglieder zerstreuend, äußere sammelnd), Gauß-Typ 2. Art (innere Glieder sammelnd, äußere zersteuend).
- Gauß-Verteilung: Wahrscheinlichkeitsverteilung (bzw. Normalverteilung), die die Fehlerverteilung bei unendlich vielen Einzelmessungen einer Größe (Zufallsvariable) angibt, wenn bei diesen (abgesehen von einem stets gleichen systematischen Fehler) nur zufällige Fehler auftreten.

Max Stirner (1806-1856) ging von Hegel (1779-1831) und Feuerbach (1804-1872) aus, gehörte zur Hegelschen Linken. (Vgl. Jung- bzw. Links-Hegelianer). Er versuchte in seinem Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ (1844) den Nachweis zu erbringen, daß das einzig Reale das Individuum sei, das Ich, und daß etwas nur insofern Wert habe, als es dem Ich dient: „Mir geht nichts über Mich“. Die Philosophie Stirners ist das Musterbeispiel eines konsequent durchdachten Individualismus. Marx (1818-1883) und Engels (1820-1895) bekämpften ihn in „Sankt Max“ (in: „Dokumente des Sozialismus“). Über keinen Philosophen verloren Marx und Engels soviel Worte wie über Stirner. „Der Einzige und sein Eigentum“ war vielleicht die erste existentialistische Ich-Philosophie. Sie wirkte u.a. auch auf Friedrich Nietzsche (1844-1900), Max Ernst (1891-1976) oder Jean Paul Sartre (1905-1980). Stirners Nihilismus ist radikal bis ins Mark. „Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt“! Es reichte ihm offenbar nicht, daß der Mensch Gott getötet hatte, dann aber (mit Feuerbach) den Menschen an dessen Stelle setzte. Fort mit „dem Menschen“, rief Stirner. „Der Mensch muß sterben, damit ich sei. Fort mit jeder Sache, die nicht ganz und gar meine Sache ist. Meine Sache ist keine allgemeine, sondern ist - einzig, wie ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!“ (Marx und Engels, diese beiden, mochten ihn darum nicht leiden!)!

Arkesilaos (315-241), der Vorsteher (Scholarch) der 2. (mittleren) Akademie, gab der Schule um 270 v. Chr. eine (typisch antike) skeptische Richtung durch Einführung der „Urteilsenthaltung“ (Epoché, epoch ): nur Wahrscheinlichkeit sei erreichbar, und diese genüge zum Leben. Wilhem Dilthey (1833-1911) gab dem 2. Hegelianismus um 1880 eine (typisch abendländische) lebensphilosophische Richtung durch Begründung der „Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaft“ (als historisch-hermeneutische „Erfahrungswissenschaft“): das Nacherleben von Bekundungen der Wirklichkeit ermögliche die Denkerfassung, d.h. das Begreifen und Verstehen der Wirklichkeit, und diese intuitive Verstehens-Theorie genüge, wenn das Kausalitätsprinzip der Naturwissenschaft, das auch in den Geisteswissenschaften gelte, ergänzt werde durch Zweckvorstellung (Teleologie), Wertbeurteilung und Sinngebung. Das Nachvollziehen der Lebensäußerungen genüge also zum Verstehen der geschichtlichen Wirklichkeit. Was der Mensch sei, könne er nur durch die Geschichte erfahren, so der sie geistesgeschichtlich untersuchende Dilthey. - In der Antike sollte um 160 v. Chr. Karneades (214-129), Stifter der 3. (neueren) Akademie, die akademische Skepsis bis zur äußersten Konsequenz entwickeln und Wissen sowie Möglichkeit eines endgültigen Beweises leugnen. (). Im Abendland sollte die analoge Rolle jemand übernehmen, der, obwohl mehr Vertreter der Lebensphilosophie als Stifter des 3. (neueren) Idealismus, die idealistische Skepsis bis zur äußersten Konsequenz lebensphilosophisch (existentialistisch) zu entwickeln vermag: Peter Sloterdijk (*1947). (Vgl. Lebensphilosophie ). Oder Gilles Deleuze (1925-1995), Niklas Luhmann (1927-1998), Hermann Schmitz (1928-2021) oder etwa sogar Jürgen Habermas (*1929)?

Friedrich Nietzsche (1844-1900), der von sich sagte, er sei Dynamit, wollte zum Dichter seines Lebens werden - durch sein Denken. Er wählte Rollen und Masken als Freigeist, Psychologe, Moralist, Prophet und Narr. Sein Denken war existentiell, denn es ging Nietzsche, wenn auch nicht nur, um die Gestaltung des eigenen Lebens. Sein Denken war experimentell, weil darin die ganze Erkenntnis- und Moraltradition auf den Prüfstand gestellt wurde. Sein Denken war exemplarisch in seinen Antworten auf das Problem des Nihilismus. Nietzsches Denken war in der Tat ein Laboratorium der Moderne. Hier wurde mit hochgefährlichen Stoffen umgegangen. „Alles kann ungeheuer werden - das eigene Leben, das Erkennen, die Welt -, aber es ist die Musik, die so aufs Ungeheure einstimmt, daß man es trotz allem darin aushält. ... Das Ungeheure, das sich (schon) dem jungen Nietzsche zuerst aufdrängt, ist das eigene Leben. ... Nietzsches selbstbezogenes Schreiben setzt die Fähigkeit voraus, sich nicht als Individuum, als das Unteilbare, sondern als Dividuum (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1878, 2,76), als etwas Teilbares, zu erleben. Eine mächtige Tradition spricht vom 'Individuum' wie von einem unteibaren Kern des Menschen, Nietzsche aber hat schon sehr früh mit der Kernspaltung des Individuums experimentiert. Über 'sich' schreibt, wem die Unterscheidung zwischen 'Ich' und 'sich' überhaupt etwas zu denken gibt.“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000; S. 14-15). Auch Spengler (1880-1936) dachte in bestimmten „Zusammenhängen ganz nietzscheanisch, wobei man wissen muß, daß Nietzsche in seinen besten Augenblicken als Immunologe spricht, wie ein Kulturarzt, der weiß, daß Kulturen und ihre Träger, die Menschen, Wesen sind, die mit dem Ungeheuren geimpft werden und eigensinnige Immunreaktionen entwickeln, aus denen verschiedene kulturelle Temperamente hervorgehen. In diesem Sinne muß man Spenglers These auffassen, daß es nur 8 Hochkulturen im eigentlichen Wortsinn gegeben habe. (8 Kulturen). Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen Immunreaktionen vollzogen, von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß. Die 8 hohen Kulturen wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 225-226).

Sigmund Freud (1856-1939). Mediziner und Psychoanalytiker, entwickelte die Psychoanalyse zunächst nur als eine Psychotherapie zur Heilung der verschiedenen Formen der Hysterie, bevor er zu einer Lehre von den Eigengesetzlichkeiten und dem Wirken des Unbewußten, besonders des Trieblebens, fand. (Vgl. oben). Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich Freud immer mehr von den Problemen der Krankenbehandlung ab und der psychologischen Theorie, von ihm Metapsychologie genannt, zu. Am Lebensabend behandelte er insbesondere kulturphilosophische Fragen, die er psychologistisch zu erklären versuchte. (Vgl. Psychologismus). Freud

Das Plancksche Wirkungsquantum: h = 6,626 • 10–34 J • s .  Dabei ist J (Joule) das Einheitszeichen der Energie, Arbeit und Wärmemenge: 1 J ist gleich der Arbeit, die verrichtet wird, wenn der Angriffspunkt der Kraft 1 Newton (1 N = 1 kg m / s2) in Richtung der Kraft um 1 m verschoben wird. Es gilt: 1 J = 1 N • m. Anders ausgedrückt: 1 J = 1 Nm = 107 erg = 0,2388 cal. Die Planksche Konstante h besitzt die Dimension einer Wirkung und ist gleichzeitig der Proportionalitätsfaktor in der Beziehung W = hv zwischen der Frequenz v einer elektromagnetischen Welle und der Energie W der in ihr enthaltenen Energiequanten (Photonen).

Otto Hahn (08.03.1879 - 18.07.1968) entdeckte 1938 in Zusammenarbeit mit Friedrich Wilhelm Straßmann (1902-1980) die Spaltung von Urankernen bei Neutronenbestrahlung (vgl. Kernspaltung). Für diese Entdeckung wurde ihm der Nobelpreis für Chemie verliehen. Hahn war von 1928 bis 1945 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Berlin und von 1948 bis 1950 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Vgl. auch: "Planck-Ära"

Funktionentheorie ist die Bezeichnung für die von Bernhard Riemann (1826-1866) entwickelte komplexe Analysis. d.h. für die Infenitesimalrechnung von Funktionen w = f(z) mit komplexen Werten w = u + iw und komplexen Argument z = x + iy, wobei x, y, u = u (x, y) und v = v (x, y) reell sind. - Bedeutend wurde neben Riemanns Funktionentheorie und dem „Riemannschen Kontinuum“ u.a. auch die „Riemannsche Zahlenkugel: eine Kugel vom Radius 1/2, die die Gaußsche Zahlenebene (Gauß) im Punkt z = 0 berührt. Der Berührungspunkt wird als Südpol, der entgegengesetzte Punkt als Nordpol bezeichnet. jeden Punkt z = x + iy (siehe: oben) der Gaußschen Zahlenebene kann man darstellen als das Bild eines Punktes der Kugeloberfläche unter der Projektion vom Nordpol aus auf die Ebene.

Georg Cantor (1845-1918) erstellte die Mengenlehre (1883), eine analytische Methode zur Überwindung der Paradoxien unendlicher Bereiche und zur widerspruchsfreien Klärung des Mengenbegriffes. Erst in der weiteren Entwicklung durch David Hilbert (1862-1943) und Hermann Weyl (1885-1955) wurde die Axiomatisierung und eindeutige Abgrenzung der verschiedenen Kategorien von Mengen mathematischer Gegenstände möglich, wobei in der Hauptsache kalkulatorisch konstruierbare von nur beschreibbaren (definiten) Mengen unterschieden werden.

Die abendländische Philosophie sei eine Reihe von Fußnoten zu Platon, behauptete der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861-1947), einer der wichtigsten Vertreter des Neurealismus, auf den er eine kritische Naturphilosophie gründete, die er später durch eine konstruktive Metaphysik ergänzte.

Ferdinand de Saussure (26.11.1857 - 22.02.1913), schweizerischer Sprachwissenschaftler und Indogermanist, war ab 1896 in Genf Professor für vergleichende und historische indogermanische Sprachwissenschaft (inkl. Sanskrit). Seine Genfer Vorlesungen („Cours de linguistique générale“, 1916) leiteten eine neue Ära der Sprachwissenschaft ein, denn seine Methoden wurden besonders für die Entwicklung des linguistischen (und philosophischen) Strukturalismus wichtig. In der Linguistik gibt es seit Chomsky und seinen „Syntactic Structures“ (1957) eine neue Ära: den „Nativismus(Generative Transformationsgrammatik). Nativismus

Syntaktem bedeutet so etwas wie ein Satz bzw. eine satzähnliche Konstruktion. Im amerikanischen Strukturalismus (Pike), d.h. in der Tagmemik, heißt das Syntaktem allerdings Sytagmem. Es geht jedenfalls um die Verkettung von grammatischen Formelementen. (Vgl. Strukturalismus).

Ludwig Wittgenstein (1889-1951), Logisch-philosophische Abhandlung, 1921 (Tractatus logico-philosophicus, 1922).
_
P ist die Reihe der Elementarsätze,
_
x ist eine Variable daraus,

N ist die wiederholt anzuwendende mehrstellige Weder-Noch-Relation zwischen Sätzen.


Geburtendefizit = die Geburtenrate ist niedriger als die Sterberate! Geburtenrate (Geburtenziffer) bedeutet die Zahl der Lebendgeborenen auf 1000 Einwohner im Jahr; sie wird also in Promille (‰) angegeben; gleiches gilt für die Sterberate (Sterbeziffer). Abgesehen von Ausgleichsmöglichkeiten (Wanderungen), gilt grundsätzlich: Geburtenrate > Sterberate = Positive Wachstumsrate (= Bevölkerungsmehrung wegen Geburtenüberschuß bzw. Sterbedefizit); Geburtenrate = Sterberate = Neutrale Wachstumsrate (Gleichstand [also: kein Wachstum]); Geburtenrate < Sterberate = Negative Wachstumsrate (= Bevölkerungsminderung wegen Geburtendefizit bzw. Sterbeüberschuß). Weil die „rohe“ Geburtenrate nicht ausreicht, um die „Gründe“ für den Geburtenrückgang zu „erklären“, gibt es auch noch die Fruchtbarkeitsrate (Fertilitätsrate, - ziffer). Vgl. Demographie, „Übergangstheorie“, „ökonomisch-demographisches Paradoxon“.

Fruchtbarkeitsrate: das „Fortpflanzungsverhalten“ bzw. die gesamten Bedingungen und Motive des „generativen Verhaltens“ als die (insgesamte) „durchschnittliche Zahl von Kindern, die eine Frau im Laufe ihres Lebens gebären würde, wenn sie in jeder Altersstufe in Übereinstimmung mit der altersspezifischen Fruchtbarkeitsrate Kinder zur Welt bringen würde.“ (Fischer Weltalmanach, 2006, S. 781). Denn bei einer gegebenen Zahl von Frauen zwischen 15 und 45 Jahren hängt die Zahl der Geborenen z.B. „auch davon ab, wie sich die Frauen auf diese Altersjahre innerhalb des Intervalls von 15 bis 45 aufteilen. Je mehr von ihnen zu der Altersgruppe gehören, in der die meisten Kinder zur Welt kommen - in Deutschland liegt das Gebäralter mit der höchsten Geburtenrate bei 30 -, desto höher ist bei gleicher Zahl und gleichem Fortpflanzungsverhalten der Frauen die jährliche Geburtenzahl. Die Verteilung der Frauen auf die Altersjahre von 15 bis 45 ist in jedem der miteinander verglichenen Kalenderjahre oder Länder meist unterschiedlich. Deshalb wird bei zeitlichen oder internationalen Vergleichen künstlich eine gleiche Altersverteilung zugrunde gelegt, indem pro Altersjahr genau 1000 Frauen angenommen werden. Mit diesem Kunstgriff läßt sich die zur Erklärung von Verhaltensänderungen wesentlich besser geeignete, von den Einflüssen der Altersstruktur bereinigte »Zahl der Lebendgeborenen pro Frau« berechen, die auch als »zusammengefaßte Geburtenziffer«  (englisch: Total Fertility Rate, TFR) bezeichnet wird. Der Begriff »zusammengefaßt« drückt dabei aus, daß die Kinder, die in einem Kalenderjahr von dem im Altersintervall von 15 bis 45 gleichzeitig lebenden 31 Frauenjahrgängen geboren wurden, zusammen berücksichtigt werden. Man tut dabei so, als ob die in einem Kalenderjahr geborenen Kinder von einer künstlich zusammengesetzten Generation zur Welt gebracht woren seien, die aus den 31 verschiedenen Jahrgängen besteht, die im Jahr der Betrachtung gemeinsam leben und in einem unterschiedlichen Alter stehen. die simpel erscheinende statistische Größe - »Zahl der Geburten pro Frau« - läßt sich also nicht durch Umfragen ermitteln, sie ist das Ergebnis von Berechnungen, die auch Annahmen über die Zahl der Geburten enthalten, die die heute erst 15, 16, 20 oder 30 Jahre alten Frauen in der Zukunft noch haben werden. Eine dieser Annahmen ist beispielsweise, daß die im Jahr der Betrachtung 25jährigen zehn Jahre später als 35jährige so viele Kinder (pro 1000) zur Welt bringen werden wie die heute 35jährigen. Das klingt nicht nur ziemlich konstruiert, sondern ist es auch. Es gibt jedoch keine einfachere Methode um die Geburtenrate eines Landes in einem bestimmten Kalenderjahr - gemessen durch die simpel erscheinde Zahl der Lebendgeborenen pro Frau - anzugeben. Die Unterschiede der Altersstruktur machen sich auch dann störend bemerkbar, wenn nicht verschiedene Kalenderjahre oder Länder, sondern verschiedene Geburtsjahrgänge miteinander verglichen werden. In der Fachliteratur wird ein Geburtsjahrgang auch mit dem Begriff »Kohorte« und die Kinderzahl pro Frau eines Geburtsjahrgangs entspechend als »jahrgangs- bzw. kohortenspezifische Geburtenzahl pro Frau« bezeichnet (englisch: Completed [oder: Cohort] Fertility Rate, CFR). Auch bei der Berechnung der Geburtenzahl pro Frau für die verschiedenen Geburtsjahrgänge wird der im Zeitablauf variierende Einfluß der Altersstruktur künstlich ausgeschaltet, um den reinen Effekt des Fortpflanzungsverhaltens zu messen.“ (Herwig Birg, Die ausgefallene Generation, 2005, S. 35-36). Vgl. Demographie, „Übergangstheorie“, „ökonomisch-demographisches Paradoxon“.

Frankreich mit Geburtendefizit !

Die Ritter-Schule (auch: Schule von Münster) bezeichnet den Kreis um den Philosophen Joachim Ritter (1903-1974). Ritter hatte in Münster seit 1947 ein Oberseminar abgehalten, das als Collegium Philosophicum bezeichnet wurde, und viele seiner direkten philosophischen Schüler, aber auch andere, hatten daran regelmäßig teilgenommen. Es geht in der Ritter-Schule um den Versuch, an eine hermeneutische Tradition anzuknüpfen, die sich von der Hegel-Maxime leiten läßt, daß es in der Philosophie darauf ankommt, die Wirklichkeit zu sehen und die in der Wirklichkeit enthaltene Vernunft zur Darstellung und zur Sprache zu bringen. Politisch strebte die Philosophie der Ritter-Schule als konservative (neokonservative, wertkonservative, modernitätskonservative) oder liberalkonservative Alternative zur Frankfurter Schule eine Bejahung des Staates und seiner Institutionen an, also wiederum etwas, das an Hegel angelehnt ist. In mancherlei Hinsicht hat die Ritter-Schule aber auch Gemeinsamkeiten mit der Frankfurter Schule, die ja auch auf Hegel bezogen ist, wenn auch mehr von nicht-konservativer bzw. nicht-liberalkonservativer Seite. Die Ritter-Schüler sind eben eher rechte und mittlere, die Frankfurter Schüler eher linke und mittlere Neu-Hegelianer (vgl. den Unterschied zwischen [a] altem bzw. rechtem, [b] mittlerem und [c] jungem bzw. linkem Hegelianismus, denn diesen Unterschied gibt es auch noch im Neu-Hegelianismus). Der Ritter-Schule zugerechent werden z.B. (in alpahebetischer Reihenfolge): Günther Bien, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wilhelm Goerdt, Karlfried Gründer, Max Imdahl, Martin Kriele, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Reinhart Maurer, Ludger Oeing-Hanhoff, Willi Oelmüller, Günter Rohrmoser, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Robert Spaemann, Bernard Willms u.v.a..

Claude Lévi-Strauss (28.11.1908 - 30.09.2009), belgischer Ethnologe, seit 1959 Professor am Collège de France in Paris, entwickelte die ethnologische Methode des Strukturalismus weiter, insbesondere zur Analyse der Verwandtschaftssysteme und Denkformen der schriftlosen Gesellschaften. Lévi-Strauss übertrug das Modell der linguistischen Strukturanalyse des Schweizers Ferdinand des Saussure (1857-1913) auf die so genannten Human- und Sozialwissenschaften und glaubte, herausgefunden zu haben, daß die in den Subjekten wirkenden Strukturen unbewußte Strukturen seien. Bei Lévi-Strauss verschwindet das Subjekt zugunsten der Strukturen. Er sagt: „Ich habe nie das Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist.“ An anderer Stelle heißt es bei Lévi-Strauss: „Die Welt hat ohne den Menschen begonnen und wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und und zu verstehen gesucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, im Verhältnis zu der sie keinen Sinn besitzen; sie erlauben bestenfalls der Menschheit, ihre Rolle im Rahmen dieser Schöpfung zu spielen.“ (Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, 1960). Auf Lévi-Strauss und Jacques Lacan (1901-1981) bezieht sich übrigens auch Michel Foucault (1926-1984). Der eine zeige für die Gesellschaften und der andere für das Unbewußte, daß der Sinn, als dessen Programmierer und Deuter uns z.B. Sartre immer noch ansehe, nur eine Spiegelung, ein Schaum sei, daß es das autonome System sei, was uns durchdringe und erhalte. Demnach könne es auch keine Freiheit des Denkens und auch keinen Sinn der Geschichte geben. Geschichte sei in den Strukturen gefangen.

Hermann Franz-Heinrich Schmitz (16.05.1928 - 05.05.2021) geht vom leibhaftigen „In-der-Welt-Sein“ aus. ("In-der-Welt-sein"). In einem seiner Werke (Subjektivität, 1964) heißt es: „In meiner Analyse des leiblichen Befindens setze ich mir - soviel ich sehe, zum ersten mal in der Weltliteratur - das Ziel, ein abgerundetes Begriffssystem allein auf das Zeugnis des eigenleiblichen Spürens zu gründen, also dessen, was der Mensch, wie man sagt, am eigenen Leibe spürt.“ Schmitz, der Begründer der „Neuen Phänomenologie“, arbeitete ein in 10 Büchern vorliegendes System der Philosophie aus, dessen Basis die Erfahrung der Leiblichkeit und des Augenblicks unmittelbarer Betroffenheit ist. Er setzte bei der ursprünglichen, unwillkürlichen Lebenserfahrung an. Seine Methode ist „Phänomenologie in neuem, empirisch ernüchterten Stil“; sein Grundgedanke ist, daß die „Innenwelthypothese“ Quell aller „Verfehlungen“ des abendländischen Geistes seit der Antike sei (vgl. ders.: Die vier Verfehlungen des abendländischen Geistes, in: ders.: Adolf Hitler in der Geschichte, 1999, S. 32–82). Schmitz „will beschreiben, wie die Welt sich zeigt, wenn ihr zurückgegeben wird, was man fälschlich in die vermeintlich private Innenwelt einzelner Subjekte (Seele, Bewußtsein, Gemüt, pp.) hineingesteckt hat.“ Der Sinn von Subjektivität sei neu (ohne Berufung auf Innenwelten) zu bestimmen. Mit Hilfe des „Spürens am eigenen Leib (Leiblichkeit) und des Fühlens (Gefühle)“ und der durch die Neue Phänomenologie ermöglichten kategorialen Erschließung der so wahrgenommenen Gegenstände könne erstmals der jahrtausendealte „Psychologismus“ überwunden werden. Zur falschen Innenwelthypothese gehört eben auch und besonders die Seele bzw. Psyche. Durch die „Eichung von Worten an Phänomenen“ werde die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die Menschen in die Lage versetzt werden, „über Erfahrungen zu sprechen, die ihnen wichtig werden, wenn sie nach durchdringender Enttäuschung des Lebens in Projektionen und Utopien Gelegenheit und Bedürfnis haben, ihren Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern.“ (Ders., Mein System der Philosophie, 1977). Theoretischer Kernbegriff der Philosophie von Schmitz ist der Begriff des Leibes. Sein Verständnis von Leib erläutert er so: „Wenn ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen oder tierischen Körper, den man besichtigen oder betasten kann, sondern an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein ‚Sinnesorgan‘ wie Auge oder Hand zu verfügen ....“ (Ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990, S. 115). Damit ist der für die traditionelle Philosophie klassische Dualismus von Körper und Seele radikal in Frage gestellt. Schmitz’ Neue Phänomenologie kann daher auch treffend als Leibphilosophie bezeichnet werden. Vom Leib als zentralem Gegenstand der Analyse aus gelangt Schmitz auf nahezu allen Gebieten der Philosophie zu neuen Einsichten, die er zu seinem „System der Philosophie“ zusammengefaßt hat. Eine kritische Retraktion bestimmter Aspekte des „Systems“ hat Schmitz 1990 in seinem Werk Der unerschöpfliche Gegenstand vorgelegt. Neben seinem umfangreichen systematischen Werk hat Schmitz zahlreiche philosophiehistorische Werke erarbeitet und veröffentlicht, die seine eigenen Gedanken in den Kontext der Geschichte stellen. Dabei hat sich Schmitz mit Vertretern nahezu aller Epochen der abendländischen Kultur beschäftigt.

Noam Chomsky (*07.12.1928), Sprachwissenschaftler und Begründer der „Generativen Transformationsgrammatik“, die von einem angeborenen Spracherwerbsmechanismus (L.A.D.), d.h. vom „Nativismus“ ausgeht. Wissenschaftsgeschichtleich steht Chomsky in der Tradition des Rationalismus von Leibniz und Descartes. (Rationalismus). Mit dem Ausbau des Konzepts der „angeborenen Ideen“ wendet sich Chomsky gegen die behaviouristische Sprachauffassung (wie z.B. bei Skinner). Chomsky erweiterte seine Grammatiktheorie zu einer Theorie des Spracherwerbs, indem er die Entwicklung der Kompetenz durch einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus („Language Acquisition Device“) auf der Basis von grammatischen Universalien erklärte. Eine endliche Menge von Kernsätzen, die durch kontextfreie Phrasenstrukturregeln erzeugt werden, bilden die Basis für die Anwendung von Transformationsregeln, die einen prinzipiell unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln gewährleisten. Die These der Transformationsgrammatik begründete Chomsky in seinen „Syntactic Structures“ (1957), und diese Syntaxtheorie erweiterte er später mit seinen „Aspects of the Theory of Syntax“ (1965) zu einer allgemeinen Grammatiktheorie (inklusive Phonologie und Semantik).

Nativismus nennt sich die philosophisch-psychologische Position, die die kognitive Entwicklung des Menschen primär aus der Existenz von „angeborenen Ideen“ ableitet. In der neueren Sprachwissenschaft finden sich nativistische Erklärungsversuche vor allem bei Chomsky, der damit die Tradition rationalistischer Sprachauffassung Descartes', Leibniz u.a. sowie neuhumanistischer Sprachauffassung Humboldts u.a. fortsetzt. Die Gegenposition vertritt der Empirismus. Tabelle

Logistik (mathematisierte Logik oder symbolische Logik) ist die moderne Form der Logik. Sie unterscheidet sich von der älteren, traditionellen Logik vor allem durch ihre Formalisierung (d.h. sie berücksichtigt nicht die inhaltlichen Bedeutungen der einzelnen Ausdrücke, sondern nur ihre syntaktische Kategorie und deren strukturelle Beziehungen) und Kalkülisierung (d.h. die Ausdrücke können nach festen Operationsregeln rein formal umgeformt werden, man kann mit ihnen logisch rechnen). Vgl. die Begründung der Logistik durch Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848-1925). Die analytische Philosophie beruft sich auf Logik als wissenschaftliche Sprache. Die bahnbrechende Arbeit dazu lieferte Frege mit seiner Begriffschrift (1879). Sie erweiterte die aristotelische Syllogistik, löste die dort nicht formulierbaren Probleme durch symbolische Wiedergabe von Sprachausdrücken. (Aristotelische Logik). Freges Grundlagen der Arithmetik (1884) machte alle Philosophie der Zahl vor Frege „zu einem Konglomerat von 'Unsinn' in des Wortes strengster Bedeutung“ (B. Russel), weil sie einen grammatischen Fehler machte. Sie verwechselte die Zahl (z.B. 3) als Anzahl von Anzahlen (Gattung aller Dreiheiten) mit der Anzahl einer gegebenen Dreiheit (bloße Anzahl). Erst Frege unterschied und hielt dies und mehr ganz genau auseinander. Freges Schrift Über Sinn und Bedeutung (1892) wurde sogar bibelartige Grundlage der modernen Semantik.

„Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus. .... Jeder ist der Andere und keiner er selbst.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 127-128). In der Öffentlichkeit wird das Dasein in der Regel vom „Man“ beherrscht. Dieser Öffentlichkeit stellt Heidegger bekanntlich die „Eigentlichkeit“ entgegen. Von der Öffentlichkeit deutlich zu unterscheiden ist also bei Heidegger die Offenheit, das Offene, die „Lichtung“ !

Martin Heidegger (1889-1976) im Gespräch mit Rudolf Augstein (1923-2002), in: Spiegel (10), 1966. Kommentar

Peter Sloterdijk (*26.06.1947), Der Denker auf der Bühne - Nietzsches Materialismus, 1986.

Peter Sloterdijk (*26.06.1947) in: Focus (34), 21.08.2000; S. 86. Weiter heißt es: „In diesem Sinn ist Nietzsche der größte Lehrer der individualistischen Lebensentscheidung gewesen. Wenn ... über dem Tor der Alten Welt die Inschrift stand: Erkenne dich selbst!, so liest man über dem Tor zur modernen Welt: Werde du selbst! In Nietzsches Perspektive ausgelegt, bedeutet der erste Spruch: halte dich in der Mitte und überschätze dich nicht! Der zweite will hingegen sagen: Beende die Selbstunterschätzung und verlange mehr von dir!“

Gilles Deleuze (1925-1995) interesierte sich, ähnlich wie Peter Sloterdijk (*1947) für die umgekehrte Freud-Perspektive (vgl. Freuds Individual-Perspektive Freud), nämlich für die Frage: „Welche genuin gruppen- und massendynamischen Energien artikulieren sich in den Kollektiven und nur dort.“ (Vgl. Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 77-78).

Die Umfrage lautete: Wohin geht die Philosophie? 1999 erschien das Buch „Quo vadis, Philosophie? Antworten der Philosophen. Dokumentation einer Weltumfrage“.

Die Beweise sind doch evident: im heutigen Deutschland stellt schon allein sein Name nur noch ein Appell an Geldbörse und schlechtes Gewissen dar, schon allein die Worte „deutsch“, „deutsches Volk“, „national“ u.s.w. werden hier als „Kriegserklärung“ empfunden (mit der scheinheiligen Begründung, auch das hätte Hitler verursacht - dieser „ewige Minusmessias“); und daß heute die meisten jungen Deutschen ihre eigene Sprache gar nicht mehr kennen (wollen), aber in jedem Gespräch peinlich genau auf die phonetischen und orthographischen Regeln der englischen Sprache achten, beweist doch allein schon, daß gerade die als nicht-typisch-deutsch sich bezeichnenden Deutschen typisch deutsch sind, daß hier also eine Selbst-Negation vorliegt und daß die „Verantwortlichen“ Deutschlands trotz ihres Willens zur Rettung und Versorgung der Welt mit Deutschland und den Deutschen gar nichts mehr anfangen können (wollen). Diese „Regierenden“ sprechen von Geschichtsverarbeitung, meinen aber Dogmenbefolgung und kommen selbst dabei nicht einmal über 12 braune Jahre hinaus. Das ist keine Geschichtsverarbeitung, sondern Geschichtsverdrängung, um nicht zu sagen: „Post-Nihilismus“. Deutschland ist alt geworden, und mit ihm das Abendland. Geschichtlichkeit (Geschichtlichkeit): sie ist eines der wesentlichen Erkennungsmerkmale des Abendlandes, und genau deswegen waren schon die ersten abendländischen Nihilisten dazu verdammt, die eigene Geschichte ganz aktiv zu verdrängen oder sie als abschreckendes Beispiel ganz dynamisch auf die Zukunft zu projizieren: „Der faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale“, konnte Spengler schon 1917 (S. 456) konstatieren; und über die Nihilisten der passiv oder statisch orientierten Kulturen schrieb er: „der apollinische, Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen; der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück.“ (ebd., S. 456). - Deutschland versorgt Europa und viele Teile der restlichen Welt großzügig und gefällt sich auch in der Rolle des wohltätigen Geldgebers, wie ein älterer Familienvater (und in Deutschland wird „Vater Staat“ ja auch nur in diesem Sinne verwendet und gebraucht). Bedenklich ist nur, daß dieser Zahlmeister sich selbst freiwillig aufgibt. Obwohl Deutschland das „Rentenalter“ noch gar nicht erreicht hat, will es (freiwillig!) nicht mehr sein. Der Untergang des Abendlandes ist wie der Aufgang des Abendlandes primär eine Geschichte der Westeuropäer, insbesondere der Deutschen. - Gute Nacht!

Zitat aus der Werbung „Baden-Württemberg“. Das Alemannische ist (neben dem Bairischen) Hauptbestandteil des Hochdeutschen. Die heutigen Alemannen aber wollen ganz offensichtlich keine Alemannen mehr sein. Schon andere Alemannen - die Elsässer (Hochalemannen) - wollten ja schon des öfteren keine Alemannen mehr sein, sondern lieber die „Ossis“ der Franzosen. Die Alemannen kennen offenbar sich selbst sowie die Herkunft und die Bedeutung ihres Dialektes nicht mehr. Auch hier gilt die aus dem Nihilismus erwachsene Regel, daß typisch deutsch ist, wer behauptet, nicht typisch deutsch zu sein. Hier werben typische Deutsche ganz öffentlich für das Nicht-Deutsche und gleichzeitig für den Analphabetismus (trotz Jugendgefährdung und „Pisa-Studie“). - Reklame für das „Nichts“. Willkommen im Nirwana!

Auf die vorhistorischen Hominiden folgte der historische Hominide namens Homo sapiens sapiens, auf den vormodernen Humanismus folgt der moderne Hominismus. Damit schließt sich vorerst der Kreis. Schon im 13. Jahrhundert sollen Alchimisten erste Experimente unternommen haben, um einen künstlichen Menschen im Reagenzglas zu erzeugen. Goethe ließ im 2. Teil des Faust den Famulus Wagner einen Homunkulus nach Anleitung des Paracelsus erzeugen. Heute scheinen sich die Möglichkeiten zur Erschaffung des Menschen nach eigenen Wünschen konkretisiert zu haben. (Vgl. Kult-Uhr).

Vgl. hierzu : 10-12 und 12-14 sowie unter: Frühdenker und Hochdenker.

Jesus (7 / 4 v. Chr. - 26 / 30 n. Chr.) ist Urheber und zentrale Gestalt des Christentums. Das Christentum umfaßt die Auswirkungen des Glaubens an Person und Wirken Jesu Christi, wie er von den christlichen Kirchen und Gemeinschaften in der Auseinandersetzung mit fremden Religionen, den geistigen und weltanschaulichen Strömungen der verschiedenen Zeiten sowie mit den politischen Mächten entwickelt worden ist. In Rom galt die christliche Gemeinde zunächst als jüdische Sekte. Der römische Staat entzog dieser schnell wachsenden Gemeinschaft bald die religiösen und rechtlichen Privilegien, die er dem Judentum gerade eingeräumt hatte. Die Auseinandersetzung mit dem Römischen Reich wurde intensiv seit der Mitte des 3. Jahrhunderts geführt. Auf das Toleranzedikt des Galerius und Licinius, 311, folgte die Bekehrung Konstantins und mit dem Toleranzedikt von Mailand (313) die Einstellung der Christenverfolgungen. Konstantin der Große machte das Christentum zu der mit allen zeitgenössischen Kulten gleichberechtigten und schließlich zur allein berechtigten Religion im Reich (Konzil von Nicaea, 325). Damit hatte er eine Entwicklung eingeleitet, die zur Entstehung der Reichskirche als einer vom Reich letztlich abhängigen Einrichtung führte. Durch den oströmischen Kaiser Theodosius I. wurde 380 mit dem Edikt von Thessalonike der Athanasianismus (Katholizismus) begründet, im 1. Konzil (= 2. Ökumenisches Konzil, 381) von Konstantinopel das (konstantinopolitanische) Glaubensbekenntnis formuliert und das Nizänum bestätigt, 391 das Christentum überhaupt Staatsreligion, damit alle heidnischen Kulte verboten. 395 teilte sich das Reich in West- und Ostrom, 455 eroberten die Wandalen Rom und 476 erlosch das Weströmische Reich endgültig mit der Absetzung des Romulus Augustus durch den Germanen Odowaker (Odoaker), aber die römische Kultur wurde von den Eroberern nicht zerstört, die arianische Christen waren und mit der unterworfenen Bevölkerung, die römisch-katholisch war, die erste und für die Christen-Geschichte wichtigste Verschmelzung eingingen. Für die geschichtliche Erkenntnis Jesu ist man nahezu ausschließlich auf die Evangelien des Neuen Testaments angewiesen. Derjenige, der das Christentum erst zur Weltreligion machte, war Paulus. (Vgl. 0-2 und 2-4 sowie 4-6). Christentum

Paulus († 29.06.66 oder 67; enthauptet), christlicher Heidenapostel, machte das Christentum durch Überwindung der nationalen und traditionellen Bedingtheiten seitens des Judenchristentums zur Weltreligion, indem er den übernationalen Charakter der durch den Glauben an Christus begründeten Heilsgemeinschaft betonte. Er war Verfasser zahlreicher neutestamentlicher Schriften. Als Quellen zur Rekonstruktion seines Lebens dienen vor allem die wirklich von ihm verfaßten Briefe an die Gemeinden in Rom, Korinth, Galatien, Philippi, Thessalonike und an Philemon, die alle aus der Zeit zwischen 50 und 56 stammen. Bei der spekulativen Durchdringung des Christentums verwendete er Elemente der stoischen und jüdisch-hellenistischen Philosophie. Seine vielen Missionsreisen führten am Ende zur Verhaftung in Jerusalem, zur Überführung nach Rom und dort zur Enthauptung (Märtyrertod). (Vgl. Mission und Apostelkonzil). Paulus gilt als der bedeutendste Missionar des Urchristentums. In seiner mehrjährigen Missionstätigkeit auf Zypern, in Kleinasien, Syrien, Griechenland, Makedonien u.a. Regionen verkündete er kompromißlos das Evangelium frei von Gesetzesbindungen und trat dadurch natürlich in Gegensatz zum Judenchristentum der Urgemeinde. Er knüpfte besonders an die nachösterliche Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Herrn und seine Bedeutung für das Heil der Menschheit an. Die durch den Tod und die Auferstehung Christi eingetretene Wende der Heilsgeschichte zeigt sich nach Paulus vor allem darin, daß der jüdische Heilsweg, der in der Erfüllung der Gesetzgebung als der Verpflichtung gegenüber dem Bund mit Jahwe steht, aufgehoben ist (!), die Rechtfertigung* ausschließlich aus dem Glauben erlangt werden kann (!). (*Rechtfertigung ist ein Begriff der christlichen Theologie, mit dem der Vorgang reflektiert wird, daß das durch die Sünde gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Gott in einen als „heil“ geglaubten Zustand überführt wird). Der Glaube kann auch nicht als Werk des Menschen aus sich selbst verstanden werden, sondern als Gabe und als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Der Mensch ist in allen seinen Aspekten („Geist“, „Seele“, „Leib“) aufgerufen, das in Christus geschenkte neue Leben zu verwirklichen. In seinem Verhalten ist der Mensch jedoch nicht auf sich allein gestellt, sondern ist Mitglied der Gemeinde des auferstandenen Herrn. Diese ist schon gegenwärtig der Leib Christi, wird aber gleichzeitig von der Hoffnung auf die endgültige Wiederkunft (Parusie) des Herrn geleitet und ist in dieser Spannung von „schon“ und „noch nicht“ Träger seines Geistes.

48 fand das Apostelkonzil in Jerusalem statt, an dem auch Petrus und Paulus teilnahmen. Anlaß des Apostelkonzils war die Frage, ob „Heiden“, die zum Christentum übertreten, sich der Beschneidung und dem jüdischen Gesetz unterwerfen müssen. Das Apostedekret ist der vom Apostelkonzil (Apg. 15; Gal. 2, 1-10) den Christen Antiochias, Syriens und Kilikiens (heute: Südanatolien) mitgeteilte Beschluß, daß sie zur Beobachtung (Befolgung) des mosaischen (israelitisch-jüdischen) Gesetzes nicht verpflichtet seien (!). Also war das Apostelkonzil ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Universalkirche.

Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 - 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor?  Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).

 

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© Hubert Brune, 2001 ff. (zuletzt aktualisiert: 2014).