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Auch für Toynbee verläuft die Geschichte nicht linear, sondern zyklisch, wobei die Entstehung einer Kultur stets nach dem Prinzip von Herausforderungen (challenges) und Antworten (responses) geschieht: für eine große Menschengruppe ergibt sich eine besondere Herausforderung äußerer Natur, der man in schöpferischer Weise begegnet, wodurch die Kräfte geweckt werden, die dann in der Folgezeit den Gang der betreffenden Kultur bestimmen. Das klingt fast nach einem behaviouristischen Stimulus-Response-Modell für Kulturen. So besteht die Herausforderung (challenge), die z.B. zur Entstehung der ägyptischen Kultur führte, in der jährlichen Nilschwemme, die nicht nur eine leistungfähige ägyptische Landwirtschaft und einen entsprechenden ägyptischen Handel hervorbrachte, sondern im Zusammenhang mit der Bewältigung der sich jährlich stellenden Aufgaben auch z.B. die Entwicklung der ägyptischen Schrift, der ägyptischen Wissenschaft (v.a. Geometrie, Astronomie) und nicht zuletzt der ägyptischen Staatsorganisation (v.a. Verwaltung, Administration) vorantreibt. Die einzelnen Kulturen entwickeln sich bei Toynbee nicht ganz so isoliert voneinander wie bei Spengler, sondern haben mannigfache Beziehungen, und es gibt auch Mutter- und Tochterkulturen. Genau wie Spengler geht Toynbee von der Parallelität bestimmter innerlich verwandter Entwicklungsformen und Entwicklungsphasen aus. So fällt jeweils in die Epoche des Niedergangs eine Zeit der Wirren, und das Zeitalter der Großstaaten ist die Zeit vor dem endgüligen Zerfall bzw. mit ihm identisch. Auch für Toynbee enden Kulturen, die er Gesellschaftskörper nennt, in Sterilität, obwohl nicht ganz so extrem wie für sein Vorbild Spengler.
Toynbees Gang der Weltgeschichte knüpft eindeutig an Spenglers Untergang des Abendlandes an, vertritt aber nicht dessen deterministische Sicht, nach der alle Kulturen eine voneinander unabhängige Entwicklung von Aufstieg, Blüte und Verfall durchlaufen. Vielmehr propagiert Toynbee eine evolutionäre, also prinzipiell ergebnisoffene Sichtweise. Demgemäß entwickeln sich alle Kulturen jeweils unterschiedlich und je nach ihrer Fähigkeit, Antworten (responses) auf Herausforderungen (challenges) zu finden. Toynbee vertritt die Auffassung: Je höher der Anreiz zur Entwicklung einer Kultur, desto höher deren spätere Entwicklungsstufe. Die Herausforderung könne aber auch zu stark sein und zu einer Überdehnung der Kräfte führen. In den Fällen entwickelten sich Kulturen, die vor zu einfache oder zu schwere Herausforderungen gestellt werden, überhaupt nicht oder fallen in Stagnation. Letzteres sei beispielsweise bei den Polynesiern und den Eskimos der Fall, die sich der extremen Herausforderung gestellt hätten, die Wasserwüsten des Pazifik bzw. die Eiswüsten der Arktis zu besiedeln. Insbesondere der Aspekt der Fähigkeit von Kulturen, Antworten auf Herausforderungen zu finden, macht den Unterschied zwischen der Theorie Toynbees und der seines Lehrers Spengler deutlich.
Wenn man ... von den eigentlichen Differenzen zwischen den beiden Denkern ... zunächst absieht und den morphologischen Gesichtspunkt als das eigentlich Neuartige in den Vordergrundstellz, dann ist Toynbee keineswegs ohne Vorgänger, zumal Spengler selbst der größte unter ihnen ist. Denn als der eigentliche Begründer einer kulturmorphologischen Betrachtungsweise der weltgeschichtlichen Auffassung gilt tatsächlich Spengler selbst, dessen Theorie universal amgelegt ist und jedem national oder umgreifend politisch bedingten Vorurteil fernbleibt. Es ist der erste abendländische Entwurf einer umfassenden Kulturzyklenlehre, nachdem solche Geundgedanken nur dem antiken Denken bekannt waren und vielleicht nur vereinzelt im 17. (und 18.) Jahrhundert einmal neu aufgegriffen worden sind. Hauptträger der Weltgeschichte ist weder die »einheitliche Menschheit«, deren Existenz auf Erden in den nacheinanderfolgenden Perioden von »Altertum, Mittelalter und Neuzeit« eingeteilt wird, noch sind es einzelne auserwähle Völker, die sich unter Umständen ewig behaupten könnten. Träger der geschichtlichen Menschheit sind die einzelnen, sich völlig autonom antfaltenden »Kultureinheiten« oder »Kulturorganisationen«. Der herkömmlichen Lehre vom kontinuierlicehn Fortschritt der gesamten Menschheit stellt Spengler die These vom pflanzenhaften Aufkeimen, Wachsen, Blühen und Verwelken der Kulturorganismen entgegen, die meist zu verschiedenen geschichtlichen Zeiten »dasselbe Lebensalter« durchlebt haben. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 62-63).
Was der Auffassung Spenglers fehlte, war die innere Dynamik unerschöpflicher Kräfte, die neben aller empirischer Determination nur aus der metaphysischen Offenheit der Fundamente menschlicher Existenz richtig verstanden werden kann. Daß neugestellte Aufgaben und herausfordernde Situationen solche Kräfte in einer nicht nur biologisch verstehbaren Weise intensivieren konnten, zummal gerade derartige Kräfte irn Hintergrund als etwa metaphysisch gespeist gedeutet werden müßten, zu einem solchen Irrationalismus scheint Spengler keinen Zugang gefunden zu haben. Die Dialektik von Mensch und Welt, von Begegnung und Reflexion oder schließlich von Herausforderung und Antwort, wobei letztere mehr ist als eine empirisch bedingte Reaktion, -gerade diese Dialektik des inneren Aufschwunges fehlt im Denken Spenglers; oder sie dürfte zumindest mit seiner morphologischen Betrachtungsweise unvereinbar sein. Das Fehlen einer solchen Dynamik im gesamthistorischen Prozeß ist freilich nicht auf die von Spengler eingeführten »Geschichtseinheiten«, die er als Kulturorganismen versteht, zurückzuführen, sondern lediglich auf deren starre, nach außen abgeschlossene Gesetzmäßigkeit. Das Bedürfnis nach einer Auflockerung sowohl des Begriffes von »Geschichtseinheit« wie auch von deren gesetzmäßigen Entfaltung leitete dann zu dem neuen Ansatz, auf den Toynbee sein System aufgebaut hat. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 66).
Die Kategorien »Herausforderung« und »Antwort« als Wesensmomente im weltgeschichtlichen Prozeß erkannt zu haben, ist das große Verdienst von Arnold J. Toynbee .... Auch für Toynbee hat jede wirklich sinnvolle Geschichtsforschung ihren Gegenstand in den Kulturen, die er allerdings als »Zivilisationen« () oder »Gesellschaften« bezeichnet. Schon in dieser terminologischen Abweichung ist ein ganz anderer Begriff von Kultur enthalten, als dies in Spenglers »Kulturorganismen« der Fall war. Es geht Toynbee nicht um parallele, gesetzmäßige Abläufe gleichartiger Zivilisationen, sondern um die geschichtliche Dynamik, die solche Zivilisationen überhaupt entstehen und dann wachsen oder vergehen läßt. »Die Wandlung des Untermenschen zum Menschen ... wurde unter der Obhut primitiver Gesellschaften durchgeführt und stellt einen größeren Schritt, einen größeren Wachstumsvorgang dar, als irgendein anderer Vorgang, den der Mensch unter der Zivilisation je vollbracht hat.« (Arnold J. Toynbee, Studie zur Weltgeschichte, 1934-1961, S. 64). Auf die Geburt einer Kultur muß nicht unbedingt ihr Wachstum und Blühen folgen. Es gibt »steckengebliebene« Zivilisationen, wie die der Eskimo, Nomaden und Polynesier. Der Wachstumsprozeß einer Zivilisation geht nicht aus günstigen Lebensbedingungen hervor, sondern aus Schwierigkeiten und bedrohlichen Umständen, die als eine »Herausforderung« empfunden werden. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 66-67).
Toynbee betont in jeder von ihm konkret geschilderten Situation, daß Herausforderung allein zu nichts führt. Herausfordernd sind z.B. die durch Naturkatastrophen plötzlich veränderten klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, wie etwa bei der tropischen Austrocknung Afrikas und Vorderasiens nach der Eiszeit. Aber nicht alle dort lebenden Völker haben Kraft und Geschick aufgebracht, um diese Herausforderung zu beantworten. Die es taten und auswanderten, gründeten neue Kulturen, die anderen kamen um. Die darauf gegebene »Antwort«, die Handlungen, Ideen und Kräfte, die daraufhin mobilisiert werden, sind entscheidend; dies gilt in gleicher Weise auch für die »Antwort«, die auf einen plötzlich ins Land hereinbrechenden Feind gegeben wird. Sofern die Herausforderung ein Mindestmaß nicht überschreitet, also der Abwehrkraft und Intelligenzstufe angemessen, gilt es für Toynbee als sicher, daß die Antwort darauf nicht ausbleiben wird. Die Festigung einer Kultureinheit (Zivilisation) beginnt aber damit, daß es nicht bei einer einmaligen »siegreichen Antwort« bleibt, sondern zu einer Kette von solchen, »einer sich selbst erneuernden Kette von Aufgaben« (Arnold J. Toynbee, Studie zur Weltgeschichte, 1934-1961, S. 201), kommt, indem die Antwort jeweils »weiter geht als die Aufgabe selbst und somit zu neuen Aufgaben führt, die abermals zu neuen Antworten und Aufgaben führen« (ebd., S. 254). (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 67-68).
Unter Wachstum einer Kultur versteht Toynbee nicht ihre äußere, gebietsmäßige Ausweitung, sondern hauptsächlich ihre geistige Entfaltung und Innewerdung, welche die Mitglieder der Gesellschaft freilich nicht in gleicher Weise ergreift. Deshalb gilt auch, daß die Antworten nicht durch die Gesamtheit aller in der Kultur gegeben werden, sondern von schöpferischen Einzelnen oder schöpferischen Minderheiten, deren Handlungen und Ideen so überzeugend sind, daß sie spontan Gefolgschaft finden. Diese Spontaneität aller beim Zusammengehen auf die von Bahnbrechern gewiesenen Wege bewirkt das Wachstum. Das ungehinderte Auftreten oft unbekannter schöpferischer Einzelner setzt stillschweigend eine freie gesellschaftliche Ordnung voraus, was etwa die Folgerung zuläßt, daß in unfreien Staatsordnungen wie Diktaturen und totalitären Systemen die Chancen zum Aufkommen völlig neuer schöpferischer Antworten auf plötzlich eintretende Herausforderungen von vornherein begrenzt sind. Das Handeln der schöpferischen Einzelnen sowie der schöpferischen Minderheit ist meist durch die beiden Stadien der »Einkehr«, also der Zurückhaltung, Besinnung und Kräftesammlung, und der »Rückkehr« zur Aktion bestimmt. Echtes Schöpfertum ist freilich selten und es bleibt von der ihm folgenden Menge stets abgehoben. Es ist auch nicht sicher, daß sich auf jede Herausforderung schöpferische Kräfte und Antworten finden, was noch von vielen äußeren Umständen abhängt. Deshalb gehört es zum Schicksal jeder Zivilisation, daß sie einmal »versagt«, daß ihr Wachstum durch ihren Stillstand oder Zerfall abgelöst wird, und dies geschieht eben nicht auf Grund einer naturgesetzlichen »Vergreisung« des Kulturorganismus. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 68).
Es bleibt in Toynbees Theorie freilich nicht bei der Herausarbeitung von Grundbegriffen und der Prinzipienlehre einer Dynamik des welthistorischen Geschehens. .... Toynbee zählt zunächst folgende neunzehn Zivilisationen () auf: die westliche, die orthodoxe, die arabische, die Zivilisationen der Hindus, des Fernen Ostens, der Hellenen, der Syrier, der Inder, der Chinesen, die Kultur von Minos, die der sumerischen, hethitischen, babylonischen und ägyptischen Gesellschaften, ... die der Anden, Mexikos, Yukatans und der Maya (vgl. Arnold J. Toynbee, Studie zur Weltgeschichte, 1934-1961, S. 49). Heute existieren nur fünf davon: die westliche, die christlich-orthodoxe (diese gelegentlich in eine byzantisch-orthodoxe und russisch-orthodoxe aufgeteilt), die mohammedanische, die Hindu-Gesellschaft und die des Fernen Ostens, in der wiederum eine chinesische und japanisch-koreanische Welt unterschieden wird. Während diese Herausarbeitung der einzelnen selbständigen Zivilisationen vom ersten Blick willkürlich aussehen könnte, ist die empirische Beweisführung in dem großen Werk meist völlig überzeugend. Da die Kleinarbeit Sache des Historikers ist, genügt dem geschichtsphilosophisch Interessierten die Orientierung über die Prinzipienlehre an Hand der von D. C. Sommerwell besorgten zusammenfassenden Darstellung in einem einzigen Band .... (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 68-69).
Toynbees Dynamik von Herausforderung und Antwort erscheint ... deshalb besonders bestechend, was ihm auch zur noch größeren Popularität verholfen hatte, weil damit nicht nur welthistorische Geschehnisse, sondern auch die konkret politischen Abläufe einer Zeit näher beleuchtet werden können. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 69).
Eingriffe in die Spannungsverhältnisse zu einem brauchbaren Instrument der modernen politischen Wissenschaft entwickeln ließe. Toynbee ist mit seiner realistischen Betrachtungsweise weit entfernt von jedem Geschichtspessimismus, weshalb seine Ergebnisse der Untergangsprophetie Spenglers gerade entgegengesetzt laufen. Nicht eine naturgesetzliche Vergreisung, sondern die mobilisierbaren schöpferischen Kräfte einer Kultur bestimmen es, ob sie, an einem »Endpunkt« angelangt, eine »schicksalhafte« Krise bestehen wird oder nicht. Toynbee bedient sich gelegentlich Bergsons Begriff »elan vital« () und meint, daß es intuitive, vital bedingte Kräfte sind, die eine gegebene Sit,uation aus der totalen Indetermi1riertheit der inneren Natur des Menschen bewältigen. So betrachtet stehen jeder Kultur Wege zur Erneuerung offen. - Diese Überlegung dürfte dazu geeignet sein, mit Toynbees Methode der Prophetie Spenglers vom Untergang des Abendlandes entgegenzutreten (obwohl offensichtlich doch Spenglers Prophetie durch die Entwicklung bestätigt wurde und wird; HB): Läßt man nämlich gelten, daß eine geschichtsphilosophische Erkenntnis, die Deutung einer kritischen Situation (auch die der »Vergreisung«) ein Stück schöpferische Antwort auf herausfordernd bewußt auftretende Geschichtsfaktoren darstellt, so dürfte sich unsere abendländische Kultur, im Gegensatz zu allen anderen, an ihrem »Ende« insofern in einer besonders ausgezeichneten Stellung befinden, als sie eben ihren Oswald Spengler nicht nur als den Pessimisten, sondern auch als den großen Herausforderer zu ihrem geistigen Bestand zählt. Man wird es kaum behaupten können, daß auch alle anderen Kulturen in ihren ... »Vergreisungs-Perioden« ebenfalls eine so herausfordernde (nicht fatalistische) Geschichtsschreibung und Philosophie oder gar ihren Spengler und ihren Toynbee gehabt hätten! (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 72).
Es sei schließlich auf zwei weitere Vergleichsmomente hingewiesen, welche die Vorteile und Nachteile jedes der beiden Systeme klar erkennen lassen. Will man den morphologischen Charakter in den Vordergrund stellen und in dessen Rahmen von Gesetzmäßigkeit im weltgeschichtlichen Prozeß sprechen, so ist der Nachweis einer solchen Gesetzmäßigkeit Spengler insofern weitaus treffender gelungen, als er völlig gleichförmige Kulturorganismen beschreibt, die sich zeitlich und kulturlandschaftlich voneinander genau abgrenzen lassen. Eine solche morphologische Einheitlichkeit und genaue Abgrenzung können von Toynbees »Zivilisationen« () nicht behauptet werden, was man z.B. daran erkennt, daß er sich oft gezwungen sieht, manche ihm zu komplex erscheinenden Einzelzivilisationen zu unterteilen. Andererseits kann man Toynbee nicht immer folgen, wenn er manche benachbarten Zivilisationen voneinander isoliert betrachtet, während man unter anderen Gesichtspunkten dazu neigen könnte, sie als eine Einheit aufzufassen. Dieses Verhältnis von Vorteil und Nachteil der beiden Systeme verschiebt sich gleich zugunsten von Toynbee, wenn man die Offenheit seiner Zivilisationsprozesse in Betracht zieht. Die sehr geringe Zahl von »Kulturorganismen« und das »unumgängliche« Aussterben der abendländischen Kultur, die sich bereits im technischen Zivilisationsstadium befinden, lassen den Pessimismus als sehr begründet erscheinen - selbst wenn damit die Entstehung einer Nachfolgekultur für möglich gehalten wird -, weil das Absterben »der einzigen, noch bestehenden Kultur« ja nicht notwendigerweise die Bedingungen zur Entstehung eines neuen Kulturorganismus hinterläßt. Bei Toynbee ist eine solche Gefahr des endgültigen Aussterbens jedes Kulturgeschehens auf Erden gerade durch die große Anzahl der von ihm beschriebenen Zivilisationen, von denen mehrere heute gleichzeitig leben und wachsen, als so gut wie ausgeschlossen zu betrachten. Denn sie sind keinem Gesetz des notwendigen Unterganges unterworfen, und ihre Kräfte sowie ihre Fortsetzung in weiteren Zivilisationen sind von der oben beschriebenen inneren Dynamik des schöpferischen Zivilisationsgeschehens gewährleistet. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 72-73).
Das eigentliche Gesetz, das Spengler eine Handhabe zum Verstehen der Zukunft gab, liegt in den Analogien der »gleichzeitigen« Stadien in den verschiedenen Kulturen bzw. in dem feststehenden Ablauf der einzelnen Altersstufen. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 73).
Toynbees Geschichtsschreibung ist ... zwar nicht auf Zukunftsdeutung angelegt. Aber sie läßt eben alle möglichen Antworten auf die jeweils auftretenden Situationen unvoreingenommen in Betracht ziehen, wozu noch festgestellt werden muß, daß allein die Erkenntnis der Möglichkeit neuer schöpferischer Antworten herausfordernd wirkt und ungeahnte Kräfte mobilisiert. (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 74).
Die Einmaligkeit unserer Epoche besteht unverkennbar darin, daß wir uns dabei befinden, die Synthese einer nunmehr innerlich verflochtenen »Menschheit« als das kulturell und politisch zusammenwachsende Ganze zu vollziehen (). Als Historiker der früheren Jahrhunderte noch von dieser »Menschheit« und ihrer »einheitlichen« Geschichte sprachen, beruhte solche Begriffsbildung nur auf Fiktionen (gegenwärtig ist das nicht viel anders, und zukünftig wird das wahrscheinlich auch nicht viel anders sein; HB). Die wirtschaftliche und politische Expansion des Abendlandes mit ihrer Naturwissenschaft und Technik brachte jedenfalls einen sicheren Nivellierungsprozeß mit sich für alle bisher noch so eigenständigen Kulturen. Was früher von einzelenen »Kulturorganismen« ausgetragen wurde, was auf Herausforderungen stets als spezifisch eigene »Antworten« aufbrachte, ist heute im Begriffe, in die (eigentlich innerlich zersetzende) Synthese einer »Welktkultur auf Erden« einbezogen zu werden (aber nur dann, wenn sie keine Fiktion bleiben wird). (Georgi Schischkoff, Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee, in: Spengler-Studien, Hrsg.: Anton Koktanek, 1965, S. 74-75).
Das, was wir den Individualismus oder den krankhaften Egoismus (Egozentrismus) nennen, ist Ausdruck einer Dekadenz, die man z.B. an der immer geringer werdenden Zahl an Kindern () sehr gut erkennen kann. Im Abendland begann der Kinderschwund zuerst beim Adel - während der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert -, setzte sich über das Großbürgertum bis zum Kleinbürgertum fort, das er zu der Zeit, als Spenglers Hauptwerk entstand () bereits erreicht hatte, und die Tatsache, daß heute nur noch die unterste Unterschicht (), das sogenannte Prekariat (das Proletariat gibt es ja nicht mehr - zuerst wurde es in Deutschland in den 1930er Jahren von den Nationalsozialisten in das Kleinbürgertum integriert), zu dem obendrein hauptsächlich Migranten gehören, eine ausreichende oder sogar zu hohe Zahl an Kindern aufweist, zeigt doch sehr deutlich, daß der bereits seit 1789 erkennbare Untergang des Abendlandes heute, wo er schon die ersten beängstigenden Dimensionen erkennen läßt, nicht mehr zu leugnen ist. |
Da Spengler der Erfinder der Kulturmorphologie der Weltgeschichte ist und Erfindungen oftmals verfeinert werden, kann Toynbee immer nur als Nachahmer und Ergänzer zu Spengler verstanden werden - um so mehr, als Toynbee das kulturmorphologische und organische Geschichtsdenken von Spengler bewunderte (), ausdrücklich: Als ich jene Seiten las, aus denen gleichsam ein Feuerwerk überraschender geschichtlicher Einsichten in Fülle aufleuchtete, hatte ich zunächst den Eindruck, daß Spengler meine ganze Untersuchung bereits vorweg genommen hatte .... (Arnold J. Toynbee, Die Kultur am Scheideweg, 1949, S. 15). Toynbee verschwieg hier natürlich, daß er Spenglers Hauptwerk noch vor der Entstehung seines eigenen Hauptwerkes gelesen hatte.
Toynbee hat Spengler sowohl nachgeahmt als auch ergänzt. Bei Nachahmern ist es fast immer so, daß sie über ihre Eigenschaft als Nachahmer hinaus Ergänzer (so auch Toynbee) oder kritischer Gegner (nicht so Toynbee) oder sogar beides (nicht so Toynbee) sind, denn sie suchen ja den Erfolg über ihre Vaterfigur.
Auch obwohl bzw. weil Toynbee im Gegensatz zu Spengler keine deterministische, sondern eine evolutionäre, also prinzipiell ergebnisoffene Sichtweise vertritt, ist er als Spenglers Nachahmer, als ein Spenglerianer, der bekannteste Nachfolger Spenglers sogar, anzusehen. Man könnte es auch so sagen: So wie Karl Marx ein Hegelianer war, wenn auch nur Linkshegelianer (Junghegelianer), so war Arnold J. Toynbee ein Spenglerianer.Spenglers Verdienst liegt darin, daß er den großen Gedanken der Entwicklung, wie Herder und Goethe sie verstanden, auf sein Geschichtsbild anwendet, und das zu einem Zeitpunkt, an dem dieser Gedanke durch Mißverständnis und Verflachung der Hegelschen Geschichtsphilosophie nicht nur im historischen Selbstbewußtsein der Gebildeten, sondern bis in die politische Praxis hinein zu einer Art von optimistischem Religionsersatz vereinfacht worden war. Demgegenüber ist Spenglers Geschichtsbild, vor allem hinsichtlich der Kulturprognose, mit Recht pessimistisch. Es führt von der Vorstellung der linearen und eo ipso aufsteigenden Entwicklung zu zyklischen Konfigurationen zurück. Dadurch übt es großen und wachsenden Einfluß aus. |
(Ernst Jünger, An der Zeitmauer, 1959, in: Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Band 8, S. 454). |
Folgendes haben wir zu unterscheiden: Ein Verenden entweder durch brutale Gewalt oder aber durch eigenes Altern. Ein Verenden könnte aber auch durch eine Krankheit erfolgen, sofern es gegen eine solche kein Remedium gibt. Verenden kann dabei sowohl von einer Regeneration gefolgt sein, würde sich also nur auf den bisherigen Entwicklungsablauf beziehen, oder aber mit der Vernichtung der Entwicklungsträger einen endgültigen Abschluß bedeuten. Im folgenden wollen wir die einzelnen hier in Frage kommenden Möglichkeiten aufzählen: |
1. Ein absolutes Ende ohne Regeneration kann erfolgen bei einer totalen Vernichtung durch einen brutalen äußeren Feind. Die Vernichtung der Azteken ... und Inka ... durch die Spanier bietet dafür ein Beispiel .... |
2. Ein absolutes Ende ohne Regeneration würde sich auch ergeben aus einer globalen Vernichtung des Menschengeschlechtes durch die Segnungen unserer technisierten Naturwissenschaften. |
3. Die Beendigung einer Entwicklung, verbunden mit einer Erhaltung seiner Träger und mit der großen Wahrscheinlichkeit zu einer echten Regeneration wird uns dagegen durch die ... Wende ... von der Antike zum Abendland verbürgt. ... Voraussetzungen wären ... zuerst enmal das Eintreten gewisser Negativerlebnisse: So etwa die Reduktion eines allzu lastenden Kulturerbes durch barbarische Zerstörung, wodurch das bisherige kulturelle Establishment so weit zerbrach, daß die bisherigen Zentralwerte verloren gingen und damit auch das bisherige Kultursystem. Was sich freilich erhalten mußte, das waren ... die Träger ..., dann aber auch die einzelnen Kulturelemente. Diese waren nach dem Zusammenbruch der bisherigen Zentralwerte ja ohne feste Bindung und Steuerung, sie waren gleichsam frei und ihres bisherigen traditionellen Strukturzwanges ledig. So fanden diese Elemente die Möglichkeit, sich irgendwelchen neugebildeten Zentralwerten oder Zentralwertkomplexen anzuschließen, wodurch dann eine neue Wertstruktur entstand, aus der eine neue Kulturentwicklung mit einer neuen, bis dahin noch nie verfolgten, daher völlig unverbrauchten Richtung eingeschlagen werden konnte. Dabei sind diese Wendungen nicht aus dem Intellekt inauguriert worden, sondern aus dem Unbewußten aufgewachsen. Wir lernen daraus, daß solche Regenerationen gar nicht gewollt und gemacht werden können, sondern einen elementaren Prozeß darstellen, von dem man zuerst gar nichts merkt und der gerade dadurch vom Intellekt nicht verpfuscht werden kann. (Daher erfolgten bei einer solchen Regeneration zuerst Jahrhunderte eines statischen Winters, bis man sich allmählich der Möglichkeiten zu einer dynamischen Aufwärtsentwicklung mit Hilfe von Phantasieleistungen bewußt wurde; HB). Für eine solche Regeneration wäre eine weitere Voraussetzung, daß sie von außen durch Fremdeinflüsse nicht so sehr gestört wird, daß sie darüber ihre bisherige menschliche und kulturelle Substanz verliert. Vor allem bedarf eine solche Regeneration ja der Erhaltung der durch die Zertrümmerung des bisherigen Systems freigewordenen Kulturelemente, damit sie neue Zentralwerte und dann eine neue Wertstruktur hervorbringen können. (Vgl. Germanen; HB). |
4. Eine ganz andere Möglichkeit, den Niedergang und das Ende wenigstens aufzuhalten, läge darin, daß er noch vor seiner Endkatastrophe von einem lebenstüchtigeren Seitenzweig (Satelliten) der gleichen oder einer verwandten Entwicklung aufgefangen würde. Dieser kräftigere Seitenzweig übernimmt nun die Führung und eine Art von Protektorat. Er sorgt für ein statisches Weiterbestehen der Niedergangskultur im Rahmen seiner eigenen Gesittung. So ... nahm Rom den Hellenismus in sein Imperium mit auf. Wenn wir diesen Seitenzweigen höhere Lebenskraft zuschrieben, so meinten wir damit, daß ihnen in der von ihnen eingeschlagenen Richtung noch ein höheres Maß von unerfüllten Aufgaben und Phantasiemöglichkeiten zur Verfügung standen und damit zugleich auch noch eine härtere konformistischere Haltung. Dabei müssen wir bedenken, daß extreme pluralistische Systeme wie das des Hellenismus gegenüber konformistischen Gesittungen (zum Beispiel Rom) ohnehin niemals eine Chance haben. Extremer Pluralismus ist zu sehr gespalten und durch die Luftblasen des Egoismus aufgeplustert. Bei gleichem Stand der Technik wird der extreme Pluralismus gegenüber einem konformistischen Gegner immer den Kürzeren ziehen. |
5. Eine letzte und zugleich allergünstigste Art der Regeneration würde sich schließlich einstellen, wenn man im Rahmen der bisherigen Entwicklung (also ganz ohne Mithilfe eines Seitenzweiges) aus eigener Kraft einen neuen, noch unverbrauchten Zentralwert (etwa Europa!) zu gewinnen vermöchte. Daraus würden sich dann ohnehin so viele Anreize für neuere Phantasieleistungen ergeben, daß sich die bisher eingeschlagene Entwicklung wie von selbst in durchaus gesunder Weise um eine neue Phase weiter fortsetzen würde. |
(Fritz Schachermeyr, Die Tragik der Voll-Endung, 1981). |
Ist auch Huntington ein Spenglerianer () - der Oswald Spengler Amerikas? (Die Welt )Den
Kampf der Kulturen prophezeite schon Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832).
Nach ihm rissen die Beschäftigungen mit diesem Thema nicht mehr ab, auch
wenn es im Schatten anderer Leitthemen stand. Vollends ins Zentrum des öffentlichen
Interesses gerückt wurde dieses Thema 1917, als Oswald Spengler im Untergang
des Abendlandes (),
den er bekanntlich mittels der vergleichenden Methode auch mit dem Untergang
der Antike ()
konfrontierte, für das Abendland die schon Ende des 18. Jahrhunderts (Industrialisierung,
Bürgerliche Revolution u.s.w.) begonnene kulturelle Vollendung - den
Zivilisationsprozeß - und den damit verbundenen (zunächst aber noch
schleichenden) Synkretismus diagnostizierte und dessen Bekämpfung durch das
Abendland in der Phase des Cäsarismus prognostizierte. ().
Daß es einen Zusammenprall der Kulturen geben
wird, war also schon seit Goethe klar - lange vor Huntingtons Buch Clash
of Civilizations (1996).
Erkennbar, jedenfalls für die Eingeweihten, war auch der
militante Aufbruch islamischer Religiosität schon vor Huntingtons Thesen
über den weltweiten Kampf der Kulturen. (Peter Scholl-Latour, Weltmacht
im Treibsand, 2004, S. 50). Das Abendland ist immer noch immens reich,
aber es ist schwach. Ihm fehlt die moralische Substanz zur dezidierten Selbstbehauptung.
Kurzum, alle Prämissen eines fatalen »Untergangs« sind gegeben.
So unrecht hatte Oswald Spengler wohl nicht. (Peter Scholl-Latour, Kampf
dem Terror - Kampf dem Islam?, 2002, S. 48). Huntington hat wohl
die Friktionen ()
des Generals von Clausewitz (1780-1831)
beachtet - er sieht in den Zusammenstößen, Reibungen, Konflikten
zwischen den großen Kulturkreisen auf der Basis unterschiedlicher Religionen
und divergierender Weltbilder die Hauptrolle künftiger Auseinandersetzungen.
(Hans-Ulrich Wehler, Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2003, S.
61). Daß die Herrschaft des Volkes nicht in den Kosmopolitismus, sondern
in den Provinzialismus führt, hat auch Huntington als das demokratische Paradoxon
bezeichnet. (Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002,
S. 30). Ob, was, wie und wieviel Huntington aus Spenglers Werken abgeschrieben
haben könnte, ist weniger entscheidend, mehr entscheidend ist, daß
er von Spengler inspiriert wurde!Lange vor Huntington hatte auch Toynbee ()
an Spengler angeknüpft, und weil Spengler von Nietzsche und Goethe inspiriert
worden war (),
gibt es eine kulturphilosophische Linie von Goethe und Schopenhauer über
Nietzsche und Spengler zu Toynbee und Huntington. Auch zu Sloterdijk: |
In dieselben Flüsse steigen wir hinab
und nicht hinab, wir sind es und sind es nicht, denn in denselben Strom vermag man nicht zweimal zu steigen. (Heraklit). |
Die Vorstellung, daß alle Wissenschaft am Ende nur noch eine Theorie für alles besitzen könnte, wie sie von der Physik geträumt wird, bedeutet nach Sloterdijk, daß die Forschungsgemeinschaft eines Tages nur noch zu einer homogenen Armee von Subjekten zusammenwachsen würde, die alle eine gemeinsame Vor- oder besser Verstellung der Objekte besäßen. Daher muß, solange der Primat des Subjektes gilt, gemäß Sloterdijk eine agonale Theorie entstehen. Eine zweite oder neue Kultur, wenn sie denn kommen sollte (!), kann sich nur entwickeln, wenn der Eros des Künstlers die Objekte wahrnimmt und erkennt, daß diese nicht von ihm festzustellen seien, sondern sich im Fluß der Ereignisse befinden und ständig ändern. Der Künstler nähert sich ihnen daher nicht als Forscher, sondern als Nachbar und Freund. Diesen Werde- und Entwicklungsgang von der Objektivität zur Intimität faßt Sloterdijk zusammen unter dem Begriff Heraklitische Meditationen.All dies sind Erkenntnisse, die sich laut Sloterdijk zunehmend in der Postmoderne () durchzusetzen beginnen. Doch auch schon in der Weimarer Republik samt ihrer konservativen Revolution () gab es eine neue Sicht auf die Moderne, weshalb sie Sloterdijk als das Weimarer Symptom bezeichnet und in ihm alle Bewußtseinsmodelle der Moderne paradigmatisch angelegt sieht. |
Der
Seele Wissen kannst Du nicht ausfinden, auch wenn du jeglichen Weg abschrittest, so tief ist ihr Wesen. (Heraklit). |
Ein 'exaktes Wissen' von der ewig geheimnisvollen Seele erhalten zu wollen, ist sinnlos. (Oswald Spengler). |
Spenglers Dissertation - Der metaphysische Grundgedanke der heraklitischen Philosophie (veröffentlicht unter dem Titel: Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie) -, mit der er 1904 bei dem Neukantianer Alois Riehl (1844-1924) promovierte, ist sehr aufschlußreich, denn sie enthält im wesentlichen bereits den Kern des Spenglerschen Denkens. Auch Stil und Methode der späteren Schriften sind hier schon vorweggenommen. Da über Leben und Person Heraklits nur sehr wenig bekannt ist, nutzt Spengler diese Lücke für Spekulationen, indem er seine persönliche Haltung und Weltanschauung zu der des Philosophen aus Ephesos macht. Es ist Spenglers erste literarische Gelegenheit, sein eigenes Denken darzustellen, wenn auch noch durch die Maske eines anderen. Und so beginnt er von sich selbst zu sprechen, indem er über Heraklit, den Dunklen, berichtet: »Es wäre für das Verständnis dieser Lehre ein Hindernis, wenn uns die Kenntnis der großen und tragischen Persönlichkeit ... verlorengegangen wäre. .... Seine Lehre ist selbst für diese Zeit ... in ungewöhnlichem Grade persönlich, ohne daß von ihm selbst viel die Rede wäre. Wir sehen einen Menschen, dessen ganzes Fühlen und Denken unter der Herrschaft einer ungezügelten aristokratischen Neigung stand. .... Hier ist der letzte Grund für jeden Zug seines Lebens und jeder Besonderheit seiner Gedanken zu suchen. .... Ohne Wut, ohne Ausfälle beurteilt er das Volk von oben herab, kalt, boshaft, mit Verachtung und Ekel, zuweilen durch eine sarkastische Bemerkung den aufsteigenden Groll verbergend.« Mit Unterstützung Heraklits versucht Spengler in der seienden Welt eine permanent werdende, also notwendig sich verändernde, vergehende Welt zu erkennen -alles fließt. Auch Heraklit sei ein exklusiver, aristokratischer Geist gewesen, ein Schauender, der, genau wie Spengler, nicht nach einer »wissenschaftlichen Philosophie« trachte, sondern danach, »ein Weltbild zu schaffen, das ihm seine Stellung im All zu übersehen erlaubte, und als eine Gelegenheit, seine Freude am Formen zu betätigen. .... Heraklit ist der bedeutendste Künstler unter den Vorsokratikern. Davon zeugt nicht nur das satte und farbenreiche Pathos seines Stils, sondern vor allem die geniale Plastik seiner Darstellung. .... Heraklit darf als Realist bezeichnet werden, trotzdem er leicht für das Gegenteil zu nehmen ist. .... Der Stil des Denkens und die Lehre selbst sind verwandt. .... Sein Denken hat einen wahrea Imperatorenstil .... Nur die großen, grundlegenden Ideen sind ihm des Nachdenkens wert, bei einer ausgesprochenen Abneigung gegen eigentlich wissenschaftliche Detailforschung. .... Das Sammeln von Tatsachen, ohne Überblick und Verständnis, ist ihm verhaßt.« Und am Schluß faßt Spengler zusammen: »Heraklits Gedankenwelt, als Ganzes angesehen, erscheint als eine großgedachte Dichtung, eine Tragödie des Kosmos, den Tragödien des Äschylos in ihrer kraftvollen Erhabenheit ebenbürtig. Unter den griechischen Philosophen, Plato vielleicht ausgenommen, ist er der bedeutendste Dichter. Der Gedanke eines seit Ewigkeiten währenden und nie aufhörenden Kampfes, der den Inhalt des Lebens im Kosmos bildet, in dem ein gebieterisches Gesetz waltet und eine harmonische Ebenmäßigkeit aufrechterhält, ist eine hohe Schöpfung der griechischen Kunst, der dieser Denker weit nähergestanden hat als der eigentlichen Naturforschung.« (). (Frank Lisson, Oswald Spengler - Philosoph des Schicksals, 2005, S. 17-18).Neben Nietzsche kann Goethe für Spengler als wichtigster Vermittler Heraklits gelten. »Goethes ... Ansichten über die Natur« sind für Spengler »von einem ähnlichen Geist getragen« (RuA, S. 4) wie diejenigen des Vorsokratikers. .... Spengler strebt in seiner Dissertation wie später auch Benjamin () keine philologische Prägnanz an, sondern bemüht sich um die Formulierung eines eigenen philosophischen Standpunkts. »Der Heraklit ist ein Selbstzeugnis ..., viel eher Schlüssel zur Erfahrungsweise Spenglers, als zu Heraklits Erfahren, Denken.« (Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1994, S. 38). Heraklits Texte fungieren nicht als Gegenstand, sondern als Anlaß der Spenglerschen Reflexionen. Die Überlieferungsprobleme der nur in wenigen, ungesicherten Fragmenten erhaltenen Texte Heraklits erlauben ihm ein freies Spiel der philosophischen Spekulation, das sich nicht selten den Vorsokratiker nach eigenen Vorstellungen zurechtmachte.« (Detlef Felken, Oswald Spengler, 1988, S. 20). Dennoch führt Spenglers »freies Spiel der philosophischen Spekulation« zu interessanten Ergebnissen, die seinen gesamten weiteren Denkweg vorzeichnen. In der Dissertation liegen keimhaft einige Hauptgedanken des »Untergangs des Abendlandes« beschlossen. Eine Eröffnung der Diskussion Spenglers mit einem Blick in sein Heraklit-Buch bietet sich daher an. Die Ausgangsthese der Dissertation lautet: »Der Gedanke, in dem Heraklit eine neue Auffassung des kosmischen Daseins gab, ist ein energetischer: der eines reinen (stofflosen), gesetzmäßigen Geschehens. Die Entfernung dieser Idee von der Anschauung anderer, und zwar gleichmäßig der Jonier, Eleaten und Atomisten, ist eine außerordentliche. Heraklit ist mit ihr unter den Griechen völlig einsam geblieben; es gibt keine zweite Konzeption dieser Art. Alle andern Systeme enthalten den Begriff der substantiellen Grundlage (archae, apeiron, to pleon, hylae, to plaeres ...).« (RuA, S. 2). Für Spengler verkörpert Heraklit innerhalb des vorsokratischen Denkens eine Wende des Naturverständnisses, die dem 1910 von Ernst Cassirer nachgezeichneten Übergang vom Substanz- zum Funktionsbegriff in den Naturwissenschaften und der Philosophie des späten 19. Jahrhunderts strukturell entspricht. Spengler stellt die »nichtsubstantielle Vorstellungsweise Heraklits« (RuA, S. 19) in die Nähe der Theorien Wilhelm Ostwalds, Begründer der physikalischen Chemie und Wegbereiter der Thermodynamik, und des subjektkritischen Positivisten Ernst Mach. Beide Autoren definieren im ausgehenden 19. Jahrhundert »die Natur als eine Summe von Energien« (RuA, S. 15) und können auf die Begriffe »Substanz« und »Materie« bei der Beschreibung der Natur weitgehend verzichten. Sie stehen damit - bewußt oder unbewußt - in einer romantischen Tradition. Der Goethe und Novalis nahestehende, romantische Naturforscher Johann Wilhelm Ritter (), entwirft auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert ein energetisches Naturmodell, in dessen Rahmen er jeden Substanzbegriff als »Grab der Identität« () disqualifiziert. In Ritters Natur wird »Identität« und »Harmonie« durch »Differenz« und »Störung« ersetzt. »Alles stört sich«, schreibt er programmatisch und führt weiter aus: »Ein rein dynamisches System wird gar nicht nach Stoffen ... fragen dürfen, alle Chemie und Physik wird bloß Bewegungsgrößen zu messen haben. Denn was sind chemische Zerlegungen und dergleichen anders, als Bewegungen?« ... Aus der Sicht Spenglers entsubstantialisiert Heraklit den Begriff eines selbstidentischen Seins und überführt ihn in die Idee eines ursprungs- und ziellosen Werdens: »Es soll hier lediglich eine Entwicklung des Prinzips versucht werden, das dieser Denker zur Grundlage seines Weltsystems machte und das mit wenigen Worten in eine Formel zu bringen ist: panta rhei, die Idee eines reinen gesetzmäßigen Werdens.« (RuA, S. 5). Für Heraklit ist es wie für Ostwald und Mach »möglich, den Begriff eines Substrats überhaupt, sei es als das im Wechsel der Erscheinungen Beharrende ..., sei es als eigentliche Materie, fallen zu lassen, wodurch der Begriff der Veränderung (des Werdens, Fließens) einen neuen und reichern Inhalt erhält.« (RuA, S. 14). Spengler selbst verabschiedet im Anschluß an die Naturwissenschaft seiner Zeit jede substantialistische Ontologie. Die Absicht seiner Dissertation besteht darin, »die Seinslehre in eine Werdenslehre zu verwandeln, die Weltbilder zu dynamisieren.«450 Durch eine Dynamisierung des Weltbilds, durch eine Überführung allen Seins in ein Werden, »erfolgt eine Auflösung aller älteren Probleme ins Genetische«, heißt es in der ersten Auflage des »Untergangs des Abendlandes« (S. 446). Spengler schließt sich der geistesgeschichtlichen Wende, die Cassirer als Wende vom Substanz- zum Funktionsbegriff bezeichnet, an. Im Gegensatz zu Cassirer sieht Spengler in der beschriebenen Wende aber kein einmaliges ideengeschichtliches Ereignis, sondern den Ausdruck überhistorischer Entwicklungsgesetze von Kulturen. Seine Dissertation handelt in gleichem Maße von der Naturphilosophie um die Jahrhundertwende wie von Heraklit. Sie stellt sich in die durch (anfangs: Schopenhauer) Nietzsche und Bergson vorbereitete Tradition einer Lebensphilosophie (), die Leben nicht substantialistisch denkt, sondern als ein nie mit sich selbst identisches Werden, als unentwegten Vollzug. (Andreas Hetzel, Ästhetische Welterschließung bei Oswald Spengler und Walter Benjamin, 1993-1995, S. 103-106). Was der nach meinem Dafürhalten Spengler richtig zuordnende Hetzel hier als die durch Nietzsche und Bergson vorbereitete Tradition einer Lebensphilosophie nennt, das heißt in meiner Terminologie die von Nietzsche begründete Mittlere Schule der Lebensphilosophie (), denn sie folgte ja doch auf die von Schopenhauer begründete Alte Schule der Lebensphilosophie (). Meine Terminologie ist nicht zwingend, aber sinnvoll!
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Junge
Freiheit: |
Meinhard
Miegel: Alle solchen Entwicklungen sind historische Prozesse. Schauen Sie, wir Europäer einschließlich unserer überseeischen Cousins und Cousinen waren in den zurückliegenden 200 Jahren extrem privilegiert. Wir hatten gegenüber der übrigen Menschheit beträchtliche Wissens- und Könnensvorsprünge, funktionierende rechtliche und staatliche Ordnungen, eine hohe Kapitalakkumulation, Zugang zu praktisch allen Ressourcen und und und .... Das erlaubte uns einen in der Menschheitsgeschichte einmalig hohen Lebensstandard. Doch mittlerweile sind zahlreiche Völker dabei aufzuholen. Das bedeutet nicht den Untergang des Abendlandes. Aber bislang bestehende Unterschiede werden eingeebnet. |
Junge Freiheit: Es gilt allerdings genau auseinanderzuhalten, wovon Sie wann sprechen: Einmal ist da - wie eben beschrieben - der Abstieg, der sich durch den natürlichen Verlust der Vorrangstellung ergibt. Zum anderen wäre da aber der Abstieg, der sich selbstverschuldet durch gesellschaftliche Mißwirtschaft ergibt. Oder, wie Sie es formulieren: »Die Kultur des Westens zerstört sich selbst.« |
Meinhard Miegel: Wenn große Bevölkerungsteile den Sinn ihres Lebens in der Aufrechterhaltung und Mehrung ihrer Konsumfähigkeit sehen, ist das alarmierend. Diese Fokussierung auf rein Materielles hat zwar dazu beigetragen, daß noch nie so viele materielle Güter erwirtschaftet worden sind wie jetzt. Aber die Gesellschaft als solche hat unter dieser Fokussierung gelitten. Die Folge: Weithin fehlt heute der Typ Gesellschaft, der Voraussetzung für dynamisches Wirtschaften ist. |
Junge
Freiheit: Ihre Antwort auf diese »deformierte Gesellschaft« erinnert - nicht im Detail, aber en gros - wieder sehr an Oswald Spengler. |
Meinhard
Miegel: Ich möchte Bewußtsein für veränderte Sicht- und Verhaltensweisen wecken. Die derzeit dominierenden haben begonnen, sich ad absurdum zu führen. |
Junge
Freiheit: Das, was Sie in Ihren Büchern als notwendige Tugenden beschreiben, um »die Zukunft zu gewinnen«, könnte man als eine »konservative Revolution« bezeichnen. |
Meinhard Miegel: Ich kann mit solchen Begriffen nicht viel anfangen. Aber wenn Sie so empfinden, will ich Ihnen nicht widersprechen. |
Junge
Freiheit: Sie unterlassen nichts, um beim Leser den Eindruck einer Gesellschaft in Dekadenz hervorzurufen. |
Meinhard
Miegel: Dekadenz ist für mich ein kulturell-zivilisatorischer Terminus. |
Junge Freiheit: Im Grunde läßt sich Ihre Kritik auf eine Generalformel bringen: der Verlust der Bindung. - Ob im privaten, ob in der Gesellschaft, ob zwischen Mensch und Natur. |
Meinhard
Miegel: Richtig. |
Junge
Freiheit: Die Bindung ist in der politischen Philosophie der Grundbegriff der konservativen Idee. |
Meinhard
Miegel: Gegen »konservativ« habe ich nichts. |
Junge Freiheit: Wer ist politisch verantwortlich für die Entstehung der »deformierten Gesellschaft« ? |
Meinhard
Miegel: Alle und keiner. Wir reden von historischen Prozessen. |
Junge Freiheit: Gibt es angesichts dieser Geschichtsergebenheit noch Raum für eine gute und eine schlechte Politik? |
Meinhard
Miegel: Natürlich. Wenn eine Politik mit Wort und Tat alles unternimmt, um die Zerrüttung einer Gesellschaft zu beschleunigen, verdient sie wohl kaum das Prädikat »gute Politik«. Warum fühlen sich heute so viele Väter und mitunter auch Mütter frei, ihre minderjährigen Kinder im Stich zu lassen? Doch nicht zuletzt deshalb, weil ihnen immer wieder gesagt worden ist, ihre Selbstverwirklichung habe unbedingten Vorrang. Die Scherben, die sie hinterließen, werde der Staat schon wegräumen. Auf die Frage, warum Menschen kinderlos sind, ist die am häufigsten gegebene Antwort: Ich kann mich auf meinen Partner nicht verlassen. Zu häufig können sich Mann und Frau nicht aufeinander, Kinder nicht auf ihre Eltern, Eltern nicht auf ihre Kinder verlassen. Die einstmals bestehende Pflicht von Großeltern, gegebenenfalls für ihre Enkel aufzukommen und ebenso umgekehrt, wurde von der Politik als »Sippenhaft« diffamiert. Insofern spielt Politik schon eine Rolle. |
... ... |
Junge
Freiheit: Sie schreiben ... in Ihren Büchern, daß Zuwanderung keine Antwort auf die demographische Krise ist. |
Meinhard
Miegel: Langfristig nicht, aber immerhin gewinnen wir Zeit. |
Junge Freiheit: Lassen Sie mich prognostizieren. Folge eins: Wir »nutzen« die Zeit, um uns noch länger um die Lösung des Problems herumzudrücken. Folge zwei: Wir produzieren mit diesem Behelf zusätzliche Kosten. Folge drei: Wir importieren sozialen und ethnischen »Sprengstoff«. |
Meinhard
Miegel: Deshalb plädiere ich auch erstens für eine moderate und zweitens für eine kontrollierte Zuwanderung von netto etwa 200 000 Menschen im Jahr, die drittens dank einer entsprechenden Politik auch integriert werden. |
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