Totalnihilismus als Hochmodernistik
oder Hochnihilismus als Hochmodernistik?
Der Nihilismius ist der Standpunkt der absoluten Negation und wurde als Terminus
schon von Friedrich Heinrich Jacobi
(1743-1819) in seinem Sendschreiben an Fichte (1799) eingeführt.
Der theoretische Nihilismus verneint die Möglichkeit einer Erkenntnis der
Wahrheit (wie der Agnostizismus die Erkennbarkeit des wahren Seins), der ethische
die Werte und Normen des Handelns, der politische jede irgendwie geartete Gesellschaftsordnung.
Vielfach ist der Nihilismus nur ein radikaler Skeptizismus,
z.B. bei Schopenhauer
(1788-1860), Nietzsche
(1844-1900) u.a.. Man muß sich nur bestimmte Namen (z.B. Platon, Aristoteles,
Kant, Hegel, Goethe u.s.w.) in Erinnerung rufen, um festzustellen, daß es
natürlich kein Zufall ist, wenn der Nihilismus in allen Kulturen in der Phase
des Idealismus entsteht.
Er stellt eine Reaktion auf die klassische (auch klassizistisch
genannte), auf die (napoleonisch)
unumschränkt herrschende idealistische Allmacht dar. Er entwickelt sich also
als unmittelbare Folge auf den Idealismus und erreicht seinen Höhepunkt -
eher sollte man von Tiefpunkt sprechen -, wenn die Klassiker
endgültig von der Bühne abgetreten sind und sich das Gefühl durchsetzt,
daß die obersten Werte sich entwerten, jene Werte, die allem Tun und Leiden
der Menschen erst Sinn geben, daß es nichts mehr gibt, wofür es sich
zu leben oder zu sterben lohnt, daß das Bewußtsein aufkommt, es sei
alles umsonst. Alles, was ist, auch das menschliche Erkennen, ist ab jetzt Erscheinungsform
des Willens zur Macht; hier gibt es kein absolutes Sein mehr, denn Sein ist ab
jetzt Werden, aber kein endloses Neuwerden, sondern ewige Wiederkehr
dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist. Die ewige Sanduhr
des Daseins wird immer wieder umgedreht. (Nietzsche). So sehr Wahres
in Nietzsches Aussagen steckt, so sehr sind bestimmte spätere Folgen, die
sich daraus für Menschen ergeben können, als ein wohl kaum noch zu therapierendes
Symptom zu bezeichnen, das sich in einer 180°-Drehung
(vgl. Negation der Negation, Hegel)
und schließlich in einer absoluten Selbst-Negation
ausdrücken kann. Überwinden sollte Nietzsches Sei
du selbst (  )
den Scheinmenschen, den Heidegger
(1889-1976) später als Man
bezeichnete, aber nach dem alles entscheidenden Weltmachtskrieg
gab es besonders auf der Seite der Kriegsverlierer einen Seitenwechsel,
durch den das Sei du selbst zwar noch nicht aufgehoben, aber bereits
neo-nihilistisch relativiert wurde zu einem Sei du selbst der alliierte
Sieger (auch als Verlierer!?). Später, im Postnihilismus
gelang die 180°-Drehung mit dem Slogan Sei du selbst der
Fremde (Sei du selbst der Ausländer). Also war man spätestens
seit etwa 1968 Sieger statt Verlierer und später auch Nicht-Deutscher statt
Deutscher, Ausländer(In) statt Inländer(In). Man war immer nur der gute
Mensch, zwar ein selbstbewußtloser, aber gut. Und das ist auch gut
so, wurde zu einer ernst gemeinten Rechtfertigung der völlig Verunsicherten.
Die Tatsachen wurden verdreht, man machte die ältere Generation einfach zum
Buhmann, die entweder abzutreibende oder abzuschreibende jüngste Generation
zum Scheidungsproblem und wähnte sich dennoch als der ewig gute, stets moralisch
die Grundstellung einnehmende Missionar. Ohne Geschichte wirklich (!) zu bedenken,
bestand die nach dem 2. Weltkrieg erfolgte Geschichtsverarbeitung
also darin, sich selbst zu verleugnen. Heute ist es nicht mehr nur die elterliche
Herkunft, sondern sogar die eigene Sprache, die verleugnet wird: Wir können
alles, außer Hochdeutsch (!). Hochdeutsch
entwickelte sich primär aus dem Oberdeutschen (Alemannisch, Bairisch). (Vgl.
DEUTSCH: AHD,
Früh-MHD,
Klassisches
MHD, Spät-MHD,
 Früh-NHD,
Klassisches
NHD, Hochklassik
des NHD und Spät-NHD).
Geschichtlichkeit
ist eines der wesentlichen Erkennungsmerkmale des Abendlandes, und genau deswegen
waren schon die ersten abendländischen Nihilisten dazu verdammt, die eigene
Geschichte ganz aktiv zu verdrängen oder sie als abschreckendes Beispiel
ganz dynamisch auf die Zukunft zu projizieren: Der faustische Nihilist,
Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale, der apollinische,
Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen;
der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück. (Oswald Spengler,
1917 S. 456).  Vermutlich
kam Oswald Spengler (1880-1936) besonders durch Friedrich Nietzsche
(1844-1900) zu der Erkenntnis, wie sehr das Abendland sich seiner Kulturkleider
bereits zu seiner Zeit entledigt hatte, um zu Bett zu gehen. Wenn der Kulturherbst
die meisten Blätter bereits von den Bäumen geblasen hat, dann ist an
den halbnackt dastehenden Bäumen, nimmt man sie als Metapher, der Kulturabbau
besser zu erkennen als z.B. im immergrünen und trotzdem bereits abbauenden
Sommer, der, so gesehen, vom Frühling profitiert (wie die Hochdenker
von den Frühdenkern).
Die ersten, noch winterlichen Gewächse (z.B. die Germanenreiche), die ersten
Blüten im Frühling (z.B. das fränkische und sächsische Reich)
und die hellgrün leuchtenden Bäume im Frühling (z.B. das salische
und staufische Reich): sie stehen für den Kulturaufbau.
Deshalb ist die Gotik
und sind die gotischen Kalhedralen der Inbegriff für den Abschluß des
Kulturaufbaus, der kulturelle Sommer aber der Inbegriff für dessen Fortsetzung
als stolzes Beharren und Verteidigen (ganz im Sinne der Gegenreformation und des
Barock)
- mit dem absolutistisch-barocken Höhepunkt im Hochsommer (wie sollte es
auch anders sein). Aber zur der Zeit, als Nietzsche und Spengler lebten und der
kulturelle Herbst wie ein nahender Untergang am stärksten zu spüren
war, da war selbstverständlich auch der Nihilismus am stärksten. Daß
er heute nicht mehr so stark bzw. modifiziert ist, ändert nichts an der Tatsache,
daß sich der Untergang weiter fortsetzt, denn ab jetzt ist es nicht mehr
der Nihilismus selbst, sondern sind es seine Folgen, die diesen Prozeß mit
gleicher Geschwindigkeit oder gar mit Beschleunigung vorantreiben, wie später
z.B. die rapide Zunahme von Kinderlosigkeit
und Kinderfeindlichkeit
beweisen sollte.  Die
von Arthur Schopenhauer
(1788-1860) entwickelte willensmetaphysische Lebensphilosophie wurde nicht nur
zur Modephilosophie des 19. Jahrhunderts, sondern auch ein ernster Wegbereiter
für Nachfolgerund Nachahmer. ( ).
Bereits Kierkegaard
mit seinem Existenz-Subjektivismus, dann Nietzsche
und Spengler,
später die Existenzphilosophen Heidegger,
Jaspers und Sartre, um nur einige Beispiele zu nennen, blieben dieser ersten abendländischen
Lebensphilosophie, diesem Skeptizismus treu. Ob auch Sloterdijk
dieser Richtung folgten oder sogar eine abendländische neu-akademische
Skepsis begründen wird, ist noch nicht abzusehen, denn er gehört
unserer Gegenwart an und ist noch jung. Jedenfalls wird die internationale Schopenhauer-Gesellschaft
wohl auch in Zukunft eine Schule von Dauer bleiben, denn ebenso verhielt es sich
in der Antike mit der Weiterentwicklung des Pyrrhonismus (Pyrrhons
Skeptizismus). Einer der Schopenhauer-Anhänger,
der Nietzsche-Freund Paul Deussen, (1845-1919) und die beiden Schüler Gwinner
und Kohler, gründeten am 30.11.1911 jene internationale Gesellschaft mit
dem Ziel, das Studium und das Verständnis der Schopenhauerschen
Philosophie zu fördern. Diesem Ziel dienen natürlich noch
heute das Schopenhauer-Archiv, als Zentralstelle der Schopenhauer-Forschung, die
seit 1912 erscheinenden Jahrbücher der Gesellschaft und ihre internationalen
wissenschaftlichen Tagungen. Paul Deussen war auch Übersetzer
und Darsteller der indischen Philosophie, deren Gedanken er mit der Philosophie
Schopenhauers zu einer Metaphysik vereinigte.
Friedrich Nietzsche
(1844-1900) war von Schopenhauers Willensmetaphysik und vom Kampf-ums-Dasein-Prinzip
seiner Zeit stark beeinflußt. Der Kampf ums Dasein stammt also
ursprünglich von Schopenhauer und nicht von Darwin, der Schopenhauer nur
kopierte - 40 Jahre später (!). Daß ihm Schopenhauer nicht nur ein
Lehrer, sondern vor allem ein Erzieher gewesen ist, betonte Nietzsche in
seiner 1867 verfaßten Abhandlung über Schopenhauer deutlich
und mit Nachdruck. Trotzdem kommt man nie auf Nietzsches Resultat. Sein Zarathustra
(1883) ist vielleicht der romantisch verkleidete Wille zur Macht.
Nietzsche nannte sein bekanntestes Werk nach Zarathustra (7. / 6. Jh. v. Chr.),
weil dieser im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad
im Getriebe der Dinge gesehen habe. ( ).
Da Nietzsche für sein eigentliches Hauptwerk mit dem Titel Der Wille
zur Macht - Versuch einer Umwertung aller Werte nur Notizen und Aphorismen
hinterließ, gab seine Schwester Elisabeth dieses Material als Buch unter
dem Titel Der Wille zur Macht heraus. Nietzsches
Wort Nihilismus bedeutet die Erscheinung, daß die obersten Werte
sich entwerten, jene Werte, die allem Tun und Leiden der Menschen erst Sinn geben,
daß es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben oder zu sterben lohnte,
daß das Bewußtsein aufkommt, es sei alles umsonst. Von Schopenhauer
und Darwin ausgehend, wollte Nietzsche den neuen Menschen, den Übermenschen
schaffen, dessen Aufgabe es sein sollte, alles Verlogene, Krankhafte, Lebensfeindliche
zu vernichten. ( ).
Seine Philosophie sollte an die Stelle eines philosophischen Nihilismus treten,
den er herannahen sah. Nietzsches metaphysische These läuft auf den Willen
zur Macht und auf eine Schicksalhaftigkeit hinaus. Alles, was ist, auch das menschliche
Erkennen, ist Erscheinungsform des Willens zur Macht; es gibt kein absolutes Sein,
sondern Sein ist Werden, aber kein endloses Neuwerden, sondern ewige
Wiederkehr dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist. Die
ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht. Nietzsches Bedeutung
liegt aber nicht in der Metaphysik, sondern in dem Beitrag, den er für die
Bekämpfung des spekulativen Denkens und vor allem für die Einbeziehung
des Denkens in das Leben geleistet hat. Der Denker auf der Bühne
heißt er bei Sloterdijk
(*1947). Nietzsche lehrt einen Amor fati: Schicksal, ich folge
dir freiwillig, denn täte ich es nicht, so müßte ich es ja doch
unter Tränen tun. (Vgl. Macht
& Schicksal). Die Botschaft an die nächsten Erben der Lebensphilosophie:
Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören
will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem
Gewissen, welches ihm zuruft:
»sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst,
begehrst«.
(Friedrich Nietzsche,
Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6)
Dieser
öffentlich meinende Scheinmensch läßt sich als Vorwegnahme
des Man bei
Heidegger
(1889-1976) deuten - laut Heidegger wird das Dasein in der Öffentlichkeit
in der Regel vom Man beherrscht: Jeder ist der Andere und Keiner
er selbst; und die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das
so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus. Die Öffentlichkeit
ist also etwas ganz anderes als die Offenheit, das Offene (Lichtung).
Die Öffentlichkeit ist das Gegenteil zur Eigentlichkeit. ( ).
Es besteht also eine Linie von Schopenhauers Lebensphilosophie
( ),
dem Analogon zu Pyrrhons Skeptizismus,
über Nietzsche und Heidegger zu Sloterdijk
und einigen Zukünftigen. Es besteht Einigkeit darüber, daß Nietzsche,
dieser freie Hyperbel-Kritiker (= Skeptiker), ein sprachschöperischer
Schriftsteller hohen Ranges, daß er einer der bedeutendsten Aphoristiker
und Essayisten und daß er ein Dichter war. Das Verständnis seiner Philosophie
ist allerdings erschwert durch die sophistische Form, in der er sie vorträgt.
Er war ein großer Bühnendenker. - Also
sprach Friedrich:
- Zarathustras
Vorrede (S. 6) - »Ich
muss, gleich dir, u n t e r g e h e n
, wie es die Menschen nennen, zu denen ich hinab will. .
»Siehe ! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra
will wieder Mensch werden.«
Also begann Zarathustras Untergang.-
Zarathustras Vorrede (S. 8) -»Sollte
es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts
davon gebört, dass G o t t t o d t
ist!«-
Zarathustras Vorrede (S. 8) -I c h
l e h r e e u c h d e n
Ü b e r m e n s c h e n .
Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr
gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich
hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum
Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? Was ist der Affe
für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.
Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter
oder eine schmerzliche Scham: Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht,
und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch
ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe. Wer aber der Weiseste von euch
ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst.
Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden? Seht, ich lehre
euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer
Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!-
Zarathustras Vorrede (S. 13-14) -Seht!
Ich zeige euch den l e t z t e n M e n s c h e n . Was
ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?
so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden,
und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht
ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir
haben das Glück erfunden« sagen die letzten Menschen und
blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben; denn
man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm:
denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft:
man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine und Menschen
stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und
viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit
ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife. Man
wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren
? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und
Eine Heerde! Jeder will das Gleiche. Jeder ist gleich: wer anders fühlt,
geht freiwillig ins Irrenhaus. »Ehemals war alle Welt irre«
sagen die Feinsten und blinzeln. Man ist klug und weiß Alles,
was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch; aber
man versöhnt sich bald - sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen
für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht, aber man ehrt
die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden«
sagen die letzten Menschen und blinzeln.-
Zarathustras Vorrede (S. 16) -»Nicht
doch«, sprach Zarathustra, »du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht,
daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür
will ich dich mit meinen Händen begraben.«-
Von den drei Verwandlungen (S. 25-27) -Drei
Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird,
und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. Vieles
Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht
innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke. Was
ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele
gleich, und will gut beladen sein.
. Neue Werthe schaffen - das vermag
auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen
- das vermag die Macht des Löwen. Freiheit sich schaffen zu neuen Werthen
und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf
es des Löwen.
. Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen,
ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja,
zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: s e i n e n
Willen will nun der Geist, s e i n e Welt
gewinnt sich der Weltverlorene.-
Von der Nächstenliebe (S. 75) -Meine
Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch zur
Fernsten-Liebe.-
Vom Wege des Schaffenden (S. 78)-Einsamer,
du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein Weg vorbei,
und an deinen sieben Teufeln!-
Von alten und jungen Weiblein (S. 82)-Du
gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!-
Von der schenkenden Tugend (S. 98) -»Todt
sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe.«
- diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! - -
Von den Priestern (S. 115) - Und
noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder,
erlöst werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab
es einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den
kleinsten Menschen: - Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich,
auch den Grössten fand ich - allzumenschlich!-
Von der Selbst-Ueberwindung (S. 145) -Nur,
wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern
Wille
zur Macht!-
Von der unbefleckten Erkenntnis (S. 153) -Wo
ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus
schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. Wo ist die Schönheit
? Wo ich mit allem Willen wollen muss; wo ich lieben und untergehn will,
dass ein Bild nicht nur Bild bleibe. Lieben und Untergehn: das reimt sich
seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode.
Also rede ich zu euch Feiglingen!-
Vor Sonnen-Aufgang (S. 205) -Wahrlich,
ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: »über
allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr,
der Himmel Übermuth.«
. Diesen Übermuth und diese
Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: »bei
Allem ist Eins unmöglich - Vernünftigkeit!« Ein wenig Vernunft
zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, - dieser Sauerteig
ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen
eingemischt! Ein wenig Weisheit ist schon möglich, aber diese selige
Sicherheit fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen
des Zufalls - tanzen.-
Der Genesende (S. 268-269) -Alles
geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt,
Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht,
Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles
scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In
jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte
ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.-
Der Genesende (S. 273) -Ich sprach
mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein Loos -, als Verkünder
gehe ich zu Grunde! Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber
segnet. Also - e n d e t Zarathustras
Untergang.-
Die sieben Siegel (oder: Das Ja-und Amen-Lied; S. 283-287)
-Oh wie sollte ich nicht nach der
Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, -
dem Ring der Wiederkunft! Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte,
es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit! D e n n
i c h l i e b e d i c h ,
o h E w i g k e i t ! (Friedrich
Nietzsche,
Also sprach Zarathustra, 1883-1885) Gott
ist tot und mit ihm unsere ganze europäische Moral, verkündet
der tolle Mensch in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft
(1882). Wir Philosophen und freien Geister fühlen uns bei der Nachricht,
daß der alte Gott tot ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt;
unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung
- endlich erscheint uns der Horizont wieder frei. Im Jenseits von Gut
und Böse (1886) schildert Nietzsche Jesu Martyrium als sein eigenes:
Das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, ... das Liebe,
Geliebtwerden und Nichts außerdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn,
mit furchtbaren Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten. ...
Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiß, sucht den Tod.
Nietzsche preist in seinem Buch Morgenröte (1881) im Gegenstaz zu
den bisherigen Werten des Wohlbefindens, der Wissbegier, des Friedens, des Mitleidens
und der Arbeit die Grausamkeit, die Verstellung, die Rache, den Wahnsinn als Tugend.
Denn das seien die ehemals geltenden, durch die spätere Kultur, besonders
des Christentums, verdeckten und unterdrückten eigentlichen, beim früheren
kriegerischen Menschen noch zu findenden Charaktere des Menschen, die den Menschen
der Zukunft wieder auszeichnen sollten. 
Sehen
wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, wir wissen gut genug, wie abseits
wir leben. »Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern
finden«: das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des
Eises, des Todes - u n s e r Leben, u n s e r
Glück.« ... Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg,
wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn
s o n s t? Der moderne Mensch etwa? »Ich weiss
nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus noch ein weiss«
seufzt der moderne Mensch ... An d i e s e r
Modernität waren wir krank, am faulen Frieden, am feigen Comppromiss,
an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz
... des Herzens, die Alles »verzeiht«, weil sie Alles »begreift«.
(Friedrich Nietzsche,
Der Antichrist, 1889, S. 5). Ich
kenne mein Loos, es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures
anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision,
an eine Entscheidung, heraufbeschworen g e g e n
Alles, was bis dahin geglaubt und geheiligt war. Ich bin kein Mensch, ich
bin Dynamit. - Und in alledem ist Nichts in mir von einem Religionsstifter
- .... Ich w i l l keine »Gläubigen«,
ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede
niemals zu Massen. .... Ich habe eine schreckliche Angst davor, dass man mich
eines Tages h e i l i g spricht: man wird
errathen, weshalb ich dies Buch v o r h e r
herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt. .... Ich
will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. .... Vielleicht bin ich ein
Hanswurst. .... Und trotzdem oder vielmehr n i c h t
trotzdem - denn es gab nichts Verlogeneres als Heilige - redet aus mir die
Wahrheit. - Aber meine Wahrheit ist f u r c h t b a r :
denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit. - U m w e r t h u n g
a l l e r W e r t h e :
das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der
Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist. (Friedrich
Nietzsche,
Warum ich ein Schicksal bin, in: Ecce homo, 1889, S. 111). |
Nietzsche
war der Chefdesigner des mächtigsten Mentalitätsstroms der Moderne:
des Individualismus. (Peter Sloterdijk,
2000)
Zu der Zeit, als Nietzsche
seine modernen Werke schrieb, waren z.B. das Telefon, die Mendelschen Gesetze,
das Periodensystem der Elemente, der Viertakt-Motor, die Elektrolokomotive schon
bekannt, die Mengentheorie, die Gruppentheorie, der Benzin-Motor, der Kraftwagen
wurden gerade entwickelt, der Elektromagnetismus wurde gerade bewiesen, die Arktis
intensiv erforscht, der Kinematograph nahezu vollendet, und auch Benzin- und Diesel-Motor
sowie Röntgen-Strahlen wurden ebenfalls bekannt. ( ).
Als Nietzsche 1900 starb, startete Graf Zeppelins erstes
Luftschiff gen Himmel und Plancks
Quantentheorie in die diskrete Natur (von Quanten und Chaos):
die mikrophysikalischen Größen machten infolge Bestehens von Unschärferelation
den prinzipiell nicht mehr zu vernachlässigenden Einfluß der Meßgeräte
auf den Ausgang einer Messung an einem mikrophysikalischen System sowie den experimentell
gesicherten Welle-Teilchen-Dualismus deutlich. Hier war man erstmals an die Grenzen
der klassischen Physik gestoßen und mußte sich auf die
Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit einstellen. ( ).
Ähnlich revolutionierend wirkten in der Antike um 250 v. Chr. Aristarchos
(ca. 312-230) und Archimedes
(285-212). Spengler nannte solche ähnlichen Entwicklungen, Phänomene
und Personen gleichzeitig. ( ).
Für ihn waren Pythagoräer und Puritaner, Polykrates und Wallenstein,
Sokrates und Rousseau, Phidias und Mozart, Platon und Hegel, Stoiker und Sozialisten,
Pergamon und Bayreuth genauso gleichzeitig wie für mich Aristarch
bzw. Archimedes und Planck
oder Einstein
bzw. Hahn oder Heisenberg.
Sie und ihre Zeit stehen für die revolutionäre Denkart,
die die traditionelle ihrer jeweiligen Kultur erschütterten: Aristarch und
Archimedes, indem sie die statische Denkweise der Antike mehr in Richtung auf
eine dynamische lenkten, Planck und Einstein (Hahn, Heisenberg u.a.), indem sie
die dynamische Denkweise des Abendlandes relativierten. ( ).
Diese Denkweisen zeigten die Grenzen der bis dahin gültigen wissenschaftlichen
Denkweisen genauso auf wie die Nihilisten die bis dahin gültigen philosophischen,
wobei es in der Antike um einen Ausbruch aus den geschlossenen Grenzen und im
Abendland um einen Einbruch in die offenen Unbegrenztheiten ging. ( ).
Und trotz dieser Erschütterungen behielten in den beiden Kulturen
die alten Normen ihre Wertigkeit - jedenfalls wissenschaftlich: das Relativitätsprinzip
der klassischen Mechanik (Galilei, Newton u.a. )
wurde durch ein zweites (Planck, Einstein u.a.) ergänzt, aber nicht ersetzt!
In der Antike wurde die Folgelosigkeit der Erschütterung, d.h. ihre Unerschütterlichkeit
(ataraxia),
sogar besonders deutlich, weil z.B. das heliozentrische Weltbild des Aristarchos
bald in Vergessenheit geriet. Das Entscheidende (und auch Unterscheidende) ist,
daß es sich bei den Analogien nicht um malerische Pendants oder
anekdotische Spielereien handelt, sondern um ein schöpferisches Erfassen
von Gestalten und Bildungen, in denen die tiefste und innerlichste Symbolik eines
jeden Zeitalters sich ihren Ausdruck erzwungen hat. Nach Spengler sind Jugend,
Reife, Verfall keine poetischen Floskeln, sondern biologische Formzustände,
morphologische Tatsachen, mit denen er geradezu experimentierte. Sie sind geeignet,
Vergangenheit zu enträtseln, Zukunft zu entschleiern:
Der
antike Skeptizismus
ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt. Der des Abendlandes
muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen ... soll, durch und durch historisch
sein. (Oswald Spengler,
Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 63f.). Es
besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer
Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus.
(Oswald Spengler,
Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 481). Typische
Züge des Skeptizismus
sind das Mißtrauen gegen die Sinneswahrnehmnug, die überlieferten Denkgewohnheiten
sowie gegen ethische und politische Wertvorstellungen und Vorurteile. Die völlige
Enthaltung (epoch) des Urteils, für
die Pyrrhon
sich so stark gemacht hatte, ließ natürlich nur noch aporetische Argumente
zu, aber genauso ausweglos oder ratlos (aporetisch) stand man mit dem Begriff
der Wahrscheinlichkeit da, den die mittlere, vor allem aber die neuere Akademie
favorisierte. Da die Unerschütterlichkeit und Unverwirrtheit (ataraxia),
die Pyrrhon als das praktisch-sittliche Ideal ansah, für die praktische Orientierung
des Handelns gelten sollten, resultierte daraus, zusammen mit der theoretischen
Orientierung des Denkens - der epoch - eine nur noch
von den Indern zu übertreffende Gelassenheit. Während die abendländische
Kultur die energischste Art einer Inhaltsdynamik ist, forderte die antike Kultur
genau gegenüber dieser Art die Zurückhaltung. epoch
geisterte durch alle Schriften der Antike und deshalb wahrscheinlich auch durch
die gesamte Lebensart dieser statischen Kultur. Aber gerade diese Gegensätze
erlauben es uns, unsere eigenen Fehler im Spiegel der Antike zu erkennen und von
dieser verstorbenen Kultur zu lernen, denn ihre Geschichte ist uns ziemlich gut
bekannt. Die Möglichkeit, von uns auf diese Weise zu lernen, hatte die Antike
nicht. Die Analogien von Akademie und Idealismus einerseits sowie Skeptizismus
und Lebensphilosophie andererseits lehren uns z.B. die in jeder zivilisierten
Kultur notwendig werdende Skepsis,
deren Höhepunkt (eher: Tiefpunkt) wir Abendländer noch vor uns haben.
(Vgl. Beispiel). Skepsis
ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen
und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. ....
Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt
die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein,
ihnen nicht erliegen zu müssen. (Peter Sloterdijk,
Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273).In
der Beängstigung und Verwirrung die plötzliche Ruhe im Gedanken an den
Fötus, der man war. (Emile Cioran, De l'inconvénient
d'être né, Vom Nachteil geboren zu sein, 1973, S.
20).In der
Nachbarschaft dieser Sätze, die ausreichen würden, um Ciorans Stellung
als zweiter Patriarch des Eurobuddhismus zu festigen - der erste war Schopenhauer
-, schreibt der Autor eine Bemerkung nieder, von der es mir undenkbar erscheint,
daß sie nicht eines Tages als Axiom einer philosophischen
Psychologie anerkannt würde. (Peter Sloterdijk,
Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S. 107).Die
'empirische'
Psychologie hat das Unglück, nicht einmal ein Objekt im Sinne irgend
einer wissenschaftlichen Technik zu besitzen. Ihr Suchen und Lösen von
Problemen ist ein Kampf mit Schatten und Gespenstern. Was ist das - Seele
? Könnte der bloße Verstand darauf eine Antwort geben, so
wäre die Wissenschaft bereits überflüssig. (Oswald
Spengler,
Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 381f.). Vom
Nihilismus abgesehen, entstanden in der Antike und im Abendland in dieser Phase
der Krise keine wirklich neuen philosophischen Richtungen mehr. Die wichtigsten
alten Schulen, insbesondere die der Klassik,
wirkten weiter: Platonische Akademie, Aristotelischer Peripatos, Skeptizisten,
Stoizisten, Epikuräer sowie Reste der noch älteren Richtungen
wie die der Sokratiker, Kyniker und Kyrenäiker (Hedoniker), wobei
die mittlere platonische Akademie eine mehr skeptische Richtung unter Arkesilaos
(315-241) bekam. Er war von 270 bis 241 deren erster Vorsteher. ( ).
Von Zenon (354-264), dem Begründer der Stoa,
ging die Leitung der stoischen Schule 262 über auf seinen Schüler Kleanthes,
der persönliches Ansehen genoß. Seinen Ausspruch In ihm (Gott
= Kosmos) leben, weben und sind wir sollte Paulus
später in Athen zitieren. ( ).
Nach Kleanthes' Tod (232) leitete Chrysippos die stoische Schule bis 208 (205).
Er schuf eine Lehre von der periodischen Weltverbrennung und Welterneuerung durch
die Gottheit. Chrysippos war bestrebt, die stoische Lehre in allen ihren Teilen
systematisch durchzuarbeiten und trug maßgeblich dazu bei, daß sich
die Stoa fest konsolidierte. Mit großer dialektischer Schärfe gelang
es Chrysippos, dieses Lehrgebäude gegen die Akademie, von der er anfangs
viel gelernt hatte, zu verteidigen.Wie auch in
der Antike geschehen, wirkten im Abendland die alten Schulen weiter: Neu-Kantianismus,
Neu-Idealismus, Neu-Hegelianismus, Neu-Positivismus, Neu-Realismus,
Neu-Morphologie, Neu-Universalismus, Neu-Sensualismus,
Neu-Ontologie, Neu-Marxismus, Neu-Strukturalismus, (Neu-)Lebensphilosophie
(weil zweite Art), (Neu-)Psychologismus (weil zweite Art) sowie Neu-Aufklärer
und Neu-Aussteiger, die antiken Neu-Kyniker, Neu-Kyrenäiker
(Neu-Hedoniker), Neu-Sokratiker, Neu-Sophisten, Neu-Akademiker
(weil jetzt mittlere), Neu-Peripatetiker (weil jetzt jüngere),
Neu-Stoiker (weil jetzt mittlere oder römische), Neu-Skeptiker
(weil auch die mittleren Akademiker skeptizistischer wurden). In
der Antike bewegten sich viele Denker auf den Skeptizismus zu, im Abendland auf
eine von Schopenhauer ins Leben gerufene Lebensphilosophie, z.B. Kierkegaard,
Dilthey (neu-hegelianisch), Nietzsche, Freud, Bergson, Simmel, Klages,
der Kulturmorphologe Spengler, der Fundamentalontologe Heidegger (1889-1976) oder
der Neu-Ontologe N. Hartmann (1882-1950). Zumeist blieben diese daher (neu-)lebensphilosophisch
( ),
(neu-)idealistisch bzw. (neu-)hegelianisch oder auch (neu-)kantianisch
orientiert und verfaßt. Auch bezogen auf die anderen Altschulen
gilt also, daß sie auf eine wie auch immer geartete Neo-Weise romantisch-klassizistisch
verhaftet blieben. (18-20).
Auch sind die charakteristischen Ähnlichkeiten mit den Richtungen der historisierenden,
eklektizierenden Kunst evident. Das gilt für die Antike und für das
Abendland gleichermaßen. Die eben erwähnten Leistungen stellten hier
wie dort zwar enorme Bereicherungen dar, vor allem in wissenschaftlich-technischer
Hinsicht, aber philosophisch-metaphysisch setzten sie nur (radikaler) fort, was
vorher bereits gedacht worden war. Die
Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes
bewirken können. .... Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die
einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten
für die Erscheinung Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang.
(Martin Heidegger,
1966)
Ausgerechnet das seelenkundliche
Genie Nietzsche
inspirierte die Tiefenpsychologie als eine Disziplin der modernen
analytischen Psychologie und Psychotherapie, und Sigmund Freud
(1856-1939) hatte zeitlebens Anlaß zu leugnen,
daß er durch dieses Nietzsche-Tor zu seinen Ansichten
gelangt sei und daß er seine Grundbegriffe von Nietzsche geliehen
hatte. (Sloterdijk,
in: Focus 34, 2000; S. 85). Eugen Bleuler (1857-1939) prägte
den Begriff der Tiefenpsychologie, um die Bedeutung unbewußter
Prozesse zu betonen. Daß das Seelenleben ausschließlich
oder überwiegend durch den Sexualtrieb, durch Macht und Geltungstrieb
oder durch das libidinöse Kollektiv-Unbewußte bestimmt
sei, wird zwar hin und wieder von den tiefenpsychologischen Vertretern
als die Wirklichkeit verfälschende Simplifikation und als Biologismus
abgelehnt, doch einig scheinen sie sich darüber zu sein, daß
die Tiefenpsychologie sich auf die Lehren von Sigmund Freud, Alfred
Adler (1870-1937) und Carl Gustav Jung (1875-1961) zu stützen
habe. Die Tiefenpsychologie entstand jedoch bereits in der Romantik
bzw. im Idealismus,
als auch die Psychologie selbst, zunächst als Mesmerismus,
und die klassische Homöopathie
sowie andere individualisierende oder selbstversuchende
Projekte entstanden waren. ( ).
Als dann später Nietzsche sein eigenes Werden exemplarisch
untersuchte, entdeckte er selbst und durch ihn bald auch die Öffentlichkeit
den Ernst des Selbstgeburtkampfes, den das einzelne Individuum
mit sich und seinem Schicksal auszufechten hat. Nietzsche
hob den Sachverhalt ans Licht, daß die Aufgabe, das
eigene Leben aus dem rohstoffartigen Zustand herauszuführen
und es zu einem Werk zu machen, den Charakter eines Ringens ums
Ganze annehmen kann. Letztlich war Nietzsche vielleicht auch
mehr Psychagoge als Psychologe - und das will etwas sagen,
denn zu Recht durfte man ihn ... als den größten Psychologen
seines Zeitalters im Gedächtnis behalten. (Peter Sloterdijk,
in: Focus 34, 2000; S. 84f). Entscheidend für Freud
war die Annahme des Unbewußten (oder des Es)
als Teil des Psychischen außer dem Bewußten (Ich) und
die Annahme einer Kraft, die dafür sorgt, daß es unbewußte
Vorstellungen gibt: die Verdrängung. Sigmund Freud fand in
der psychoanalytischen Technik Mittel, diese widerstrebende Kraft
aufzuheben und die betreffenden Vorstellunegn bewußt zu machen.
Neurosen schienen für Freud durch das Vorwalten wirksamer unbewußter
Vorstellungen bestimmt zu sein und könnten demnach durch Bewußtmachen
auch beseitigt werden. Freud sah sich mit seiner Entwicklung des
Unbewußten als ein zweiter Kant.
Die Korrektur, die Kant an der äußeren Wahrnehmung gemacht
hatte, daß sie subjektiv bedingt sei und daß hinter
ihr das unerkennbare Ding-an-sich
stünde, machte er nun für die innere oder Selbst-Wahrnehmung.
So wie nach Kant die Dinge an sich nicht so zu sein brauchen, wie
sie uns erscheinen, so braucht nach Freud auch das Psychische, also
das innere Objekt, nicht so zu sein, wie es uns erscheint. Ganz
so unerkennbar wie Kants Dinge an sich sei das innere Objekt allerdings
nicht, meinte Freud, denn in dessen Erkenntnis und Behandlung bestehe
schließlich die ganze Psychoanalyse als Therapie und Technik
der seelischen Kräfte. Freud verglich auch die Philosophie,
neben Kunst und Religion, mit der Neurose. Die Neurosen zeigen
einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen
mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion
und der Philosophie. Andererseits erscheinen sie wie Verzerrungen
derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei
ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild
einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen
Systems. Der Neurotiker, meinte Freud, wendet sich von der
Wirklichkeit ab, weil er sie - ihr Ganzes oder Stücke desselben
- unerträglich findet, und ersetzt sie durch eine Wahnwelt.
Sind also Künstler, Religiöse und Philosophen Neurotiker?
(Und Freud?). Schon Hegel
hatte Kunst, Religion und Philosophie als Selbstbefriedigungen
des absoluten Geistes bezeichnet, gwissermaßen als Selbsttherapien
des Geistes. ( ).
Nietzsche vermutete, daß hinter der Logik und Philosophie
physiologische Forderungen stünden, daß Philosophie bisher
ein Mißverständnis des Leibes gewesen
sein könnte. Freud konnte an Nietzsches Versuche psychoanalytischer
Aufklärung anknüpfen. Allerdings verschonte er - wohl
zum Dank - Nietzsches Philosophie selbst von einer psychoanalytischen
Aufklärung. Oder lag das an Freuds eigenem Komplex? Der Ödipuskomplex
bildete ja für Freud als das inzestuöse Verlangen (die
Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht auf den Vater) den
Kern aller Verdrängungen (des Mannes). In der unzulänglichen
Bewältigung des Ödipuskomplexes sah er den Grund für
seelische Störungen und Neurosen. Und wo für Männer
der Ödipuskomplex war, da sollte für Frauen der Elektrakomplex
werden. Analog zu Freuds Ödipuskomples ist Jungs Elektrakomplex
zu sehen: der verdrängte Wunsch der Tochter, mit dem Vater
inzestuöse Beziehungen einzugehen. Jung nannte seine Lehre
Analytische Psychologie, in der das Unbewußte
den schöpferischen Mutterboden des Bewußtseins darstellt
und persönliche, der Ontogenese, und kollektive, der Phylogenese
entstammende Inhalte umfaßt. Letztere seien die artbedingten
Aktions- und Reaktionsweisen der Psyche: die Archetypen (z.B. Animus
vs. Anima).
Selbsterkenntnis
kann nach dem Tode des Selbst, sprich nach dem Tode Gottes, nur noch eine
Vorstufe zu dem Projekt der Selbstverwirklichung sein. (Peter
Sloterdijk,
2000)
Max Weber
(1864-1920), laut Karl Jaspers der größte Deutsche unseres Zeitalters,
war der Diagnostiker der Moderne. In seinem berühmten Buch Die protestantische
Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904) zeigte er die Bedeutung des
religiösen Rationalismus, d.h. der reformatorischen Weltauslegung, die das
Diesseits entzauberte oder entsakralisierte und die mit dem Berufsgedanken das
alltägliche Leben mit dem Jenseitsschicksal verband, für die Entstehung
des modernen Betriebskapitalismus: im Berufserfolg und Gelderwerb bewährt
sich der je eigene Gnadenstand. Weber, Begründer der Religionssoziologie,
suchte die Sozialwissenschaften zum Range strenger Wissenschaftlichkeit zu erheben,
indem er ihre Methoden prüfte und sie als rein beschreibende auffaßte.
Er suchte scharf zu trennen: Erfahrungswissenschaft und wertende Beurteilung,
einseitige partikulare Erekenntnis und Ergreifen des Totalen, empirische Wirklichkeit
und Wesen des Seins. Entgegen der intuitiven Verstehens-Theorie Diltheys ( )
muß nach Weber die verstehende Soziologie, als eine Wissenschaft,
welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen
Wirkungen ursächlich erklären will, rational hauptsächlich
nach Zweck und Mitteln fragen, weil allein dadurch das Verstehen eine besonders
hohe Evidenz erreicht. Als Hauptbegriff entwickelte Weber den des Idealtypus.
Durch diesen Terminus wurde eine für die sozialwissenschaftliche Begriffs-
und Theoriebildung zentrale Konstruktionsmethode bezeichnet. Der Idealtypus wird
durch gedanklich einseitige Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit
gewonnen, die dann zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammengefügt
werden. Der Idealtyp ist ein »Gedankenbild«, welches nicht die
historischen Wirklichkeit oder gar die eigentliche Wirklichkeit ist, ... sondern
die Bedeutung des eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchenm die Wirklichkeit
zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes
gemessen, mit dem sie verglichen wird. (Max Weber). Die Bildung des Idealtypus
ist ein heuristischer Schritt der Begriffs- und Theoriebildung, der deutlich von
der überprüften Theorie zu unterscheiden ist.
Alfred
Weber (1868-1958)
wollte die Soziologie mit der Strukturlehre der Geschichtswissenschaft verbinden;
seine Kultursoziologie zeigt, daß die eigentliche Grundlage der großen
Kulturen immer ein bestimmter charakteristischer Typus der betreffenden sozialen
Organisation ist, und beschreibt die geschichtlichen Entwicklungsstufen dieser
Typen. In seinem Werk Kulturgeschichte als Kultursoziologie (1935) heißt
es, das Ergebnis der bisherigen Geschichte sei, daß die Menschen zu der
Welt- und Daseinsangst der Primitiven zurückkehre. Sozialreligionen
sind laut Weber der demokratische Kapitalismus, der demokratische Sozialismus
und der sozialistische Kommunismus; ihr Ursprung ist die Erklärung der Menschenrechte
von 1776 mit ihrem religiös-sozialen Gehalt als Ausdruck eines neuen Menschenbildes.
Diese Sozialreligionen sind weithin an die Stelle der Transzendentalreligionen
getreten; ideell und zugleich sozialstrukturell bilden sie in unerhörtem
Maße die praktisch-dynamischen Umwälzungskräfte des heutigen Daseins.
Keine der Transzendentalreligionen, der Islam vielleicht ausgenommen, hat heute
noch eine Missionskraft, die auch nur im entferntesten vergleichbar wäre
derjenigen dieser Sozialreligionen. (Alfred Weber, Kulturgeschichte als
Kultursoziologie, 1935, S. 423).
Seit in Europa der Geburtenrückgang
eingesetzt hat, also spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts (in
Frankreich schon seit Ende des 18. Jahrhunderts!), ist die Befürchtung,
man habe es hier mit einem echten Anzeichen des Untergang des Abendlandes
zu tun, nicht mehr verstummt. Vor allem in Frankreich, wo in den Jahren 1890,
1891, 1892, 1895 und 1900 ein Geburtendefizit
registriert wurde, hat man die décadence de la natalité
schon früh mit dem Dekadenz-Paradigma in Verbindung gebracht. Arsène
Dumont leitet 1890 das erste Kapitel seiner demographischen Studie Dépopulation
et Civilisation mit der Frage ein: La France est-elle une nation en
décadence? Die Geschichte, schreibt er, bietet
mehr als ein Beispiel sozialer Auszehrung. Mitten im Frieden, im Überfluß,
in der Sekurität, umgeben von allem, was an Spannkraft und Vitalität
anstacheln sollte, schmilzt ein Volk dahin und erlöscht; es war fruchtbar
und wird steril, tapfer und wird feig, eroberungslustig und wird schließlich
selbst erobert. Daß ein allzu schwacher Staat von einem stärkeren zerstört
wird, ist leicht zu verstehen. Aber diese Hinfälligkeit ohne äußere
Einwirkung, diese Art Anämie, die ein Volk stillschweigend hinwegrafft und
es geräuschlos unterminiert, ist ein schreckliches und mysteriöses Phänomen.
(Ebd., S. 3). ... Im Jahre 1905 hält Pontus Fahlbeck, seines Zeichens
Professor für Geschichte, Staatslehre und Statistik an der Universität
Lund, bekannt geworden durch seine demographisch-genealogischen Untersuchungen
über das Aussterben der schwedischen Aristokratie, einen Vortrag ... und
... gibt ... zu bedenken, daß die Statistik neben Fragen des unmittelbaren
Nutzens die großen Probleme der Zukunft nicht vergessen dürfe, die
wissenschaftlich auch von größerem Interesse seien als die kleinen
Problemchen der Tagespolitik. Und zu diesen großen Problemen rechnet er
den Untergang der Völker. Der Untergang von Völkern sei zwar kein alltägliches
Ereignis, aber die Geschichte sei insgesamt doch eine einzige Nekropole von Staaten
und Völkern, die einmal zugrunde gegangen seien. Sofern diese Staaten und
Völker nicht einfach einem übermächtigen Angriff von außen
erlegen seien, hätten die Historiker schon immer Symptome einer inneren
Krankheit registriert, deren typischer Verlauf von Demographen näher
untersucht werden sollte, da eine soziale Krankheit sich stets auch
in demographischen Tatsachen manifestiere. Fahlbeck untersucht dann
am klassischen Paradigma des Untergangs der antiken Welt mögliche
demographische Indikatoren der Dekadenz. Er findet das Symptom der
Symptome im Geburtenrückgang aufgrund der abnehmenden Heiratsneigung und
des 2-Kinder-Systems. In unserem Zusammenhang ist vor allem der zweite Teil des
Vortrags von Interesse, in dem er seine Fragestellung auf die zivilisierten
Völker Europas überträgt, und der in der Prognose eines langfristig
anhaltenden Geburtenrückgangs kulminiert. Man kann diese Prognose im Rückblick
nicht anders als schlagend nennen. Fahlbeck hat ... den ... Geburtenrückgang
in großen Zügen fast genau so vorhergesagt, wie er im Endeffekt dann
auch tatsächlich abgelaufen ist. Ich will das am Beispiel Großbritanniens
demonstrieren. Nach Fahlbecks Extrapolation schneiden sich die Kurven der Geburten-
und Sterbeziffern etwa im Jahr 1957 auf dem Niveau von 16. Tatsächlich
ist es in England erst 20 Jahre später auf einem Niveau von 12 zu einem
Gleichstand von Geburten- und Sterbeziffern gekommen. Wie aus der Grafik zu ersehen
ist (vgl. Robert Hepp, a.a.O., S. 193), hat sich
der schwedische Statistiker nur in zwei Hinsichten verschätzt, wobei der
erste Punkt ziemlich belanglos ist: Der Geburtenrückgang verlief zeitweise
rasanter, als er annahm, und die Mortalität sank weiter ab, als er offenbar
glaubte. Wenn man seine Projektion von diesem Irrtum bereinigt, stimmt der Trend
mit dem tatsächlichen Verlauf ziemlich genau überein. Die ausgezogenen
hypothetische Geburtenkurve schneidet die reale Kurve der Sterbeziffer um 1977,
was auch tatsächlich der Fall gewesen ist. Ich führe das Beispiel nicht
als Meisterstück einer guten statistischen Prognose an. Wenn es um die Treffsicherheit
ginge, gäbe es in der älteren Literatur viele andere mehr oder weniger
schlagende Beispiele. ... Dazu gehörte meist nur ein Schuß Pessimismus
und die Einsicht in die Tatsache, daß die Grenzen, die der Tod dem menschlichen
Leben setzt, nicht unendlich verschoben werden können, während die menschliche
Fruchtbarkeit im Prinzip bis auf Null heruntergefahren werden kann. Heute weiß
man, wie recht Fahlbeck hatte, als er sich über Kollegen wie den berühmten
Statistiker Jacques Bertillon mokierte, die aus unerfindlichen Gründen daran
glaubten, daß die geburten- und Streberaten immer gleichsinnig miteinander
steigen und fallen würden, oder wenn er sich über die Ideologen des
Null-Wachstums lustig machte, die damalas John Sturat Mill oder Rauchberg hießen.
(Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit
als Tabu, 1986, S. 191-194).  Anfangs
hielt man den Geburtenrückgang für eine typisch französisches Phänomen
( ),
doch die Tatsachen widerlegten diese Ansicht, denn spätestens um die 1870er
Jahre herum griff der Geburtenrückgang auch auf die anderen Staaten des Abendlandes
über. Zum Vergleich sind hier auch nichteuropäische Länder erwähnt:
Geburtenraten seit 1871 | 1871
/ 1880 | 1881 / 1890 | 1891
/ 1900 | 1901 / 1910 | 1911
/ 1913 | 1921 | 1924 | 1925 | Prozentualer Geburtenrückgang 1871/1880
- 1925 | 2003 * | Prozentualer Geburtenrückgang 1871/1880
- 2003 * | |
Deutschland | 39,1 | 36,8 | 36,1 | 33,4 | 29,0 | 25,3 | 20,5 | 20,6 | 47% | 10,0 | 74% | England | 35,5 | 32,5 | 30,0 | 27,2 | 24,0 | 22,4 | 18,9 | 18,3 | 48% | 12,0 | 66% | Schottland | 34,9 | 32,3 | 30,7 | 28,0 | 25,7 | 25,2 | 21,9 | 21,3 | 39% | 12,0 | 66% |
Frankreich * | 25,4 | 23,9 | 22,1 | 20,7 | 18,8 | 20,7 | 19,2 | 19,6 | 23% | 13,0 | 49% | Schweden | 30,5 | 29,0 | 27,1 | 25,8 | 23,7 | 21,4 | 18,1 | 17,5 | 43% | 11,0 | 61% | Schweiz | 30,8 | 28,1 | 28,7 | 27,4 | 23,8 | 20,8 | 18,7 | 18,4 | 40% | 10,0 | 68% | Belgien | 32,7 | 30,2 | 28.9 | 26,7 | 23,1 | 21,9 | 19,9 | 19,7 | 40% | 11,0 | 66% | Norwegen | 30,9 | 30,8 | 30,3 | 27,6 | 25,6 | 23,9 | 21,7 | 20,0 | 35% | 12,0 | 61% | Dänemark | 31,5 | 31,9 | 30,2 | 28,7 | 26,7 | 24,0 | 21,9 | 21,1 | 33% | 12,0 | 62% | Niederlande | 36,4 | 34,2 | 32,5 | 30,7 | 28,0 | 27,4 | 25,1 | 24,2 | 34% | 12,0 | 67% | Italien | 36,9 | 37,8 | 34,9 | 32,5 | 31,9 | 30,3 | 28,2 | 27,5 | 25% |
9,0 | 76% | Ungarn | 43,4 | 44,2 | 40,5 | 36,8 | 35,4 | 31,8 | 26,8 | 27,7 | 36% | 10,0 | 77% | Spanien | 37,9 | 36,2 | 34,8 | 34,5 | 31,2 | 30,0 | 29,9 | 29,3 | 23% | 10,0 | 74% | Rumänien | 35,0 | 41,4 | 40,6 | 40,0 | 42,6 | 37,4 | 36,2 | 36,2 | +
3% | 10,0 | 71% | Rußland | 49,3 | 47,2 | 47,1 | 43,9 | 43,7 | 37,2 | 42,7 | Die
Zahlen von 1921 an sind unbrauchbar! | Massachusetts | 27,2 | 27,0 | 26,0 | 26,5 | 25,6 | 23,7 | 22,3 | Keine
Angaben | Australien | 36,8 | 34,8 | 29,4 | 26,6 | 27,4 | 25,0 | 23,2 | 22,9 | 38% | 13,0 | 65% | *
Frankreich mit Geburtendefizit
! Quellen: Richard Korherr,
Geburtenrückgang, a.a.O., 1927, S. 164; *
Fischer Weltalmanach, 2006, S. 504Die Fruchtbarkeit scheint die Schlüsselvariable
des gesamten Bevölkerungsprozesses zu sein. Nur spekulieren die einen auf
das Hoch und die anderen auf das Tief. Anders gesagt:
Die einen befürchten eine Bevölkerungsexplosion, die anderen eien
Bevölkerungsimplosion. ... Da anfangs in Europa, dann nach und nach weltweit,
die Sterberate schneller zurückging als die Geburtenrate und also die Bevölkerung
trotz des Geburtenrückgangs ständig zunahm, sprach prima vista
alles für die malthusianische Position. Sie ist eigentlich erst heute - und
speziell in Deutschland - von der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung
dementiert worden. Und damit werden auch die Dekadenztheoretiker wieder aktuell
und interessant. Sie haben mit ihrem demographischen Pesseimismus ... recht behalten.
... Dabei hat sich ... eine ganze Schule herausgebildet, die den ... Geburtenrückgang
ständig mit kritischen Kommentaren und düsteren Untergangsprognosen
begleitet hat. ( ).
All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, daß sie den Geburtenrückgang
als demographischen Prozeß irgendwie mit Dekadenz oder Niedergang
in Zusammenhang bringen, sei es als Ursache oder als Folge, als Symptom, Symbol
oder Indikator eines allegemeinen kulturellen und politischen Verfalls. Bei den
meisten Autoren bezeichnet Dekadenz einen Gesamtprozeß sozialen
und kulturellen Wandels, in dem der Geburtenrückgang nur eines von vielen
parallel oder gleichlaufenden Symptomen ist. In Spenglers
Interpretation wird der Geburtenrückgang zum körperlichen
Ausdruck einer allgemeinen Unfruchtbarkeit des zivilisierten
Menschen und seiner durchaus metaphysischen Wendung zum Tode,
die sich auch im Erlöschen der großen Kunst, der gesellschaftlichen
Formen, der großen Denksysteme, des großen Stils überhaupt
manifestiert; die Fruchtbarkeit des letzten Menschen ist in jeder
Hinsicht erschöpft. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des
Abendlandes, 1918-1922, S. 678ff. ).
Die Demographen unter den Dekadenztheoretikern ... interpretieren den Geburtenrückgang
zwar auch als Symbol eines allgemeinen soziokulturellen Niedergangs,
wobei sie aber immer mit Nachdruck betonen, daß der Geburtenrückgang
die wichtigste aller Dekadenzerscheinungen sei, weil es da sozusagen ... ums Leben
geht und weil - um Landry ... zu zitieren - das Leben das Substrat aller
Ziele ist. Außerdem ist nach ihrer Ansicht der Geburtenrückgang
das sicherste aller Dekadenzsymptome, weil man ihn - im Unterschied
zu den meisten anderen - präzise messen kann. Wenn einmal der kontinuierlich
anhaltende Bevölkerungsrückgang eingesetzt hat, kann man das Ende eines
Volkes mit mathematischer Sicherheit vorausberechnen. Sobald die Zahl der Sterbefälle
über einem längeren Zeitraum hinweg die der Geburten übersteigt
und die Kurve der Geburtenziffern unter die der Sterbeziffern absinkt, sind die
Tage eines Volkes gezählt. Rein demographisch betrachtet, steht das Ende
des Zerfallsprozesses also fest, unter gewissen Bedingungen ist es sogar in seinem
weiteren Ablauf ziemlich genau prognostizierbar. Da mit der Bevölkerungsabnahme
gewisse Struktureffekte einhergehen, kann man auch die Formen des weiteren Verlaufs
im wesentlichen vorhersehen. Was man als Überalterung bezeichnet,
der wachsende Anteil der älteren Bevölkerung und die Verminderung des
Anteils der jüngeren, ist als latenter Vorgang ja schon lange vor dem Stadium
des Bevölkerungsrückgangs zu registrieren. Auch diese Strukturmerkmale
haben eindeutig angebbare Ursachen und Konsequenzen. ... Wenn es um
die Ursachen des Geburtenrückgangs geht, müssen auch die Bevölekruingswissenschaftler
soziale und kulturelle Einflußfaktoren in Betracht ziehen. Auch
die Dekadenztheoretiker unter den Bevölkerungswissenschaftlern suchen sie
unter den Faktoren, die heute noch von empirischen Demographen für
Ursachen des Geburtenrückgangs gehalten werden. ( ).
Schon die älteren Vertreter dieser Schule unterscheiden sich aber von den
meisten ihrer zeitgenossen, vor allem von den orthodoxen Malthusianern, darin,
daß sie den monokausalen Erklärungen multifaktorielle Modelle
vorziehen. Das Ensemble aller Faktoren bezeichnen sie dann oft mit dem Sammelnamen
Dekadenz der Kultur. Dieser Sammelbegriff ist oft mißverstanden
worden. (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler,
Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 194-196).Nicht selten stört
am Fortschrittsglauben seine Megalomanie oder die typisch abendländische
Tendenz ins Unendliche, der faustische Ausgriff, die imperialistische Geste,
der Wikinger-Geist des Eroberers. Die Wachstumskritiker
verkörpern ... vielleicht das Bindeglied der demographischen
und der allgemeinen kulturellen Dekadenz. Der Engländer, der
sich - in Sauvys Parabel - beim Wirt darüber beklagt, daß zu viele
Gäste am Tisch sitzen, statt noch ein Hähnchen zu bestellen, ist zugleich
der Prototyp des Neomalthusianers und des Wachstumskritikers. Angesichts der Diskrepanz
zweier Größen, die einander angeglichen werden müssen, entscheidet
er sich instinktiv für eine Anpassung nach unten;
er fürchtet den Exzeß und das Risiko. Wo dieser Kleinbürger
und Kleinhäusler den Ton angibt, verbreiten sich Kleinmut und
Megalophobie. Wie eine Litanei zieht sich jenes siao-sin (Mache
mein Herz klein!), der Drang zur Selbstverkleinerung, der nach
Nietzsche
für Zivilisationen typisch ist, durch Bußpredigten der
modernen Wachstumskritiker. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und
Böse, 1886, § 267 ).
In politicis entspricht dieser Einstellung die kleine Politik
(Georges Sorel), deren kühnster Ausdruck die Hochschornsteinpolitik
(Inneminister Zimmermann) ist. An die Stelle der Großmachtambitionen
- Supermächte sind an sich böse! - tritt die Fellachensehnsucht
nach dem ewigen Frieden. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des
Abendlandes, 1918-1922, S. 678ff. ).
Um wenigstens zu überleben, duckt und unterwirft man sich. Wenn
man keine Eroberungen mehr macht, sagt Cioran, willigt man ein, erobert
zu werden. (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in:
Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 231-232). 
Im 3. Jahrhundert v. Chr. war das Museion in Alexandria mit einer Bibliothek
von mehreren hunderttausend Papyrusrollen, später auch die Bibliothek von
Pergamon, kultureller Mittelpunkt der hellenistischen Wissenschaft. Kennzeichen
dieser hellenistischen Wissenschaft war jetzt die zunehmende Spezialisierung.
Athen blieb aber weiterhin die antike Weltuniversität, wobei das Wort
Universität weder im Gebrauch war noch wiedergibt, was Athen eigentlich wirklich
war: Mittelpunkt der antiken Liebe zur Weisheit (Philosophie).
Ein Schüler des Straton,
der den neuen Peripatos (vgl.
2. Aristoteliker) gründete und von 287 bis 269 leitete, war Aristarchos
von Samos (ca. 310-230), der einzig uns überlieferte Astronom, der bereits
das heliozentrische Weltbild, die Achsendrehung der Erde und die Drehung der Erde
um die Sonne erkannte (272). Archimedes von Syrakus
(285-212) machte mathematische und physikalische Entdeckungen, z.B. die antike
Form der Integralrechnung, die Bestimmung des spezifischen Gewichts
der Körper, ein erstes Himmelsmodell mit beweglichen Sternen und Wurfmaschinen
für die Verteidigung von Syrakus gegen die Römer. Eratosthenes von Kyrene
(280-200) entdeckte durch Erdmessung die Kugelgestalt der Erde (Berechnung des
Erdumfangs), zeichnete eine Weltkarte und betrieb auch sonstige Geographie und
Chronographie (Trojazug: 1184 v. Chr., vgl.
8-10; Lykurg: 844 v. Chr., erste Aufzeichnungen der Olympischen Spiele: 776
v. Chr., vgl.
10-12). Der Entdecker der Nerven und des Gehirns als Zentralorgan des Nervensystems
war Herophilos (335-250), während Erasistratos (300-240) der Ergründer
der Pneuma-Lehre war und sich mit dem Blutkreislauf beschäftigte.
Beide führten auch Sektionen am menschlichem Körper durch.
In der Philologie wirkten Aristophanes von Byzantion (257-180), der Begründer
der wissenschaftlichen Grammatik und Klassikerausgaben mit Einleitung, Aristarchos
von Samothrake (217-145) mit explizitenn Kommentaren. Krates von Milet (um 170)
in Pergamon glänzte mit seinen allegorischen Erklärungen zu Homer.
In Alexandria brillierten dichterisch: Kallimachos von Kyrene (310-240) mit Elegien,
Epihrammen und Hofgedichten, Theokrit von Syrakus (um 270) durch seine Hirtengedichte
und Idyllen sowie Apollinios von Rhodos (295-215), der das Argonauten-Epos
schrieb. Das griechische Bildungsideal wurde im Römischen Reich übernommen
und gefördert, vor allem durch den Kreis der Scipionen.
Dieser anfängliche Enthusiasmus für den gesamten griechischen Kulturbereich
im lateinischen Sprachraum (Sprachkörper) wich mehr und mehr einem
eigenen Kulturbeitrag, welcher gefordert und gefördert wurde von Livius Andronicus
(285-204), der eine Literatur in lateinischer Sprache begründete, die Odyssee
(Odusia) des Homer
und die griechischen Tragödien übersetzte. Damit kann er als der Erfinder
der Übersetzungskunst gelten. Gnaeus Naevius (3. Jh. v. Chr.) schrieb
lateinische Komödien (Zeitkritik), die nationalrömischen historischen
Dramen namens Praetexta und ein Epos über den 1. Punischen Krieg.
Titus Maccius Plautus (254-184) verfaßte Komödien mit volkstümlichen,
obszönen und burlesken Bildern. Ennius (239-169) dichtete ein Epos über
die römische Geschichte in Hexametern (Annales). Begründer der
römischen Geschichtsschreibung ist Fabius Pictor (3.Jh./2.Jh.) mit seinem
Werk Annales, eine Annalistik, d.h. eine nach Jahresabschnitten
geordnete Darstellung, die jedoch in griechischer Sprache erschien (197). Cato
(234-149) gab ein Geschichtswerk über Rom und Italien mit dem Titel Origenes
(Usprünge) und das älteste landwirtschaftliche Fachbuch heraus. Als
hätten die Römer es geahnt: im 2. Jahrhundert v. Chr. kam es zu einer
geistigen Reaktion in den hellenistischen Gebieten des Ostens; die einheimische
Bevölkerung wehrte sich immer mehr gegen die Hellenisierung durch ihr Festhalten
an der eigenen (magischen) Kultur und Sprache. Diese orientalische Gegenwirkung,
die zunehmende Macht der Randstaaten, z.B. der Parther und Inder, und eine allgemeine
Wirtschaftskrise förderten den langsamen Niedergang der hellenistischen Kultur.
Das herbstliche Fallen der Blätter setzte jetzt vermehrt ein. Die
nackten Tatsachen kamen immer mehr zum Vorschein.  Der
abendländische Nationalismus war wie der antike Hellenismus auch ein Versuch,
sich und der gesamten dazugehörigen Kultur mittels einer Rückbesinnung
eine zivilisierte Identität zu geben und eine Eigenbilanz zu erstellen, die
nicht von der eigenen Kultur wegführen sollte, wie es die Renaissance
versucht hatte, sondern zu ihr hin. Deshalb mußten solche Entwicklungsvertreter
stark historisierend vorgehen. Sie leiteten geistig die jetzige Historismus-Hochphase
ein. Leopold von
Ranke
(1795-1886) war der Begründer der mit hohen Ansprüchen auf Objektivität
zu Werke gehenden modernen Geschichtswissenschaft, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
dem von ihm geprägten Historismus stark verpflichtet blieb. Ranke brachte
die methodischen Grundsätze der Quellenforschung und -kritik im akademsichen
Lehrbetrieb zu allgemeiner Geltung über Deutschland hinaus, besonders groß
war der Einfluß auf Großbritannien und die USA. Das Wesen des Historismus
drückte Ranke in dem Satz aus, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott
sei, daß jedes geschichtliche Ereignis aus sich selbst heraus verstanden
und geschildert werden müsse. Neben dem Individulitätsprinzip, das Ranke
auf die politische Welt (Staaten, Völker) anwandte, gilt der Objektivitätsanspruch
als der eigenste Zug seines Geschichtsdenkens. Der Historiker soll nicht über
die Vergangenheit richten oder die Gegenwart belehren; er soll blos zeigen,
wie es eigentlich gewesen. In den Geisteswissenschaften
gilt der Historismus als eine Betrachtung der kuklturellen Erscheinungen unter
dem leitenden Gesichtspunkt ihrer historischen Gewordenheit, d.h. Geschichtlichkeit
( )
und der damit verbundenen Betonung der Einmaligkeit und der Besonderheit. In der
Individualität sah der Historismus die schlechthin bestimmende Kategorie
historischer Erkenntnis. Die Geschichtswissenschaft hat daraus starke Antriebe
für Forschung und Deutung der Gegenwart gezogen, gleichzeitig aber durch
Absolutsetzung dieses methodischen Prinzips, das die Unvergleichbarkeit historischer
Prozesse und Strukturen voraussetzt, sich der Gefahr des Wertrelativismus ausgesetzt
und von der Entwicklung der anderen Sozialwissenschaften abgesondert. Der Begriff
Historismus entstammt eigentlich erst der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts,
obwohl der Historismus schon Ende des 18. Jahrhunderts aufkam (Früh-Historismus;
vgl. 18-20).
Die Phase von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts
heißt Hoch-Historismus (vgl. 20-22)
- ich nenne sie auch Krise oder Kampf ums Ei, denn auch im Hoch-Historismus
geht es nicht nur um Höchstform, sondern auch um Tiefstform, um Krise oder
Kampf ums Ei, und das Ei ist in diesem Fall der Historismus. Für Geschichts-
und Gegenwartsbewußtsein erreichte der Historismus seine größte
praktische Bedeutung in der Zeit der 2. Deutschen Reichsgründung als grundlegende
quellenbezogene geisteswissenschaftliche Position mit Auswirkung auf Sprachwissenschaft,
historische Rechtsschule und historische Schule der Nationalökonomie. Eine
andere Folge war die immer mehr zunehmende Politisierung der Historiker.  Die
Krise des Historismus fiel mit dem Ende des 1. Weltkriegs zusammen. Sie führte
zur methodologischen Neuorientierung der modernen Geschichtswissenschaft. Krisen,
auch eine 1. Weltwirtschaftskrise (ab 25.10.1929), mußten in dieser Phase
alle durchmachen. Während die Wissenschaft auch jetzt in vielen Bereichen
großartige technische Erfolge erzielte, erfuhr die für Weltanschauungen
so wichtige Physik zum ersten Mal Grenzgefühle. Vergleichbar mit Aristarch
und Archimedes während ihrer großen Zeit (272/260, 237),
wurde der Physik 1900 von Planck
durch Wahrscheinlichkeit, d.h. durch seine Quantentheorie als fundamentale
Innovation die Absolutheit des Wissens genommen, was Plancks Nachfolger nur noch
in Weiterführung bestätigen konnten, so 1905-1916 Einstein
und 1924-1927 Heisenberg
mit seiner Feststellung, daß die Kausalität an ihr Ende kommen kann
und sich mit Wahrscheinlichkeiten der Wahrscheinlichkeit begnügen
muß, wenn sie noch Erfolge verzeichnen will. Der technischen Anwendung tat
das keinen Abbruch, wie allgemein bekannt. Heureka! soll Archimedes gerufen
haben, nachdem er das hydrostatische Grundgesetz entdeckt hatte, und auch die
Abendländer versuchten sich in vielen Bereichen, heuristisch zu betätigen.
Die Moderne ging munter weiter. Im Abendland sollte sie bald auch Postmoderne
genannt werden, um zu deklarieren, daß die linear-progressive Entwicklung
unter umgekehrten Vorzeichen weitergehen werde - wie eine Rolltreppe. Kommunikationstheoretische
Ansätze gehören ebenso hierher wie die Erkenntnis, daß gegenwärtige
Zustände durch ihre Historizität zu erklären seien. Ein
Beobachter sei selbst ein zu Beobachtender samt seiner Geschichtlichkeit. ( ).
Die Beobachtung wurde also zu einem Prozeß, der mit seiner Umkehrung zu
rechnen hatte; was physikalisch ermittelt worden war, ging auch immer mehr in
die Alltäglichkeit der Kultur ein. Überhaupt schien es für nicht
wenige Menschen so zu sein, daß Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und
ihre Nachbardisziplinen projektiv vorgaben, was aus ökonomischen, technischen
und medialen Motiven gefiel. ( ).
Abendländisch-mathematische Gebilde waren kaum von der Anschauung abhängig;
jetzt wurden sie von ihnen immer mehr unabhängig. In der Antike verlief dieser
Prozeß genau umgekehrt. Aus einer heiligen Zahl wie der 3 wurde im
Abendland eine viel heiligere - n. Man denke nur an die Übersteigung
des dreidimensionalen Raumes durch Exponenten, die größer gleich
4 oder gar unendlich groß sind. Ob
wir die antike Mathematik, euklidisch oder archimedisch, die abendländische
nach Gauß
oder Cantor benennen;
in beiden Fällen geht es darum, dem kulturellen Ursymbol
auf die Schliche zu kommen, ob den Forschern dies bewußt ist oder nicht.
Dort das Begrenzte, hier das Unendliche; dort der Körper,
hier der Raum. Im Abendland gingen die moderne Zahlentheorie und die
Mengenlehre in eine Algebra der Logik ein, und damit wurde die moderne Axiomatik
vollkommen zum Kapitel der Erkenntnistheorie.
Die Relativitätstheorie der Physik, die
zuvor nur eine, die alte Relativität kannte, hatte ab jetzt drei:
1.) Das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik besagt, daß
in allen gleichförmig-geradlinig bewegten Systemen die mechanischen Vorgänge
genauso ablaufen wie in ruhenden. (Vgl. Galilei, Newton u.a. ).
Es ist also die geradlinig gleichförmige Bewegung des betreffenden Systems
ohne Zuhilfenahme eines außerhalb des Systems befindlichen Körpers
nicht feststellbar. Wird z.B. in einem gleichförmig geradeaus fahrenden Eisenbahnwagen
ein Ball senkrecht in die Höhe geworfen, so fällt er, als ob der Wagen
stillstände, wieder senkrecht nach unten. Dagegen würde ein Beobachter,
der außerhalb steht, etwa am Bahndamm, die Wurfbahn als eine Parabel sehen.
Aus der Form der von außen beobachteten und gezeichneten (photographierten)
Parabel kann man die Geschwindigkeit des Zuges relativ zum Standort des Beobachtes
bestimmen. Ähnlich verhält es sich mit der Bewegung der Himmelskörper
im Weltraum. Versuche durch elektromagnetische (optische) Mittel ein absolutes
Bezugssystem im Weltraum festzustellen - etwa einen ruhenden Äther
als absoluten, unbeweglichen Raum im Sinne Newtons -, fielen negativ aus. 2.)
Die von Einstein 1905 begründete spezielle Relativitätstheorie schuf
einen neuen Zeitbegriff für die Physik: die Zeit wird nicht mehr durch die
Drehung der Erde, sondern durch die Geschwindigkeit des Lichts (ca. 300 000 km/s)
definiert. Diese Zeit wird in der formaltheoretischen Betrachtung mit dem Raum
so verknüpft, daß sie zusammen mit den drei Raumdimensionen einen vierdimensionalen
Raum (Kontinuum)
aufspannt. Als Koordinate büßte die Zeit ihre Absolutheit ein, wurde
zu einer nur relativen Zahl in einem Bezugssystem. Eine den Tatsachen
der gesamten Physik angemessene Raumzeitauffassung war gefunden worden. Eine weitere
Folgerung aus der speziellen Relativitätstheorie ist die Äquivalenz
von Masse (m) und Energie (E), so daß E = mc² ist (Äquivalenzprinzip).
3.) Die von Einstein 1915 begründete allgemeine
Relativitätstheorie dehnte die Erkenntnisse der speziellen Relativitätstheorie
auf beschleunigte Systeme aus. Schwerkraft und Beschleunigung sind gleichwertig.
Es ist für einen Beobachter innerhalb eines begrenzten Bereichs der Raumzeit
unmöglich zu entscheiden, ob er eine gleichmäßig beschleunigte
Bewegung ausführt oder sich in einem Gravitationsfeld befindet (Prinzip der
Äquivalenz von Trägheit und Masse). Ein abgeschlossener Beobachter kann
also durch keinerlei Experimente herausfinden, ob er sich in einem Gravitationsfeld
befindet oder außerhalb eines solchen beschleunigt bewegt. Nach Einstein
ist die Gravitation nicht allein als eine Kraft anzusehen; er sah sie als eine
Folge der Raumkrümmung. In der allgemeinen Relativitätstheorie stellt
sich der Raum jedenfalls als Folge der Anwesenheit von Massen dar; in der Nachbarschaft
einer besonders großen Masse ist die Raumkrümmung entsprechend größer
und nimmt mit zunehmendem Abstand von dieser Masse ab. Die Gesamtheit aller Massen
im Weltall bedingt die Gesamtkrümmung des Universums. - Die Relativitätstheorie
löste Probleme, die sich aus der Beobachtung der Ausbreitung elektromagnetischer
und optischer Erscheinung ergaben, insbesondere der Ausbreitung des Lichts in
beliebig bewegten Systemen. Die Resultate der mit Hilfe der Realativitätstheorie
gedeuteten Beobachtungen weichen von den Beobachtungsresultaten der klassischen
Mechanik und Elektrodynamik nur dann erheblich ab, wenn es sich um sehr große
Entfernungen im unendlichen Kosmos handelt.
Die physikalische
Relativitätstheorie hat ihre Grundlagen in verifizierbaren kosmologischen
Hypothesen sowie im Ralationismus der verwendeten mathematischen Theorien.
Und vom Mathematischen her betrachtet - also vom Reiche reiner Begriffe aus
- ist die Logistik reiner Rationalismus.In der Zukunft
sollte es vor allem für die Fragen der Kosmologie, der zeitlichen und
räumlichen Struktur des Universums, sowie der Hochenergiephysik notwendig
sein, die (allgemeine) Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu
vereinen. Relativierte Denkweisen
entstehen aus dem Grenzdenken,
daß jede Kultur auf ihre Weise bewerkstelligt. 1900 gab Max Planck
(1858-1947) der Physik eine völlig neue Richtung durch seine Quantentheorie.
Vor seinem Studium war ihm noch abgeraten worden, Physik zu studieren, weil man
annahm, daß die Physik nichts mehr zu entdecken habe. Aber gerade Planck
war es, der durch seine Entdeckung der gequantelten, d.h. der nur in diskreten
(nicht kontinuierlichen) Größen meßbaren Natur der Energie zur
fundamentalen Innovation der Physik beitrug und damit auch das alte Axiom Die
Natur macht keine Sprünge außer Kraft setzte. Seit Planck nahm
die Physik endgülig Abschied von der Absolutheit des Wissens, denn im Kern
besagt Plancks Quantentheorie, daß sich nur noch die Wahrscheinlichkeit
eines Vorgangs beschreiben läßt. Das Aussenden oder Aufnehmen der Strahlungsenergie
durch die Atome geschieht immer nur stoßweise, unkontinuierlich, und zwar
in bestimmten Quanten (Energiequanten), deren Größe sich aus der Schwingungszahl
(Lichtgeschwindigkeit geteilt durch Wellenlänge) der betreffenden Strahlungsart
multipliziert mit dem Planckschen Wirkungsquantum (Elementarquantum) ergibt. Diese
Plancksche Konstante ist die von Max Planck bei der Aufstellung des ebenfalls
nach ihm benannten Strahlungsgesetzes eingeführte Konstante h ( ).
Sie besitzt die Dimension einer Wirkung und ist gleichzeitig der Proportionalitätsfaktor
in der Beziehung W = hv zwischen der Frequenz v einer elektromagnetischen
Welle und der Energie W der in ihr enthaltenen Energiequanten (Photonen).
Plancks Quantentheorie war Voraussetzung für eine Reihe weiterer Forschungsergebnisse,
so etwa der Lichtquantenhypothese von Albert Einstein
(1879-1955) oder des Atommodells von Niels Bohr (1885-1962). Nach der aus der
Quantentheorie hervorgegangenen Lichtquantentheorie (Korpuskulartheorie des Lichts)
besteht auch das Licht aus mit Lichtgeschwindigkeit bewegten Quanten (Lichtquanten,
Photonen). Die Quantenmechanik, von Werner Heisenberg
(1901-1976) begründet, ist das Rechenverfahren, daß die mathematische
Beschreibung der Quantentheorie, also die quantenmäßiger Energieabgabe
und -aufnahme der Atome, ermöglicht. Dasselbe leistet die Wellenmechanik,
die von Erwin Schrödinger (1887-1961) ausgebaute Theorie der Atome, die die
Korpuskelnatur mit der Wellennatur mathematisch zu koordinieren und dadurch zu
deuten sucht. Ein Materieteilchen kann so als der Energieknoten eines Bündels
von Wellen gedacht werden, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten
und Materiewellen heißen. Die Wellenfunktion eines Elektrons
gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, wieweit das Elektron an einem bestimmten
Ort gemessen werden kann, was jeweils vom Stand der Kenntnis des Beobachters abhängt.
Die Wellenmechanik kam also, wenn auch auf anderen Wegen, zu den gleichen Resultaten
wie die Quantenmechanik.
Heisenberg, der Begründer
der Quantenmechanik, stellte 1924-1927 fest, daß sich die Elementarteilchen
durch weitere Teilungen nicht mehr in weitere (z.B. kleinere) Teilchen, also Körperformen
zerlegen lassen, sondern lediglich und für kurze Zeit in mathematisch-geometrische
Formen, die nicht lokalisierbar sind und dann wieder in ihre ursprüngliche
Teilchenform übergehen. Man kann also keine exakten Vorhersagen mehr machen
und ist statt dessen auf Wahrscheinlichkeiten der Wahrscheinlichkeit angewiesen.
Heisenbergs Unschärfe-, Unbestimmtheits- oder Ungenauigkeitsrelation ist
in der Quantentheorie eine Beziehung, die festlegt, wie genau zwei physikalische
Größen eines mykrophysikalischen Systems (z.B. eines Elementarteilchens)
gleichzeitig gemessen werden können. Wird z.B. der Impuls eines Teilchens
exakt gemessen, dann ist keinerlei Aussage mehr möglich über den Ort
dieses Teilchens zum Zeitpunkt dieser Messung. Dieses Naturgesetz
der Unbestimmtheitsrelation bedeutet, daß das Produkt der Ungenauigkeit
von Impuls- und Ortsbestimmung eine Korpuskels, z.B. eines Elektrons im Atom mindestens
gleich der Planckschen Konstante (h)
ist. Der Impuls und der Ort, z.B. eines Elektrons im Atom, ist also nicht genau
bestimmbar. Jede Steigerung der Genauigkeit im Bezug auf den einen Faktor durch
Veränderung der Versuchsordnung würde einen Eingriff in das atomare
Geschehen bedeuten, der die Bestimmbarkeit des anderen Faktors beeinträchtigt.
Metaphysisch gesehen gibt die Unbestimmtheitsrelation die Grenze der Überprüfbarkeit
und der begründeten Anwendung der Kausalität an: die letzten Gleichungen,
zu denen ein Physiker gelangt, sind Wahrscheinlichkeitsgleichungen, jedoch nicht
solche, bei denen es sich um statistisch gewonnene handelt, sonden solche, deren
Veränderliche selbst eine Wahrscheinlichkeitsfunktion ist. Das mikrophysikalische
Geschehen läßt sich so interpretieren, als käme ihm eine Art von
Spontaneität, von fehlender Ursächlichkeit zu. Heisenberg
stellte somit seine Unbestimmtheitsrelation (Unschärferelation) für
die Quantenmechanik auf, nach der das Geschehen im Atom einer streng deterministischen
Behandlung grundsätzlich unzugänglich ist. Die Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes
wurde dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wohl aber erwies es
sich als notwendig, die Begriffe Kausalgesetz und Determinismus
einer gründlichen neuen Analyse zu unterziehen. Heisenberg beeinflußte
mit seinen fundamentalen Beiträgen zur Atom,- und Kernphysik die Entwicklung
der modernen Physik nachhaltig.
Denkgeschichtlich gesehen kam Heisenberg hier Platon, kulturgeschichtlich
gesehen das Abendland der Antike wieder näher.
Die Konsequenzen aus dem Grenzdenken
dieser hoch- und tiefmodernen Phase - der Hochmodernistik - geben den
Weg frei für die Denkumkehr einer hochmodern gewordenen Kultur.
Die abendländische Umkehrrichtung geht nun ausgerechnet in die antike Richtung
und die antike Umkehrrichtung ausgerechnet in die abendländischen Richtung.
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