(Ausnahmen bestätigen diese Regeln!)Was
in der Antike Philosophie war, das sollte im Abendland Wissenschaft werden. Der
in der Antike als Wissenschaft übrig gebliebene Rest entspricht dem im Abendland
als Philosophie übrig gebliebenen Rest. Die Stellenwerte sind also vertauscht.
Philosophie und Wissenschaft in der Antike sind etwas völlig anderes als
im Abendland. Es geht hier also nicht darum, die antike Wissenschaft und die abendländische
Philosophie unter Wert verkaufen zu wollen, sondern sie im interkulturellen Vergleich
beschreiben zu können, und dabei (nicht weltweit!) schneidet nun mal die
Antike hinsichlich der Wissenschaft schlechter ab als das Abendland, während
das Abendland hinsichtlich der Philosophie schlechter abschneidet als die Antike.
So gesehen ist die These richtig, die abendländische Philosophie sei eine
Fußnote
zu Platon, zum Platonismus, zur attischen Philosophie, d.h. zu Griechenland,
also: zur Antike. ( ).
Aber aus dem eben Gesagten geht ebenso die These hervor, jede weltweit verwendete
moderne, alle Mobilität beschleunigende Technologie sei ein Quellenverweis
zur Wattschen Dampfmaschine, zur Industriellen Revolution, d.h. zur Moderne,
also: zum Abendland. ( ).
Wenn die Antike heute noch existierte, würde sie, auf ähnliche Weise
wie Indien, auch weiterhin ihre Kultur auf ganz fromme Art pflegen, aber trotzdem
auch vom Abendland die automobile, moderne Technologie übernommen haben.
In dem Fall hätte allerdings die abendländische Kultur auch das antike
Philosophie-Ideal im stärkerem Ausmaß übernommen, dann aber wahrscheinlich
auch seine mobilisierende, ständig modernisierende Technologie erst viel
später oder vielleicht gar nicht entwickelt, denn neben aller Kulturgenetik
spielt die kulturfamiliäre Umwelt, später die Kulturumwelt überhaupt
eine nicht zu unterschätzende Rolle. Doch die Antike verstarb so früh,
daß das Abendland gerade durch die Reaktion darauf, ob positiv (idealisierend)
oder negativ (antiheidnisch), und durch die narzißtische Übermut-Beziehung
zur christlichen Mutterkultur, in die Lage kam, seine in frühester Zeit kulturgenetisch
festgelegte und über die germanischen Kontrollgene
gesteuerte Anlage auch nach außen hin zur Entfaltung zu bringen. Nur so
konnte das Abendland zu der Kulturpersönlichkeit werden, als die es
heute angesehen wird, ob positiv (wohlständisch), negativ (willenskrank,
herrisch u.s.w.) oder neutral (unendlich
faustisch).Im geistigen Sinne bedeutet Antike eine
Kultur der Philosophie, dagegen Abendland eine Kultur der Wissenschaft. Die apollinischen
Ästheten der statischen Körper und die faustischen Forscher der dynamischen
Unendlichkeitsräume sind so gegensätzlich, daß sie äußerst
günstige Lernformen und Lerninhalte anbieten für diejenigen, die durch
die Ergänzung liebend und forschend lernen wollen. Die Chance des auf Gegenseitigkeit
beruhenden Lernens, des Gegenlernens, ist immer gegeben, solange zumindest
eine der beiden Kulturen noch lebendig ist. Die Philosophie galt - wegen der Erbschaft
(!) - im Abendland lange Zeit als die Königin der Wissenschaften. Wenn aber
beide tiefenkulturell als parallel laufende Phänomene anzusehen sind und
die Philosophie aus der Theologie hervorging, die Theologie aus der Religion und
diese aus dem Glauben, in den am Ende alle Neu-Kulturen wieder münden, dann
sind Philosophie und Wissenschaft auch historisch austauschbar:
Glaube wird Religion ( ),
Religion wird Theologie ( ),
Theologie wird Philosophie ( ),
Philosophie wird Neu-Theologie ( ),
Neu-Theologie wird Neu-Religion ( ),
Neu-Religion wird Neu-Glaube.
Nachdem aus dem Glauben christliche Religion und aus dieser christliche Theologie
geworden war, wurde im Gegensatz zur Theologie (Gottesweisheit) die
Philosophie zur Weltweisheit, deren Organ das natürliche Licht
der Vernunft ist, während jenes der Theologie das übernatürliche
Licht der Offenbarung ist. Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit
hatte die Philosophie bzw. die (Natur-) Wissenschaft sich endgültig emanzipiert.
Die neuzeitlichen Empiristen und Rationalisten wie z.B. Francis Bacon (1561-1626),
René Descartes (1596-1650) und G.
Wilhelm Leibniz
verstanden unter Philosophie die Gesamtwissenschaft in begrifflicher Form, wobei
auch die rationalistische Lösung des Problems Theodizee, die Leibniz theoretisch
allumfassend anging, eine große Rolle spielte. Leibniz'
Kausalprinzip und Finalprinzip, sein Satz vom Grund und die von ihm begründete
Differentialrechnung führten in der Anwendung auf physikalische Prozesse
zur Interpretation der Naturgesetze als Extremalprinzipien (Differential-, Integral-
oder Variationsprinzipien), das von ihm entwickelte binäre Zahlensystem mit
den Ziffern 0 und 1 (Dualsystem)
zur Computertechnik, die er mit seiner konstruierten Rechenmaschine bereits einleitete.
Mehr noch: Leibniz wirkte in allen Wissensbereichen und auf alle Wissenschaftsbereiche
ein. In dieser barock-absolutistischen Zeit war die Hochzeit der Hochdenker,
die Hochzeit der abendländischen Philosophie erreicht, wurde die Wissenschaft
enorm befördert. Hier waren Philosophen höchst angenehme Förderer
der Wissenschaft. Sie beschäftigten sich vielleicht auch schon mit der Frage,
ob und wie man mit diesem Wissen leben könnte, aber eigentlich lebten sie
selbst noch so stark in dieser besten aller Welten der Wissenschaft,
daß diese Frage auch für die Philosophie nur eine marginale Rolle spielen
konnte. ( ).
Christian Wolff (1679-1754) nannte die Philosophie vielleicht
auch deshalb die Wissenschaft aller möglichen Dinge. Kant
unterschied die Philosophie nach ihrem Schulbegriff, dem System aller philosophischen
Erkenntnisse, von der Philosophie nach ihrem Weltbegriff, der Wissenschaft von
der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft.
Goethe
bekannte sich zur Philosophie, wenn sie unsere ursprüngliche Empfindung,
als seien wir mit der Natur eins, erhöht, sichert und in ein tiefes, ruhiges
Anschauen verwandelt. Fichte
(1762-1814) lehrte: Was unsern Geist ergriffen und umgeschaffen und in
eine höhere Ordnung der Dinge eingeführt hat, ist Philosophie in uns;
in uns muß der Philosoph sein, unser gesamtes Wesen, unsere ganze Geistes-
und Herzensbildung muß selbst Philosophie sein. Hegel
nannte die Philosophie denkende Betrachtung der Gegenstände, die Wissenschaft
der sich selbst begreifenden Vernunft. Schelling
(1775-1854) stellte als Bedingung: Der zur Philosophie Berufene ist nicht
der, dessen Seele noch vollkommen einer tabula rasa gleicht, sondern derjenige,
der die ganze Weite und Tiefe des zu Begreifenden durch Erfahrung kennengelernt
hat. Schopenhauer
(1788-1860) sah in der Philosophie die Aufgabe, das ganze Wesen der Welt abstrakt,
allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen. Nietzsche (1844-1900) meinte,
daß die einzig mögliche und auch dann etwas beweisende Kritik einer
Philosophie sei, wirklich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne. Doch
eine solche Kritik sei nie auf Universitäten gelehrt worden, klagte er. Die
Philossophie wurde also zunehmend Angriffen, besonders aus den eigenen Reihen,
also der Selbstkritik,
ausgesetzt. Man wollte herausfinden, ob denn die Philosophie die Aufgabe erfüllen
könne, zwischen Wissenschaft und Religion eine Lebensorientirerung zu bieten,
oder ob sie sich nicht besser gleich auf die eine oder andere Seite stellen solle.
Sigmund Freud (1856-1939), der ein Schüler Schopenhauers
bzw. Nietzsches war, auch wenn er sein Schüler-Sein durch einen ausgeklügelten
Abwehrmechanismus ständig verdrängen mußte, meinte, die Philosophie
sei eine der anständigsten Formen der Sublimierung verdrängter Sexualität,
nichts weiter. Die Tatsache, daß er damit auch die Psychoanalyse, die Lebensphilosophie
und nichts weiter ist, ins Niemandsland stellte, kam dem Meister der Verdrängung
wohl nicht mehr ins Bewußtsein. Offenbar war ausgerechnet sein Ich
dem Über-Ich so vollends ausgeliefert, daß Es nichts
mehr zu melden hatte. Als Niemandsland zwischen Wissenschaft und Theologie, wie
Bertrand Russel (1872-1970) die Philosophie nannte, ist die Philosophie Angriffen
von beiden Seiten ausgesetzt, weil sie ja tatsächlich weder das positive
Wissen der objektiven Wissenschaften, noch die subjektive Gewißheit des
Gläubigen anbieten kann und will. Seitdem sich die Wissenschaft immer mehr
von dem religiösen und dem sittlichen Bewußtsein gelöst hatte,
ging es der Philosophie zunehmend auch um das Leben des Wissenden und darum, wie
man mit dem Wissen leben kann. Philosophie
ist immer ein Meta-Wissen oder ein Orientierungswissen durch Meta-Sprache.
(Vgl. Feuer
als 1.
Kultursymbol und Sprache
).
Nic. Hartmann (1882-1950) erkannte die Philosophie als das Weltbewußtsein,
in welchem der Mensch als in der Welt stehender sich dieser und seiner selbst
bewußt zu werden versucht. Von
Nietzsches nicht festgestelltem Tier und den Existenzialien
des Existenzphilosophen Heidegger (1889-1976) ausgehend, fand Clément
Rosset (*1939) die spezifische Aufgabe der Philosophie darin, Fragestellungen
für die am stärksten mit Angst besessenen Fragen zu entwickeln, wie
die nach dem Sinn des Lebens oder die, wie man überhaupt als ein mit besonders
hohem Bewußtsein begabtes Tier leben könne. Philosophie berührt
demnach die Fragen, auf die auch die Religionen, allerdings durch Glauben statt
durch Nachdenken,
Antworten geben. Bewußtsein bedeutet ja tatsächlich immer auch Todeswissen,
d.h. die Vorstellung möglichen eigenen Nichtseins, ja sogar einer Annullierung
des Universums. Und tatsächlich bedeutet Philosophie den immer neuen und
wiederholten Versuch, mit dem Wissen oder der Erkenntnis dessen, das man eigentlich
nicht kennen sollte und wohl auch gar nicht zu kennen braucht, zu leben. Leben
und Vernunft vertragen sich nicht unbedingt, so lehrt es die Bibel, jedenfalls
nicht ohne kompensierenden Gottesglauben. Glaubens-, Religions- und Theologieersatz
findet sich denn auch immer irgendwie in jeder Philosophie, die einen Versuch
darstellt, mit dem Wissen zu leben. Vgl. Glaube
(Religion, Theologie) - (  ).Im
Abendland begann die moderne Philosophie (das Spät-Denken)
mit dem Vater
der Moderne: Kant,
mit dessen Kritik der reinen Vernunft (1781) das moderne Denken aufbrach,
oder auch Hegel,
der dem Projekt der Moderne seinen Inhalt und sein Ziel gab. Nach ihnen entdeckte
man doch noch Philosophisch-Metaphysisches, z.B. Schopenhauer
den Willen hinter der Vernunft, Darwin
die Biologie hinter der Bibel-Geschichte, Kierkegaard
die sterbliche Existenz hinter der Spekulation, Marx
die Ökonomie hinter dem Geist, Nietzsche
(und Freud)
den Trieb hinter der Kultur, Planck
(und Einstein
*
sowie Heisenberg)
das Nichtwissen (d.h. die Wahrscheinlichkeit bzw. den Zufall) hinter dem Wissen,
und Heidegger
die konkrete Welt hinter der abstrakten. Wenn man Schopenhauer als Begründer
der (abendländisch-[skeptisch-]modernen) Lebensphilosophie bezeichnen darf,
so Kierkegaard als Nachfolger Schopenhauers und Begründer einer ersten Nebenlinie
dieser Schopenhauerschen Schule. Denn die Existenzphilosophie begann also eigentlich
schon mit Kierkegaard, und alle Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts waren
von ihm beeinflußt oder erkannten sich zumindest in ihm wieder, soweit sie
bereits ohne ihn ihr Konzept entwickelt hatten. Kierkegard hatte sich gegen Hegel
gewandt, weil in dessen vom Weltgeist regierten System für den Einzelnen
kein Platz und kein Sinn war. Diese Wendung hatte aber auch schon der späte
Schelling gemacht, dessen Vorlesungen Kierkegaard in Berlin gehört hatte.
Schelling sprach auch erstmals von Existenz und dem reinen Daß,
von dem seine positive Philosophie ausgeht. Darauf hat Hannah Arendt
(1906-1975) in ihrer Schrift von 1946 (Was ist Existenzphilosophie?) hingewiesen
und auch darauf, daß Karl Jaspers mit seiner Psychologie der Weltanschauungen
(1919) das erste Buch der neuen Schule (vgl. Mittlere Schule der Lebensphilosophie
bzw. Existenzphilosophie )
vorgelegt hat. In den 1920er Jahren war Hannah Arendt Heideggers Geliebte. ( ).
Heidegger elektrifizierte das Denken. Und: als Zauberer von Meßkirch
denkt er das Alltägliche. Am Anfang, so Heidegger, ist immer schon Bedeutung.
Was wir wahrnehmen, wenn wir wahrnehmen, ist das Dazwischen - zwischen Subjekt
und Objekt. Zwischen beiden fließt die Bedeutung unentwegt hin und her -
wie Strom, wie Übertragung an sich. Die Philosophie ist also noch immer nicht
tot. - Tod
und Wille zur Berührung durch Begriffsdenken. Wer bin ich? -
Wer sich fragt und überlegt, ob er denn das Philosophieren überhaupt
nötig habe oder ob er es nicht lieber sein lassen sollte, der findet sich
von der Philosophie bereits befallen. Er philosophiert! Jedenfalls sah Aristoteles
das so. Über die Philosophie spotten heißt in Wahrheit philosophieren,
meinte Blaise Pascal (1623-1662). Der Philosophie kann man nicht entkommen, wenn
man wissen will, ob und wie ein bewußtes Leben möglich ist, d.h. wie
es glücklich sein kann. Die Gleichung Wissen = Tugend = Glückseligkeit
scheint der von der Philosophie selbst suggerierte und verkündete Erfolg
der Philosophie zu sein. Hermann Schmitz (1928-2021), Begründer
einer neuen Phänomenologie, definierte in seinem System der Philosophie
die Philosophie als ein Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner
Umgebung. »Wer bin ich?«, diese Frage wäre damit die umfassendste
und zentrale Frage der Philosophie. Weil der Mensch aber gar nicht scharf von
der Umgebung abhebbar ist, kann die Frage »Wer bin ich?«
weder von den positiven Wissenschaften noch von den einsamen, meditativen Selbstgestaltungen
beantwortet werden. Die positiven Wissenschaften verwandeln nämlich alles,
was ich für ein Merkaml oder eine Bestimmung meiner selbst annehme, rücken
es von mir ab, machen es zum Umgebungsbestandteil, zu etwas Objektivem. Die einsame
Selbstgestaltung, z.B. durch Yoga oder Zen-Meditation, löst mich dagegen
ganz von meiner Umgebeung ab, so daß der Anlaß zu philosophischer
Besinnung entfällt: die Irritation beim Versuch, sich in seiner Umgebung
zu finden. Ich überschreite sie nämlich. Motiv der Philosophie oder
Anlaß zu ihr, wäre also eine Irritation, womöglich ein Erschrecken:
»Wie, wenn der Tod mich meiner Umgebung entreißt?«
»Warum überhaupt weiterleben, wenn der Tod alles zunichte macht?«
»Wozu ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?« »Warum
nicht jenseits von Gut und Böse leben, wozu ein Gewissen haben, wozu moralisch
sein?« - alles Beispiele für die Versuche der Philosophen,
Philosophie zu definieren. Für Schopenhauer
war der Tod der Musaget der Philosophie. Schon Platon bestimmte die Philosophie
als Einüben ins Sterben. Albert Camus (1913-1960) kannte nur ein einziges
philosophisches Problem: den Selbstmord. Martin Heidegger
wiederholte die Frage von Leibniz:
Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?
und nannte sie die Grundfrage der Metaphysik. Kant,
sofern er Moralphilosophie betrieb, sah im Gewissen den Garant ewigen Lebens.
Rosset
meinte, an ihrem Todes-Motiv bzw. an jenen Grundfragen sei die Philosophie auch
gescheitert, denn bis dahin sei es keinem Denker gelungen, einen Gedanken hervorzubringen,
der die Vorstellung des Todes und die sich aus ihr ergebende allgemeine Abwertung
jeglichen Daseins hätte aufwiegen können. Durchweg haben die Philosophen
sich vor dem Tod in die Vernunft, in die Rationalität gerettet, d.h. sie
haben ihr eigenes Medium, das Nachdenken,
womit sie ihr Leben verbrachten, zum ewigen Leben stilisiert, indem sie ihr Denken
als Anschluß ans Ewige verstanden: an die Wahrheit. Platon definierte: Philosophen
sind die, welche mit dem, was sich für ewig als dasselbe unwandelbar verhält,
in Berührung kommen wollen. Es gelingt ihnen durch das Denken, das soll heißen:
durch die Begriffe. (Vgl. Ideenlehre
und Meta-Sprache)
- (  ).
Wäre
ich meine eigene Vorstellung, so wäre ich das, was sich vorstellt als das,
was sich vorstellt als das, was .... Ich wäre eine rekursive Funktion f(x),
eine Funktion f mit sich selbst als Argument x, also f(f(f(...))), Hülle
ohne Fülle (?).
Was ist der Mensch? Nach Kant
lassen sich in dieser Frage alle Fragen der Philosophie zusammenfassen.
Nach seiner Meinung braucht man für die Antwort auf die Frage nach
der Reichweite des menschlichen Geistes keine Erforschung der paranormalen
Phänomene, bei denen der Geist des Menschen ohne Vermittlung des
Körpers auf außerkörperliche Dinge wirkt (z.B. Telekinese)
und auch ohne Vermittlung der Sinnesorgane wahrnimmt (z.B. Hellsehen).
Kant bestritt diese Phänomene in seiner Schrift Träume
eines Geistersehers (1766). Er hielt sie für Scharlatanerie
und gab damit dem berühmten Wissenschaftler und Ingenieur Emanuel
Swedenborg (1688-1772), der damals durch seine okkultem Fähigkeiten,
besonders den Kontakt mit Geistern, von sich reden machte, der Lächerlichkeit
preis. Als Kant dann etwas später dahinter kam, daß Raum, Zeit
und physikalische Kausalität nur subjektive Formen für die Erscheinung
der Dinge-an-sich
sein könnten, hätte er allerdings sein Urteil revidieren und
zumindest die Möglichkeit ( ) solcher von
Raum und Zeit unabhängiger Wirksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit
des Geistes zugestehen müssen. Er tat es nicht. ( ).
Aber Schopenhauer
hat dann in seiner Schrift Versuch
über das Geistersehen (1851) an seiner Stelle nachgeholt.
Für ihn ist die Natur an sich das, was wir in uns selbst unmittelbar
als Willen finden. Dieser Wille ist allmächtig, allsehend und allwissend.
Die okkulten Phänomene der actio et visio in distans (Fernwirken
und Fernsehen) geschehen durch Teilhabe des einzelnen Individuums am metaphysischen
Willen. Der von Haeckel (1834-1919) beeinflußte Biologe und Philosoph
Hans Driesch (1867-1941) gelangte nicht nur zur Aufstellung des Systems
eines kritischen antimaterialistischen Vitalismus, d.h. zu einem Neu-Vitalismus,
sondern erklärte in seinem Buch Alltagsrätsel des Seelenlebens
(1938) auch ganz im Sinne Schopenhauers die normale Wirksamkeit des
Geistes (mittels des Leibes) als Aufhebung einer Einschränkung und
als Kanalisierung der Allwirksamkeit und Allwissenheit des Geistes durch
den Leib. Allwirksamkeit und Allwissenheit sind in den leiblichen Individuen
als gänzlich maskiert oder eingeschränkt anzunehmen. Diese Maskierung
und Einschränkung werden bei gewissen Hirnreizungen partiell aufgehoben.
Was man das Paranormale nennt, ist also eigentlich das Normale:
das universelle Allwissen und Allwirken (vgl. Leibniz'
Ideal der Monade als wahrer Spiegel der Welt), das gelegentlich, meistens
durch emotionale Verbundenheit von seiner Verdeckung durch
die leibliche Individuation befreit wird. Neben Schopenhauer waren auch
Fichte und
Hegel Kants
Idealismus gefolgt, d.h. sie übernahmen Kants spätere Lehre
der Idealität (Imaginiertheit) von Raum und Zeit. Entsprechend war
ihre Einstellung zu parapsychologischen Phänomenen positiv. Parapsychologie
war damals, Ende des 18. Jahrhunderts, durch die Wirksamkeit des Franz
Anton Mesmer (1734-1815) im Gespräch. Man nannte sein Erforschen
und seinen Umgang mit okkulten Kräften deshalb Mesmerismus.
Mesmer selbst sprach vom tierischen oder animalischen Magnetismus,
weil er die dabei hauptsächlichen Hypnosephänomene durch Magnetismus
erklärte. Hegel stellte 1830 in der Enzyklopädie
III fest, daß die endlichen Auffassungen des Geistes
von empirischer Seite mit aller Brutalität einer ausgemachten
Tatsache vom animalischen Magnetismus verdrängt worden
seien und daß nun auch von theoretischer Seite diese Phänomene
eines von den Schranken des Raums und der Zeit befreiten unendlichen Geistes
begriffen werden müßten. Seine spekulative Philosophie sei
die einzige, für welche der animalische Magnetismus kein unbegreifliches
Wunder ist. Seitdem sich auch die Naturwissenschaft,
d.h. die naturwissenschaftlichen Disziplinen, mit diesen Äußerungen
seelischer Kräfte beschäftigt, die ihrer Art nach naturwissenschaftlich
sein müßten, es aber nicht sind (!), spricht man von Psi-Phänomenen
und unterscheidet hierbei Psi-Gamma-Phänomene (Wahrnehmungserscheinungen:
Hellsehen, Präkognition, Vorwegnahme künftiger Ereignisse u.s.w.)
und Psi-Kappa-Phänomene (Bewegungserscheinungen: Psychokinese,
seelische Fernbeeinflussung eines Objekts u.s.w.). Eine Gesellschaft
für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie wurde
z.B. 1950 in Freiburg (Breisgau) gegründet.
Auch scheint man immer mehr darauf
aufmerksam zu werden, daß an jeder rein wissenschaftlichen Erkenntnis
der Glaube einen großen Anteil hat, z.B. der Glaube an die - wenn auch nicht
vollkommene - Übereinstimmung der Erkenntnis- und der Seinskategorien. Die
Beziehung zwischen Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß besteht aus einer
psychophysischen Grundrelation (a posteriori) und einer kategorialen
Grundrelation (a priori) als Verhältnis zwischen Erkenntnis- und Seinskategorien.
Im Wahrnehmungsakt sind beide Grundrelationen im Spiel: die kategoriale
bringt die Allgemiencharaktere des Gegenstandes zum Bewußtsein, die psychophysische
die individuellen Sondercharaktere. Durch die kategoriale Grundrelation
begreifen wir, wissen wir aber nicht um das Dasein; durch die psychophysische
Grundrelation wissen wir um das Dasein, begreifen es aber nicht. (N.
Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, 1921). Schon
Philosophen wie Leibniz (Prästabilisierte
Harmonie), Spinoza, Schelling, Schopenhauer und Fechner hatten z.B.
für das Verhältnis zwischen Denken und Sein oder Psychischen und Physischen
einen psychophysischen Parallelismus angenommen, wonach die beiderseitigen Verläufe
einander sachlich und zeitlich streng entsprechen, ohne im mindesten in Wechselwirkung
zu stehen. Fechner (1801-1887), der Begründer der
Psychophysik,
wollte die gesamte Leib-Seele-Frage über den psychophysischen Parallelismus
lösen. ( ).
Er gelangte durch Verallgemeinerung, Erweiterung und Steigerung der Gesichtspunkte
über das Erfahrbare hinaus zu einer panentheistischen und panpsychistischen
Naturphilosophie. Nach dem Panpsychismus sind alle Dinge beseelt, haben Leben
und Bewußtsein, als ob nichts wirklich Totes existiere. Der Panentheismus
ist die Vereinigung von Theismus, der das All, die Natur, von Gott machen läßt,
und Pantheismus, der das All, die Natur zu Gott macht. Der Panentheismus aber
ist keine All-Gott-Lehre, sondern behauptet nur das Enthaltensein des Weltganzen
in Gott. Von der romantischen Naturphilosophie beeinflußt, bemühte
sich der Physiker, Psychologe und Philosoph Fechner, für das Psychische ein
physikalisches Maß zu finden und die Beziehung von Leib und Seele mathematisch
zu formulieren und begründete nebenbei die experimentelle Psychologie und
damit die Psychophysik, die von Wilhelm Wundt (1832-1920) und seinem psychologischen
Institut in Leipzig weiter ausgebaut und zu einer der wichtigsten Grundlagen der
Psychotechnik wurde. Wundt sagte über den psychophysischen Parallelismus,
daß alle diejenigen Erfahrungsinahlte, die gleichzeitig der mittelbaren,
naturwissenschaftlichen und der unmittelbaren, psychologischen Betrachtungsweise
angehören, zueinander in Beziehung stehen, indem innerhalb jedes Gebiets
jedem elementaren Vorgang auf psychischer Seite ein solcher auf physischer entspricht.
Die Gesamtheit der im Großhirn liegenden Endabschnitte der von den Sinnesorganen
ausgehenden chemisch-physikalischen Wirkungsreihen (vgl. Reize) wird häufig
auch als psychophysisches Niveau bezeichnet. Nur diejenigen Prozese in
den Nervenbahnen und überhaupt im nervösen System des körperlichen
Organismus sind bewußtseinsfähig und können eine Empfindung oder
Wahrnehmung konstituieren, die sich im psychophysischen Niveau abspielen.
Weil Näheres unbekannt ist, bleibt die Angelegenhiet eine Leib-Seele-Frage,
und die Beziehungen zwischen Leib und Seele, die besonders in der heutigen Medizin,
Psychotherapie und Psychopathologie eine zentrale Rolle unter der Bezeichnung
Psychosomatik spielen, sind überhaupt nicht geklärt. Die Vorgänge
im psychophysischen Niveau müssen als metaphysisch und metapsychisch
zugleich aufgefaßt werden ; nur gewisse Glieder dieser Vorgänge treten
als physiologische Erscheinungen auf. Heidegger
fand bei Husserl eine energische Verteidigung der Logik gegen ihre psychologische
Relativierung. Worum es dabei geht, steht in Heideggers Aufsatz von 1912: Grundlegend
für die Erkenntnis der Widersinnigkeit und theoretischen Unfruchtbarkeit
des Psychologismus bleibt die Unterscheidung von psychischem Akt und logischem
Inhalt, von realem in der Zeit verlaufendem Denkgeschehen und dem idealen außerzeitlichen
identischen Sinn, kurz die Unterscheidung dessen, was ist, von dem,
was gilt. (Martin Heidegger, Gesamtausgabe, I, S. 22;
vgl. auch Heideggers Dissertation: Die Lehre vom Urteil im Psychologismus,
1913). Mit dieser Unterscheidung zwischen psychischem Akt und logischem
Inhalt hatte Husserl zu Beginn des Jahrhunderts den gordischen Knoten des Psychologismusstreites
durchhauen, allerdings sehr subtil, weshalb nur wenige, unter ihnen der junge
Heidegger, bemerkten, was da geschehen war. Vordergründig handelte es sich
um ein fachphilosophisches Problem, und doch kamen in diesen Kontroversen die
gegensätzlichen Tendenzen und Spannungen der Epoche zum Austrag. Die Philosophie
um 1900 befindet sich in schwerer Bedrängnis. Die Naturwissenschaften im
Bunde mit Positivismus, Empirismus und Sensualismus nehmen ihr die Luft zum Atmen.
.... Nun ist der Verstand, mit dem wir diesen ganzen Prozeß in Gang setzen,
selbst ein Teil der Natur. Man müßte ihn also, so das ehrgeizige Vorhaben,
mit derselben Methodik erforschen können wie die äußere
Natur. Und deshalb entsteht gegen Ende des Jahrhunderts, verbunden mit den Wissenschaften
der Physiologie und Chemie des Gehirns, eine Art Naturwissenschaft
des Psychischen: die experimentelle Psychologie. .... Aus dieser Perspektive erscheint
die Logik als ein Naturgeschehen in der Psyche. Und das genau ist
das Problem des Psychologismus. Denn die Naturalisten des Psychischen
machen aus der Logik, diesem Regelwerk des Denkens, ein Naturgesetz
des Denkens, und sie übersehen dabei, daß die Logik durchaus nicht
empirisch beschreibt, wie wir denken, sondern wie wir denken sollen, vorausgesetzt,
wir wollen zu Urteilen mit Wahrheitsanspruch kommen, was die Wissenschaft ja beansprucht.
Indem die Wissenschaft das Denken als psychisches Naturgeschehen analysiert, verwickelt
sie sich in einen heiklen Widerspruch: Sie untersucht das Denken wie ein Vorkommnis,
das gesetzmäßig abläuft, würde aber, wenn sie auf sich selbst
aufmerksam wäre, bemerken müssen, daß ihr Denken kein sich gesetzmäßig
vollziehender Vorgang ist. Das Denken ist nicht von Gesetzen bestimmt, sondern
es bindet sich an bestimmte Regeln. Im weiten Feld des Denkbaren tritt die Logik
nicht als Naturgesetz auf, sondern als etwas, das gilt, wenn wir es gelten lassen.
Der Begriff des Gesetzes hat bekanntlich einen Doppelsinn: Er bezeichnet das,
was regelmäßig und notwendig so geschieht, wie es geschieht; und er
bezeichnet ein Regelwerk, das dem Geschehen einen bestimmten Ablauf vorschreiben
will. Im ersten Fall sind es Gesetze des Seins, im zweiten Gesetze des Sollens;
das eine Mal beschreiben sie, was ist, das andere Mal schreiben sie vor. Husserls
Untersuchungen zielen darauf ab, die Logik vom Naturalismus zu befreien und ihren
normativen, und das heißt: geistigen Charakter wieder ans Licht zu bringen.
.... Der Rechenvorgang »zwei mal zwei ist vier« ist ein psychischer
Akt, aber das »zwei mal zwei ist vier« gilt auch dann noch, wenn dieser
psychische Akt nicht vollzogen wird. Das Rechenergebnis beansprucht Geltung unabhängig
davon, ob der eine oder andere Kopf diese Rechnung gerade vornimmt. Wer rechnet
oder sonst irgendwelche logische Operationen durchführt, kommt - und das
klingt schon sehr platonisch - zu einer Teilhabe an einem transsubjektiven Reich
des Geistes. Die dort versammelten Bedeutungs- und Geltungssphären werden
aktualisiert und in Anspruch genommen, wenn die als psychisches Geschehen beschreibbaren
Akte des Denkens vollzogen werden. .... Die Logik der syllogistischen Schlußweise
z.B. haben wir nicht untereinander verabredet und zur richtigen erklärt
- sie ist richtig. Alle Menschen sind sterblich - Sokrates ist ein Mensch - Also
ist Sokrates sterblich: diese Schlußweise ist evidenterweise richtig; sie
gilt. Ob die so gebildeten Urteile empirisch zutreffen, ist damit keinesfalls
entschieden; das hängt davon ab, ob die Prämissen (»Alle Menschen
sind sterblich ...« ) richtig sind. Wir können mit der richtigen Schlußweise
jede Menge falscher Urteile fällen (wenn alle Menschen Beamte wären,
dann wäre Sokrates auch einer). Deshalb kann man auch nicht sagen, wir hätten
uns die logischen Schlußweisen angewöhnt, weil sie uns zu Erkenntniserfolgen
verholfen haben. Zu Erkenntniserfolgen im empirischen Sinne brauchen sie uns überhaupt
nicht zu verhelfen, viel häufiger führen sie uns in die Irre. Diese
Schlüsse sind also nicht erfahrungsbewährt, sondern, wie jede logische
Operation, einfach nur selbstevident. Je mehr man sich in diese Evidenz der Logik
vertieft, um so rätselhafter wird sie. Von einer einfachen Analyse des Syllogismus
gelangt man jäh in das Zauberreich eines Geistes, der triumphiert über
alle Versuche, ihn pragmatisch, biologistisch, naturalistisch, soziologistisch
zu reduzieren. (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland -
Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 40-43).  Auf
bezeichnende Weise ist es aber gerade jene Phase (die ich Kampf ums Ei oder
Krise nenne )
seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die unter dem Eindruck der praktischen
Erfolge der empirischen Wissenschaften eine wahre Leidenschaft entwickelt fürs
Reduzieren, für die Austreibung des Geistes aus dem Felde des Wissens. Nietzsche
hatte diesem Jahrhundert die Diagnose gestellt, es sei »redlich« und
»ehrlich«, aber auf pöbelhafte Weise. Es sei »vor der Wirklichkeit
jeder Art unterwürfiger, wahrer«. Es habe sich von der »Domination
der Ideale« losgerissen und überall instinktiv nach Theorien gesucht,
die geeignet seien, eine »Unterwerfung unter das Tatsächliche«
zu rechtfertigen. Nietzsche hatte den biedermeierlichen, auch kleinmütigen
Aspekt dieses Realismus vor Augen. Tatsächlich aber triumphierte seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts ein Realismus, der sich dem Tatsächlichen nur
unterwarf, um es um so vollkommener beherrschen und in seinem Sinne umgestalten
zu können. Der »Wille zur Macht«, den Nietzsche dem »freien
Geist« zugedacht hatte, triumphiert nicht auf der Gipfelhöhe von »Übermenschen«,
sondern im ameisenhaft fleißigen Betrieb einer Zivilisation, die ihre praktische
Vernunft verwissenschaftlicht. Das galt für die bürgerliche
Welt, aber auch für die Arbeiterbewegung, deren schlagkräftige Losung
lautete: »Wissen ist Macht«. Bildung sollte gesellschaftlichen Aufstieg
bringen und gegen Täuschungen jeder Art resistent machen: Wer etwas weiß,
dem kann man so leicht nichts mehr vormachen; das Beeindruckende am Wissen ist,
daß man sich nicht mehr beeindrucken zu lassen braucht. Ein Souveränitätsgewinn
wird versprochen, und es wird dem Bedürfnis entsprochen, das die Dinge herunterziehen
und aufs eigene, womöglich kümmerliche Format bringen will. Es ist schon
erstaunlich, wie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, nach den idealistischen
Höhenflügen des absoluten Geistes, plötzlich überall die Lust
aufkommt, den Menschen klein zu machen. Damals begann die Karriere
der Denkfigur: Der Mensch ist nichts anderes als .... Für die Romantik hob
die Welt zu singen an, wenn man nur das Zauberwort traf. Die Poesie und Philosophie
der ersten Jahrhunderthälfte war das hinreißende Projekt, immer neue
Zauberworte zu finden und zu erfinden. Die Zeit verlangte überschwengliche
Bedeutungen. Die Matadore auf dieser Zauberbühne des Geistes waren Reflexionsathleten,
und doch erschienen sie in dem Augenblick, als die Realisten mit ihrem Tatsachensinn
und bewaffnet mit der Formel des nichts anderes als in der Tür
standen, wie naive Kinder, die herumgetollt und alles durcheinandergeworfen hatten;
doch jetzt geht es ans Aufräumen, jetzt beginnt der Ernst des Lebens, dafür
werden die Realisten schon sorgen. Dieser Realismus der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts wird das Kunststück fertigbringen, klein vom Menschen zu
denken und Großes mit ihm anzustellen, wenn wir denn die moderne verwissenschaftlichte
Zivilisation, von der wir alle profitieren, groß nennen wollen.
.... Die Trockenlegung des Deutschen Idealismus hatte um die Mitte des Jahrhunderts
ein Materialismus von robuster Gestalt besorgt. Breviere der Ernüchterung
wurden damals plötzlich bestsellerfähig. Da war Karl Vogt mit seinen
»Physiologischen Briefen« (1845) und seiner Streitschrift »Köhlerglaube
und Wissenschaft« (1854); Jakob Moleschotts »Kreislauf des Lebens«
(1852), Ludwig Büchners »Kraft und Stoff« (1855) und Heinrich
Czolbes »Neue Darstellung des Sensualismus« (1855). Czolbe hatte das
Ethos dieses Materialismus aus Kraft und Stoß und Drüsenfunktion mit
den Worten charakterisiert: »Es ist eben ein Beweis von ... Anmaßung
und Eitelkeit, die erkennbare Welt durch Erfindung einer übersinnlichen verbessern
und den Menschen durch Beilegung eines übersinnlichen Teiles zu einem über
die Natur erhabenen Wesen machen zu wollen. Ja gewiß - die Unzufriedenheitmit
der Welt der Erscheinungen, der tiefste Grund der übersinnlichen Auffassung
ist ... eine moralische Schwäche.« Czolbe schließt mit der Aufforderung:
»Begnüge dich mit der gegebenen Welt.« Aber was war einer solchen
Sinnesart nicht alles gegeben! Die Welt des Werdens und Seins - nichts
anderes als das Gestöber von Molekülen und die Umwandlungen von Energien.
Es galt die Welt des Atomisten Demokrit. Man braucht nicht mehr den »Nous«
des Anaxagoras und die Ideen des Platon und man braucht nicht den Gott der Christen,
nicht die Substanz des Spinoza, nicht das »cogito« des Descartes,
nicht das »Ich« Fichtes und nicht den »Geist« Hegels.
Der Geist, der im Menschen lebt, ist nichts anderes als Gehirnfunktion. Die Gedanken
verhalten sich zum Gehirn wie die Galle zur Leber und der Urin zur Niere. »Etwas
unfiltriert« seien diese Gedanken, bemerkte damals Hermann Lotze, einer
der wenigen Überlebenden aus dem vormals starken Geschlecht der Metaphysiker.
Lotze war es auch, der - erfolglos - die Materialisten auf ihren Salto mortale
in die Dummheit hinwies. Er erinnerte an Leibniz, der die ganze Materialismusfrage,
besonders das Verhältnis von Bewußtsein und Körper, in der Auseinandersetzung
mit Hobbes schon erledigt hatte: Wenn etwas auf etwas beruht, dann heißt
das gerade nicht, daß es mit diesem identisch ist, denn wäre es das,
wäre es nicht unterschieden; wäre es aber nicht unterschieden, könnte
das eine nicht auf dem anderen beruhen. Das Leben des Menschen, sagt Leibniz,
beruht auf der Atmung, ist darum aber noch lange nicht bloß Luft. Der Siegeszug
des Materialismus war durch kluge Einwände nicht aufzuhalten, vor allem deshalb
nicht, weil ihm ein besonderes Metaphysikum beigemischt war: der Glaube an den
Fortschritt. Wenn wir die Dinge und das Leben herunteranalysieren bis auf seine
elementarsten Bestandteile, dann werden wir, so lehrt dieser Glaube, das Betriebsgeheimnis
der Natur entdecken. Wenn wir herausbringen, wie alles gemacht ist, sind wir imstande,
es nachzumachen. Hier arbeitet ein Bewußtsein, das allem auf die Schliche
kommen will, auch der Natur, die man - im Experiment - auf frischer Tat ertappen
muß, und der man, wenn man weiß, wie sie läuft, zeigt, wo es
langgeht. Diese Geisteshaltung gibt auch dem Marxismus in der zweiten Hälfte
des 19.Jahrhunderts Auftrieb. In mühevoller Kleinarbeit hatte Marx den Gesellschaftskörper
seziert und dessen Seele herauspräpariert: das Kapital. Am Ende war dann
nicht mehr ganz klar, ob denn die messianische Mission des Proletariats - Marx'
Beitrag zum Deutschen Idealismus vor 1850 - gegen die eherne Gesetzmäßigkelt
des Kapitals - Marx' Beitrag zum deterministischen Geist nach 1850 - überhaupt
noch eine Chance haben würde. Auch Marx will allem auf die Schliche kommen,
die Ideologiekritik macht es möglich. Für den Ideologiekritiker werden
die Gedanken nicht vom Gehirn, wie bei der großen Schar der philosophierenden
Physiologen und Zoologen, sondern von der Gesellschaft ausgeschwitzt. Auch der
ideologiekritische Gesellschaftswissenschaftler will die absonderlichen Absonderungen
des Geistes entzaubern. Die Feldzüge des Materialismus gelten dem Gelten.
1866 erschien eine schlagende Kritik dieser Geisteshaltungen, F. A. Langes klassisches
Werk »Geschichte des Materialismus«. Man kann nicht sagen, daß
es wirkungslos blieb. Nietzsche ist davon stark beeinflußt worden .... Auch
der Neukantianismus ... ist von Lange auf den Weg gebracht worden. Der Grundgedanke
Langes ist die Wiederherstellung jener säuberlichen kantianischen Scheidung
zwischen einer erscheinenden Welt, die wir nach Gesetzen analysieren können;
einer Welt, zu der wir als Ding unter Dingen mit einem Teil unseres Wesens auch
gehören - und einer Welt, die auch in uns hineinreicht, die früher »Geist«
genannt wurde und bei Kant dann »Freiheit« in Ansehung des inneren
Menschen und »Ding an sich« in Ansehung der äußeren Welt
heißt. Lange erinnert an Kants Definition der Natur: sie sei nicht dasjenige,
worin die Gesetze, die wir Naturgesetze nennen, gelten - sondern umgekehrt. Sofern
wir etwas unter dem Gesichtspunkt solcher »Gesetze« ansehen, konstituieren
wir es als erscheinende »Natur«, sofern wir es aber unter dem Gesichtspunkt
von Spontaneität und Freiheit ansehen, handelt es sich um »Geist«.
Beide Sichtweisen sind möglich und notwendig und vor allem: sie sind nicht
konvertibel. Wir können uns selbst als Ding unter Dingen analysieren, wir
können uns, wie Hobbes das ausdrücklich getan hat, als eine Maschine
ansehen, aber wir wählen diese Perspektive - wir sind so frei, uns zu Maschinen
zu machen. Wir sind ein Bestandteil der erscheinenden Welt, also Natur nach dem
Gesetz, Ding unter Dingen, und zugleich erfährt jeder in sich die Spontaneität
der Freiheit. Freiheit ist das sich in uns offenbarende Geheimnis der Welt, die
Rückseite des Spiegels der Erscheinungen. Das »Ding an sich«
- das sind wir selbst in unserer Freiheit, das Herz aller Bestimmungen ist die
Dimension, wo wir uns selbst bestimmen können. Diese Kantsche Doppelperspektive
- der Mensch ist Ding unter Dingen und Freiheit - bringt F. A. Lange wieder ins
Spiel. Der Materialismus als naturwissenschaftliche Forschungsmethode, sagt er,
ist durchaus zu bejahen. Die naturwissenschaftliche Erfahrung muß so vorgehen,
als ob es nur materielle Realität gäbe. Sie dürfe nicht, wenn sie
an irgendeiner Stelle mit ihren Erklärungen nicht weiterkomme, den Geist«
als Lückenbüßer einsetzen. »Geist« ist nicht ein Glied
in einer Kausalkette, er ist vielmehr die andere Seite der ganzen Kette. Man kann
naturwissenschaftlich Physiologie des Psychischen betreiben, darf dabei allerdings
nicht vergessen, daß man damit nicht das Seelische selbst, sondern nur seine
materiellen Äquivalente erfaßt. Lange kritisiert nicht die naturwissenschaftlichen
Verfahrensweisen, sondern nur das falsche Bewußtsein und die schlechte Philosophie,
die sie begleiten - die Vorstellung nämlich, daß mit der Analyse der
»res extensa« das Menschliche erschöpft sei. Wenn man schon in
Raum-Kategorien denkt, liegt die Suggestion tatsächlich nahe, daß alles,
was ist, an irgendeiner Raumstelle oder an einer räumlich darstellbaren Struktur
aufgwiesen werden müsse. F. A. Langes großes Verdienst war es, gezeigt
zu haben: Wie es einen Siedepunkt des Idealismus gibt, wo aller Geist verdampft,
so gibt es auch einen Gefrierpunkt des Materialismus, wo sich nichts mehr bewegt,
es sei denn man schmuggelt Geist inkognito ein, beispielsweise in der Gestalt
der Vitalkraft, von der keiner so genau weiß, was sie ist. Gegen
die idealistische Verdampfung und den materialistischen Gefrierpunkt plädiert
Lange für das Sowohl-Als-auch von Geist und Materie. Lange verteidigt eine
Metaphysik zu herabgesetztem Preis. Sie gilt ihm als Begriffsdichtung, eine erhebende
Mischung aus Poesie und Wissen. Ebenso steht es mit der Religion. Wenn sie behauptet,
ein Wissen von Gott, Seele, Unsterblichkeit zu besitzen, dann setzt sie sich der
wissenschaftlichen Kritik aus und kann sich nicht mehr halten. Eine Frontbegradigung
ist notwendig. Der »Standpunkt des Ideals« darf seinen Stolz nicht
darauf gründen, daß er die Wahrheit erkennt, sondern daß er Werte
bildet und dadurch Wirklichkeit umbildet. Für die Empirie gibt es Wahrheit,
für den Geist gibt es Werte. Nietzsche wird dann dieser von Lange konzipierten
friedlichen Koexistenz zwischen Wahrheit und Wert ein Ende bereiten, indem er
einfach einen Schritt weitergeht und den Wert der Wahrheit zur Disposition stellt.
Lange wollte die Werte vor dem Ansturm der Wahrheiten retten, bei Nietzsche werden
dann umgekehrt die Wahrheiten vom Vitalismus der Wertungen verschlungen. Dann
ist Wahrheit nur noch die Illusion, bei der wir uns gut befinden und die uns nützt.
Andere werden umgekehrt die Werte als bloße Sachverhalte, die eben in Kulturen
vorkommen, definieren: »Wertverhalte« heißen sie bei Rickert.
Man kann sie in kulturwissenschaftlicher Perspektive beschreiben und von ihnen
in historischer Perspektive erzählen. Das Gelten gilt nur, wenn es ein Faktum
geworden ist. Es gilt nur, was gegolten hat ... (vgl. Pointe des Historismus).
F. A. Lange sucht den Ausgleich - der Materialismus soll seine Macht teilen mit
der Welt des Geistes .... Dieser Idealismus soll die von Wissenschaft und Technik
vorangetriebene Zivilisation ins Gleichgewicht bringen. Es ist ein Idealismus
des »Als-ob«; denn die Werte, die empfohlen werden, haben ihre alte
Würde und Seinsmächtigkeit verloren, da man in ihnen das Selbstgemachte
erkennt. Das Ideal ist eigentlich nur ein Idol, es schimmert im Talmiglanz des
Künstlichen. Die Idealisten können am Guten und Schönen offenbar
nur noch festhalten in der Gesinnung unfreiwilliger Frivolität. .... Ein
philosophischer Bestseller am Ende des Jahrhunderts, der dieser bildungsbürgerlichen
Frivolität beredten Ausdruck gibt, ist Hans Vaihingers »Philosophie
des Als Ob«. Hier werden die Werte als nützliche Fiktionen bezeichnet.
Es handelt sich um bloße Erfindungen, aber wenn sie bei der theoretischen
und praktischen Bewältigung unserer Lebensaufgaben helfen, dann bekommen
sie eine Bedeutung, die wir gewöhnlich objektiv nennen. ....
Das Als-ob verlangt die Inszenierung, es lebt von ihr. Keiner wußte das
so gut wie Richard Wagner, der alle Register des Theaterzaubers zog, um seine
Zeit zu erlösen, die befristete Erlösung, die Erlösung als ob.
Das alles vertrug sich mit einer realitätssüchtigen Gesinnung. Gerade
weil dieser Sinn so überaus tüchtig war, mußte er ein wenig geschönt,
drapiert, ziseliert und so weiter werden, damit das Ganze nach etwas aussah und
etwas galt. (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger
und seine Zeit, 1994, S. 43-49).Diese Mischung aus Realitätstüchtigkeit
und Als-ob-Gesinnung, so Rüdiger Safranski, hätte dem Pragmatismus mehr
Auftrieb gegeben, und der Pragmatismus plädiert bekanntlich für
eine Abrüstung in den Angelegenheiten der Wahrheit. Wahrheit wird aus ihrer
Verankerung im Ideenreich gerissen und heruntergestuft zu einem sozialen Prinzip
der Selbstregulation von Handlungsabläufen. Das Kriterium der Wahrheit liegt
im praktischen Erfolg, und das gilt auch für die sogenannten Werte. Ihre
Wirklichkeit bewährt sich nicht in der ominösen und nie zureichend ausweisbaren
Übereinstimmung mit einem idealen Sein, sondern sie bewährt sich im
Wirken. Der Geist ist, was er bewirkt. Der Pragmatismus ersetzt die Korrespondenztheorie
der Wahrheit durch die Theorie der Effizienz. .... Der blinde Zufall bringt eine
Natur hervor, deren Resultate so aussehen, als verfolge sie ein Ziel. Gott würfelt
nicht (oder doch) - das mag sein, die Natur aber
glaubt man bei ihrem Würfelspiel ertappt zu haben. .... Zu den Voraussetzungen
des Erfolges gehören die spirituelle Enthaltsamkeit und die Neugier für
Näherliegendes, für das Unsichtbare nicht jenseits, sondern in der Welt
- für die Mikrologie der Zellen und die Makrologie der elektromagnetischen
Wellen. Beide Male dringt die Forschung ins Unsichtbare ein und bringt sichtbare
Ergebnisse hervor, zum Beispiel im Kampf gegen die mikrobischen Krankheitserregeroder
in Gestalt der weltumspannenden drahtlosen Telegraphie. Manche Träume der
Metaphysik - Souveränitätsgewinn gegenüber dem Körper, Überwindung
von Raum und Zeit - sind technische Wirklichkeit geworden. (Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994,
S. 49-51).Wenn die Physik das Fliegen lernt, dann stürzen
die Überflieger der Metaphysik ab und müssen sich fortan auf platter
Erde entwickeln. Was sie dort tun können, ist, wie das Beispiel der Neukantianer
lehrt, bescheiden genug. Einer von ihnen, Paul Natorp, definierte 1909 die Aufgabe
der Philosophie so: Sie sei nichts anderes als das methodische Bemühen der
Wissenschaft um Selbstdurchsichtigkeit. In der Philosophie bringt die Wissenschaft
sich ihre eigenen Prinzipien, Verfahrensweisen und Wertorientierungen zu Bewußtsein.
Das nennt Natorp die »Wegweisung der Wissenschaft ... nicht von außen
her, sondern durch Aufklärung über das innere Gesetz der Bahn, die die
Wissenschaft schon immer beschrieben hat und unermüdlich weiter beschreibt«.
Das verpflichtet die Philosophie auf ein Ziel, das die genaue Umkehrung ihres
Anfangs darstellt: »Erst barg die Philosophie in ihrem Schoße die
Keime aller Wissenschaft; nachdem sie sie aber geboren und ihre Kindheit mütterlich
gehegt hat und sie unter ihrem Schirm reif und groß geworden sind, sieht
sie sie nicht ungern in die weite Welt hinausziehn, sie sich zu erobern. Noch
schaut sie eine Weile mit treuer Sorge ihnen nach, läßt auch wohl bisweilen
ihr leise warnendes Wort an sie ergehen, das ihre nun errungene Selbständigkeit
doch nicht einschränken will oder kann; endlich aber zieht sie sich still
auf ihr Altenteil zurück, um eines Tages, kaum vermerkt und kaum vermißt,
aus der Welt verschwunden zu sein.« Die Windelband, Natorp, Rickert, Cohen
nannte man »Neukantianer«, weil sie den modernen Naturwissenschaften
die methodische Reflexion Kants anempfahlen und in der Frage der Begründung
von ethischen Normen ebenfalls auf Kant zurückgingen. In dieser noch bis
zum Ersten Weltkrieg mächtigen philosophischen Strömung gab es viel
Scharfsinn und Streitlust im einzelnen, insgesamt aber war man in der Defensive
gegenüber der Übermacht des wissenschaftlichen Geistes der Zeit. Es
war dies eine Philosophie, die hoffte, nach dem Ende der Philosophie in ihren
»Kindern«, den Wissenschaften also, fortleben zu können. Allerdings,
so räumt Natorp ein, sieht es mit der »Philosophie in den Wissenschaften«
noch nicht sehr »hoffnungsvoll« aus. Tatsächlich gab es noch
große Mengen unreflektierten weltanschaulichen Ballastes, spekulative Schmuggelware
im Gepäck empirischer und exakter Wissenschaftler, die für ihren Kinder-
und Köhlerglauben, den sie sich bewahrt hatten, das Prestige der Wissenschaftlichkeit
in Anspruch nahmen. Der Zoologe Ernst Haeckel beispielsweise war ein Wissenschaftler
von dieser Sorte. Er destillierte aus der Darwinschen Entwicklungsbiologie eine
monistische Welt- und Weltall-Lehre, die vorgab, alle »Welträtsel«,
so auch der Titel von Haeckels Bestseller von 1899, gelöst zu haben. Die
Neukantianer wollten im doppelten Sinn das Gewissen der Wissenschaft sein: als
methodisches Gewissen und als ethisches Gewissen, denn das war ihre zweite Spezialität
- das Problem des Wertes. Wie, so lautete die Frage, läßt sich wissenschaftlich
jener Vorgang analysieren, bei dem nicht etwa - wie in den Naturwissenschaften
- etwas zu etwas wird, sondern bei dem etwas als etwas gilt. Für die Neukantianer
war Kultur der Inbegriff für die Sphäre der Werte. Die materielle Substanz
einer Plastik etwa läßt sich physikalisch, chemisch u.s.w. analysieren,
man wird dann aber nicht begriffen haben, was diese Plastik ist, denn sie ist
das, was sie bedeutet. Diese Bedeutung gilt und wird von jedem realisiert, der
diese Plastik nicht als einen Haufen Steine, sondern eben als Kunst auffaßt.
In allen Kulturvorgängen, so Rickert, sei »irgendein vom Menschen anerkannter
Wert verkörpert«. Natur und Kultur seien keine getrennten Sphären,
sondern Natur werde zu einem Kulturgegenstand in dem Maße, wie sie mit Werten
verknüpft werde. Sexualität beispielsweise ist ein wertfreies biologisches
Vorkommnis, als kulturell angeeignete wird sie zu einem sehr werthaltigen Ereignis:
zur Liebe. Die menschliche Realität ist durchwirkt von Wertbildungsvorgängen.
Darin liegt nichts Mysteriöses, die Wertewelt schwebt nicht über unseren
Häupten, sondern alles, womit der Mensch umgeht, erhält eben dadurch
einen Wertakzent. Aus einem Sachverhalt wird so zugleich ein »Wertverhalt«.
Sachverhalte können wir erklären, Wertverhalte aber können wir
nur verstehen. Die menschliche Gesellschaft insgesamt gleicht dem König Midas:
Was sie berührt, was sie in ihren Bannkreis zieht, wird zwar nicht Gold,
doch es erhält - Wert. Die Wertphilosophie war eine Obsession des Neukantianismus.
Vertieft in die Geheimnisse des Geltens, hatten diese akademischen Philosophen
übersehen, was vor allem gilt: das Geld. So war es denn ein Außenseiter,
Georg Simmel, der am Anfang des Jahrhunderts das geniale Meisterstück der
ganzen Wertphilosophie vorlegte: die »Philosophie des Geldes«. Simmel
beschreibt den Übergang vom Raub zum Tausch als das entscheidende Ereignis
der Zivilisation schlechthin. Deshalb nennt er den zivilisierten Menschen »das
tauschende Tier«. Der Tausch absorbiert die Gewalt und das Geld universalisiert
den Tausch. Das Geld, ursprünglich ein materielles Ding, wird zum Realsymbol
aller Güter, für die es in den Tausch gegeben werden kann. Gibt es erst
einmal das Geld, dann wird alles, womit es in Berührung kommt, verhext: Es
läßt sich nun nach seinem Wert taxieren, ob das nun eine Perlenkette,
eine Grabrede oder der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge ist. Das
Geld ist die real existierende Transzendentalkategorie der Vergesellschaftung.
Die Äquivalenzbeziehungen, die das Geld stiftet, verbürgen den inneren
Zusammenhang der modernen Gesellschaft. Das Geld ist jenes Zaubermittel, das die
Welt insgesamt in ein Gut verwandelt, das nach seinem Wert taxiert
und darum auch verwertet werden kann. Wie aber wird etwas zum Geld? Die
einfache, aber in ihren Konsequenzen unabsehbare Antwort: indem es zu etwas wird,
das gilt. Dieses Etwas, das gilt, läßt sich dann dafür einsetzen,
jemand anderem, von dem man etwas will, dieses Begehrte zu entgelten. Das Austauschmaß
ist jeweils genau berechenbar, doch dunkel bleibt, wo dieses Maß eigentlich
entspringt. Die einen sagen: in der Arbeit; die anderen: auf dem Markt; wieder
andere: im Begehren; noch einmal andere: in der Knappheit. Auf jeden Fall aber
haftet das Gelten des Geldes nicht an seiner materiellen Natur, eher noch ist
es gesellschaftlicher Geist, der zur materiellen Gewalt geworden ist. Die Zirkulationsmacht
des Geldes hat den Geist überflügelt, dem man einst nachsagte, er wehe,
wo er will ... Simmels Geist aber dringt, wie eben auch das Geld, in jeden noch
so verborgenen Winkel des gesellschaftlichen Lebens. Simmel kann alles mit allem
verbinden. Wenn das Geld für solche disparaten Dinge wie eine Bibel und eine
Flasche Branntwein einen gemeinsamen Wertausdruck schafft, dann entdeckt Simmel
darin eine Verbindung zum Gottesbegriff des Nikolaus von Kues, für den Gott
die »coincidentia oppositorum«, den Einheitspunkt aller Gegensätze
bedeutete. »Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck
und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich in abstrakter Höhe über
die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zum Zentrum, in dem die
entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich
berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung
über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten
Prinzips.« Die Analyse der Macht des Geltens kommt auch im Falle des Geldes
- wie das Beispiel Simmel zeigt - offenbar nicht ohne Rückgriff auf den metaphysischen
Begriffsbestand aus. In der metaphysikfeindlichen Epoche vor 1914 war also die
Sphäre des Geltens, und sei es die des Geldes, ein Asyl für die metaphysischen
Reste. Und so verhält es sich - um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren
- auch bei Husserl, der das psychologiefreie Gelten der Logik wie ein platonisches
Ideenreich gegen die Maulwürfe der naturalistischen Psychologie verteidigt.
In einer ähnlichen Verteidigungsstellung befindet sich der junge Martin Heidegger.
Auch er findet seine metaphysischen Reste, mit Husserl (und mit Emil Lask), im
Mysterium des Geltens, in der Sphäre der reinen Logizität, die allen
Versuchungen zur Relativierung durch Biologie oder Psychologie widersteht. ....
Mit der Logik glaubt Heidegger einen Zipfel überindividueller Geltung erhaschen
zu können, und das bedeutet ihm viel, denn er will an die objektive Realität
des Geistes glauben. Geist darf nicht bloß ein Erzeugnis unseres Kopfes
sein. Aber selbständige Realität will er auch der Außenwelt zugestehen.
Sie darf nicht zur Chimäre des subjektiven Geistes verdampfen. Das wäre
dann ja die erkenntnistheoretische Version des von ihm gescholtenen schrankenlosen
Autonomismus des Ichs. Heidegger will beides vermeiden: den Absturz in den
Materialismus und die falsche Himmelfahrt des subjektiven Idealismus. Seine ersten
philosophischen Gehversuche orientieren sich an einem kritischen Realismus,
für den gilt: nur wer an die Bestimmbarkeit einer realen Natur glaubt,
wird seine Kräfte an deren Erkenntnis setzen. Und er orientiert sich
an der Möglichkeit eines objektiven Geistes. (Rüdiger Safranski,
Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 51-55).
Aber von Dilthey, so berichtet Rüdiger Safranski, habe Heidegger gelernt,
daß auch Wahrheiten ihre Geschichte haben. Gegen Ende seiner Habilitationsarbeit
(1915) vollzog er den entscheidenden Perspektivenwechsel .... Die Einsicht Diltheys,
»daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen«,
wurde für ihn maßgeblich. Die radikal gefaßte Idee der Geschichtlichkeit
zerstört jeden universalistischen Geltungsanspruch. .... In
SEIN UND ZEIT (1927) lautet die Formel für die Fähigkeit, sich einsetzen
zu können: Mut zur Angst. .... Das Werk, effektsicher in seiner Dramaturgie,
beginnt mit einer Art Prolog im Himmel. Plato tritt auf. Ein Anspruch aus dem
Dialog »Sophistes« wird zitiert: »Denn offenbar seid ihr doch
schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck
s e i e n d gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu
verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen.« Diese Verlegenheit,
so Heidegger, gibt es immer noch, aber wir gestehen sie uns nicht ein. Immer noch
wissen wir nicht, was wir meinen, wenn wir sagen, etwas sei seiend.
Der Prolog führt Klage gegen eine doppelte Seinsvergessenheit. Wir haben
vergessen, was das Sein ist, und haben auch noch dieses Vergessen vergessen. Und
so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen, aber weil
wir das Vergessen vergessen haben, gilt es vordem, allererst wieder ein Verständnis
für den Sinn dieser Frage zu wecken. Wie es sich für einen Prolog
geziemt, wird auch schon zu Anfang angedeutet, worauf alles hinausläuft:
Die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses.
Der Sinn von Sein ist - die Zeit ( ).
Die Pointe wird verraten, aber um sie verständlich zu machen, braucht Heidegger
nicht nur dieses ganze Buch, sondern auch den Rest seines Lebens. (Rüdiger
Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994,
S. 169, 171-172). Und Heideggers Leben dauerte bekanntlich bis zum 26. Mai 1976
!
Die Erkenntnistheorie
( )
wurde zwar durch die im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts entstandene (sogenannte
!) wissenschaftstheoretische Wende ein wenig bereichert, doch
das Verhältnis der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaft blieb ambivalent.
Jede Wende (Beispiele: Linguistische
Wende, scheinbar neue anlytische Philosophie,
kritischer Rationalismus u.s.w.) konnte dieses Verhältnis
nur leicht verbessern. Da vor allem die Entwicklung der formalen Logik
(bzw. Logistik) und der Sprachphilosophie sowie die im Rahmen der damaligen
Denkgewohnheiten nicht erfaßbaren Vorstellungen der Quantentheorie
(Max Planck)
und Relativitätstheorie (Albert Einstein)
zur Entstehung einer neueren Wissenschaftstheorie geführt hatten,
blieb sie zunächst auch wesentlich bestimmt vom Neopositivismus und
logischen Empirismus; dagegen begründete z.B. Karl Popper
die zweite Grundrichtung dieser neueren Wissenschaftstheorie, den sogenannten
kritischen Rationalismus, nach dem sich Wissenschaftstheorie auf
die Untersuchungen der Bedingungen für eine Falsifikation der als
Hypothesen aufgefaßten wissenschaftlichen Theorien beschränken
muß. (Anti-Test). Der begründungstheoretische Ansatz wird,
gefördert z.B. durch die analytische Philosophie, zum einen von der
analytischen Wissenschaftstheorie, zum anderen in der operationalistisch
orientierten und von Paul Lorenzen
(1915-1994) begründeten konstruktiven Wissenschaftstheorie
fortgeführt. Aber trotzdem: das Verhältnis der Wissenschaftstheorie
zur Wissenschaft ist ambivalent. Faktische wissenschaftliche Forschung
steht eben oft unter anderen Bedingungen als ihre in der Wissenschaftstheorie
analysierten Strukturen und Normen. Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis
wird wissenschaftstheoretisch immer noch als Abgrenzungsproblem zwischen
wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Aussagen oder - wie bei
Kant
- als Kritik der reinen Vernunft behandelt. Als theoretische
Fundamentaldisziplin hat die Erkenntnistheorie damit die Stelle der Metaphysik,
d.h. ihren ersten Platz übernommen, denn in der transzendentalen
Erkenntnistheorie Kants erfuhr die Erkenntnistheorie ihre (wirklich) entscheidende
Wende. (Kant als Vater
der Moderne). Das scheinbar ewige Subjekt-Objekt-Problem
führte, indem unter Erkenntnistheorie nicht mehr nur primär
Methodologie naturwissenschaftlichen Wissens verstanden wurde, zu der
auch heute noch fundamentalen Unterscheidung zwischen Realismus und Idealismus.
(Übrigens muß wohl fraglich bleiben, ob Heideggers In-der-Welt-Sein
trotz enormen Willens und grandioser Versuche das Subjekt-Objekt-Problem
tilgen konnte  ).
Zugleich wurde die Erkenntnistheorie aus der Einsicht in die historische
Bedingtheit des Erkennens (vgl. Historismus)
durch die Hermeneutik ergänzt, d.h. wissenschaftstheoretisch um die
Unterscheidung von Verstehen und Erklärung. Die erkannte Bedeutung
der Sprachphilosophie gilt angesichts der sprachlichen Verfaßtheit
aller Erkenntnis auch für die Begründung des sogenannten exakten
Wissens (Mathematik, Naturwissenschaft).
Das System der Philosophie wird üblicherweise
gegliedert in:
Erkenntnistheorie
(Wissenschaftslehre mit Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis)
(auch genannt: Epistemologie, Erkenntnislehre, Erkenntniswissenschaft)
Metaphysik
(Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Existenzphilosophie, Theologie)
Logik
(Logistik, Mathematik)
Ethik und Rechtsphilosophie
Ästhetik und Kunstphilosophie
Naturphilosophie
Geschichts- und Kulturphilosophie
Sprachphilosophie
Sozialphilosophie
Wirtschaftsphilosophie
Religionsphilosophie
Anthropologie
Psychologie
...
In
der modernen Philosophie wurde mehr und mehr, in Nachahmung der Naturwissenschaften,
zwischen Lehre und Forschung in der akademischen Arbeit unterschieden, die ihrerseits
unter den Aspekten von Theorie und Praxis untersucht werden müßten.
Dies äußert sich darin, daß die Beschäftigung mit Grundfragen
der Humandisziplinen wie Soziologie, Politologie, Ideologiekritik u.a. in zunehmendem
Maße auch Probleme der konkreten Wissenschaftspraxis einzubeziehen sucht.
(Vgl. Erkenntnistheorie
).Die
Logik ist bekanntlich die Fähigkeit richtig, d.h. eben logisch zu denken
und die Lehre von der Identität und ihrer Verneinung bzw. von der Folgerichtigkeit
und von den Methoden des Erkennens ( ).
Als elementare formale Logik befaßt sie sich mit den allen Begriffen
eigenen allgemeinen Eigenschaften. Die grundlegenden Eigenschaften der Begriffe
werden ausgesprochen in den logischen Axiomen.
Es folgt die Lehre vom Begriff, dann die vom Urteil,
zuletzt die vom Schluß
- diese drei bilden zusammen die reine Logik. Die angewandte Logik umfaßt
gemäß der traditionellen Logik die Lehre von der Definition,
vom Beweis, von
der Methode; neuerdings
werden ihr oft vorausgesandt die noch nicht logikwissenschaftlichen, sondern erkenntnistheoretischen
( )
Lehren vom Erleben, vom Beschreiben und Formulieren, besonders mit Hilfe einer
Fachsprache,
einer Terminologie,
und von der Begriffsbildung.
Bisweilen wird ihr angeschlossen die Lehre vom System.
Die Philosophie, der Denk-Körper der Antike, ist das Komplement zum Denk-Raum
des Abendlandes. Die Wissenschaft, der Denk-Raum des Abendlandes, ist das
Komplement zum Denk-Körper der Antike. |
Denken
ist das innerliche, aktive Schalten und Walten mit den eigenen Vorstellungen,
Begriffen, Gefühls- und Willensregungen, Erinnerungen, Erwartungen u.s.w.
mit dem Ziele, eine zur Meisterung der Situation brauchbare Direktive zu gewinnen.
Das Denken, das seiner Struktur nach erkennendes oder emotionales Denken sein
kann, besteht also in einem stetigen Umgruppieren aller möglichen Bewußtseinsinhalte
und einem Herstellen bzw. Unterbrechen von Verknüfungen zwischen diesen (auch
Denkraum genannt), wobei sich eine Folge von Inhalten ausgliedern
kann, die eine vergleichsweise feste Form annimmt und Gedanke genannt
werden kann. Die Form eines solchen Gedankens ist normalerweise die des sprachlich
formulierten Gedankens: Denken ist dann stummes, innerliches Sprechen, Sprechen
ist lautes Denken. (Auch
dann, wenn die Sprache selber spricht?). Die Art des Denkens ist davon abhängig,
was für ein Mensch (im weitesten Sinne) einer ist, sie macht seine Persönlichkeit
aus. Ob, was und wie einer im gegebenen Augenblick denkt, ist von seiner Stimmung
abhängig (vgl. Denkgesetze). Oft hebt das Denken mit einem Einfall
an und ist zunächst eineinfallmäßiges Denken. Richtet sich das
auf reale Gegenstände, so heißt es konkretes Denken, richtet es sich
auf ideale Gegenstände oder auf Vergegenwärtigtes, so handelt es sich
um abstraktes Denken. Beide Denkweisen gehen in der Regel ineinander über.
Im philosophisch-wissenschaftlichen Sinne ist Denken immer mehr oder weniger Begriffsdenken,
wenn mehr, heißt es Denken a priori, wenn weniger, heißt es
Denken a postriori. Ob aber mehr das Denken die Sprache oder mehr die Sprache
das Denken beeinflußt, bleibt weiterhin unklar; sicher ist nur, daß
sie sich beeinflussen, daß sie dies über verschiedene Wege tun und
letztendlich, das heißt im letzten Wahrheits- oder Weisheitsentschluß
(als Weisheits-end-schluß!), doch dem Dritten zum Opfer fallen
bzw. von ihm synthetisiert werden: dem Glauben
!
Zum Be-Denken
Heidegger hatte sogar versucht,
und zwar besonders mit seiner Spätphilosophie (seit 1945 ),
das Denken von der bis dahin traditionellen Philosophie zu trennen. Als
der 2. Weltkriegs in Europa zu Ende ging, war besonders in Frankreich
und Deutschland der Humanismus in aller Munde. Heidegger wollte mit seinem
Brief Über den Humanismus (  )
deutlich machen, daß er über das Denken des Denkens - also:
über das Be-Denken, das Bedenken des Denkens oder das Denken über
das Denken, nämlich das Denken selbst (man könnte auch sagen:
das Denken an sich) - kommt, um von hier aus erst dann zur Frage
des Humanismus zu kommen. In diesem Antwortschreiben auf die Fragen des
französischen Heidegger-Schülers Jean Beaufret, das später
als Brief über den Humanismus bekannt wurde, antwortete
Heidegger nämlich indirekt auf Jean-Paul Sartre ( ),
also auf die zu dem Zeitpunkt bereits akute existentialistische Mode und
auf die ebenfalls bereits akute Humanismus-Renaissance. Zur
Erinnerung: Beaufret hatte gefragt, »auf welche Weise läßt
sich dem Wort Humanismus ein Sinn geben?«. Sartre hatte seinen Existentialismus
als einen neuen Humanismus der Eigenverantwortlichkeit und des Engagements
in der Situation der metaphysischen Obdachlosigkeit deklariert. Und Heidegger
versucht nun darzutun, warum der Humanismus selbst das Problem ist, für
dessen Lösung er sich hält, warum das Denken über den Humanismus
hinausgehen muß, und weshalb das Denken genug damit zu tun hat,
sich für sich selbst, für die Sache des Denkens, zu engagieren.
Heidegger beginnt seine Überlegungen bei dem zuletzt genannten Punkt,
bei der Sache des Denkens, beim Engagement, um von dort aus zur Frage
des Humanismus zu kommen. Was also ist - das Denken? Naheliegend
ist die Vorstellung einer Verschiedenheit und eines Nacheinanders von
Theorie und Praxis. Erst die Überlegung, das Modell, die Hypothese,
der theoretische Entwurf, dann die,Umsetzung in die Praxis. Die so verstandene
Praxis ist das eigentliche Handeln, Theorie ist demgegenüber allenfalls
eine Art von Probehandeln. In diesem Schema verliert ein Denken, das nicht
auf das Handeln als etwas ihm Äußeres bezogen ist, seine Würde
und seinen Wert, es wird nichtig. Eine solche Anbindung des Denkens an
das Handeln ist gleichbedeutend mit der Herrschaft des Nützlichen.
Wenn gefordert wird, daß das Denken sich zu engagieren habe, dann
ist damit solche Nützlichkeit für die Durchsetzung bestimmter
praktischer Anliegen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeint.
Der Aufweis des praktischen Nutzens und des löblichen Engagements
dient dann auch dem Nachweis der öffentlichen Daseinsberechtigung
des Denkens. Diese Vorstellung fegt Heidegger beiseite. Er nennt sie eine
»technische Interpretation des Denkens« (Martin Heidegger,
Über den Humanismus, 1946, S. 6). Sie ist uralt und schon
seit den Tagen Platons die große Versuchung für das Denken.
Sie ist die kleinlaute, von den praktischen Zumutungen des Lebens eingeschüchterte
Art, den Glauben an sich selbst zu verlieren, indem sie sich als »Verfahren
des Überlegens im Dienste des Tuns und des Machens« (Martin
Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 6) versteht. Auf
die Philosophie hat sich diese Einschüchterung durch das Praxisgebot
katastrophal ausgewirkt. In Konkurrenz zu den praktisch erfolgreichen
Wissenschaften gerät die Philosophie in die Verlegenheit, ihre Nützlichkeit
erweisen zu müssen. Die Philosophie wollte es den Wissenschaften,
die sich von ihr emanzipiert hatten, gleichtun. Sie wollte sich zum »Range
einer Wissenschaft erheben« (Martin Heidegger, Über den
Humanismus, 1946, S. 6) und bemerkte nicht, daß sie sich in
den Wissenschaften nur verlieren oder in sie abstürzen kann. ( ).
Und dies nicht, weil sie etwas Höheres, Erhabenes ist,
sondern deshalb, weil sie eigentlich beim Näherliegenden anzusetzen
hätte, an einer Erfahrung, die jeder wissenschaftlichen Einstellung
vorausliegt. Indem das Denken sich davon entfernt, ergeht es ihm wie dem
Fisch auf dem Trockenen. »Schon lange, allzu lange sitzt das Denken
auf dem Trockenen« (Martin Heidegger, Über den Humanismus,
1946, S. 7) sagt Heidegger. Wo aber ist nun dieser eigentliche Ort des
Denkens, was ist dieses Naheliegende des Denkens? Es liegt für Heidegger
nahe, die Frage nach der Nähe zunächst einmal mit einem Rückblick
auf SEIN UND ZEIT zu beantworten. Dort hatte er herauszufinden versucht,
was für das Dasein, das sich in derWelt vorfindet, das Nächste,
das Anfängliche ist. Die Pointe dieser Untersuchung war gewesen:
Uns selbst und unsere Welt erfahren wir zunächst nicht in quasiwissenschaftlicher
Einstellung. Die Welt ist nicht in diesem Sinne unsere Vorstellung,
sondern zunächst erfahren wir unser In-der-Welt-Sein.
Das In-Sein
ist das Maßgebliche und Primäre. Das gestimmte In-Sein, geängstigt,
gelangweilt, besorgt, geschäftig, benommen, hingebungsvoll, ekstatisch.
Nur auf diesem Hintergrund des anfänglichen In-Seins kann so etwas
geschehen, wie daß wir uns herausreflektieren, uns bestimmte Vorstellungen
machen, Gegenstände aus dem Kontinuum unseres Besorgens
und Beziehens herausschneiden. Daß es da ein Subjekt
gibt, dem Objekte gegenüberstehen, ist keine basale Erfahrung,
sondern verdankt sich einer sekundären, abstraktiven Leistung. Wenn
das ursprüngliche In-Sein das nächste ist, wenn in dieser Nähe
die Dinge des Lebens noch in ihrem ganzen Reichtum aufgehen können,
und wenn das Denken die Aufgabe hat, diese Nähe zu bedenken, so ergibt
sich eine paradoxe Konstellation. Da wir nicht zuletzt durch das Denken
die Unmittelbarkeit verlieren, so wird einem Denken, das in die Nähe
kommen will, die Aufgabe zugemutet, gegen seine eigene entfernende, distanzierende
Tendenz anzudenken. Das Denken, das in den Vermittlungen zu Hause ist,
soll in die Nähe des Unmittelbaren kommen. Aber gerät es dabei
nicht erst recht aufs Trockene? Läuft das nicht
darauf hinaus, mit dem Denken die Effekte des Denkens rückgängig
zu machen ? Eine Wiederbelebung der Hegelschen vermittelten
Unmittelbarkeit? Geht das überhaupt - in diese Nähe
zurückzudenken? Darauf antwortet Heidegger lakonisch: Das Denken
ist erst dann bei seiner Sache, wenn es an ihr »zerbricht«.
Die »Philosophie über das Scheitern«, die gegenwärtig
Konjunktur habe, sei durch einen Abgrund getrennt von dem, was not tut,
»von einem scheiternden Denken« (Martin Heidegger, Über
den Humanismus, 1946, S. 34). Das scheiternde Denken ist kein Unglück,
man bemerkt darin, daß man auf dem richtigen Weg ist. Doch wohin
führt dieser Weg? In die Nähe. Aber was sucht es in dieser
Nähe, von der wir inzwischen wissen, daß sie das elementare
und primäre In-Sein bedeutet? Ist dieser Ort nur deshalb so
attraktiv, weil ihn die Wissenschaft »übereilt«?
So wichtig ist die Wissenschaft doch auch nicht, daß das von ihr
Ignorierte ebendarum geadelt werden müßte. Hat sich Heidegger,
der das Leben eines Akademikers führt, nicht doch in eine Idealkonkurrenz
mit der Wissenschaft verbissen? Ist die ontologische Differenz,
von der er so großes Aufhebens machte, vielleicht doch nichts weiter
als ein Pochen auf der narzißtischen Differenz zum verwissenschaftlichten
Philosophiebetrieb? Wir wissen natürlich schon längst,
daß in dieser Nähe ein großes Versprechen,
eine Verheißung steckt, die tatsächlich weit über das
hinausgeht, was im wissenschaftlichen Bereich zu bekommen ist. Es ist
die Erfahrung des Seins. Er sei mit SEIN UND ZEIT auf dem Weg zu dieser
Erfahrung und ihrer Formulierung gewesen, aber er sei nicht »durchgekommen«.
Die »Absicht auf Wissenschaft und Forschung«
(Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 47) habe
ihn gehemmt und in die »Irre« geführt. Es sei zwar schon
damals nicht seine Absicht gewesen, zur wissenschaftlichen Anthropologie
beizutragen, sondern es war ihm um das Bedenken des Bedenklichsten zu
tun, um das Dasein des Menschen als offene Stelle, die sich im Seienden
aufgetan hat. Dasein verstanden als Ort, wo das Seiende zur Sprache kommt
( )
und eben dadurch zum Sein wird, und das heißt: es wird hell, begegnend,
eröffnend auch in seiner Undurchdringlichkeit und in seinem »Entzug«.
Tatsächlich hatte Heidegger seine Daseinsanalyse im Blick auf das
Sein vorgenommen; Dasein war für ihn jenes Seiende, dem es um sein
eigenes Sein(können) geht. Aber er hatte sich dann doch, gegen seine
ursprüngliche Intention, in das Dasein zu weit hineinziehen lassen.
Vor lauter Dasein war schließlich doch das Sein aus dem Blick gekommen.
Das läßt sich am Begriff der »Existenz« zeigen.
Wenn Heidegger in SEIN UND ZEIT schreibt, »das Sein selbst, zu dem
das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält,
nennen wir Existenz« (Martin Heidegger, Sein und
Zeit, 1927, S. 12), dann hatte der Begriff des Seins hier
die bestimmte Bedeutung des zu verwirklichenden eigenen Seins. Deshalb
spricht Heidegger auch vom »Zu-Sein« im Sinne des Vorhabens
und des Entwerfens. In diesem Sinne ist auch der Satz gemeint vom »Vorrang
der existentia vor der essentia« (Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 58), auf den sich dann Sartre
mit einigem Recht bei der Betonung des Entwurfscharakters des Daseins
berufen kann: Die »Existenz« kommt vor der »Essenz«.
Aber nun, da Heidegger seine ursprüngliche Intention aus der Gefangenschaft
der wissenschaftlichen Philosophie herausführen will, gibt er dem
Begriff der Existenz eine andere Bedeutung. Er bezeichnet nicht mehr nur
die Seinsart eines Wesens, dem es um sein eigenes Sein-(können) geht
- sondern Existenz, die er jetzt Ek-sistenz schreibt, bedeutet: »Das
Stehen in der Lichtung
des Seins nenne ich die Ek-sistenz des Menschen. Nur dem Menschen eignet
diese Art zu sein.« Die Ek-sistenz bedeutet Ausstehen, aber auch
Ekstase. Wir wissen inzwischen, wie gerne und häufig Heidegger seit
den dreißiger Jahren den Brief Hölderlins zitiert, worin dieser
seinem Freund Böhlendorff anvertraut, wie ihn der Blitz des Apoll
getroffen habe. Die Existenz brachte es im besten Falle zur
Entschlossenheit, Ek-sistenz aber bedeutet offen zu sein für Pfingsterlebnisse
der verschiedensten Art. Die berühmte Heideggersche
»Kehre«, die bekanntlich eine Lawine von Interpretationen
losgetreten hat, sollte man so »einfach« sehen, wie sie von
Heidegger gemeint ist. Im ersten Anlauf (bis SEIN UND ZEIT) blieb er im
Dasein stecken, bei jenem Sein, das die Existenz verwirklichen will; im
zweiten Anlauf - oder eben im »gekehrten« Zugang - will er
auf ein Sein hinaus (im wörtlichen Sinne), von dem das
Dasein angesprochen, in Anspruch genommen wird. Das zieht eine ganze Reihe
von Uminterpretationen nach sich, worin die aktivistischen, vom einzelnen
Dasein her entworfenen Bezugsmöglichkeiten umgepolt werden auf ein
Register von eher passivischen, gewährenlassenden, hinnehmenden Verhaltensweisen.
Aus der »Geworfenheit« des Daseins wird sein »Geschick«,
aus dem »Besorgen« der eigenen Angelegenheiten wird ein »Hüten«
dessen, was einem aufgegeben und anvertraut ist. Aus dem »Verfallen«
an die Welt wird ihr »Andrang«. Und in den »Entwürfen«
ist es das Sein selbst, das sich durch sie hindurch »wirft«.
Das Seinsdenken, das die Nähe sucht, findet dort etwas, das bei Nietzsche
noch recht unbefangen und ungeschützt genannt wurde: »der Augenblick
der wahren Empfindung«. Ist nun damit die Frage beantwortet, was
die Sache des Denkens sei, wenn sie nicht nur eine Dienlichkeit fürs
Handeln sein soll? Sie ist beantwortet. Denken ist ein inneres Handeln,
es ist ein anderer Zustand, der im Dasein eröffnet wird - durch und
während des Denkens. Das Denken ist eine gewandelte Art, in der Welt
zu sein, in den Worten Heideggers: »dieses Denken ist weder theoretisch
noch praktisch. Es ereignet sich vor dieser Unterscheidung. Dieses Denken
ist, insofern es ist, das Andenken an das Sein und nichts außerdem.
.... Solches Denken hat kein Ergebnis. Es hat keine Wirkung. Es genügt
seinem Wesen, indem es ist« (Martin Heidegger, Über den
Humanismus, 1946, S. 48). Und dann kommt jener Satz, den wir uns merken
müssen, weil er die ganze Heideggersche Spätphilosophie ( )
enthält: Diese Art des Denkens - was tut sie? »Sie läßt
das Sein - sein« (Martin Heidegger, Über den Humanismus,
1946, S. 48). Und wie verhält es sich mit dem Humanismus? Souverän
dem Faktum gegenüber, daß der Nationalsozialismus soeben den
Humanismus auf katastrophale Weise unterboten hat, schickt
sich Heidegger an, den Humanismus nun zu überbieten.
In der humanistischen Bestimmung des Menschen, ob als theonomer oder als
autonomer Humanismus, sei »die eigentiche Würde des Menschen
noch nicht erfahren« (Martin Heidegger, Über den Humanismus,
1946, S. 21). Er denke gegen den Humanismus, nicht weil er
für die »Bestialität« plädiere, sondern weil
der Humanismus »die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt«
(Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 22). Wie
hoch soll man sie ansetzen? So hoch, wie einst von Gott gesprochen
wurde. Der Mensch als »Hirt des Seins« ist ein Wesen, von
dem wir uns kein Bildnis machen sollen. Als das nicht »festgestellte
Tier« (Nietzsche), als ein nicht gegenständlich fixierbares,
sondern im Reichtum seiner Bezüge lebendes Wesen bedarf der Mensch
zwar sittlicher Bindungen, auch wenn sie »noch so notdürftig
und im bloß Heutigen zusammenhalten« (Martin Heidegger, Über
den Humanismus, 1946, S. 43), aber das sind wirklich nur Notbehelfe,
sie sind etwas Vorletztes, von dem wir nicht glauben dürfen, daß
bei ihnen das Denken aufhört. Das Denken dringt weiter vor, bis es
in seinem beseelten Schwung die eigentliche »Erfahrung des Haltbaren«
macht. »Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit
des Seins« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946,
S. 51). An diesem Punkt ist Heidegger nun wirklich himmelweit von Sartre
entfernt. Sartre: »Der Mensch muß sich selber wieder finden
und sich überzeugen, daß ihn nichts vor ihm selber retten kann,
wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes.«
Zwar erklärt auch Heidegger, »das Sein - das ist
nicht Gott und nicht ein Weltgrund« (Martin Heidegger, Über
den Humanismus, 1946, S. 22), aber das ändert nichts daran, daß
die Erfahrung des Seins auf ein Seinsverhältnis einstimmt, das -
fromm ist; andachtsvoll, meditativ, dankbar, ehrfürchtig, gelassen.
Der ganze Kreis von Wirkungen, den ein Gott um sich schlägt, ist
da - nur verhängt Heidegger über diesen Gott ein so rigoroses
Bilderverbot, wie es die etablierten Religionen nicht kennen. Dem Heideggerschen
Gott gehört die »Lichtung«. Man erfährt
ihn noch nicht im Seienden, das in der »Lichtung« begegnet.
Man begegnet ihm erst, wenn man diese »Lichtung« als die Ermöglichung
der Sichtbarkeit eigens erfährt und dankbar empfängt. Man kann
es drehen und wenden wie man will, es bleibt zuletzt doch die Wiederholung
jenes wunderbaren Gedankens von Schelling, wonach die Natur im Menschen
die Augen aufschlägt und bemerkt, daß es sie gibt. ( ).
Der Mensch als der Ort der Selbstsichtbarkeit des Seins. »Ohne den
Menschen wäre das Sein stumm: es wäre da, aber es wäre
nicht das Wahre« (Kojève). Was folgt daraus? Wir haben
es schon gehört. Nichts. »In all dem ist es, so, als sei durch
das denkende Sagen gar nichts geschehen« (Martin Heidegger, Über
den Humanismus, 1946, S. 52). Und doch: Das ganze Verhältnis
zur Welt hat sich geändert. Es gibt eine andere Befindlichkeit, ein
anderer Blick wird auf die Welt geworfen. Heidegger wird die Jahre, die
ihm noch bleiben, damit zubringen, diesen Blick zu erproben, an der Technik,
am Bauen und Wohnen, an der Sprache und, wie heikel auch immer, an Gott.
Sein Denken, das er nun nicht mehr Philosophie nennt, wird
sich darum mühen, das sein zu, lassen, was einen - sein läßt.
»Weil in diesem Denken etwas Einfaches zu denken ist, deshalb fällt
es dem als Philosophie überlieferten Vorstellen so schwer. Allein
das Schwierige besteht nicht darin, einem besonderen Tiefsinn nachzuhängen
und verwickelte Begriffe zu bilden, sondern es verbirgt sich in dem Schritt-zurück
....« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946,
S. 33). (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland
- Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 405).
Selbst wenn
die Philosophie tatsächlich zukünftig in der Wissenschaft aufgehen sollte
(was ich nicht glaube): das Denken geht weiter! Vielleicht erkannte z.B. Karl
Jaspers auch darum in einer wohl doch philosophisch armen Welt nur
noch eine einzigartige Gestalt ( ):
Heidegger! Er hat Sein und Zeit geschrieben, vor allen möglichen Irrwegen
gewarnt, mit Recht die rein ökonomische 11. Feuerbach-These von Marx abgelehnt
und dagegen die ökologische (eigentlich: ökosophische !) These gesetzt,
daß es eben nicht darauf ankommt, die Welt immer nur zu verändern,
sondern daß es darauf ankommt, die Welt zu schonen ! Ich
habe schon früh in Heidegger den eigentlichen Begründer der »grünen«
Bewegung gesehen, denn er war ja zumindest auch ein Philosoph des Umweltschutzes
oder der Umweltbewahrung. (Ernst Nolte,
Einblick in ein Gesamtwerk: Siegfried Gerlich im Gespräch mit Ernst Nolte,
2005, S. 116). Und überhaupt: Heidegger ist deswegen der größte
Philosoph des 20. Jahrhunderts, weil er überhaupt, aber besonders eben mit
seiner Spätphilosophie ( )
dem Denken (der Philosophie) sehr wichtige Impulse gegeben, Wegmarken gesetzt,
neue Wege bereitet hat.Die Philosophie
kann und will ja auch, wie Peter Sloterdijk
2005 behauptete, kunstmäßig betrieben werden als eine Quasi-Wissenschaft
von den Totalisierungen und ihrer Metaphern, als erzählende Theorie der Genesis
des Allgemeinen und schließlich als Meditation des Seins-in-Situationen
- alias In-der-Welt-Seins;
ich nenne das »Theorie der Immersion« oder allgemeine Theorie des
Zusammenseins und begründe von dort her die Verwandtschaft der jüngeren
Philosophie mit der Kunst der Installation. (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum
des Kapitals, 2005, S. 16). Sloterdijk zeichnet sich bekanntlich auch durch
seine Fähigkeit aus, das Philosophische und das Erzählerische auf
eine teils neo-skeptische, teils neo-morphologische Weise miteinander zu konfigurieren,
und manchmal darf bei ihm auch die diskrete Komik das Hauptmerkmal
sein. (Vgl. ebd., S. 14, 16). Sloterdijk will Morphologie
und Skeptizismus (= Lebensphilosophie;
inklusive Existenzphilosophie)
konfigurieren, wobei Heideggers Existenzialien (In-Sein,
In-der-Welt-Sein u.a.) für ihn eine besondere Rolle spielen.
Der Versuch dieser Zusammenfügung macht - für mich auf jeden Fall -
Sloterdijk so sympathisch. ( ).
Skeptizismus oder Skepsis muß man von Kritizismus oder Kritik eindeutig
unterscheiden (können): Skepsis ist der Habitus, das Überzogene
am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets
als vorläufige hinzustellen. .... Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen
interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen
aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen. (Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet, 2001, S. 263, 273).  Die
Geschichte der Philosophie ist hauptsächlich die Geschichte des menschlichen
Denkens, des Denkens nämlich, das die philosophischen Probleme entdeckt bzw.
sich stellt und an ihrer Lösung arbeitet. Die Philosophen aller Zeiten, Völker
und Kulturen haben sich mit den gleichen Grundproblemen beschäftigt; in allen
Philosophien gibt es eine Erkenntnistheorie, eine Metaphysik, eine Logik, eine
Psychologie, eine Anthropologie, eine Ethik u.s.w.. (Vgl. Philosophie-System).
Die unterschiedlichen Lösungsversuche der einzelnen Kulturen resultieren
aus ihren unterschiedlichen Ursymbolen
und Seelenbildern.
Als Versuch interkultureller Übergangslösungen, wie sie z.B. die gnostisch-neuplatonische
Schule in Alexandrien in die eine und die Patristik in die andere Richtung darbot,
sind sie der geistige Teil - ein Synkretismus
- einer Pseudomorphose.
(  ).
Tabelle I
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