Von Goethe und Schopenhauer über Nietzsche und Spengler
zu Huntington
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Johann Wolfgang (von) Goethe (1749-1832) |
Den Kampf der Kulturen prophezeite schon Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832 ).
Nach ihm rissen die Beschäftigungen mit diesem Thema nicht mehr ab,
auch wenn es im Schatten anderer Leitthemen stand. Vollends ins Zentrum
des öffentlichen Interesses gerückt wurde dieses Thema 1917,
als Oswald Spengler (1880-1936 )
im Untergang des Abendlandes ( )
, den er mittels der vergleichenden Methode auch mit dem Untergang
der Antike ( )
konfrontierte, für das Abendland die schon Ende des 18. Jahrhunderts
(Industrialisierung, Bürgerliche Revolution u.s.w.) begonnene
kulturelle Vollendung - den Zivilisationsprozeß - und den damit
verbundenen, zunächst aber noch schleichenden Synkretismus diagnostizierte
und dessen Bekämpfung durch das Abendland in der Phase des Cäsarismus
( )
prognostizierte. Daß es einen Zusammenprall der Kulturen
geben wird, war also schon seit Goethe klar - lange vor Huntingtons Buch
Clash of Civilizations (1996 ).
Erkennbar, jedenfalls für die Eingeweihten, war auch
der militante Aufbruch islamischer Religiosität schon
vor Huntingtons Thesen über den weltweiten Kampf der Kulturen.
(Peter Scholl-Latour, Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 50 ).
Das Abendland ist immer noch immens reich, aber es ist schwach.
Ihm fehlt die moralische Substanz zur dezidierten Selbstbehauptung. Kurzum,
alle Prämissen eines fatalen »Untergangs« sind gegeben.
So unrecht hatte Oswald Spengler wohl nicht. (Peter Scholl-Latour,
Kampf dem Terror - Kampf dem Islam ?, 2002, S. 48 ).
Wahrscheinlich hat Huntington auch die Friktionen ( )
von Carl Philipp Gottfried von Clausewitz (1780-1831 )
beachtet, denn Huntington sieht in den Zusammenstößen,
Reibungen, Konflikten zwischen den großen Kulturkreisen auf der
Basis unterschiedlicher Religionen und divergierender Weltbilder die Hauptrolle
künftiger Auseinandersetzungen. (Hans-Ulrich Wehler, Konflikte
zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2003, S. 61 ).
Daß die Herrschaft des Volkes nicht in den Kosmopolitismus,
sondern in den Provinzialismus führt, hat Samuel Huntington als das
demokratische Paradoxon bezeichnet. (Norbert Bolz, Das konsumistische
Manifest, 2002, S. 30 ).
Ob, was, wie und wieviel Huntington aus Spenglers Werken abgeschrieben
haben könnte, ist weniger entscheidend, mehr entscheidend ist, daß
er von Spengler inspiriert wurde!Lange vor Huntington hatte auch Toynbee
( )
an Spengler angeknüpft, und weil Spengler von Nietzsche und Goethe
inspiriert worden war ( ),
geht die kulturphilosophisch interessante Linie von Goethe und Schopenhauer
über Nietzsche und Spengler zu Toynbee und Huntington:
Goethe befand sich mit seinem Geschichtsdenken ziemlich im Widerspruch zu demjenigen
der Aufklärung. Er beurteilte die Möglichkeiten, Wesentliches aus der
Geschichte zu erkennen, höchst skeptisch und verneinte den rationalistischen
Gedanken des Fortschritts in der Geschichte der Menschheit. Goethe benutzte eine
Analogie aus der Botanik, die Spiraltendenz, um seine Anschauung von
der Wiederkehr des ewig Gleichen darzustellen - später weiterentwickelt
von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche sowie Oswald Spengler und nach
diesem, weil mittlerweile von Deutschland auf die USA übergesprungen, auch:
Huntington. Vgl. Lebensphilosophie: Alte Schule ( ),
Mittlere Schule ( ),
Junge Schule ( ).
Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt
genug und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbarei machte, hat
sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man ihr auch eine
Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend, wo
sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten
und alle Irrtümer. (Johann Wolfgang von Goethe, Materialien zur
Geschichte der Farbenlehre, 1810). Diesen Gedanken der Wiederholung zu bekräftigen,
benutze Goethe gelegentlich einen alttestamentarischen Spruch (Prediger Salomo):
Die Geschichte sollte doch lehren, daß nichts Neues unter der Sonne
geschieht. (Johann Wolfgang von Goethe zu Friedrich von Müller, am
08.12.1824). Es ist mit der Geschichte wie mit der Natur, wie mit allem
Profunden, es sei vergangen, gegenwärtig oder zukünftig: je tiefer man
ernstlich eindringt, desto schwierigere Probleme tun sich hervor. (Johann
Wolfgang von Goethe, in: Maximen und Reflexionen). Andererseits war die
Geschichte für Goethe ein großes Sammelbecken zitierbarer Beispiele,
aus denen er zeitlebens gern schöpfte. (Vgl. z.B. Westöstlicher Diwan,
1819). In diesem Punkt war Goethes Denken ganz an die aufklärerische Tradition
gebunden. Er beachtete jedoch in angemessener Weise den subjektiven Faktor, ja
die Parteilichkeit des Historikers. Die Zeiten der Vergangenheit // Sind
nur ein Buch mit sieben Siegeln. // Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
// Das ist im Grund der Herren eigner Geist, // In dem die Zeiten sich bespiegeln.
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust (I), 1806, S. 34). Solche Exempla haben
Goethes eigenes dichterisches Schaffen befruchtet - gut erkennbar an der dramatischen
Ausgestaltung historischer Figuren wie z.B. Götz von Berlichingen
(1773). Insofern Goethe in der Geschichte Entwicklungen und folgerichtige Prozesse
wahrnahm und diese seinem evolutionären Denken entgegenkamen, unterzog er
sie gern der Betrachtung: Wenn wir uns aus dem bekannten Gewordenen das
unbekannte Werden aufzubauen genötigt finden, so erregt es eben die angenehme
Empfindung, als wenn wir eine uns bisher unbekannte gebildete Person kennen lernen
und die Geschichte ihrer Bildung lieber herausahnden als herausforschen.
(Johann Wolfgang von Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre,
3. Abt., 1810). Die benutzbaren Exempla der Geschichte wurden von Goethe aus den
Taten großer Persönlichkeiten abgeleitet. In dieser Neigung zu Personalisierungen
ist wohl auch Goethes zwiespältiges Verhältnis zur Geschichte begründet:
einerseits sei das Beste, was sie im Betrachter erregen könne, Enthusiamus,
andererseits sei ihre Masse nichts weiter als ein Klatsch. (Johann
Wolfgang von Goethe zu Friedrich Wilhelm Riemer). Goethes Person und sein Schaffen
haben bekanntlich schon zu seinen Lebzeiten nach allen Richtungen ein ausgesprochen
ungemeines Interesse geweckt. Also war und ist auch Goethes Wirkung auf die Geschichtsforschung
von großer Bedeutung. Durch sein Gesamtwerk übte Goethe auf die jüngere
Geschichtsschreibung seiner Zeit und auf den Historismus großen Einfluß
aus. Metaphysische Vorstellungen haben den Schicksalsbegriff des jungen
Goethe bestimmt, wie er ihn im 2. Aufzug des Dramas Egmont (1788) für
die Titelfigur formulierte: Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen
die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksal leichtem Wagen durch: und uns bleibt
nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald
links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Im Alter
trat der Begriff des Dämonischen zu Goethes Schicksalsauffassung
in spezifisch metaphysischem Sinn hinzu. In seiner Vorstellung konnte das Dämonische
Persönlichkeiten prägen und leiten sowie auch Konstellationen hervorrufen.
In einigen Altersgesprächen und späten weltanschaulichen Gedichten hat
Goethe dem Glauben an eine über das irdische Leben hinaus fortdauernde Beschäftigung
des Geistes Ausdruck gegeben: Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen! / Das
Ew'ge regt sich fort in allen. (Johann Wolfgang von Goethe, Vermächtnis,
1829). Häufiger jedoch hat er sich metaphysische Erwägungen als Gegenstand
täglicher Betrachtung und gedankenzerstörender Spekulation verbeten
(vgl. Johann Wolfgang von Goethe zu Johann Peter Eckermann, am 25.02.1824). Und
bekanntlich macht Mephistopheles in Faust I (Studierzimmer)
Ableitungen der Metaphysik lächerlich. Schon seit Goethe sich von dem Geschmackskanon
des Rokoko losgelöst hatte, beherrschte ein starkes Naturgefühl, das
aus dem unmittelbaren Erleben der Natur hervorging, seine sämtlichen Dichtungen.
Dieses Naturgefühl umfaßte den religiösen Charakter von Goethes
Naturerlebnis (vgl. Pantheismus) sowie das ganzheitliche Erkennen in den Naturwissenschaften;
es berührte auch das denkerische Ergebnis von Goethes Naturanschauung, seine
Naturphilosophie. Das Problem Natur und Kunst ist spezieller Gegenstand von Goethes
philosophischer Ästhetik. Bei wechselnder Kritik an den positiven Formen
geoffenbarter Religionen und einer nur vorübergehenden Annäherung an
den Pietismus entwickelte Goethe zum Verhältnis von Gott und Welt eine Vorstellung,
die ihn das Dasein und die Göttlichkeit (vgl. leitendes
Wesen, Vollkommenheit) als Einheit begreifen ließ. Im
Zusammenhang mit der von Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) verfaßten
Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) spricht
Goethe von seiner reinen, tiefen, angeborenen und geübten Anschauungsweise,
die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt
hatte, so daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte
(Annalen, 1811). Schon in seiner ersten Naturforscher-Zeit sah sich Goethe
als Pantheisten. Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheismus, indem
den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes, humoristisches, sich
selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht ist, und mag als Spiel, dem es
bitterer Ernst ist, gar wohl gelten. (Erläuterung zu dem aphoristischen
Aufsatz: Die Natur, 1828). Goethe betrachtete Religion als eine den Verkehr
der Menschen untereinander ordnende Macht. Die allgemeine, die natürliche
Religion bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die Überzeugung, daß
ein großes, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam
hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich zu machen, eine solche Überzeugung
drängt sich einem jeden auf. (Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung
und Wahrheit, 4. Buch, 1811-1822). Wie gesagt: Nur einmal in seinem Leben
näherte sich Goethe vorübergehend dem der Amtskirche fernstehenden Pietismus,
mit dessen Theologie er sich jedoch nicht befreunden konnte. Er bildete seine
natürliche Religion mehr und mehr in Richtung auf einen Pantheismus hin aus,
wobei ihn sein Naturgefühl und seine naturkundlichen Interessen anleiteten.
Die Populärphilosophie der Aufklärung befriedigte Goethe nicht,
wenngleich er deren Lehrbücher seit der Knabenzeit benutzte. Erst
das eingehendere Studium mit der Philosophie seit etwa 1784 festigte Goethes
monistische und pantheistische Anschauung. Seit 1790 beschäftigte
sich Goethe intensiv mit den drei Kritiken von Immanuel Kant
(1724-1804 ),
besonders aber nahm er die Monadenlehre von Gottfried Wilhelm
Leibniz (1646-1716 )
auf und arbeitete sie in seine eigene Lebensanschauung, seine Weltdeutung,
seine Naturbetrachtung ein. (Goethe aber war in seiner ganzen Denkweise,
ohne es zu wissen, ein Schüler von Leibniz gewesen, so Oswald
Spengler ).
Goethe war seit seinem Eintritt in Weimar ( )
der Universitätsstadt Jena eng verbunden. Für ihn waren beide
Städte eine Einheit; er sprach von Weimar-Jena der großen
Stadt, / Die an beiden Enden / Viel Gutes hat. (Johann Wolfgang
von Goethe, Zahme Xenien, 1820-1824). Mit der Mitarbeit von Friedrich
Schiller (1759-1805 ),
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814 ),
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831 ),
Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854 ),
den Brüdern August Wilhelm Schlegel (1767-1845 )
und Friedrich Schlegel (1772-1829 ),
der Teilhabe der Brüder Wilhelm von Humboldt (1767-1835 )
und Alexander von Humboldt (1769-1859 )
wurde die Universität Jena zu Goethes Zeit zum Zentrum der idealistischen
Philosophie ( des
Deutschen Idealismus )
und gewann einen über die Grenzen Deutschlands reichenden Ruhm. Für
Goethe selbst war die Universität Jena ein Ort für seine naturwissenschaftlichen
Studien. Als Staatsbeamter (Minister )
war ihm von Anfang an der Zutritt zu sämtlichen Universitätsinstituten
gewährt, und seit 1809 leitete er die Unmittelbaren Anstalten
für Wissenschaften und Kunst.
In einem sehr späten
Resümee über sein Verhältnis zum philosophischen Idealismus relativierte
Goethe den Wert philosophischer Erkenntnisse am umfassendsten: Ich danke
der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf mich
selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn; sie kommt aber nie
zum Objekt .... (Johann Wolfgang von Goethe zu C. L. F. Schulz, am 18.09.1831).Goethe
und Hegel lernten sich 1801 kennen. Im tragenden Begriff der Totalität
(Ganzheit) berühren sich Goethes und Hegles Weltanschauung, und
ihr Begriff der Polarität deckt übereinstimmende Züge
in ihrem dialektischen Erkenntnisverfahren. Nach seinem Fortgang aus Jena besuchte
Hegel (von 1816 bis 1818 Professor in Heidelberg und seit 1818 Professor in Berlin)
Goethe in Weimar, und zwar 1818, 1827, 1829. Auch der Briefwechsel zwischen beiden
wurde nach Hegels Fortgang aus Jena fortgesetzt. Der historischen Stellung Goethes
als Dichter und Naturforscher gemäß mischen sich in seinem Verhältnis
zur Natur spekulative Elemente und empirisches Verfahren, so auch in seinem Verhältnis
zur Naturphilosophie und in seiner eigenen Naturphilosophie. Über diesen
Sachverhalt, der auch ein zwischen Induktion und Deduktion wechselndes Erkenntnisverfahren
umschleißt, war Goethe sich im klaren: Ich stehe gegenwärtig
in eben dem Fall mit den Naturphilosophen, die von oben herunter, und mit den
Naturforschern, die von unten hinauf leiten wollen. Ich wenigstens finde mein
Heil nur in der Anschauung, die in der Mitte steht. (Johann Wolfgang von
Goethe zu Friedrich Schiller, am 30.06.1798). Daß Goethe sich bei aller
Anerkennung und Förderung empirisch-experimenteller Erkenntnisverfahren in
den Naturwissenschaften von Ideen, von ideellen Abstraktionen leiten
ließ, tritt in seiner Deutung von Naturphänomenen häufig deutlich
hervor. In Goethes Verhältnis zu den einzelnen naturwissenschaftlichen Fachbereichen
mischen sich (gemäß seiner historischen Stellung als Naturforscher)
spekulativ-idealistische Elemente und experimentell-analytische Methoden. Nicht
nur wegen seiner Oberaufsicht über die Universität Jena war Goethe mit
fast allen wissenschaftlichen Fachbereichen und Fragestellungen vertraut; er selbst
arbeitete im besonderen auf den Gebieten der Astronomie, Botanik, Chemie, Erdgeschichte,
Geologie, Meteorologie, Mineralogie, Zoologie. Goethe schätzte auch Schellings
Naturphilosophie sowie dessen Schriften Über das Verhältnis der bildenden
Künste zur Natur (1807) und Denkmal der Schrift Jacobis von den Göttlichen
Dingen (1812). Mit Schelling habe ich einen sehr guten Abend zugebracht.
Die große Klarheit, bei der großen Tiefe, ist immer sehr erfreulich.
Ich würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Momente
hoffte, und die Philosophie zerstört bei mir die Poesie und das wohl deshalb,
weil sie mich ins Objekt treibt. Indem ich mich nie rein spekulativ verhalten
kann, sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muß und deshalb
gleich in die Natur hinaus fliehe. (Johann Wolfgang von Goethe zu Friedrich
Schiller, am 19.02.1802). In Goethe und Schelling trat eine schöpferische
Naturlehre der stoffgläubig-mechanistischen Naturwissenschaft gegenüber.
Die späteren mystifizistischen Werke von Schelling, z.B. Die Gottheiten
von Samothrake (1815), blieben Goethe jedoch fremd. Philosophischer Naturbetrachtung
stimmte Goethe zu. Erfreulich ist es, auf jenes wünschenswerthe Ziel
hingewiesen zu werden, daß aller Zwiespalt aufgehoben, das Getrennte nicht
mehr getrennt betrachtet, sondern alles aus Einem begriffen, gefaßt werden
sollte .... (Johann Wolfgang von Goethe zu Wilhelm von Humboldt, am 22.08.1806).
Über Wlhelms Bruder Alexander von Humboldt bemerkte Goethe: Man könnte
sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine
Vielseitigkeit, wie es mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist. (Johann
Wolfgang von Goethe zu Johann Peter Eckermann; 11.12.1826): Und wir andern
im mittleren Deutschland haben unser bißchen Weisheit schwer genug erkaufen
müssen ..., unsere sämtlichen Talente und guten Köpfe sind über
ganz Deutschland ausgesäet. Da sitzt einer in Wien, ein anderer in Berlin,
ein anderer in Königsberg, ein anderer in Bonn oder Düsseldorf, ...
so daß persönliche Berührungen und ein persönlicher Austausch
von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. Was dies aber wäre, empfinde
ich, wenn Männer wie Alexander von Humboldt hier durchkommen, und mich in
dem, was ich suche und mir zu wissen nötig, in einem einzigen Tage weiter
bringen, als ich sonst auf meinem einsamen Wege in Jahren nicht erreicht hätte.
(Johann Wolfgang von Goethe zu Johann Peter Eckermann; 03.05.1829).Goethe
wurde und wird beneidet, und nur wenige Menschen hatten und haben den Mut, dies
zu bekennen: So will ich jetzt endlich gestehen: es war der Neid. Zu meinem
Lobe muß ich jedoch nochmals erwähnen, daß ich in Goethe nie
den Dichter angegriffen, sondern nur den Menschen. Ich habe nie seine Werke getadelt.
Ich habe nie Mängel darin sehen können, wie jene Kritiker, die mit ihren
feingeschliffenen Augengläsern, auch die Flecken im Monde bemerkt haben;
die scharfsinnigen Leute! was sie für Flecken ansehen, das sind blühende
Wälder, silberne Ströme, erhabene Berge, lachende Täler.
(Heinrich Heine, Die Romantische Schule, 1. Buch, 1833, S. 50 ).
Auch als z.B. der 1794 an die Universität Jena berufene Fichte 1799 entlassen
wurde - Auslöser war der sogenannte Atheismusstreit -, waren
Goethes Motive zur Befürwortung der Entlassung überhaupt nicht gegen
Fichte und seine Thesen gerichtet: ... In Goethes Betragen gegen Fichte
sehen wir also keineswegs die häßlichen Motive, die von manchen Zeitgenossen
mit noch häßlicheren Worten bezeichnet worden. Dieser Riese war Minister
in einem deutschen Zwergstaate. Er konnte sich nie natürlich bewegen. Man
sagt von dem sitzenden Jupiter des Phidias zu Olympia, daß er das Dachgewölbe
des Tempels zersprengen würde, wenn er einmal plötzlich aufstünde.
Dies war ganz die Lage Goethes zu Weimar; wenn er aus seiner stillsitzenden Ruhe
einmal plötzlich in die Höhe gefahren wäre, er hätte den Staatsgiebel
durchbrochen, oder, was noch wahrscheinlicher, er hätte sich daran den Kopf
zerstoßen. Und dies sollte er riskieren für eine Lehre, die nicht bloß
irrig, sondern auch lächerlich? Der deutsche Jupiter blieb ruhig sitzen
und ließ sich ruhig anbeten und beräuchern. (Heinrich Heine,
Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834, S. 25 ).
Um seinen Mund will man einen kalten Zug von Egoismus bemerkt haben; aber
auch dieser Zug ist den ewigen Göttern eigen, und gar dem Vater der Götter,
dem großen Jupiter, mit welchem ich Goethe schon oben verglichen. Wahrlich,
als ich ihn in Weimar besuchte und gegenüberstand, blickte ich unwillkürlich
zur Seite, ob ich nicht auch neben ihm den Adler sähe mit den Blitzen im
Schnabel. Ich war nahe dran ihn griechisch anzureden. (Heinrich Heine, Die
Romantische Schule, 1. Buch, 1833, S. 58 ).Begründete
schon Goethe oder doch erst Schopenhauer die abendländische Lebensphilosophie
( )
? Kann man Goethe überhaupt einer philosophischen Richtung zuordnen,
begründete er vielleicht doch selber eine solche, wer folgte seinem Denken
? Vor allem jedoch: Wer dachte schon zu Goethes Lebzeiten ähnlich wie
er? Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man
höre Goethe über Spinoza, Wille zur Vergöttlichung des Alls und
des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden;
Hegel sucht Vernunft überall, - vor der Vernunft darf man sich ergeben und
bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigen und vertrauendem Fatalismus,
der nicht revolutioniert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität
zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst,
als gut und gerechtfertigt erscheint. (Friedrich Nietzsche, Der Wille
zur Macht, S. 72 ).Wie
ist Goethe nur zu fassen? Man kann diesen außerordentlichen
Geist und Menschen mit Recht einem vielseitigen Diamanten vergleichen, der nach
jeder Richtung hin eine andere Farbe spiegelt. Und wie er nun in verschiedenen
Verhältnissen und zu verschiedenen Personen ein anderer war, so kann ich
auch in meinem Falle nur in ganz bescheidenem Sinne sagen: dies ist mein
Goethe. (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren
seines Lebens [1822-1832], Vorrede Eckermanns, 1836-1848, S. 6 ).»Ich
habe den großen Vorteil,« fuhr er fort, »daß ich zu einer
Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung
kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Siebenjährigen
Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der französischen
Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange
des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich
zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich
sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten
durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen. Was uns die nächsten
Jahre bringen werden, ist durchaus nicht vorherzusagen; doch ich fürchte,
wir kommen so bald nicht zur Ruhe. Es ist der Welt nicht gegeben, sich zu bescheiden:
den Großen nicht, daß kein Mißbrauch der Gewalt stattfinde,
und der Masse nicht, daß sie in Erwartung allmählicher Verbesserungen
mit einem mäßigen Zustande sich begnüge. Könnte man die Menschheit
vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber
wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine Teil wird leiden,
während der andere sich wohl befindet, Egoismus und Neid werden als böse
Dämonen immer ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende
haben. Das Vernünftigste ist immer, daß jeder sein Metier treibe, wozu
er geboren ist und was er gelernt hat, und daß er den andern nicht hindere,
das seinige zu tun. Der Schuster bleibe bei seinem Leisten, der Bauer hinter dem
Pflug, und der Fürst wisse zu regieren. Denn dies ist auch ein Metier, das
gelernt sein will, und das sich niemand anmaßen soll, der es nicht versteht.«
(Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines
Lebens [1822-1832], 25.02.1824; 1836-1848, S. 83-84 ).Die
Moderne als das Veloziferische: Denn Goethe wußte, daß
das langsame Gehen spätestens seit der französischen Revolution passé
war und daß der Lebensrhythmus sich seitdem dramatisch beschleunigt hatte.
(Manfred Osten, Alles veloziferisch oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit,
2003, S. 9 ).
Goethes kurzgefaßte Handlungsformel der Faust-Tragödie z.B.
zeigt gleich zu Beginn - im Vorspiel auf dem Theater - die Richtung: Vom
Himmel durch die Welt zur Hölle (S. 17); bei dieser Talfahrt steht
die Ratio des Menschen im Verdacht, der eigentliche Quellgrund der rastlosen Begehrlichkeit,
der Gefräßigkeit, der exponentiell steigenden Mobilmachung, der Beschleunigung,
des Veloziferischen, der Moderne zu sein. Mephisto meint jedenfalls ganz
offensichtlich diesen Defekt, wenn er gegenüber Gott (im Prolog im Himmel)
kurzerhand dessen Geschöpf, den Menschen, als korrekturbedürftig kritisiert:
»Hätt'st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt's
Vernunft und braucht's allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.«
(S. 19). Und was Francis Bacon im Novum organum ( )
gegenüber der Überstürztheit des menschlichen Verstandes gefordert
hatte, nämlich die Ratio »nicht mit Flügeln« zu versehen,
»sondern eher mit Bleigewichten ..., um so jedes Springen und Fliegen zu
verhindern«, dies macht auch Mephisto dem Schöpfer des »Himmelslichts«
zum Vorwurf, indem er den Menschen vergleicht mit einer »der langbeinigen
Zikaden, / Die immer fliegt und fliegend springt / Und gleich im Gras ihr altes
Liedchen singt; / Und läg' er nur noch immer in dem Grase! / In jeden Quark
begräbt er seine Nase.« (S. 19). Goethe hat Andeutungen geliebt, und
man findet bei ihm durchaus Andeutungen einer schwarzen Anthropologie im Zeichen
der Übereilung, der Ungeduld, so heißt es im 2003 erschienenen
Buch von Manfred Osten, der darin diesen Andeutungen Goethes vor einem sich verdunkelnden
Hintergrund nachgegangen ist: Dies gilt nicht nur für den Faust.
Auch am Beispiel anderer Werke der Spätzeit, anhand der Wahlverwandtschaften
und des West-östlichen Divan, soll kursorisch verdeutlicht werden,
welche Zukunft Goethe auf uns zukommen sah, so Manfred Osten (ebd.,
2003, S. 12-13): Eine Zukunft, von der Grillparzer im März 1849 (in
dem Gedicht Der Leopoldsritter )
behauptete: »Der Weg der neuen Bildung geht / Von der Humanität / Durch
die Nationalität / Zur Bestialität.« Goethe hatte diese Prognose
schon im 5. Akt von Faust II gewagt. .... - Die anamnetische Kultur, das
heißt, Gedächtnis und Erinnern als Bedingung der Humanität, fällt
der Ungeduld zum Opfer. (Manfred Osten, ebd., S. 13 ).
Im November 1825 schrieb Goethe an seinen Großneffen Alfred Nicolovius ( ):
So wenig nun die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch
im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des
Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles
sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt
ist ....« Und zuvor, nämlich am 6. Juni 1825, hatte Goethe bereits
gegenüber seinem Freund Carl Friedrich Zelter ( )
den Phänotyp eines jungen Mannes für diese Zeit der Lebhaftigkeit
des Handels und des Durchrauschens des Papiergeldes beschrieben.
Dazu Manfred Osten: Es ist der Phänotyp für die Stellenausschreibung
einer Zeit auf dem Wege zum bereits global operierenden Dr. Faustschen Handelskonzern
im 5. Akt des zweiten Teils des Faust. Ironisch heißt es in dem Schreiben
an Zelter: »Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen
Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen
Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen,
wenn sie gleich selbst nicht zum höchsten begabt sind.« Gegenüber
dieser »gewissen Gewandtheit« hat Goethe sich berufen auf das, was
sich ihr entzog: die im sittlichen Charakter einer Person gründende Gesinnung,
die er unterscheidet von den schnell wechselnden Meinungen des sich bereits ankündigenden
Informationszeitalters. Goethes gegenläufiges Credo lautet: »Die Menschen
werden durch Gesinnungen vereinigt, durch Meinungen getrennt.« (Johann Wolfgang
von Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi; 06.01.1813). Über diese Gesinnungen
heißt es denn auch in dem genannten Schreiben an Zelter: »Laß
uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen, wir
werden, mit vielleicht noch wenigen, die letzten sein einer Epoche, die sobald
nicht wiederkehrt.« - Goethes Gelassenheit ist auffällig. Er hält
sich »an der Gesinnung« und verweigert sich der Versuchung, im Namen
irgendeiner Gefolgschaft Jünger um sich zu scharen, um eine »Epoche«
der langsamen Gangart zu restituieren. Vor allem widerstrebt er der Versuchung,
andere in diesem Sinne belehren zu wollen. Und er bleibt seiner Einsicht treu:
»Immer glaubt ich gutmütig, von anderen etwas zu lernen; / Vierzig
Jahr war ich alt, da mich der Irrtum verließ. / Töricht war ich immer,
daß andre zu lehren ich glaubte; / Lehre jeden du selbst, Schicksal, wie
es bedarf.« (Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte aus dem Nachlaß:
Epigramme). (Manfred Osten, ebd., S. 14-15 ).»Überhaupt«,
fuhr Goethe fort, »ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden
so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu
finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Platon,
Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige
gefunden und gesagt; aber daß ich es auch fand, daß ich es wieder
sagte und daß ich dafür strebte, in einer konfusen Welt dem Wahren
wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst.« (Johann
Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
[1822-1832], 16.12.1828; 1836-1848, S. 281 ). Nur wenigen Menschen sind Gedanken zugänglich, wie sie Goethes
Morphologie zugrunde lagen. Schließlich erwartet man von einem Dichter anderes.
Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung
der organischen Körper enthalten; sie gehört daher zu den Naturwissenschaften.
(Johann Wolfgang von Goethe, Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen,
postum). Nach dieser Definition ist die Morphologie nicht interessiert, kausale
Zusammenhänge herzustellen; sie beschreibt vielmehr die Organismen in ihrer
Entwicklung unter Bedingungen und also in ihren Funktionen, wobei Goethes Hauptaufmerksamkeit
darauf gerichtet war, das Hervorgehen der höheren aus den niederen Arten
darzustellen. In Goethes Anschauungen durchdringen sich materialistisch-experimentelle
und idealistisch-spekulative Ansätze. Die leztzteren treten deutlich zutage
in gewissen abstrahierenden Grundbegriffen wie Urphänomen ( )
oder Urpflanze ( ),
unter denen Goethe letztgültige Erscheinungen verstanden wissen wollte. Eine
Reihe anderer, entwicklungsgeschichtlich gedachter Grundbegriffe wie zum Beispiel
Metamorphose ( ),
Gestalt, Typus, Polarität u.a. erweisen
sich noch heute als tragfähig. Zu den von Goethe morphologisch ermittelten
Naturgesetzen gehören das Prinzip von einem bestimmten Etat eines
Organismus, die Gesetze der Koordination, Subordination und Superordination, das
Prinzip der variablen Proportionen, die Wirbeltheorie des Schädels, die Spiraltendenz
in der Vegetation. Nüchtern und realistisch dachte Goethe über die Möglichkeit
gegenständlicher Erkenntnis: Man suche nur nichts hinter den Phänomenen;
sie selbst sind die Lehre. 1817 bis 1824 gab Goethe die Zeitschrift Zur
Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie heraus, in der
er frühere und laufende Forschungen veröffentlichte. So wie Goethes
Spiraltendenz, um seine Anschauung von der Wiederkehr des ewig
Gleichen darzustellen, die später von so vielen seiner Nachfolger (Goetheaner)
übernommen wurde - wie auch Goethes entwicklungsgeschichtlich gedachter Grundbegriff
der Metamorphose.
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Goethes Schema zu den Geistesepochen |
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Wie gesagt: Goethe suchte zeitlebens
nach dem Urphänomen aller organischen Wesen, und deshalb
sind die meisten seiner Werke auch für die Kulturmorphologie so bedeutungsvoll
- diesbezüglich besonders inhaltsreich ist z.B. sein Aufsatz Geistesepochen
von 1817, denn er gibt auf sehr prägnante Weise Einblicke in sein
kulturmorphologisches Denken einer Zyklentheorie (vom [Ur-]Anfang bis
zum Verfall) mit sechs Entwicklungsstufen, und zwar vom Uranfange«,
da der Mensch staunend ängstlich umherblickt und so erst
zur Poesie, dann zur Theologie und schließlich zur Philosophie gelangt,
bis hin zur letzten Stufe der Vermischung, Auflösung
aller Dinge. Und so wird denn auch der Wert eines jeden Geheimnisses
zerstört, der Volksglaube selbst entweiht; Eigenschaften, die sich
vorher naturgemäß auseinander entwickelten, arbeiten wie streitende
Elemente gegeneinander, und so ist das Tohu wa Bohu wieder da: aber nicht
das erste, befruchtete, gebärende, sondern ein absterbendes, in Verwesung
übergehendes, aus dem der Geist Gottes kaum selbst eine ihm würdige
Welt abermals erschaffen könnte. (Johann Wolfgang von Goethe,
Geistesepochen, 1817, a.a.O. ).
Mindestens genauso ergiebig und aufschlußreich in dieser Sache sind
Goethes Gespräche mit Eckermann, in denen es z.B. am 29. Januar 1826
heißt: Alle im Rückschreiten und in der Auflösung
begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden
Epochen eine objektive Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende,
denn sie ist eine subjektive. ( ).
Oder über die Entwicklung der Menschheit, ganz im Sinne seiner
Geistesepochen, heißt es am 23. Oktober 1828: Klüger
und einsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und tatkräftiger
nicht, oder doch nur auf Epochen.
Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine
Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß
zu einer verjüngten Schöpfung. .... Aber bis dahin hat es sicher
noch gute Weile, und wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende
auch auf dieser lieben alten Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß
haben. Die Textstellen, in denen sich Goethe Eckermann gegenüber
zu kulturphilosophischen Fragen äußert, sind sehr zahlreich.
Wenn es um die Rätsel des Prozesses der Menschwerdung ging, sah Goethe
jedoch auch klare Grenzen vor sich: allein darüber nachzusinnen,
wie es geschehen, halte ich für ein unnützes Geschäft,
das wir denen überlassen wollen, die sich gern mit unauflösbaren
Problemen beschäftigen und die nichts Besseres zu tun haben.
(Notiz vom 07.10.1828).
Auch Schiller äußerte
sich öffentlich zur Geschichtsmorphologie. In seiner berühmten
Jenaer Antrittsrede von 1789 (Was heißt und zu welchem Ende studiert
man Universalgeschichte? )
betonte er, »daß die Ereignisse des entferntesten Altertums,
unter dem Zusammenschluß ähnlicher Umstände von außen,
in den neuesten Zeitläufen wiederkehren.« Er warnt jedoch davor,
aus dieser Erkenntnis zu schnell Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. »Die
Methode, nach der Analogie zu schließen, ist, wie überall,
so auch in der Geschichte, ein mächtiges Hilfsmittel; aber sie muß
durch seinen erheblichen Zweck gerechtfertigt und mit ebensoviel Vorsicht
als Beurteilung in Ausübung gebracht werden.« (Friedrich Schiller,
ebd., 1789, S. 17 ).
Johann
Christian Friedrich Hölderlin (1770-1843 )
war vom Zyklus des Weltgeschehens beeindruckt und brachte ihn in reinster Form
zum Ausdruck: Geh, fürchte nichts, es kehret alles wieder, und
was geschehen soll, ist schon vollendet.
|
Zwar ist es
entsetzlich, aber dennoch wahr und durch die Geschichte belegt,
daß, wie es kein Mittel gegen den physischen Tod aus Alters-Schwäche
giebt, so auch keines zur Wieder-Verjüngung und moralisch-politischen
Restauration eines nun einmal und wirklich moralisch-politisch abgestorbenen
Volkes. (Karl Vollgraff). |
Über den notwendigen Verfall,
den Untergang, die Vollendung der abendländischen Kultur wurde schon
geschrieben, als dieser Prozeß noch in den Anfängen steckte.
So schrieb z.B. Karl Vollgraff (1792-1863 ),
den man zu den Vorläufern Spenglers zählen kann, ein immerhin
zweitausend Seiten umfassendes Werk - Die Systeme der praktischen Politik
im Abendland -, das 1828 erschien, nie abgeschlossen wurde und die
Zeitgenossen dennoch stark beeindruckte, wozu vor allem eine vier Jahre
später erschienene Kampfschrift gegen die liberalen Ideen beitrug:
Die Täuschungen des Repräsentativsystems (1832). Diese
Schrift fand so viel Aufmerksamkeit, daß sie von den aufgebrachten
Marburger Burschenschaften auf dem Marktplatz der Stadt verbrannt wurde.
Viele spätere Autoren übernahmen Vollgraffs Gedanken, waren
zumindst von ihnen wesentlich beeinflußt. ( ).
Zu diesen Gedanken gehörte vor allem ein Organismus-Begriff
im Sinne der Spätromantik, der es ermöglichte, den natürlichen
Prozessen analoge Vorgänge in der Geschichte zu beobachten. Auf entsprechende
Vorstellungen waren zwar auch schon frühere Autoren gekommen, doch
keiner hatte versucht, diese Idee so konsequent anzuwenden wie Vollgraff.
Nach dessen Ansicht war sogar die Menschheit insgesamt in einem seit 6000
Jahren andauernden Prozeß der Kultivierung begriffen und stand am
Ende ihrer Entwicklungsmöglichkeiten; auch die erst neu hinzugetretenen
Völker hätten längst den Höhepunkt überschritten
und gingen in Verfall über. ( ).
Vollgraff hat sich vor allem dieser Dekadenz mit großer Akribie
und unbestechlichem Blick zugewandt und auf diese Weise viel worweggenommen,
was heute noch am Werk Spenglers fasziniert. ( ).
Vollgraffs Erster Versuch einer wissenschaftlichen Begründung
sowohl der allgemeinen Ethnologie durch die Anthropologie wie auch der
Staats- und Rechtsphilosophie durch die Ethnologie oder Nationalität
der Völker in drei Teilen - ein dreibändiges Werk, daß
erst ab 1851 erschien - wirkte schon auf die Zeitgenossen wie eine Spätgeburt
des Vormärz. Der Vormärz bezeichntet, wie bereits
angedeutet, die Zeit zwischen Wiener Kongreß (1814/15) und Märzrevolution
(1848), also die nationalen und liberalen Kräfte, die schließlich
die Märzrevolution herbeiführten, und ist gekennzeichnet durch
äußeren Frieden und gewaltsam erzwungene innere Ruhe, durch
Zersplitterung des Deutschen Reiches in 38 (39 )
Einzelstaaten - im Deutschen Bund zwar de jure einheitlich, aber
de facto nur locker verbunden -, durch eine reaktionäre Knebelung
aller nationalen und liberalen Bewegungen im System Metternich
mit Hilfe von Bundesbeschlüssen und durch ein primär von der
Industrialisierung ausgelöstes Massenelend (Pauperismus).
Auf Karl Vollgraff berief sich auch Ernst von
Lasaulx (1805-1861 ),
Professor der Altertumswissenschaft in Würzburg und München,
z.B. in seinem kulturmorphologisch höchst interessanten Buch: Neuer
Versuch einer alten auf die Wahrheit der Thatsachen gegründeten Philosophie
der Geschichte. Während Vollgraff sich zumeist darauf spezialisierte,
die Symptome des Verfalls (von Kulturen, Völkern, Staaten u.ä.)
zu sammeln, um herauszufindenen, wie weit die einzelnen Völker schon
in die Todeszone, die das unabwendbare Ende aller Geschichte ist, hineingeraten
sind, so stellte Lasaulx zwar die gleiche Verfallsdiagnose, versuchte
diese aber künstlich mit der christlichen Heilslehre in Einklang
zu bringen. Doch das war nicht nur inkonsequent, sondern auch fatal insofern,
als er sich mit seinen eigenwilligen These zwischen alle Stühle setzte,
besonders zwischen zwei, denn einerseits wurde er für die Kirche
zum Häretiker wegen des Versuchs, die griechische Antike und das
christliche Zeitalter in Analogie zu setzen und Sokrates mit Jesus Christus
zu vergleichen (Lasaulx' Schriften standen zeitweilig sogar auf dem Index),
und andererseits für die Wissenschaft wegen seines ausgeprägten
Katholizismus zum Reaktionär. Tragisch daran ist nur, daß Lasaulx'
Neuer Versuch nicht richtig zu Ende gedacht wurde. Interessant
ist er trotzdem. Die Kulturen sterben laut Lasaulx nach Vollendung ihrer
Entwicklung, nachdem sie hervorgebracht haben, wozu sie bestimmt waren.
(Vgl. ebd., S. 24 ).
Ihre innere productive Zeugungskraft (ebd., S. 147)
nehme ab, Erschlaffung, Verweichlichung, Luxus trete ein,
und danach ein Zurücksinken in Barbarei (ebd.,
S. 28), bis der ganze Organismus, nur auf die Befriedigung der materiellen
Bedürfniss reducirt, seelenlos auseinanderfällt (ebd.,
S. 147). Man findet bei Lasaulx überwiegend biologisches (bzw. biographisches)
Denken, das naturwissenschaftlich fundiert ist und auf eine Morphologie
kultureller Weltgeschichte sowie eine lebensphilosophische Logik der Geschichte
hinaus will. Wenn ich es daher unternehme, mit mässigen Gaben
ausgerüstet, nicht nur die Geschichte der alten Völker deren
Leben vollendet ist, sondern auch jene der heutigen Völker Europas
deren Schicksale noch schwebend sind, philosophisch zu beurtheilen, so
kann dies nur unter mehrfachen Voraussetzungen geschehen ..., dass der
Gang der grossen Schicksale der Menschheit, wie die Folge der Naturerscheinungen
durch feste ewige Gesetze bestimmt ist ... und dass, nach den Gesetzen
der Analogie im Leben der Völker des Alterthums, aus dem Bisherigen
auf das Zukünftige ein wahrscheinlicher Schluss gezogen werden könne
(ebd., S. 5-10). Per Analogie zur Prognose.
Das
Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung vom Sprach- und
Geschichtswissenschaftler Heinrich Rückert (1823-1875 ),
dem Sohn des berühmten Dichters Friedrich Rückert (1788-1866 ),
ist für die Kulturmorphologie ebenfalls sehr bedeutsam, stellt es doch den
Versuch dar, eine Weltgeschichte eben auch von Anfang an zu schreiben.
In Rückerts Lehrbuch wird die Kulturmenschheit in drei (statt vier)
Entwicklungsstufen eingeteilt, wobei zehn Culturwelten bzw. Culturkreise
(= Kulturkreise )
unterschieden werden (babylonisch, ägyptisch, chinesisch, indisch griechisch,
römisch, phönizisch, semitisch, kaukasisch, islamisch), von denen eine
einzige Kultur, nämlich die westeuropäische, sich wirklich lebendig
erhalten hat. (Vgl. ebd., Bd. II, S. 911 ).
Kultur bzw. ihre erste Stufe beginne, so Rückert, sobald der Mensch sich
außerhalb oder im Gegensatz zu der Natur gestellt (ebd.,
S. 20) wähne und erstmals zum geschichtllichen Selbstbewußtsein
(ebd., S. 78) gekommen sei. In der zweiten Stufe erkenne der Mensch die
Vorteile, die der Zusammenschluß in Verbände mit sich bringe, weshalb
sie bei Rückert die sociale (ebd., S. 80) heißt.
In der dritten Stufe schließlich entwickle sich aus dem Bedürfnis,
die Welt und ihre Phänomene verstehen zu wollen, das übersinnliche
oder geistige Moment (ebd., S. 84), das bald zum religiösen
werde. Es folge die zwangsläufige Auflösung der Kultur durch Säkularisation
und Wissenschaft; sie wird aber nicht als eine eigene Stufe (oder doch als eine
heimliche 4. Stufe?) gesehen, sondern nur als allmählicher Verfall.
Nachdem die westeuropäische Kultur als die einzige sich wirklich lebendig
erhaltene Kultur alle anderen Kulturen, ohnehin bereits abgesunken, durch Eroberung
und Ausbeutung endgültig zerstört habe, komme ihr die Rolle (oder gar
die Pflicht?) zu, durch Rückbesinnung auf ihr christliches Ideal der Menschheit
das Heil zu bringen - doch Skepsis sei angebracht, so Rückert, ob ihr das
gelinge. Die Gegenwart und die Zukunft der europäischen Cultur, die
selbst nichts weiter vermögen als das negative Werk, die Zerstörung
gegen sich selbst als Vorbereitung für eine bessere Zukunft weiter fortzuführen,
sind nicht dazu geschaffen, um die Regeneration jener noch mehr zerstörten
eigenthümlichen Culturgebilde zu vollziehen (ebd., S. 919).
Als leidenschaftlicher Patriot und später Romantiker glaubte Rückert
zwar an eine germanische Mission (vor allem der Deutschen), verurteilte
aber, wie sehr viele deutsche Denker zu dieser Zeit, die Kolonialpolitik der Europäer,
insbesondere der Engländer. Und als Idealist, der Rückert sicherlich
auch war, schien er zu hoffen, das sich in Zukunft für die Menschheit eine
wahre Humanität durchsetzen werde, ganz in der Tradition des
Neuhumanismus.
Goethes Geistesepochen ( )
hatten z.B. 1897 auch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931 )
zu seinem Vortrag Weltperioden ( )
angeregt. In einer Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät
Kaiser Wilhelms II. verglich der große Altphilologe die einzelnen
Geschichtsperioden mit Gliedern einer Kette, die ziellos in die Zukunft
laufe. Es gebe keine Fortschrittsgarantie, weil alles jederzeit vergehen
könne, wie die Geschichte beweise. Die Kultur kann sterben,
denn sie ist mindestens einmal gestorben. .... Wer einmal mit Nachdenken
über das Forum Roms gewandert ist, muß inne geworden sein,
daß der Glaube an den ewigen kontinuierlichen Fortschritt ein Wahn
ist. Wilamowitz-Moellendorff sah Analogien zwischen Antike und Abendland
und Kulturen als biologische Organismen: denn wir sehen nun in anderthalb
Jahrtausenden eine Kultur den ganzen Kreislauf der Entwicklung durchmachen,
wir sehen einen Ring an der Kette der Ewigkeit sich runden und schließen.
Und ganz abgesehen von den Hervorbringungen dieser Kultur, schon daß
sie abgeschlossen hinter uns liegt, so daß wir die Ursachen und
Phänomene ihres Wachsens und Vergehens ganz verfolgen können,
hat für die historische Methode überhaupt paradigmatische Bedeutung.
(Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Weltperioden, 1897, S. 4 ).
Hier sind die Ähnlichkeiten zu vielen Sätzen eines noch bekannteren
Kulturmorphologen schon sehr deutlich - das gilt auch für viele Textstellen
in der schon zwei Jahre vor den Weltperioden von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
veröffentlichten Geschichte des Untergangs der antiken Welt
von Otto Seeck (1850-1921 ):
Es ist ein uralter Gemeinplatz, daß die Völker Individuen
seien und in ihrem Leben ganz dieselben Entwicklungsstufen durchmachen
müssen, wie das Einzelgeschöpf. Schon Varro versuchte, indem
er Kindheit, Jugend, Mannesalter und Greisentum der Römer nach gleichen
Zeiträumen abgrenzte, genau zu berechnen, wann sein Volk der Natur
den unvermeidlichen Zoll werde bezahlen müssen, und durch einen wunderlichen
Zufall ist seine Prophezeiung so ziemlich eingetroffen. Bis auf den heutigen
Tag ist dann die Phrase, von dem allmählichen Altern und schliesslichen
Tode der Nationen unzählige Male nachgesprochen worden, und den Meisten
muss sie noch immer als die schlagendste Erklärung für den Untergang
des römischen Reiches gelten.(Otto Seeck, Geschichte des
Untergangs der antiken Welt, 1895, S. 273-274 ).
Seeck war vom Anspruch beseelt, dem Leser die großen Zusammenhänge
eines komplizierten historischen Prozesses zu verdeutlichen, dabei nicht
selten einen weiten Bogen oder oft auch mehrere spannend, immer wieder
Bezug auf die Gegenwart nehmend, gut und gern viel spekulierend und mit
eigenwilligen Thesen überraschend. Auch das ähnelt sehr der
anregenden und geistreichen Weise jenes noch bekannteren Kulturmorphologen.
Noch einmal zurück: Zur
Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie; in dieser Zeitschrift,
die Goethe 1817 bis 1824 herausgab, wurden frühere und laufende Forschungen
veröffentlicht. Also auch Goethes Spiraltendenz, um dessen Anschauung
von der Wiederkehr des ewig Gleichen darzustellen, oder auch Goethes
entwicklungsgeschichtlich gedachter Grundbegriff der Metamorphose. Besonders Oswald
Spengler benutzte ihn als Grundlage - und in ganz spezieller Hinsicht die Pseudomorphose,
die er als Theorem in seine Historiensicht einbaute: Historische Pseudomorphosen
nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über
dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt
und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht
einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt. (Oswald
Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 784 ).
Der Untergang des Abendlandes trägt nicht umsonst den Untertitel Umrisse
einer Morphologie der Weltgeschichte. Spengler bezog sich auf Goethe und Nietzsche,
und es drängte ihn, noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut
wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von
Nietzsche die Fragestellungen, und wenn ich mein Verhältnis zu diesem in
eine Formel bringen soll, so darf ich sagen: ich habe aus seinem Augenblick einen
Überblick gemacht. (Oswald Spengler, ebd., S. IX ).
Das Bewußtsein davon, daß die Zahl der weltgeschichtlichen Erscheinungsformen
eine begrenzte ist, daß Zeitalter, Epochen, Lagen, Personen sich dem Typus
nach wiederholen, war immer vorhanden. .... Die Archäologie ist ja selbst
ein Ausdruck des Gefühls, daß Geschichte sich wiederholt ....
(Oswald Spengler, ebd., S. 4 und 4-5 ).Die
Kulturmorphologie zeichnet sich unter anderem auch dadurch aus, daß sie
vom Zyklus der Geschichte ausgeht, vom zyklischen Geschichtsmodell also. Die zyklische
Geschichtsdeutung ist übrigens viel älter als die lineare. Das zyklische
Geschichtsmodell wurde zu der Zeit vom linearen Geschichtsmodell verdrängt,
als das Christentum begann, genauer: als das Christentum allmählich mächtiger
wurde (2. und 3. Jh.) und sich im Römischen Reich auch tatsächlich durchsetzte
(4. Jh.). Das lineare Geschichtsmodell geht darauf zurück, daß nach
christlicher Auffassung alles menschliche Geschehen in den Heilsplan Gottes eingebettet
ist. Im Abendland hat es kanonische Bedeutung, was auch an unserem Kalender deutlich
wird. Gemäß dieses christlichen Kanons hat alle Menschengeschichte
einen Anfang, nämlich den Schöpfungsakt Gottes, und ein Ziel, nämlich
das Jüngste Gericht und das Ewige Leben der als gerecht Befundenen im Paradies.
Nicht nur die wesentlichen heilsgeschichtlichen Vorgänge - der Sündenfall,
die Menschwerdung Gottes, der Erlösungstod und die erwartete Wiederkehr Christi
-, sondern alles Geschehen überhaupt läßt sich damit im linearen
Sinn deuten. Richtung und Ziel sind also eindeutig definiert. Zu dieser Richtschnur
gab es in der abendländischen Geschichte zwar immer auch einige wenige Abtrünnige,
die zurück zum zyklischen Geschichtsmodell wollten und als Ausnahmen doch
immer nur die Regel bestätigten: Abweichlern drohte die Exkommunikation!
Stärker wurden die Ausnahmen jedoch seit der Bürgerlichen Revolution,
also seit Ende des 18. Jahrhunderts - Beispiele hierfür gibt es jedenfalls
genug ( ).
Trotzdem ist das zyklische Geschichtsmodell die Ausnahme der Regel geblieben,
ist das lineare Geschichtsmodell ganz klar und deutlich vorherrschend geblieben.
Es ist ein Verdienst von Karl Löwith (1897-1973 ),
deutlich gemacht zu haben, daß die gesamte abendländische Geschichtsphilosophie
auf diesem Dogma beruht. In seinem Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen
(1948 )
hat er eindrucksvoll nachgewiesen, daß sich alle bis zum Übergang vom
18. zum 19. Jahrhundert entwickelten abendländischen geschichtsphilosophischen
Systeme von den heilsbringenden Grundmuster herleiten und daß das auch danach
noch überwiegend galt und gilt. Besonders deutlich werde dies gerade beim
Marxismus, denn genau wie das Christentum kennt ja auch der Marxismus ein ursprüngliches
Paradies, einen Sündenfall (Übergang zum Privateigentum!), eine Menschheitserlösung
(Weltrevolution der Arbeiterklasse!) und ein freilich irdisches Paradies - außerdem
die vergleichbaren äußeren Formen, in denen sich dieser Glaube darstellt:
Helden- und Märtyrerverehrung, Exkommunikation von Abweichlern,
heilige Texte, Prozessionen von Massenaufmärschen.Von
den erwähnten wenigen Ausnahmen abgesehen ( ),
ist also auch die Geschichtsphilosophie seit der Bürgerlichen Revolution
- das heißt: seit Ende des 18. Jahrhunderts - eine säkularisierte Variante
des christlichen Heilsmodells und demzufolge eine Geschichtsphilosophie mit linearem
Geschichtsmodell. Dies gilt auch z.B für die Geschichtsphilosophien von Herder
(1744-1803 )
oder Hegel (1770-1831 )
- obwohl gerade bei diesen beiden auch (auch!) Zyklentheorien thematisiert werden
- und fast alle Philosophen nach ihnen, bis auf die eben erwähnten Ausnahmen
- d.h.: Moderne (Zivilisation, Nihilismus) oder Historismus ist nicht gleichbedeutend
mit der Abkehr vom linearen Geschichtsmodell, aber doch mit der Zunahme der Ausnahmen,
die das zyklische Geschichtsmodell bevorzugen. Und: der Wunsch, zum alten zyklischen
Geschichtsmodell zurückzukehren, wächst. Wie alt die zyklische Geschichtsvorstellung
ist, ist nicht genau bekannt, wohl aber, daß durch die Seßhaftwerdung,
die Neolithische Revolution, eben die produzierende Wirtschaftsweise
( )
der Vegetationszyklus Säen, Reifen, Ernten seinen Niederschlag
in religiösen Vorstellungen fand und mit dem Lebenszyklus: Geburt,
Werden, Tod verglichen wurde, daß also die zyklische Geschichtsvorstellung
kulturell sinnvoll war, weil es zwischen dem Glauben und der Produktion, zwischen
der Religion (bzw. Theologie) und der Wirtschaft (bzw. Ökonomie) eine Rückkoppelung
gab, die Kultur stiftet und damals zusammen mit Technik und Kunst Neues bewirkte:
Historienkulturen ( ).
Das zyklische Geschichtsmodell blieb vorherrschend bis zum Christentum, wie bereits
erwähnt, und das Christentum ist praktisch eine Synonym für die Vorherrschaft
des linearen Geschichtsmodells. Das Christentum hatte eine durchaus realistische
Vorstellung von der naturgegebenen Schwäche des Menschen, seiner Sündhaftigkeit;
und die sogenannte Moderne ändert daran im Grunde nichts - auch dann nicht,
wenn in ihr die Vorstellung vorherrscht, daß der Mensch von Natur aus gut
sei. In beiden Fällen - ob realistisch-pessimistisch oder idealistisch-optimistisch
- geht es um die permanente Aufwärtsentwicklung, mal mehr innerlich und geistig,
mal mehr äußerlich und materiell. Andere als diese kleinen Unterschiede
gibt es nicht. Es geht in beiden Fällen um eine Himmelfahrt!
Der Fortschritt im Dieseits entspricht genau dem Zustreben auf das Paradies im
Jenseits, doch nicht das aufstrebende Traditionschristentum, sondern das aufstrebende
Bürgertum begeht den Fehler im Fortschrittsglauben, weil es die Fortschrittsidee
auch auf den geistig-moralischen und den politischen Bereich überträgt,
obwohl der Fortschritt nur in der Technik - in Wissenschaft, Medizin, Kommunikation
u.s.w. - nicht zu leugnen ist, weil er ja ein technischer Fortschritt ist, sogar
ein enormer und immer stärker sich beschleunigender (der übrigens deshalb
auch nicht mehr als linear, sondern als stark exponentiell zu bezeichnen ist).
Aber eben nur hier! Statt dies zu berücksichtigen, steht für die Modernen
das Ziel der säkularen Heilserwartung außer Frage: die Menschheit wird
immer mehr zu den Höhen des Paradieses emporsteigen. Kein Wort von Kultur,
von Wirtschaft, von Kunst - nur von Menschheit, verstanden als ein Individuum
auf der Himmelfahrt! Wie eine Bombe mußte hier Spenglers These
einschlagen, daß es eine Menschheit in diesem Sinne gar nicht gibt, daß
sich vielmehr jeweils untereinander nicht oder kaum verbundene Kulturkreise entwickeln,
und zwar nach der Art organischer Wesen. Es war Goethe, dem Spengler ausdrücklich
dankte ( ),
auch für die Analogie aus der Botanik, die Spiraltendenz, die
die Wiederkehr des ewig Gleichen anschaulich verdeutlicht.  Kulturen
sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. .... Kultur ist
das Urphänomen aller vergangenen und künftigen Weltgeschichte.
Die tiefe und wenig gewürdigte Idee Goethes, die er in seiner »lebendigen
Natur« entdeckte und seinen morphologischen stets zugrunde gelegt hat, soll
hier in ihrem genauesten Sinne auf ... die Geschichte angewendet werden. . .... »Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und
wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres
kann es ihm nicht gewähren und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen:
hier ist die Grenze.« Ein Urphänomen ist dasjenige, worin die Idee
des Werdens rein vor Augen liegt. Goethe sah die Idee der Urpflanze in
der Gestalt jeder einzelnen, zufällig entstandenen oder überhaupt möglichen
Pflanze klar vor seinem geistigen Auge. Er ging bei seiner Untersuchung des os
intermaxillare vom Urphänomen des Wirbeltiertypus, auf anderem
Gebiete von der geologischen Schichtung, vom Blatt als der Urform aller
pflanzlichen Organe, von der Metamorphose der Pflanzen als dem Urbild alles organischen
Werdens aus. »Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige
anwenden lassen«, schrieb er aus Neapel an Herder, als er ihm seine Entdeckung
mitteilte. (Oswald Spengler, 1918, ebd., S. 140-142 ).
Spenglers Bezug auf Goethe ist eindeutig: Organisches Wachstum der Kulturen, wie
es sich in Lebenssaltern Einzelner und in den Jahreszeiten naturhaft symbolisch
darstellt.Laut Spengler sind Kulturen Einzelwelten
des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte ... eine in keiner Weise bevorzugte
Stellung einnehmen. (Oswald Spengler, ebd., S. 24 ).
Ich erinnere an Goethe. Was er die lebendige Natur genannt hat, ist
genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte
genannt wird. Goethe, der als Künstler wieder und immer wieder das Leben,
die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordne, herausbildete,
wie es der »Wilhelm Meister« und »Wahrheit und Dichtung«
zeigen, haßte die Mathematik. Hier stand die Welt des Mechanismus der Welt
als Organismus, die tote der lebendigen Natur, das Gesetz der Gestalt gegenüber.
Jede Zeile, die er schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, »geprägte
Form, die lebend sich entwickelt«, vor Augen stellen. Nachfühlen, Anschauen,
vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie
- das waren seine Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen.
Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt. Es gibt
keine andern. Dieser göttliche Blick ließ ihn am Abend der Schlacht
von Valmy (20.09.1792) am Lagerfeuer jenes Wort aussprechen: »Von hier und
heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen,
ihr seid dabei gewesen.« Kein Heerführer, kein Diplomat, von Philosophen
zu schweigen, hat Geschichte so unmittelbar werden gefühlt. Es ist das tiefste
Urteil, das je über einen großen Akt der Geschichte in dem Augenblick
ausgesprochen wurde, als er sich vollzog. Und so wie er die Entwicklung der Pflanzenform
aus dem Blatt, die Entstehung des Wirbeltiertypus, das Werden der geologischen
Schichten verfolgte - das Schicksal der Natur, nicht ihre Kausalität
- soll hier die Formensprache der menschlichen Geschichte, ihre periodische Struktur,
ihre organische Logik aus der Fülle aller sinnfälligen Einzelheiten
entwickelt werden. (Oswald Spengler, ebd., S. 35 ).
Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede
hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.
(Oswald Spengler, ebd., S. 144 ).
Jede Kultur, jede Frühzeit, jeder Aufstieg und Niedergang, jede ihrer
innerlich notwendigen Stufen und Perioden hat eine bestimmte, immer gleiche, immer
mit dem Nachdruck eines Symbols wiederkehrende Dauer. (Oswald Spengler,
ebd., S. 148 ).
Man empfindet so etwa als Zufall, daß
Goethe nach Sesenheim, und als Schicksal, daß er nach Weimar kam. ( ).
Das eine scheint Episode, das andre Epoche zu sein. Indessen wird daraus deutlich,
daß die Unterscheidung vom iunern Range des Menschen abhängt, der sie
trifft. Der Menge wird selbst das Leben Goethes als eine Reihe anekdotischer Zufälle
erscheinen; wenige werden mit Erstaunen empfinden, welche symbolische Notwendigkeit
in ihm auch noch dem Unbedeutsamsten innewohnt. Aber war vielleicht die Entdeckung
des heliozentrischen Systems durch Aristarch für die Antike ein belangloser
Zufall, die vermeintliche Wiederentdeckung durch Kopernikus dagegen ein Schicksal
für die faustische Kultur? War es ein Schicksal, daß Luther im
Gegensatz zu Calvin kein Organisator war - und für wen? .... Hier bleibt
das Gebiet der begrifflichen Verständigung weit zurück; was Schicksal,
was Zufall ist, das gehört zu den entscheidenden Erlebnissen der einzelnen
Seele wie derjenigen ganzer Kulturen. Hier schweigt alle gelehrte Erfahrung, jede
wissenschaftliche Einsicht, jede Definition; und wer auch nur den Versuch wagt,
beides erkenntnistheoretisch fassen zu wollen, der kennt es gar nicht. .... Wer
urteilend an die Geschichte herantritt, wird nur Daten finden.
(Oswald Spengler, ebd., S. 181 ).
Schicksal und Zufall bilden
jederzeit einen Gegensatz ( ),
in den die Seele zu kleiden versucht, was nur Gefühl, nur Erlebnis
und Schauen sein kann und was allein durch die innerlichsten Schöpfungen
von Religion und Kunst denen verdeutlicht wird, die zur Einsicht berufen
sind. Um dies Urgefühl des lebendigen Daseins, das dem Weltbilde der Geschichte
Sinn und Gehalt verleiht, heraufzurufen - Name ist Schall und Rauch -, weiß
ich nichts Besseres als eine Strophe von Goethe, dieselbe, die an der Spitze dieses
Buches dessen Grundgesinnung bezeichnen soll:Wenn
im Unendlichen dasselbe Sich wiederholend ewig fließt, Das tausendfältige
Gewölbe Sich kräftig ineinander schließt; Strömt
Lebenslust aus allen Dingen, Dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.
| An
der Oberfläche des Weltgeschehens herrscht das Unvorhergesehene. Es
haftet als Merkmal an jedem Einzelereignis, jeder Einzelentscheidung, jeder Einzelpersönlichkeit.
... Daß in den Wirbeln des Werdens ein Element nur ein Schicksal erlitt
und ein andres zum Schicksal wurde und oft geung für alle Zukunft, so daß
jenes im Wellenschlag der historischen Oberfläche dahinschwand, dieses aber
Geschichte schuf, das ist mit keinem Darum und Deshalb zu erklären
und doch von innerster Notwendigkeit. Und deshalb gilt auch vom Schicksal, was
Augustinus in einem tiefen Augenblick von der Zeit gesagt hat: Si nemo ex me
quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. (Oswald Spengler,
ebd., S. 182-183 ).
Die
Natur ist nicht frei vom Zufall. | Was
Gesetz, Regel, Ordnung, Schicksal, Notwendigkeit, Zwang oder der Wille Gottes
genannt wird, ist nicht denkbar ohne die andere Seite: Zufall, Ausnahme, Chaos,
Kontingenz, Freiheit, Glück oder der Wille Satans, also der Wille
des Teufels - und auch deshalb sagt Mephistopheles: Ich bin ein Teil von
jener Kraft, // Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. // ....
Ich bin der Geist, der stets verneint! // Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
// ist wert, daß es zugrunde geht; // Drum besser wärs, daß nichts
entstünde. // So ist denn alles, was ihr Sünde, // Zerstörung,
kurz das Böse nennt, // Mein eigentliches Element. (Johann Wolfgang
von Goethe, Faust, 1808, S. 64-67): Faust wundert sich, daß jemand,
der sich einen Teil nennt, trotzdem ganz vor ihm steht. Mephistopheles antwortet:
Bescheidne Wahrheit sprech ich dir. // Wenn sich der Mensch, die kleine
Narrenwelt, // Gewöhnlich für ein Ganzes hält (ebd.,
S. 67). | Gewöhnlich - so halten
unter den Menschen auch die Wissenschaftler sich und ihre kleine Narrenwelt
für ein Ganzes und suchen in ihren Phänomenen das Gesetzte, das
Gesetz - aus ihnen spricht also immer noch der große Theologe, der, wenn
er von Gottes Gesetz spricht, dasselbe meint wie der Theoretiker, der von den
Naturgesetzen spricht. In Wahrheit ist es so, daß der Zufall das Gesetz
und das Gesetz den Zufall erzwingt. Es lauert
im Zufall das Gesetz und im Gesetz der Zufall. Praktisch jedoch wollen die meisten
der faustischen Abendländer - ob sie Wissenschaftler oder Intellektuelle,
Juristen oder Politiker, Päpste oder Kritiker heißen - dieser Einsicht
nicht folgen, denn für sie gilt, was der oberste Gesetzgeber gesetzt hat:
das Gesetz. Der eine Gott für die Abendland-Christen läßt das
Wunder zu (und das ist kein Zufall!), auf der weltlichen Bühne
gehen die Päpste des Abendlandes für ihre Christen von der menschlichen
Sünde aus (auch das ist kein Zufall!), gehen die juristischen
Richter des Abendlandes für ihre Verbrecher vom menschlichen Fehler
aus (auch das ist kein Zufall!), gehen die intellektuellen Richter des Abendlandes
für ihre Wissenschaftler u.s.w. vom technischen Unfall
aus (auch das ist kein Zufall!). Zwar haben immerhin einige Intellektuelle, zuerst
die Philosophen und Juristen, es aus methodischen Interessen heraus geschafft,
Handlungen von Ereignissen zu unterscheiden und überhaupt die Ereignisse
ganz scharf zu trennen, nämlich das scheinbar willkürliche Ereignis
(vgl. Vis maior, Höhere Gewalt, Act of God u.s.w.) von der Koinzidenz
als dem Zusammenfall zweier Ereignisse, doch der Zufall selbst konnte dadurch
und eben wegen jener methodischen Interessen lediglich ausgegrenzt werden. Und:
Unsere Gesetzgeber kennen und unterstellen zwar eine Gewaltspirale, aber
keine Geschichtsspirale, zudem akzeptieren die weltlichen Gesetzgeber zwar einen
Wirtschaftszyklus, aber keinen Kulturzyklus.  Geschichte
ist die Verwirklichung einer Seele. (Oswald Spengler, ebd., S. 192 ).
Für die Kulturgeschichte gilt, auch nach dem Übergang
der Kultur in ihre Zivilisation (zivile Kultur), daß der Zufall
wählt ( ),
also ein zufälliges Ereignis starten läßt, und daß trotzdem
das Schicksal (zu)trifft ( ),
ähnlich wie ein Gesetz (Gesetztes, nur ohne erkennbare Kausalität
! )
- zielsicher und: regelmäßig, notwendig, zwanghaft oder gar nach dem
Willen Gottes ( ).
Ein Beispiel: Die französische Revolution konnte durch ein Ereignis
von anderer Gestalt und an anderer Stelle, in England oder Deutschland etwa, vertreten
werden. Ihre »Idee«, der Übergang der Kultur in die Zivilisation,
der Sieg der anorganischen Weltstadt über das organische Land, das nun »Provinz«
in geistigem Sinne wird, war notwendig, und zwar in diesem Augenblick. .... Ein
Ereignis macht Epoche, das heißt: es bezeichnet im Ablauf einer Kultur eine
notwendige, schicksalshafte Wendung. Das zufällige Ereignis selbst, ein Kristallisationsgebilde
der historischen Oberfläche, konnte durch entsprechende andre Zufälle
vertreten werden; die Epoche ist notwendig und vorbestimmt. Ob ein Ereignis
den Rang einer Epoche oder einer Episode in bezug auf eine Kultur und deren Gang
einnimmt, das hängt ... mit den Ideen vom Schicksal und Zufall ( )
... zusammen. (Oswald Spengler, ebd., S. 193-194 ).
Als Nietzsche das Wort »Umwertung aller Werte« zum ersten Male
niederschrieb, hatte endlich die seelische Bewegung dieser Jahrhunderte, in deren
Mitte wir leben (Spengler schrieb dies 1911 bis 1917),
ihre Formel gefunden. Umwertung aller Werte - das ist der innerste Charakter jeder
Zivilisation. Sie beginnt damit, alle Formen der voraufgegangenen Kultur umzuprägen,
anders zu verstehen, anders zu handhaben. Sie erzeugt nicht mehr, sie deutet nur
um. Darin liegt das Negative aller Zeitalter dieser Art. Sie setzen den eigentlichen
Schöpfungsakt voraus. Sie treten nur eine Erbschaft von großen Wirklichkeiten
an. .... Die Kultur wird dialektisch vernichtet. Lassen wir die großen Namen
des 19. Jahrhunderts vorüberziehen, an die sich für uns dies mächtige
Schauspiel knüpft: Schopenhauer, Hebbel, Wagner, Nietzsche, Ibsen, Strindberg,
so überblicken wir das, was Nietzsche in dem fragmentarischen Vorwort zu
seinem unvollendeten Hauptwerk beim Namen nannte, die Heraufkunft des Nihilismus.
Sie ist keiner der großen Kulturen fremd. (Oswald Spengler, ebd.,
S. 448-450 ).
Laut Spengler gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Formen kultureller Nihilismen:
der faustische Nihilismus bedeute ein dynamisches Zertrümmern der Ideale,
der apollinische Nihilismus bedeute ein statisches Zerfallenlassen der Ideale,
und der indische Nihilismus bedeute ein In-sich-selbst-Zurückziehen vor den
Idealen. ( ).
Jeder Zerfall gehorcht einem Gesetz - er ereignet sich jedenfalls irgendwie gesetzmäßig,
regelmäßig, ordnungsmäßig, schicksalhaft, zwanghaft, notwendig
oder nach dem Willen Gottes ( ),
warum er aber in verschiedenen Räumen und Zeiten auch völlig verschieden
realisiert wird, ist eine Frage der Voraussetzungen und Bedingungen, die am Anfang
vom Zufall gesetzt wurden. Schicksal und Zufall bilden also einen Gegensatz
( )
und beeinflussen sich gegenseitig ( ),
z.B. durch Öffnung und Schließung. Eine Wechselbeziehung.Ob
unser Universum und seine Galaxien zufällig oder schicksalhaft
da sind, wissen wir nicht; dagegen aber kann als sehr wahrscheinlich
gelten, daß Sterne, Planeten und Monde ihren Ort im Raum nicht in Freiheit
wählen, sondern in Verbundenenheit einnehmen. Dieser Gedanke führt uns
zwangsläufig zum Sein ( ).
Wir unterscheiden gewöhnlich das reale Sein (Existenz oder
Dasein) und das ideale Sein (Essenz oder Sosein),
aber es gibt kein Sosein ohne Dasein, kein Dasein ohne Sosein, denn alles Sosein
von etwas ist selbst auch Dasein von etwas, alles Dasein von etwas
ist selbst auch Sosein von etwas, und nur dieses Etwas ist hier nicht
dasselbe. Es geht hier also um das Sein als das Etwas-Enthalten und das In-etwas-enthalten-Sein.
Nur Anfang und Ende, nur das Kleinste und das Größte sind für
uns unbekannt, denn vom Kleinsten ( )
wissen wir nicht, ob es selbst auch etwas enthält, und vom Größten
( )
wissen wir nicht, ob es selbst auch enthalten ist. Wenn wir vom Größten
ausgehen, müssen wir vom Etwa-Enthalten ausgehen, und wenn wir vom Kleinsten
ausgehen, müssen wir vom In-etwas-enthalten-Sein ausgehen. Alle und jede
physikalisch-chemische Existenz ist, weil sie ja im Universum ist,
ein In-Sein ( ),
ein Im-Raum-Sein ( ).
Daher die Frage, ob und warum welche Arten des In-Seins mehr in Verbundenheit
oder mehr in Freiheit sind. (1)
Für alle Existenz, für alle Nicht-Lebewesen und alle Lebewesen ist das
In an dem In-Sein ein Raum; (2)
für Lebewesen ist dieser Raum unterschiedlich zu definieren: als (2.1)
Umwelt, entweder mit (2.1.1)
viel Verbundenheit (und wenig Freiheit)
oder mit (2.1.2) viel Freiheit (und
wenig Verbundenheit), und zusätzlich als (2.2)
Welt, weshalb Menschen auch vom In-der-Welt-Sein
( )
sprechen können. Eine Pflanze ... bildet einen Teil
der Landschaft, in der ein Zufall ( )
sie Wurzel zu fassen zwang. .... Ein Tier aber kann wählen. Es ist aus der
Verbundenheit der ganzen übrigen Welt gelöst. ... Verbundenheit
und Freiheit: das ist der tiefste und letzte Grundzug in allem, was wir als
pflanzenhaftes und tierhaftes Dasein unterscheiden. Doch nur die Pflanze ist ganz,
was sie ist. Im Wesen eines Tieres liegt etwas Zwiespältiges. Eine Pflanze
ist nur Pflanze, ein Tier ist Pflanze und noch etwas außerdem. (Oswald
Spengler, ebd., S. 557-558 ).
Pflanzen sind also in enger Verbundenheit an ihre Umwelt gebunden, während
Tiere in Freiheit ihre Umwelt wählen können und Menschen sogar
in relativ großer Freiheit, weshalb man bei Menschen immer von Umwelt und
Welt sprechen sollte. Nur Menschen sind, weil sie (nicht nur in der Umwelt, sondern
zudem auch) in der Welt sind, dazu fähig, die Freiheit zu mißbrauchen
und demzufolge neben der Umwelt sogar auch die Welt zu zerstören.  Daß
innerhalb der Menschengeschichte plötzlich der Typus der hohen Kultur erscheint,
ist ein Zufall ( ),
dessen Sinn nicht nachzuprüfen ist. Es ist auch ungewiß, ob nicht ein
plötzliches Ereignis im Dasein der Erde eine ganz andre Form zum Vorschein
bringt. Aber die Tatsache, daß acht solcher Kulturen ( )
vor uns liegen, alle von gleichem Bau, gleichartiger Entwicklung und Dauer, gestattet
uns eine vergleichende Betrachtung und damit ein Wissen, das sich über
verschollene Epochen rückwärts und über bevorstehende vorwärts
erstreckt, immer unter der Voraussetzung, daß nicht ein Schicksal ( )
anderer Ordnung diese Formenwelt überhaupt plötzlich durch eine neue
ersetzt. Ein Recht dazu gibt uns die allgemeine Erfahrung vom organischen
Dasein. (Oswald Spengler, ebd., S. 597 ).
Es ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte
Tatsache, daß alle großen Kulturen Stadtkulturen sind. Der höhere
Mensch des zweiten Zeitalters ist ein städtebauendes Tier. Das ist
das eigentliche Kriterium der »Weltgeschichte«, das sie von der Menschengeschichte
überhaupt auf das Schärfste abhebt - Weltgeschichte ist die Geschichte
des Stadtmenschen. Völker, Staaten, Politik und Religion, alle Künste,
alle Wissenschaften beruhen auf einem Urphänomen menschlichen Daseins: der
Stadt. Da alle Denker aller Kulturen selbst in Städten leben - auch wenn
sie sich körperlich auf dem Lande befinden -, so wissen sie gar nicht, ein
wie bizarres Ding die Stadt ist. Wir müssen uns ganz in das Erstaunen eines
Urmenschen versetzen, der zum ersten Mal inmitten der Landschaft diese Masse von
Stein und Holz erblickt, mit ihren steinumgebenen Straßen und steinbelegten
Plätzen, ein Gehäuse von seltsamster Form, in dem es von Menschen wimmelt.
(Oswald Spengler, ebd., S. 661 ).
Weltgeschichte ist die Geschichte der großen Kulturen. Und
Völker sind nur die sinnbildlichen Formen, in welche zusammengefaßt
der Mensch dieser Kulturen sein Schicksal erfüllt. In jeder dieser Kulturen
... - ob unser Wissen dahin reicht oder nicht - gibt es eine Gruppe großer
Völker von ein und demselben Stil, die am Eingang der Frühzeit entsteht
und die, Staaten bildend und Geschichte tragend, im ganzen Lauf der Entwicklung
auch die ihr zugrunde liegende Form einem Ziel entgegenführt. (Oswald
Spengler, ebd., S. 761 ).
Ich habe auf diese Weise mehr
als fünfzig Vorgänger kennengelernt, darunter Lamprecht,
Dilthey und sogar Bergson. Inzwischen werden es weit über hundert
geworden sein. Hätte ich auch nur die Hälfte davon lesen
wollen, so wäre ich noch heute nicht zu Ende .... Die beiden
Denker, von denen ich mich durchaus abhängig fühle, sind
Goethe und Nietzsche. Wer Vorgänger in den letzten zwanzig Jahren
aufstöbert, scheint gar nicht zu ahnen, daß alle diese
Gedanken, und zwar in weit vorausgreifender Fassung, schon in Goethes
Prosaschriften und Briefen enthalten sind, die Folge von Frühzeit,
Spätzeit und Zivilisation z.B. in dem kleinen Aufsatz Geistesepochen
( ),
und daß es gar nicht möglich ist, heute etwas auszusprechen,
was nicht in Nietzsches Nachlaßbänden berührt wäre.
(Oswald Spengler im unveröffentlichten Brief an Oskar Beck, 18.09.1921).
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Spenglers
zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, daß Formen ein Eigenleben
haben - sein ganzes Genie steckt in diesem Motiv. Die Form, die Spengler vor allem
interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt. (Peter Sloterdijk, Die
Sonne und der Tod, 2001, S. 177 ).
Spengler redet in solchen Zusammenhängen ganz nietzscheanisch, wobei
man wissen muß, daß Nietzsche in seinen besten Augenblicken als Immunologe
spricht, wie ein Kulturarzt, der weiß, daß Kulturen und ihre Träger,
die Menschen, Wesen sind, die mit dem Ungeheuren geimpft werden und eigensinnige
Immunreaktionen entwickeln, aus denen verschiedene kulturelle Temperamente hervorgehen.
In diesem Sinne muß man Spenglers These auffassen, daß es nur acht
Hochkulturen im eigentlichen Wortsinn gegeben habe. Nur in dieser kleinen Zahl
von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen Immunreaktionen vollzogen,
von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß. Die acht
hohen Kulturen wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen.
(Peter Sloterdijk, ebd., S. 225-226 ).Biographie
ist ein - Goethesches - Stichwort in Spenglers Untergang des Abendlandes
(Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 53 ),
heißt es in einem mehr biographisch als monographisch
zu verstehenden Buch. Was Nietzsche ... Schopenhauer,
das ist Spengler Goethe und eben Nietzsche. (Ebd., S. 9). Vor allem
zeitlich und wohl auch sonst war Spengler Nietzsche näher als Goethe, den
er dafür mehr verehrte als Nietzsche. Spengler hat bestimmt oft genug gegen
sich selbst anschreiben müssen; ob aber Naeher Spengler meint, der mit seiner
Seele hart ins Privatgericht gehen konnte, oder doch nur sich selbst, bleibt
unklar, wenn er behauptet: Dies ist zunächst krude Individualpsychologie,
»Psychoanalyse« im verkürzenden Sinne, und benennt dabei kaum
den Begründungszusammenhang von »Einsamkeit: Verzweiflung, Angst und
Schuldgefühl« als Zusammenhang, als kreisende Struktur. (Ebd.,
S. 53-54). Interessanter ist da schon eher, was Naeher über Spenglers
Anspruch, Goethe weiterentwickelt zu haben (ebd., S. 66), zu berichten
weiß:Zunächst behauptet Naeher, Spenglers
Text sei Text im Wortsinne, ein Gewebe (lat. texere: weben), denn Spengler
verstrickt seine Begriffe. Diese Verstrickung ist der mit dem Schicksal nicht
unähnlich. Form und Inhalt seiner Philosophie drängen auf diese Weise,
zusammenzukommen. Im »Schicksal« werden sie allerdings nicht weniger
als aufgelöst - wird doch der Goethesche Schicksalsbegriff verkürzt,
wird doch geschichtliche Dynamik stationär. Dabei ist Spenglers Denkweise,
das Formprinzip seines Hauptwerks, erneut das der Assoziation. Der »Untergang
des Abendlandes« artikuliert diese Denkweise nicht nur, er will sie methodisch
begründen. Die Durchführung dieser »Methode« reflektiert
auf sie. Aber auf eine Assoziation, die nicht willkürlich sein will, sondern
es dem »Schicksal« anheimgibt, die Weise dieser verstrickten Erfahrung
zu bestimmen. Spengler erfährt sich als dessen Organ. Assoziation greift
nach »Analogien« - und »Homologien« - wie nach Gliedern
einer Kette, eher: wie nach Zweigen eines Baumes. »Das Mittel, tote Formen
zu erkennen, ist das mathematische Gesetz. Das Mittel, lebendige Formen zu verstehen,
ist die Analogie« (UdA, S. 4 ).
Spengler will sie gedanklich dorthin verlängern, wo sich e i n e
monolithische, aber wachsende Einheit darstellt. Dies führt der Beantwortung
von Spenglers zentraler Frage näher: Was muß »Morphologie der
Weltgeschichte« bedeuten, was kann sie spezifisch leisten? Soll der
»Untergang des Abendlandes« tatsächlich »ein nach Verlauf
und Dauer« dem »Untergang des Antike« »völlig gleichartiges
Ereignis« sein, so wird mit dieser »Analogie« - für Spengler:
eher »Homologie« - zugleich die »Methode einer Morphologie der
Weltgeschichte« grundsätzlich bestimmt. Sie soll wesentlich darin bestehen,
Analogien von solcher welthistorischen Größenordnung zugleich bis ins
kleinste Detail hinein durchzuführen, Übereinstimmungen und Unterschiede
herauszuarbeiten. Werden gerade die »analogen« Details keineswegs
durchgängig plausibel, weil verkürzt dargestellt, so verweist dies auf
die prinzipielle Frage, ob nicht Spenglers Anspruch, Goethe weiterentwickelt zu
haben, in erheblichem Maße kritisch einzuschränken ist: Spengler löst
diesen Anspruch dort nicht ein, fällt im Gegenteil hinter von Goethe (aber
auch von Hegel) Erreichtes zurück, wo die Methode, Analogien zu erkennen,
»die überall wiederholte innere Form«, nicht so sehr durchgeführt
wird, als daß solche Analogien behauptet werden. Es wird immer dann unzureichend
herausgearbeitet, was das zu Vergleichende tatsächlich vermitteln soll. Philosophisch
gesprochen entwickeln Spenglers Analogieschlüsse vielfach nicht die
Identität in der Verschiedenheit. Die »metaphysische Struktur
der historischen Menschheit«, eine »Logik der Geschichte«, soll
offenbar Schlüsse auf Gleichförmiges zusammenhalten. ( ).
Zumindest drängt diese »metaphysische Struktur« danach in einer
- wie es heute auch heißt - Tiefenstruktur unter »den welthin
sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden der Oberfläche«,
welche diese »Oberfläche, diese Wirklichkeit ... erst hervorruft«
(UdA, S. 3 ).
Doch insgesamt ist diese Metaphysik konzipiert, wie wir bereits aus der Schrift
Heraklit ( )
wissen, als nicht-teleologische Auffassung des Seins, in seiner historischen Entwicklung.
Gerade deshalb muß der Blick des Zuschauers, wenn er Spengler denn folgen
wollte, zugleich hinter die Kulissen wie in den »Abgrund« blicken,
sich seiner metaphysischen Schwere bewußt. »Untergang, Vollendung«,
Erfüllung gerade der »abendländischen Kultur«: das »Erfahren«
solchen Untergangs setzt die Erkenntnis dessen voraus, »was Kultur ist,
in welchem Verhältnis sie zur sichtbaren Geschichte ... steht, unter welchen
Formen sie in Erscheinung tritt und inwiefern diese Formen - Völker, Sprachen
und Epochen, Schlachten und Ideen, Staaten und Götter, Künste und Kunstwerke,
Wissenschaften, Rechte, Wirtschaftsformen und Weltanschauungen, große Menschen
und große Ereignisse - Symbole und als solche zu deuten sind« (UdA,
S. 4 ).
Auch die Kultur ist, wie - als »Symbol« - das Kunstwerk: geprägte
Form, die lebend sich entwickelt; an dies Prinzip Goethes mag Spengler jedenfalls
denken, wenn er, wie hier in der »Einleitung«, im »Untergang
des Abendlandes« insgesamt, einen Fundus Goethescher Begriffe und Theorie-Stücke
versammelt. Von diesem Fundus her sucht Spengler die Inhalte dieses Werkes in
einer Art von Koordinatensystem zu verorten, in einem System mehrerer Koordinatensysteme,
die er entsprechend von polaren Begriffen her konstruiert: zum Teil bereits im
Inhaltsverzeichnis aber auch später - als jeweils »sehr bedeutungsvollen
Gegensatz« (UdA, S. 7 ).
»Heraklit, Der Kampf der Gegensätze« (in: RuA, S. 28-35 ),
steht ihm durchaus noch vor Augen. Im »Untergang des Abendlandes«
insbesondere als Versuch, »Das Problem der Weltgeschichte« (»Erster
Band, Zweites Kapitel« )
zu koordinieren. Die Pole heißen hier »Physiognomik und Systematik«,
sowie »Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip«. Die Koordinaten
des »Makrokosmos« (»Drittes Kapitel« )
sind - leicht erkennbar - ungleichgewichtig. Figuriert die eine Koordinate
als: »Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem«, so wird die
Polarität sogleich eingeebnet: »Es gibt nur sinnlich-räumliche
Symbole« (UdA, S. 214 ).
Hier liegt eine grundsätzliche Aporie des Spenglerschen Denkens offen zutage:
Denn solche Einebnung vollzieht sich im Grunde von allem Anfang an, weil Spengler
nicht nur mit der Polarität ansetzt, sondern zugleich mit einer übergroßen
Macht des Schicksals. Ganz entsprechend verwässert sich Polarität,
wenn das »Werden dem Gewordnen, die unaufhörlich lebende Geschichte
der vollendeten und toten Natur zugrunde liegen« (UdA, S. 223 )
soll. Der Auflösung in das »Schicksal« entspricht die in das
»Werden«. So, wie die »Schicksalsidee« das »Kausalitätsprinzip«
überwertig dominiert; so, wie »Zeit und Schicksal«, »Raum
und Kausalität« (»Zweites Kapitel«) einander nur gegenübertreten,
um doch in der »Schicksalsidee« fast zur Unkenntlichkeit zu gerinnen,
so dürfen »Symbole« nur zunächst als »geworden, nicht
werdend«, mithin als räumlich, als »tote Natur« abgegrenzt
werden. Da sie dies gerade in einem Denken nicht sein können, das Goethe
folgen will, rettet sich Spengler in die Bestimmung, daß sie ein Werden
immerhin »bezeichnen« (UdA, S. 214 ).
Daß »alles Vergängliche« nur »ein Gleichnis«
sei (vgl. UdA, S. 217 ),
läßt Spengler in diesem Zusammenhang die gleichfalls Goethesche Bestimmung
vergessen, nichts hinter den Dingen zu suchen, da diese selber die Lehre seien.
(Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 65-68 ).
Goethe war zu groß für Spengler. Es könnte also sein, daß
Spengler sich mit seinem Anspruch, Goethe weiterentwickelt zu haben, tatsächlich
übernommen hat und dieser Anspruch in erheblichem Maße,
wie Naeher behauptet, eingeschränkt werden muß. Trotzdem gebührt
Spengler Respekt schon allein dafür, daß er diese Weiterentwicklung
überhaupt versucht hat.Alles Gewordne ist vergänglich
( ),
so Spengler, der Goethes Warnung kannte: Man suche nur nichts hinter den
Phänomenen; sie selbst sind die Lehre ( ).
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis ( ),
so Spenglers Goethe-Zitat, doch laut Naeher benutzte Spengler es wohl eher aus
Gründen der Immunität oder um eine andere in diesem Zusammenhang wichtige
Goethesche Bestimmung - nämlich nichts hinter den Dingen
zu suchen, da diese selber die Lehre seien - einfach zu vergessen, denn,
so Naeher: Die Rede vom Gleichnischarakter alles Vergänglichen inspiriert
Spengler vielmehr zu einer Lösung, einer »Deutung des Raumproblems«,
die ähnlich der Deutung des »Zeitproblems aus der Schicksalsidee«
konstruiert sein soll, und die tatsächlich auf eine vergleichende Weise eher
mystisierende denn metaphysische oder gar rationalistische Züge trägt.
Entsprechend zieht Spengler einen subjektiv erfahrbaren Schwebezustand herbei,
an dem er zugleich die ganze Last seiner theoretischen Zentren festmacht - Schicksal
und Tiefe: »Das schicksalhaft gerichtete Leben erscheint, sobald wir erwachen,
im Sinnenleben als empfundene Tiefe. Alles dehnt sich, aber es ist noch nicht
»der Raum«, nichts in sich Verfestigtes, sondern ein beständiges
Sich-dehnen vom bewegten Hier zum bewegten Dort. Das Welterlebnis knüpft
sich ausschließlich an das Wesen der Tiefe - der Ferne oder Entfernung ....«
(UdA, S. 217 ).
(Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 68-69 ).
Naeher behauptet weiter, daß durch Spenglers Zusammenbringen der Zentralbegriffe
Goethes mit Nietzsches Begriffen der ursprüngliche Sinn solcher
Begriffe ... durch Isolation aus dem Kontext verändert worden sei,
wobei Naeher Spengler vor allem vorwirft, aus Nietzsches Begriffspaar apollinisch-dionysisch
einen Begriff (apollinisch) für sich herausgebrochen zu haben. Denn
danach seien diese Begriffe nicht mehr die Goetheschen, die Nietzscheschen
und wollen dies auch gar nicht mehr sein, sie erscheinen »erweitert ...
zu einer neuen Philosophie, der Philosophie der Zukunft« (UdA, S.
6 ).
»Die Philosophie der Zukunft«: das ist hybrid. »Die Philosophie
der Zukunft«: das ist wiederum doppelsinnig. Und Spengler weiß es,
er spielt - oft scheint es bewußt- mit solchen Ambivalenzen: Wie der »Untergang«
abendländischer Kultur selber, ist auch die Vollendung solcher Philosophie
als Idee einem Wachstumsprozeß unterworfen. In diesem Sinne gibt der Untergang
des Abendlandes »Umrisse«: ... »zur Idee einer Morphologie
der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte, die im Gegensatz zur Morphologie
der Natur, bisher fast dem einzigen Thema, der Philosophie, alle Gestalten und
Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung noch einmal, aber
in einer ganz andern Ordnung, nicht zum Gesamtbilde alles Erkannten, sondern zu
einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, sondern des Werdens zusammenfaßt«
(UdA, S. 7 ).
(Ebd., S. 69). Naeher bis hierher. Ich glaube, Spengler hat noch etwas
mehr bewirkt als das, was z.B. Post-Interpreten ihm zugestehen wollen.Historische
Konstanten - Oberbegriff für Dauer und Wiederkehr - sind zyklisch zu verstehen
( );
und das zyklische Geschichtsmodell ist gerade auch in erkenntnistheortischer,
in methodischer Hinsicht viel besser geeignet als das progressiv-lineare Geschichtsmodell.
Es besteht aller Anlaß, historischen Phänomenen wie Wiederholung
und Regelmäßigkeit, Dauer und Wiederkehr erheblich mehr Aufmerksamkeit
zu widmen, als dies unter der suggestiven Einwirkung des progressiv-linearen Modells
lange Zeit der Fall gewesen ist. Solche Konstanten sind geschichtswirksamer, als
man sich das zumeist vorstellt, selbst in chaotisch-turbulenten Zeiten ....
(Ulrich March, Dauer und Wiederkehr - Historisch-politische Konstanten,
2005, S. 13 ).
Die Polarität zwischen Werden und Sein muß wieder mehr beachtet werden,
weil es um Komplemetarität geht, weil das eine ohne das andere nicht
denkbar ist. Diese Polarität tritt in vielen Bereichen in Erscheinung, in
der Physik beispielsweise als Gegensatz von »Bewegung« und »Trägheit«.
Das Trägheitsgesetz besagt, daß jeder Körper im Zustand der Ruhe
oder der gleichförmigen Bewegung verharrt, solange keine entsprechend starke
äußere Kraft auf ihn einwirkt. Entsprechend spielt sich alle Geschichte
im Spannungsfeld zwischen Wandel und Beharrung ab, wobei - wie in der Welt der
Physik - die Veränderungsdynamik stets auf den Widerstand der Beharrungskräfte
stößt. Erst aus dieser bipolaren Spannung und der Wechselwirkung beider
Kräfte ergibt sich Geschichte. Akzeptiert man diese Grundvorstellung, dann
folgt daraus, daß bei der Interpretation historischer Erscheinungen stets
beide Seiten zu berücksichtigen sind. (Ebd., S. 128 ).
Auch Marchs Untersuchung hat nicht den geringsten Anhaltspunkt für
eine Aufwärtsentwicklung des Menschen im Sinne einer qualitativen Verbesserung
seiner Fähigkeiten ergeben. »Fortschritt« hat es nicht in der
inneren, sondern allenfalls in der äußeren Welt des Menschen gegeben.
(Ebd., S. 128). Der Umstand, daß es Dauer und Wiederkehr in
der Geschichte überhaupt gibt, und zwar in beträchtlichem Umfang, schließt
eine unbegrenzte menschliche Willensfreiheit definitiv aus, ebenso die totale
Plan- und Machbarkeit der menschlichen Verhältnisse. .... Weder eine fallende
noch eine aufsteigende Gerade sind somit geeignet, den Gang der Geschichte zu
veranschaulichen. .... Ein angemessenes Abbild des Geschichtsverlaufs könnte
deshalb eine Kurve darstellen, die diese Mängel vermeidet: die unregelmäßige
Spirale. (Ebd., S. 130-131). Mit Bezug auf Spengler betont
Huntington: Die menschliche Geschichte ist die Geschichte von Kulturen.
Es ist unmöglich, die Entwicklung der Menschheit in anderen Begriffen zu
denken. .... Zu allen Zeiten waren Kulturen für die Menschen Gegenstand ihrer
umfassendsten Identifikation. Infolgedessen sind Voraussetzungen, Entstehung,
Aufstieg, Wechselwirkungen, Errungenschaften, Niedergang und Verfall der Kulturen
von den hervorragendsten Historikern, Soziologen und Anthropologen erforscht worden.
.... (»Weltgeschichte ist die Geschichte der großen
Kulturen.« Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer
Morphologie der Weltgeschichte, S. 761 )
.... Für Spengler ist die Zivilisation »das unausweichliche Schicksal
einer Kultur .... Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten
Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind
ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene ....« (Oswald
Spengler, ebd., S. 43 )
.... Spengler unterscheidet acht hohe Kulturen ( ).
(Vgl. Oswald Spengler, ebd., S. 597 & ff. )
.... Spengler verurteilte schon 1918 die im Westen vorherrschende, kurzsichtige
Auffassung von Geschichte mit ihrer säuberlichen Einteilung in Antike, Mittelalter
und Neuzeit, die nur für den Westen relevant ist: »Ich nenne dies dem
heutigen Westeuropäer geläufige Schema ( ),
in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt
alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich
betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß
in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland
neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur
- Einzelwelten des Werdens ( ),
die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großzügigkeit
der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen
- eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.« (Oswald
Spengler, ebd., S. 24 ).
Einige Jahrzehnte später geißelte Toynbee die »Provinzialität
und Impertinenz« des Westens mit seinen »egozentrischen Illusionen«,
daß die Welt sich um ihn drehe, daß es einen »unwandelbaren
Osten« gäbe und daß der »Fortschritt« unausweichlich
sei. Wie Spengler hatte er keine Verwendung für die Annahme einer Einheit
der Geschichte, die Annahme, daß es »nur einen einzigen Strom der
Zivilisation, nämlich den unseren, gibt und daß alle anderen entweder
Zuflüsse sind oder im Wüstensand versickern«. (Vgl.
A. J. Toynbee, Study of History, 1934-1961, S, 149ff., 154, 157ff.).
Fünfzig Jahre nach Toynbee hat auch Fernand Braudel die Notwendigkeit betont,
zu einer umfassenderen Perspektive zu gelangen und die großen Kulturen in
der Welt und die Mannigfaltigkeit ihrer »Zivilisationen« zu verstehen.
(Vgl. F. Braudel, Schriften zur Geschichte [2], 1992).
Doch die Illusionen und Vorurteile, vor denen diese Autoren warnten, leben fort
und treiben Ende des 20. Jahrhunderts neue Blüten in der verbreiteten und
provinziellen Einbildung, die europäische Kultur des Westens sei jetzt die
universale Weltkultur. ...Unter Berufung auf Theorien unter
anderem von Frobenius, Spengler und Bozeman hebt Baum besonders das Ausmaß
hervor, in dem Empfängerkulturen selektiv Dinge aus anderen Kulturen entlehnen
und sie adaptieren, transformieren und assimilieren, um das Überleben ihre
Paideuma [Kultursseele], der Kernwerte ihrer Kultur zu kräftigen und
zu sichern. (Vgl. Oswald Spengler, ebd., besonders
S. 617ff. [ ];
Leo Frobenius, Paideuma, S. 11ff. [ ];
Adda Bozeman, Civilizations under Stress, 1975, S. 5ff.). Fast alle
nichtwestlichen Kulturen auf der Welt sind seit mindestens tausend Jahren und
in einigen Fällen seit mehreren Jahrtausenden vorhanden. Sie haben nachweislich
Entlehnungen aus anderen Kulturen so vorgenommen, daß sie ihre eigenen Überlebenschancen
verbesserten. China importierte aus Indien den Buddhismus, was jedoch nach Meinung
der Forschung keine »Indisierung« Chinas bewirkte. Die Chinesen paßten
vielmehr den Buddhismus chinesischen Bedürfnissen an. Die chinesische Kultur
blieb chinesisch. (Vgl. Spengler, ebd., S. 620 &
ff. ).
Die Chinesen haben bis heute konsequent die heftigsten Anstrengungen des Westens
abgewehrt, sie zu christianisieren. Sofern sie irgendwann einmal doch das Christentum
importieren sollten, ist zu erwarten, daß sie es auf eine Weise absorbieren
und adaptieren werden, die die fortdauernde chinesische Paideuma stärkt.
(S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1996, S. 49, 52, 57, 74-75, 110-111 ).Alle
Kulturen machen einen ähnlichen Prozeß der Entstehung, des Aufstiegs
und des Niedergangs durch. Der Westen unterscheidet sich von anderen Kulturen
nicht durch die Art seiner Entwicklung, sondern durch die Eigenart seiner Werte
und Institutionen. (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1996, S.
512-513). Man kann diese Eigenart, von der Huntington spricht, jedoch
nur mit dem Seelenbild und dem Ursymbol der abendländischen Kultur beschreiben
- wie es z.B. der von Goethe und Nietzsche beeinflußte Spengler getan hat:
Faustisch (Seelenbild) und Unendlicher Raum (Ursymbol).
Das Abendland ist so ziemlich exakt der Gegensatz zur Antike: Apollinisch
(Seelenbild) und Einzelkörper (Ursymbol). Obwohl eher unbewußt,
so beachtet dies doch auch Huntington, wenn er z.B. den Westen (eigentlich:
das Abendland) in seiner Dynamik beschreibt, die z.B. in Bereichen der Technik,
Wissenschaft, Rationalismus (Aufklärung u.s.w.) erst Industrialisierng bzw.
Moderne ermöglichte (Huntington: ermöglichte, die Modernität
zu erfinden ).
Das ist faustisch! Huntington spricht auch von den universalistischen
Ansprüchen der westlichen Kultur, meint diese Eigenart
und spricht deshalb eigentlich von der Grenzenlosigkeit, vom Streben in
die Unendlichichkeit, von der Seele des Wir-kennen-keine-Grenze. Das ist der Unendliche
Raum! Auch wenn Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar gelten
- wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung -, so sei hier darauf hingewiesen,
daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Parallelenaxiom
deutlich gemacht werden kann: Euklid ( )
hat in seinen Elementen (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung
für das antike Beispiel gegeben und Gauß ( )
ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie
stehen - wie unzählige andere Beispiele auch - für einen metaphysischen
Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol
angetrieben und angezogen wird. (Vgl. dazu das Germanentum ). 
Huntingtons
Thesen vom globalen Kampf der Kulturen waren 1993-1996, als sie veröffentlicht
wurden, für Eingweihte längst keine Neuigkeit mehr, und der militante
Aufbruch islamischer Religiosität war schon in den 1970er und 1980er
Jahren erkennbar, jedenfalls für Peter Scholl-Latour. (Vgl. Peter Scholl-Latour,
Calvinismus und Neu-Heidentum, in: Weltmacht im Treibsand, 2004,
S. 49-57 ).
Scholl-Latour machte in seinen Begegnungen mit der Islamischen Revlolution
eine Voraussage des Politikers und Schriftstellers André Malraux (1901-1976
)
zu seinem Leitmotiv, denn der Autor der Condition humaine (1933) hatte
nämlich vorausgesagt, daß die Zukunft religiös oder gar nicht
sein wird. Düstere Prognose für das Abendland! (Peter Scholl-Latour,
Kampf dem Terror - Kampf dem Islam?, 2002, S. 54 ).Hans-Ulrich
Wehler betont, der us-amerikanische Politikwissenschaftler Huntington habe mit
seinem Buch über den »Clash of Civilization«, den »Kampf
der Kulturen«, die Prognose ausführlich begründet, daß nach
dem Verfall des Staatskommunismus außer in China, Korea und Kuba die alte
bipolare Welt des Kalten Krieges nicht mehr existiere, aber auch die naive Vision
Fukuyamas von einem »Ende der Geschichte« ( )
ewiger Kämpfe, da das westliche Modell gesiegt habe, keine gehaltvolle Analyse biete. Vielmehr sieht Huntington in den Zusammenstößen, Reibungen,
Konflikten zwischen den großen Kulturkreisen auf der Basis unterschiedlicher
Religionen und divergierender Weltbilder die Hauptrolle künftiger Auseinandersetzungen.
.... Warum? Der Islam ist die einzige noch auffällig rasch expandierende
Weltreligion. Sie erfaßt jetzt mehr als eine Milliarde Menschen und wird
in nächster Zeit die Anhänger des Christentums weit überholen.
( ).
Aus Mohammeds synkretistischer Verschmelzung unterschiedlicher religiöser
Elemente - auch vielfach aus der israelitischen und christlichen Religion, in
deren Tradition des Prophetentums er sich bewußt stellte - ist ein militanter,
expansionslustiger Monotheismus hervorgegangen, der seine Herkunft aus der Welt
kriegerischer arabischer Nomadenstämme nicht verleugnen kann. ( ).
Das Weltbild des Islam stilisiert die diesseitige Welt als unablässigen Kampf
zwischen dem »Haus des Friedens«, der »Umma« des Islam,
und dem »Haus des Krieges«, dem Bereich der Ungläubigen. Wann
immer und wo immer möglich müssen die Ungläubigen unterworfen und
bekehrt werden, im Grenzfall durch den Dschihad, den Heiligen Krieg aller Muslims.
Das galt wortwörtlich seit dem 7. Jahrhundert, als der Islam in einem gewaltigen
Anlauf durch Nordafrika sogar bis nach Spanien expandierte, bis hin zur Vertreibung
der muslimischen Türkei vom Balkan im 19. Jahrhundert. Und es gilt noch immer,
etwa in Nigeria und im Sudan, auf den Philippinen und in Indonesien, inzwischen
dem größten muslimischen Staat der Erde ( ).
.... Die okzidentale Trennung von Papst und Kaiser, von Religion und weltlicher
Herrschaft, die in Europa im Mittelalter mühsam erkämpft worden ist
und den modernen, säkularisierten Staat erst auf seine eigene Bahn gesetzt
hat, wird vom Islam seit jeher negiert. Alle Dimensionen des Lebens unterliegen
seinem Anspruch nach dem religiösen Gesetz: der Scharia. Muslimische politische
Herrschaft ist gehalten, die Scharia zu befolgen, in der barbarische Bräuche
der arabischen Stämme, die Steinigung der Ehebrecherin z.B. und das Abhacken
der Diebeshand, bis heute weiterleben. ( ).
(Hans-Ulrich Wehler, Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2003, S.
61-62 ).Gebetsmühlenartig
wiederholt man bis tief in die sozialdemokratische Linke hinein die liberalen
Monstranz-Begriffe Demokratie, Toleranz und Dialog - und verstellt sich damit
jeden Zugang zum Problem. Es ist nämlich, erstens, eine liberale Illusion
zu glauben, Demokratisierung wäre gleichbedeutend mit Verwestlichung. Gerade
durch fundamentalistische Appelle gewinnt man heute Wahlen. Daß die Herrschaft
des Volkes nicht in den Kosmopolitismus, sondern in den Provinzialismus führt,
hat Samuel Huntington als das demokratische Paradoxon bezeichnet. Es ist, zweitens,
intellektuell unredlich, wechselseitige Toleranz als Heilsformel zu propagieren,
ohne vorab das liberale Urdilemma des Umgangs mit der Intoleranz zu reflektieren.
Und drittens: Auch hinter dem liberalen Dialog steht nicht etwa die Vernunft selbst,
sondern ein Glaube: »faith in talk«. Wie schon für Carl Schmitt
(1888-1985 )
ist für Stanley Fish das ewige Gespräch der Kern des Liberalismus. Dessen
Commitment, also die selbstverpflichtende Wertbindung, ist paradox: »the
deferring of commitment«. Die Liberalen können den Konflikt fundamentaler
Glaubensüberzeugungen nur als Meinungsstreit modellieren, denn es gibt für
sie prinzipiell keinen Konflikt, den man nicht in rationaler Deliberation auflösen
könnte. Was aber eine Religion von einer bloßen Meinung unterscheidet,
ist der Anspruch auf privilegierten Zugang zur Wahrheit. Und deshalb gibt es keine
liberale Antwort auf die heute so dringliche Frage: Wie soll man mit Leuten diskutieren,
die von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt sind? Der Fundamentalismus
konfrontiert den Liberalismus mit Konflikten, die nicht auf Interessenkonflikte
reduzierbar sind. Wer fromm ist, hat kein Interesse am Marktplatz der Ideen: Er
hat die Wahrheit - und deshalb kein Interesse an einer anderen Wahrheit. Man kann
es auch so sagen: Religion, die sich ernst nimmt, ist dogmatisch. Und im Dogma
haben wir den eigentlichen Gegensatz zum liberalen Dialog. Es codifiziert die
Wahrheit des rechten Glaubens und kann deshalb in unseren westlichen Spitzenwerten
wie »Offenheit« und »othering« nur gottlose Verirrungen
sehen. Für den Frommen sind die westlichen Werte schon deshalb unattraktiv,
weil sie sich, inhaltlich völlig unbestimmt wie sie sind, bei näherem
Hinsehen ganz in Verfahrensfragen auflösen: Variabilität, Offenheit,
Andersheit, Dialogizität. Diese Neutralität unserer Spitzenwerte ist
der Preis, den wir für unsere universalistischen Ansprüche zahlen müssen.
.... Die neutralen Prinzipien des Liberalismus können nur operieren, wenn
sie zuvor das geopfert haben, was die Leute wirklich interessiert. Vor allem der
liberale Spitzenwert der Diversität entwertet alle anderen Werte. So könnte
die westliche Welt im Zerrspiegel des Fundamentalismus etwas zu sehen bekommen,
was sonst im blinden Fleck ihres universalistischen Selbstverständnisses
verborgen bleibt. Die Lektion lautet: Es gibt keine Rationalität und Toleranz
ohne Grenzen, das heißt ohne Exklusion. Und Liberalismus war bisher vor
allem auch die Kunst, diese Geste unsichtbar zu machen. Die liberale Neutralität
war stets eine Geste der Exklusion, die sich als Geste der Inklusion tarnte.
(Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 29-32 ).»Verwerfungen
zwischen den Kulturkreisen werden den Frontverlauf der Zukunft bestimmen«,
schrieb Samuel Huntington 1993 in seinem berühmten Aufsatz über den
drohenden clash of civilizations ( )
und verlangte vom Westen, »ein tieferes Verständnis für die religiösen
und philosophischen Grundlagen anderer Kulturen zu entwickeln«. Diese Forderung
liegt im vitalen Interesse der Europäer, denn sie leben in unmittelbarer
geographischer Nachbarschaft mit dem Islam. (Helmut Schmidt, Die Mächte
der Zukunft, 2004, S. 171-172 ).
Ein düsteres Szneanrio nennt der deutsche Ex-Bundeskanzler Helmut
Schmidt ein Kapitel seines 2004 erschienenen Buches. Wer es heute unternimmt,
die Tendenzen, die gegenwärtig in der Welt sichtbar sind, in die nähere
Zukunft weiterzuführen, muß wohl mit der Möglichkeit eines clash
of civilizations rechnen. Ein die Welt erschütternder Zusammenprall zwischen
dem Islam und dem Westen ist tatsächlich denkbar geworden. (Ebd.,
S. 12 ).
Schmidt weiß auch, daß die USA nicht mehr lange der Alternative ausweichen
können: entweder Respekt und Dialogbereitschaft gegenüber dem
Islam oder aber clash of civilizations. (Ebd., S. 114 ).
Die USA stehen ... nicht nur vor der Frage nach ihrem künftigen
Verhältnis zur EU, sondern auch vor der Frage nach dem künftigen Zweck
der Allianz und der NATO. ( ).
.... Es ist aber offensichtlich, daß eine Reihe europäischer Partnerstaaten
einer wahrheitsgemäßen amerikanischen Antwort auf die Frage nach dem
Zweck der Allianz nur mit erheblichen Einschränkungen zustimmen könnte.
Falls die Nordatlantische Allianz zu einem amerikanischen Instrument der politischen
Kontrolle Europas zu verkommen droht, würde dies wahrscheinlich ... Widerstand
auslösen. Ebenso wahrscheinlich bliebe in diesem Falle jedoch die englische
Gefolgschaft erhalten; dabei würde England sich das Interesse der USA zu
eigen machen und die Europäische Union daran hindern, gegenüber Amerika
eine europäische Eigenständigkeit zu entfalten. Je mehr Mitgliedsstaaten
die EU aufnimmt, um so weniger wird dieses amerikanische Interesse gefährdet.
Schon früh und immer wieder haben die USA aus ihren eigenen geostrategischen
Interessen die EU zur Aufnahme der Türkei gedrängt ( );
demnächst ist amerikanischer Druck zwecks Aufnahme der Ukraine, Armeniens,
Jordaniens, sogar Israels und Ägyptens vorstellbar. Schon der NATO-Gipfel
des Jahres 1999 deutete in diese Richtung. Die USA müssen sich in absehbarer
Zeit entscheiden, ob es in ihrem langfristigen Interesse liegt, Europa politisch
von sich abhängig zu machen. Sofern diese Option bejaht und tatsächlich
verfolgt werden sollte, würde eine dauerhafte Aufspaltung des alten Kontinents
denkbar werden. Damit wäre ein Teil der amerikanischen Aktivitäten in
Europa gebunden, denn Amerika muß damit rechnen, daß viele europäische
Staaten sich einer offensichtlichen Fremdbestimmung nicht willig unterwerfen -
außer England und wahrscheinlich Polen. Die polnische Haltung ist durchaus
verständlich, da Polen (oft nicht existent)
fast ein Vierteljahrtausend zugleich aus dem Osten und aus dem Westen existentiell
bedroht war und Amerika den Polen in dieser Zeit immer als Hort der Freiheit erschien.
(Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft, 2004, S. 108-110 ).
Deshalb ist es auch kein Zufall, daß der 2. Weltkrieg
in Polen begann (HB).Helmut Schmidt weiß aus eigener
Erfahrung, daß die Türkei schon seit Jahrzehnten die Vorstellung hegt,
angesichts der schnell wachsenden türkischen Bevölkerung einen
Teil der nachwachsenden Generationen nach Westeuropa auswandern zu lassen; darin
liegt eines der Motive für den türkischen EU-Beitrittswunsch. Wenn der
Beitritt einschließlich voller Freizügigkeit für Personen tatsächlich
erfolgen sollte, würden bald auch andernorts, zum Beispiel in Nordafrika,
Beitrittsgesuche folgen. Die Europäer werden bald eine grundsätzliche
Entscheidung treffen müssen. Eine türkische Vollmitgliedschaft könnte
im Laufe weniger Jahrzehnte zu einer bedeutsamen Veränderung der Kultur des
alten Kontinents führen. Und nicht nur die riesigen kulturellen Unterschiede,
auf die neben Helmut Schmidt auch z.B. Hans-Ulrich Wehler ( )
hinweist, sind zu bedenken, sondern auch die kulturelle Verwandtschaft der
Türken mit den Muslimen in Asien und Nordafrika. Es kommt hinzu, daß
die Türkei das einzige Mitgliedsland mit einer wachsenden Bevölkerung
wäre, so Schmidt. Um das Unglück komplett zu machen: fast jede
Initiative der USA ist ungenügend - natürlich auch bezüglich der
Bevölkerungsexplosion. Die USA sind das reichste Land der Welt, zugleich
aber einer der Staaten, die am hartnäckigsten gegen die Gebote mitmenschlicher
Vernunft verstoßen - beispielsweise bei den Agrarzöllen und -subventionen.
Die Entwicklungshilfe der USA ist ... geradezu beschämend gering. .... Bush
jr. hat sogar ... Zahlungen zugunsten von Organisationen und Projekten verweigert,
die Familienplanung (geplante Elternschaft) betreiben. (Helmut Schmidt,
Die Mächte der Zukunft, 2004, S. 34-35, 210, 124-125 ).
Verhalten sich die Europäer etwa besser?
Weil auch die Weltwirtschaft keineswegs vor finanziellen Krisen sicher
ist, verlangt Schmidt nach einem globalen finanzwirtschaftlichen Ordnungsrahmen.
Tatsächlich braucht die Welt ein zwar flexibles, im Grunde aber einigermaßen
stabiles Verhältnis von Dollar, Euro (vorher: D-Mark)
und Yen - und etwas später Yuan! .... Nicht zuletzt braucht die globale Wirtschaft
ein Minimum an Wettbewerbsregeln - sowohl für Banken und Unternehmen als
auch für die Staaten selbst. In Industriestaaten müssen Subventionen
für eigene Wirtschaftszweige und künstliche Hürden für den
Import durch Wettbewerber unzulässig werden; vor allem müssen die Schutzmauern
zugunsten der jeweils eigenen Landwirtschaft abgebaut werden. .... Zusammengefaßt:
Es gibt für (US-) Amerika vieles zu tun. Dazu
gehört auch die Abwehr des islamistischen Terrorismus. Aber diese Aufgabe
darf die Vielfalt der anderen Aufgaben nicht verdecken - und nicht die hohe Verantwortung
(US-) Amerikas für die Zukunft der Welt.
(Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft, 2004, S. 130-131 ).Warum
wählen die USA bei Konflikten den Iran statt Israel, warum den
Irak statt Saudi-Arabien, warum Serbien statt Rußland, warum Korea statt
China - warum picken sie sich ihre Gegner heraus und säen unter 80 Prozent
der Weltbevölkerung (in Zukunft vielleicht sogar 90 Prozent der Weltbevölkerung)
immer mehr Haß?  Daß
es zu dem von Huntington postulierten Zusammenprall der Kulturen kommen kann (aber
nicht muß), betont also auch Deutschlands Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt.
( ).
Diejenigen, die glauben, eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ( )
könne zur Demokratisierung der türkischen Nachbarn führen, bezeichnet
Schmidt als noch optimistischer als die US-Amerikaner und betont,
daß keines der islamischen Länder dem Beispiel der Türkei folgen
werde, weil gerade die arabischen Völker mit der Türkei lediglich negative
Erinnerungen verbinden, denn die Unterdrückung der Araber durch die türkischen
Osmanen dauerte sehr lange und endete bekanntlich erst 1919. ( ).
Außerdem betrachten die Araber die Türkei wegen ihrer Zusammenarbeit
mit Israel als Verräter. Die Araber denken nicht einmal im Traum daran, in
der Türkei ein Vorbild zu sehen, so lautet Schmidts Fazit. Für Schmidt
wie für viele andere (aber eben nicht regierende) Menschen ist klar, daß
hinter der Forderung nach der türkischen EU-Mitgliedschaft die USA stecken,
weil die USA den Konkurrenten EU spalten wollen - auch die EU-Osterweiterung diente
den USA zu diesem Zweck. Die USA treiben seitdem einen Keil zwischen Willige und
Nichtwillige, suchen nach einer neuen Mauer, einem neuen Eisernen
Vorhang und erweisen sich erneut als der heimliche Mauerarchitekt,
indem sie Europa teilen: Alt-Europa versus Neu-Europa. ( ).
Außerdem fällt auf, daß die USA, wenn sie ihre EU-Kandidaten
auswählen, dreierlei garantiert sehen wollen: ihre Macht, ihr
Öl (
die USA empfehlen der EU nur solche Staaten, durch die ihre Öl-Pipeline
verläuft )
und ihr Israel. Die USA wollen also auch mit ihrer EU-Politik
nur ihre Macht erweitern (globalisieren), und für dieses Ziel sind drei Wege
wichtig: 1.) Schwächung der EU-Wirtschaftskraft
bis zur Konkurrenzunfähigkeit; 2.) Sicherung
der Rohstoffe (und noch - noch! - ist das Öl der begehrteste Rohstoff); 3.)
Schutz Israels - denn die US-Präsidentenwahlen sind über Finanzierungen
von der jüdisch-israelischen Lobby in den USA stark beeinflußt. Wer
den Trick unserer angeblichen Verbündeten nicht durchschaut und
an den Ernst der Lage nicht glauben will, sollte sich erst einmal vergewissern,
daß seit Ende des Kalten Krieges eine andere Beziehung zwischen den
USA und Europa vorherrscht; deshalb hätte z.B. die NATO längst reformiert
werden müssen. ( ).
Die Vorgehensweisen der US-Amerikaner
- viele ihrer Regierenden sind von der Prädestination völlig überzeugte
protestantische Puritanisten ( )
- sind die Vorgehensweisen einfältiger Cowboys und Revolverhelden: Blitzreaktionen
naiver und von sich selbst überzeugter Kraftprotze. Der angeblich grenzenlose
Optimismus läßt sich oft als die grenzenlose Naivität der
USA enttarnen. Wer aber als Europäer der typischen USA-Naivität folgt,
handelt fahrlässig - auch wenn er nur schläft und träumt. (Europäischer
Michel = Deutscher Michel ).
Zur Naivität der USA gehört natürlich der Glaube, man könne
die selbst verschuldeten Fehler ja hinterher reparieren - die USA sind zu jung
und zu unerfahren. Imperialistisch sind die USA seit ihrer Entstehung am Ende
des 18. Jahrhunderts ( ),
wie auch der Altbundeskanzler Helmut Schmidt betont. ( ).
Daß die USA auch in Zukunft ihre typischen Fehler wegen ihrer Unerfahrenheit
und ihres imperialistischen Charakters machen werden, ist sicher, aber sie werden
diese vielleicht erstmals nicht mehr reparieren können. Werden die USA, die
schon heute an ihrer Grenze zum vergleichsweise harmlosen Mexiko eine streng bewachte
Mauer errichtet haben, im Kampf gegen den Konkurrenten Europa, dem sie schon heute
eine grenzenlose Islamisierung und Terrorisierung zumuten, den kritischen Zeitpunkt,
an dem eine Rettung gerade noch möglich ist, verpassen, also eine für
sie neue und wahrscheinlich letzte Erfahrung machen? Oder werden sie Glück
haben? Wenn ja, dann werden sie wieder einmal ihre Auserwähltheit
preisen, ihr Glück im Risiko als Vorhersehung interpretieren,
ihre Naivität als Optimismus vermarkten. Wiederholungen sind ein Lieblingsthema aller abendländischen
Lebensphilosophen ( ),
weil sie immer auch abendländische Skeptizisten sind (mal mehr, mal weniger)
und z.B. auch das Runde an der ewigen und unendlichen Vorwärtsbewegung, die
in den Köpfen, Seelen und Körpern der Abendländer tief verankert
ist, berücksichtigen. Kein Wunder, daß für Lebensphilosophen Wiederholungen
auch das Phänomen Geburt betreffen. Die Geburt ist eines der wichtigsten
Themen für die Lebensphilosophie. Sloterdijks Zur-Welt-Kommen
( )
geht zurück auf Heideggers In-der-Welt-Sein ( ),
das wiederum, wie auch Spenglers Primär-Raum ( )
und Nietzsches Ewige-Wiederkehr ( ),
zurückgeht auf Schopenhauers eurobuddhistische Gelassenheit im Nirwana,
verstanden als eine abendländische Radikal-Skepsis ( ),
genauer: ein abendländischer Skeptizismus, der Lebensphilosophie heißt.
Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen
zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen.
.... Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt
die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein,
ihnen nicht erliegen zu müssen. (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet
- Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273 ).
Mit etwas Übertreibung läßt sich feststellen: Abendland-Skeptizisten
faszinieren Wiederholungen. Und deshalb kommen sie alle, auch Huntington, immer
wieder zürück auf Goethe, der eine Analogie aus der Botanik, die Spiraltendenz
benutzte, um seine Anschauung von der Wiederkehr des ewig Gleichen
darzustellen. ( ).

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Das
absolut untragbar gewordene progressiv-lineare Geschichtsmodell wird wohl erst
in Zukunft durch das zyklisch-spiralförmige Geschichtsmodell ersetzt werden.
Es ist in der Geschichte nahezu immer so gewesen, daß Modelle sich nicht
dann durchgesetzt haben, wenn mit ihnen theoretische Triumphe einhergingen, sondern
dann, wenn mit ihnen ebenso praktische Triumphe einhergingen. Kopernikanische
Wenden soll es angeblich schon viele gegeben haben, und die echte war auch
zunächst nur für Theoretiker interessant, sichtbar geworden ist sie
erst durch die Praktiker. |