Heraklit-
Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie
(1904; Disseration; veröffentlichte Version)
- Einleitung -
In dem Jonier Heraklit erreicht die
griechische Philosophie des 6. und 5. Jahrhunderts keine Schule,
sondern eine Reihe selbständiger, mächtiger, ihrer Zeit an Reife
weit überlegener und erstaunlich schöpferischer Denker, wie
sie später, als die Philosophie ihren Sitz in Athen genommen hatte,
nicht wieder aufgetreten sind ihren Gipfel. Griechenland hat niemals
gewaltigere Menschen hervorgebracht als diese, von denen einer dem andern
folgend mit Meisterstrichen ein Bild des Kosmos schuf, nichts weniger
als kritisch und mit dem Vorsatz, den Anforderungen strenger Wissenschaft
zu genügen, sondern in hoher Intuition und mit einem gewaltigen Blick
den Sinn der Welt, ihre Vergangenheit und Zukunft umfassend. In diesem
Sinne hat man ihre Leistungen zu beurteilen. An Stelle der kühlen
Strenge des Unterscheidens und Zerlegens, wie sie Aristoteles besitzt,
findet man hier, um ein Wort Goethes zu gebrauchen, die »exakte
sinnliche Fantasie«, eine Richtung auf Gestalten und Gedanken, nicht
deren abstrakte Folgerungen, Begriffe und Gesetze. Heraklit ist nicht
nur der tiefste, sondern auch der vielseitigste und umfassendste Geist
unter ihnen. Die Systeme des Anaximander, Xenophanes, Pythagoras finden
in dem seinigen verwandte Seiten. Die großen Probleme des griechischen
Denkens das Verhältnis von Form und Ding an sich, der Begriff
des Gesetzes, der Begriff der inneren Einheit alles Seins oder Geschehens,
der Ursprung des Seins, der Ursprung des Andersseins die man in
dieser Zeit entdeckte und zu naiven und kühnen Formeln verdichtete,
vereinigte er in den Grundgedanken seiner Lehre, die andern repräsentieren
sie einzeln. Es wäre unrichtig, aus diesem Grunde in Heraklit einen
Nachfolger oder Nachahmer dieser Lehren sehen zu wollen. Ob zwischen Anaximander
oder Xenophanes und ihm das Verhältnis des Meisters zum Jünger
oder eine andere engere Beziehung bestand eine Unwahrscheinlichkeit,
wenn man die geistige und politische Unabhängigkeit der hellenischen
Städte und die selbstbewußte, von der üblichen weit entfernte
Lebensführung dieser Philosophen in Betracht zieht ist eine
Frage von geringer Bedeutung. Die Möglichkeit einer mittelbaren Einwirkung
ist ja vorhanden. Aber von den zahlreichen möglichen, aus Beobachtung,
Erlebnissen, Eindrücken, Meinungen der anderen stammenden Anregungen
werden nur diejenigen gewirkt haben, die auf verwandte, im Grunde schon
vorhandene Elemente trafen. Daß Heraklits Unabhängigkeit niemals
in Frage gestellt worden ist, darf man aus seinem Charakter mit großer
Gewißheit schließen. Wenn sich eine ähnliche Richtung
im Denken jener Philosophen beobachten läßt (wie die Gleichheit
des Ausgangspunktes und die parallele Behandlung gleicher Fragen), so
folgt dies aus der organischen Einheit des geistigen Lebens innerhalb
einer umgrenzten Kulturepoche, wie es die Geschichte häufiger zeigt.
(Die ataraxia als Basis aller ethischen
Lehren im 3. Jahrhundert, das Problem der Methode bei Bacon, Descartes,
Galilei.) (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über
den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 1-2).
Der
Gedanke, in dem Heraklit eine neue Auffassung des kosmischen Daseins gab, ist
ein energetischer: der eines reinen (stofflosen), gesetzmäßigen Geschehens.
Die Entfernung dieser Idee von der Anschauung anderer, und zwar gleichmäßig
der Jonier, Eleaten und Atomisten, ist eine außerordentliche. Heraklit ist
mit ihr unter den Griechen völlig einsam geblieben; es gibt keine zweite
Konzeption dieser Art. Alle andern Systeme enthalten den Begriff der substantiellen
Grundlage (archae, apeiron, to pleon, hylae, to plaeres, und auch Platos
Erscheinungswelt ... im Gegensatz zur Ideenwelt ...), und die Stoa, die sich später
Heraklits Worte und Formeln aneignete, mußte sie erst mit demokritischem
Geist erfüllen, um sie dem Zeitalter annehmbar zu machen. Daraus vor allem
erklären sich die häufigen Mißverständnisse in der Auffassung
dieser Lehre, nicht weil sie uns ungenügend bekannt ist, sondern weil sie
im Gegensatz zu der uns geläufigen Denkweise steht. Die Geschichte der Heraklitforschung
zeigt, wie man, um sich einen schwierigen, fremdartigen Gedanken zu assimilieren,
mangels einer angemessenen modernen Ausführung der Idee auf alle möglichen
andern zurückgreift, um sich an bekannte Begriffe und Anschauungen halten
zu können. Man darf zweifeln, ob irgendeine der möglichen Erklärungen
noch nicht versucht worden ist. Heraklit erscheint als Schüler des Anaximander
(Lassalle, Gomperz), des Xenophanes (Teichmüller), der Perser (Lassalle,
Gladisch), der Ägypter (Tannery, Teichmüller), der Mysterien (Pfleiderer),
als Hylozoist (Zeller), Empirist und Sensualist (Schuster), »Theologe«
(Tannery), als Vorläufer Hegels (Lassalle). Sein großer Gedanke gleicht
der Seele Hamlets: jeder versteht ihn, aber jeder anders. (Oswald
Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken
seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 2-3).Der
Versuch, die Ideen eines Philosophen, dem die scharfe, durch lange Übung
geschulte Ausdrucksweise einer hochentwickelten Wissenschaft unbekannt war, ohne
diese Genauigkeit zu beurteilen, führt nicht zum Ziele. Teichmüller
(Bd. I, S. 80) sagt: »Wer bei Heraklit exakte Begriffe sucht, gibt sich
unnütze Mühe. Bei Heraklit bestand die Philosophie nur in einer
allegorischen Verallgemeinerung einiger auffallender Tatsachen. Wollten
wir schärfer bestimmen, so würden wir Heraklits Denkweise zerstören.«
Eine Folge dieser Auffassung ist es, wenn man durch ungenügende Feststellung
der Begriffe und unhaltbare Analogien zu den schwersten Irrtümern kommt.
Ein Beispiel ist die Anwendung des Begriffs arch,
den Anaximander für seine Philosophie geschaffen hat und der nur innerhalb
des Hylozoismus einen Sinn hat, auf andere, auch Heraklit, in dessen System er
ganz gegenstandslos ist. Man muß vorsichtig, sogar skeptisch sein nicht
nur in der Erklärung der griechischen Gedankenelemente an sich, sondern vor
allem in ihrer Abgrenzung gegen die modernen. Wir dürfen nicht vergessen,
daß unsere Grundbegriffe das Ergebnis der ganzen Entwicklung der neueren
Philosophie seit dem 16. Jahrhundert sind und nur in diesem Ideenkreis eine unbedingte
Geltung haben. Den innerhalb so verschiedener Kulturen, wie es die antike und
die neuere sind, entstandenen Gedankenkomplexen, die sich schon durch die verschiedene
Auffassung vom Wesen der Wissenschaft überhaupt unterscheiden, entsprechen
beiderseits durchaus eigentümliche Begriffe. Selbst ein so naheliegender
wie der Begriff Materie ist bei Demokrit und in der modernen Naturwissenschaft
nicht derselbe; dort liegt z.B. die Ursache der Bewegung im Wesen der Materie,
hier ist sie als an den Äther gebundene Energie ein selbständiger Faktor
außerhalb. (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über den
energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 3-4).Eine
andere Schwierigkeit liegt darin, daß Heraklit zwar seiner Anschauung gewiß
war, ihr aber sprachlich nicht immer einen angemessenen Ausdruck gab. Nicht nur
der Mangel einer wissenschaftlichen Sprache mit zweckmäßig geschaffenen
Ausdrücken, auch nicht das Fehlen einer regelrechten Polemik unter diesen
Philosophen, die zu einer scharfen und vorsichtigen Ausdrucksweise gezwungen hätte,
sind der wichtigste Grund dafür, sondern die Unmöglichkeit, eine neue,
dem Augenschein widersprechende Erkenntnis der Natur mit den gewohnten, unter
andern Eindrücken und Meinungen entstandenen Wortsymbolen zu geben. Goethe,
dessen Ansichten über die Natur von einem ähnlichen Geist getragen waren,
bemerkte diese Grenze wohl. »Alle Sprachen sind aus naheliegenden menschlichen
Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allgemein menschlichen
Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über
das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht
seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen
Dingen durchaus Fernliegendes auszudrücken. Er muß bei seiner
Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets nach menschlichen
Ausdrücken greifen, wobei er denn fast überall zu kurz kommt, seinen
Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet.« (Eckermann,
Gespr. mit Goethe III, 20. Juni 1831.) (Oswald Spengler, Heraklit - Eine
Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in:
Reden und Aufsätze, postum, S. 4-5).
Eine Darstellung der gesamten Lehre Heraklits ist durch den Verlust seiner
Schrift unmöglich geworden. Es soll hier lediglich eine Entwicklung des Prinzips
versucht werden, das dieser Denker zur Grundlage seines Weltsystems machte und
das mit wenigen Worten in eine Formel zu bringen ist: panta
rei, die Idee eines reinen gesetzmäßigen Werdens. Es liegt
in den Worten, daß die Ausführung nach zwei Seiten zu erfolgen hat:
das Werden selbst und sein Gesetz. Diese Trennung ist eine rein methodische. Ihr
entspricht, wie betont werden muß, durchaus nicht eine dualistische Gliederung
des heraklitischen Kosmos. Alle im folgenden erwähnten Gedanken sind ein
und dasselbe Grundprinzip, das, als Einheit konzipiert, in den Fragmenten (und
bei der aphoristischen Schreibweise Heraklits vielleicht schon in seinem Buche)
nur in einer Anzahl verschiedener Darstellungen, wie sie der Fantasie eines leidenschaftlichen
künstlerischen Menschen entsprangen, erhalten geblieben sind. (Oswald
Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken
seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 5).Es
wäre für das Verständnis dieser Lehre ein Hindernis, wenn uns die
Kenntnis der großen und tragischen Persönlichkeit Heraklits verlorengegangen
wäre. Wir könnten nicht verstehen, weshalb dieser Philosoph den ????,
die vornehmste Sitte seiner Zeit, zur Sitte des Kosmos machte, was er mit dem
Feuer meinte, dem er eine herrschende Rolle im Weltall zuschrieb. Seine Lehre
ist selbst für diese Zeit und für einen Griechen in ungewöhnlichem
Grade persönlich, ohne daß von ihm selbst viel die Rede wäre.
(Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken
seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 5).Wir
sehen einen Menschen, dessen ganzes Fühlen und Denken unter der Herrschaft
einer ungezügelten aristokratischen Neigung stand, die durch Geburt und Erziehung
stark angelegt und durch Widerstand und Enttäuschung gereizt und gesteigert
war. Hier ist der letzte Grund für jeden Zug seines Lebens und jede Besonderheit
seiner Gedanken zu suchen. Noch in der energischen Konzentration des Systems,
in dem Vermeiden und Verschmähen aller Einzelheiten und Nebensachen, dem
Niederschreiben in kurzen, starken, ihm allein geläufigen Wendungen erkennen
wir die Hand des Aristokraten. (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie
über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 5-6).Der
hellenische Adel, dessen Untergang in dieser Zeit sich vollzieht, hat die bedeutungsreichste
und schönste Periode der hellenischen Kultur geschaffen. Er hat durch seine
Sitte für alle Zeit den Typus des vollkommenen Hellenen festgestellt, eine
unvergleichlich hohe und edle Kultur des einzelnen Menschen; er vertrat nicht
nur Rechte oder Interessen, sondern eine Weltanschauung und eine Sitte (Burckhardt).
Es war eine stolze, glückliche, herrschaftliebende und -gewöhnte Kaste,
stolz auf das Blut, den Rang, die Waffen, die »Antibanausie«; sie
war im Alleinbesitz des Geistes und der Kunst. Man kann die ungeheure ethische
Macht der Kaste und ihrer Lebensauffassung über den Geist des einzelnen begreifen.
Sie selbst konnte untergehen, aber wer einmal in ihrem Banne stand, vermochte
sich ihr nicht wieder zu entziehen. Heraklit besaß ihr ganzes Selbstbewußtsein
und ihren Stolz, eine starke, ungewollte, jeder Reflexion über sich selbst
fremde Vornehmheit; er hängt mit Leidenschaft an ihren tapfern, gesunden,
lebensfrohen Sitten, am Kampf, am Streben nach Ruhm. Dieser stolze unbeugsame
Mann liebte den Unterschied von Herrschenden und Gehorchenden, er hatte Ehrfurcht
vor den althergebrachten Sitten und Institutionen, die der Demokratie nicht mehr
heilig waren. Er war ein zu tiefer Menschenkenner, um den Menschen seiner Zeit
schlechthin, unter Absehen von Geburt und Rang, zu beurteilen. Er glaubte an den
homerischen Unterschied der aristoi der Menschen
von großer und vornehmer Lebensauffassung, und der Masse, an der er mit
spöttischem Scharfblick die Mängel des Standes entdeckt. Er läßt
sich nicht auf Angriffe und Auseinandersetzungen mit dem demoV
ein, das verbieten ihm sein Geschmack und die Selbstbeherrschung, die eine der
ersten Tugenden des vornehmen Griechen war; ohne Wut, ohne Ausfälle beurteilt
er das Volk von oben herab, kalt, boshaft, mit Verachtung und Ekel, zuweilen durch
eine sarkastische Bemerkung den aufsteigenden Groll verbergend. (Oswald
Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken
seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 6-7).
Vergessen wir endlich einen wesentlichen Unterschied nicht, der
Heraklit und die ganze griechische Philosophie von der neuern trennt.
Das Volk, dessen Erzieher Gymnastik, Musik und Homer waren, das für
die Welt das Wort kosmoV erfand, weil
es in ihr vor allem den Sinn der Ordnung und Schönheit sah, behandelte
die Philosophie nicht eigentlich als Wissenschaft (abstrakt wissenschaftliche
Untersuchungen sind immer dem metaphysischen Endzweck untergeordnet worden),
sondern als den Weg, ein Weltbild zu schaffen, das ihm seine Stellung
im All zu übersehen erlaubte, und als eine Gelegenheit, seine Freude
am Formen zu betätigen. .... Heraklit ist der bedeutendste Künstler
unter den Vorsokratikern. Davon zeugt nicht nur das satte und farbenreiche
Pathos seines Stils, sondern vor allem die geniale Plastik seiner Darstellung.
So wirkt er, ohne allerdings darauf zu spekulieren: Er sieht
seine Ideen, berechnet sie nicht. .... Heraklit darf als Realist bezeichnet
werden, trotzdem er leicht für das Gegenteil zu nehmen ist. ....
Der Stil des Denkens und die Lehre selbst sind verwandt. .... Sein Denken
hat einen wahren Imperatorenstil .... Nur die großen, grundlegenden
Ideen sind ihm des Nachdenkens wert, bei einer ausgesprochenen Abneigung
gegen eigentlich wissenschaftliche Detailforschung. .... Das Sammeln von
Tatsachen, ohne Überblick und Verständnis, ist ihm verhaßt.
.... (Er hat )... nicht im bescheidensten Sinn didaktisch, geschweige
denn populär zu wirken versucht ..., (sondern wegen) seiner menschenverachtenden
Weltanschauung .... (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie
über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in:
Reden und Aufsätze, postum, S. 9-12).
A. Die Reine Bewegung
1. Erste Formulierung: Panta rei
- 1.1. Der Kosmos als Energieprozeß -
Der Grundgedanke, auf den Heraklit seine Anschauung des Kosmos
gründete, ist in dem berühmt gewordenen panta
rei bereits vollständig enthalten. Der bloße Begriff
des Fließens (der Veränderung) ist aber zu unbestimmt, um die
feineren und tieferen Abstufungen dieses Gedankens erkennen zu lassen,
dessen Wert nicht darin liegt, eine bloße Verschiedenheit der sich
folgenden Zustände der sichtbaren und greifbaren Welt zu behaupten,
die niemand bezweifelt. Gleich am Anfang ist der wichtige Unterschied
hervorzuheben zwischen der Vorstellung, die Heraklit von dem Verlaufe
und dem innersten Charakter des Weltgeschehens selbst hatte, von dem er
sagte, daß er unsrer Wahrnehmung nicht zugänglich sei, und
dem Anblick, den die Welt der Dinge, die wir folgerichtig als Erscheinung
dieses Geschehens und seine Wirkung auf die Sinne aufzufassen haben, uns
darbietet. Legt man diese kantische Unterscheidung, die Heraklits Lehre
praktisch zweifellos enthält, obwohl sie in den Bruchstücken
seiner Schrift nicht grundsätzlich getrennt erscheint, zugrunde,
so vermeidet man einen der häufigsten Mißgriffe in der Beurteilung
dieser Lehre. (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über
den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 13).
Will man das Geschehen in der Natur auf die ursprünglichsten
Elemente zurückführen, so bleibt der Begriff der Veränderung
noch mehrerer Auffassungen fähig. Man kann ein Substrat mit der einzigen
Bestimmung der Beharrlichkeit annehmen, dann erscheint die Veränderung
als die Art, wie das Beharrende in jedem Augenblick existiert. Kant bezeichnete
von diesem vorsichtigen und unangreifbaren Standpunkte aus den Satz, daß
die Substanz beharre, als Tautologie. »Denn bloß diese Beharrlichkeit
ist der Grund, warum wir auf die Erscheinung die Kategorie der Substanz
anwenden, und man hätte beweisen müssen: daß in allen
Erscheinungen etwas Beharrliches sei, an welchem das Wandelbare nichts
als Bestimmung seines Daseins ist.« (Krit.
d. r. Vernunft, S. 177). Um zu einer einfachem und anschaulichen
Vorstellung zu gelangen, fügt man meist zu jenem Merkmal des Substrats
noch die der Raumerfüllung, Undurchdringlichkeit und qualitativen
Beständigkeit und erhält so den Begriff der (körperlich
gedachten) Materie, worauf sich deren Veränderung nur noch
als eine räumliche denken läßt. Dieser demokritische Begriff
der Verschiebung von Massenteilen (perifora)
den auch die neuere Naturwissenschaft enthält, liegt nicht im panta
rei. Es ist möglich, den Begriff eines Substrats überhaupt,
sei es als das im Wechsel der Erscheinungen Beharrende (das sich physikalisch
als das unveränderliche Verhältnis der auf einen Körper
wirkenden Kräfte zu den daraus folgenden Beschleunigungen beschreiben
läßt), sei es als eigentliche Materie, fallen zu lassen, wodurch
der Begriff der Veränderung (des Werdens, Fließens) einen neuen
und reichern Inhalt erhält. (Oswald Spengler, Heraklit -
Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 13-14).
- 1.2. Das Feuer -
Heraklit erwähnt das Feuer in einer Weise,
die uns zwingt, es als Sein, als Zustand zu denken; es gibt also selbst für
ihn in der Welt der Erscheinungen Zustände im wesentlichen mit den
Aggregatzuständen zusammenfallend , die in diesem System, wo der Begriff
der Substanz abgewiesen wird, eine Erklärung herausfordern. Die Tatsache,
daß es in der Natur scheinbar Zustände der Ruhe gibt (aus denen die
Annahme von beharrenden Substanzen erst entstand), kann nicht bestritten werden.
Heraklit erwähnt sie (vgl. Fr. 21) und schreibt sie dem Trug der Sinne zu.
Dem Auge ist es verwehrt, das Werden und Fließen zu sehen (vgl. Fr. 54 und
123). Es erscheint dem Menschen unter mehreren typischen Gestalten, Formen der
sinnlichen Erscheinung (es sind bereits die Elemente des Empedokles), die untereinander
wechselnd und von vorübergehendem Dasein sind. Sie haben eine rein subjektive
Realität. Man sprach früher von Licht, Wärme, Elektrizität
als von Naturkräften. Heute bezeichnet man sie in ähnlicher Absicht
als Formen der Energie, indem man stillschweigend annimmt, daß sie als Erscheinungsformen
der »Energie an sich«, jener unerkennbaren Ursache des Geschehens
gelten sollen. So denkt sich Heraklit das Feuer, das Meer, die Erde und den Sturm
Dinge, die nur scheinbar das Sein und die Dauer haben, die sie dem erkennenden
Geist einreden möchten, und die, dem Auge entrückt, nichts mehr sind
als ewiges ruheloses Fließen und Werden, eins wie das andere. (Oswald
Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken
seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 20-21).Damit
ist der Begriff des Feuers gegeben: eine Erscheinungsform des kosmischen Prozesses,
aber noch nicht seine Bedeutung. Heraklit zeichnet diese Naturerscheinung, die
an sich nichts vor den andern voraus haben sollte, in einer geheimnisvollen Weise
aus. Um dieser hohen Bedeutung willen konnte man glauben, hier den Hauptpunkt
der ganzen Lehre gefunden zu haben; auch der hierin liegende Gedanke ist vielen
Mißverständnissen ausgesetzt gewesen. Die Auffassung des Feuers lediglich
als Symbol der Veränderung darf als abgetan gelten; eine verdunkelnde Symbolik
sagt man bei diesem Philosophen nicht mehr. (Oswald Spengler, Heraklit
- Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 21-22).
Heraklit stellte das Feuer ... in den Mittelpunkt. Der Grund dieser
Wahl ist in dem weniger wissenschaftlichen als künstlerischen Charakter
seines Denkens zu finden. Ihn leitete hier dasselbe Gefühl, welches
das Feuer und die Sonne zu allen Zeiten zum Gegenstand religiöser
Verehrung gemacht hat. Dieses geheimnisvollste, edelste, reinste aller
Naturphänomene erschien dem Menschen einer ferngelegenen Zeit als
etwas Heiliges, und Heraklits ehrfürchtige und für das ästhetisch
Eindrucksvolle empfängliche Natur entzog sich diesem Eindruck nicht.
Er sah hier am reinsten den Charakter des Ruhelosen dargestellt
(Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen
Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 23).
In Heraklits Meinung ist dem Weltall, der erhabenen Natur, die
erhabenste, reinste, edelste Gestalt angemessen und natürlich; der
Kosmos ist mithin nur dann im Zustande der Vollkommenheit, wenn das Wenden
ausschließlich die Gestalt des Feuers angenommen hat, ein Zustand,
der im Lauf der Zeiten regelmäßig wiederkehrt (Fr. 30, 66).
Alle andern Gestalten (das Feste, Flüssige, Luftartige) erscheinen
im Vergleich zu der Schönheit und Gewalt dieser als minderwertig.
(Vgl. Fr. 65.; Teichmüller [I S. 136 ff.] sieht hier mit Recht eine
Andeutung und Abart derjenigen griechischen Idee, die in der Entelechie
des Aristoteles, dem Wege vom Potentiellen zum Aktuellen, ausgebildet
erscheint.) (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über
den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 24).
- 1.3. Panta rei als formales Prinzip der organischen Natur -
Wir kommen auf das andere, man kann sagen äußere Anwendungsgebiet
des heraklitischen Bewegungsprinzips, die sichtbaren und handgreiflichen
Veränderungen in der Natur, die uns umgibt. Der in der Formel panta
rei enthaltene Grundgedanke tritt hier auf als formales Prinzip
des Lebens und Geschehens jeder Art. Wir haben also zwischen dem nie erkennbaren
Hintergrund der Dinge, dem eigentlichen Werden und Wirken, und seiner
äußern Erscheinung als Welt der Sinne zu unterscheiden. Die
Anwendung auf das letzte Gebiet ist die von allen anerkannte und leicht
begreifliche, meist allein unter panta rei
verstandene. (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über
den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 24-25).
Alle Schöpfungen der Kultur, Staat, Gesellschaft, Sitten,
Anschauungen, sind Produkte der Natur; sie unterliegen denselben Bedingungen
des Daseins wie die übrigen, dem strengen Gesetz, daß nichts
bleibt und alles sich verändert. Es ist eine der größten
Entdeckungen Heraklits, diese innere Verwandtschaft von Kultur und Natur
bemerkt zu haben. Der Widerstand und Ausgleich entgegenstehender Spannungen
bedeutet dasselbe für das energetische Geschehen, was der Krieg für
das Dasein der Menschen. (Fr. 8: panta kat erin ginesqai.)
Der Krieg rechtfertigt die aristokratische Rangordnung, die Heraklit liebte.
Es kann keine ewigen und bleibenden Verhältnisse geben, Götter
und Menschen, Freie und Sklaven sind dem Gesetz einer notwendigen Wandlung
unterworfen (Fr. 53). Heraklit wußte genau, daß die Aristokratie
damals in Griechenland untergehen mußte. (Oswald Spengler,
Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner
Philosophie, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 27-28).
Es kann in diesem Chaos der
Verwandlungen keine bleibenden Werte geben; das ist die letzte Folge einer
solchen Anschauungsweise. Diese Erkenntnis, gegen die sich der Geist am
längsten wehrt, vertrat Heraklit nachdrücklich. Wir haben ein
vollkommen zu Ende gedachtes System des Relativismus vor uns. In der Tat:
wo es keinen Stillstand und Ruhepunkt gibt, können die Begriffe der
Ethik und Ästhetik nur für den einzelnen geltend und nur von
Fall zu Fall angewandt werden. So ist es mit den Wertschätzungen
körperlicher Schönheit (Fr. 82, 83), der Klugheit (nhr
nhpioV hkouse proV daimonoV okosper paiV proV androV Fr. 79), des
Kostbaren, Angenehmen, Nützlichen (onouV surmat
an eluqai mallon h cruson Fr. 9; Fr. 37, 58, 61, 110111).
Die Werte und Eigenschaften der Dinge liegen zwischen zwei Extremen und
sind nur einer subjektiven Anwendung fähig. (Oswald Spengler,
Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner
Philosophie, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 28).
2. Zweite Formulierung: Der Kampf
der Gegensätze
Wir lernten den Gedanken der reinen Bewegung in der Fassung panta
rei kennen. Es gibt noch eine zweite Gestalt desselben Gedankens,
die sich nur durch den veränderten Standpunkt des Beobachters unterscheidet.
Man kann den gesamten Prozeß des Geschehenden als Einheit sich vorstellen;
dann erhält man den Eindruck des Anfangs- und Endlosen, des Mangels
an einem Ruhe- und Anhaltspunkt, des Flusses im eigentlichsten Sinne.
Wir können dann denselben Prozeß hinsichtlich seiner einzelnen
Phasen im Nebeneinander und Nacheinander betrachten und
die reihebildenden Einzelzustände ihrem wechselseitigen Verhältnis
nach vergleichen. Diese Ausschnitte aus dem ununterbrochenen Ablauf des
Geschehens (die Dinge, Zustände, Eigenschaften der Dinge sind solche),
subjektiv herausgehoben, sind verschiedener Art, schließen sich
aus, stehen im Gegensatz zueinander. In diesem geistigen Akte liegt der
Ursprung des Gegensatzes; er entsteht durch Vergleich; ein Gegensatz kann
nur in dem Verhältnis des einen zu einem andern gleichfalls gegebenen
Faktor liegen. Wir haben gesehen, wie der Satz: panta
rei einer zweifachen Anwendung fähig war. Die Lehre von den
Gegensätzen folgt dem nach. (Oswald Spengler, Heraklit -
Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 28-29).
Es wird irrtümlich behauptet, Heraklit habe die Gegensätze
geleugnet oder für identisch erklärt (Lassalle II S. 266). Im
Gegenteil, Heraklit hat die Gegensätze betont, schon weil er ein
Aristokrat war, der das »Pathos der Distanz« im höchsten
Maße besaß und dem es gar nicht einfiel, Unterschiede abschwächen
oder bestreiten zu wollen. Er redet nicht von einer Identität der
Gegensätze eine contradictio in adjecto , sondern
von einer Identität der Herkunft und des relativen Charakters der
Gegensätze. Nicht der Gegensatz, sondern seine objektive Realität
wird bestritten. (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über
den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 29).
Die Gegensätze sind nicht nur zu ihrem wechselseitigen Dasein
notwendig; sie haben eine für den Weltprozeß im ganzen entscheidende
Bedeutung. Ohne vorhandene Differenzen ist ein Geschehen (das in dem Streben
nach Ausgleich besteht) undenkbar. Einer der ersten Sätze der Energetik
lautet: »Damit etwas geschieht, ist es notwendig und zureichend,
daß nicht kompensierte Intensitätsdifferenzen der Energie vorhanden
sind.« (Ostwald, Chem. Energie, S. 48.) Damit vergleiche man Heraklits
Worte: ... (Fr. 80) ... (Fr. 125). Der Pythagoräismus, der in seiner
das Metrische und Formale hervorhebenden Richtung mit Heraklit parallel
geht, gelangt zu einer ähnlichen Einsicht: ... (Arist. Metaph. I,
5. 986 b. 9). (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über
den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 31).
Heraklit setzt allerdings eine große ästhetische Begabung
voraus, um die Harmonie als solche nicht nur zu bemerken, sondern zu genießen;
zu schauen, wie teuer der Mensch das Beste seiner Kultur mit Leiden und
Grausamkeiten erkaufen muß. (Oswald Spengler, Heraklit
- Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 34).
Nach Heraklit ist der Kosmos ein reines und ewiges Geschehen.
Die einzige Konstante in diesem Prozeß ist das Maß.
(Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen
Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 35).
B. Das formale Prinzip
I. Die Idee der Form überhaupt
Die allgemeine oder richtiger die naive und ursprünglichere
Auffassung der Dinge richtet sich auf ein Begreifen der Substanz, ihres
innern Wesens. Erst eine fortgeschrittene Analyse des Erkenntnisvorganges
lehrt, daß die Welt, die wir wahrnehmen, eine Schöpfung der
Sinne, und daß die Vorstellung des Stoffes (und der Energie) selbst
Gebilde unseres Denkens sind. Damit gewinnt ein anderes Element der Erscheinung
an Wert, die Form oder das mathematische Verhältnis. Man macht sich
durch die Vorstellung einer Substanz und der in ihr gedachten Eigenschaften
ein Bild von der inneren Struktur der Dinge, um die Naturvorgänge
restlos zu erklären. Nachdem man einmal erkannt hat, daß es
unmöglich und selbst widersinnig ist, die Natur auf diesem Wege aufzuschließen,
wird man überhaupt darauf verzichten, eine sichtbare Darstellung
ihrer innersten Beschaffenheit zu geben. Es liegt dann nahe, das wichtige
und bezeichnende der Erscheinung in ihrem mathematischen Maß, in
den Formverhältnissen zu finden. Es ist sogar möglich, Naturerscheinungen
rein zahlenmäßig vollständig zu bestimmen, ohne eine Hypothese
ihres »Wesens« hinzuzufügen, und damit ist auch alles
erschöpft, was sich infolge der Grenzen der Erkenntnistätigkeit
durch Untersuchung der Beziehungen der Objekte untereinander und zum Subjekt
mit Gewißheit feststellen läßt. (Ein Beispiel ist die
elektromagnetische Lichttheorie von Maxwell, die ausschließlich
durch eine Anzahl von Differentialgleichungen festgelegt ist.) Die Pythagoräer
und Heraklit haben diese wertvolle und fruchtbare Seite der Erscheinung
entdeckt und zuerst einer Beobachtung unterzogen. Bei dieser Betonung
des Formalen dem Materialen gegenüber muß noch einmal auf den
wichtigen Unterschied in der Zerlegung des in der Anschauung Gegebenen
in seine Komponenten verwiesen werden. Die materialistische Naturwissenschaft
und die meisten neuern Philosophen unterscheiden Masse und Energie als
nebengeordnete Größen wie die Substanzen Descartes' und die
Attribute Spinozas. Heraklit, die meisten griechischen Philosophen und
auch die Energetik der Gegenwart unterscheiden Substanz und Form. Substanz
ist hier als die Summe alles dessen, was uns erscheint, aufzufassen (Masse
+ Energie, wenn man will, wogegen die Summe aller Naturgesetze als »Form«
anzusehen ist. Aristoteles unterschied ähnlich ulh
und µorfh, Heraklit das »Werden«
als das Gegebene, den logos als dessen Form).
Die Substanz wird nicht in Teile oder Funktionen zerlegt, vielmehr interessiert
außer diesem schlechthin Gegebenen nur noch dessen Form, die sich
in einer Reihe (zahlenmäßiger) Beziehungen darstellt.
(Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen
Grundgedanken seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 35-36).
2. Die Form als Bedingung der Bewegung
Der Gedanke vom Wert des Maßes hat bei Heraklit eine besondere
Bedeutung. In einer Welt ohne jede stoffliche Qualität, die nichts
ist als ein unaufhörliches Entgegenstreben von Differenzen innerhalb
des Verlaufs einer Bewegung, gibt es nichts Bleibendes als das Maß.
Suchen wir das Verhältnis des Maßes zur Bewegung genau zu bestimmen,
so erhalten wir seinen Charakter als Form der Bewegung. Damit ist bereits
seine unbedingte Notwendigkeit für die Bewegung ausgesprochen. Bewegung
läßt sich ohne eine Form so wenig denken wie ein Körper
ohne Gestalt. Für dies Prinzip, das den Takt des Werdens berücksichtigt,
ist das Wort Rhythmus am geeignetsten, denn es ist sicher, daß Heraklit
vor allem das Künstlerische, Musikalische dieser Vorstellung empfand
und festhalten wollte. (Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie
über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, in:
Reden und Aufsätze, postum, S. 39).
3. Die Idee der Einheit und Notwendigkeit
Heraklits
Gedankenwelt, als Ganzes angesehen, erscheint als eine großgedachte Dichtung,
eine Tragödie des Kosmos, den Tragödien des Äschylos in ihrer kraftvollen
Erhabenheit ebenbürtig. Unter den griechischen Philosophen, Plato vielleicht
ausgenommen, ist er der bedeutendste Dichter. Der Gedanke eines seit Ewigkeiten
währenden und nie aufhörenden Kampfes, der den Inhalt des Lebens im
Kosmos bildet, in dem ein gebieterisches Gesetz waltet und eine harmonische Ebenmäßigkeit
aufrechterhält, ist eine hohe Schöpfung der griechischen Kunst, der
dieser Denker weit nähergestanden hat als der eigentlichen Naturforschung.
(Oswald Spengler, Heraklit - Eine Studie über den energetischen Grundgedanken
seiner Philosophie, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 47).
Frühzeit der Weltgeschichte
Die
Prähistoriker suchen die Epochen der menschlichen Geschichte in Museumsobjekten
- Gerät, Stoff. Ich suche sie in den Epochen des menschlichen Seelenlebens.
Das ist das Grundlegende. Alles andre ist eine Folge davon. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 1).Weltgeschichte
ist Staats-, Kriegs-, Machtgeschichte und nicht Geschichte von Stilformen und
geistigen Strömungen. Alles das wird erst historisch, wenn es politisch geformt
wird: Kirche, nicht Religion; Handel, nicht Kunstwerke, Kunst und Dichtung zählen
überhaupt nicht - sie sind eine Flucht vor der Wirklichkeit. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 1).
Ich habe im Untergang des Abendlandes die Formlehre
gegeben. Ich gebe hier die Geschichte selbst. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 1).
Einleitung: Weltgeschichte ist Austrag eines unlösbaren
Konfliktes zwischen Seele und Geist, ein Bild seelischer Zerrissenheit,
ein hoffnungsloser, selbstzerstörerischer Kampf innersten Seelenlebens,
dessen zeitliches Bild Schlachten, Könige, Religionen, Techniken
sind. Dabei ist es die Lebensmacht, die führt und sich in ihren Schlachten
des Geistes, der Religion, der Technik, der Moral bedient. Nicht
die Religionen, die Kirchen sind weltgeschichtlich, nicht die Erfinder,
sondern die politischen, wirtschaftlichen Verwerter der Erfindungen.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
1-2).
Düsteres Geheimnis: Hebbel: »Doch rühre nimmer
an den Schlaf der Welt«. Der Geist tut es das ist die große
Schuld in der Tragödie der Menschheit. Die Natur rächt sich,
indem sie die Menschen vernichtet. Denn es ist Wesen und Aufgabe des Geistes,
die Welt zu wecken; aber eben damit bricht das Verhängnis herein.
Die Natur läßt ihrer nicht spotten. Aber der Schlaf der Welt
ist ihre Schuld, gemessen an der Idee des Geistes. Das Wecken ist die
Schuld des Geistes, gemessen an der Idee der Natur Meinung Hebbels.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
9).
Was ich schreibe, ist eine Tragödie. Die Weltgeschichte
in diesem Aspekt ist tragisch: der frei gewordene Mensch im
Kampf gegen die Welt um sich, in sich, in den andren Menschen.
Der höhere Mensch ist ein Verhängnis. Er hinterläßt
mit seinen Gräbern die Erde als Schlachtfeld und Trümmerstätte.
Er hat Pflanze und Tier, Meer und Gebirge in seinen Untergang gezogen.
Er hat das Antlitz der Welt blutig gezeichnet, verstümmelt, zerrissen.
Aber es war Größe darin. Wenn er nicht mehr ist, wird sein
Schicksal etwas Großes gewesen sein. Und selig die, welche Zeiten
dieser Größe erleben, schauen können. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 9).
Historische Betrachtung ist faustische Skepsis. Es gibt Rassen
und Kulturen des Erkennens. Auch als Naturwissenschaftler erkennt man
nur in der Art von seinesgleichen und überzeugt nur Menschen der
gleichen Art. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 20).
Schicksal und Kausalität: Was Schicksal ist, läßt
sich nicht definieren, nur sehend erleben. Die meisten Menschen [sind]
zu dumm dazu. Da wird dann die Geschichte in Daten zerlegt und eins als
Ursache, das andre als Wirkung bezeichnet. Wer das tut, weiß nicht,
was Geschichte ist. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 20-21).
Mussolini [ist] Schicksal. Keine Wirkung. Tragisch. Die ganze
Menschheit ist eine Tragödie. Dem Tropf, der kausal denkt, erscheint
die Geschichte sinnlos. Sie hat aber einen Sinn, an dem die kleinen menschlichen
Maßstäbe und Wertungen Recht, Unrecht lächerlich
werden. Die Geschichte hat noch nie auf dergleichen Rücksicht genommen.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
21).
Was mit dem Menschen geschieht und wie der Mensch Geschichte macht
(cd) seine Weltgeschichte , indem er seines Horizonts,
seiner Lage, Ziel [und] Mittel bewußt wird und damit vom
Schicksal in seiner Seele getrieben wird. Diese bewußte Geschichte
beginnt mit der Sprache. Unterschied zwischen den großen Individuen
und der Menge: die Großen haben den größeren physiognomischen
Blick der Tatsache, aber sie stehen trotzdem im Dienste des Schicksals.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
21).
Der echte Staatsmann und Historiker fühlt sich als Element
des Stromes der Wandlung, der unabänderlich strömt. [Politik
ist] Kunst des Möglichen. Sich selbst als Element fühlen (Napoleon).
Bejahung des Schicksals, amor fati. Der Systematiker, der Ketten von Ursachen,
Zahlen, Gesetzen konstruiert [und] statt zu schauen, kritisch zerlegt,
glaubt die Kette der Ursachen ändern zu können Ideologie,
Utopie. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 21).
Der große Geschichtsschauer bildet sich die ganze Systematik
(Zahl, Daten, Theorie), ohne ihr zu erliegen. Als Mittel zur Verdeutlichung
des Geschauten. Der Sammler und Ordner von Daten und Zahlen kommt nie
aus dem kahlen Schema heraus zu einem Schauen des Wirklichen, des lebendigen
Wandelns. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 21).
Data des Raumes (Zahl, Statistik, Chronologie, Karte, Tabelle)
sind nur Ausdrucksmittel, nicht Selbstzweck. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 22).
Man kann Geschichte des Lebens biographisch oder welthistorisch
nur bildhaft schildern, im Nacheinander oder [in] künstlerischer
Gruppierung (Untergang des Abendlandes). (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 22).
Was ist Kultur? Leben als Einheit, Menschenleben vor
allem eine Einheit. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 22).
Kulturen [sind] die organischen Exemplare der Gesamtheit Menschenleben.
Ihre innere Form: Jugend, Alter, Dauer (1000 Jahre), Tempo. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 22).
Die konkreten Formen dieser Schicksale [sind] nicht vorauszusehen,
aber das Ende der inneren Gestalt ist sicher. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 22).
Die Zahl tötet das Leben aus Angst Berechnenwollen
Orakel, Prophezeiung, Horoskop. Chronologie darf nie Hauptsache,
Schema werden. Der echte Historiker und Staatsmann sieht die Gestalt des
Kommenden unwiderruflich voraus (Kunst des Möglichen), der Systematiker
sieht nichts. Deshalb rechnet er, und immer falsch. Ihm fehlt die lebendige
Zeit. Er spekuliert raumhaft, zeitlos, gesetzhaft. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 22).
Die Angst des Systematikers will Daten und Regeln entdecken, um
dem Schicksal zu entgehen. Der Physiognomiker hat Ehrfurcht vor dem Schicksal.
Er will es bildhaft andeuten, nicht umgehen. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 22).
Kultur ist unbewußte Verwirklichung des Möglichen,
Drang, nicht Entschluß. Alle Kulturformen entstehen unwillkürlich.
Kein Volk schafft Kultur, sondern wird von der Kultur geschaffen. Die
Volkstypen sind wie Kunstwerke und Denkweisen Ausdruck der Kulturen, Symbole.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
22-23).
Wer denkt oder malt oder dichtet, will bewußt nur schaffen;
wie es wird, tut eine Macht in ihm, die ihn treibt. Es neben
Ich. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 23).
Allzu großes Bewußtsein des Gewollten tötet das
Schöpfertum. Es bleibt nur Kritik, Selbstkritik. Man weiß,
wie es werden sollte, aber kann es nicht machen. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 23).
Nachtrag: Wie in jeder Kultur das Denken sich analog entwickelt,
indem der eigne und einzige Blick in die Welt sich sprachlich geistig
in Formen herausstellt, die gleichartig ablaufen, am verborgensten in
der jeweiligen Logik, die für den ersten Blick allgemein menschlich
ist. Was grundverschieden ist, ist das Entscheidende, wirklicher als alle
Einsichten, nämlich die Methode des Sinnens, Forschens, Schauens:
die antike, chinesische, ägyptische Methode sind das Urphänomen.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
23).
Ein Mensch der großen Tat, wie Napoleon, der in Augenblicken
einer schweren Entscheidung schwankt und Zweifel hat, erlebt den Punkt,
wo das Denken von Ursache und Wirkung sich als wesenlos erweist und das
Schicksal sich enthüllt. Dann hilft kein Denken mehr, nur der Instinkt,
der Glaube an den Stern. (Oswald Spengler, Frühzeit der
Weltgeschichte, postum, S. 23).
Der Schaffende fühlt sich frei. In jeder Tat liegt Freiheit.
Jede Tat, auch die mißlingende, ist dem Wesen nach ein Sieg des
freien Willens. Nur der Tatenscheue, der Denker, Priester, Tüftler,
kennt diese wirkliche Freiheit nicht. Ihm wird das Wort zum Problem, wie
alle Wirklichkeit. Aber das spricht nur die Unnatur seiner Existenz aus.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
23).
Seele ist ein Stück Geschichte, ein Sichregen
in Form: Charakter heißt das. Aber Charakter gibt es
von einzelnen, Völkern, Ständen, Kulturen und schließlich
vom geschichtlichen Menschen überhaupt: Alles das [sind] seelengeschichtliche
Ströme von Ort, Dauer, Tempo und Art. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 24).
Die Geschichte selbst (die öffentliche, die Weltgeschichte)
ist nichts als der sichtbare, fühlbare, erlebbare Ausdruck dieser
geheimen Geschichte. Seelengeschichte und Weltgeschichte verhalten
sich wie Wollen und Tun, Drang zum Zeichen und Zeichnen, Zorn und Schlag.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
24).
Aber wann beginnt in dieser Geschichte des Seelenanstiegs das
Distanzgefühl? Unter Tieren von Rasse [ist es] vorhanden, aber als
Trieb der Zugehörigkeit. Unter Menschen aber endlich bewußt,
begriffen und deshalb in furchtbarer Tiefe wirksam. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 24).
In allen Hochkulturen [ist es] schon alt. Aber wann entsteht das?
Die erlesenen Typen des herrischen und heiligen Bewußtseins, heute
als soziale und geistige Überlegenheit empfunden und nachgeäfft.
Aber Kultur ist beinahe nichts andres als Distanz. Sie ist paucorum hominum.
Die meisten müssen für die Ziele der wenigen arbeiten
in Politik, Religion, Kunst , sonst entsteht nichts. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 24).
Ideen, die nicht Interesse und Leidenschaften vitaler Art hinter
sich haben, bleiben Literatur. Das Christentum kam nur auf, weil es das
Feldzeichen der Armen, des Pöbels, der Rassefremden war, das Luthertum
ebenso als Waffe der Bauern, Zünfte, Städte, Fürsten, die
Idee von 1789, die von Marx ebenso. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 24).
Der Geist spielt in der Geschichte keine Rolle, nur die Triebe.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
24).
Die Geschichte schildert das menschliche Herz (Napoleon). Dagegen
sind die Gedanken, auch die ewigen, alle Jahrhunderte anders. Und was
eine Religion oder ein Denker als Sinn, Bestimmung des Menschen
und der Geschichte hinstellt, ist bloß der Geschmack
seiner Zeit. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 25).
Der Mensch als Sinn der Welt! Welche Überhebung! Dies zerbrechliche
Geschöpf, das für 5000 Jahre Geist hat und dann
daran zugrunde geht! Der Mensch ist ein Teil, ein Element der Welt, wie
Pflanze, Gesteine, Wolken. Daß er sich selbst wichtig vorkommt,
ist begreiflich. Jeder Hund und Frosch tut das und sieht seine Welt in
bezug auf sich. Das ist ein primitives Vorurteil. Der reife Mensch sieht,
wie zufällig, überflüssig seine Art in der Welt ist.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
25).
Zeitalter des keimenden, reifenden, herrischen Geistes. Also in
den höchsten Fällen Unbewußtheit und Ahnung, Schauder
der Schwermut und Angst, Orgien des lärmenden Triumphes und stillen
Ekels. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 25).
Überhaupt [ist die] Geschichte der Menschheit
die Tragikomödie des Geistes, der den Menschen auf die Galeere der
Ursachen und Zwecke schmiedet, im Morgengrauen wundervoll, Regungen eines
schönen Kindes, Spiele des Geistes, dann versengend, Samum, unter
den Sanddünen seiner Errungenschaften das Leben begrabend.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
25).
Einleitung: Es folgt aus dieser Art, Geschichte zu sehen, daß
der Geist und die Ergebnisse seines Grübelns darin keinen Platz haben.
Diese Ergebnisse sind praktisch wichtig genug, aber das hängt nicht
davon ab, ob sie wahr oder falsch sind. Und in
jedem Falle ändern sie nur die äußeren Formen des Geschehens,
nicht seinen tieferen Sinn. Wenn der Dolch [des Brutus] danebengestoßen
hätte, wäre die Geschichte anders geworden. Wenn Newton nie
gelebt hätte, hätte sich nichts geändert. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 25-26).
Was an Größe in der Geschichte liegt, sind die mächtigen
Leidenschaften von Rassen, von Völkern, Familien, Ständen, von
einzelnen. Was sie kosten, Ströme von Blut, den Brand von Städten,
Trümmer, ist nicht zu teuer. Und erst, wenn die öde Vernunft
aus den Städten überquillt, wie eine schmutzige Flut, mit Menschlichkeit,
Friede oder dem Streben, den Pöbelmenschen mit dem Glück der
meisten: Bequemlichkeit, Vergnügen, Brot und Bier zu erfüllen,
legt sich eine unermeßliche Langeweile über die Welt, so daß
die Menschen von Leidenschaft in andre Erdteile fliehen, Verbrecher werden,
Selbstmord begehen oder diese Welt in Trümmer schlagen.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
26).
Die ursprünglichste Form menschengeschichtlichen Denkens
ist in Atlantis und Kasch die religiös-kalendarische Fixierung; groß
gedacht hat erst die Heldenkultur: Der Ursprung echten Geschichtsdenkens
ist der Ruhm. Berühmt sein, unvergessen sein, in der Geschichte fortleben.
Und man lebt fort in Gestalt von Namen und Taten, mythologisch, in Form
der Heldensage, die im strengen Gegensatz zu allem früheren (Gilgamesch)
eine wirkliche Persönlichkeit meint. Und die älteste Form der
Geschichtsschreibung ist der Heldensang. Der Skalde ist die
Vorform des Historikers: Über Geschichte soll man dichten. Und deshalb
behält Geschichtsschreibung hohen Ranges immer etwas vom Heldensang.
Weltgeschichte ist eine große Sage vom Glück und Ende des ikarischen
Menschen. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 26).
In c noch langer Atem. ein Jahrhundert bedeutet nicht viel.
Erst in d [ist] ein Jahrhundert schon viel. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 26).
Daher das Wissen um die Flüchtigkeit der Zeit, die Angst
vor dem Tode, daher das Bedürfnis die Zeit zu gebrauchen, den Kalender
als Ausdruck der Angst vor der Kürze des Daseins, das Gefühl
für Geschichte, Chronologie Aufzeichnung des Geschehens als
etwas Flüchtiges, Verlorenes. Der historische Sinn [ist] Ausdruck
des schnellen Lebens auf eine Katastrophe zu. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 27).
Was ist Kultur? Man hat darunter, je nach dem Gewicht der
eignen Persönlichkeit, sehr Verschiedenes verstanden: eine Summe
von Bequemlichkeiten vom Pfeil bis zum Telefon Abstraktionen von
Museumsbeständen. Ich sehe in einer Kultur ein geschichtliches Ereignis,
einmalig, unwiderruflich, und in ihm verwirklicht, vollzogen das Schicksal
einer Wesenheit, die Geschichte einer Seele. Kultur ist nicht, sondern
geschieht, vollendet sich in und durch Menschen, welche Elemente ihres
Ausdrucks sind. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 27).
Gegen Kulturkreise: Ist die prähistorische Art des
Ordnens oberflächlich [weil materialistisch], so ist es [auch] die
ethnographische der Kulturkreislehre aus einem anderen Grunde: ihr fehlt
der Instinkt für die Tiefe der Zeit. Man wird an jedem Orte ältere
und jüngere Schichten von Kulturzügen auffinden,
aber das bedeutet noch nicht alt und jung. Es
fehlt das Maß für die Größe des Abstandes.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
27).
Wenn in Polynesien um 1900 n. Chr. etwas alt ist,
diese Inseln aber erst in später Zeit überhaupt besiedelt worden
sind, so ist 1600 uralt, aber das wäre für Japan sehr jung,
und für das Verhältnis zu Babylon fehlt ein ausreichender Wert.
Tatsächlich ist aber Madagaskar erst um 600 von Malaien besiedelt
worden. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 27).
Hier wird es deutlich: die Ideen Tempo und Dauer fehlen der Kulturkreisvorstellung.
Sie setzt Heute und Gestern mit Urzeit und Gegenwart gleich es
ist, als ob man die Bildung der Alpen und einer Sanddüne vergleichen
wollte. Der Bogen z.B. soll in Polynesien Schichten beweisen: aber der
zusammengesetzte Bogen kommt im Jungpaläolithikum Spaniens als Waffe
vor, 5000 vor Chr. demgegenüber sind die Bogenformen Polynesiens
nicht Zeitalter, sondern flüchtig. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 27-28).
Gegenseele: Der Kampf, die Kultur als Schlacht, findet
den symbolischen Ausdruck in dieser Zweiheit. In Ägypten und Babylonien,
wo mehr Mischung als Unterwerfung ist, ist der Gegensatz nicht so schroff.
Beide Elemente bilden Bauerntum und Gesellschaft.
In den Nordkulturen dagegen sehr schroff: Unter- und Oberseele.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
28).
Vorsicht: Die Gegenseele ist nicht identisch mit Bauerntum, die
Oberseele nicht mit Gesellschaft. Sondern überall da, wo der Sieg
fraglich blieb, bildet sich ein Sitz der Gegenseele heraus: Sparta
Rom oder Florenz Paris. Die Siegesseele formt die Gegenseele als
ihren Pol. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 28).
Elemente des Geschehens: Kulturen als Organismen. Beschränkung
des Themas auf die c- und d-Kulturen. Ablehnung der Einteilung in Neolithikum,
Bronzezeit usw. Ablehnung der Kulturkreislehre. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 28).
Überblick über die c-Kulturen, heute noch dauernd (daneben
noch Reste von Menschentum, die in a-b-Kulturen erstarrt sind, am Südende
[der Kontinente] z.B.). Hier noch nicht die Seele dieser c-Kulturen schildern,
sondern nur Zeit, Ort und äußere Form. Sie liegen in ihren
Uramöben alle in der alten Welt, nördlich des Äquators,
und bilden eine Gruppe. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 28).
Also Gruppe der Amöben und Gruppe der Pflanzen. Vergleich
aus der Biologie: der Urformen des Lebens sind wenige: in der Tiefe immer
wieder dieselben. Es gibt nur ein Leben. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 28).
Warum ich mit dem 5. Jahrtausend beginne. Typus und Schicksale,
Zahl, Vorkultur, Ort und Zeit der c- und d-Kulturen. Vorläufiges
Gesamtbild der Kulturvegetation, deren Oberschicht Weltgeschichte,
deren Unterschicht Völkerkunde, deren Humus Prähistorie
ist. So ordnen sich die Fachwissenschaften. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 28-29).
Haupt- und Nebenamöben, Plasma mit vielen Nuclei. Namengebung,
Wortschatz, Grammatik, Form und Ziel. Capsien sinnlich symbolisch, Solutréen
Sein und Tat, Kasch abstrakt. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 29).
Gegen Kulturkreise und Prähistorie: Es handelt sich
in der gesamten Deutung der Kultur noch darum, die Erbschaft des vorigen
Jahrhunderts endgültig loszuwerden, die alle heutigen Systeme noch
beherrscht: nämlich die Sucht, statt von der Seele von Stoff und
Werkzeug auszugehen; und statt die Erzeugnisse fühlend zu begreifen,
sie als Ergebnisse modern-intellektueller Zweckmäßigkeitssucht
zu werten. Die Geschichte der Urzeit erscheint modernen Gehirnen als Geschichte
der Technik, die Bronzezeit ist ein Begriff wie die Zeit
der Dampfmaschine. Und die Kulturkreislehre (zit[iere] Frobenius!)
ist, wenn man über bloße Worte zu gedanklichen Grundlagen dringt,
nichts als die Ansicht, daß technische Methoden Bogen, Keramik,
Ackerbau den Charakter der Völker entscheiden.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
29).
Neue Begriffe: Es gibt etwas, das ich prähistorische
Tradition nennen will. Das ist eine Macht, die sich jeder reifen Kultur
überlegen erweist und sie in ihren Bann zieht. Diese Tradition stammt
aus den c-Kulturen, die als Bauerntum, Volk, Land
das Fundament aller Hochkulturen bilden, welche nur ihre Städte darüber
und darauf gründen. Dazu gehören die ewigen Bewegungstendenzen.
Wenn z.B. eine solche von Tunis nach Molfetta, Kreta, Karien, Etrurien,
Sardinien, Spanien besteht, so unterlagen ihr geistig die Karthager.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
29).
Es gibt also Erben dieser Tradition. Und alle Hochkulturen treten
da eine uralte Erbschaft an. So die Perserkönige, als sie den keramischen
Diminiweg aufnahmen, wie vorher Sargon. Ein andres ist die Tendenz, die
Ausdruckssprache in gewisser Richtung Ausdrucksrichtung
zu entwickeln: in Mythen, Stein, Staat. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 29-30).
Eine Folge der Aufteilung in materialistische Stufen von Stein-
und Metallgebrauch ist, daß man eine ganze Reihe von Werkzeugformen
aufstellte und für alle Länder einordnete; fand man irgendwo
nichts, war in Spanien kein Neolithikum, so glaubt man an eine Zeit, wo
die Bevölkerung abgewandert war. Tatsächlich aber hat es nie
eine menschliche Kultur überhaupt gegeben, sondern nur Einzelkulturen
von individueller Form, folglich auch stets Sonderentwicklungen. Das Capsien
z.B. ist ein Stück des äußeren Ausdrucks der Atlantis,
und es bildet mit der spanischen Kupferzeit ein organisches Ganzes.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
30).
Damit löst sich die Stufenfolge nach dem Material in die
Zeitfolge organischer Kulturen auf, und zwar primitiver Kulturen verschiedenen
Ranges. Der Grad der Primitivität hängt aber, wie alles Menschliche,
nicht von der Zeit, sondern vor allem vom Menschentum ab. Schon im Jungpaläolithikum
heben sich deutlich Gebiete höherer und niederer Primitivität
ab, und zur Zeit der Keramik sind die Rangunterschiede bereits unermeßlich.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
30).
Was Kultur überhaupt und hohe Kultur unterscheidet, ist die
Menschengröße, die Höhe und Tiefe von Seele, die am Wollen
und am Leiden wächst bis zur Sonnenhöhe der Weltgeschichte im
Anbruch des Heldentums. Die großen Kulturen sind ihre Schlachten:
die Siege bis zum Abendrot und dann der Blick in das furchtbare Umsonst
über der Walstatt. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 30).
Der rein zufällige Umstand, daß im Neolithikum
gar nicht die Steingeräte, sondern die Tongefäße zuerst
ins Auge fallen, weil sie sich am massenhaftesten erhalten, bringt es
mit sich, daß nun auf einmal die Einteilung ganz äußerlich
nach Gefäßformen und Verzierungen erfolgt, obwohl beides ganz
verschiedene Bedeutung besitzt. Und es ist nur Zufall, daß diese
Merkmale trotzdem auf richtige Wege teilweise leiten.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
30-31).
Die Gefäßformen sind Formen der Lebenshaltung, also
der Körperhaltung, der Rasse und ihres bewegten Stils, ihrer Geste.
Sie gehören also zusammen mit den Formen der Waffen, Geräte,
Gräber, Hütten, Kleidung; das ist Sitte im weitesten Sinne.
Die Gefäßverzierung dagegen ist ein Ausdruck des Weltgefühls
und gehört zur Religion, zu Kult, Mythus, Ritus, Schmuck. Jene, Rasseform,
Gebrauchsform, läßt auch auf die politische Struktur schließen:
Struktur von Familie, Stamm, Sippe. Zu dieser muß auch die verlorengegangene
Kunst gehören: Tanz, Sang. Siedlungsformen. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 31).
Kann man Metaphysik überhaupt in gelehrter wissenschaftlicher
Form einfangen? Sicher ist, daß sie in den großen Kunstwerken
Bauten, der Musik, der Malerei, den Dramen lebt. Und in der Darstellung
der großen Geschichte. Denn Geschichtsschreibung ist Gestaltung,
Schöpfung, ist Dichtung im höchsten Sinne. Nur durch geschichtliche,
nicht durch systematische Darstellung läßt sich außerhalb
der Kunst mitteilen, was an Geheimnis in der Welt und im Menschen schläft.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
31).
Was nötig ist, die eigentliche große Aufgabe des 20.
Jahrhunderts in der psychologischen Forschung, ist nicht irgendeine
Psychologie (Klages), sondern die Geschichte der menschlichen Seele, ihrer
Entstehung, Entwicklung, [ihres] Niedergang[es]; wie sie Leid auf Leid
häuft, denn dem Tier gegenüber ist das menschliche Leiden, weil
innerlich und über Gegenwart und Körper hinaus, ins Unendliche
gesteigert. Der Mensch ist das seelisch leidende Tier. Das ist seine Tiefe,
seine Größe. Deshalb ist die Weltgeschichte des Menschen eine
Tragödie. Denn alles, was er ausdrückt, seine gesamte Kultur,
sein Wollen und Kämpfen, Kunst, Religion, Staat, Krieg, ist aus dem
Leiden an dem Dasein der Seele entstanden. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 31-32).
Was ist denn Philosophie, so wie man bei dem Worte fühlt,
ohne es definieren zu wollen oder [zu] können? Keine Wissenschaft,
wenn auch, wie beim physiognomischen Schauen der Weltgeschichte, das Wissen
Voraussetzung ist, sondern Tiefe, Ahnen des Unaussprechlichen. Nicht die
kritische Intelligenz [entscheidet], sondern das weltenferne Schauen und
Grauen, die Ehrfurcht vor nicht lösbaren Rätseln. Glühende
Weisheit, letzte Schauer eines Ahnens im selben Augenblick. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 32).
Was und wie ein Denker denkt das ist die eine Frage. Aber
warum gerade er so denkt, ist wichtiger. Zieht man von seinen Gedanken
alles ab, was durch die Sprache, die Wortgebundenheit seines Denkens bestimmt
ist die Urteile z.B. , was er anderen nachspricht, weil es
ihm nicht möglich ist, sich von der Schematik seiner Lehrer in der
Kirche, der Schule, der Umgebung, der Fachwissenschaft zu befreien, so
bleibt seine Persönlichkeit, soweit sie sich in Gedanken ausdrückt.
Philosophisch reden dozieren z.B. ist gefährlich. Noch
gefährlicher die schriftliche, schriftgebundene Philosophie, das
Buch, das System. Was man in tiefen Augenblicken wirklich denkt, kommt
nie unverändert in die Folge von sprachlichen Sätzen. Und wer
nicht zwischen den Zeilen lesen kann, der erfährt oft das Entscheidende
nicht. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 32).
Wendung durch Schopenhauer, 19. Jahrhundert. Trotz seiner Kantischen
Halbheiten. Welt als Vorstellung. Das ist das Neue. Nietzsche lehnte sich
gegen seine eigne kritische Einsicht auf, weil er als Pastor Zukunftsideale
nötig hatte: [den] Übermenschen, [die] Wiederkunft, an die er
selbst nicht glaubte. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 32-33).
Das 19. Jahrhundert, materialistisch gesinnt und darwinistisch
begeistert über die Steinzeittheorie, außerdem im Glauben der
Fortschrittphilister befangen, stellte an Hand des Stoffes der Funde,
was bezeichnend ist für die Plattheit des Denkens, ein Schema auf,
das für die Menschheit gültig sein sollte und in
das nun nach Form und Stoff alles Gefundene eingeordnet wurde. Wir sind
im Begriff, diese Art der Betrachtung aufzugeben: es gab keinen Fortschritt,
und es gab keine Stufen der Menschheitsentwicklung. Es gab nur Kulturen,
organische, örtlich und zeitlich begrenzt, mit einer individuellen
Ausdruckssprache. Wenn in einem Lande eine solche Stufe fehlt,
so heißt das nicht, daß die Menschen fehlten, sondern daß
eine Kultur, zu deren Ausdruck diese nicht allgemein menschliche Stufe
gehörte, dieses Land nicht berührt hat. Es gibt keinen Hiatus.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
33).
Gegen die Kulturkreislehre aber ist ihr Mangel an Verständnis
für Dauer und Tempo einzuwenden. Es versteht sich von selbst, daß
in heutigen Zuständen ältere und jüngere Formen zu[sammen]
sind: aber das gilt nur relativ, für diese Völker, nicht für
die Geschichte. Es ist Unfug, in Australien und Polynesien von einer Urkultur
zu sprechen, wenn die Besiedlung erst nach 1000 nach Chr. beginnt. Alles,
was diese Schule an ältesten und tiefsten Schichten auf Grund lebendiger
Gegenwartsbeobachtung entwickelt hat, ist allerjüngste Form, gemessen
an dem, was die Geschichte Ägyptens und Babyloniens lehrt. Es handelt
sich dort um die letzten Jahrhunderte, hier um Jahrtausende. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 33).
Die abendländische Kultur [ist] die sonnenärmste. Diese
winterlichen Städte, diese frierenden Menschen, die Not nicht nur
des Hungers, sondern der Kälte, die Weltanschauung der langen Winternächte,
das Denken in düsteren Stuben, das Dasein in verschlossenen Häusern
das alles hebt den Stil der faustischen Kultur aus allen andren
heraus. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 33-34).
Hier muß eine Lücke des Untergang des Abendlandes
ausgefüllt werden: Das Allgemein-Menschliche. Das Phänomen Mensch
auf der Erdrinde. Das Ewig-Urmenschliche: Instinkte, Liebe, Hunger, Angst,
Krieg, Haß. Leben [ist] ein Urphänomen dieses Planeten.
Sinn des Lebens in sich selbst. Der ungeschichtliche Mensch
als Augenblick des Erdschicksals. Aber inmitten dieses Ereignisses das
Wunder der hohen Kulturen. Nun herausarbeiten, wie sich das vom Ewig-Primitiven
abhebt und doch wieder ihm gleich ist. Wie im höchsten Kultursymbol
doch nur eine Sublimation des Urmenschlichen steckt, so in der Wissenschaft
die Urangst. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 34).
Wie aber die Reflexion hierüber, die Mechanisation des Weltbildes,
nur Episode ist. Und nun die Gruppe der Kulturen als Ganzes, ihre Beziehungen,
Zwischenstufen. Aufbau dieses nicht organischen Gemenges, das selbst keine
Entwicklung hat, sondern nur eine Handvoll Einzelentwicklungen darstellt.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
34).
Das Leben ist die allmächtige Urtatsache. Alles
andre, Kultur, Erkennen, Lieben, Hassen, sind nur Arten der Lebensäußerung.
Cogito ergo sum ist Unsinn. (Oswald Spengler, Frühzeit der
Weltgeschichte, postum, S. 34).
Die winzige Menschenzahl der Urzeit, die das Bild ganz verändert.
Daß Germanien zur Zeit des Tacitus 2.3 Millionen Einwohner hatte,
muß der Urzeit gegenüber schon unermeßlich gewesen sein.
Da waren es vielleicht 10000. Wie wird es in Zukunft sein, wenn die letzte
Kultur verblüht ist? Wieder eine Reduktion auf winzige Zahlen?
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
34).
König Gudea (um 2340), einer der mächtigsten Herrscher
in der babylonischen Kultur, gibt stolz die Zahl seiner Untertanen mit
216000 an. Unter Urukagina seien es nur 36000 gewesen. Ebenso müssen
die Zahlen in den alten ägyptischen, chinesischen und indischen Kulturen
gewesen sein. Die späteren Kulturen rechnen schon mit ganz andren
Zahlen auch bei feindlichen primitiven Völkern. Das ändert aber
alles. Das Weltgefühl wird anders, sobald man statt unendlichen Flächen
Nachbarn hat. Krieg, Intelligenz als Waffe, die Waffe selbst, die jetzt
gegen Menschen nötig ist, die Konkurrenz um physische, geistige,
t[echnische] Überlegenheit um sich zu halten. Man muß
sich übertreffen. Unter diesem Aspekt steht der Mensch seit 10000
Jahren; infolgedessen [findet man] gegen[über] früher eine rapide
Änderung aller Bedingungen, aller Lagen, Stimmungen, Meinungen, Eindrücke
(von andern, von der Natur, von den relativ seltener werdenden Tieren).
Bis die hohen Kulturen blitzartig auftreten. Man denke an die tragische
Vernichtung der Maya durch die abendländische Spätzeit. Ursprünglich
[hat man] gar kein Gefühl für die andren Menschen, die man gelegentlich
sieht. Dann aber, sobald sie Nachbarn werden, [erwacht] der
Urgegensatz Feind und Freund, Haß und Vertrag. Ursprung des Rechts?
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
34-35).
-
Die vier Kulturstufen -
Die
vier Kulturstufen (a, b, c, d - dabei entsprechen in etwa:
die a-Stufe die Zeit vom Altpaläolithikum bis zum Jungpaläolithikum,
die b- Stufe die Zeit vom Jungpaläolithikum bis zum Neolithikum, die c-Stufe
die Zeit nach der Neolithischen Revolution ohne hochkulturelle Formen und
die d-Stufe die Zeit nach der Neolithischen Revolution mit hochkulturellen
Formen; HB) .... (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 44-81).
Die c-Kultur bringt die Idee des Hauses. ().
... Hier - seit c - wird gebaut. Das Haus ist ein Symbol des Lebensgefühls,
Gehäuse des Lebens. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 52).Bauen
ist ein Unternehmen zu mehreren, organisiert, zweckbewußt .... Wie Pflanzenbau
statt Sammeln, Tierzucht statt Jagd. Die Idee, etwas Künstliches zu schaffen
gegen die Natur. .... Höhlen (b-Stufe),
Vogelnester, Fuchsbauten sind Ergebnisse triebhafter Handlungen gattungsmäßig.
Zu diesem Gattungstrieb des Schwarmes tritt das sprachgebundene Zweckdenken des
Stammes. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum,
S. 52).Jede
d-Kultur verfällt von der aristokratisch formalen Frühzeit zur demokratischen
Formlsigkeit der großen Städte. Heimat (c) ist die Landschaft, in der
man jeden Menschen kennt, ein Tal, eine Feldmark. .... Was heute Nation und Vaterland
genannt wird, ist ein abstrakter Gedanke der Großstädter. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 52).Nicht
jeder Mensch eines Kulturvolkes ist Kulturmensch. Kultur haben bezeichnet einen
Rang. Viele haben etwas davon, einige Züge, einen Hauch. Einzelne repräsentiern
sie ganz - Goethe, Friedrich II., Lionardo (da Vinci; HB). Es gibt unter den c-Stämmen b-Menschen. In einer d-Kultur - zu
der die Bauern nicht gehören, als Schicht - sind die meisten Menschen c-Menschen.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 52).Es
gibt keine Ursprache, sondern nur einen Urtypus des denkenden Sprechens, der mit
Aussprache und Wortschatz nichts zu tun hat. Dieser Urtypus bildet sich in c unter
weiten Bevölkerungen von selbst, in vielen Variationen aus. Spätere
«Sprachen» sind nur neu geprägte Gruppen aus einer frühen
Variation. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum,
S. 53).c:
Mit Sprechen-Denken (neue Art des «Bewußtseins») beginnt Kultur-Geschichte
gegenüber Naturmensch und Geschehen. Geschichte ist durchgeistigtes, wortbewußtes
Wollen, Organisieren - die Tragödie liegt darin, daß das Schicksal,
das Blut (das Unbewußte) stärker ist und lenkt. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 53).c:
Stamm, Clan, Sippe. Der Stamm ist eine Vereinigung von Sippen. Blutrache. Hausherr
als Richter im Hause. Übergang von Sippen von einem Stamm zu andern. d: Staat
als feste Organisation. Stadt, Stand. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 53).Die
c-Organisation hält sich unter Adel und Bauern. Die Stadt zerstört die
Sippen durch den Stand. Gesellschaft ist eine Summe von Familien mit «Verwandten»,
die nichts mehr bedeuten. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 53).Was
ist Kultur? Kultur ist wie ein reiches Haus. Kinder sehen nichts
von den kostbaren Möbeln, Gobelins, Vasen. Sie leben in ihrer eigenen Welt.
Erst langsam wächst man in die Kultur eines solchen Herrensitzes hinein.
Lakaien, Mägde, der Ziegenhirt verstehen noch nichts davon, aber aus andern
Gründen. Sie bleiben infolge ihrer Erziehung - Dorfbildung, Kirchenzucht
- auf der c-Stufe, die darunter weiterlebt, als Fundament, auch seelisch. Blut
und Seele der d-Schicht ergänzt sich unaufhörlich aus c und wird verbraucht.
Man kann die erreichte Kultur jederzeit als Gebäude betrachten, die der eine
als zugehörig bewohnt, der andre haßt, der dritte gar nicht sieht.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 53-54).
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Klima
und Hochkulturen
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c-Kultur: zuerst West, Süd, dann Nord. d-Kultur: zuerst
Ägypten, Babylon, zuletzt Abendland. Die Sonne hat zuerst die heißen
Seelen ausgebrütet. Langsam reiften auch die winterlich kalten Seelen
des Nordens. Spät, geistig. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 54).
c-d-Kulturen:
Ägypten (Westen). Babylon (Süden). Indien, China [und] Antike [gründen
sich] auf W[estkultur verbunden mit dem Wesen des] Südens. [Die] arabische
[Kultur ist eine] allgemeine Mischung: West und Süd und Nord, [ein] Mittelpunkt,
nach allen Seiten gewaltig strahlend: Religionen, [bis hin zum] Islam; Kunst,
[bis in die] Kunst [der] römischen Kaiserzeit [hinein]: Kuppel, Bogen. [Das]
Abendland [ist] spät, hochnordisch: Nord und West. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 54).Ich
habe schon [in] Mensch und Technik ()
die Stufenfolge gezeigt, welche der Mensch innerlich einnimmt. Stein und Bronze
sind keine seelischen Werte. Aber die Sprache trennt den Urmenschen b von c-d.
Hochkulturen (d) ruhen auf der Grundlage von c. Wenn heute auch die primitivsten
Stämme Sprachen besitzen, so ist das die Folge von c, wie sie auch Feuer,
Werkzeuge etc. besitzen. Es kommt aber auf die Zeit der Sprachschöpfung an,
etwa 5. Jahrtausend. Bis dahin mußte man sich durch Zeichen und Laute verständigen
oder verstand sich instinktiv. Hier beginnt die geistige Vermittlung. Sprache
in geistigen Formen gegenüber dem Wink, [dem] Zeichen. Sprache [ist
die] geistige Form der Mitteilung, übersinnlich. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 54).In
b-c entstehen für das Auge die unterscheidenden Zeichen, [nämlich] unterscheidend
die Menschen, die zum Wir gehören, und [jene,] die Feinde sind.
Diese Zeichen Ornamente, Imitation, diese seltsamen seelisch erregenden
geometrischen Figuren oder Tierbilder. Dann das Tier, das höhere, dem Menschen
als gleichgestellt empfunden: Stier, Hengst, Löwe, Bär etc., die vernichtende
Heuschrecke, die Biene, seltsame Wesen wie Schlange, Molch, Muschel. Langsam wie
im Denken wird das Zeichen etwas andres: Was man auf den Leib, die Hütte,
die Waffe ritzte, malte, ging in Sage über. - Man nannte sich [selbst] Wölfe,
den Ahn Wolf; die Gefürchteten oder [den] verhöhnten Feind [nannte man]
anders. So entstanden Totemvorstellungen, Stammsagen, Kulte. - In den späten,
historisch gewordenen Totems ist der Ursprung gar nicht mehr festzustellen. Totenkopfhusaren,
Wolfsbälge, Picenter. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 55).
Rasse (nach den vier Stufen geordnet):
a |
Urrasse ist Naturrasse, somatisch, Urform des
Typus Mensch. (Wir urteilen über die Rasse fast nur als Sehbilder.) |
b |
Mischungen, klimatisch-landschaftliche S[chläge]
großer Gebiete. Bewegliche Rasse. |
c |
Landschaftsrasse, Berufsrasse: Bauern, Nomaden,
Jäger, Wald, Wüste, polare und äquatoriale Spielarten.
Menschenschlag. |
d |
Hochkulturtyp: Adel, Auslese. Geistige Rasse
(Gesicht). Masse der Städte. |
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum,
S. 55).
Das
Sprechen beginnt mit c: Die Sprache [ist] zunächst noch nicht
da. Nur Namen und Gesten. Erst langsam, in aufsteigenden Kulturgebieten, entwickeln
sich zuweilen Elemente einer Grammatik. Im 4. Jahrtausend werden sich hier und
da schon gewisse Formeneinheiten ausgebildet haben. Die Systeme des Indogermanischen,
Hamitischen, Semitischen etc. [bildeten sich] erst gegen Ende des 4. Jahrtausends,
vielleicht später. (Nur in Ägypten, Babylon sind sie schon entwickelt.)
Im 3. Jahrtausend gibt es schon Sprachfamilien. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 55-56).In
den Stufen a-b [ist das] Geschehen ohne Bewußtsein, ohne Bild, [in den Stufen]
c-d [beginnt die] Geschichte, [die] Welt als Geschichte, [das] Bild von eigenem
und fremdem Leben. Das ist Kultur, die Form des seiner selbst bewußten
Lebens, a-b [ist] instinktive, kulturlose Tätigkeit. Erst das Sprechen, das
einen intellektuellen Abstand an die Stelle instinktiver Verbundenheit setzt,
gibt das Darübernachdenken, löst also von dem sinnlich gegenwärtigen
Augenblick, in dem Tiere leben, und gibt den Blick aus der Ferne über die
strömende Wirklichkeit. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 56).Mit
der Kultur legt sich ein eherner Panzer um das Leben. [Die] Sitte (seit b) [ist]
von innen heraus verpflichtender Lebensstil unter dem Druck der Landschaft und
ihren Bedingungen. [Die] Sitte des Blutes [ist] unbewußt, selbstverständlich.
Moral (seit c, sprachlich) [ist] kein Zwang des Blutes, sondern der Gelehrten
und ihrer Autorität. Zum Teil [wirkt sie] gegen die Sitte. Zucht und Bildung
(Sitte und Moral). Der Empörer sucht sich zu befreien, der Knecht haßt
nur, was er als sich fremd empfindet. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 56).[In]
a-b [ist die] Herstellung von Geräten noch halb instinktiv. Sie gehören
der Gattung homo an (wie die Wabe den Bienen). Jeder [ist] für sich. [In]
c-d: Jetzt [entstehen] Sonderkulturen. Reflexion. Längst beobachtet: Atlantis
(Schuchhardt, Hoernes), Turan (Strzygowski, Scheltema). Aber nur in ihren materiell
konservierten Resten. Ausgrabung in China, Japan, Korea, Hinterindien, Indonesien.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 56).[Seit]
c-d [wird der Mensch] seßhaft; deshalb differenziert er sich seelisch. [Die]
Macht der Landschaft bindet das Blut an sich. Ähnlich [ist es bei den] Haustieren:
die Rasse [wird] durch die Lebensart verwandelt. Der c-Mensch wird [zum] Haustier.
[Er ist] seelisch-leiblich verändert. Der Nomade der See und des Landes ist
der Protest der menschlichen Rasse gegen die Wirkungen der technischen Kultur,
des Geistes. .... Der wandernde Bauer sucht nur den Ort, wo er wieder
Wurzeln schlagen kann, der Nomade flieht davor. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 57).Ich
nenne die c-Kultur nordeurasisch. Sie ist Lebensstil, Weltanschauung, Seele. Nicht
Sprache und Rasse. Hochkultur (d) kommt vom Norden her. Im Süden beginnend
(Ägypten, Babylonien). Aber nie äquatorial. Die Saharakultur war gering
(b mehr als c). Weder Keramik noch Sprache haben sichere Resultate, wenn man nicht
(die historisch-politischen) imaginieren kann. Sich ein Bild machen. In einer
Sprache Schichten unterscheiden eine bedenkliche Vorstellung. Töpfe
sind schließlich hergestellt worden. Liegen in Erdschichten. Man vergißt,
daß es eigentlich keine Sprache gibt, sondern nur sprechende Menschen. Die
Sprache lebt im währenden Sprechen durch Generationen. Wir kennen
davon nur das Schriftbild einiger, das die Lautgruppe nicht wiedergeben kann oder
will. Auch die Buchstabenschrift ist konventionell, nicht wissenschaftlich. Man
lernte lesen, d.h. bei dem Schriftbild eine gewohnte Lautgruppe denken, die sich
von Generation zu Generation änderte, rassemäßig. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 57).Der
b-Mensch haftet noch nicht am Boden, er schweift. In c [kommt] mit dem Bodenbau
und der Viehhaltung die Seßhaftigkeit, damit [ist] die wechselnde Höhle
ins Haus verwandelt. Die Viehnomaden sind, erst aus seßhafter Viehhaltung
hervorgegangen, wieder schweifend geworden. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 57-58).Neue
Termini: Es ist falsch, seßhafte Stämme ohne weiteres [als] ackerbauend
zu bezeichnen. Psychologisch ist Hauptsache das Siedeln (Haus, Dorf) im Gegensatz
zum Schweifen. Ich nenne deshalb die c-Kulturen Siedler. Sie können trotzdem
Jäger, Fischer sein. Der Pflanzenbau (nicht Ackerbau) kann auch von Nomaden
geübt werden. Viehhaltung, Viehzucht, Herde, Stallvieh das sind sehr
verschiedene Dinge. Siedler, Heimat, Haus gehören zusammen. Trotzdem kann
der Wandertrieb sehr stark sein (Norden). Siedeln und Sprache: Organisation des
Lebens. Von der Jagd zur Herde, vom Sammeln zum Pflanzen. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 68).Neue
Termini: Ich möchte statt Paläolithikum, Bronzezeit etc. neue Worte
bringen. Ebenso für primitiv: Unterschied, ob a-b oder heutige Kümmerstämme.
Tongefäße, Schliff, Metall sind ungenaue Kennzeichen. Wortsprache ist
wichtiger. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum,
S. 68).Kultur
und Seßhaftigkeit: Der seßhafte Mensch (c) geht weiter zum Stadtmenschen
(d). Seßhaft durch Wirtschaft: Ackerbau, Stallwirtschaft, Bergbau, Hafen,
Markt. Herder 337: Der Boden gehört jetzt nicht mehr dem Menschen, sondern
der Mensch dem Boden. Kultur ist Zusammendrängen der Menschen, wobei neue
Seelen- und Lebensarten entstehen: Neid, Bosheit der Händler, Politiker,
Käufer, Gelehrten, also der Stadtmenschen (zu Seele, Kultur etc.).- Die Bauernseele
in d als Reaktion auf die Stadtseele. Mann und Weib, Vater und Sohn, Freund und
Freund sind Seelenverhältnisse. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 68).Hier
entscheidend zeigen, daß in allen Hochkulturen zwei Schichten übereinander
liegen, eine bäuerlich-beduinenhafte c[-Schicht] mit Bauernweisheit, Sprichwort,
Brauch, Aberglaube, primitiver Religiosität und eine d[-Schicht]
mit Philosophie, Religionssystem, Schrift, Schule, Staat. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 69).Kriege,
c: Die Formen dieser Kriege sind heute noch überall da erhalten, wo sich
Bauern- und Beduinentum erhalten hat: in der italienischen Vendetta, im Haberfeldtreiben,
in der Dorffehde der jungen Leute, der Stammesfehde arabischer Stämme, in
der Camorra. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 70).c-Kultur:
Ich will hier zum ersten Male ernst machen mit der Unterscheidung von Rasse, Sprache
und Volk, die oft gefunden, aber nie nie praktisch durchgeführt
worden ist. Ich verweise auf Untergang des Abendlandes I ().
Ein Volk nenne ich eine politische Einheit, die als solche den Gliedern zum Bewußtsein
kommt. Die Ägypter sind ein Volk, seitdem sie ein Reich bilden.
Vorher waren die Teile, Gaue, Stämme je ein Volk. Ein sumerisches
Volk hat es nie gegeben. Es ist für das Vorhandensein eines Volkes gleichgültig,
ob in ihm mehrere Sprachen geredet werden (Chatti, Sumir und Akkad),
geschweige denn [mehrere] »Rassen« vertreten sind. Unter Rasse verstehe
ich eine unbewußte Einheit des leiblichen Ausdrucks, der früher einmal
seelischer Ausdruck war, aber in vielen Zügen fossil geworden ist und nun
mendelt. Aber Rassen um 3000 sind sehr verschwommene, gemischte, abgeschliffene
Typen. Dazu kommt der Begriff Menschenschlag das was eine einheitliche
Landschaft [oder eine] Stadt an Eigenzügen hervorbringt. Endlich die Sprache,
die nie als Typus, stets als Mundart bewußte Einheiten schafft: Sprachverwandtschaft
(arisch und semitisch) ist eine wissenschaftliche Tatsache,
keine geschichtsbewußte. Sprachen im realen Sinne sind nur solche, in denen
einfache Menschen sich sofort verstehen. Alles andre sind barbarische
Sprachen für den, der sie hört, ohne Unter schied. Nicht Sprach-, sondern
Sprechverwandtschaft [zählt]. (Oswald Spengler, Frühzeit der
Weltgeschichte, postum, S. 72).
Ursymbole der Kulturstufen: Die [Ursymbole] der Hochkulturen
sind aus Kreuzung Abwehr der unteren durch die siegenden
entstanden. Siegreich war in Ägypten und Babylon das südlich
Heiße, sonst das Nordische. Auch das Uramerikanische kam vom Norden
(Indianer aus Europa?) und wurde vom Pazifischen überschichtet. Körper,
Raum, Weg sind also Abwehr , Triumphsymbole, deshalb so prägnant.Viel
allgemeiner, gestaltloser sind die der Kulturamöben, nicht organisiert,
sondern organisch, etwa strebend, gesättigt,
was sich in Ornament, Bau, Grab, Aristokratie ausdrückt, in Numen,
Mythus, Erotik. Die a-Kulturen sind nur Temperamente, unsymbolisch; die
b-Kulturen (Schicksal) bloße Tendenzen, Nuancen des Gerichtetseins.
Also auch die Seele dieser Kulturen ist basalten, kristallisch,
organisch, organisiert. Aber nur die Hochkulturen sind tragisch, Bild
eines Zweikampfes, hart, gefährlich, c ist verfließend, verdrängend,
verschmelzend, Seele der Dörfer und Stämme. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 75-76).
Kulturen:
Wichtig, daß die Zeiten immer kürzer werden: a 100000; b
10000; c 3500; d 1000. Man darf also nicht von Zeitaltern sprechen,
b-d zusammen sind kurz gegenüber a. Episch tragisch. Langer Atem
Explosion. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum,
S. 76).Amöben
und Pflanzen: Zum Charakter der Amöbe gehört, daß sie nicht
als Ganzes Höhepunkte der Vitalität erreicht, sondern überall immer
wieder Knospen bildet, die formschöpferisch wirken, kurzlebig,
so die atlantische in Portugal, Bretagne, Kreta, Sardinien. Die Frühamöben
sind längst abgestorben, tote Reste im System lebender Sprachen und Künste
hinterlassend. Vom Hamitentum kann die Ethnologie nichts Lebendiges mehr finden.
Was heute vielleicht noch gerade lebt, sind die Jungamöben des 3./2. Jahrtausends:
hochnordisch und südostasiatisch mit Knospen wie Peru, Japan, Haida.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 76).Verhältnis
der älteren und jüngeren c-Kulturen: Sie bilden sich amöboid
immer wieder, ohne daß man genau sagen kann, ob und seit wann es sich um
gesonderte Individuen statt einer Amöbe handelt. Schon im Aurignacien-Capsien,
um 10000, gibt es ein nord-und südatlantisches Kristallisationszentrum, dessen
genaue Lage für dieses ungewiß ist, wohl Afrika. Ebenso könnte
eine c-Kultur Alpen Schantung eine jüngere Kasch-Amöbe sein (Japhetische
Sprachen?). (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 76-77).c-Kultur:
Gab es hier statt Früh- und Spätzeit von Pflanzen eine taktmäßige
Diastole und Systole von Amöben? Sind die großen c-Stämme periodisch?
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 77).b-c
Kulturströme (Menghin 658): Das Endcapsien durchbricht zuerst die Grenze
zwischen Aurignac und Capsien südlich der Pyrenäen und dringt, sich
mit dem Endmagdalénien mischend, bis nach Nordeuropa, Maglemose, vor! Damit
ist die uratlantische Tendenz vorgezeichnet. Danach liegt der Capsienschwerpunkt
in Mittel- und Südspanien und Nordwestafrika. Hier bildet sich der Begriff
Atlantis. - Davon abgesehen gibt es ein westeuropäisches Zentrum für
Aurignacien und Magdalénien und ein fernöstliches (asiatisches?) mit
dem Solutréen, das sich spät und schwach zwischen Aurignac und Magdalénien
östlich des Rheins für kurze Zeit eindrängt. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 77-78).c-Kulturen:
Struktur: Auch bei ihnen ist eine (langsame) Entstehung, weniger Geburt als
Sprossung, zu verzeichnen, dann Reifen, Sprossen, Teilen, ungeschlechtliche Zeugung,
Alter. Im Gegensatz zu dem prachtvollen Aufstieg gleich einer Rakete
bei den Hochkulturen geht es hier langsam. Alles, was der Ethnologe an heutiger
Volkskultur untersucht, ist der Rest davon, zerfallend, verschwimmend, ohne Kraft.
- Am Anfang ein gewaltiger Vergleich mit botanischem Ausdruck. Die c-Kultur-Amöben
(eine Sprossung ist die Glockenbecherkultur), örtliche Seitengebilde, Teilung,
Kriechen. Plasma. Es liegt mindestens (genaue tempi gibt es hier nicht!) ein Jahrtausend
zwischen Entstehen und Höhe der Lebenskraft. Die Höhe bei Kasch-Atlantis
im 4. Jahrtausend, bei Nord und Süd im 2. [Jahrtausend]. Amöben können
zusammenfließen. Sie haben keine scharfen Grenzen. - Frobenius hat entdeckt,
daß heute noch die atlantische c-Kultur in Spanien, Frankreich, Britannien,
Süditalien im Volkstum liegt, die altnordische Rhein und Tiber als Grenze
hat. Hier wurde die faustische Spätseele gezeugt! (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 78).c-Kulturen:
Die Zahl dieser Kulturen ist klein; neben zwei mächtigen mögen einige
kleinere entstanden sein, ohne Bedeutung. Jedenfalls hegt hier für alle Zeit
die Entstehung von Orient und Okzident. - Die Zahl der ewigen
Ideen, welche diese c-Kulturen geschaffen haben, ist klein. Die ganze Weltgeschichte
beruht auf ein paar ganz großen Konzeptionen, z.B. der kosmologischen Idee
von Kasch, der genealogischen von Atlantis. In diese c-Kulturen fällt die
Entstehung des Wüstengürtels: die Nachwirkung des Pluvials, die Walddecke
stirbt ab. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum,
S. 78-79).Wenn
schon im Jungpaläolithikum die Rangunterschiede zwischen den Strömen
des entwickelten Menschentums groß werden, bis zur völligen Unmöglichkeit
des Sichverstehens, so verliert sich in den c-Kulturen die Einheit endgültig.
Hier ergeben sich fließende Kulturen hoch über dem paläolithischen
Rest, aber unter sich sind sie keineswegs gleich. Der Schwerpunkt liegt ohne Zweifel
am Mittelmeer. Was im Ranjun-Kambodscha-Gebiet oder in Nordamerika vor sich geht,
hat nicht diese Höhe. Um 3000, wo alles enger und steiler wird, hegt der
Schwerpunkt an Nil und Euphrat, um 1000 in Mittelasien von Smyrna bis Schantung,
um 1000 n. Chr. wieder am Euphrat, um 2000 wieder in Atlantis. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 77).Das
Bedürfnis einer Scheidung von Zeitaltern der Vorgeschichte war immer da,
aber es ist, wie alles im 19. Jahrhundert, durch materialistische Einteilung befriedigt
worden: Der Übergang vom geschlagenen zum geschliffenen Stein, von der Höhle
zur Hütte also die vermeintlichen Errungenschaften der Menschheit
auf ihrem Wege vom Jäger und Fischer zu Jazz, Kino und Radio. Die wahre Epoche,
um 5000, ist der Schritt vom Organischen zum Organisierten, der Emanzipation des
Geistes vom Leben, das nun bewußt, vom Geiste erst erkannt,
dann geregelt wird. Das Leben geht vom Natürlichen zum Künstlichen über.
Der Instinkt soll das ist und bleibt ein Ideal dem Intellekt unterworfen
werden. Diese gewaltige Revolution vollzieht sich nur noch in einzelnen
Bezirken und in diesen in einigen seelischen Arten des Menschentums. Von nun an
gibt es niedere und höhere Arten der Menschheit, jene in dem was und
wie es geschieht Stoff und Opfer, diese Geist und Herr. Es entstehen statt
der Urkultur Einzelkulturen, Organismen, und die Frage erhebt sich, wie sie sich
zu [81] älteren und jungen Typen verhalten (b-c-d). Innerhalb dieser c-Kultur
ist und geschieht alles anders, verhängnisvoll, jäh, künstlich,
stets gefährdet. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 80-81).Jäger,
Bauern: Psychologisch äußerst naiv ist die Einteilung
der Völker nach zwei Wirtschaftsformen. Erstens unterscheidet
die Wirtschaft die Menschen seelisch nicht, zweitens ist Wahl der
Wirtschaft Ausdruck des Charakters, drittens gibt es keine Völker, viertens
gibt es viel mehr Wirtschaftsformen. - Es ist flach und materialistisch
zu glauben, daß der Bauer anders war als der Jäger: Weil man anders
ist, wird man Bauer. Aber in Wirklichkeit gibt es, in buntem Durcheinander, fischende,
seefahrende, bergbauende, in Waldrevieren, auf Lichtungen, in Hochsteppen lebende
Stämme nebeneinander, viele, deren Männer sich mit allem möglichen
befassen. Es ist immer die Minderheit der Stämme, die wirtschaftlich einseitig
eingestellt ist, z.B. nicht jagt, fischt, ackert. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 81). -
Menschwerdung -
Es gibt zwei überlegene Arten der Menschen,
die bloße Bindung an die Erde zu überwinden: sich von ihr befreien
durch das Meer (heute den Flug) und sie beherrschen durch Beweglichkeit (Pferd,
Auto). Eine neue geistige Luft weht über diesem Leben, nicht mehr die dumpfe
der Sklaven der Notdurft, des Bodens. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 82).Mutationen
sind Katastrophen, die plötzlich und geheimnisvoll eintreten. Es sind Formen
der Erscheinung, die man nicht begreift. In der Menschengeschichte folgen sie
sich immer schneller vom Beginn[83] der Menschwerdung bis zu den Hochkulturen.
Man darf aus dem Nacheinander der Erscheinungen keine Ursache und
Wirkung herauslesen. (Oswald Spengler, Frühzeit der
Weltgeschichte, postum, S. 82-83).
- Blick auf Hochkulturen und Zivilisation -
Damit wächst die Gemeinheit zur Riesengröße. Tiere
und Urmenschen sind nicht gemein. Es gibt keinen Pöbel. Jetzt aber,
auf diesen Höhen, zerfällt die Menschheit in Helden und Pack.
Die seelischen Möglichkeiten weiten sich nach oben und unten. Damit
wachsen Verehrung und Verachtung, Ekel. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 486).
Wenn schon in jeder edlen Tierrasse
nicht bei Läusen und Flöhen, aber bei Pferden, Hunden und Adlern
gut und schlecht geratene Exemplare sehr verschieden sind, so wächst das
in der großen Geschichte ins Ungeheure. Große Geschichte ist die Erhebung
einer immer kleineren Zahl von Menschen über einen hohen Durchschnitt, unter
den die große Mehrzahl immer [mehr] herabsinkt. Es gibt auch da Läuse
und Adler; tragische Kultur ist die Tatsache, daß nur die Adler sie haben
und sind und daß die Läuse sie fressen. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 486).
Norden: Das neue Gefühl, das hier aufleuchtet, aus
einer neuen Seele, ein neues Antlitz, ist Todesverachtung. Mehr noch:
Verachtung überhaupt, Verachtung der übrigen, die am Leben hängen,
für die das Leben etwas Höchstes ist, nicht das Leben als Held,
als Starker, sondern das Leben überhaupt als Dauer. Wie es Achill
empfindet: kurz, aber groß. In Ägypten, wo etwas von nordischem
Blut noch aufleuchtet, trifft man gelegentlich eine Geringschätzung
des Lebens durch einen Weisen, der es gekostet hat und es schal findet;
aber diese salomonische Verachtung in den Mundwinkeln alles ist
eitel bei einem Wen-Amon ist spät, greisenhaft. Hier aber
ist es die Jugend, die verachtet, und nicht das Leben, sondern das Leben
ohne heldische Größe, und nicht den Tod, sondern den Tod im
Bette. Hier ist das Höchste des Menschentums erreicht, seine prachtvolle
Blüte, um die es wohl wert war, Jahrtausende den Boden mit Blut zu
tränken, aufzubauen, was wieder zerfiel. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 486-487).
Historie - Privatschicksal: Der bedeutende Mensch (»bedeuten«
wörtlich nehmen, seine Privaterlebnisse bedeuten Zeitdscshicksale)
[ist der], dessen Privatdasein das Gesamtdasein in sich aufnimmt. Der
Fall Napoleon ist der stärkste, weit schwächer Cäsar.
(Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S.
488).
Vor allem aber die Fälle der großen Geistigen. Hier
ist der moderne Standpunkt ganz richtig: ihre Philosophie, Kunst etc.
ist Privatsache, aus Nerven, Anlagen, Rasse, Notwehr zu erklären.
Wie z.B. kamen Kant und Nietzsche zu ihrer Philosophie? Ganz privatim.
Man darf also auch ihre Resultate privatim ableiten (was die Psychoanalytiker
tun). Aber die Größe beruht eben darin, daß das Denken
der Zeit in diesen Privatereignissen aufgeht und in ihnen für die
nächste Generation Form gewinnt. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 488).
Gerade Nietzsche hat durch seine bizarre Erscheinung das Denken
von 1880 in bizarrer Form für uns, die nächste Generation, überliefert.
Wäre an seiner Stelle ein ruhiger Systematiker vom Typus Kants (als
à la Mommsen, Helmholtz) aufgetreten, so hätten wir die Substanz
der Zeit in andrer Form und statt durch unsre Journalisten, Rezensenten,
Literaten wäre der Stil unserer Gelehrten am Technischen gestaltet
worden. Der Kern des Denkens von Nietzsche ließe sich auch, statt
von Wagner und von Dionysios aus, von der modernen Technik und Geldwirtschaft
aus auffassen. Es wäre besser für uns gewesen, einen großen
Nationalökonomen statt eines großen Schauspielers zu haben.
Unser Schicksal war Nietzsche. Wie schade; wir hätten sonst um 1914
eine offizielle deutsche Philosophie gehabt, die jeder unserer Industriellen,
Politiker, Nationalökonomen gekannt hätte und die in unsre wissenschaftliche
und praktische Arbeit normierend eingreifen würde. So ist Nietzsche
leider eine Angelegenheit zunächst für Literaten und Journalisten
geworden. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 488-489).
Zur politischen Dynamik der faustischen Kultur: Von Kolumbus
an ist ihr Schauplatz planetarisch. Das hat zu dem sehr begreiflichen
Aspekt der »Weltgeschichte« geführt. Ihre »Neuzeit«
ist lediglich die Spätzeit einer einzelnen Kultur, und deren Ausdehnung
über die Oberfläche der Planeten ist ein Symptom faustischen
Geistes und also an dessen Lebensdauer gebunden. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 489).
Das Tragische großer Talente [liegt] »zwischen den
Zeiten«. Da löst sich ein Rätsel der großen Unverstandenen.
Ich denke an List, unsren größten Staatsdenker, der an G[enie]
Bismarck überlegen war. Er hätte 1800 in der Vollkraft seines
Schaffens stehen müssen, dann hätte er die Politik von 1815
beherrscht. Oder 1860 - dann wäre die Bismarck-Ära von seinen
sehr viel großzügigeren Ideen ausgefüllt gewesen. Aber
er wurde 1789 geboren und erschoß sich 1846, nachdem all seine Intentionen
in dieser »Zwischenzeit« gescheitert waren. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 489).
Die älteren Formen bestehen fort, scheinbar, bei antiquierten
Völkern herrschend. Franzosen und Italiener werden nicht mehr über
die politische Form eines von Jahr zu Jahr komischeren Nationalismus hinauskommen.
Der Franzose und Italiener reist nicht - als Sadist -, er weiß vom
andren aus Mangel an Distanz und Proportionsgefühl: das ist Chauvinismus.
Das 19. Jahrhundert ist das der Nationalform der Öffentlichkeit:
Parlamente, Einverleibung fremder Völker. Aber die ältere Form
des dynamistischen Prinzips (Untertan, Territorien, »mein Volk«)
ist für den Alltagsmenschen das einzige, was er sieht, worin er lebt
und wonach er handelt. Heute fängt das Stadium der Wirtschaftskomplexe
an, aber das Alltagsgefühl wird noch hundert Jahre und länger
das Nationalstadium als bestehend vortäuschen, und Völkerfragmente
wie Polen und Tschechen werden in den Wirtschaftskomplexen aufgehen, ohne
zu bemerken, daß ihre Aktionen längst ganz unwesentlich geworden
sind. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 489-490).
- Anhang -
Was ist Geschichte (gegen Natur)? Zeit-Raum. Schicksal.
Kausal. Weltweben, Strom. Tatsache, einmalig. Altertum Mittelalter
Neuzeit. Bronzezeit, Kulturkreis. Erd-, Bio-, Menschengeschichte.
Horizont. Geschichtsdenken: sehen, erleben, schreiben. Epochen der Weltgeschichtsschreibung.
Philosophie. Wir die Letzten. Rückblicke. Symptom. (Oswald
Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 494).
1. Was ist der Mensch? Schweifendes Raubtier. Instinkt,
Sinne. Schwarm, Horde, klein. Befreiung vom Zwang der Gattung. Hand-Werkzeug.
List-Waffe. ab-cd. Leben. Pflanze, Tier. Von innen heraus.
Kosmos-Mikrokosmos/Makrokosmos. Wille/Schicksal. Strom der Generationen.
Zahl. Leben ist Kampf. Tat ist Kampf. (Oswald Spengler, Frühzeit
der Weltgeschichte, postum, S. 494).
2. Wann beginnt die Weltgeschichte? Fünftes Jahrtausend
(v. Chr.). Sprechen Denken. Idee Ideal.
Geist. Reflexion, Bewußtsein. Unternehmen, Organisieren. Bewußte
Gemeinschaft organisiert, sinnvoll, zweckhaft, sprechend verbunden. Ziele. Skala
zwischen Grausamkeit und Mitleid. Mitteilen statt Instinkt. Bauern: Ackerbau,
Viehzucht. Werk, Tat. Krieg. (Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte,
postum, S. 494).3.
Was ist Weltgeschichte? Kampf, Schicksal des denkenden Menschen, tragisch,
selbstvernichtend. Zweihundert Generationen. Tiefe, Sinn. Urphänomen. Weltgefühl,
Metaphysik; Mächte des Denkens. Mächte als Tendenzen. Tempo, Dauer.
Herrschaft gegen die Welt. Wille/Schicksal. Politik und Wirtschaft.
Tatsachen, einmalig. Epoche, Episode, Chronologie. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 494).
4. Was ist Kultur? Innere Form, Gewächs, Lebenslauf.
Idee der Gestalt der Wandlung. Seßhaft, Haus, Fessel; d pflanzenhaft,
c Amöbe. Früh- und Spätkulturen c-d Gruppe: Typus, Tempo,
Dauer. Darüber, nicht danach. Entstehung Verfall (Naturvölker,
Zivilisation, Fellachen). Bauerntum und Gesellschaft. Dorf, Stadt. Stamm,
Staat, Stand. Adel Priester. Symbolik. Ursymbol. Ausdruck der Religion
und Politik. Werke, Taten. d-Stadt, Parasit am c-Dorf. (Oswald Spengler,
Frühzeit der Weltgeschichte, postum, S. 494-495).
Der Sieger Novellen-Skizze.
(Oswald Spengler, Der Sieger, in: Reden und Aufsätze, postum,
S. 48-53).
Gedanken zur lyrischen Dichtung
Einführung
zu Ernst Droems Gesänge (Ernst Droem = Adolf Weigel).
(Oswald Spengler, Gedanken zur lyrischen Dichtung, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 60).
Pessimismus?
Es gibt keinen wirklich neuen Gedanken in einer
so späten Zeit. (Oswald Spengler, Pessimismus?,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 8).
Es gibt im ganzen 19. Jahrhundert nicht eine Frage,
welche die Scholastik nicht schon als eines ihrer Probleme entdeckt, durchdacht
und in eine glänzende Fassung gebracht hätte. (Oswald
Spengler, Pessimismus?, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 8).
Menschheit ist für mich eine zoologische
Größe. (Oswald Spengler, Pessimismus?, in:
Reden und Aufsätze, postum, S. 14).
Untergang nicht im Sinne eines Schiffsunterganges,
sondern im Sinne der Vollendung. .... Aber es gibt Menschen, welche den
Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln.
Der Begriff einer Katastrophe ist in dem Worte nicht enthalten.
Sagt man statt Untergang Vollendung, ein Ausdruck, der im Denken Goethes
mit einem ganz bestimmten Sinn verbunden ist, so ist die »pessimistische«
Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne daß der eigentliche Sinn des
Begriffs verändert worden wäre. (Oswald Spengler, Pessimismus?,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 63f.).
Ein
Weltbild, in dem man leben, und nicht ein Weltsystem, in
dem man grübeln kann, war das eigentliche Ziel meiner Arbeit.
(Oswald Spengler, Pessimismus?, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 64).Tatsachen
sind wichtiger als Wahrheiten. (Oswald Spengler, Pessimismus?,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 67 und 73).
Es geht ein mächtiger Strom deutschen Denkens von Leibniz
über Goethe und Hegel der Zukunft zu. Wie alles Deutsche hatte er
das Schicksal, gleichsam unterirdisch und unbeachtet durch die Jahrhunderte
fließen zu müssen, während fremde Denkweisen an der Oberfläche
des Denkens selbst bei diesen Männern die Herrschaft führten.
.... Der gewaltige Hegel war der letzte, dessen Denken, von politischen
Wirklichkeiten ausgehend, noch nicht ganz durch Abstraktionen erstickt
wurde. Dann kam Nietzsche, der dem Darwinismus verfiel und trotzdem weit
über das englisch-darwinistische Zeitalter hinausgreifend, uns allen
den Blick verlieh, mit dem wir heute dieser lebendigen Richtung
des Denkens den Sieg verschaffen können. So sehe
ich heute die geheimen Voraussetzungen, die meiner Denkweise unbewußt
zugrunde lagen. Hier findet sich nirgends ein Gebäude von Allgemeinheiten.
Das Einmalig-Wirkliche mit seiner ganzen Psychologie, das bei Kant und
Schopenhauer keine Rolle spielt, beherrscht die historischen Sammlungen
von Leibniz ebenso vollständig, wie die Naturbetrachtung Goethes
und die Vorlesungen Hegels über Weltgeschichte. Deshalb steht hier
das Tatsächliche in einem ganz anderen Verhältnis zum Gedanken,
wie bei allen Systematikern. Bei diesen bildet es ein totes Material,
aus dem Gesetze gezogen werden. Bei mir sind es Beispiele, die einen erlebten
Gedanken beleuchten, der nur in dieser Form eigentlich mitteilbar ist.
(Oswald Spengler, Pessimismus?, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 74).
Es müssen immer große Allgemeinheiten sein, die aus
der Ferne herüberleuchten. Das stillt die Angst derer, die für
Wagnisse, Unternehmungen, für alles, was Tatkraft, Initiative, Überlegenheit
fordert, verdorben sind. (Oswald Spengler, Pessimismus?,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 74).
Nein, ich bin kein Pessimist. Pessimismus heißt
keine Aufgaben mehr sehen. Ich sehe so viele noch ungelöst, daß
ich fürchte, es wird uns an Zeit und Männern fehlen. (Oswald
Spengler, Pessimismus?, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 75).
Die
Frage vom Werte der Wissenschaft hat Nietzsche gestellt. Es wird Zeit, auch nach
dem Werte der Kunst zu fragen. Zeiten ohne echte Kunst und Philosophie können
immer noch mächtige Zeiten sein; die Römer haben uns das gelehrt.
(Oswald Spengler, Pessimismus?, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 76).
Alles was nicht mehr lebt, wird entworfen ..., eine persönliche
Kultur mit Theosophie und Meisterkult ..., eine persönliche Religion
..., ein Staat aus dem Eros ... Landwirtschaft, Handel und Industrie
.... Diese Idelae soll man in Scherben schlagen: je lauter, desto besser.
Härte, römische Härte ist es, was jetzt in der Welt beginnt
.... Kunst ja, aber in Beton und Stahl, Dichtung ja, aber von Männern
mit eisernen Nerven und unerbittlichem Tiefblick, ... Politik ja, aber
von Staatsmännern und nicht von Weltverbesserern. .... Zu
einem Goethe werden wir Deutschen es nicht mehr bringen, aber zu einem
Cäsar. (Oswald Spengler, Pessimismus?, in:
Reden und Aufsätze, postum, S. 78-79).
Wir glauben nicht mehr an die Macht der Vernunft
über das Leben. Wir fühlen, daß das Leben die Vernunft
beherrscht. Menschenkenntnis ist uns wichtiger als abstrakte und allgemeine
Ideale. .... Das Leben ist das erste und das letzte, und das Leben
hat kein System, kein Programm, keine Vernunft; es ist für sich selbst
und durch sich selbst da, und die tiefere Ordnung, in der es sich verwirklicht,
läßt sich nur schauen und fühlen - und dann vielleicht
beschreiben, aber nicht nach gut und böse, richtig oder falsch, nützlich
und wünschenswert zerlegen. (Oswald Spengler, Pessimismus?,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 84-86).
Frankreich und Europa
Aufgaben des Adels
Atlas Antiquus
Plan
eines neuen Atlas Antiquus (Oswald Spengler, Atlas Antiquus, in:
Reden und Aufsätze, postum, S. 96-104).
Altasien
Nietzsche und sein Jahrhundert (Rede, gehalten am
15. Oktober 1924, dem 80. Geburtstage Nietzsches, im Nietzsche-Archiv zu Weimar)
Wer
heute auf das 19. Jahrhundert zurückblickt und seine großen Menschen
an sich vorüberziehen läßt, der findet in der Erscheinung Nietzsches
etwas Erstaunliches, wie es seine eigne Zeit kaum hat empfinden können. Alle
anderen, auch Wagner ... haben doch irgendwie die Farbe und Form dieser Jahre
getragen, sind irgendwie mit dem platten Optimismus ihrer Fortschrittsphilister,
ihrer Nützlichkeits- und Gesellschaftsethik, ihrem Weltbild aus Kraft und
Stoff und Anpassung und Zweckmäßigkeit verhaftet gewesen und haben
dem Zeitgeist Opfer über Opfer gebracht. Eine rücksichtslose Ausnahme
davon macht nur einer, und wenn das Wort »unzeitgemäß«,
das er selbst geprägt hat, heute noch von irgend jemand gelten darf, dann
ist es Nietzsche selbst gewesen. Denn man wird in seinem ganzen Leben und der
gesamten Haltung seines Denkens vergeblich nach etwas suchen, worin er einer Mode
innerlich erlegen wäre. (Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 110).Er
steht damit im Gegensatz und doch auch wieder in einer tiefinnerlichen Verwandtschaft
zu dem zweiten Deutschen der neueren Zeit, dessen Leben ein großes Symbol
gewesen ist: Goethe. Es sind die beiden einzigen Deutschen von Rang, deren Dasein
außerhalb und neben ihren Werken Tiefe besitzt und, weil beide von Anfang
an selbst so empfunden und sich darüber dauernd Rechenschaft abgelegt haben,
zum Gemeingut ihrer Nation und zu einem wesentlichen Bestandteil von deren Geistesgeschichte
geworden ist. (Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert, in:
Reden und Aufsätze, postum, S. 110).Aber
es war das Glück Goethes, daß er auf der Sonnenhöhe abendländischer
Kultur geboren wurde, inmitten einer reifen und gesättigten Geistigkeit,
die er repräsentierte, und daß er nichts brauchte als ganz der Mensch
seiner Zeit zu sein, um zu jener formvollen Abgeklärtheit zu gelangen, die
gemeint war, wenn man ihn später den Olympier nannte. Nietzsche hat ein Jahrhundert
danach gelebt, und inzwischen war die große Wendung eingetreten, die wir
erst heute begreifen. Es war sein Verhängnis, jenseits des Rokoko zu stehen,
mitten in der vollkommenen Kulturlosigkeit der sechziger und siebziger Jahre.
In was für Straßen und Häusern mußte er leben! Was mußte
er an Manieren, Kleidung, Möbeln um sich sehen! In was für Formen bewegte
sich damals der gesellschaftliche Verkehr; wie dachte, wie schrieb, wie fühlte
man! Goethe lebte in einer Zeit voller Form; Nietzsche verging vor Sehnsucht nach
Formen, die unwiderruflich zerbrochen und vergangen waren; und wie der eine nur
zu bejahen brauchte, was er sah und miterlebte, so blieb dem andern nichts übrig
als ein leidenschaftlicher Protest gegen alles Gegenwärtige, wenn er in sich
retten wollte, was von seinen Vorfahren her als Kulturerbe in ihm noch wirksam
war. Sie haben beide ihr Leben hindurch nach strenger innerer Form und Geformtheit
getrachtet. Aber das 18. Jahrhundert war selbst in Form. Es besaß das Höchste,
was Westeuropa an Gesellschaft je gekannt hat. Das 19. Jahrhundert hatte weder
eine vornehme Gesellschaft noch Formen überhaupt. Von den beiläufigen
Sitten einer großstädtischen Oberklasse abgesehen kannte es nur hier
und da eine mühsam aufrecht erhaltene höfische oder bürgerliche
Tradition. Und ebenso wie Goethe als anerkanntes Glied der Gesellschaft alle großen
Fragen seiner Zeit erfassen und lösen konnte, wie es »Wilhelm Meister«
und die »Wahlverwandtschaften« lehren, so konnte Nietzsche nur in
völliger Abgewandtheit von ihr seine Aufgabe in sich retten. Seine schauerliche
Einsamkeit steht als Sinnbild der heitren Geselligkeit Goethes gegenüber.
Der eine bildet Vorhandenes durch, der andre grübelt über Nichtvorhandenem
für eine herrschende Form und gegen eine herrschende Unform,
(Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und
Aufsätze, postum, S. 111).Aber
davon abgesehen war Form für sie etwas sehr Verschiedenes. Nietzsche ist
unter den großen geistigen Deutschen der einzige geborene Musiker gewesen.
Alle anderen waren entweder Bildner oder Zergliederer, mochten sie nun denken,
dichten oder malen. Er lebte, fühlte, er dachte mit dem Ohr. Er hat ja seine
Augen kaum gebrauchen können. Seine Prosa ist gehört, fast gesungen,
nicht »geschrieben«. Die Vokale und Kadenzen sind wichtiger als die
Vergleiche. Und so war das, was er in den Zeiten fühlte, ihre Melodie, ihr
Takt. Er entdeckte die Tonart fremder Kulturen. Niemand hat vor ihm etwas vom
Tempo der Geschichte gewußt. Eine ganze Anzahl seiner Begriffe das
Dionysische, das Pathos der Distanz, die ewige Wiederkunft sind durchaus
musikalisch zu verstehen. Er fühlte den Takt in dem, was man Adel, Sitte,
Heldentum, Vornehmheit, Herrenmoral nannte. Er hat zuerst in dem Geschichtsbild,
das die gelehrte Forschung damals aus Daten und Zahlen aufgebaut hatte, die rhythmische
Folge der Zeitalter, der Sitten und Denkweisen, der Rassen und großen Einzelnen
wie eine Symphonie erlebt. (Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 111-112).Und
er selbst hatte Musik, so wie er ging, sprach, sich kleidete, andere Menschen
empfand, wie er Probleme formte und Schlüsse zog. Was für Goethe Bildung
war, war für ihn Takt, und zwar im weitesten Sinne, gesellschaftlicher, sittlicher,
geschichtlicher, sprachlicher Takt, durch Entbehren geschärft in einer Zeit,
die wenig davon besaß. Der Tasso ist aus dem Leiden geboren wie der Zarathustra,
aber Tasso verging im Gefühl seiner Schwäche vor einer Gegenwart, die
er liebte und hoch über sich sah. Zarathustra verachtet seine Gegenwart und
flüchtet sich in Fernen der Vergangenheit oder Zukunft. (Oswald Spengler,
Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze, postum,
S. 112).Wir
können heute den Gegensatz, der um 1800 überall in Westeuropa
auch das literarische Petersburg gehörte dazu hervortrat, mit den
Worten Klassizismus und Romantik umfassen. Goethe ist Klassizist in demselben
Maße, wie Nietzsche Romantiker gewesen ist, aber damit ist nur die vorherrschende
Farbe ihres Seins bezeichnet. Jeder von beiden besaß auch noch die andre
Möglichkeit in sich, die sich zuweilen in den Vordergrund drängte; und
so wie Goethe, dessen Faustmonologe und westöstlicher Divan Höhepunkte
romantischen Weltgefühls sind, immer wieder bestrebt war, diesen Hang zum
Fernen und Grenzenlosen zu meistern und einer klaren und strengen, überlieferten
Form unterzuordnen, so hat Nietzsche seine anerzogene Neigung zum Klassisch-Vernünftigen,
dem er als Temperament und als Philologe doppelt nahestand, wenigstens in seinen
Wertungen hinter dem zurückgesetzt, was er dionysisch nannte. Sie standen
beide an der Grenze. Goethe war ebenso der letzte Klassizist, wie Nietzsche neben
Wagner der letzte Romantiker war. Sie haben lebend und gestaltend den Kreis dieser
Möglichkeiten erschöpft. Nach ihnen war der Sinn der Zeiten so nicht
mehr in Worte und Bilder zu fassen das haben die Epigonen des klassischen
Dramas und die Nachtreter Zarathustras und des Nibelungenringes bewiesen. Aber
ebenso ist es unmöglich, gleich ihnen eine neue Art des Sehens und Sagens
zu erschließen. Es mögen noch so starke Gestalter in Deutschland hervortreten
als Einzelne und schöne Zufälle denn auch die große
Linie der Entwicklung ist zu Ende sie werden stets im Schatten dieser beiden
stehen. (Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert, in:
Reden und Aufsätze, postum, S. 113).Es
gehört zum Wesen des abendländischen Klassizismus, daß er unter
Beherrschung entgegengesetzter Triebe ganz am Gegenwärtigen haftet und Vergangenheit
und Zukunft in diesem aufzulösen sucht. Goethes Ausspruch von der »Forderung
des Tages«, seine »heitre Gegenwart« bedeuten doch, daß
er jede Art von Vergangenem, seine Griechen, seine Renaissance, auch Götz
und Faust und Egmont an sich zog, um sie völlig dem Geist der Nähe einzuverleiben,
so daß uns bei Tasso und Iphigenie nicht einmal der Gedanke an historische
Unterlagen kommt. Umgekehrt ist die Ferne die eigentliche Heimat aller Romantiker.
Sie sehnen sich alle aus dem Gegenwärtigen nach dem, was weit ab und fremd
ist, in die Vergangenheit und Zukunft der Geschichte; keiner hat je ein tiefes
Verhältnis zu dem finden können, was ihn umgab. (Oswald Spengler,
Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze, postum,
S. 113-114).Den
Romantiker lockt, was ihm wesensfremd, den Klassizisten, was ihm wesensgemäß
ist. Edle Träumer und edle Bezwinger der Träume: so haben die einen
für die Eroberer, Empörer und Verbrecher der Vergangenheit oder für
Idealstaaten, Zukunftsreiche und Übermenschen geschwärmt, die anderen
die Staatskunst als Praxis und Methode verstanden oder auch ausgeübt, wie
Goethe und Humboldt. Das Gespräch zwischen Egmont und Oranien ist ein Meisterwerk
Goethes. Er hat Napoleon geliebt, als Erscheinung, wie er sie in der Nähe
wirken sah. Mit den Gewaltmenschen der Vergangenheit hat er, sobald er sie vergegenwärtigen
sollte, nie etwas anzufangen gewußt: sein Cäsar blieb ungeschrieben.
Aber Nietzsche liebte gerade Menschen dieses Schlages nur aus der Ferne. In der
Nähe wie Bismarck ertrug er sie nicht. Er hätte auch Napoleon
nicht ertragen. Er wäre ihm roh, leer und flach erschienen, wie die napoleonischen
Naturen, die um ihn lebten, die großen Politiker Europas und die Machtmenschen
der Wirtschaft, die er nicht einmal gesehen, geschweige denn verstanden hat. Er
brauchte einen weiten Abstand zwischen dem Einst und Jetzt, um sich einer Wirklichkeit
verwandt zu fühlen, und deshalb schuf er sich den Übermenschen und kaum
weniger frei die Gestalt Cesare Borgias. Diese beiden Tendenzen durchziehen in
tragischer Weise die deutsche Geschichte der jüngsten Zeit. Bismarck war
ein Klassizist der Politik. Er rechnete nur mit Vorhandenem, mit Dingen, die er
sah und bewegen konnte, und deshalb haben ihn die patriotischen Schwärmer
weder geliebt noch begreifen können, bis sein Werk abgeschlossen dalag und
er als fast mythische Gestalt romantisch verklärt werden konnte: »der
Alte im Sachsenwald«. Aber Ludwig II., der an seiner Romantik zugrunde gegangen
ist und niemals irgend etwas schuf oder hätte schaffen können, was Dauer
versprach, fand diese Liebe, ohne sie zu achten, nicht nur im Volk, sondern unter
Denkern und Künstlern, die schärfer hätten sehen können. Kleist
wird unter uns bestenfalls mit einer scheuen Achtung empfunden, die einer Ablehnung
gleichkommt, gerade dort, wo es ihm gelang, den Romantiker in sich zu bezwingen.
Er steht den meisten innerlich unendlich fern im Gegensatz zu Nietzsche, dessen
Gestalt und Schicksal dem des bayrischen Königs doch nahekommt, das selbst
von denen wider Willen verehrt wird, die ihn nie gelesen haben. (Oswald
Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 114-115).Aus
dem Hang zur Ferne erklärt sich nun auch sein aristokratischer Geschmack,
der einsam und schwärmerisch ist durch und durch. Der beginnende Klassizismus
des 18. Jahrhunderts, der an der Themse entstand und von dort auf das Festland
übertragen wurde, so wie die ossianische Romantik aus Schottland stammt,
ist vom gleichzeitigen Rationalismus nicht zu trennen. Er gestaltet bewußt
und überlegt; er ersetzt die freie Einbildungskraft durch Wissen, selbst
durch Gelehrsamkeit: die verstandenen Griechen, die verstandene Renaissance, und
deshalb endlich auch die verstandene tätige Mitwelt. Diese englischen Klassizisten,
die sämtlich von Stand waren, haben den Liberalismus als Weltanschauung schaffen
helfen, so wie ihn das 18. Jahrhundert, wie ihn Friedrich der Große verstand,
das Absehen von Unterschieden, deren man sich in der Praxis ohnehin sicher fühlte,
das vernünftige Eingehen auf Tatsachen der öffentlichen Meinung, die
man der Gefahr entkleiden, aber weder beseitigen noch sich verschweigen konnte.
Aus dem Klassizismus einer vornehmen Gesellschaft ist die englische Demokratie
hervorgegangen, eine überlegene Taktik, kein doktrinäres Programm. Sie
beruht auf langen und tiefen Erfahrungen einer Schicht, die es gewohnt war, mit
dem Wirklichen und Möglichen zu rechnen und umzugehen, und die deshalb nie
in die Gefahr kam, sich gemein zu machen statt leutselig zu sein. Goethe, der
sich auch seines gesellschaftlichen Ranges bewußt war, ist niemals Aristokrat
in dem leidenschaftlich theoretischen Sinne gewesen wie Nietzsche, der die Gewohnheit
praktischer Erfahrungen aus der Nähe nicht besaß. Zuletzt hat er doch
auch die Demokratie seiner Zeit in ihrer Macht und Ohnmacht niemals wirklich kennengelernt.
Wenn er sich gegen Herdengefühle mit dem Ingrimm eines seelisch empfindlichen
Menschen auflehnte, so stammte der Anlaß dazu aus irgendeiner geschichtlichen
Vergangenheit. Er sah, in dieser unerbittlichen Form ohne Zweifel als erster,
wie in allen großen Kulturen und Epochen der Vergangenheit die Menge nichts
ist, wie sie Geschichte erleidet aber nicht macht, wie sie das beständige
Opfer und Objekt des persönlichen Willens der zum Herrschen geborenen Einzelnen
und Klassen ist. Gefühlt wurde das oft genug, aber bis auf ihn hat dies Gefühl
nicht das überlieferte Bild der »Menschheit« zu zerstören
vermocht, deren Entwicklungsgang die fortschreitende Lösung einer idealen
Aufgabe und deren Führer die Vertreter dieser Aufgabe zu sein schienen. Hier
liegt der unermeßliche Unterschied zwischen der Geschichtsschreibung eines
Niebuhr und Ranke, die als Idee doch auch romantischen Ursprungs war, und seiner
Art, Geschichte zu schauen. Sein Blick, der in die Seele der Zeiten und Völker
drang, hat die bloße pragmatische Ordnung der Tatsachen überwunden.
(Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 115-116).Aber
dieser Blick bedurfte des Abstandes. Der englische Klassizismus, der auch in Grote
den ersten modernen Geschichtsschreiber der Griechen hervorgebracht hat, einen
Kaufmann und praktischen Politiker, war durchaus der einer erlesenen Gesellschaft.
Man adelte diese Griechen, indem man sie wie seinesgleichen empfand, sie sich
in des Wortes eigentlichster Bedeutung »vergegenwärtigte«, als
gepflegte, distinguierte, geistig verfeinerte Menschen, die alles, was sie taten,
mit Geschmack taten, auch Homer und Pindar, welche die englische klassische Philologie
als erste Horaz und Virgil vorzog. Aus der englischen Gesellschaft drang dieser
Klassizismus in das, was ihr in Deutschland allein entsprechen konnte, an die
kleinen Höfe, deren Prinzenerzieher und Prediger die Vermittler waren; und
der höfische Kreis von Weimar war zuletzt die Welt, innerhalb deren Goethes
Leben zum Symbol einer heitren Nähe und abgerundeten Gegenwart wurde: ein
geselliges Haus, das den Mittelpunkt des geistigen Deutschlands bildete, eine
Erfülltheit, wie sie in keinem zweiten Lebenslauf eines deutschen Dichters
zu erblicken ist, eine Harmonie des Aufsteigens, Reifens und Ausklingens, die
klassisch ist in einem spezifisch deutschen Sinne. (Oswald Spengler,
Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze, postum,
S. 116-117).Neben
dieser Laufbahn steht die andre, die ebenfalls in Weimar zu Ende kam, ausgehend
von der Gebundenheit eines evangelischen Pfarrhauses, aus dem ein großer
und vielleicht der größte Teil deutscher Geistigkeit stammt, bis in
die sonnentrunkene Einsamkeit des Engadin. Es gibt keinen zweiten Deutschen, der
so leidenschaftlich als Privatmann gelebt hat, abseits von allem was Öffentlichkeit
und Gesellschaft heißt, obwohl sie alle den Hang dazu haben, auch wenn sie
öffentliche Menschen sind. Seine schwärmerische Sehnsucht nach Freunden
war im letzten Grunde doch nur seine Unfähigkeit, wirklich in Gesellschaft
zu leben, eine geistigere Art also, einsam zu sein. An Stelle des freundlichen
Goethehauses am Frauenplan das kleine freudlose Haus in Sils-Maria, die Einsamkeit
der Berge, die Einsamkeit des Meeres und zuletzt das einsame Erlöschen in
Turin es ist der reinste romantische Lebenslauf, den das 19. Jahrhundert
uns dargeboten hat. (Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 117).Trotzdem
war sein Bedürfnis, sich mitzuteilen, stärker als er selbst glaubte,
und weit stärker jedenfalls als dasjenige Goethes, der aller Umgänglichkeit
zum Trotz einer der verschwiegensten Menschen gewesen ist. Seine »Wahlverwandtschaften«
sind ein verschlossenes Buch, um von den Wanderjahren und dem zweiten Faust zu
schweigen; seine tiefsten Gedichte sind Selbstgespräche. Die Aphorismen Nietzsches
sind es niemals, auch das Nachtlied, auch die Dionysos-Dithyramben sind es nicht
ganz. Ein unsichtbarer Zeuge ist immer zugegen, dessen Auge auf ihm ruht; darin
ist er doch Protestant und gottgläubig geblieben. Alle diese Romantiker lebten
in Zirkeln und Schulen. Etwas derart erfand er, indem er seine Freunde zu ebenbürtigen
Hörern umdichtete, oder in die ferne Vergangenheit und Zukunft einen Kreis
von Weggenossen schuf, um ihnen dann wieder wie Novalis und Hölderlin seine
Einsamkeit zu klagen. Sein ganzes Leben ist erfüllt von Seligkeit und Qual
des Entsagens, von dem Wunsch, sich hinzugeben und sich zu bezwingen, irgendwo
und in irgendeiner Form sein Leben an etwas zu knüpfen, das ihm doch wieder
nicht wesensgemäß war. Aber so entwickelt sich sein Blick für
die Seele der Zeiten und Kulturen, die einem klassischen, seiner selbst sichern
Menschen ihre Geheimnisse nicht preisgab. (Oswald Spengler, Nietzsche
und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 117-118).Aus
dem organischen Pessimismus seines Daseins erklären sich nun die Werke und
die Reihenfolge, in der sie hervorgetreten sind. Wir, die wir den Blütejahren
des Materialismus schon fernstehen, sollten immer wieder darüber staunen,
was für eine Tat es war, wenn jemand in diesem Alter und bei diesem Stande
der Wissenschaft von 1870 ein Buch wie die »Geburt der Tragödie«
schrieb. Die berühmte Formel von Apollo und Dionysos enthält viel mehr,
als der Durchschnitt auch heute noch begreift. Nicht das war das wichtigste, daß
er im »klassischen« Griechentum, das für alle andern, Bachofen
und Burckhardt etwa ausgenommen, die reinste Offenbarung des allgemein Menschlichen
war, einen inneren Zwiespalt entdeckte, sondern daß er die Überlegenheit
des Blicks schon damals besaß, um ganzen Kulturen wie lebenden Einzelwesen
ins Innere zu sehen. Man braucht im Vergleich damit nur Mommsen und Curtius zu
lesen. Die andern verstanden unter Griechentum nur eine Summe von Zuständen
und Ereignissen, die innerhalb einer Zeit und eines Raumes lagen. Die heutige
Art, Geschichte zu sehen, verdankt der Romantik nur den Ursprung, nicht die Tiefe.
Sie war damals nichts als angewandte Philologie, wenn sie sich mit Griechen und
Römern, nichts als angewandte Archivforschung, wenn sie sich mit abendländischen
Völkern beschäftigte. Sie hat die Ansicht entwickelt, daß Geschichte
mit der schriftlichen Überlieferung beginne. Die Befreiung erfolgte aus dem
Geiste der Musik. Von dem Musiker Nietzsche stammt die Kunst, sich in den Stil
und Takt fremder Kulturen einzufühlen, jenseits und oft im Widerspruch zu
den Quellen aber was kommt darauf an! Mit dem Worte Dionysos hat Nietzsche
entdeckt, was die Ausgrabungen dreißig Jahre später endlich auch offenbarten,
die Unterwelt und Unterseele der antiken Kultur und damit das Seelenhafte selbst,
das hinter der großen Geschichte steht. Aus der Geschichtsbeschreibung war
Geschichtspsychologie geworden. Das 18. Jahrhundert und der Klassizismus, auch
Goethe, glaubten an »die« Kultur, die eine, wahre, sittlich-geistige
als Aufgabe der einen Menschheit. Nietzsche redet von Anfang an mit Selbstverständlichkeit
von Kulturen wie von Schauspielen der Natur, die schlechthin irgendwann einmal
begannen, ohne Aufgabe, Vernunft, Zweck und Grund, oder wie sonst die allzumenschlichen
Deutungen lauten mögen. Einmal denn daß alle diese Kulturen,
Wahrheiten, Denkweisen, Künste zu einer Art und Form von Dasein gehören,
das auftaucht und dann für immer wieder verschwindet, das steht mit solcher
Deutlichkeit zum erstenmal in diesem Buch. Daß jede geschichtliche Tatsache
Ausdruck einer Seelenregung ist, daß Kulturen, Zeitalter, Stände, Rassen
eine Seele haben wie einzelne Menschen, das war ein so ungeheurer Schritt vorwärts
in der historischen Vertiefung, daß es damals auch von ihm selbst in seiner
Tragweite nicht übersehen wurde. (Oswald Spengler, Nietzsche und
sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 118-119).Und
trotzdem gehört es nun wieder einerseits zur Sehnsucht des Romantikers, seinem
eigenen Wesen zu entfliehen, und andrerseits zu dem Verhängnis, in dieser
Zeit geboren zu sein, daß er mit dem zweiten Buch »Menschliches, Allzumenschliches«
sich zwang, dem plattesten Realismus als Herold zu dienen. Es sind die Jahre,
in welchen der abendländische Rationalismus als Farce endete, nachdem er
unter Rousseau, Voltaire und Lessing mit Größe begonnen hatte. Die
Lehre Darwins und der Kraft- und Stoffglaube wurden die Religion der Städte;
die Seele war ein chemischer Prozeß im Eiweiß, und der Zweck der Welt
sammelte sich in einer Sozialethik aufgeklärter Philister. Mit keiner Faser
seines Wesens stand Nietzsche diesen Dingen nahe. Seinem Ekel hatte er schon in
der ersten »Unzeitgemäßen« Luft gemacht, aber der Gelehrte
in ihm beneidete Chamfort und Vauvenargues und die leichte und etwas zynische
Art, im Tone der großen Welt mit ernsten Dingen umzugehen; der Künstler
und Enthusiast wurde verlegen vor der massiven Nüchternheit etwa eines Dühring,
die er für Größe hielt, und als durch und durch priesterlicher
Mensch, der er war, christlicher als seine Zeit und christlicher als jede Kirche,
ging er daran, die Religion als Vorurteil zu entlarven. Jetzt war der Zweck des
Lebens die Erkenntnis und das Ziel der Geschichte die Entwicklung [120] der Intelligenz.
Das sagte er, weil es ihm weh tat, in einer spöttischen Form, mit welcher
er seine Leidenschaft geißelte, und mit dem unerfüllbaren Verlangen,
mitten aus der Zeit ein verführerisches Bild der Zukunft zu erhalten, das
im Gegensatz stand zu dem, welches ihm angeboren war. (Oswald Spengler,
Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze, postum,
S. 119-120).Obwohl
nun der Zweckmäßigkeitsrausch des Darwinismus ihm so fern als möglich
lag, hat er doch aus ihm Geheimnisse geholt, von denen kein echter Darwinist etwas
ahnte. In der »Morgenröte« und »Fröhlichen Wissenschaft«
taucht ganz leise neben einer Art, die Dinge zu sehen, welche prosaisch, ja verächtlich
sein sollte, eine andre, scheue, verehrende auf, die tiefer dringt als je die
eines bloßen Realisten. Wer hat vor ihm von der Seele einer Zeit, eines
Standes, eines Berufes, des Priesters, des Helden, des Mannes, des Weibes so gesprochen,
wie er das tat? Wer hat die Psychologie ganzer Jahrhunderte auf eine fast metaphysische
Formel gebracht? Wer hat in dieser Geschichte statt der Tatsachen oder »ewigen
Wahrheiten« die Typen des heroischen, duldenden, schauenden, starken, kranken
Lebens als die eigentliche Substanz des Geschehens hingestellt? Das war eine ganz
neue Art von lebendigen Formen, die nur ein geborener Musiker mit seinem Gefühl
für Rhythmus und Melodie finden konnte, und nun zeichnet er über die
Physiognomik der geschichtlichen Zeiten hinaus, deren Schöpfer er ist und
bleiben wird, an den Horizont seines Schauens noch die gewaltigen Symbole einer,
seiner Zukunft, die er brauchte, um von den Schlacken der denkenden Gegenwart
ganz geläutert zu sein, in einer erhabenen Stunde das Bild der ewigen Wiederkunft,
wie es etwa deutsche Mystiker in gotischer Zeit geahnt haben, ein Kreisen im Unendlichen,
in der Nacht unermessener Zeiten, eine Art, seine Seele ganz in die geheimnisvollen
Tiefen des Alls zu verlieren, gleichviel ob diese Dinge wissenschaftlich zu rechtfertigen
sind oder nicht. Und mitten in dieser Vision die des Übermenschen und seines
Verkünders, Zarathustras, als der verkörperte Sinn der kurzatmigen Menschengeschichte
des Erdengestirns, auf dem er selbst hauste, alle drei Gestaltungen von einer
vollkommenen Ferne, die nirgends auf Gegenwärtiges bezogen werden können
und die gerade deshalb jede deutsche Seele rätselhaft berühren. Denn
in jeder gibt es einen Winkel, wo Völkerideale und Zukunftsträume von
einer schöneren Menschheit schlafen. Goethe bedurfte dessen kaum deshalb
konnte er nicht eigentlich volkstümlich werden. Dies war es, was man an ihm
vermißte, weshalb man ihn kalt und frivol nannte. Wir werden uns niemals
ganz von diesem Hange befreien: er repräsentiert in uns das nicht gelebte
Stück einer großen Vergangenheit. (Oswald Spengler, Nietzsche
und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 120-121).Auf
dieser Höhe angelangt, stellt Nietzsche die Frage nach dem Werte der Welt,
die von Kindheit an in ihm bereit lag. Damit war die Periode abendländischer
Philosophie ganz abgeschlossen, in deren Mittelpunkt die Frage nach der Form der
Erkenntnis gestanden hatte. Auch hier gab es eine klassizistische und eine romantische
oder, um es gleich mit Beziehung auf die Zeit zu sagen, eine soziale und eine
aristokratische Antwort. Das Leben ist soviel wert, als es der Gesamtheit nützt
das war die Antwort der gebildeten Engländer, die in Oxford zwischen
dem unterscheiden gelernt hatten, was man als ehrbare Anschauung vortrug, und
dem, was man in entscheidenden Augenblicken als Politiker oder als Geschäftsmann
tat. Das Leben ist um so wertvoller, je stärker seine Instinkte sind
das war die Antwort Nietzsches, dessen eigenes Leben zart und leicht verletztlich
war. Immerhin, weil er diesem tätigen Leben fernstand, hat er dessen Geheimnis
verstanden. Daß der Wille zur Macht stärker ist als alle Grundsätze
und Lehren, daß er die Geschichte von je gemacht hat und in alle Zukunft
machen wird, was man auch dagegen beweisen oder predigen möge, das ist das
endgültige Begreifen der wirklichen Geschichte. Die begriffliche Zergliederung
des »Willens« ist ihm gleichgültig. Das Bild des tätigen,
schaffenden, vernichtenden Willens in der Geschichte ist ihm alles. Aus dem Begriff
ist der Aspekt geworden. Er lehrt nicht, er stellt fest. So war es und so wird
es sein. Und wenn tausendmal die theoretischen und priesterlichen Menschen anders
wollen, die urwüchsigen Instinkte des Lebens werden doch die stärkeren
bleiben. Welch ein Abstand zwischen Schopenhauers Weltbild und diesem! Zwischen
Nietzsches Zeitgenossen mit ihren sentimentalen Weltverbesserungsplänen und
dieser Feststellung einer harten Tatsache. Daß ihm das gelang, stellt diesen
letzten romantischen Denker an die Spitze seines Jahrhunderts. Hier sind wir alle
seine Schüler, ob wir wollen oder nicht, ob wir ihn kennen oder nicht. Dieser
Blick hat unvermerkt schon heute die Welt erobert. Niemand schreibt mehr Geschichte,
ohne die Dinge so zu sehen. (Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 121-122).Und
da hiermit das Leben an den Tatsachen als einzigem Maßstab gewertet worden
war, und die Tatsachen lehrten, daß der stärkere oder schwächere
Wille, sich durchzusetzen, das Leben wertvoll oder wertlos macht, daß Güte
und Erfolg sich beinahe ausschließen, so gipfelt sein Weltbild in einer
großartigen Kritik der Moral, in welcher er nicht eine Moral predigt, sondern
die geschichtlich aufgetretenen Moralen an ihrem Erfolge mißt, nicht an
irgendeiner »wahren« Moral. Das war in der Tat Umwertung aller Werte,
und wenn wir heute wissen, daß er den Gegensatz von Herren- und christlicher
Moral falsch gefaßt hat, aus seinem persönlichen Leiden in den achtziger
Jahren heraus, so steht hinter diesem doch der allerletzte Gegensatz im menschlichen
Sein, den er ahnte und suchte und endlich in dieser Formel erfaßt zu haben
glaubte. Setzen wir statt Herrenmoral die instinktive Lebenspraxis des zum Handeln
entschlossenen Menschen, statt christlicher Moral die theoretische Wertung beschaulicher
Naturen, so haben wir die Tragik des Menschen überhaupt vor uns, deren vorherrschende
Typen sich stets mißverstehen, stets bekämpfen, stets am andern leiden
werden. Tat und Gedanke, Wirklichkeit und Ideal, Erfolg und Erlösung, Stärke
und Güte: das sind die Mächte, die einander nie verstehen werden. Aber
in der geschichtlichen Wirklichkeit regiert nicht das Ideal, die Güte und
die Moral ihr Reich ist nicht von dieser Welt! sondern der Entschluß,
die Energie, die Geistesgegenwart, die praktische Begabung. Mit Klagen und sittlichen
Gerichten schafft man die Tatsache nicht ab. So ist der Mensch, so ist das Leben,
so ist die Geschichte. (Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 122).Gerade
weil alles Handeln ihm so fern lag und er nur zu denken wußte, hat er die
Untergründe des Handelns besser verstanden als irgendein großer Täter
in der Welt. Und je mehr er verstand, desto scheuer zog er sich von der Berührung
mit ihm zurück. So kam sein Romantikerschicksal zur Erfüllung. Unter
der Wucht dieser letzten Einblicke formt sich der letzte Teil seines Lebenslaufes
im strengsten Gegensatz zu demjenigen Goethes, der dem Handeln nicht fremd war,
aber seine eigentliche Bestimmung als Dichter verstand und sich heiter beschränkte.
(Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 122-123).Goethe,
der Geheimrat und Minister, der gefeierte Mittelpunkt europäischer Geistigkeit,
konnte doch in seinem letzten Lebensjahr, im letzten Akte seines Faust gestehen,
daß er sein Leben als erfüllt betrachte. »Verweile doch, du bist
so schön!«, das Wort seligster Sättigung zu dem Augenblick gesagt,
wo das Werk der tätigen Nähe sich unter dem Befehle Fausts vollendet,
um von nun an zu dauern das war das große und abschließende
Symbol des Klassizismus, dem dieses Leben geweiht war, und der aus der beherrschten
Bildung des 18. Jahrhunderts in das beherrschte Können des 19. hinüberleitete.
(Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 123).Aber
die Ferne kann man nicht schaffen, nur verkünden. Und wie der Tod Fausts
den klassischen Lebenslauf beschloß, so versprüht nun der Geist des
einsamsten aller Wanderer mit einem endgültigen Fluch auf seine Zeit in jenen
rätselhaften Tagen von Turin, als er im Bilde seiner Welt die letzten Nebel
schwinden und die fernsten Gipfel sich deutlich abzeichnen sah. Eben deshalb übt
das Dasein Nietzsches die stärkere Wirkung auf die Nachwelt aus. In der Erfülltheit
des Goetheschen Lebens liegt auch, daß es etwas abschloß. Unzählige
Deutsche werden Goethe verehren, mit ihm leben, sich an ihm aufrichten, aber er
wird sie nicht verwandeln. Die Wirkung Nietzsches ist verwandelnd, weil die Melodie
seines Schauens in ihm selbst nicht zu Ende kam. Romantisches Denken ist unendlich,
in der Form zuweilen, im Gedanken nie abschließend. Es ergreift immer neue
Gebiete, verzehrt sie oder schmilzt sie um. Seine Art zu sehen geht zu Freunden
und Feinden weiter und von ihnen zu immer neuen Nachfolgern oder Gegnern, und
auch wenn eines Tages niemand mehr die Werke liest, wird dieser Blick dauern und
schöpferisch sein. Nietzsches Werk ist kein Stück Vergangenheit, das
man genießt, sondern eine Aufgabe, die dienstbar macht. Sie hängt heute
weder von seinen Schriften noch von deren Stoffen ab, und eben deshalb ist sie
eine deutsche Schicksalsfrage. Wenn wir nicht handeln lernen, wie es die wirkliche
Geschichte meint, mitten in einer Zeit, die weltfremde Ideale nicht duldet und
an ihren Urhebern rächt, in der das harte Tun, das Nietzsche auf den Namen
Cesare Borgias getauft hat, allein Geltung besitzt, in der die Moral der Ideologen
und Weltverbesserer noch rücksichtsloser als sonst auf ein überflüssiges
und wirkungsloses Reden und Schreiben beschränkt wird, dann werden wir als
Volk aufhören zu sein. Ohne eine Lebensweisheit, die in schlimmen Lagen nicht
tröstet, sondern heraushilft, können wir nicht leben, und diese Weisheit
taucht in ihrer Härte innerhalb des deutschen Denkens zum ersten Male bei
Nietzsche auf, mag sie noch so sehr verkleidet sein von Eindrücken und Gedanken,
die ihm aus anderen Quellen kamen. Er hat dem geschichtshungrigsten Volke der
Welt die Geschichte gezeigt, wie sie ist. Sein Vermächtnis ist die Aufgabe,
die Geschichte so zu leben. (Oswald Spengler, Nietzsche und sein Jahrhundert,
in: Reden und Aufsätze, postum, S. 123-124).
Zur Entwicklunsgeschichte der deutschen Presse
Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben
Vom deutschen Volkscharakter
Einführung zur Dissertation von Richard Korherr (Grundlage:
Der Untergang der Abendlandes): »Problem des Geburtenrückgangs«
(1926; 1927 veröffentlichter Titel: Geburtenrückgang
)
Die
folgende Abhandlung mit ihren klaren, unwiderleglichen und erschütterden
Feststellungen bedarf keiner Vorrede. Sie spricht für sich selbst.
(Oswald Spengler, Geburtenrückgang. Zur Einführung, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 135).Das
deutsche Volk ist das unverbrauchteste der weißen Rasse. Das ist die Grundtatsache,
auf welcher alle politischen Lagen und Möglichkeiten der Zukunft beruhen.
Es hat nicht wie Spanien, Holland und England jahrhundertelang sein bestes Blut
an ein überseeischen Kolonialreich abgegeben und hat im 18. und 19. Jahrhundert
nicht seine besten Familien für große Politik und in großen Revolutionen
verbraucht. Das deutsche Volk war 1914 hinsichtlich seiner rassemäßigen
Gesundheit den übrigen voraus. Im Weltkrieg haben alle Völker soviel
von ihrem besten Blut verloren, daß der Vorsprung als solcher bestehen geblieben
ist. Das weiß man in der Welt, und darauf beruht zum guten Teil der ungeminderte
Haß und das Mißtrauen gegen uns. Unsere Politik hat die eine Aufgabe,
den Vorsprung zu erhalten. Alle politischen zeitprobleme sind nur die Folge davon.
(Oswald Spengler, Geburtenrückgang. Zur Einführung, in: Reden
und Aufsätze, postum, S. 135).Gesundheit
eines lebenden Körpers ist Fruchtbarkeit. Fruchtbarkeit ist politische Macht.
Das gilt von einem Bauerngeschlecht wie von einem großen Volk. (Oswald
Spengler, Geburtenrückgang. Zur Einführung, in: Reden und
Aufsätze, postum, S. 135).
Das Alter der amerikanischen Kulturen
Das
schwierigste Problem in der Erforschung der altamerikanischen Kulturen ist ihre
absolute Chronologie. Ohne diese Feststellung des Ganges der Geschichte nach Tempo
und Dauer, deren äußeres Zeichen nur die Jahreszahlen sind, gibt es
kein wirkliches geschichtliches Wissen. (Oswald Spengler, Das Alter der
amerikanischen Kulturen, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 138).Prähistorie
und Archäologie sind Vor-Wissenschaften für den Geschichtsforscher,
und Geschichte ist das, was sich einmal wirklich begeben hat. (Oswald Spengler,
Das Alter der amerikanischen Kulturen, in: Reden und Aufsätze,
postum, S. 138).Es
gibt keine Bronzekultur, Mutterrechtskultur oder Glockenbecherkultur; es gibt
nur menschliche Kulturen, welche sich in einer stets geringen Zahl von Generationen
entwickeln und vollenden und deren zufällige Reste nur die Schichten und
ornamentalen Formen sind. Wir müssen uns klar darüber sein, wovon sie
nicht reden. Wenn ein Prähistoriker der fernen Zukunft das 19. Jahrhundert
als die Schicht der Kupferdrähte und Konservenbüchsen beschreiben wollte,
würde er gerade das vergessen haben, um dessen willen auch die Vorgeschichtsforschung
getrieben wird: das menschliche Geschehen selbst. Die Feststellung von Schichtfolgen
ist ein Mittel, kein Ziel. Nicht Ornamente und Gefäßformen wandern,
sondern Menschen leben und arbeiten in bestimmten, ihnen selbst kaum oder gar
nicht bewußten Formen. Die Reste reden davon; sie haben einmal lebendige
Geschichte enthalten und es ist die Frage, wieviel von deren Formensprache wir
noch verstehen können. Es wird sehr wenig sein, wenn wir keine Chronologie
besitzen, um sie in die Folge von Generationen einzuordnen. Ebensowenig läßt
sich aus körperlichen Resten oder dem Charakter und der Verbreitung lebender
Sprachen erschließen. Auch Sprachen wandern von Volk zu Volk, verbreiten
sich oder sterben aus infolge geschichtlicher Ereignisse, die wir schon kennen
müssen, um den späten Zustand auf einen früheren zurückzuführen.
Was würde man aus der heutigen Verbreitung romanischer Sprachen in Amerika,
Europa und Südostasien erschließen, wenn man nichts von der römischen
Geschichte und der Heimat des Lateinischen in einem Winkel Mittelitaliens wüßte?
Chronologisches Wissen bedeutet mehr als ein Schema. Jahreszahlen reden von einem
Leben, das einmal wirklich war. Erst in dieser Ordnung der Funde erwacht ihr tieferer
Sinn. Es war der grundlegende Mangel der Kulturkreislehre, die vor 20 Jahren die
Forschung beherrscht hat, daß sie mit ihrem »jung« und »alt«
keine absoluten Vorstellungen verband und ältere Schichten verglich, ohne
zu fragen, ob sie gleich alt waren. Was auf den Fidschiinseln sehr alt bedeutet,
ist in China sehr jung. (Oswald Spengler, Das Alter der amerikanischen
Kulturen, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 138-139).
Der Streitwagen und seine Bedeutung für den Gang der Weltgeschicht
Gedicht und Brief
Zur Weltgeschichte des 2. vorchristlichen Jahrtausends
Ist Weltfriede möglich?
Die
Frage, ob der Weltfriede je möglich sein wird, kann nur ein Kenner der Weltgeschichte
beantworten. Kenner der Weltgeschichte sein heißt aber, die Menschen kennen,
wie sie waren und immer sein werden. Es ist ein gewaltiger Unterschied, den die
meisten Menschen nie begreifen werden, ob man die Geschichte der Zukunft betrachtet,
wie sie sein wird oder wie man sie gern haben möchte. Der Friede ist ein
Wunsch, der Krieg eine Tatsache und die Menschengeschichte hat sich nie um menschliche
Wünsche und Ideale gekümmert. Das Leben ist Kampf unter Pflanzen, Tieren
und Menschen, ein Kampf zwischen einzelnen, Klassen der Gesellschaft, Völkern
und Staaten, ob er sich nun in wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder militärischen
Formen abspielt. Es ist ein Kampf um die Macht, seinen Willen, Vorteil oder seine
Meinung vom Nützlichen oder Gerechten durchzusetzen, und wenn andre Mittel
versagen, wird man immer wieder zum letzten greifen, der Gewalt. Man kann den
einzelnen, der Gewalt anwendet, einen Verbrecher nennen, eine Klasse revolutionär
oder Landesverräter, ein Volk blutdürstig, aber das ändert nichts
an der Tatsache. Der heutige Weltkommunismus bezeichnet seine Kriege als Aufstände,
Kolonialreiche als Befriedung fremder Völker, und wenn die Welt ein Einheitsstaat
wäre, würde man die Kriege Aufstände nennen. Das sind alles nur
Unterschiede in Worten. Es ist eine gefährliche Tatsache, daß heute
nur die weißen Völker vom Weltfrieden reden, nicht die viel zahlreicheren
farbigen. Solange einzelne Denker und Idealisten das tun sie haben es zu
allen Zeiten getan , ist es wirkungslos. Wenn aber ganze Völker pazifistisch
werden, ist es ein Symptom von Altersschwäche. Starke und unverbrauchte Rassen
sind es nicht. Es ist ein Verzicht auf die Zukunft, denn das pazifistische Ideal
bedeutet einen Endzustand, welcher der Tatsache des Lebens widerspricht. So lange
es menschliche Entwicklung gibt, wird es Kriege geben. Wenn aber die weißen
Völker des Krieges so müde werden sollten, daß die Regierungen
sie unter keinen Umständen mehr dazu bringen könnten, dann würde
die Welt das Opfer der Farbigen sein, wie das römische Reich den Germanen
zufiel. Pazifismus heißt, den geborenen Nichtpazifisten die Herrschaft überlassen,
unter denen immer auch Weiße sein werden, Abenteurer, Eroberer, Herrenmenschen,
die Zulauf finden, sobald sie Erfolg haben. Wenn heute in Asien eine große
Erhebung gegen die Weißen stattfände, würden sich unzählige
Weiße ihr anschließen, weil sie des friedlichen Lebens müde sind.
Der Pazifismus wird ein Ideal bleiben, der Krieg eine Tatsache, und wenn die weißen
Völker entschlossen sind, keinen mehr zu führen, werden die farbigen
es tun und die Herrscher der Welt sein. (Oswald Spengler, Ist Weltfriede
möglich?, in: Reden und Aufsätze, postum, S. 291-293).
Quellenverzeichnis
Aphorismen
Ich kehr mehr und mehr von Nietzsche zu Goethe
zurück. Nietzsche verstand es nicht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Auch ein Aphoristiker kann das, aber er konnte es nicht. (Oswald Spengler,
Aphorismen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, 35, 25).Goethe
als Denker hatte den Zug zur großen Ordnung, obwohl nicht die Energie, sie
durchzuführen: er blieb aphoristisch; große Entwürfe; Faust, Ahasver,
Cäsar, Meister - selten durchkomponiert. Nietzsche blieb beim Betrachten
von Fall zu Fall. Sein Zarathustra beweist die Unfähigkeit einer großen
Ordnung, noch mehr der hilflose Versuch, die massenhaften Aufzeichnungen zu einem
Hauptwerk zu ordnen. Es entsteht kein geordnetes Bild oder Drama. Widersprüche,
Geistreicheleien, um den Mangel vor sich selbst zu verdecken. Meine eigne
angeborene Methode: geschichtliche Ordnung, aphoristisch, aber in logischer Folge.
Bei Nietzsche ist keine Folge da. (Oswald Spengler, Aphorismen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, 35, 73).
Urfragen Alle
meine politischen Sachen haben mir keinen Spaß gemacht. Das Philosophische,
das ist mein Feld. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. XXIV).
Flamme (S. 1-34):Das erste und ursprünglichste,
das alles Fühlen in der Umwelt unterscheidet, ist Feuer und Eis. Man mag
einzelnes nehmen, soviel man will, Licht und Dunkelheit, Schwere, Härte,
Ferne - irgendwie wird immer jener Gegensatz berührt, ohne den sich nichts
erleben läßt. Ich meine mit den beiden Worten nicht chemische Einzelheiten,
sondern etwas so Ursprüngliches, daß man es fühlen muß und
nicht in Begriffe kleiden kann. Ein aufsteigendes und ein absteigendes »Es«
liegt zugrunde. Das Weltweben offenabart sich dem fühlenden Leben immer in
dieser Gestalt. Seien es die Geheimnisse des Sterenenhimmels, seien es die der
Erde - irgendwie ist das Letzte immer wieder Feuer und Eis. Im Ringen beider vollziehen
sich für unser Aufmerken die Geschicke des Sternenhimmels wie die der Erde.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 3-4).
In diesem Gegensatz (von Feuer und Eis) ruht auch das Geheimnis
des Lebens. Alles Lebendige atmet. Es steht damit zur Wärme, zur Verbrennung,
zum Feuer in Beziehung. Das Leben ist wie eine Flamme, die genährt wird und
lodert. Ob Pflanze oder Tier: der Kreislauf warmer Säfte, besonders das Blut,
ist ein Sinnbild des Feuers. In der Wärme entzündet sich der Lebenskeim
- Zeugung. Männliches Entzünden und weibliches Auflodern treten an die
Stelle des geschlechtslosen »Sichentzündens«. Das Greisentum,
die Zivilisation ist verglimmende Asche. Liebe ist Glut, Haß ist Kälte.
Sehnsucht und Angst sind Feuer und Eis. Die ganze Welt der Gefühle liegt
dazwischen. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 4).So
leuchtet das Leben rings auf dem Erdball auf: »Geprägte Form, die lebend
sich entwickelt«: gebundenes, formgebundenes Feuer. Das mächtige Geschlecht
der Pflanzen und Tiere, die Arten, die Rassen, die Sippen, die Familien, die Einzelnen
- es ist stets ein Auflodern der Flamme und ein Kampf gegen die Kälte, den
Tod. Und zwar ist dieses Schicksal, das die Geologie und (die) Biologie untersucht,
ein Widerschein des Kampfes im All. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 4).Darwins
»Ursachen« sind lächerlich. Er verwechselt die Kraft mit den Hebeln
der Schalttafel. Die »Ursachen« sind komisch, im All. Mutationen, neue
Arten und Erdschichten entstehen, weil der Erdball im All von Schicksalen durchzittert
wird, von fernen Gestirnen her. Ebenso sind die Menschenschicksale kosmisch bedingt.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 4-5).Die
tiefe Verwandtschaft zum Feuer: wie die Menschenströme dem Licht zuwandern,
dem Süden zu, wie sie das Feuer »entdecken« - Prometheus -, die
entscheidende Tat. Das innere Feuer macht das äußere dienstbar. Alle
Religion ist Feuerkult. Alle Wissenschaft hat Feuertheorien. Alle Politik ist
Glut, die in Kriegen aufflammen kann. Alle Wirtschaft dient dem Nähren des
Feuers (Kost und Kleidung, Wohnen als eine zweite Kleidung n die Lebenswärme).
Geschichte, so betrachtet, ist das Schicksal dieser Feuerzonen. Alles Leben ist
Kampf, weil es Feuer ist. Alle Sitte, alles Recht ist Bändigung des Feuers.
... Je nachdem das Leben die Sonne als zeugend oder gebärend empfindet, ist
sie Symbol von Vater und Mutter. In der primitiven Zeit vor den Hochkulturen
gilt Vaterrecht, die Sonne (Sol) wird als männlich aufgefaßt.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 5).Kristall
ist die höchste Form anorganischen Wachstums, Flamme das Symbol des Organischen.
Leben - Seele- Flamme: es ist eine Urmacht des Alls, die dem Körper als Wärme,
dem Auge als Licht erscheint. Gemeint sind aber nicht diese Formen des Wirkens
- Eindruck und Ausdruck -, sondern die Urmacht selbst, die wir metaphysisch ahnen,
in der Flamme nur symbolisch meinen. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 6-7).Leben
ist eine Flamme, die Flamme ist ein Kampf. Sie muß kämpfen, um zu sein.
Die Welt des Lichtes, unserer Augen (sieht) Sterne kämpfen, Meer und Land
kämpfen. Jedes Samenkorn kämpft um die Stelle, wo es wurzeln kann, jedes
Tier vernichtet, um zu leben. Das herrliche Schauspiel - Gottes Schöpfung
- ist ewiges Vergehen und Werden als eins: nur die Lebensmacht ist ewig, das große
Geheimnis, das in allem webt, was wir Welt nennen, vor dessen nie zu entschleierndem
Wesen wir Ehrfurcht haben sollen. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 7).Die
Flamme ist mehr als (nur) Symbol. Klages' (kosmogonischer) Eros steckt darin,
aber auch Nietzsches Wille zur Macht .... (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 7).Blut
und Feuer: Für uns gilt die Sonne als Wärmespender, daneben als Lichtquelle.
... Also die Wärme aus dem Weltraum entscheidet. Für das Lebewesen
»vom Himmel herab«. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 8).Erhaltung
im Kampf gegen die Allnatur: stärker sein als alles andere, überlegen.
Das ist Nietzsches Weg über Darwin hinaus. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 8).Die
Flamme ist für das menschliche Auge ein Ursymbol, ein Urphänomen. Die
lebendige Flamme empfinden wir als Macht bei einem Brande, der menschliche Werke
zerstört und aller Anstrengungen dagegen spottet. .... Deshalb ist unter
den Visionen vom Weltuntergang das Feuer bedeutender als Wasser und Kälte:
»Götterdämmerung«, Weltbrand bei Heraklit (Fr. 31, 66).
Die Abendröte ist eine magische Anziehungskraft, das offene Feuer im Kamin
(das Lagerfeuer, der Ofen, der Herd, ... u.s.w.)
.... Mit einem Feuer fühlt der Mensch sich niemals allein. Die Flamme kann
Gesellschaft leisten - darin steckt der Urzusammenhang zwischen Flamme und Seele.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 9).Feuer
ist rätselhaft. Jedes der anderen Elemente, Erde, Wasser, Luft - fest, flüssig,
gasförmig - »ist« etwas. Die Flamme aber ist nicht, sondern
wird. Sie ist in der äußeren Welt das Lebenssymbol, fressend,
verzehrend. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 10).Feuer
ist auch wissenschaftlich völlig rätselhaft, denn was heißt »Oxydationsprozeß«
? Worte, Worte! (Fest, flüssig, gasförmig - nirgends paßt
die Tatsache »Feuer« hinein). Was ist eine Flamme? Glut, Funke,
Wärme, Licht? Im Bilde der Welt etwas Geheimnisvolles; kein Element,
sondern ein Phänomen, etwas irgendwie Lebendiges (in der physikalischen
Theorie ein »Prozeß«). Überall im Kosmos ist Feuer: Sonne,
Fixsterne, Vulkane, Erdinneres, das organische Leben ist nur ein Sonderfall.
Auf der Erdrinde, die ehemals glühte, dieser Vorgang - Flamme ist Vorgang,
nicht Sein - sich erhaltend: ein fortdauerndes Verzehren und Glühen. Die
Flamme nährt sich, verzehrt, verdaut, läßt Reste zurück.
Die Flamme ist zentrifugal, hat Tendenz nach »Oben«, von der Erde
fort. Glimmend, schwelend kriecht sie, frei geworden lodert sie auf.
Entgegen dem Aggregatzustand ist sie »Bewegung«. Flamme ist »Verzehren«,
Erobern, Vernichten. Sie hinterläßt nur Asche. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 10).Das
Unbegreifliche, was wir als Flamme sehen, als Wärme auf der Haut, am Leibe
spüren, oder: (als) Form den Stoff wechselnd wie eine ruhige Kerzenflamme,
die trotz ihrer beleibenden Gestalt ein Vorgang ist, verzehrend - dieser
geheimnisvole Vorgang gleicht dem Leben, das ebenfalls Wärme, Glut ist, verzehrend
sich ausbreitend (wie ein Brand); Form, die den Stoff wechselt. Irgendwie hängt
die Tatsache »Leben« auf der Erde mit der Glut der Sonne zusammen,
obwohl unser Nachdenken, an die kausalen Formen der modernen naturwissenschaftlichen
Mythen gebunden, es nicht zerlegen kann. Die Flamme ist mehr als Symbol. Die Naturerkenntnis
gelangt immer (nur) bis zu der Tatsache des Lichts (Thermodynamik und elektromagnetische
Lichttheorie). Dahinter steht, ewig und nicht verkleinert, das Geheimnis.
Hinter den Erlebnissen der Sonne, der Flamme, der südlichen Wärme liegt
eines der ewigen Geheimnisse des Außer-uns. Wir mögen es zu erklären
versuchen, indem wir ein einfaches Bild (eine Theorie) entwerfen, wie es die Naturwissenschaft
tut; das Geheimnis bleibt trotzdem. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 10-11).
Die Wissenschaft verdunkelt die Tatsache, statt sie zu erhellen.
Für sie ist die Flamme CO2. Wir sagen, daß »es«
Licht ist. Der Gelehrte fügt hinzu, es sei eine Form der Energie, elektromagnetisch
().
Wäre er in Indien, China oder Altgriechenland geboren, so würde er ganz
andere Vorstellungen (gehabt) haben. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 11-12).
Was ist »Wärme« überhaupt? Neben der Hautempfindung
die seekische »innere« Wärme; da liegt das Geheimnis. Im Zorn
und in der Freude wird man warm, in der Furcht kalt. Leben und Wärme, Tod
und Erkalten gehören zusammen. Das Fühlen der Seele umschreiben wir
deutend als Gefühlswärme. Heißer Zorn, heiße Liebe,
Feuerseele. Das Leben so ist um so heißer, je intemsiver es ist. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 12).
Was wir Genie nennen, ist ein heftiges Verbrennen. Es liegt Tragik
darin: die großen Männer sind wie Meteore, die sich selbst verzehren,
um die Welt zu erleuchten. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 12).
Der Anblick elementarer Lichterscheinungen ruft eine geheimnisvolle
Macht hervor (ein schweres Gewitter, die Flamme des Vesuv, das brennende Dorf,
das brennende Schiff, selbst die Flamme im Kamin). .... Der höchste Sinn
ist ... der Sinn der Flamme - »Licht« ... Kichtwelt. Lichtwelt und
Flammenwelt (sind dasselbe). Farben sind Flammenarten. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 12-13).
In der Physiologie erscheint das Leben als Verbrennungsprozeß,
Stoffwechsel, dem Brennstoff durch Atmung und Nahrung zugeführt werden, die
als Asche, »Schlacke« zurückbleiben. In den Vorstellungen der
Physik ist Feuer ein Verbrennungsprozeß wie das Leben selbst. Irgendwie
rührt die innere Form des Lebens auf dem Planeten von der Umwandlung solcher
Prozesse her .... (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 13-14).Es
ist nicht, wie die Systematiker immer stillschweigend zugrunde legen, ein »Lebendigsein«,
sondern ein entstehen, Blühen, Sichvollenden, Enden. Kein Sein, sondern
ein Wirken (Flamme). Aura! Wille der Lebensflamme zur Macht über die Welt.
Deshalb ist Leben gleich Kampf, Wille zum Sieg (nicht Kampf ums Dasein). Die Seele
drängt nach Gestaltung, d.h. Durchdringung der Welt. (Strahlend. Durchdringen
ist Aura.) Gewalt einer strahlenden Seele über die matteren. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 14).
Die gewaltigste Tatsache auf der Erde ist die Sonne, die Tag, Wärme,
Licht, Wachsein, Leben bedeutet .... (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 16).
Leben ist Wärme. Das Gegenteil ist Eis und Tod. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 17).Sonne
und Leben: Das Leben ist abhängig vom Kreislauf von Tag und Nacht, mehr noch
als von den Jahreszeiten. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 17).Drei
der Elemente des Empedokles sind Aggregatzustände - (Erde, Wasser, Luft -
fest, flüssig, luftförmig). Dazu tritt das »Feuer« - kein
»Zustand«, sondern ein Vorgang. Das geheimnisvolle Etwas, das
wir tastend als Wärme, schauend als Licht empfinden. .... Auge und Licht
(Mikrokosmos und Makrokosmos) .... Unsere Welt ist Lichtwelt. Das Leben als Flamme
hat (im Mikrokosmos) den verwandtesten Zug des Kosmos und den Sinn dafür
entwickelt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 17).Leben
ist bewegtes Dasein - wie die Flamme -, also »Geschichte«.
Bewegung ist Geschichte: das, was geschieht. »Sein« ist Abstraktion.
Flamme ist reine Bewegung. Bewegung hat Richtung, Flamme ist Richtung.
Ausdehnung ist die Form des Sinnlichen, Richtung die Form ... der Seele. ....
Die Flamme hat Geschichte, ist Geschichte. Damit ist der Wille zum
Angriff (zur Macht) stärker als der Wille zur Verteidigung (Darwins Kampf
ums Dasein). Gestalt wird nur durch Wechsel bemerkt (die Sinne reizend),
also immer in Form der Wandlung. (Wandlung ist die) Welttendenz des Kosmischen.
Sinnvolle Gestalt hat erst die Flamme, sie hat eigene Tendenz, die als
sinnvoll durch das eigene mitschwingende Leben verstanden wird. .... Nur das Lebendige
hat Sinn, (jedes Wesen seine) eigene Tendenz, seine Angriffsrichtung, soweit es
Mikrokosmos im Makrokosmos ist. Die Welttendenz ist für uns sinnlos ....
Der Sinn wird von uns hineingelegt (Gott) - »alles Vergängliche ist
nur ein Gleichnis«. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 18-19).In
der Verwandtschaft zur Flamme liegt der Sinn alles lebens (ausgedrückt),
sein Ethos, seine Aufgabe: sich zu vollenden »nach dem Gesetz, wonach du
angetreten« .... Aus dem Weltwerden, dem Geschehen, wird hier in der Flamme
des Lebens ein Tun. In dem Weltall geschieht etwas, das Leben tut
etwas. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 19).
Ich will (mit dem Gleichnis der Flamme) symbolisch andeuten, wie
das Leben sich selbst fühlt: Atem, Wärme. Erst aus diesem Gefühl
erklärt sich der Eindruck der leblosen Welt, die »anders« ist
... (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 20).Die
Flamme hat Tendenz, hemmungslos verzehrend, was zu verzehren ist. Sonst erlischt
sie. So ist das Leben, es hat Tendenz, »Wille zur Macht«. Das Sichwandeln
außerhalb des Urphänomens Flamme (Leben) ist ohne Tendenz. Die Flamme
will verzehren, d.h. erobern, Macht üben. Nicht »Hunger und Liebe«
- Welt-Eros ist der allumfassende Trieb. Hunger ist nur ein kleiner Teil diese
Urtriebes. Flamme ist Trieb (sie hat Richtung) - heißes Begehren, nie gestillt.
Umarmen, erdrücken! Auch der Sexus ist ein Teil davon: das eigenen Brennen
in einem fremden Körper verewigen wollen. Es gibt nur eien Trieb. Alle Sondertriebe
sind Gestaltungen, Ausdruck davon. Was wir im Sinnenbild unseres bewegten Leibes,
»im Raum« Ernähren nennen (ob es nun chemisch, mechanisch oder
sonstwie beobachtet wird), ist in der Welt der Seele ein Stillen von Trieben,
Wollust der Sättigung. Das organische Leben ist seinem Wesen nach Verbrennung.
Vernichten von Fremdem (Nahrung zum Beispiel), um zu dauern. Das bloß vegetative
Sein ist schon Vernichten. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 20-21).Die
Flamme ist rein und unmittelbar das, was das Leben (in) verschleiert(er Gestalt)
ist. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 22).Das
Bild des Elementarorganismus ist nicht die Zelle, sondern das Protoplasmakörperchen.
das ohne Membran existieren kann und Eigenbewegung besitzt. Ich behaupte,
daß dieses Bild (mehr ist es nicht) das Dasein einer inneren Form
berrät, so fein durchkonstruiert, daß wir nie dahinterkommen werden,
daß diese Form aber »Leben« ist, also eine Formtendenz besitzt,
die sich verwirklichen will, die eine Formenergie hat, Widerstandskraft
gegen Formtendenzen draußen, infolgedessen eine Lebensdauer, nach
welcher (d.h. nach deren Ablauf) sie unsicher, ungewiß, schwankend wird,
sich in fantastische Formen auflöst oder verschwindet. Auch das Mikroskop
zeigt uns nicht Wesen, sondern Bilder. Was das Bild zeigt, wenn man von
der Form absieht, nenne ich Stoff. Stoff ist das Bild des Formlosen. So nenne
ich das Bild der Elementarteile der Erdoberfläche, von der Form des Organischen
abdehend, den Stoff des Lebens. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 22-23).Zum
Leben und zur Seele gehört das Tunwollen gegenüber dem Leidenmüssen
durch stärkere Mächte. .... Tun und Leiden aller Kreatur: Je stärker
das Tunwollen in einem Wesen, desto größer sein Leiden. Waches Leiden.
Wissen um das Leid. Tapferkeit: »Dennoch«. Also ist der Mensch das
tätigste und leidenste Geschöpf, der faustische Mensch am stärksten.
Tiefe Schwermut der Gotik, Wehmut des Rokoko. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 24).Sichbewegen
ist ein Tun, Bewegtwerden ein Leiden. Das Tun hat eigenen Stil,
das Leiden fremden. Das unterscheidet jedes sich bewegende Wesen mit instiktiver
Sicherheit. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 24).Eignen
heißt eigentlich herrschen (Gotisch aigan [AHD eigan, innehaben, besitzen,
in alter Rechtssprache eigen = hörig, unfrei, unter kemandes Herrschaft stehend]).
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 25).Die
verzehrende Flamme ist angreifend und vernichtend, siegend. Das lebendige Dasein
ist Krieg, Widerstände brechend, das Widerstehende sich aneignend. .... Verzehren
z.B. der Nahrung ist: vernichten, aneignen, in sich aufnehmen. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 25).Was
wir als Wärme empfinden, als Flamme sehen, barusen hören, das verstehen
wir als Leben, mystisch, nicht im Sinne des materialistischen Standpunktes, wonach
Leben ein Verbrennungsprozeß ist, sonderm als Symbol: wir vesrtehen
das eine so wenig wie das andere. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 25).Die
Gestalt und Gestaltung des Lebens: es ist nicht, wie die
Systematiker immer wider stillschweigend zugrunde legen, ein »Lebendigsein«,
sondern ein Entstehen, Blühen, Sichvollenden, Enden; kein Sein, sondern Wirken
(wie die Flamme). Das gilt vom Leben der Gattung, der Rasse, der Familie, des
Stammes, des Exemplars. Das ist organisches Gestaltung-haben; das Leben entsteht,
gestaltet sich, wird wieder gestaltlos. Instinkt ist der Drang nach Gestalt.
Ethos ist die Vollkommene Gestalt des Wirkens, des wirkenden Leibes, des Gewirkten,
auch des ruhenden Leibes, insofern er Wille und Fähigkeit zum Wirken ausdrückt.
Diese Gestalt greift in die Außenwelt ein und gestaltet sie um (macht sie
zur Umwelt). Das ist Kultur: Gestaltung der Welt. Die Aura, das seelische Besitzergeifen
des Draußen, gestaltet die Außenwelt zur Umwelt. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 26).Wille
der Lebensflamme zur Macht über die Welt. Deshalb (durch diesen Willen)
ist Leben Kampf, d.h. aber Wille zum Sieg, nicht bloßer Kampf »ums
Dasein«. Die Seele drängt nach Gestaltung der Welt, auflodernd, erlöschend,
weithin strahlend, wärmend oder versengend wie die Flamme. Eine strahlende
Seele hat Gewalt über die anderen, matteren. Leben gleicht dem verzehrenden
Drang der Flamme: Verzehren, d.h. Aneignen durch Gestaltung, Durchdringen.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 26-27).(Ich
möchte) überall statt Tendenzen oder Richtung Imperativ sagen:
Imperativ der Form, des Blutes, des Lebens. Die Ursymbole der Kulturen sind räumliche
Zeichen des zeithaften Imperativs (des Lebewesens Kultur). (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 28).Seele
ist kein Ding, sondern ein Vorgang. Sie hat also nicht Teile, sondern fließende
Züge. Man wird besser statt von »Seele« von einem abgegrenzten
(und nicht abgezogenen) »Seelenleben« sprechen. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 28).Pflanzenseele
gibt es kaum: da sind Makrokosmos und Mikrokosmos nicht ganz getrennt. Erst das
Wachsein (Sinne, Nerven) macht die Seele unabhängig, Seele ist ohne Sinne
nicht denkbar. Sie wird erst mit der Bewegung (Freibeweglichkeit).
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 29).Mit
der Ausbildung der Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, erst mit dem
Sich-bewegen, dem Willem etc. gibt es Seele. Höhere Tiere haben schon
etwas von Seele, Gefühle wie Einsamkeit, Triumph, Haß, Wille. Aber
erst der höhere Mensch hat eine echte Seele. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 30).Haß
gegen sich selbst als Mikrokosmos ist mit Eitelkeit tief verwandt: Eigenliebe
und Selbsthaß. Die Sehnsucht endet nur mit dem Tode, Haß und Liebe
mit Zerstörung oder Vereinigung. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 30).Auch
die Pflanzen haben und entwickeln Wärme. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 31).Flamme
ist Licht und Wärme (zugleich). Deshalb nehme ich die Flamme zum Symbol
für das Nicht-zu-Begreifende, Leben, Seele. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 31).Mit
dem Wort Seele bezeichne ich das innere Wesen des lebendigen Seins, etwas, das
dem Denken und Forschen unzugänglich bleibt, etwas ganz eigentlich Metaphysisches
- Urfrage ohne Antwort. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 31).Pflanzen
haben keine Seele, das Tier hat eine. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 31).Seele
ist die Tatsache, daß sich das freibewegliche Tier durch ein Abgelöstsein
- als Mikrokosmos im Makrokosmos - dem Kosmos entgegenstellt, (ihm) entgegen-lebt,
während die Pflanze ein Element des Kosmos von innerer Einheit ist. Das Leben
des Kosmos geht in und außerhalb der Pflanze vor sich, auch im vegetativen
Teil der Tierheit. Das rein tierische Leben vollzieht sich gegen die Welt,
Mikrokosmos gegen Makrokosmos. Die Tatsache dieses »Gegen« empfinden
wir als Wachsein. Seelenleben, wie wir es zu verstehen glauben, ist waches Seelenleben.
Seele ist »Mitte«. Ein Tier ... hat eine Mitte des Lebens. Die Pflanze
ist nur Teil eines umfassenden Lebens - der Landschaft. Seele der Landschaft
ist zugleich »Seele« der Pflanze. Das Tier hat seine eigene.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 31-32).Ursprünglich
ist das Seelenleben ganz nach außen gewendet - von der Spanung zwischen
Mikrokosmos und Makrokosmos bestimmt, von der Umwelt geweckt, zuerst als Weltangst
und Weltsehnsucht, dann später auch als nach innen gekehrtes Seelenleben
- Hoffnung, Reue, etc.. Reines Seelenleben gibt es nicht. Alles Leben ist
auf die Welt, die anderen, das Fremde, die anderen Menschen bezogen. Nur in dieser
Gestaltkommt »Seele« zum Bewußtsein. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 32).(Darf
man von) Schichten der Seele (sprechen)? Erst mit dem freilebenden Tier
ist das »Wachsein« gegeben, und erst damit - einem Geheimnis, das
sich nicht weiter erklären läßt - die Seele. Denn eine Seele ohne
Wachsein ist irgendwie ein Widerspruch. Man redet von »unbewußten«
Seelenvorgängen, tiefern Schichten der Seele etc. - aber das ist eben kein
wirkliches Seelenleben. Die Pflanze ist ein chemischer Prozeß ihrer Umgebung,
sie bildet Synthesen organischer Substanzen aus anorganischen. Sie ist schöpferisch,
aber mechanisch schöpferisch. Das Tier verbraucht nur vorgebildete Substanzen
der Pflanze, aber es steht nicht höher. Es hat Seele, weil es wach
ist, weil Seele das Kosmische ist, das durch die Schale in Kern und All
gesondert ist. Seele des Exemplars und Seele des Alls sind getrennt. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 33).Angst
beruht auf der Tatsache der Grenze zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Sehnsucht
ist kosmisch, beruht auf der verlorenen Einheit (zwischen Kosmos und Einzelwesen).
Die menschliche Seele beginnt, sobald das Fühlen über den Augenblick,
die körperliche Angst und Sehnsucht hinausgeht. Die körperliche Angst
und Sehnsucht: Zittern, Schreck, Gier, Wollust wird »durchgeistigt«
zu Furcht, Liebe, Haß. Nach der Ansicht anderer Kulturen gibt es Körperseele
und Geistseele, Hauchseele, Atemseele etc.. Wir sehen aber, daß »Seele«
ein Wort für Unbegreifliches ist. Ich beschreibe nur und deute nicht. Über
das mit dem Wort Seele bezeichnete Geheimnis etwas erkennen, wissen zu wollen
(und zwar: was Seele ist), ist absurd. Es kennzeichnet einen Irrtum über
den Begriff »Wissen«. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 34).
Erwachen - Wachsein (S. 35-44):Mit
dem Erwachen zum Tage oder zum Leben in der Geburt und am Morgen entsteht »mein«
Raum. Das Ich selbst - ein Lebensstrom - ist rein zeithaft. Schlaf ist raumlos.
Als dritte Dimension geht mein Leben, das Leben meiner Sinne, raumbildend in die
Welt über. Das Fremde ist da (der Kosmos), aber bbildhaft zum Raum gestaltet
wird es erst im Wachsein. Die elementare Tatsache des Wachseins ist die Welt.
Jedes Tier hat wachend eine Welt von arteigenem Charakter. Dieser Tatsache liegt
der Gegensatz Ich-Welt, eigen-fremd zugrunde. Es kommt noch hinzu, daß jedes
wachende Wesen mit innerer Gewißheit Tatsachen kennt, die nichts mit der
Welt zu tun haben - Gefühle, Stimmungen, Angst, Schmerz, Sehnsucht, Langeweile
etc.. So entwickelt sich der gewußte Gegensatz von Seele und Leib, Gefühl
und Empfinden. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 35).
Ich und Welt (S. 44-60):Eine
Urtatsache ist das Sum. Ich bin (oder mein Leib, meine Seele, meine Person,
ich ganz allgemein im Gegensatz zu anderen). Cogito ergo sum. Das ist willkürlich:
auch wenn ich nicht denke, bin ich. Das ist eine unbedingte Gewißheit, die
nicht analysiert werden kann, sie ist identisch mit der anderen: die Welt ist
da. Jeden Tag weiß ich mit Selbstverständlichkeit, daß Ich und
Welt das gleiche sind wie gestern, mag noch so viel anders sein. Was das ist:
Ich, das ergibt keine Analyse. Wirklichkeit, das heißt: Ich und die Welt,
das Fremde, das Andere. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 44).Eine
Urtatsache ist die Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, der Zwiespalt
zwischen beiden, das »Gegen«, die Polarität. Damit ist auch die
Polarität von Sinnenwelt ()
und Seelenleben ()
gegeben. Aber Seele und Welt sind dennoch eine Einheit, die im Kosmos begründet
liegt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 45).Cogito
ergo sum. Nein: ich sehe die Welt, also gibt es zwei sicher verstandene Tatsachen
- Ich und Welt. Das theoretische Grübeln haftet an der Art des Vorgangs.
Die beiden Voraussetzungen sind einfach da. Dualistisch ist die ganze Welt und
sind alle Versuche, in ihr Wesen einzudringen. Das beruht auf der Tatsache, daß
das Wesen alles Freibeweglichen die Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos
ist, und jedes Bild der Welt existiert ja nur für ein bewegliches Wesen.
Von der Grundtatsache der Polraität von Mikrokosmos und Makrokosmos, eigen
und fremd, ich und Welt gehen alle Unterschiede aus .... Wir empfinden aus Gegensätzen,
wir denken in Gegensätzen, alle Begriffe sind in gegensätzlichen Paaren
entstanden. Es ist das Wesen des Unterscheidens, der Kritik, daß sie im
Feststellen der Gegensätze besteht. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 46).Das
17. Jahrhundert lehrte, daß die Gegenstände unsere Erkenntnis bewirken.
Kant widerlegte das un lehrte, daß die Art unserer Erkenntnis die Gegenstände
bewirkt. Das ist auch widerlegt. Was bleibt nun? Die Ahnung, die Goethes
Lehre gibt, daß hier nichts bewirkt wird, weil das eine Form menschlichen
Denkens ist, daß Erkennen und Gegenstände Pole sind, zu denen der Kosmos
als Mikrokosmos und Makrokosmos auseinandertritt. .... Das Draußen, das
Fremde, gewinnt Gestalt, indem ich es ergreife oder es mich ergreift. Es erscheint
mit als »Bild der Welt«, die sein Eigentum ist. Und trotzdem - das
hat Kant vergessen - ist mein Sinn, der diese Welt bildet, nur der Sklave des
Draußen. Das hat Goethe gesehen. »Wär nicht das Auge sonnenhaft,
die Sonne könnt es nie erblicken«. Zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos
steht die Erscheinung, aus beiden gewebt, keines einzigen Besitz. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 47-48).»Ich
und die Welt« - schon das ist nicht richtig, denn es ist nicht meine, sondern
unsere Welt. Wir nehmen sie alle identisch wahr (gegen Schopenhauer). Dann
aber (gegen Kant): nicht ich forme das Weltbild durch die Art meines Verstehens,
sondern zugleich formt die Welt meinen Verstand nach ihrer Art. Die Einheit von
menschlichem Verstehen und dem Bild der Welt läßt sich nicht zerdenken.
Die Frage, wo der Schwerpunkt liegt, ist sinnlos. In dem Gegensatz von Mikrokosmos
und Makrokosmos (Schale - Weltschale) bildet sich der Eindruck von zweierlei:
Ich und die Welt, während in Wirklichkeit nur eins da ist. Der Raum ist nicht
mein, sonder unser Raum. Die »Welt« ist der Kosmos, der sich
in allen Einzelwesen als empfindendes Verstehen entwickelt. Nicht das tierische
Verstehen hat eine Umwelt, sondern die Welt hat sich tierisches Verstehen geschaffen,
Es fühlt sich jeder sein eigenes Gefühl, es sehen alle dasselbe. Mein
Ich - unsere Welt. »Die Welt ist meine Vorstellung« ()
- nein, aber: das Bild der Welt ist meine Schöpfung. Ich sehe mich selbst
in ihr. Sie ist eine Teil meines Wesens. Aber ich bin eine Schöpfung der
Welt. Der Zusammenhang läßt sich nicht lösen. Was »hinter
dem Schein« ... ist, ist eine Frage ohne Sinn, materialistisch gedacht wie
Kants Ding an sich. Aber alles das, was wir »wissen«, das ganze Bild
dieser Welt mit ihren Formen von Zeit und Raum, das manche Forscher für bewiesen
halten, ist irgendwie unser Bild, das von Menschen höherer Kulturen.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 48-49).
Da Sehen und Beweisen auf dieselbe schöpferische Anlage des
Menschen zurückgehen, so beweist das eine nichts für das andere.
Das Bild, das Laotse, Plato, Goethe sich zu beweisen glaubten, war sehr
verschieden. Sie beweisen sich selbst, nichts anderes. Was ist das?
Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Der geschichtliche Blick
bewahrt allein vor dem Glauben an ewiges Wissen, an naturwissenschaftliche,
erkenntnistheoretische »Wahrheit«, auf der geistige Existenz
des Systematikers beruht. Nur wer sieht, daß diese ewigen Wahrheiten
sich mit den Menschen wandeln, daß sie Ausdruck nur einer Epoche
sind, einer inneren Kultur, und dann vergessen, belächelt, durch
andere widerlegt werden .... (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 49-50).
Was
wir »wirklich«, d.h. lebendig wissen, ist die Beziehung zwischen der
Schale (),
die denkend zu empfinden, denkend zu sehen vermag, und dem Geheimnis, zwischen
Mikrokosmos und Makrokosmos also. Diese bloßen »quantitativen«
Tatsachen sind der praktische Inhalt der Naturwissenschaft - also, in wortgebundenes
Denken gebracht, was alle Tiere »erfahren«. Das Kaualitätsprinzip
ist eine Abstraktion aus sinnlichen Tatsachen. Diese kausalen Gesetze (Systeme)
liegen weder in der »Natur« noch im Geiste, wie es Materialismus und
Idealismus wollen, sondern in der Einheit von beiden. Geist an sich und Natur
an sich - da liegt ein Denkfehler. Die Denkmaschine, wie Kant sie zeichnet, ist
nur physikalisches System, auf das Bild des »reinen Denkens« angewandt,
und umgekehrt. Das physiognomische Erleben hinter dieser Decke, durch sie hindurch,
sie durchdringend, beherrschend, ist dasselbe wie das Geheimnis des Draußen,
der Welt. Wir kennen es nicht, wir bemerken nur seine praktische Tätigkeit,
sein Wirken, seine Wirklichkeit. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 50).Es
ist ein törichter Versuch, durch Zerlegen in das Wesen der Wirklichkeit zu
dringen. Die Erscheinung, aus Eigenem und Fremdem unlösbar verschmolzen,
ist das einzig Wirkliche (Reale). In ihr liegt alle Bedeutung, alle Idee. Das
Wirkliche ist das Geheimnis, es bedeutet nichts, sondern ist bedeutend. Erscheinung
ist Wirklichkeit - eigene und fremde, miteinander verschmolzen. Es gibt kein »Dahinter«
und »Ding an sich«. Wir gehören zur Wirklichkeit. »Erscheinung«
ist deren Gestalt für uns, reine Gegenwart. Statt Erscheinung will ich Tatsache
sagen (Goethes Phänomen). Das Geheimnis liegt in der Tatsache selbst. ().Wahrheiten
sind ohne Geheimnis, weil sie Produkte des Denkens sind. Das Sinnliche wird erlebt
ohne als Tatsache, erkannt in der Form der Wahrheit. In der Tatsache ist Bewegung
(Werden), sie ist zeithaft. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 55-56).Mein
Ich ist ein Element der Welt. Die Welt ist nicht meine Vorstellung (),
sondern Wirklichkeit, sich in meinen Sinnen spiegelnd. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 57).Die
Welt als Vorstellung: Alles, was das Nachdenken erzeugt, ist anthropozentrisch:
nicht die Welt kennen wir, sondern unser Bild der Welt. Die Sternenwelt ist ein
Phantom, mathematisch, physikalisch-chemisch erklärt und in ein Ganzes von
Konstruktionen einbezogen. (Jetzt geht Spengler zu weit,
oder? HB). In Wirklichkeit sehen wir nur den Sternenhimmel.
Sollte nach der abendländischen Kultur noch eine andere kommen, irgendwo
anders, und sollte wissenschaftlich-technisches Denken zu ihren Formen gehören,
so wird sie vielleicht die kopernikanische Auffassung als kindlich beweisen (beweisen
bezieht sich hier nur auf diese eventuell noch kommende Kultur, heißt hier
also: nur der eigenen Kultur [dem Kulturselbst] beweisen! HB).
Was begreift eine Fliege von der Architektur und Geschichte eines Schlosses, an
dessen einem Fenster sie sitzt? Gerade so viel begreifen wir von der Art
der Welt. Von der menschengeschichte begreifen wir mehr, weil wir sie gemacht
haben oder weil sie uns gemacht hat. Die Fliege kennt nur die Fliegenwelt mit
der Weite ihrer Sinne, in der des Menschen Gebäude als Ganzes nicht vorkommt.
Auch die Welt als Natur ist die Welt der Menschensinne. Sie spiegelt das Wesen
des Menschen, aber die Welt selbst ist sie nicht. Das »Weltall« mit
den Sternensystemen und Lichtjahren ist eine Schöpfung der wissenschaftlichen
Phantasie enger Kreise des Abendlandes. Für alle Menschen bleibt allein oder
daneben die Welt aus Himmel und Erde. (Man denke nur z.B.
an diejenigen Menschen islamischen Glaubens, die wie wir einer Zivilisation angehören
und trotzdem nicht an unser Weltall - das abendländische Weltall
- glauben [wollen]; HB). Das ist die eigentliche Menschenwelt, die
erlebte, nicht konstruierte. .... Wirkliche Vorstellungen haben eine Grenze. (Und
das ist ein typisch abendländisches Problem, denn: Abendländer kennen
keine Grenze. Wir kennen keine Grenze. [Oswald Spengler, Preußentum
und Sozialismus, 1919, S. 24]).
... Diese Vorstellung wandelt sich im Geiste der Menschen (und nur in diesem,
seit sie sprechend denken), je nach ihrer Anlage. Es sind Mythen, Kulturschöpfungen.
Tiere haben eine »Welt«, aber keine Vorstellung von ihr. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 57-58).Schopenhauer
beginnt sein Buch mit dem Gedanken: »Die Welt ist meine Vorstellung«
().
Philosophen seiner Art haben immer übersehen, daß es heißen müßte:
Die Welt ist meine und deine und seine Vorstellung. Wenn ich tot bin, gibt
es andere, deren Vorstellung sie weiterhin ist. Sie war es, bevor ich geboren
wurde. Aber damit ist der Gedanke aufgehoben. Das Bleibende ist nicht das Ich,
sondern die Welt. Ich bin mit meiner Vorstellung ein Element dieser Welt. Der
Schwerpunkt liegt in ihr, nicht in mir. .... Dieses Weltall, wie es gelehrter
Wille zum Wissen zu einem ungeheuren Bilde schuf: das unendliche Weltall, die
Sternenwelt - ... das alles ist die Welt des modernen abendländischen Menschen.
Andere Arten von Welt haben die Tiere auf dieser kleinen Kugel im Weltall. Alle
diese Welten sind Bilder. Aber es muß etwas da sein, das sich so doppelt
spiegelt in den dürftigen Sinnen der Tiere. Eines Tages, wenn die letzten
Tiere (und Menschen) tot sind, wird etwas unberührt weiter da sein. Aber
etwas anderes hat aufgehört: »unsere Welt«, die ohne unsere Augen
nicht da wäre. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 58-59).Wenn
Kant fragt: »Wie ist Natur möglich?«, meint er Wahrnehmung
oder Wissenschaft? Wenn die gesetzliche Struktur der Außenwelt Form
meines Verstandes ist (Kant), warum aber ist sie dann Form alles Ichs, aller Zeiten,
absolut identisch? Oder ist sie dies nicht ganz? In diesem Falle wäre
sie doch wieder eine Form der Welt, nicht des Einzel-Ich. Die Frage ist nicht:
wie erkenne ich?, sondern: wie kommt es, daß wir alle dasselbe erkennen?
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 59-60).Die
Welt als Tatsache wird verstehend empfunden, als Makrokosmos vom Mikrokosmos aus,
schon von Tieren. Die Welt als Vorstellung wird durch Wortdenken, visuell empfindend
verstanden, durchgeistigt. Diese gedachte Welt ist allerdings meine Vorstellung
(Schopenhauer),
d.h. sie gehört zur Persönlichkeit des einzelnen Denkenden und wird
von ihm durch Lehre, also Sprechen anderen nahegebracht, die sie als der ihren
ähnlich annehmen. Die Welt als Tatsache ist wirklich, die Welt als Vorstellung
ist wahr, vom Geist verstanden, in System und Begriff gefaßt. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 60).
Wissen und Glauben (S. 61-78):Der
Rationalismus hat zwei Methoden des Denkens entwickelt, vom Denken und vom Objekt
aus. Auf dem einen Weg kam er bis zu Kant -die Welt war formale Schöpfung
des menschlichen Denkens. Im 19. Jahrhundert ist nichts Wesentliches mehr hinzugedacht
worden, das meiste davon ist verflacht, professorenhaft übersteigert, subjektiv
gefärbt. Auf dem anderen Weg kam man zum Materialismus Holbachs, Haeckels
etc. (ebenso die zwei Wege in der Antike). Man muß sich heute, da der Rationalismus
abschließt und die Skepsis an der Erreichbarkeit des Ziels, der Lösung
der Welträtsel beginnt, klar werden, daß man keines weder als richtig
noch als falsch bezeichnen kann : das Geheimnis ist unlösbar. Die beiden
Bilder, die der Rationalismus schuf, sind Spiegelungen der Methode, wie überhaupt
in der gesamten Wissenschaft (Philologie, Theologie etc.) das System Spiegelung
der Methode ist. Das Denken kann sich nicht selbst erkennen. Die Welt kann nicht
unabhängig von Denkformen bemerkt werden. Hertz hat die Lage bedacht. Sonst
aber denkt die gesamte Naturwissenschaft materialistisch, ohne Kant zu kennen.
Die Erkenntnistheorie war nur skeptisch gegen die Naturwissenschaft, nicht gegen
sich selbst; die Naturwissenschaft verfährt umgekehrt. Geschichtliche Betrachtung
ist Skepsis. Sie ist das Ende der Wissenscllaft, sofern sie auf dem Glauben an
die methodische Lösung der Rätsel ruht. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 61).Soll
man erst das »Erkennen« - durch sich selbst - zegliedern und dann
das »Erkannte«, oder umgekehrt? Beides ist unmöglich. Goethe
sagt: »ich habe nie über das Denken gedacht«. Erkennen ist eine
Illusion. Deshalb gehe ich vom Erleben aus; Sehen, nicht Erkennenwollen als erstes.
Die Physiognomik zeigt Gestalt, nicht Gesetz. Und statt des Systems wähle
ich die Geschichte des Erkennenwollens als Ausgangspunkt. Eine Geschichte der
»Irrtümer« ist wertvoller als eine neue »Wahrheit«,
die nur ein neuer Irrtum ist. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 62).Es
gibt zwei Arten über das Erkennen nachzudenken: beide sind inuner wieder
geübt worden und charakterisieren den Menschen, der sie übt. Entweder
man geht von der Tatsache aus: »Ich denke« und findet zuletzt, daß
die ganze Welt die Folge davon ist, oder man sieht die Welt und fragt sich, wieso
gehöre ich dazu? Das eine ist abstrakt gedacht, das andere konkret
gesehen. Sie haben beide etwas Überzeugendes für die so veranlagten
Menschen. Ich neige zum Sehen. Zu Goethe, nicht zu Kant. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 63).Wenn
wir denken, so denken wir im Banne der Seele, des Blutes, oder wie man das Wesen
der Einzelseele, das stets geheimnisvoll bleibt, sonst nennen will. Aber daraus
folgt, daß die Farbe und Form des Denkens die einer Kultur sind. Der Inder
erkennt anders als der Grieche, der Mensch primitiver Kulturen anders als der
in einer Hochkultur lebende. Wenn also der faustische Mensch den Geist als »Kraft«
auffaßt, so unterliegt er dem Denkzwang seiner Kultur. Was Kant Kategorien
des Verstandes nannte, waren die des abendländischen Verstandes. Und so können
wir alle - dies Buch so wenig als andere - aus dem faustischen Denkzwang heraustreten.
Jeder Mensch hat seine eigene Philosophie, sogar in jeder Epoche seines Lebens
eine andere. Die Philosophien sind so verschieden wie Gesichter und Handschriften.
Daß sie bei den meisten in eine verwascheneAnschauung zusammenlaufen -wie
Dutzend Gesichter -, ist klar. Denn Philosophie ist Charakter, und wie wenig Menschen
haben einen? Es gibt verwandte, typische, zeitgemäße Philosophien,
Philosophien von Zeitaltern, Ständen und Kulturen. Kants Philosophie ist
seine persönliche Anschauung. Alle Kantianer sind das nicht aus wissenschaftlicher
Überzeugung, sondern aus geistiger Verwandtschaft. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 63-64).Es
ist der Fehler der abstrakten Denker, ... ihre ganz persönliche Antwort ...
in Systeme zu bringen. Goethe tat das nicht. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 64).Was
Kant synthetische Urteile a priori nennt, ist wichtig: es ist der Inbegriff
der »Systematik« und des verstehenden Empfindens, das Naturgesetz
für alle lebenden Wesen, weil deren Sinne und ihr Verstehen mit der Spannung
zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos zusammenhängen. Statt zu sagen,
der menschliche Geist schreite vom Erkannten zum Erkennen fort, ist die Tatsache
die, daß er das sinnliche Element mehr und mehr ausschaltet und zuletzt
nur seine eigene Form begreift. Hier berührt sich Kant mit der modernen,
physikalischen Theorie. Also muß man sich »der Welt« anders
zu nähern versuchen. Jene Abstraktionen schildern nur sich selbst.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 65).Was
der Sinn des Lebens ist, erkennt man nicht: man tut ihn. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 65).
Metaphysik
ist gegen die wissenschaftliche Methode der Philosophie gerichtet, gegen das Erkennenwollen
durch Schlüsse und Begriffe. Man hat heute die Wissenschaft satt, nicht -
noch nicht - als Wissenschaft zu praktischen Zwecken, aber als Weg zu Weltanschauungen.
Die ancilla theologiae ist eine uneheliche Tochter der Theologie. Sie kündigte
die Stellung, machte sich selbständig, wurde reif, reich und alt, aber sie
hat mit Weltanschauung nichts zu tun. Das ist der Irrtum Heideggers u.a.. Metaphysik
ist Schauen, Physiognomik Geschichte. Exakte Naturwissenschaft ist mechanistisch
und kann nicht anders sein. Logik und Mathematik gehören dazu. Gesetze, Begriffe
und Schlüsse! Es ist Technik. Skeptiker wie Hertz haben das Wesen dieser
Methode verstanden. Nicht die zerfasernde Logik, die Geschichte erlöst von
der Begriffs- und Gesetzeswissenschaft. Sie ist das einzige Wissen, das tiefer
greift als das abstrakte Nachdenken. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 66).Wenn
im Zusammenhang, im Denken über die Wirklichkeiten der Natur und Geschichte
ein Blick auf die Art des Denkens fällt, gut! Wenn man aber glaubt, daß
man vom Denken über das Denken aus die Welt verstehen werde, so ist das magisterhaft.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 66).Was
die Naturwissenschaft unter System versteht, »die Wahrheit«, würde
verlangen, daß ein und dasselbe System durch alle Zeit hindurch immer mehr
vervollkommnet wird. Aber gerade das trifft nicht zu: die Systeme wechseln, werden
eins durch das andere abgelöst. In jedem Lehrbuch der Physik steht am Anfang
eine Geschichte der Systeme. Natürlich ist es mit den physiognomischen Bildern
ebenso. Aber das fordern sie ja gerade. Deshalb ergibt sich: jede Lehre überzeugt
nur ihren Urheber, weil sie der Ausdruck von dessen Persönlichkeit ist und
derjenigen, die ihm innerlich verwandt sind. Es gibt nur physiognomisch Richtiges.
Wer glaubt, absolut Wahrheit zu haben, der irrt. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 67).Wir
nennen Wahrheit die Schlüsse unseres Denkens - aus wissenschaftlichen »Beweisen«
und religiöser Offenbarung -, die uns geistig das Gefühl der Überzeugung
einflößen. Wahrheit ist eine Form des Denkens, eine Form des Schließens,
und jede bis zu Ende gedachte oder experimentierte Masse von Wahrheiten endigt
bei der »Form des Denkens«; sie kehrt zum Ausgangspunkt zurück.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 67).Was
wir wissen können, ist bloß ein Wissen von Tatsachen (organische
Logik) im Lauf der Welt, der Menschen- oder Sternengeschichte. Das ist nur
ein Wissen von Dingen, über Sachen, aber nicht von Ursachen: so ist die Geschichte,
so ist die Welt. Das ist eine Tatsache, keine Wahrheit. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 67-68).Geschichtsschreibung
ist ein Abbild in Worten von etwas, das einmal war, das man nicht selbst gesehen
hat, aber mit innerem Auge schaut. Es kann nie der Wirklichkeit gleich sein, schon
weil es subjektiv ist. Aber die Naturwissenschaft kann das auch nicht. Sie schaffen
beide ein Bild der Welt aus Seele oder Geist, gestaltet oder gesetzlich, als Wechsel
der Zeit oder Struktur des Raumes. Beides ist bezeichnend für den, der es
schafft. Die Welt wird gesehen durch das Gitter geistiger Unterscheidungen oder
in den Farben der eigenen Seele. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 68).Erkenntnis
und Gestalt(ung) sind seelisches Besitzergreifen durch Sinne und Geist. »Meine«
Welt, die Umwelt (Uexküll) sind das Ergebnis. Alles Erkennen ist Gestaltung.
Gestaltung ist seelisches Besitzergreifen; Hunger nach Erkenntnis ist seelischer
Wille zum Besitz. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 68).Jedes
Wissen ist ein Sieg, ist Macht in einem tieferen Sinne als bei Bacon (Tantum
possumus, quantum scimus). Auch der Skeptiszismu ist ein Sieg, das letzte
Wissen umd das Nichtwissenkönnen. In jedem Erleben wirkt die Aura der Seele.
Der Menschenkenner ergreift die fremde Seele, indem er sie begreift. Das ist Macht,
Überlegenheit des Verstehenden über den Verstandenen. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 68-69).Was
heißt Wissen und Wissenschaft? - Die Naturwissenschaft, die mathematische,
technische, philosophische Systematik entstammt dem Handwerksverstand praktischer
Menschen. Es ist die Summe ihrer technischen Erfahrung mit den Dingen außer
den Menschen das, was sie im Gedächtnis bewahrten, nur den Gesellen überlieferten.
Theoretische Physik ist Handwerkslehre. Dagegen stammt die Geschichtsschreibung
vom Heldengesang, der Sage, dem, was man beim Lagerfeuer von den Ahnen sang und
den Nachkommen überlieferte. Physiognomik ist Kunst der Gestaltung von Dingen,
die in der Einbildung wach werden. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 69).Naturwissenschaft
ist immer objektiv, solange sie sich auf Zahlen beschränkt, weil darin die
Polarität des Eigenen und Fremden in den Sinnen liegt. Geschichtschreibung
ist nie objektiv, weil das eigene Blut (der Kern) das Schauen beherrscht. »Geschichtswissenschaft«
ist ein fragwürdiger Begriff. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 69).Die
Werte der Naturwissenschaft sind: richtig, zweckmäßig, praktisch, wahr.
Die Werte der Geschichtsschreibung: wirklich, groß, tief. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 69).Menschliches
Erkennenwollen hat Ziele und Mittel. Das Ziel setzt es sich in Gestalt einer Frage,
und das Mittel, die Methode, ist die Antwort darauf. Das ist etwas anders als
sich gemeiner Menschenverstand die Sache vorstellt: die Frage als Mittel, die
Antwort als Ziel. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 69).
Nein, letzte Fragen haben keine Antwort, sie sind die Antwort selbst.
Metaphysik ()
ist das Stellen »ewiger Fragen« ohne Antwort. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 69-70).Was
ist Fragen? Was ist Wissenwollen? Der Tätige erfährt durch Tun, der
Grübelnde will alles wissen und weiß (oft) nur das Nichtwissenswerte.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 70).Die
Urfragen sind wortlos .... (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 70).Urfragen,
Fragen ohne Antort, Fragen, die ihren Wert in sich selbst haben; sie kennzeichnen
den Frager, sei es ein Mensch, eine geistige Strömumg, eine Kultur.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 71).Physiognomische
Fragen sind Fragen des Lebens; systematische sind kausal, kritisch, also falsch
(gestellt). (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 71).Physiognomisches
Verstehen beruht auf Instinkt und fühlt sich sicher. Systematisches Verstehen
beruht auf intellektuellem Denken, fühlt sich unsicher und bedarf des »Beweises«.
Man hält den Beweis für ein Zeichen der Sicherheit. Im Gegenteil: das
Bedürfnis nach Beweisen beweist Unsicherheit. Seiner selbst sicher ist der
Instinkt. Er will nicht mehr als er kann. Er erkennt das Geheimnis an, ist nicht
neugierig, Der Inellekt ist der Feind des Geheimnisses. Er geht ihm systematisch
zu Leibe durch die List der Methode, um endlich zu sehen, daß alles, was
er als »verkannt« erbeutet hat, nur seine eigene Art der Methode ist.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 71).Einst
fragte man sich, optimistisch wie man war, und stritt sich um richtige und falsche
Antworten. Im 19. Jahrhundert war man schon so weit, daß die Methodik des
Fragens - die Problemstellung - als Problem erschien. Hute sehe ich, daß
jede Frage, jede Methode des Fragens die Antwort schon einschließt, daß
es also wirkliche Antworten nicht gibt und geben kann. De omnibus dubitandum
! Woran zweifelt man? An der Antwort? Das ist noch
kein Zweifel. Man zweifetl an dem Wert der Frage, an der Möglichkeit der
Antwort, am Sinn des Fragens überhaupt. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 72).Der
erste Weg ist Spekulation mit den Mitteln der Sprache: Begriffen, Schlüssen.
Wer sie beherrscht, ist klug. Der zweite Weg ist das praktische Leben und seine
Erfahrung. Wer sie hat, ist schlau. Der dritte Weg ist der historische Rückblick,
der Erfahrung in amderem Sinne verleiht. Wer dies hat, ist weise. Der erste Weg
zeigt also, »wie es sein muß«, der zweite, »wie es ist«,
der dritte, »wie es war und sein wird«. Der erste macht blind und
eitel, der zweite stolz, der dritte weise. Man kann das Denken einteilen in mythisches
(nicht nach Klages in symbolisches) und begriffliches Denken. Sprechen ist im
zweiten Fall das Denken selbst, im ersten das Mitteilen des Eindrucks. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 72-73).Das
Geheimnis - Urphänomen - »erkennen« wollen, ist Drang nach geistigem
Besitz. (Der Mensch sucht die) Illusion des Erkennens. Eigenes und Fremdes, das
subjektive und objektive Element im Erkennen und Erkannten. Das Objektive bleibt
Geheimnis, das Subjektive ist Methode, Form des Geistes, Wille zur Macht.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 73).Glaube
und Wissen sind nicht streng zu trennen. Man glaubt an sein Wissen. Wissen ist
sprachlich fixierter Glaube. Wichtiger ist der Instinkt, der hinter dem Nachdenken
szeht, es leitet, seine Resultate im voraus bestimmt. »Reines« Wissen
wäre instinktloses Wissen, blutarmes Wissen. Verstand, Geist, Vernunft etc.
haben sich von der Praxis, der Technik, (also letzten Endes von) der Hand her
entwickelt. Sie sind ein Werkzeug, ein MIttel zum Zweck. Wenn das Werkzeug Selbstzweck
wird, entsteht Unsinn. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 74).Glaube
ist Sicherheit ohne Beweis .... Glaube ist Instinkt. Erst rationalistisches Denken
(Scholastik) unterscheidet Glauben als begründet durch Beweis, Offenbarung,
Schrift, Lehre und Aberglauben. Ursprünglich ist alles »Aberglaube«
(bzw. das was wir Aberglaube nennen, war ursprünglich
Glaube; HB), d.h. festes Überzeugtsein, ohne logische Unterlagen,
aus innerem Gefühl und Instinkt heraus. Aus diesem heute noch vorhandenen
Instinkt - nur bei Intellektuellen ist er abgestorben - wird logische Begründung
abgelehnt, als sinnlos, unangemesen empfunden. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 74).Glaube
- von der Richtigkeit einer Meinung überzeugt sein - das ist »begründetes
Wissen«. Die profane Wissenschaft ist nur ein Zweig dieses allgemeinen Glaubens.
»Ich weiß«, d.h. ich bin überzeugt, daß ich weiß.
Trotzdem gehen in dem heutigen Wort »Glaube« zwei Elemente durcheinander:
1.) Schauen und Ahnen, Dichten der Umwelt, Weltanschauung,
kritiklos, aus dem Blut hervorströmend. Daher kommen die volkstümlichen,
widerspruchsvollen Ansichten von Gespenstern, Riesen, Dämonen, Göttern.
2.) Theorie aus Technik entwickelt, mehr Dogma, logisch
begründbar, mehr Geist als Blut, mit dem ersten in ständigem Widerspruch.
Wissowa kennt nur das zweite, Wilamowitz-Moellendorf nur das erste. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 74-75).Glaube
an etwas kann Glaube an ein erkanntes, erdachtes Wissen oder an ein Erleben sein.
Das eine führt zu Begriffen, das andere zu Erlebnissen; im Höchstfall
das eine zu einem theologischen System, das andere zu eienr Vision, also zu Scholastik
oder zu Mystik. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 75).Fast
alle Naturforscher halten ihren Glauben für Tatsache, wie die dogmatischen
Formen. Zu den reinen »Größen« Raum, Körper, Zahl,
Strecke wird eine »Theorie« gebildet. Das ist Glaube an ein Wissen.
Heute ist die Theoriebildung gegenüber der Skepsis eines Hertzs oder Helmholtz
leichtfertig. Die »zweite Religiosität« ()
macht sich hier bemerkbar: man will in der Physik nicht Zahlen, sondern mythischen
Glauben - Mythus von den Atomen. In Wirklichkeit ist alles das alter ego
(des Menschen): menschliche Denkform in den Dingen gespiegelt. Wir wissen nichts.
Das ist in allen Kulturen der Weisheit letzter Schluß: wir können nur
handeln, nicht erkennen. Ethos ist wichtiger als Theorie, das Leben ist das erste,
der Geist das zweite. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 75).Der
ursprüngliche Mensch kennt nur praktische Gewißheit - allgemein animalisch
- durch allgemeinen Instinkt (der Gattung) oder durch eigene Erfahrung.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 76).Zum
Glauben gehört der Zweifel, zum Wissen der Irrtum. Der feste Glaube, der
Berge versetzt, steht gegenüber der »festen Überzeugung«,
von dem jeder annimmt, sein Glaube müsse der aller sein. Das Wissen setzt
Glauben an das Wissen voraus. Es entwickelt sich aus dem Glauben. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 76).Der
Glaube fragt nicht nach System und Logik. Er ist Flucht aus der Logik, aus den
Beweisen und dem Bewiesenen: credo, quia absurdum. Deshlab ist die Theologie
so idiotisch, sie will das System, das dem Glauben fremd ist, wieder in die Religion
durch die Hintertür hineinbringen, beweisen, daß der Glaube »richtig«
ist. Gerde das will der Gläubige nicht, das Volk, die tiefe Seele. .... Glaube
ist Glaube an etwas, dessen man wortlos sicher ist, das bildhaft, schicksalhaft,
bedeutungsschwer ist. Glauben heißt, das Geheimnis in Gestalt lassen, nicht
enträtseln wollen. Der Glaube hat Ehrfurcht, nicht Neugier. Er ist gegen
Widersprüche. Glaube ist Glaube an Unsichtbares. Wissen ist Glaube an Sichtbares.
Wenn irgendeine Wissenschaft einen Tatbestand so formuliert, daß jeder ihn
vor sich zu sehen glaubt, glaubt jeder etwas zu wissen. Auf dieser Art zu wissen
beruht heute die gesamte Naturwissenschaft .... (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 76-77).Theorie
ist ein Wissen, dem ein Glaube zugrunde liegt. Ich glaube zu wissen. Die Methode
enstteht aus einem Glauben. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 77).Wissen
ist kein Gegensatz zu Glauben. Es ist eine Art von Glauben. Statt »ich weiß«
sollte man sagen »ich glaube zu wissen«. Die Sicherheit des Glaubens
zeigt durchaus nicht, daß er gewiser ist als ein anderer. Er zeigt nur den
Charakter des »Wissenden« an. Jeder Glaube hat entweder das Gefühl
des Zweifels oder der Gewißheit. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 77).Der
Kulturmensch hat die Neigung, durch Theorie, Begriffe, Hypothesen »hinter«
- die Raumvorstellung ist sehr bezeichnend (!!!)
- die Dinge zu kommen. Er will das Geheimnis entschleiern, hinter den Spiegel
sehen, der doch nur das eigene Denken wiedergibt, das alter ego.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 78).Das
Nachdenken löst keine Rätsel, sondern bildet sie aus. Vor dem zudringlichen
Auge grübelnder Menschen verhüllt sich die Natur, und je weniger Ehrfurcht
im Forschen liegt, Ehrfurcht vor dem Geheimnis, desto mehr Trotz und Hohn liegt
in der beforschten Welt. Und je mehr Fragen »gelöst« werden,
desto mehr neue und schwere treten an ihre Stelle. Das Erkennen mehrt das Unerkannte.
Der Gesichtskreis erweitert sich in Gestaltvon Finsternissen und Nebeln. und der
Glaube an die Erkennbarkeit (der Geheimnisse). die Gelöstheit des Rätsels,
kennzeichnet lediglich die Flachheit des Beschauers. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 78).
Sprechen und Denken (S. 79-88):Die
Sprache stammt nicht aus der Poesie. Dann müßte die Grammatik ganz
anders aussehen. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 79).Es
ist falsch, bei grammatischen Fragen immer den »Aussagesatz« zugrundezulegen.
Das ist in der Literatur, die darstellt, die häufigste Form, aber nicht im
Leben. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 79).Wenn
Sprechen dialogisch, nicht monologisch ist, ist der Wortschatz vom Zweck des Dialoges
abhängig. Das Wort im fortlaufenden Sprechen ist immer terminus technicus
deshalb, weil die Technik des Unternehmens die Sprache schafft. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 80).»Nach«denken,
Vorstellen, einen Begriff von etwas haben, alles das ist schon Theorie, setzt
eine Sprache in Worten voraus. .... Schauen und Ahnen ist noch kein Denken. Da
sieht man etwas vor sich, aber hat keinen »Begriff«. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 81).Je
weiter sich das theoretisch-untätige Denken vom tätigen Lebeb entfernt,
wie es in allen Spätkulturen geschieht, desto flacher wird es, weil es arm
an Gestalt des Wirklichen ist. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 84).Wenn
die Physik des Abendkandes Atomenergie (!!!) »herstellt«,
so ist sie genau so weit wie der Germane, der in seinem Schwert eine »Macht«
fühlt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 85).Wenn
die Naturwissenschaft von der Unsicherheit geschichtlicher Dartsellungen redet,
so gilt das von ihr selbst ebenso: Jede »Darstellung« eines gesehenen
oder erschlossenen Sachverhaltes ist subjektiv. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 85).Sprache
ist ein Gesetz - die Grammatik ist dessen Fassung -, und der Sprechende unterliegt
diesem Gesetz, ohne es zu merken. Indem er spricht, denkt er in der grammatischen
Form seiner Sprache. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 85).Das
»Denken in Begriffen« tritt anstelle des verstehenden Empfindens (anschaulich
Denken). (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 86).Begriffe
sind Worte, die als Höreinheiten sinnliche Einheiten symbolisch bezeichnen.
Aber nie wird ein Wort - nicht einmal von demselben Menschen in derselben Rede
- in genau der gleichen Bedeutung (und vor allem: Referenz
! HB) gebraucht. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 86).Die
Wirklichkeit hat weder Ursachen noch Zweck, weder Wirkungen noch Mittel. Erst
die freibeweglichen Lebewesen (Mikrokosmen im Makrokosmos) grenzen in dieser Form
an die übrige Welt, empfindend, verstehend. Ursache und Zweck liegen den
Arten des kritischen, zerlegenden, unterscheidenden Empfindens und Verstehens
zugrunde: dem Wittern, Schnüffeln, Horchen, Spähen, Begreifen. Das Leben
an und für sich ist frei davon - das nennen wir Instinkt. Das Wunder der
»Zweckmäßigkeit« in der Natur ist das, was dem Intellekt
unbegreiflich erscheint, weil wir es nicht könnten, aber der Eindruck des
Wunderbaren entsteht erst durch Zerlegen in Ursache und Zweck. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 88).
Bewegung und Zeitgefühl
(S. 89-104):Die Physiognomik sieht etwas heraus, fühl,
erlebt es. Die Systematik sieht etwas hinein, d.h. denkt es. Aber durch Formel
und Gesetz wird etwas nicht erkannt, nur beschrieben (vgl. Friedrich Nietzsche,
Der Wille zur Macht, Nr. 628-630, S. 424-425). Das sind Formen des kausalen
Denkens, nicht dessen, worauf es angewandt wird. Wenn man Bewegendes und Bewegtes
trennt, erhält man die Form des kausalen Denkeens: Ursache - Wirkung.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 89).Wir
unterscheiden mechanische (anorganische) und organische Bewegung: Bewegtwerden
und Sichbewegen. Und zwar ist lebendige Bewegung die von Mikrokosmen, wie wir
sie an uns selbst kennen und an Organismen, Tieren miterleben. Dieser Unterschied
geht also nicht von der Natur aus, sondern von uns. Und »Naturgesetze«,
die im Verlauf mechanischer Bewegung wirken, sind die Fassungen unseres Denkens.
In jeder organischen Bewegung liegt, wie wir durch Nachdenken schließlich
finden, auch etwas Mechanisches, eine Einsicht, die schließlich entschiedenes
Übergewicht gewinnt. Es ist deshalb so, daß wir von organischen Bewegungen
aus die fremdartigen mechanischen abscheiden - und erst die späte großstädtische
Wissenschaft tut das, im Gegensatz zu den Urreligionen, mit Entschiedenheit. Es
gibt Wissen durch Erleben oder durch kritisches Nachdenken: zwischen organischer
(erlebter) Erfahrung und (kritischer) Feststellung liegt ein Unterscheid der Methode,
nicht das Wesen des zu Erkennenden. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 95-96).Bewegung
ist nicht Ortsveränderung, sondern Tätigkeit der Bewegungsorgane auch
bei ruhendem Leibe ... Ortsveränderung ist immer relativ zur Welt. .... Bewegung
wird nur erlebt, erkannt wird die Ortsveränderung. Deshalb ist das Bewegungsproblem
unlösbar. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 103).Bewegungsproblem:
das ist der unmögliche Versuch des Verstehens, das Geheimnis der Zeit bewältigen,
zerlegen zu wollen. Alle physikalischen Theorien haben ihre wunde Stelle - das
zeigen Relativitätstheorie und Wahrscheinlichkeitsrechnung, die Angriffe
aufs Kausalgesetz bedeuten. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 103).Ruhe
ist nicht bewegungsfremd, sondern nur ein Sonderfall der Bewegung. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 103).Der
Gegensatz von Leben und Denken ist unaufhebbar. Eine Bewegung sehen, heißt
mit dem lebendigen Auge eine Menge Gestalten als fließende Einheit erleben.
(Nun folgen sehr gewagte Thesen; HB). Nicht
im Gesehenen, sondern im Sehen liegt die Bewegung. Im Gesehenen erscheint nur
die Ortsveränderung im Weltbild. Nur durch das Augenleben wird sie zum Erlebnis
der Bewegung. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 103-104).Das
kausale Erfassen (durch Sinne und Denken) - die Form des Erfassens (als kausal
verursacht, als Materie) - wird in das einheitliche kosmische Bewegen hineingesehen.
Darauf beruht der Konflikt zwischen theoretischer Kausalforschung und praktischer
Vorbestimmtheit (Planck, Heisenberg). (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 104).Das
»Erkannte«, das wissenschaftlich Festgestellte, besitzt Kausalität
als inneres Ordnungsprinzip, nur weil es nicht Wirklichkeit, sondern System, d.h.
also unser Bild der Wirklichkeit ist. Die erlebte Wirklichkeit, die lehrt, wie
mein Leben und der Kosmos vom selben Rhythmus durchschauert sind, hat Schicksal,
nicht Kausalität. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 104).
Zeitgefühl und Zeitbewußtsein
(S. 104-119):Das Kind hat wenig Zeitgefühl, lebt fast ganz
in der Gegenwart. Die Tiefe des Raumes entsteht aber erst mit dem Erfassen von
Vergangenheit und Zukunft, (also der) Ferne. Streben haben schon die Kinder, das
ist eine Tendenz zur Zukunft, Richtung (auf Zukünftiges). Das ist die erste
»Zeit« (die erfaßt wird). Erst später tritt die Erinnerung
an Vergangenes hinzu. Die Zukunft ist eher da, weil die Richtung des Lebens von
der Gegenwart zur Zukunft verläuft. Wille und Ziel sind bei Tieren vorhanden,
also gewissermaßen auch Zukunft. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 104).Das
Kind lebt zuerst fast rein gegenwärtig. Dann beginnt es das Gestern und Morgen,
später erst den vorigen Monat und kommenden Monat, dann das Jahr zu begreifen.
(Über den Zusammenhang von Lebensdauer und Zeitgefühl siehe Baer).
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 105).Die
Pflanze ist Zeit, das Tier fühlt Zeit, der Mensch denkt sie
in Vergangenheit und Zukunft. Das Tir kann sich langweilen, aber nur der Mensch
denkt darüber nach. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 105).Das
Geschehen ist nicht in der Zeit, sondern hat Zeit, ist Zeit.
Daß etwas in der Zeit sei, enthält die Vorstellung, daß die Zeit
ein Hohlraum sei. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 106).Zeitgefühl
ist am deutlichsten in der Langeweile, der Eile, dem Gehemmtsein, dem Wartem.
Zeitdenken führt zu Reue, Hoffnung, dem Gefühl des »Zu-spät«
! (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 106).Zwischen
den Zeitgefühlen der Unerfülltheit, also Ungeduld, Langeweile und Reue,
liegt das Gefühl der reinen gesättigten Gegenwart: Glück: Es sind
nur Augenblicke, ein Leuchten, das Dunkelheit voraussetzt. Dauerndes Glück
ist Langeweile. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 106).Gedächtnis
und Erinnerung (des Menschen) sind in Stufe a ()
tierhaft (ich würde sagen: noch relativ tierhaft; HB), instinktiv (ich würde sagen: noch relativ
instinktiv; HB) ..., in Stufe b ()
beständig, präsent .... (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 107).Zeitgefühl,
das zum Instinkt gehört, haben alle Tiere; es ist kosmisch, nicht an die
Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos gebunden . Die geheimnisvolle Einheit
aller lebendigen Wesen liegt darin. Ein Erdbeben, ein Gewitter, den trocknen Sommer
vorherfühlen im Blut, in der Seele, ist durch dieses von Denken unberührte
Zeitgefühlt möglich. Raumsinn gehört zum Mikrokosmos im Makrokosmos.
Auch witternde und tastende Wesen haben ihn. Jede Ziege findet ihren Stall, wenn
sie ihn erst kennt. In ihrer Welt ist das ein Mittelpunkt. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 107).Zeiterleben.
Das Ursprüngliche ist Zeit, nämlich die Tatsache unseres eigenen Lebens
und dessen um uns herum: das Entstehen und Sichvollenden, Jungsein, Altern, Wachsen,
Verfallen, Dauer und Tempo, Rhythmus, Periodizität. Alles erlaubt es so.
Doch wie es mit innerer Gewißheit erlebt wurde, ist genau überhaupt
nicht anderen oder sich selbst denkend mitzuteilen. Nur echte, unmittelbare Kunst,
d. h. nicht das Kunstwerk sondern das schöpferische Schaffen enthält
für den Schaffenden (und in geringerem Grade für den wiederschaffend
Genießenden) das Geheimnis der Zeit. Raum dagegen ist die Form, in welcher
von den Sinnen (und vom Verstehen) das, was da ist, erfaßt wird: als Ursache,
Substanz, Ausdehnung. Es gibt Tastraum, Sehraum, Denkraum, entstehend aus dem
lebendigen Sehen (Tiefe) und dem Reiz (Fläche, Farbe, Helligkeit) und dem
Tasten (Körper, Druck). Zeit ist nur ein Begriff. Das Erlebte, durch eigenes
Leben [Erlebte], ist das geheimnisvolle Woher und Wohin. Bei Tieren ist es nicht
wissend [erlebt], sondern im tätigen Instinkt. Der Mensch (vor allem der
b-c-d-Stufen)
versucht ahnend, fragend, wissenwollend, zuletzt spraclilich-begrifflich, sich
der Zeit zu bemächtigen. Zukunft, Tendenz, Richtung ist dasselbe - ungewiß.
Vergangenheit, Erinnerung, Erfahrung ist auch dasselbe; es ist gewill, nicht umkehrbar.
Das zeitlos raumhafte, sprachgebundene Denken nimmt sich selbst (das Ich) als
ruhende Größe, an der die Zeit vorüberfließt. Jede Bewegung
hat Richtung vom Jetzt zum Einst, auf ein Ziel, auf die Zukunft. Tempo und Dauer
werden am eigenen Leben erfühlt: »schnell« und »lange«
(danach bemessen). Injeder Bewegung erleben wir den Weg von der Gegenwart zur
Zukunft. .... Zeit ist gefühlt, dasselbe wie Leben, Richtung, Dauer, Tempo.
... Sobald der sprechend-denkende Mensch darüber nachzudenken versucht, hat
er nur die Vorstellung einer Strecke, die er zeit nennt. Zeit ist ein Geheimnis,
eine Urfrage ohne Antwort. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 108-109).Augustin
(siehe Harnack)
sagt über die Zeit, bewgung u.s.w.: Wenn ich nicht nachdenke, weiß
ich, was es ist. Wenn ich denkend es in Worte fassen will, weiß ich es nicht
mehr; d.h. Zeit, Bewegung ist dem Verstehen und Empfinden fremd. Es gehört
zur Tätigkeit des Empfindens, nicht zur Tatsache des Empfundenen. Zum Nachdenken
gehört der Begriff der Zeit und das sehen der Uhr, die Vorstellung Zeit statt
Zeiterleben. Vorstellen ist aber Wortdenken, kausal und dimensional. Zeit ist
ein Wort, das man bildhaft erleben muß, über das man nicht abstrakt
reden darf. Leben, Wille, Richtung, Zeit, Schicksal meinen dasselbe Wesenhafte
der Welt in und außer uns, das sich weder begreifen noch definieren läßt.
Ich meine (mit Zeit), was jedes Lebewesen in seinem Tun fühlt, erlebt, was
sich in Worten dichterisch erahnen, aber nicht definieren läßt, was
bei Menschen besonders deutlich ins Gefühl tritt in den Momenten der Langeweile,
der Reue (des Zu-spät und des Nie-wieder), der Hast, der Erwartung, der Übereilung
etc.. Was dagegen als Zeit denkend bewußt wird, ist eine Raumstrecke, ein
mathematisches Surrogat, etwa das Abzählen von Ziffern auf der Uhr, von Schritten,
Pulsschlägen, das Messen von Strecken, zähl- und meßbaren Empfindungen:
(Zeit) also nicht gefühlt, sondern denkend empfunden. In diesem Denekn liegt
die Vorstellung, die wir für »die Zeit« halten. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 109-110).Mit
Zeit meine ich hier nicht die raumhaft mathematische Zeitstrecke der Messung,
deren fiktiven Charakter die Relativitätstheorie (und schon früher Karl
Ernst von Baer) erkannt hat. Zeit ist Fühlen, Lebensgefühl, das man
durch abstraktes Denken begrifflich zu fixieren versucht (was unmöglich ist).
Zeit und Lebensdauer hängen zusammen. Für das Infusor gelten andere
Einheiten als für länger lebende Wesen. .... Langeweile dehnt die Zeit.
Sie ist länger, meine Zeit nämlich, während sie für die Eiligen
daneben flieht. Die Uhr zeigt dieselbe Strecke, ein Beweis, daß sie nicht
die wirkliche Zeit angibt. Denn jeder hat seine eigene Zeit, weil er sein eigenes
Leben hat. ...Das Denken ist zeitfremd. Gedachte Zeit kann von Zukunft zur Vergangenheit
gerechnet werden. »Eins, zwei, drei, im Sauseschritt läuft die Zeit,
wir laufen mit« (Wilhelm Busch ).
Der Raum (die Welt) ist allen gemeinsam - es ist nicht meine, sondern unsere Welt.
Aber jeder hat seine Zeit. Es ist die Gewohnheit der Systematik, Zeit und Raum
gleichartig zu behandeln. Die Zeit ist keine Wahrnehmung, sondern ein aus dem
Leben, dem Rhythmus abstrahierter Begriff. Die Zeit wird als Tempo und Dauer des
eigenen Lebens erfühlt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 113-114).Alles
Verstehen hat das Wesen der Ausdehnung, hat also »mathematische« Form.
Alle Denkversuche, das Undenkbare zu »erklären«, d.h. denkbar
zu machen, sind mathematischer Natur. Wenn man Objekt und Subjekt, Ursache und
Wirkung, »Zeit« als nacheinander und Raum als Nebeneinander unterscheidet,
so ist das schon eine geometrische Vorstellung. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 114).Gestalt
des Empfundenen (Ausdehnung und Grenze) ist die apriorische Form alles Empfindens.
Zur Ausdehnung gehört »Stoff«, »Ort«, »Entfernung«
(von mir aus: hier-dort, nah-fern). Zur Grenze gehört »Ganzes«,
»Teil«, »Ursache« und »Wirkung«. Und zwar
ist Ursache und Wirkung aus dem Empfinden des tätigen Wesens, Raum, Stoff,
Ort aus dem des ruhenden Wesens entnommen. Mit diesem »Urteil der Sinne«
(verstehendes Empfinden) wird die Bewegung sinnlich zerlegt: kausal und temporal.
Zeit wird als Strecke aufgefaßt. Für den sprechend-denkenden Menschen
gewinnt diese Art der Kenntnisnahme allmächtige Bedeutung: Astrologie, Kalender,
Zahl zeugen davon. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 116).Tempo
(Geschwindigkeit) und Dauer gehören zum Zeiterlebnis. Sie sind Wesenszüge
der Wandlung, nicht Eigenschaften (nicht das, was faßbar ist ...) .... Es
sind unter den Wandlungen regelmmäßige (z.B. Fall, astronomische Bewegungen)
und unregelmäßige (z.B. die von Wolken). Das mathematische und chronologische
Verfahren (die Methode) ist aber nur die Form des Verstehens, die der menscg hineinlegt.
Das Leben dagegen - jede Art von Leben - hat ein bestimmtes Tempo und eine bestimmte
Dauer. Das gehört zum Charakter jeder Art von Leben. Lang- und kurzlebend,
menschlich gedachtheißt das: Minuten und Jahrzehnte. Zeitbegriff und -maß
ist für jede Art von Wesen unmittelbar von der Lebensdauer abhängig.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 116-117).Zeit
liegt im Wahrnehmen, Raum im Wahrgenommenen. Das zeithafte Wahrnehmen erscheint
uns am Wahrgenommenen als Dauer. Jede Tatsache hat eine Dauer insofern sie Gestalt
ist. Jede Wahrheit ist zeitlos (vgl. Franz Overbeck, Christ und Kirche,
Anfang).
... Die zeitliche Folge des Wahrnehmens ergibt eine lebendige Ordnung, eine dauernde
Ordnung, eine Richtung »von mir fort«. Gestalt ist also doppelseitig:
als lebendige, zeithafte, gerichtete oder als tote und ausgedehnte Ordnung. Um
zu sehen, zu wittern, zu tasten oder zu hören, daß etwas vorhanden
ist, ... ist die Zeit des Beobachtens gleichgültig. Das Gesuchte ist entweder
da oder nicht. Will ein Tier oder ein Mensch aber feststellen, ob etwas sich ändert,
verwandelt oder bewegt, dann kommt es auf die Dauer des Bemerkens an, also auf
das Bemerken selbst als lebendige Tätigkeit. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 117-118).
Individuum und Generation
(S. 120-155):Alle Kulturen sind unindividuell: Staat, Stamm,
Familie, Tradition, Stand, Heer. Das Individuum ist nur ein Fragment. Es
kommt auf das Ganze an: Wo dieses Gefühl aufhört, endet das Leben.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 120).Die
Flamme ()
ist die Generationskette, die dauert bis zum Erlöschen, dem Tod des Feuers
und des Einzelfunkens, dem Aussterben des Geschlechts und dem Absterbe
des einzelnen. Der einzelne hat nur im Niedergang Bedeutung, sonst ist er Glieid
einer Reihe. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 120).»Mengenseele«
(gesamtindividuum) genetischer Art ist familie, Stamm, Stand, Heer: eine zusammengewachsene
Einheit. Künstliche Menegenseele ist Straßenauflauf, Versammlung unter
dem Eindruck eines Redners, Publikum vor der Bühne, Partei, (also) »Masse«,
die ebsno rasch zusammengelaufen wie auseinandergelaufen ist. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 121).Kulturseele
ist Einheit der inneren Form des Lebens, bei jedem Einzelnen verschieden
stark. Die Kulturseele offenbart das Urphänomen der Kultur: Personen und
Sachen, große Menschen, Ereignisse, Werke, Gedanken, Sitten, Stile, Lebensgefühl,
Weltanschauung offenbare alle dasselbe. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 121).Individuation
ist Vereinzelung des Lebens, Zerfall der Daseinsströme (der Flamme)
in Reihen von Einzelwesen (Funken, Einzelbrände). (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 121).Das
»Leben« wird ursprünglich als Wir überlebt, als Sippe, Horde
etc.. Der Einzelne fühlt sich kaum als Individuum. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 122).Zu
den Organismen, den Individuen von mehreren Exemplaren gehört die Art,
die Generation, als ein Leben, eine Idee, die in vielen Exemplaren
als Einheit lebt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 122).»Urphänomen«
ist Wirklichkeit, in der eine Formidee besonders rein »vor den Sinnen
erscheint« - d.h. sich durch »Farbe«, »Ton« etc.
mit dem menschlichen Wachsein vermählt (»Wär nicht das Auge sonnenhaft«).
Das Entzücken über die Vollkommenheit dieser Vermählung heißt
»Schönheit« - metaphysische Verwandtschaft zwische Es und Ich.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 123).Das
Wesen des Lebens ist Vergehen, Sichverzehren, Verschwenden. Reichtum des Lebens
ist Verschwendung des Einzelnen. Unzählige Keime, Früchte und Kinder
gehen zugrunde, oft die besten. Es kommt nur darauf an, daß es so viele
sind, daß die Art nicht in Gefahr gerät. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 122).Im
Keim ist nicht etwa als Wesen angelegt, sonderm die Idee der Form.
Durch experimentierenden Einfluß kann man groteske Wesen erzeugen (vgl.
Jakob von Uexküll, Biologische Weltanschauung, 1913, S. 272).
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 124).Biographie
ist die einzige Form, Miterlebenden das Geheimnis eines Lebens nahezubringen.
Die »Weltgeschichte« ist die Biographie des Menschengeschlechtes.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 125).Die
Ideen des Fortlebens im Jenseits, der Unsterblichkeit, der Wille zur Dauer, der
die Zeit überwinden will die Angst vor der Tatsache »Ende«:
das folgt aus dem Wissen des Sterbens. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 126).Das
organische Leben hat sein Kennzeichen in der Tatsache Entstehen und Vergehen,
Entwicklung und Vollendung, Geburt und Tod. Es ist die Verwirklichung einer möglichen
Form, die zu Ende geht, sobald sie vollendet ist. Ob es sich um ein Einzelwesen
handelt, um Wassertropfen oder um eine Art, Gattung oder um die »Pflanzen«
überhaupt - verschieden ist nur die Dauer. ().
Die Tatsache von Anfang und Ende gilt. Sie liegt im Sinn dieser Form, die ein
Vorgang ist, ein Werdendes, nichts Seiendes. Jede Verwirklichung hat Jugend, Reife,
Alter, Frühzeit und Spätzeit, Blüte und Welken - Pflanzenarten
wie Kulturen etc.. Also ist auch die »Umwelt« des Menschen vergänglich
als Spiegelung des Daseins; seine Werke, seine Taten, Völker und Künste.
Die innere Tendenz nach »Ewigkeit« der Schöpfungen, der Völker,
Kulturen, der Seele, des Leibes (Mumie) ist nur Ausdruck der Angst des
Wissenden. Diese Angst muß überwunden sein, wenn man die Welt
begreifen will. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 127).Dem
Zwang der Gattung unterstehen alle Tiere. Erst der frühe Mensch (Stufe a
)
wird frei davon: er lebt als Einzelwesen. Vorstufe dazu sind die großen
einsamen Raubtiere .... Die Gattung ist eine lebendige Einheit: alle ihre Glieder
tun dasselbe, unindividuell, und sie empfinden dasselbe - daher kann man von einer
Umwelt der Art sprechen. In das Gemeinschaftsbewußtsein wächst jedes
Exemplar hinein. Die Menschen haben eine »gemeinsame Welt«, nicht
»meine«, sonder unsre Vorstellung. Auch das ist eine Umwelt
der Art. Die Gattung Fuchs handelt im einzelnen Exemplar: bei Nahrungssuche,
List, Anlage der Fuchsbauten. Auch bei den Wanderungen der Vögel und ihrem
Nestbau handelt die Gattung. Erst der Mensch (seit Stufe a )
kennt - zunächst selten - die Einzeltat. »Wir« ist ein Individuum
von mehreren Exemplaren. Es sind ursprünglich animale-instinktive
Einheiten Ein Volk ist - von Stufe b-d ()
- mehr und mehr eine bewußte Einheit. Der Instinkt leietet
zuerst das Bewußtsein, dann wird er vom Bewußtsein kommandiert - das
sind dann die Ntionen, bei denen das erlernte Wissen umm den Zusammenhang den
Instinkt leitet: nationalismus. Nation und Kirche sind Zusammenhänge, die
räumlich und zeitlich zu groß sind, um überblickt und also von
der Natur aus erlebt zu werden. Die erlebeten Einheiten sind klein:
Gau, Sippe, Rudel, wo jeder den andren kennt und da gebiet überblickt.
Die Wirseele besteht von selbst: die Herde lebt gemeinsam, sie schließt
sich zusammen, sei es aus Drang zum Tun (z.B. beim Angriff) oder
aus Furcht vor dem Alleinsein (z.B. bei Gefahr). Augenblicke der Panik
schaffen auch heute noch eine Wirseele aus der Summe von Einzelwesen, die davon
erfaßt werden. Der Schwarm ist ursprünglich die stärkere
Lebenseinheit (gegenüber dem Individuum). Jeder Einzelne fühlt, will,
wehrt sich, greift an als Exponent, als Glied und Organ des Ganzen.
So entsteht auch die Sprache. Das Wir schafft Grammatik und Wortschatz, instinktiv
.... (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 127-128).Der
Kern ()
wird im Einzelwesen schwach, die Schale ()
stark. Der Mikrokosmos ist ein erlöschender Funke (abgetrennt von der größeren
Flamme des Lebens ).
Das Individuum stirbt, weil es geboren wird. Die Generation strömt.
Am Individuum stirbt zuletzt auch die Generationenfolge. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 129).In
ungeheurer Verschwendung wird Leben ausgestreut. Es kommt auf Einzelne nicht an,
nur das »Geschlecht« will dauern, die Flamme, nicht der Funke. ().
Daß das Individuum sich selbst wichtig nimmt, ist ein später Zustand
(städtisch). Noch der echte Bauer lebt für seinen Stamm. Individualismus
ist ein Alterssymptom der Gesamtseele, krankhaft, steril. Der gesunde Mikrokosmos
lebt als Erbe von Ahnen und Ahn von Erben. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 129-130).Das
Raumgefühl der Furcht: allein im Raum sein, deshalb Streben
nach »Wir« im Raum. Es ist rein gegenwärtig - zeitlos. »Raum«
aber ist das Alleinsein von Seele und Gegenwelt, von Mikrokosmos im Makrokosmos.
Gegen-welt und gegen-wart gehören zusammen (AHD: gaganwerti, Zustandswort
zu gaganwart »entgegengekehrt«). (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 130).Das
Zeitgefühl ist Sehnsucht, gerichtet von Vergangenheit zu Zukunft -
raumlos. Ziel und Wille sind verwandt. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 131).Je
kühner das Leben, desto mehr ist es »Ich«. Nordisch ist der Wille
zur Einsamkeit, zum Abstand von den Mitmenschen, zur betonten Distanz zwischen
den Ständen, Betonung des Ranges. Individualismus: meine Welt ist nicht deine
Welt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 131).Schon
bei Tieren gibt es Konflikte zwischen Individuen und Gemeinschaft, Ich und Wir.
Es gibt in jeder Herde wohl- und schlechtgeratene Exemplare, Stolz auf das Fürsichsein
und Abneigung dagegen (aus dem Instinkt der Minderwertigkeit, wo die Mehrzahl,
die Quantität, die Qualität ersetzen soll). Bei der Gattung »Mensch«
ist das extrem entwickelt, hohe und niedere Seelen, mit verschiedener Ethik und
Lebenstendenz. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 131).Das
Lebewesen hat zwei tendenzen: zum Kampf (Vernichtung, Macht, Herr sein) und zum
Fortpflanzen (der Art). Ernähren, Stoffwechsel, Atmen sind untergeordnete
Funktionen gegenüber den Urtrieben, die das Leben sind: Kampf um die Macht
und Fortpflanzung. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 131).Leben
ist Wille, Gerichtetsein, Schicksal sein und haben. Seele
ist der Mittelpunkt des Lebewesens, ein Geheimnis, unerklärbar, gefühlt
(von anderen Seelen). .... Seele ist das Geheimnis - kein Begriff, sondern ein
Wort für Undenkbares .... (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 131-133).Von
Freud platt gefälscht: Sexus statt Eros. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 139).Nur
der Kulturmensch hat den Schwerpunkt seines Lebens - vom Tier aus beurteilt -
im »Alter«, d.h. nach den Perioden der Geschlechtsintensität.
Das Urteil über die Alten schwankt (in den Stufen c und d)
zwischen Verachtung und Verehrung. Kultur ist eine Schöpfung der Seele
jenseits der Begattungsperiode. Leben ist nicht Geschlechtsleben,
sondern Kulturleben. Der Geist reift später als das Geschlecht. Diese »Reife«
des Menschentypus ist unter Tieren unbekannt. .... Ein Lebewesen ist eigentlich
ein Lebenslauf. Das Wesen ist kein Ding, sondern ein Vorgang. Das
Exemplar, durch Zeugung und Geburt abgelöst von dem großen Lebenslauf
der Gattung, ist eine kleine Biographie. Die Geburt ist (wie
die Zeugung) ein Schicksal. Durch die Geburt wird das Einzelwesen
vom Lebensstrom entbunden, in die Welt gestoßen, an einem Ort, zu einer
Zeit, in eine Umgebung, mit einer Tendenz zur Verwirklichung einer bestimmten
Lebensform. Das spricht Goethe in den Urworten aus: Daimon ist die
Strophe, die von der Geburt handelt. Leben ist strömende Einheit in
vielen Exemplaren, eine einzige leuchtende Flamme (),
von der vergängliche Funken absprühen. Das irrende Fünklein in
der Welt ist das Symbol der Einzelseele. Der einmalige Charakter jedes
Einzelwesens ist Schicksal, durch die Zeugung gesetzt (Einfluß der
Erbmasse, der glücklichen Stunde astronomischer, meteorologischer Umstände
u.s.w.). Die Geburt entscheidet über den Ort, die Zeit (das Jahrhundert u.s.w.),
die Kultur, den Stand, die Familie, wo sich das Leben (seit
der Geburt!t) abspielen wird. Dieser Charakter (Prägung durch
Zeugung und Geburt) ringt mit den Lebensumständen. Er kann sich entfalten,
verkümmern, gebrochen werden - aber er ändert sich nicht. Geschichte
ist das Einmalige: Biographie ist Privatgeschichte des Einzelnen (Weinhandl, Die
Metaphysik Goethes, S. 311). Statt »so-sein« sollte man besser
»Charakter«, Physiognomie sagen. Alles, was ist, hat sein besonderes
Gesicht. Nie kommt zweimal dasselbe vor. .... Das Wesen eines Einzelnen
offenbart sich nur durch Wirkung. Wie er lebt, d.h. wirkt, nicht was er
»ist« - das bleibt Geheimnis. Der Charakter eines Seiend-Wirklichen
- ob organisch oder anorganisch - wird physiognomisch erkannt, im Wirken
auf uns oder auf andere Wirklichkeiten. So schildert der echte Dichter und Historiker.
Charakter ist Wesen, das durch Wirken und Handeln sich offenbart (Weinhandl,
Die Metaphysik Goethes, S. 311). Gestalt = Charakter = Wesen = Idee (Weinhandl,
Die Metaphysik Goethes, S. 304ff.). Charakter einer Landschaft, eines Gesichtes,
einer Bewegungsart der Gattung, einer Epoche, eines Kunstwerks, eines Menschen
- es ist das Einmalig-Besondere des Individuums, Charakter der Individualität.
... Der Charakter bildet sich nicht nur, sondern offenbart sich auch »im
Strom der Welt«. .... Charakter ist Verwirklichung der Idee, der
inneren Form, des einmaligen So-Seins jedes Einzelwesens. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 141-143).
Nur das Lebendige hat »Idee«, d.h. schöpferische Entwicklungstendenz
vom Möglichen zum Wirklichen, »Genius«. Sie ist unaussprechbar,
kann nur erlebt werden. Sie liegt in Pflanze und Tier, ... in allen echten
Lebenseinheiten wie Stämme, Völker, Künste, Denkweisen. Jeder Lebenszug,
vor allem das Unbewußte, ist Verwirklichung der Idee. Das Ideal ist
demgegenüber ein geistig-begriffliches Ziel (das beredet, beschlossen,
gepredigt und nie verwirklicht wird), während jede Idee wirklich
ist. Ein Ideal wird ausgesprochen, eine Idee spricht sich selbst aus, nicht in
Worten, sondern in der geschichtlichen Erscheinung der Tatsache. »Idee«
= innere Form, Formtendenuz, Urbild. Idee der Pflanze, des Tieres, der
Sippe, des Staates, der Kultur, des Sonnensystems u.s.w. - sie sind nur durch
Schauen und Ahnungen zu erleben (Goethes Urphänomen?), durch eigenes
rhythmisches Mitschwingen, empfangenden Eindruck, Einfühlung etc.. Irgendwie
wird die Idee eines fremden Wesens durch Sinne ... vermittelt, erlebt
aber nur seelisch. Eine Idee läßt sich nur durch symbolische
Mittel vermitteln (z.B. Dombauten, Gemälde, »Faust«, »Tristan«),
die denen, die sie nacherleben können, das andeuten, was der Schöpfer
dieser Werke geahnt hat. »Mitahnung«, »Mitschau«
sind notwendig, exakte sinnliche Fantasie. Fantasie ist das, was ich Schauen
nenne, das Ahnen der Idee im Wirklichen, Wirkenden. Goethes »Metamorphose«
ist Entwicklung, Verwirklichung der Idee von der Möglichkeit zur Wirklichkeit,
zur Vollendung. ().
Das ist Schau des Wirklichen, während das 19. Jh. Evolution mechanisch
faßte, als unendliche Reihe. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 143-144).
Seele und Leib (S. 156-183):»Leib«
ist das Leben, insofern es den Sinnen erscheint, durch die Kraft der Sinne
auf das Auge, das Ohr etc. wirkt. Seele ist das Leben, insofern es im anderen
physiognomisch auf Gleiches schließt, wie es sich selbst fühlt. ....
Seele und Leib sind nicht identisch (wie P. Cohn will), sondern zwei Manifestationen,
Wirklichkeiten, Geheimnisse, denen das gleiche zugrunde liegt.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 156).Für
das menschliche Auge, gesehen also, als Lichtwiderstand, ist ein Tier ein Ding.
Davon abgesehen aber, physiognomisch aus seinem Ausdruck erschlossen, ist es ein
Vorgang. Leben ist nicht im Tier, sondern das Tier ist Leben.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 157).Nur
freibewegliche Wesen, die ihre Lage zur Umwelt ändern können,
haben einen metaphysischen Mittelpunkt, sie sind Mikrokosmos im Makrokosmos.
Das ist die Tatsache »Seele«: eine kleine Welt in einer großen,
die sich gegenseitig durchdringen. Beide sind kosmisch (bedingt): Auge und Sonne
gehören zusammen. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 157).
Seele ist ein Ereignis, ein Geschehen, kein »Ding«.
Die »Seele« kann ihr Verhalten zur Umwelt (dem Makrokosmos) wählen,
sie beherrschen oder zu beherrschen glauben, um das eigene Verhältnis zur
Umwelt wissen. Auch die anderen »Ichs« sind für die Seele »Makrokosmos«
= zum »Außen« gehörig (andre Ich- und andre Wirseele).
Die Pflanze hat keine Spannung von Mikrokosmos zu Makrokosmos. Sie ist Kosmos
(aber nicht mehr ganz!). Was wir beim Menschen das »Ich« nennen (Bewußtsein,
bei allen animalischen Wesen), ist eine schmale Grenze zwischen dem Geheimnis
drinnen und draußen (Seele und Welt). Seele ist ein Wort für das »innere
Geheimnis«, das wir sinnlich-denkend (also räumlich-kausal) uns »vorstellen«
und damit seinem Wesen entfremden. Seele und Welt sind das Unbewußte
drinnen und draußen.Bewußtsein ist:
1. Wachsein, 2.
Verstehen, Wissen.Das Unbewußte
ist also: 1. was nicht mit dem Wachsein gegeben
ist, 2. wessen man sich nicht verstehend
bewußt ist.Wachsein ist die Grenze
zwischen zwei Geheimnissen. Diese Grenze ist die Schale (),
das »Gegen«, Wachsein = Ich. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 157-158).Seele
und Leib sind nicht Dinge, sondern Vorgänge. Erst das begriffliche
Denken macht daraus Dinge, d.h. begriffliche zeitfremde Einheiten. .... Erst der
Systematiker ... erfindet die zwei Forschungsgebiete: Seele und Leib. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 159).Das
Du ist älter als das Ich. Man hat zuerst die »Seele« des andren
physiognomisch verstanden. Viel später erst hat man angefangen, diese Erfahrung
auf die eigne anzuwenden. Nachdenken über sich selbst statt instinktivem
Tun ist schon stark durchgeistigt. Mitsichselbstsprechen - Reflexion. Seelische
Einsamkeit ist Ausdruck dieses Mitsichlebens. Zunächst wird
das fremde Leben erfühlt. Die Seele wird am andren, z.B. Sterbenden
beobachtet: Odem, Lebenskraft, Seele - dann auch in sich selbst gefühlt,
als ... Sehnsucht, Angst. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 159).Auch
Tiere beobachten .... Beim Menschen ist die Beobachtung fast ganz auf das
Auge reduziert. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 160).»Seele«
ist die innere Form des Lebens. Also ist für uns Seele und Leben nur am lebenden
Leibe zu studieren, physiognomisch, nicht systematisch, nämlich an
den Ausdrucksformen im Raum. Die sind aber zugleich Formen der Geschichte.
Also lernt man die Seele kennen nur an geschichlichem Ausdruck: von der
Geschichte der Menschheit bis herab zur Privatgeschichte des Einzelnen von Tag
zu Tage. Unsere Zeit steht noch - vom 19. Jahrhundert her - unter dem Eindruck,
daß Psychologie eine Naturwissenschaft sei. Sie wäre als solche
aber nur eine Physik des Substrats ebenso wie die materialistische Geschichtsauffassung.
Seele ist selbst eine Geschichte, etwas Geschehendes. Seele ist nur im
Ausdruck faßbar, physiognomisch also. Die sämtlichen »Funde«
an Keramik, Waffen und Gräbern sind also nicht als solche, sondern als Ergebnisse
physiognomischer Ausdruckshandlungen zu begreifen: als das Formen, Schlagen,
Bauen (früherer Menschen): das ist die Graphologie der Funde. Jeder Mensch
macht sich ein Bild der Seele nach dem Bild der Natur. Schon der Urmensch sieht
die Seele wie einen Vogel fliegen, in Wolken, Blitzen, als einen Dämon im
Leibe, der nachher weiterlebt, wenn er stirbt. Ebenso macht es die heutige Psychologie.
Aber auch ich. So wie für mich die Naturwelt Seele hat, so hat sie
die Kleinwelt des Lebenden. .... Der beseelte Leib: darin liegt die Tatsache ausgedrückt,
daß diese Kleinwelt (der Mikrokosmos) ihr eigenes Feuer hat (ihren eigenen
Mittelpunkt): Leben, Seele, Leib, Geschichte sind Worte für den Eindruck
von verschiedenen Betrachtungsweisen aus. Der »Leib« bildet sich von
innen heraus nach einer Idee - der Seele. Seine Gliederung entspricht der
seelischen. Seele ist die Idee derselben. .... Der Leib ist die erscheinde
Seele (die den Sinnen wahrnehmende). Das bleibt ein Geheimnis - das ewig
dem Geist Entzogene, das Unbewußte. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 161-162).Weinen,
Lachen, Eigensinn etc. sind beim Kinde Züge der a- und b-Stufe ()
. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 163).
Instinkt, Trieb, Wille (184-214):Bei
der Pflanze gibt es keinen Gegensatz von Mikrokosmos im Makrokosmos, also keinen
Instinkt. Auch das Ranken und Richtung(-nach-der-Sonne)-Nehmen vollzieht sich
rein »gesetzlich«, mechanisch. Chemisch gedacht (heißt
das): es gibt da irgendwelche Kräfte und Substanzen, die notwendige Bewegungen
»verursachen«, besser: in sich als Möglichkeit haben. Instinkt
ist, wie alles Tiefe, nicht exakt definierbar. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 184).In
der Pflanze ist »mechanischer« Drang eins mit der Umwelt. Erst im
Tier wird der Drang frei - eigentlicher Instinkt. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 185).Instinkt
- das ist Verstehen ohne eigne Erfahrung, aber mit der Erfahrung
der Arteinheit: Vorahnen des Nochnichtgeschehenen, Nacherleben des Schongeschehenen.
Außer der erworbenen gibt es ererbte Erfahrung. »Erberfahrung«
besteht aus Verstehen des Empfindens, Gesehenen und zugleich Tun des Richtigen
(z.B. die Ente geht ins Wasser, der Säugling nimmt die Brust). Also Sinne
und Glieder haben diese Erberfahrung in sich. Bei der physiognomischen Begabung
ist der Instinkt stärker als der Intellekt beteiligt, sie ist mehr gattungsmäßig,
vegetativ, elementar, zum Kern gehörig. Bei der systematischen Begabung
ist der Intellekt stärker als der Instinkt beteiligt. Es ist mehr die eigne
individuelle Erfahrung (zur Schale gehörig, animalisch, nicht vegetativ,
von den physiognomischen Drang geleitet und beherrscht). (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 185-186).Der
Instinkt bleibt ewiges Geheimnis. Der Begriff, der Ausdruck, das »Instinktive«
ist vom Intellekt aus abgegrenzt, beschrieben, definiert, also falsch.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 186).Alle
Eindrücke sind polar, unterscheiden etwas im Gegensatz zu etwas anderem.
Also wird Wille, Willkür von uns gefühlt als gegensatz zu unwillkürlich.
Willenlos ist die Pflanze und das Pflanzenhafte im Tier. Wille gehört
nur zum tierischen Leben - sich bewegen. Ich bewege mich
- das ist für mich kein Ereignis mehr, sonder ein Tun. Deshalb
enthält schon der Instinkt ein willkürliches Element. Ein Fuchs folgt
der Witterung, wenn er will. Ein Beet voll Blumen, das von der Sonne bestrahlt
wird, führt die gleiche helioskopische Bewegung aus, ein Rudel, das
eine Witterung belommt, dagegen sehr verscheidene. Wenn ein Mensch von
seinem Willen besessen ist, ist es doch sein Wille. Für die Pflanze
ist es ein Drängen überhaupt, für das Tier ist es der eigne
Drang. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 187).Der
Instinkt gehört zum Lebensstrom, zur »Art«, nicht zum
Exemplar, weshalb wir ihn »angeboren« nennen. Zum Exemplar gehört
Lernen, Erfahrung, Versuch. Deshalb bezieht sich der Instinkt auf die für
diesen Lebensstrom (die Art) typische Wirklichkeit, das Lernen dagegen (Intelligenz)
auf die persönlich-besondere Wirklichkeit. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 187).Die
ursprünglichste Tendenz des Mikrokosmos in Richtung auf den Makrokosmos ist
»Instinkt«. Wille, Trieb etc. sind nur dessen spätere Ausgestaltungen.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 187).Der
Instinkt ist durchaus nicht »Weisheit der Natur« oder »logisch«,
wie der Mensch sich das denkt. Der Instinkt ist »blind«. Es ist z.B.
sentimentaler Irrtum, von der Mutterliebe der Tiere zu reden. Gewiß verteidigt
ein Tierweibchen seine Brut. Aber: Wenn ein Mensch ein Rehkitz oder einen jungen
Vogel ins Nest hineinhebt, also eine fremde Witterung zurückläßt,
jagt die Mutter das Tierchen von sich, wirft es aus dem Nest, läßt
es verhungern. Mit der fremden Witterung hört der Instinkt, das Eigne
körperlich in der Nähe haben zu wollen, auf. Mutterliebe ist hier
nur der Trieb, das Eigne bei sich zu haben, und nichts weniger als die persönliche
Neigung zu dem bestimmten jungen Tier. .... Darwin trägt dem menschlichen
Intellekt in das tierische Instinktleben hinein. Die »Natur« erscheint
bei ihm als Rationalist und Materialist. Tierkenner muß man sein,
nicht Experimentator mit Tierseelen, wenn man von Instinktleben etwas verstehen
will. Das freilebende Tier muß man beobachten .... (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 188-189).»Instinkt«
wird alles genannt, was am Leben und seinen Ausdruck zur Gattung gehört.
Nestbau und Brutpflege. Ortssinn der Bienen etc. sind mit der Gattung unveränderlich
gegeben wie Körpeerbau etc.. .... Genau gesagt, baut nicht diese Schwalbe
ihr Nest, sondern die Art tut es in ihr. Das Einzelwesen ist nur Organ des Gesamtwesens
»Art«. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 189).»Unbewußt«
ist eine falsche Negation, ebenso wie das »Irrationale«. Als ob man
alle Fraben einer Landschaft »das Nichtschwarze« nennen wollte. Was
an Seele und Leib sich als Lebenslauf vollzieht, ist zum großen Teil triebhaft,
getrieben. Nur im Wachsein wird manches davon verstehend empfunden. Wir fühlen
bewußt (wachend) nur vermittelst der Sinne. Das sogenannte Unbewußte
ist das, was die Sinne nicht verstehen, nicht melden. Also sagte man statt »unbewußt«,
»instinktiv« besser: Nicht sinnlich, verstehend empfunden.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 198).Trieb
und Wille: das ist der Unterschied pflanzlichen und tierischen Lebens. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 201).Wille
ist das Leben, insofern es sich auf ein Ziel richtet. Voraussetzung des Willens
ist also das dunkle Fühlen eines Wunsches .... (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 202).Meine
Ansicht: Trotz des »Wünschens« bleiben die Triebe, was sie sind:
Leben, Wille, Flamme ().
Erst die Großstadt erzeugt Wünsche, die keinen Trieb (Habenwollen,
Stärkerseinwollen) hinter sich haben: panem et circenses. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 202).Der
Wille zur Macht ändert sich vom reinen Sichdurchsetzen des Tieres über
die starke Durchgeistigung des menschlichen Willens zum rein intellektuellen,
der in Zahlen, Massen, Quantitäten schwelgt: z.B. Rekorde, mehr Geld, mehr
Bilder, mehr Sachen haben als andere (heute im Wettstreit der Nationen: mehr Hochöfen,
Volksvermögen etc.), das schöne Haus, schönere Waffen haben. Früher
galt es: mehr zu können, Meisterschaft zu beweisen, heute: höher
zu kraxeln, schneller zu fahren, zuerst anzukommen. Dieser Wettstreit wird immer
öder in den Großstädten (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 202).Der
Lebensdrang, (seinem Wesen nach) instinktiv, ist die Hauptsache, der Kern des
Willens. Wenn Klages den Willen als eine Seite des »Geistes« erklärt,
kommt er schon dem Typus nahe, der immer will, der genau weiß, was
er will und doch nie zum Tun gelangt. Allzu viel Bewußtheit tötet den
echten Willen, den instinktiven Drang zur Tat und läßt nur das (ständige)
bloße Wollen zurück. Der Wille wäre demnach der bewußte
Drang, der Trieb unter Leitung des Geistes. Gewiß, aber es kommt darauf
an, daß der Drang die Hauptsache ist, ob mit oder ohne Bewußtsein.
Das Wissen um das Ziel, setzt den Drang nach dem Ziel voraus. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 204).Statt
Trieb, Wille sollte man lieber Drang sagen: Drang zur Macht, zur geschlechtlichen
Vereinigung. Es, er drängt zu etwas hin, nach etwas. »Drängende
Gefühle« wäre besser. »Trieb« ist zu schwach. ....
Starke Appetite (Erotik, Essen, Trinken). Das ist ein gutes Wort für Triebe.
Nicht (wie Klages meint) das Getriebensein, wobei das Einzelwesen passiv,
pathisch erscheint, ist wesentlich, sondern daß es »meine« Triebe
sind. Die Triebe selbst sind schon persönlich. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 206).Seele:
Der Kern ist »Wille zur Macht«. Das »Ich« ist das zur
Gewohnheit gewordene (und damit instinktmäßig sicher gewordene) sprechende
Denken. Beim Tier ist es in der Urform vorhanden. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 206).»Wille«
ist Wille zur Macht. Klages nennt Selbsterhaltung nur die Behauptung des Ich.
Klages teilt den Willen falsch ein: bei Tieren: Triebe = vitale Bewegungsursachen
(»Ursachen«!). Bei Menschen: Triebfedern (interessen) = Willensursachen
(z.B. Forschungstrieb). Aber »Ursache« ist eine Denkgröße.
In Wirklichkeit gibt es nur Zielbewegungen, wobei die Unterscheidung von Trieb
- Bewegung und Ziel rein gedanklich ist. Aber beim Menschen spielt die
Durchgeistigung (in verschiedenen Graden) eine Rolle. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 207).Drang,
Instinkt ist unwillkürlich (Flamme).
Als »Wille« ist er zielvoll gerichtet. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 207).Unterschied
von Pflanze und Tier: die Pflanze hat den Drang, aber nicht den Willen (die freie
Wahl), der von der Seele aus frei ist. Die Pflanze ist von der Umgebung nicht
zu trennen, sie ist Schauplatz von Vorgängen; ihr Drang wird wahllos ausgelöst,
»mechanisch« von außen. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 207).»Wille«
ist die Form des Lebens gegenüber der Tatsache »Kampf«.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 205).Was
wir Wille nennen, enthält mindestens zwei Elemente: den Drang (Instinkt,
Rasse, Leidenschaft) und die praktische Tendenz auf ein Ziel (die
allgemein animalisch ist). Es ist falsch, wenn Klages behauptet, die Beute zöge
das Tier an; wenn das Tier satt ist, wird es nicht angezogen. Der
Unterschied liegt also im Tier. Uexküll (Biologische Weltanschauung,
1913, S. 91) erkärt die »relative Intensität« der Gegenstände
am Beispiel der Sardinen, deren Geruch von einer Gruppe ruhender Haifische nicht
die am nächsten ruhenden, sondern die hungrigsten ermuntert. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 208-209).Das
»Glück« entsteht nur für Augenblicke und auf einem breiten
Hintergrund von Leid. Und eigentlich glücklich sind nur die Dummen.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 210).Nach
Karl Ernst von Baer, dem sich Uexküll anschließt, wird im Keim erst
der Typus, dann die Familie, die Gattung, zuletzt die Art und das Exemplar engelegt.
Haeckel hatte zuvor daraus eine »Ahnenreihe« mit imaginären Anfangstypen
gemacht. Die gesamte Biologie, voran der Darwinismus, sucht das Leben mechanisch-kausal
als System von chemischen und physikalischen Ursachen zu fassen. Nach Jennings
ist das Tier ein bloßes Geschehnis. (Vgl. Jakob von Uexküll, Biologische
Weltanschauung, 1913, S. 29). Es ist aber mehr da als »Prozesse«
im Eiweiß. Ein Lebensfunke, eine Mitte ist in jedem freibeweglichen
Wesen - daran (d.h. an der Möglichkeit, das zu erklären) scheietert
die mechanische Biolologie. Zum Leben gehört: a)
der (Energie- &) Stoffwechsel (zur Erhaltung
und Ernährung); b) Wachstum - als Vergrößerung
und Steigerung der Macht; c) Wachstum in Form der
Fortpflanzung: Neue Mittelpunkte werden gebildet; d)
Bewegung. Im Leben ist keine Kausalität, sondern ein »Genius«.
»Mir scheint, daß man die Entelechie (der lebenden Wesen) am besten
mit dem genius der Römer vergleichen kann, der überall auftritt,
wo es sich um eine Neuorganisation handelt, deren erzeugendes und erhaltendes
Prinzip er darstellt. Endet der Organismus, so verschwindet auch der Genius.«
(Jakob von Uexküll, ebd., 1913, S. 46). »Jedes Tier, (also)
auch jeder Mensch hat sein Bild von der Umwelt. Und alle Naturwissenschaft
ändert nur das Bild im Sinne einer neuen Theorie, aber sie hebt den
Vorhang nicht«. (Jakob von Uexküll, ebd., 1913, S. 49).
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 211-212).Ich
will historische anstelle der systematischen Psychologie setzen. Die Seele
hat und ist Geschichte, hat alte und junge, verloschene und keimende Arten
von Zügen. Seele ist ein Vorgang. Seelenforschung ist die Geschichte
der Arten dieses Vorgangs. Nicht nur ist die Seele eines Einzelwesens ein Werden,
ein währendes Erleben in sich und andren, sondern auch die Gesamtseele im
Lebensstrom vieler Geschlechter. Und während es in der Einzelseele nebeneinander
kindliche und rgeisenhafte Züge gibt, so gibt es unter den Gesamtseelen
der Völker, Stände und Kulturen jugendliche und alte und in den Seelenarten
der historischen Menschheit eine geschichtliche Folge von Zügen. Das (zu
erforschen) ist Psychologie .... (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 212-213).Es
besteht ein rhythmischer Einklang von Seele und Landschaft - im Menschenschlag
- und zwischen Seele und All im kosmischen Takt und im körperlichen Perioden.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 213).
Pflanze und Tier (S. 215-239):Der
Weg der Lebensgestaltung (der sogenannten »Entwicklungsgeschichte«)
ist ein Drängen nach Freiheit. Das Geheimnis der organischen Gestaltung
(»Lebewesen«, Wesen des Organischen) drängt aus dem Anorganischen
hinaus. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 215).Die
Gesamtgeschichte des Lebens hat Tendenz, Sinn und innere Gestalt: Immer größere
Unabhängigkeit (immer stärkere »Gegen«-Stellung) des Mikrokosmos
vom Makrokosmos. Dem entspricht eine immer stärkere Gliederung des
Leibes, Schärfung der Sinne und des Denkens, sowohl für den Angriff
wie für die Verteidigung. Niedere Tiere sind teilweise noch halbe Pflanzen
(unbeweglich). Das raubtier ist - schon bei Infusorien - aggressiv und beweglich.
Raubtiere gibt es ... in allen Tierklassen .... (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 215).Die
Pflanze ist willenlos, passiv (aber nicht ganz!), erdverbunden, trotzdem aber
nicht nur defensiv, sonderna ggressiv im Kamof um Licht und Standort, um Luft:
in jedem Urwald kämpfen Pflanzen bis zur gegenseitigen Vernichtung. Aber
die Pflanze ist absolut ohne Ich, wahllos, ohne Aktionsmittelpunkt. Erst
mit der Lösung des Lebens von der Erde tritt das »Sichbewegen«,
also das Handeln in Erscheinung. An der Pflanze zeigt sich reines Schicksal
(sie ist verwurzelt, also passiv [aber nicht ganz!]). Beim Tier wirkt der Wille
gegen das Schicksal, der Mikrokosmos gegen den Kosmos, obwohl im Mikrokosmos
das Kosmische wirkt. Das Tier ist nahrungsverbunden: es braucht die Pflanze, die
Pflanze braucht die Erde (die Erde braucht die Sonne, und
darum brauchen alle die Sonne; HB). Die Erdgeschichte (Geologie) ist
die Wandlung der ersterbenden Glut des Erdballs. Insofern ist sie
dem organischen Geschehen verwandt. Die Erde stirbt. Jeder Augenblick
in diesem Geschehen (Erdperiode, Epoche) dringt auf das strömende Leben und
dessen Geschichte ein. Es erhebt sich der Kampf zweier Formwelten. Das
Ergebnis ist die Gestalt der Gattungen des Lebens. Das Leben ist zugleich erdgebunden
und gegen die Erde sich wehrend. (Jedenfalls abhängig
von der Sonne; HB). Der Kampf aller gegen alle erhebt sich:
das Leben kämpft gegen die Welt, Tiere gegen die Pflanzen und umgekehrt,
Tierarten unter sich, innerhalb der Art Exemplar gegen Exemplar, aber ohne
Mitleid und Grausamkeit, die rein menschlich und auch dort spät sind.
Erdkatastrophen hinterlassem als Spur geologische Schichten. Natura
facit saltus. Die Arten des Lebens beginnen zum großen Teil durch
diese Katastrophen und enden mit ihnen. Es gibt Arten, die durch alle Erdperioden
sich gleichbleiben, z.B. die Schnecken, andre dagegen, die sich rasch entwickeln
und wieder vergehen. Gegen Darwin hat sich erwiesen, daß es keinen
Stammbaum aller Lebensformen gibt. Die Formideen sind stabil oder haben
Variationsneigung. Der Kampf der geologisch-anorganischen Wandlung gegen die paläontologisch-biologische
Geschichte des Lebens. Das »Leben« antwortet gegen jede
neue Umgestaltung des Nicht-Lebens (d.h. Erdperioden) mit neuen Gestaltungen
des Lebens. Hier Dacqué. Es gibt Charakterformen in den Einzelperioden.
Es ist nicht, wie Darwin und Lamarck wollten, daß die Arten sich der veränderten
Umwelt anpassen und das Passende (bzw. Angepaßte) übrigbleibt. Vielmehr
geht das Kosmische im Mikrokosmos mit der Wandlung mit. Immer
besteht innere Harmonie der inneren Form drinnen und draußen. Die Macht
der Landschaft formt das kosmische Element im Einzelleben. Der freieste, schwächste,
abhängigste, sieghafteste Typus des Lebens heißt Mensch.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 216-217).Die
vegetative Tendenz geht, richtet sich auf Ruhe, ... Seßhaftigkeit (der Bauer
ist selbst Pflanze geworden, der Erde verhaftet). Korallentiere sind halb und
halb Pflanze, auch andere Wassertiere, die irgendwo »anwachsen«. Auch
von Menschen spricht man in übertragenem Sinn davon, daß sie Wurzel
schlagen, entwurzelt sind (einen alten Baum verpflanzt man nicht, sagt das Sprichwort).
Das feste Wohnhaus und die Stadt befördern diese Tendenz. Animalische
Tendenz zeigen die im Wasser frei schwimmenden Sporen mancher Pflanzen. Bei den
Menschentypen wird sie scheinbar in den Nomaden und den Außenseitern der
Gesellschaft: Abenteurer, Weltreisender, Bohemien. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 224).
Der Pflanzenleib zeigt in der Verhaltenstendenz seine Erdgebundenheit.
Der Tierleib hat Tendenz zur Kugelbildung: der Mikrokosmos ist im Makrokosmos
(ringsum) frei beweglich. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 224).
Gebundenes Wollen ist die Tendenz des Pflanzenlebens. Freies
Wollen ist die Tendenz des Tierlebens. Das sind zwei Arten von »Leben«,
von Strömen. Die Pflanze ist erst halb aus dem Kosmos entlassen. Sie haftet
am Boden und stellt ihre Substanz aus Anorganischem her - ihre Ernährung
ist das Symbol der Verwandlung von Anorganischen in Organisches. Das Tier
ist frei. Es kann diese Verwandlung nicht mehr vollziehen, weil die Verbindung
(zur Erde) zerrissen ist. Das Tier raubt also seine Substanz durch Vernichtung
der Hersteller, der Pflanzen. Darüber aber stehen die Tiere, die nicht Pflanzen
rauben, sondern ihresgleichen, die Raubtiere, zu denen der Mensch gehört,
weil er Tiere jagt. Damit ist das Maximum an Freiheit erreicht: Der Welt
als Feind gegenüberstehen. Das Leben wird Krieg. Denn die Pflanze wehrt sich
nicht .... Das geraubte Tier aber ist »meinesgleichen«, es kämpft
gegen das Geraubtwerden, es gebraucht auch List und Gewalt. Der Weg der Befreiung
von der Erde ist tragisch. .... Das Tier braucht organische Nahrung. Soweit sie
Pflanzennahrung ist, wird sie gesucht. Tiernahrung aber fordert Jagd, Kampf
und List. Denn die Beute hat selbst »Freiheit«, sich zu entziehen.
Deshalb sind alle Raubtiere mit scharfen Sinnen (Auge, Gehör, Geruch) ausgerüstet
... Der Gipfel dieser Entwicklung ist der Mensch. Der Instinkt wird stark
durch den Intellekt (Sinne und Denken) verdrängt. Damit beginnt ein Innenleben
- einsam, jedermanns Feind. Dann ist die Seele ein »Fünklein«,
einsam, tief (im Innern). Die Schale außen (Sinne und Geist) wird stark.
Infolge seiner Zahl ist für den Menschen nicht nur der Kampf gegen die Beute,
sondern der Kampf gegenüber seinesgleichen um die Beute das unausweichliche
Schicksal. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 224-225).
In der Reihe Anorganisches - Pflanze - Tier - Mensch ist jedes
abhängig vom Vorhergehenden, der Mensch von allen, die Pflanze nur
vom Anorganischen. Je stärker das Mikrokosmische ausgeprägt ist, desto
größer ist der Verlust an vitaler Unabhängigkeit, desto stärker
der Wille zur Macht. Der Macht- und Geltungstrieb ist erst vom Tier an vorhanden,
in dem Grade, als sein Dasein Kampf ist. Die Pflanze kämpft nicht:
sie lebt mit dem Kosmos oder ist verloren. .... Die Pflanze ist ein Übergang,
die Basis und Voraussetzung der letzten möglichen Form des Lebens, der tierhaften.
Die Pflanze ist schöpferisch nur insofern sie durch einen Vorgang,
der sie und ihre Umwelt zusammenfaßt, der »in und außer«
ihr vor sich geht, organischen Stoff aus unorganischen entstehen läßt.
Unorganische Stoffe sind tot, können verwittern, zerfallen, zerlegt werden.
Organische aber haben die Signatur des Lebens - sie werden geboren, sie
verwesen und sterben. Das pflanzenhafte Wesen - auch im Tier! - ruht auf dem vergänglichen
Dasein solcher Stoffe, aber die Pflanze allein erzeugt sie. Das freibewegliche
Tier, von der Erde getrennt, muß sie übernehmen. Es ist damit
- gegenüber der Wurzel der Pflanze - in eine neue Abhängigkeit
verstrickt: Die Tierscharen »wurzeln« in der Pflanzendecke. Gehen
die Pflanzen aus, so »verhungern« die Tiere. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 226).
Pflanzenfresser sind an die Pflanzendecke der Erde gebunden, gewissermaßen
an dem Boden durch die Pflanze festgesogen - wie später der ackerbauende
Mensch im Gegensatz zum Nomaden. Erst das Raubtier muß mit einer beweglichen
Beute ringen, nicht nach einer unbeweglichen suchen. Erst die edlen Raubtiere
leben von schnell beweglichen Tieren. Das bedingt ein Ethos dieses Lebens.
Die Pflanze ist ein Gewächs, dem Wesen nach gebunden, mit der Erde
verbunden, nach oben strebend. Das Tier isdt ein Leib, dem Wesen nach frei,
horizontal auf der Erdoberfläche beweglich. Nur zum Leibe gehört das
Gefühl der »Seele«, die Trennung von Mikrokosmos und Makrokosmos.
Ein Gewächs ist Teil der Lanschaft, nie gegen die Landschaft
gerichtet. Zum Gewächs gehört das Emporwachsen von unten, dem Humus,
nach oben, in die Luft. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 226-227).
Die Natur wirft immer neue Formen, Ideen auf, sie verfährt
nicht, wie man im vorigen Jahrhundert glaubte, ökonomisch, zweckbewußt
und fortschrittlich. Sie läßt in allen Erdschichten nur den Reichtum
von Formen zurück. Die »Ursachen« dazu müssen die Gelehrten
hinzuerfinden. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 228).
Mit den Formtendenzen Tier und Pflanze sind die Arten des
Lebens erschöpft. Der Mensch bildet keine Lebensart für sich, noch weniger
die Entwicklung über die Tierform hinaus - denn auch diese ist keine
Entwicklung, sondern von Anfang an vorhanden. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 228).
Alle Formen des Werdens und Entwerdens sind »ewig«,
d.h. kosmisch überhaupt, und wiederholen sich überall. Eine Flamme stirbt
wie ein Mensch (),
Kultur ist eine Pflanze .... So wiederholt sich die Zeugung in jeder Art von schöpferischer
Tätigkeit .... (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 228).Das
Tier sucht diese Tendenz (der Pflanzen; HB)
zu überwinden .... Die Tendenz (des Tieres;
HB) ist: frei von der Erde werden. Extrem ist diese Tendenz in dem
aufrechten Gang des Menschen, der fast unberührt von der Erde ist (nur noch
Teile der Fußsohle), wobei der Kopf am meisten von ihr entfernt ist. Das
ist besonders bedeutungsvoll, weil der Kopf das Zentrum des tierischen
Seins ist, der Leib das des pflanzlich-vegetativen (Seins
im Tier; HB). Die Entwicklung des Kopfes geht dahin, daß er
in der Tiergeschichte vorn ist (also horizontal gerichtet), erst beim Menschen
oben. Am Leib sitzen die Bewegungsorgane. Das ergibt zwei Zentren; Rumpf und Kopf.
Die edelsten Fernsinne sitzen im Kopf. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 229).Angriff
ist mächtiger als Verteidigung (Wille zur Macht höher als Kampf ums
bloße Dasein). (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 229).
Kriechen (am Boden im Wasser) => Schwimmen => Kriechen (am
Boden mit Luft) => Fliegen ():
das bedeutet sich steigernde Überwindung der Schwere der Erde.
Die höheren Pflanzen stehen, wurzeln vom Boden hinauf; niedere Formen sind
das Flottieren im Wasser, das lose Ruhen im Schlamm. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 230).Der
Tierleib ist auf die eigene Bewegung hin gebaut, und alle anderen Funktionen ordnen
sich dem unter. Es gibt Grundformen für kriechende, schwimmende, springende,
laufende und fliegende Körper, ohne Rücksicht auf deren typus des inneren
Baus; und deshalb empfindet der ungelehrte Menscg trotz aller gelehrten Festsetzungen
(z.B. im Linnéschen System) die Zusammengehörigkeit von Schmetterling
und Vogel, Würmern und Schlangen, Käfern und Krebsen, Wal und Hai. Tiere,
deren Bewegung nicht auffällt: Korallen, Seesterne, Muscheln, werden deshalb
kaum zu den Tieren gerechnet (als Tiere empfunden), und sie nehmen ja auch mit
dem Grade ihrer Bewegungsarmut pflanzenartige Formen an. Die Pflanze ist
der Ausdruck des Lebendig-Unbeweglichen. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 230).Das
Leben vollzieht sich ursprünglich im Wasser, später wird Sauerstoff
lebensnotwendig. .... Die ursprünglichste Bewegung ist - im Wasser - das
Kriechen (),
(noch sehr) erdgebunden (im Gegensatz zum freien
Schwimmen) und - wegen der geringen Beweglichkeit - (noch
sehr) pflanzenhaft. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 231).Die
höchste Pflanzenform ist der »Baum«, der von der Erde weg nach
oben strebt. Diese Form steigert sich vom Schachtelhalm und Fran bis zum Nadelholz
und Laubbaum. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 231).
Tiere sind erstens frei beweglich, dann selbstbeweglich, dann triebhaft,
dann empfindend. Die Pflanze hat Kreislauf und Geschlechtsorgane. Sie ist Schauplatz
von Vorgängen. Das pflanzenhaft Vegetative im Tier (Geschlecht und Kreislauf)
nimmt tierhafte Formen an. Zwar sind die Triebe von selbst da und können
wohl beherrscht, aber nicht gerufen oder weggeschickt werden, aber ihre Form ist
nicht rein physiologisch, sondern subjektiv, nicht kosmisch geartet, sondern mikrokosmisch,
und sie wirken in einer Reihe von Gefühlen und Leidenschaften, welche die
als Mikrokosmos vom Makrokosmos getrennte Seele voraussetzen. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 231-232).
In der Flamme ist der Drang zum Verzehren, Vernichten, Unterwerfen.
().
Dieser »Drang« teilt sich: Die Pflanze hat nur Drang überhaupt,
im Einklang mit der Umwelt, unwillkürlich wirkend. Beim Tier ist der Drang
willkürlich. Wille ist immer mein Wille. In Pflanze und Tier zeigen
sich zwei Tendenzen zur Lebensgestaltung: fest und frei. Das gilt auch sexuell:
die Pflanze wird wahllos befruchtet (Windbestäubung u.ä.), das Tier
wählt. Das Tier ist von der Pflanze abhängig, weil sie seine Beute ist.
Der Typus Pflanze, der nicht vom Dasein der Tiere abhängt, ist deshalb
dauerhafter, erlischt später (d.h. in den Erdzeitaltern). Das Raubtier verkörpert
die extremste Unabhängigkeit des Mikrokosmos vom Makrokosmos, aber
zugleich die extreme Abhängigkeit. Durch das Schicksal, seine Nahrung erkämpfen
zu müssen, wird die »Seele« des Raubtieres ausgestaltet. Jede
Freiheit ist Verbundenheit. .... Freiheit hat einen doppelten Sinn: Überwindung
der Verbundenheit, Verstoßung aus dem All, Freiseinwollen und Nichtfreiseinkönnen
sind stolzes Bejahen und angstvolles Verneinen dieser Tatsache. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 232-233).
Vererbung, Variationsbreite, Genotypus, Mutation, Mendeln, Erbmasse - das
sind lauter Abstraktionen aus dem Sehbild. Wichtiger wäre die Tendenz
der inneren Lebensgestaltung (Metamorphose, Evolution) zu erforschen.
Von innen wirkt der Wille, von außen das Schicksal. Wille
ist das innere Schicksal, dem der »Gegenwille«, das Schicksal
in Gestalt der Weltseele (Seele des Sonnensystems, der Erdrinde, der Landschaft)
entgegenwirkt. Mikrokosmos im Makrokosmos, das bedeutet den Kampf des Willens
gegen das Schicksal, des eigenen Willens der Gattung gegen den Weltwillen. Die
Tendenz der inneren Leebensgestaltung ist Wille der Art, Trieb, Gestaltungstrieb.
Erst beim Kulturmenschen wird der Wille bewußt. Hier (d.h. bei den Tieren)
ist er Instinkt, Trieb. Gestaltungstrieb wirkt nach außen (der Mikrokosmos
gegen den Makrokosmos), daher rührt die auf die Sinne andrer wirkende Gestalt.
Jeder Mikroksomos muß sich »äußern« wegen der gegebenen
Spannung zum Makrokosmos. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 234).Von
der Allseele - die uns nur makrokosmisch erscheint - geht es über die Reihe
der mikrokosmischen Seelen: Pflanzen-, Tier-, Menschenseele. Seele erscheint uns
im leiblichen Ausdruck. Leib ist Ausdruck der Seele. die mikrokosmischen Seelen
sind kleine Weltseelen einer großen gegenüber, die sich aus der »Umwelt«
auf die mikrokosmischen Einzelseelen zu äußert. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 234).Die
»Landschaft« ist Spiegel der Seele, auch bei Tieren. Jedes
Tier hat seine »seine« Landschaft. Aber die Seele des Tieres ist zugleich
Spiegel der Welt. Denn das Mikrokosmische gehört zum Kosmischen (das
ihm als Makrokosmos gegenübertritt). Die Rasse, das Bluterbe, ist zeithaft,
die Mächte der Umwelt sind raumhaft. Sie wirken langsam akklimatisierend
auf die Erbseele ein. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 235-236).Form
ist das Ungleichsein, das Anderssein. Als Form hebt sich etwas von
Unform ab: Lebewesen von Gesteinen, Kultur von Unkultur, der bedeutende
Mensch von der Masse. Form hat Ort und Zeit. Das Ungeformte »ist«
einfach. Form hat Qualität und Rang. Es gibt Wertunterschiede in der Form.
Das folgt daraus, daß alles geformte (z.B. lebendige Wesen) in andern (seinesgleichen)
nach Werturteilen mißt. Diese Tatsache ist ein Beweis. Das persönliche
Urteil eines Denkers nicht. (Die Anerkennung eines Tieres als Leittier in Herden
und Rudeln, die Stellung des Platzhirsches gegenüber allen Rivalen beruht
auf Werturteilen). Form ist Schicksal und hat Schicksal. .... Form ist
Grenze: Ein Volk als Form der Generationen ist z.B. begrenzt durch andre
Völker: Also sind geformte Dinge nur in Mehrheit möglich. Ein
Begriff wird nur durch andre Begriffe geformt, also begrenzt. Ebenso ist es bei
den Rassen: Jedes Merkmal hebt sich von einem anderen ab. Ebenso bei den Kulturen.
Alle Form ist raumhaft: denn sie ist sinnlich geistiger Natur, ertastbar,
hörbar, sichtbar. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 237-238).
Das Andringen der Umwelt (z.B. als Klima) erzeugt Gegenwehr. Dahin
gehört u.a. Rassezügen die Hautfarbe (Abschirmung und Zulassung der
Sonnenbestrahlung). Die ursprünglichsten Rassen (vgl. die Stufen a und b
)
sind also Ergebnisse des Kampfes der Kulturmächte untereinander. Seele, Kunst,
Religion, Staat, Gesellschaft, nicht nur Haut und Haar, sind vom Klima abhängig
(Herder). Außer dem Klima ist nach Herder die »genetische Kraft«
in den Menschenrassen ein gleichwertiger Faktor (der Einwirkung); nach meiner
Ansicht: die innere Form der Lebensströme). Rasse ist der Lebensstrom im
weitesten Sinne, in den Kulturen ist er vollständig zerlegt (nach Völkern
aufgespalten). Naturrassen sind im Kampf gegen den Makrokosmos (die Landschaft)
ausgebildet, Kulturrassen im geistigen Kampf. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 239).
Leib und Organ (S. 240-277):Kern:
Zu ihm gehört die Einheit »Seele-Leib«, metaphysisch (betrachtet
die) »Mitte«. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 240).Schale:
Zu ihr gehört das Empfinden und Verstehen der Außenwelt, des Makrokosmos,
wie er sich gegenüber dem Mikrokosmos darstellt und auf ihn einwirkt, das
sensorische Nervensystem und die speziellen Sinne mit ihren Organen. Zu ihr gehört
ebenso das Bewegen, das Sichbewegen des Mikrokosmos gegen den umgebenden Makrokosmos,
das motorische Nervensystem und die Glieder. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 240).Die
systematischen Deutungen der Wissenschaft (Zerlegung in: Denken - Fühlen,
nous - thymos, Seele -Leib etc.) sind Systeme der Einordnung in ein Schema.
In Wirklichkeit gibt es keine Deutung. (Es ist ein) Geheimnis, unverständlich,
was »Sinne«, Seele, Leib »ist«. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 240).Meine
Zweiteilung des animalischen Einzelwesens: A)
Kern: Vegetativ, Seele, dazu draußen das Geheimnis des Alls ().
B)
Schale: Animalisch, Sinne ().
Die Oberfläche des Wesens stellt sich gegen die Oberfläche der Welt,
die sie als Druck, Farbe, Ton, Berührung, Widerstand wahrnimmt. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 241).Der
Tiefe der Seele entspringt die Tiefe der Welt. Die Spannung zwischen Makrokosmos
und Mikrokosmos ist die animalische Gegnerschaft (nicht pflanzlich). Kosmisch
ist die seelische Sehnsucht, die unerfüllbare Sehnsucht nach Wiedervereingung
der Einzelseele mit der Allseele. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 241).Das
Leben ist zunächst pflanzenhaft, erdverbunden, kosmisch (Teil des kosmischen
Allebens). Es hat Triebe. Darüber gelegt ist das Tierhafte: Mikrokosmos (steht
dem Makrokosmos gegenüber [Spannung]). Das tierhafte Leben hat »Willen«
(nicht nur Triebe). Der - nur vegetative - Kern und die Schale treten auseinander.
Triebe sind pflanzenhaft (dunkel): Machttrieb, Geschlechtstrieb. Im tierischen
Mikrokosmos werden sie (da das Tier freibeweglich ist) »gerichtet«,
sie bedienen sich der Schale (und ihrer Fähigkeiten), werden (aber wiederum)
von dieser gestaltet. »Tun« und »Verstehen« ist das rein
Tierhafte. Der Trieb der Pflanze ist dunkel. Das Tun und Verstehen des Tieres
hell. Beim Kulturmenschen kommt ... das Sprechen-Denken (als etwas Neues) hinzu.
Triebe sind kosmisch (Regelungen des Kosmischen selbst). Tun ist nur dem Mikrokosmos
im Makrokosmos möglich (es setzt die Trennung und Spannung zwischen beiden
voraus). (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 241-242).Seele
und Leib einerseits - Geist andererseits ist eine falsche Trennung von Klages.
Geist und Sinne bilden zusammen die Schale (),
Seele ist der Kern des Leibes (vgl. Seele-Leib-Einheit,
sie gehört zum Kern ).
Die animalische Schale um den vegetativen Kern darf ich nicht einseitig fassen.
Es handelt sich um zwei verschmolzene Wirkungselemente: Sinne-Verstehen und Verstehen-Sichbewegen.
Dem entspricht ein doppeltes Nervensystem, das senosrische und das motorische.
Sinnesorgane und Bewegungsorgane bestehen beide aus Teilen des Leibes und Nervenenden.
Beides, sowohl das Sinnlich-Verstehen als das Verstehen-Sichbewegen, gehört
zum Wirken des »Geistes«. Es ist Auffassung dort und List hier. Was
hinter jenem steht, ist Gefühl, hinter diesem Wille. Jenes ist passiv, dieses
aktiv. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 242).Das
Wesen der Schale (Sinne, Geist und motorisch-sensorische Nerven ())
ist Fest-stellung. Gegnerschaft. Vorposten der Seele sein, in Angst und Wachsamkeit.
Die Idee ist Sehnsucht der Seele nach Ausdruck in Tat und Gestalt, Zukunft (durch
Zeugung) und Macht. Wille ist Sehnsucht und Idee und Ziel (nicht Zweck!) zusammengafaßt
als Einheit. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 243).Die
Pflanze kennt nur »oben-unten«, eine Polarität, die jedem Pflanzenteil
innewohnt (vgl. Oscar Hertwig. Allgemeine Biolologie, 1920, S. 528, 561),
kausal interpretiert wird das durch Schwerkraft und Licht. Erst die Bewegung fügt
»vorn-hinten« und »rechts-links« hinzu, die von der Richtung
auf ein Ziel hin gedacht sind. Das Blatt einer Pflanze hat ähnliche Seiten,
aber keine rechte und linke, auch Tiere, die die Bewegung verloren haben (wie
z.B. die Korallen) nicht. Rechts und links ist ausschließlich von der Bewegungsrichtung
aus gemeint. Die Struktur der Pflanze bietet große Oberflächen, ein
Röhrensystem (vgl. Oscar Hertwig, ebd., S. 679, 752), Stützgewebe,
Gefäße. Alles ist nach außen gerichtet (Phanerogame). Die Tierform
ist nach innen gerichtet. Beim Tier findet sich eine gesonderte (vgl. Oscar Hertwig,
ebd., S. 682) Entwicklung der »inneren Oberfläche« des
Mikrokosmos: Eingeweide statt Blättern und Blüten. Da der Leib durch
seine Bewegung das Rechts-links und Vorn-hinten schafft, ist alles vor uns Gesehene
»Zukunft«, alles »hinter uns liegende« Vergangenheit,
denn Bewegung ist (auch! HB) Zeit .... Vorn-hinten
ist also die Zeitdimension. Hier-dort, Nähe-Ferne: das ist zeitlich gefühlt,
räumlich empfunden. Das »vor-uns-Liegende« ist wirklich Zukunft:
das zu Vollendende, während das Vollendete hinter uns liegt. Künftiges
Schicksal ist das eigentliche: das, was man noch nicht kennt. Das »Zu spät«
und »Nie wieder« klammert sich an das schon Verwirklichte, das »Wehe
dir« und »Zum letzten Mal« an das Kommende. Der Leib ist auf
Richtung hin organisiert: vor allem bei Landtieren, unter den Wassertieren bei
den Fischen besonders deutlich. Erst wenn Bewegungen ein Sichbewegen in einer
Richtung wird, erscheint diese Organisation. Das »Vorn« des Leibes
wird zum Kopf, an dem die wichtigsten Sinnesorgane sitzen. Allmählich bildet
sich ein immer selbständiger Typus von Tieren: vom Pflanzenfresser und Aasfresser
zum Jäger lebendiger Tiere. Man darf nicht kausal denken: das Nahrungsbedürfnis
schafft den Typus etc.. Sondern: das Leben treibt einer Spitze zu, es wird immer
mehr unabhängig von der Erde. Wenn wir wertend das Raubtier den höchsten
Typus nennen, so geschah das, weil es innerhalb dieser Vollendung am Ende steht.
Ich werte hier nicht moralisch oder nach Geschmack (ästhetisch), sondern
morphologisch. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 243-244).Der
Leib drückt in seiner Gestaltung den Willen eines Wesens, die Flamme (),
aus, die in ihm lebt, unter den Bedingungen des Makrokosmos in seiner Einwirkung
auf den Mikrokosmos und des »Gegen«. Der Wille bestimmt die Bewegung.
Dem entspricht die Gliederung des Leibes. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 245).Die
Glieder dienen dem Angriff, der Tendenz des Wesens nach außen, zur Wirkung
beim Menschen zur Tat: die Flamme (),
das Seelenleben wird in ihnen tätig. Die Sinne, Vorposten des Mikrokosmos
gegenüber dem Makrokosmos, sind beobachtend, vom Instinkt geleitet. Die Gleiderung
des Leibes ist ein Sinnbild des Seelenlebens fürs Auge. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 245).So
wie das Urorgan des Wachseins des instinktiv verstehenden Empfindens das ganze
»Außen« ist, so ist das Urorgan der Kraft- und Ausdrucksbewegung
das ganze Innen: alle Muskeln, Sehnen, Knochen. Da diese mit Haut umkleidet sind,
so wird auch der eigene Ausdruck empfunden. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 246).
Sinnenwelt (S. 278-304):Die
Zeit ist Leben, Wärme, Licht. Der ... Systematiker tötet, indem er das
Leben in Zahlen erstarren, zu Gesetzen und Formeln gefrieren läßt,
aus Angst vor dem Unbekannten. Die Freude des Physikers über eine
Entdeckung ist Freude über gestille Angst. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 278).Sinnenwelt
und wortgebundene Geisteswelt, die davon abstrahiert ist, gehören zusammen.
Das Geistesleben herrscht darüber, weil es entscheidet, wann man denkt, nicht
nur wie. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 278).Das
Wissen vom (fremden) Einzelwesen ist eigne innere Erfahrung, nicht logisches Zerlegen.
»Zerdenkern« zerlegt ein Ganzes nach Ursache und Wirkung, verknüpft
logisch und macht das Zeithafte raumhaft. Ethik ist dagegen bewegtes Mitfühlen,
zeithaft. Mit-fühlen und Zer-denken kennzeichnen die haltung des Physiognomikers
und Systematikers zur Welt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 279).Das
empfindende Verstehen ist von Anfang an, bei allen Tieren, ein Element des Wachseins.
Die Wortsprache führt zur Hypertrophie eines einzelnen Zuges darin.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 282).Geist
(Verstand, Intellekt, nous) läßt sich nicht so streng theoretisch
isolieren wie Klages will. Das Verstehen setzt sich - vor allem seit dem Sprechen
- gegen das Empfinden ab und erscheint in extremen Fällen (in der Zivilisation,
den Städten und bei einzelnen) als isolierte Macht, weil das Leben abstirbt,
dem es diente. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 284).Heilige
Kausalität. Der Zweck heiligt die Mittel - das ist wirklich der Sinn der
gesamten Kulte. Ohne jeden moralischen Hintersinn. Was man opfert, ist gleichgültig,
ob das eigene Leben oder das andrer, die eigne Sitte (heilige Prostitution), die
Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Ehre. Man ist heute nur zu banal, um den ernsten,
moralischen Sinn des Satzes zu begreifen oder gar zuzugestehen. Weil man heute
nicht mehr ahnt, was echte Religion ist. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 285).Es
gibt eine Denktechnik (Jaspers) wie andere Techniken. Intelligenz als Tempo ist
technische Beherrschung des Denkens. Das Denken kann dichterisch oder wissenschaftlich
sein: das dichterische ist historisch und physiognomisch nach Ziel und Methode,
das wissenschaftliche richtet sich auf die Welt als Natur und verfährt systematisch.
Die erste Richtung forscht nach dem Schicksal, die zweite nach Kausalität.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 285).Abgezogenes
Denken, von der Praxis des animalischen Lebens getrennt, ist Unnatur. Wenn man
aber von der Praxis des Lebens (beim Tier und beim einfachen Menschen) ausgeht,
sagt die Philosophie, das sei falsch und naiv, man müsse erst das Denken
untersuchen, bevor man die Objekte des Denkens, den »Inhalt« des Denkens
untersucht (Heidegger). Aber man kann das Denken nicht erfahren, bevor man denkt.
Was man erkennen will, wird schon vorausgesetzt. Also ist es sinnvoller, wenn
man das Denken zuletzt betrachtet und zuerst beobachtend das Tun ansieht. Den
»Inhalt« des Denkens von »Form« und dergleichen unterscheiden,
heißt nicht, das Nachdenken schärfer sehen, sondern den lebendigen
Vorgang durch Abstraktion ersetzen. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 288).
Es gibt eien Skala, deren Stufen sind: Verstehendes Empfinden;
empfindendes Verstehen; Verstehen unter begleitendem Empfinden; sich ablösendes
Verstehen: also Nach-denken, an eben vorher Erlebtes sich anknüpfend; gedächtnisgebundenes
Verstehen; reines Nach- und Vordenker: schauend, ahnend ... Fantasie. Wortgebundenes
Verstehen: »Geist«, seit ... dem Sprechen-Denken. (Vgl. 4 Stufen).
Aus dem Gegensatz von Mikrokosmos und Makrokosmos ergibt sich eine Bewegung entweder
vom Kern ()
oder von der Schale ()
aus. In der Schale ist beim Kulturmenschen der Sinn in wachsendem Maße durch
die Sprache ersetzt. Es kann aber auf diesem Wege zu echter seelischer Tiefe (Begeisterung)
kommen. .... Die Seele des sprechend-denkenden Menschen verändert sich durch
das Sprechen-Denken. .... Geist ist erst möglich mit dem Wortdenken; er wird
aber vom Blut, der Rasse, also dem Kern des Wesens getragen. Blutarmes Denken
ist das der Intellektuellen, der Kritiker aus Mangel an Schöpferkraft, des
Philosophieprofessors aus Unfähigkeit, Denker zu sein. Erst seit der Panzer
von Sehen und Denken (die Schale) den Menschen von der Welt trennt und abschließt,
werden ihm Dinge, die nicht gesehen sind, rätselhaft und angsteinflößend.
Er wird instinktiv-schwach, kann und will nur noch intelelktuell vesrtehen - und
das geht nicht. Das Denken als Lebenszug ist rhythmischer Gestalt, das Gedachte
aber, wie das Gesehene stets polar. (Oswald Spengler, Urfragen, in:
Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 288-289).
Beim Menschen bildet sich in steigendem Maße (seit c und
d; vgl. die 4 Stufen)
ein Übergewicht des Verstehens über die Sinne - bis zum Verkümmern
der letzteren. (Nichtspenglerisch ausgedrückt: Menschen
vergeistigen in steigendem Maße, ihre Natur verkümmert
in steigendem Maße; HB). Sprache gegen Sinne gerichtet führt
zum »Intellekt«. Damit erscheint das Programm statt der unbewußten
Tendenz des Lebens. Intellekt statt Instinkt, Moral statt Ethos. Worte statt Empfinden
als Träger des Begreifens. Denn das Begreifen ist ursprünglich rein
sinnlich. Erst seit der c-Stufe ()
dient das Wort als »Begriff«. Welcher Art ist die Beziehung zwischen
der Schale ()
des Wesens, die vom Leben, vom Kern ()
her regiert wird, und Fremdem? Es ist Kants Problem, aber auf Tiere und
Menschen angewandt. Die Formen »a priori« des Wachseins sind Substrat
und Kausalität. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 290).
Kausal und teleologisch ist insofern dasselbe, als es auf dem verstehenden
Empfinden beruht: Ursache und Wirkung werden theoretisch, rückwärts
blickend, sinnend, durch den bewegten Sinn festgestellt. Mittel und Zweck werden
praktisch, vorwärts blickend, tuend, durch die bewegten Glieder verstehend
empfunden. Das verstehende Empfinden steht im Dienst des Instinkts. Erst seit
der Stufe c (nicht schon eher?)
kann es sprachlich denkend isoliert werden. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 291).Da
es der Körper ist, der Sinneserlebnisse erlebt, so gehört der Sinneseindruck
zum Erleben. Erst die Nerven machen daraus ein »Verstehen« und »Erkennen«.
Die Sinne stehen also zwischen Seele und Verstehen (Geist). .... Gefühle
hat jeder für sich. Verstandesmäßiges ist allen gemeinsam: ein
»Ding« wird von allen zugleich »richtig« erkannt. Das
hängt davon ab, daß der Geist das Verstehen ein »Zwischen den
Mikrokosmen« ist. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 292).
Beim Sinnerlebnis sind Kern ()
und Schale ()
beteiligt, bei der Sinnerkenntnis nur die Schale. .... Schale hängt vom Kern
ab. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 293).Das
Erwachen zum Sehen schafft ein »Bild«: d.h. das eigne Sinneserleben
ist mit dem fremden Leben eine Einheit: Wär nicht das Auge sonnenhaft, die
Sonne könnt es nicht erblicken. Aber das Bild ist ein lebendiges Bild. Die
Sinne sind etwas Lebendiges. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 294).Das
animalische Wachsein ist zuerst zielbewußte Bewegung (Technik des Lebens),
dann erst feines Erkennen (Theorie). Dies zielbewußte Bewegung ist aber
das, was man bildlich Wille nennt. Ein Mikrokosmos ist eine Welt mit eignem »Willen«,
der »gegen« den kosmischen »Willen« wirkt. Wille und Technik
gehören zusammen wie Intellekt und Theorie. Erfahrung aber ist zuerst instinktiv.
Der Intellekt lähmt sie. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 296).
Um sich das »Wachsein« klar zu machen, vergleiche man
es mit einem Traum, der periodisch wachsend ... bis zum Tode geht, über das
Dasein hin. Dieser »Wach-traum« (nicht das »Leben« ist
ein Traum, sondern das Erleben) bildet aus der Wirklichkeit das Fremde, die Sinnenwelt,
das »Draußen«. Erst dieser »Traum« schafft aus dem,
was »ist«, Gestalt, Qualität, Wert - alles das sind polare Unterschiede
gegenüber dem Gestalt- und Wertlosen. Das eigne Leben wertet instinktiv.
In der »Sinnenwelt« liegt schon zweierlei: die bloße Polarität
der Empfindung und die Wertpolarität des Instinktes. In allen diesen Dingen
zu scharfen Begriffen und Einteilungen kommen zu wollen (Ding an sich, Anschauung
etc.), ist falsch. Da wird Verstandesmäßiges hineingetragen (nicht
darin gefunden!). (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 297-298).
Sinnlich feststellen (die Bewegung verneinen), beobachten ist Angst;
sinnlich imaginieren ist Sehnsucht des Kernes (),
der Seele, die über die Schale ()
hinaus zum Kosmos drängt, die Trennung von Mikrokosmos und Makrokosmos aufheben
will. Dieses Imaginieren und schauen ist in den c-Kulturen ()
dumpf, als Vorahnung und Vision des Abwesenden noch jedem selbstverständlich:
heute noch Bauern, Beduinen, Schiffern. Die Seele döst nicht dahin (wie Klages
meint), sondern wirkt: Einbildungskraft liegt in gewaltigen Taten und in der Verklärung
der Geschlechtstriebe zur Liebe, im religiösen und künstlerischen Schöpferdrang.
Es ist eine Seite des Sedenlebens, nicht das ganze. Es ist die Kraft, das Sinnenleben
zu durchseelen. Damit wächst der Mensch der b-Stufe ()
als Täter weit über den a-Menschen ()
hinaus: der subjektive Augenblick wird seelisch vertieft. Geschichte ist im Gegensatz
zum unmittelbar gegenwärtigen Geschehen das intuitive Bild des Vergangenen
und Künftigen; es gehört eine besondere visionäre Begabung dazu,
die Epochen deutlich optisch vor sich ablaufen zu sehen (meine Begabung). In dichterischer
Form erscheint sie bei Goethe und Shakespeare. Ursprünglich war aber Intuition
allgemein verbreitet (Stufe c).
Die Begabung, Geschichte zu sehen, ist heute selten und ist nur ein Rest des genialen
Schauens und Ahnens der frühen (bc)
Zeit - Staatsmänner, Historiker, Dichter und Denker haben sie manchmal noch
als schöpferische Intuition (Schau), schöpferische Vergegenwärtigung
im intutiven Bilde (etwas ganz anderes als ekstatische Vision). Innerhalb des
Wachseins laufen unaufhörlich viele Strömungen durcheinander, im animalischen
Wachsein (Ströme) sinnlicher Natur, allgemein körpersinnlich ..., dazu
sinnlich verstehend: bald als »Aufmerksamkeit« auf gewisse Züge
konzentriert, bald zerstreut, stumpf, schläfrig. Auch die Bewegung des Leibes
(Wille und Ausdruck), nicht nur das Draußen, wird konzipiert, empfangen,
ob nun bemerkt oder nicht, beobachtet oder nicht .... Beim Menschen kommt hinzu
die intermittierende stoßweise Geistestätigkeit, das Besinnen auf eben
Vergangenes, das Nachdenken über Gedankliches, eine vom verstehenden Sinnenleben
sich mehr absondernde Kraft (Intelligenz als Tempo),
die beim Berufsdenker in dichter Folge im Wachsein dominiert, und zwar unter Zurückdrängung
(und schließlich Verkümmerung) der Sinne: mit geschlosenen Augen und
verstopften Ohren denken. Damit ist die Isolierung des Mikrokosmos auf dem Gipfel:
die Sinne verbinden noch mit dem Makrokosmos, der Geist ist sich selbst genug.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 298-299).
Intelligenz als Tempo: Ein schlauer
Mensch versteht momentan das eben Gewesene: so wie wir den Film als Vorgang sehen;
ein Dummer versteht langsam: da ist es, als ob ein Film langsam Bild für
Bild abrollte. Infolgedessen hat nur der kluge Mensch einen »Überblick«
über Situationen, Entwicklungen oder Geschichtsepochen, während der
Dummkopf im Leben immer zu spät kommt. Bauernschlau, pfiffig, geweckt sein
bedeutet, daß diese Intelligenz Tempo hat. Intelligenz und Gelehrsamkeit
sind zwei verschiedene Dinge: ein menschlicher Rang auf der einen Seite und gelerntes
Handwerk auf der andren (wobei die Neigung dazu gemeint ist, der Geschmack am
Handwerkslehrbetrieb der Wissenschaft; das Talent für Philologie etc. ist
wieder etwas andres). »Geist«, Intelligenz ist ein peripherer Lebensvorgang
von bestimmtem Tempo. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 299-300).Das
wirkliche Leben ist unbewußt. Nur das Besinnen auf das Erlebte ruft uns
etwas davon ins Bewußtsein. Wachsein ist (noch) nicht Bewußtsein.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 300).
Goethes Unterscheidung von Verstand (= Wachsein, der das Gewordene
bemerkt, »daß er es nutze«) und Vernuft (= Erleben). ().
Das Bild der Seele stellt sich dem sprechenden, denkenden Menschen nach Analogie
seines Welbildes dar. Die Wahrnehmung der Seele dagegen, das, was bewußt
wird neben dem Unbewußten (Carus), wird erlebt als »Gefühl«.
Die Seele wird also erlebt als gerichtet (Sehnsucht) oder erkannt als seiend (Angst).
Sehnsucht ... strebt im Grunde nach Überwindung des Gegensatzes Mikrokosmos-Makrokosmos,
ist also kosmisch, zeithaft, in die Ferne gerichtet. .... Angst ist der Kälte
verwandt: der Leib möchte sich zusammenziehen, verschwinden, das Blut stockt.
Sehnsucht ist heiß, bewirkt rasches Strömen des Blutes, schnellen Gang
etc.. Was so sinnlich wahrnehmbar wird, tritt als »Gefühl« innen
ins Bewußtsein. Angst - Verschwindenwollen, Sehnsucht - Sichausdehnen.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 302-303).Das
Unbewußte ist reines Seelenleben (Innenleben). Der Verstand ist reines Außenleben,
also an sich banal. .... Auch im Sprechen liegt viel Unbwußtes, Instinktives.
Sprechend verrät sich die Seele. In erregten Zuständen von Einzelnen
oder Gruppen kommen die früheren Seelenzustände (die a-c-Seele)
heraus, worauf man sich erst später (nach Abklingen der Erregung) besinnt.
... Carus hat Recht: Das Unbewußte ist u.a. das, was die Einzelwesen untereinander
(Mutter und Ungeborenes, Familie, Volk, Kultur) mit Klima, Landschaft und Sternen
verbindet. In der Kultur liegt also die unbewußte Einheit (zugrunde): Stil
ist das Unbewußte (Manier das Bewußte!). Seele der Landschaft ist
die Tatsache: daß das Unbewußte in Makrokosmos und Mikrokosmos verwandt
ist. Rasse ist auch eine Seite des Unbewußten .... (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 303-304).
Seelenleben (S. 305-336):Angst
und Sehnsucht sind die beiden Urinstinkte vor aller Reflexion. »Sehnsucht«
nenne ich: menschliche Gefühle, die von innen heraus wirken als empfindendes
Gefühl oder als verstehendes Gefühl. »Angst« nenne ich:
Gefühle, die von außen herein auf den Menschen wirken, als Beklemmung
empfunden, vergeistigt, z.B. als Trauer. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 305).In
der Sehsucht wirkt die Flamme des Lebens (),
das Eigne drängt vom Kern des Wesens nach außen. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 305).In
der Angst dringt das Draußen, das Fremde gegen die Schale des Wesens an.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 305).Sehnsucht
wirkt in der Freude z.B. beschwingend, erhöht das Tempo des Blutes, der Bewegungen,
steigert die Wärme .... (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 306).Angst
hat eine Tendenz zum Tode, macht kalt, beengt. Der Makrokosmos, das Draußen
wird mächtiger als der Mikrokosmos, der defensiv darauf reagiert: sich zurückziehend,
sich wehrend (gegen die Welt), zurückweichend .... (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 306).Zwei
Seelenzüge hängen mit dem Wesen der Flamme ()
zusammen: der eine ist periodisch-zeitbejahend, feurig: Sehnsucht; der andre polar-raumverneinend,
gegen das Außen gerichtet, kalt: Angst. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 308).Kern
():
Ästhetische Werte stammen aus dem Blut, ebenso eThische. Deshalb sind Schlecht
und Häßlich verwandt. Haß ist der Widerspruch des Blutes, nicht
durch den Verstand zu bekämpfen, oft durch die Rasse bedingt. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 313).Schale
():
Moralische Werte abstrakt, Wertung durch Sinne. Kausale Werte konkret, Wertung
durch Verstand. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus
dem Nachlaß, postum, S. 313).Mit
der Geschlechtsreife blüht der Mensch, mit der Furcht verblüht er. Das
ist die ewige - die innere - Form des Lebens. Schönheit ist das geheimnisvoll
Anziehende der fremden Lebensfülle, die zeugen will. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 317).»Schönheit«
ist das, was geliebt wird. im Gegensatz zum Häßlichen, Hassenswerten.
Alles, was wir sonst schön nennen, Düfte, Luft, Bilder, Kunstwerke,
ist aus diesem Urgefühl des anziehenden Schönen entwickelt. »Schönheit«,
»Schön« im Ggensatz zum Häßlichen, Hassenswerten ist
ein Lebensreiz: Macht und Liebe, Siegen, der Rausch des Überwindens in jedem
Sinne, »Erfolg«, der Jubel der Flamme ().
In jeder Art von vitalem Geschehen: im Sexuellen, im Trinken, im Essen, im Handwerk.
im geschäftlichen Erfolg, beim Sport und Wettkampf wird »Schönes«
empfunden. Von hier aus entwickelt sich die »Ästhetik«. Sie beruht
auf dem gehobenen Gefühl bei jeder erfolgreichen Tätigkeit - ... bei
dem Sieg, der das Ringen krönt. »Schön« ist zunächst
das Gefühl des Sieges selbst .... (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 317-318).Es
ist ein Fehler der Kunsttheorie, von modernen Werken, der Art ihres Reizes für
das »Publikum« und der Art ihrer Herstellung zum Zweck des Verkaufes
auszugehen. Der Ursprung der Kunst liegt ganz anders. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 318).Schön-häßlich
beruht auf einem Wertgefühl: etwas wird als anziehend oder abstoßend,
sinnlich empfunden. Gut-schlecht gehört dazu: es beruht auf instinktiver
Wertung seelischer Wertung. Wahr-falsch ist Urteil des Verstehens, und zwar theoretisches.
Nützlich-schädlich ist Urteil des Verstehens, und zwar ein praktisches.
Gut-böse ist Urteil des Verstehens, und zwar ein praktisches. Ein schöner
Mensch (Urteil des sinnlichen Wertgefühls), ein lieber Mensch (auf Grund
seelischer instinktiver Wertung). Man kann etwas oder jemand lieben, obwohl es
häßlich ist (Kombination des instinktiven Wertgefühls und verstehenden
Urteils). .... Man findet ein Gesicht, ein Bauwerk, einen Ton häßlich
oder schön, ohne seelisch berührt zu sein, rein sinnlich wertend. Man
kann einen häßlichen Menschen lieben, einen schönen hassen, einen
anderen reizvoll häßlich finden. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 319-320).Die
Urteile des Geistes (der Schale)
sind ... polar urteilend, zerlegend. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 320).Rein
feststellendes Werturteil beginnt mit dem Kult (tabu), den Satzungen, die für
alles »gut« sind. Böse ist das, was sich ihnen entzieht, böse
nicht im moralischen Sinne, sondern es ist damit selbst tabu, verflucht, gefährlich
geworden und muß entsühnt werden. Gegenüber diesen Abstraktionen
ist Gut-schlecht ein Gefühl für Harmonie und Disharmonie in der Haltung
inmitten eines Wir (schlecht ist takt-los, nicht im Einklang). Dieser Wert ist
nicht gesetzt, sondern im Blute vorhanden. Wem er fehlt (nicht wer dagegen verstößt),
gehört nicht dazu. Ihn trifft Verachtung (der Gemeinschaft, des Wir), nicht
Verfluchung. Dem, was schlecht = häßlich ist, wird gut = schön
entgegengesetzt, was den eigenen Lebensstil bejaht, als mitlebend, zugehörig,
mit dem gleichen Instinkt begabt empfunden wird, was lockend und verführend
wirkt. Tanz, Gesang und Farben wirken in diesem Sinne schön, nämlich
anziehend. Schon bei Tieren (z.B. Vögeln) ist diese Wertung und Wirkung zu
beobachten. Die Seele wertet durch die Sinne: entweder kritisch; dann ist etwas
richtig oder falsch = nützlich oder schädlich in bezug auf das »gegen«,
das Außen, das Angst erweckt. Oder sie wertet mitlebend das Verwandte als
schön und gut, das Nichtverwandte als häßlich und schlecht. In
der Wertung eines Lebewesens durch ein anderes messen sich Ideen (Lebensideen)
tätig miteinander. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 322-323).Angst
ist Angst vor dem Geheimnis des Wirklichen. Sehnsucht ist Sehnsucht nach Verwirklichung
eigner Möglichkeiten. Man will wirklich sein, indem man sich verwirklicht.
Hoffnung und Mut sind dazu nötig. Mutlos sein heißt nicht mehr wirken
wollen. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 323-324).Seit
wann gibt es die Angst vor dem Leben, die Sehnsucht nach dem Ende? Seit
wann den Selbstmord? Wie steht es damit bei den Tieren? Erst der sprechend-denkende
Mensch kennt den überlegten Selbstmord. Tiere enden inxtinktiv, der Mensch
erst ... kennt einen »Wert des Lebens« und den Wunsch, nie geboren
zu sein, die Angst vor der Zukunft, die Reue vor der Vergangenheit. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 324-325).Der
Zweck ist älter als die Ursache. Der Zweck hat Richtung nach vorwärts
in der Zeit, auf ein Ziel hin, er setzt Bewegung voraus. Der Zweck gehört
zur Praxis, die Ursache zur Theorie. Das praktische Denken von »Zweck und
Mittel dazu« ruft als Nachdenken die theoretische Richtung von der Wirkung
zur Ursache hervor, wobei die Wirkung beobachtet, die Ursache aber nur Schluß,
also unsicher ist. Die ursprüngliche sinnenhafte Kausalität ist die
von Zweck und Mittel. Die andre ist ihrem Wesen nach unsinnlich, abstrakt. Das
Denken von Zweck und Mittel ist aus der Tätigkeit entwickeltes Denken. Zukunft
ist das »Wohin«, Ziel. Vergangenheit ist das »Woher«.
Nur das Raumhaft-gegenwärtige hat kein Woher und Wohin. Zeit ist nicht umkehrbar,
deshalb ist die Frage wohin das erste. Sie gehört zu Tendenz und Ziel. Kritische
Erfahrung bezieht sich auf Ursache im Raum. auf das Sein und das beständig
Mögliche. Instinkterfahrung bezieht sich auf das Werden in der Zeit, das
einmalig Wirkliche. Kritische Erfahrung wird von einem Instinkt geleitet, zu einem
Zweck benutzt. Rein kritische Erfahrung ist, weil abstrakt, blutlos und ziellos.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 327-328).Obwohl
die »Theorie« der Tiere; das Wittern, Sehen, Horchen, in primitiver
Weise »Ursachen« versteht, und ihre Praxis Zwecke, also den Augenblick
nach vorwärts und rückwärts weitet, leben doch doch Tiere und früheste
Menschen ganz in der Gegenwart. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 327).Je
mehr die animalischen Wesen dem Zweckhandeln erliegen, desto mehr stellt sich
der Reiz des erholenden zwecklosen Handelns, des »Spiels« ein.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 329).Goethe
hatte eine Kritik der Sinne verlangt (in: Maximen und Reflexionen, 1190
mit Anmerkung). Und in der Tat, die Form der kausalen und substantiellen Zerlegung
(zersehen, zerhören, zerdenken) liegt nicht nur im Verstehen, sondern ebenso
im Empfinden: verstehend empfinden. Als reines Verstehen - theoretisches Nachdenken,
praktisches Vordenken - vom empfindenden Gesamtdenken abgelöst - nimmt es
die unabänderliche Form der Sinne mit, die dem Erkenntnistheoretiker als
Form des Vorhandenen erscheinen, aber in Wirklichkeit Form des Empfindens, der
polaren Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos sind. Gegnerschaft zergliedert,
und das Verhältnis von Mikrokosmos und Makrokosmos ist ein »Gegen«.
Also ist Kausalität und Substanz die Form des Makrokosmos in bezug auf einen
Mikrokosmos, nicht des Kosmos. Der erkannte Makrokosmos ist ein Bild: Welt als
Natur, systematisch. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 329-330).Ethik
ist die innere Form des tätigen Seins. Man wählt sie nicht, man erkennt
sie nicht einmal, man tut sie nur. Wo im Lebendigen Wille ist, da ist auch Ethos
(schon unter Tieren). Auch des Willens sind wir uns oft nicht bewußt. Er
liegt tiefer im Wesen des Mikrokosmos als das Nachdenken - d. h. der Wille gehört
zum Kern (),
das Denken zur Schale ().
Die Ethik seines Lebens wählt man nicht. Man wird als einzelnes Wesen in
sie hineingeboren. Man erfüllt sie oder erfüllt sie nicht. Im einen
Fall ist man Repräsentant der inneren Art, im anderen ein belangloser Zufall.
Ethos einer Art von Leben, gepflegt und repräsentiert durch Tradition und
Sitte, ist überindividuell. Es gehört zum Fluß der Generationen
und steht dem einzelnen als schweigendes, unbegriffenes, gefühltes Gebot,
als Takt des Lebens gegenüber. Wer sich nicht in den Takt einfügen kann
oder will, zeigt damit, daß er ein verfehltes Individuum ist. Stil des Lebens
heißt: Ethos, Instinkt, Haltung; sich so bewegen und halten, so kämpfen.
Das ist der Ursinn der Sitte. Jede Art des Lebens hat ihre Sitte des Seins, die
lebendige Form (Gestalt) der Flamme ().
Menschliche Sitte ist nur so verfeinert, daß ihr Ursinn vergessen werden
kann. Pflanzen haben kein Ethos, aber alle Tiere. Alle Tiere haben das Gefühl
der Willensfreiheit; sie haben die Wahl der Richtung, der Bewegung und der Zeit.
Erlebt wird der Gegensatz von Freiheit und Gefangenschaft, empfindend erkannt
der von Freiheit und Zwang, gedacht der von Freiheit und Kausalzwang. (Oswald
Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum,
S. 331).Grausamkeit
gibt es nicht unter Tieren, sondern nur unter Kulturmenschen. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 334).Es
gibt Achtung selbst der Tiere voreinander: der Starke wird als Herr anerkannt.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 335).Moral
negiert, besteht in Verboten, Ethik ist positiv, sie gibt Haltung. Wer den Instinkt
dafür nicht hat, ist niedrig. Sie beruht auf dem gemeinsamen Takt des Lebens
und wird deshalb durch Vorbild, lebende Praxis übertragen, nicht durch Lehre
und Theorie. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem
Nachlaß, postum, S. 336).
Mensch und Schicksal (S. 337-350):»Mensch«
ist ein Element der allebendigen Natur, das sich gegen die Natur empört und
diesen Trotz mit dem Dasein büßen wird. Dadurch hebt sich der Mensch
von den übrigen Lebewesen ab, die reine Natur sind, verschmolzen mit dem
Weben der Allnatur. »Menschheit« ist der Held dieser Tragödie,
»Weltgeschichte« der letzte Akt dieser Tragödie selbst. ....
Es kann für den Menschen nichts Höheres gesagt werden als daß
er ein wundervolles Stück Natur ist. Idee des Menschen ist die innere Form
der Art, wie sie in den edelsten Rassen der schöpferischen Völker erscheint,
göttliche Natur. Der Mensch allein ist schöpferisch: er schafft seine
Außenwelt, schafft seine Umwelt um, legt sein Geheimnis in das, was seine
Sinne und sein Geist spiegeln; als Kunst, Denken, Theorie und Technik, Kult und
Mythos, Sprachen, Staat, Recht, Wirtschaft, Sitte und Moral, Kriege und Taten
als Verwirklichung von Vision und Traum. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 337).Und
diese reiche Welt (der Seele) - die Kultur - wird vom Intellekt überwunden
und zuletzt zersetzt, nachdem er die Seele befreit hat. Zuletzt bleibt von der
flammenden Schöpferkraft nur der Intellekt übrig. Das Blut, die Flamme
()
ist erloschen, kalt und unfruchtbar geworden. Die Fellachenzeit ist wie ein Waldbrand
am Tage nachher, wo immer wieder hier und da ein ohnmächtiges Flämmchen
auflodert. Was heißt: Geschichte schauen? Solange der einzelne fest
in den Formen seiner Gesellschaft lebt, kann er nicht frei davon denken - sein
Denken selbst hat die Form seiner Zeit. Ist die Kultur zu Ende und beginnt die
Zivilisation, so hört das schöpferische Denken auf, und das Widerkäuen
des Gedachten beginnt - in immer kleineren Formaten. Dazwischen aber liegt ein
Augenblick, in dem den tiefen Menschen ein freierer Ausblick vergönnt ist:
das ist die kurze Zeit, wo großes Geschichtsdenken möglich ist. So
war es in der Antike, in China; so ist es in der größten überhaupt
möglichen Gestalt in der faustischen Kultur. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 338).
Was liegt an Kunstwerken! an Gedanken! an Offenbarungen! Sie sterben mit den Menschen,
die für sie Augen und Ohren haben. Was liegt an dem, was ich hier schreibe!
Aber ich muß schreiben. Es ist mein Schicksal. Menschengeschichte ist die
Wandlung der Lebenseinheit »Mensch« auf dem Hintergrund der Wandlung
der Welt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 338).Erkennen
als das Aufnehmen von Weltelementen in den menschlichen Wahrnehmungsformen ist
Aneignung, nicht Enthüllung. Alles, was ich weiß, ist, daß ich
nichts weiß: die Theorie bricht zusammen, und es bleibt als Sinn
des Lebens die Praxis, die Tätigkeit. ().
Nicht das Erkennen wertet das Leben, sondern die Tat. Die ethische Haltung ist
Ehrfurcht vor dem Geheimnis. Die logische Hybris ist die Einbildung, sich alles
denkend, theoretisch aneignen zu können. An-eignen aber ist (schon) Fälschen.
Alle Abstraktion ist anthropomorphes Zerdenken. Da die Logik in ihrem ehrfurchtlosen
Griff nach den Gestimen versagt, so bleibt nur das Ethische, das dem Leben Wert
und Gestalt gibt. Ethos recht verstanden: als Form des Tuns in Kunst, Politik
etc., als Kultur. Der tiefe Mensch hat Ethik, weil er sie in sich fühlt,
als eigne Forderung an sich selbst. Ethik ist Form des tätigen Seins. In
allem Leben, soweit es Willen hat, ist Ethos. Man wählt das Ethos nicht.
Man wird in seineForm hineingeboren. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 339).Lebe
selbst so, daß dein Leben das Menschenleben überhaupt wertvoll erscheinen
läßt. Die Geschichte wird den Wert deines Lebens messen, durch sein
Wollen und Wirken. Das Urteil fällt immer ein anderer. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 339).
Man täusche sich nicht: die Geschichte des Kulturmenschen,
die wir Weltgeschichte nennen, ruht in ihrer tragischen Kürze und
Wucht auf der Geschichte der tierischen Arten, die einen längeren
Atem hat, und diese wieder auf der vegetativen Geschichte des Lebens überhaupt.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 339-340).
Je mächtiger oder flacher ein Kulturmensch, desto tiefer
dringt oder desto unbedingter hängt sein Leben an den naturhaften
Mächten jener größeren Entwicklungen. Die Pflanzendecke,
durchsetzt mit Tierscharen, ruht auf der noch viel langsameren Geschichte
der Erde. So ruht auf den gewaltigen Bergen, die in geologischen Perioden
aus der Erdrinde emporgehoben sind, ein Wald, in dem sich wieder menschliche
Hütten eingenistet haben. Was ist dieser ganze Lärm von Bauten,
Schiffen, Bergwerken, Schlachten und Büchern vom Sternenraum aus
gesehen: gegenüber der Erdrinde ein Nichts! Bescheiden wir uns! Die
Welt unserer Kultur ist nur in unsren Augen etwas Gewaltiges. Aber wir
gehören dazu, schaffend und von ihr geschaffen, und deshalb ist sie
unser Wichtigstes. Was ich hier darstelle, ist eine Weltgeschichte - Geschichte
der Welt, wie sie für uns Menschen Wirklichkeit ist, ... (aber) nicht
für den Menschen früherer Stufen ().
Die Welt für den Menschen - das ist streng genommen nur die vom Menschen
gebildete Welt, die Kultur. Die Natur ist da und lebt, ob nun der Mensch
vorhanden ist oder nicht. Geschichte der Natur ist ihr Schicksal.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 340).
Vom
Leben muß man ausgehen, nicht vom Menschen. Auch das Leben ist nicht das
Tiefste, sondern die Welt. Aber ein Lebewesen hat die Welt, seine Welt, nur durch
sein Fühlen und Empfinden. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 340-341).Der
grundlegende Fehler ist, die »Menschenwelt« mit der Welt überhaupt
zu verwechseln (Romantik, George, Bachofen, Klages), sie in die engen Grenzen
der Geschichte des Kulturmenschen einzusperren, der in dem Werden der Welt nur
eine belanglose Episode ist. (Die Auffassung der Welt als) »Menschenerde«
hängt mit der Dichte der Bevölkerung zusammen. Von da aus ergibt sich
der Aspekt: Menschenwelt mit Hintergrund, während von außen gesehen
das All erscheint, darin der winzige Mensch. Der Typus Mensch - leiblich (wie)
seelisch - ist ein schweifendes Wesen ohne festen Standort (außer zum Schlafen).
Er lebt im Wachsein, also beweglich, weil Sinnenleben und Bewegung unlösbar
zusammengehören. Deshalb ist der erste Mensch See- oder Steppennomade. Das
pflanzenhafte Seßhaftwerden als Bauer ist wider die Art (wie der Wolf als
Hund ein Haustier wird). Es entstehen dadurch - leiblich und seelisch - neue Arten
von Rassen. Auf dem (seßhaften) Bauerntum ruht die Hochkultur - deshalb
ist sie pflanzenhaft. Die Pflanze Kultur schließt sich in ein Gehäuse
ein: Hütte und Dorf, Haus und Stadt. Hochkultur ist Stadtkultur. Folge und
Verhängnis der Technik ist die weitere Verfestigung dieser Tendenz. Nur die
Nomaden - Matrosen, Piraten, Räuber - haben in den Hochkulturen etwas von
der Sede des Urmenschen bewahrt (aber nicht der »Stadtnomade«, der
aus einem Gefängnis ins andre zieht). Der Mensch, das schweifende Raubtier,
wird durch seine technische Intelligenz in Fesseln verwickelt, in Stufe c ()
durch den Pflanzenbau zum Sklaven des Bodens, in den Hochkulturen durch die Stadt
entwurzelt, dann welkend. Der Nomade lebt das eigentliche Dasein des Menschen
- in Jagdgründen schweifend, dann als See- und Viehnomade, Abenteurer und
Krieger. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 341-342).
Seit der c-Kutltur(stufe)
vertieft sich die Menschenseele in verschiedenen Typen. Das seßhafte
Leben hat eine andre Seele als das freie Leben der Seefahrer, Beduinen
und Wanderhirten. Aus dem seßhaften, im Boden verwurzelten Bauernleben
entstehen die Hochkulturen, die mit der (mütterlichen) Erde verwachsen
sind. Aber die Herrenseele, das Herrenethos entstammt dem freien Leben
in Steppe, Meer und Wüste. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 342).
Der
Mensch ist anfangs sehr selten, winzige Trupps in der dichten Pflanzendecke mit
zahllosen Tierschwärmen verloren. Seine Entstehung ist rätselhaft. Wir
wissen gar nichts darüber, nur über Veränderung der Typen (was
Darwin »Entstehung der Arten« nennt). Soweit wir geologisch blicken
können, sehen wir nur Arten sich verändern, nie etwas entstehen.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 342).Der
Mensch ist (zu Anfang) das schwache Raubtier. D(ies)er Widerspruch in seiner Existenz
ist seine Tragödie. Er braucht widernatürliche Mittel - den Intellekt,
die Technik -, um die leibliche Stärke zu ersetzen, und diese Mittel vernichten
ihn zuletzt. Kultur, das Künstliche, ist die Waffe des Schwachen gegen die
Natur. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 343-344).Die
Geschichte des Menschen ist der ewige Kampf zwischen dem Ethos eines Herrentieres
und der Schwäche eines Beutetieres. Der Mensch hat es nötig, seelisch
tapfer zu sein, weil er körperlich schwach ist. Sein Instinkt ist herrenmäßig,
sein Leib ist zu schwach. Das ist ein Widerspruch in den Bedingungen seiner Existenz,
die er zu lösen sucht, zu leugnen, zu überwinden. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 344).Das
ganze Dasein des Menschengeschlechtes ist Überwindung seiner Ohnmacht. Er
ist ohne natürliche Waffen, deshalb geistesstark. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 344).Desaix
rettete bei Marengo Napoleon vor der Niederlage (am 14.06.1800
gegen Österreich; HB) und fiel dann im Gefecht, Das »Urtel
der Geschichte«, das Bild der Geschichte verzeichnet aber nur das, was geschehen
ist (und zwar aus Sicht der Sieger, der Mächtigsten;
HB) und nicht, was hätte geschehen sollen. Kriege und Schlachten,
Diplomatie und Revolution hängen (auch! HB)
davon ab: ob man Glück oder Unglück hat. Diese Macht ist unerbittlich.
»Schuld wird überall gesucht, wo Mißerfolg ist« (Friedrich
Nietzsche, Morgenröte). Wir sprechen von »unverschuldetem Mißgeschick«,
von der »Gunst der Umstände« (Ludwig Klages, Nietzsche).
Das alles gehört zu dem großen Zweikampf zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos,
zwischen Willen und Schicksal. Schicksal ist nur zu erleben; es ist die metaphysische
Macht im lebenden All. nicht die Kausalverknüpfungen in der physischen Welt.
Schauplatz des Schicksals ist die Geschichte. Geschichte ist das Schicksal des
Kulturmenschen. In der Geschichte ist Schicksal der Erfolg oder Mißerfolg
von Taten und der Tatorganisationen, Staaten und Herren. Es gibt Taten gegen das
Schicksal: der Mensch hat und ist zugleich Schicksal; seine Taten können
glücken oder mißglücken, »verhängnisvoll« wirken
- für ihn und andere. Schicksal ist eine Form des Geheimnisses, das durch
kausales Denken erschlossen werden soll. Danach strebt die Wissenschaft. Aber
wenn man die Waffe »Ursache« und den Tod »Wirkung« nennt,
ist man dem Geheimnis nicht hähergekommen. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 345-346).Schicksal
ist der Wille von außen, Wille ist das Schicksal von innen. Weltwille ist
die Ordnung der Natur. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 346).Problem
wird das Schicksal erst auf dem Hintergrund des sprachlich-kausalen Denkens. Erst
der Geist zieht die Idee des Schicksals nach sich. Das Selbstbewußtsein
beruht auf dem Bewußtsein von Ich und der Welt als Polarität. Hier
muß der Mensch feststellen, daß sich etwas (ein Etwas) nicht feststellen
läßt. Der Kausalitätsdrang, aus Angst geboren, will alles erklären
und kann es nicht. Daraus ergibt sich der »Glaube«, der die Lücken
des Wissens verdeckt. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 347).Das
Schicksal wird im Leben oft »Zufall« genannt. Der Wille zur Macht
des Einzelwesens hat am Zufall seinen Gegner: da ragt der Makrokosmos in den Mokrokosmos
hinein. Über Schicksal läßt sich nicht »denken«.
Es ist unsinnig, wenn die Naturwissenschaft den »Zufall« kausal zu
erklären versucht. (Oswald Spengler,
Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 347-348).Es
gibt keine Gerechtigkeit im Geschehen - weder des einzelnen Lebens noch des Lebens
der Familien, Völker und Kulturen - recht und unrecht ist ein privater Maßstab,
den man an Dinge legt, um sich selbst damit zu messen; wer hätte das je gekonnt
! Recht ist in der Geschichte das Recht des Stärkeren. Das Schicksal ist
das, was sich nicht umgehen läßt (z.B. die Tragik der Geburt an einem
bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt und die damit vorgegebenen
Konflikte und Gefahren). Kausalität der Ursachen und Zwecke, Recht und Unrecht
- auf dergleichen menschlich-begriffliche Maßstäbe hat die Geschichte
noch nie Rücksicht genommen. Ihr Sinn ist größer und tiefer. Vor
dem stumpfen Dneken der meisten erscheint sie sinnlos, eine Hölle. Ein Vogel
bringt seinen Jungen Nahrung, da trifft ihn eine Kugel. Die Jungen verhungern.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 348).Inneres
Schicksal (der Mikrokosmen) - dazu gehört der blinde Drang des Lebens, der
Eros, die Erbanlagen, Ort und Zeit der Geburt, die Mitgift des Kosmos an den Mikrokosmos,
in dem Kosmisches waltet. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 348).Äußeres
Schicksal - das ist die Umwelt mit den in ihr waltenden Mächten, die Landschaft,
Gesellschaft, die Ereignisse. Goethes Urworte Daimon und Tyvhe sprechen von diesen
beiden Arten des Schicksals. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 348).So
hat jeder Einzelne sein Schicksal aus eigner und fremder Wandlung, eignem und
fremdem Sosein und Sogeschehen. Auch Familien, Stämme, Gesellschaftsschichten
und ganze Kulturen haben ihre eignen Schicksale. Der menschliche Wille (des Hochkultur-Menschen),
vom Denken geleitet, bildet sich ein, die Welt nach seinem Ideal formen zu können:
das ist Optimismus. Aber die Geschichte vollzieht sich ganz unabhängig von
unserem Wünschen und Wollen. Wir denken so, und der Weltwille in uns treibt
anders. (Vgl. auch das Sprichwort: Es kommt meistens
anders, als man denkt; HB). Denkender Wille ist blind. Das Denken
täuscht über den Willen in uns. (Oswald Spengler, Urfragen,
in: Fragmente aus dem Nachlaß, postum, S. 349).Die
letze Urfrage, die alle andren in sich schließt, das größte Warum,
ist nicht zu beantworten. Das ist der Sinn des Schicksals, dessen, was sich nicht
erkennen läßt. Alle Deutungen (als Sinn der Welt, Walten der Götter
etc.) sind aus der Angst geboren. Schicksal ist schon, wo, wann und als was man
geboren wird: in welchem Jahrhundert, welchem Volk, welcher Schicht: aber auch
der Körper der Seele, wenn er krank, schwach, krüpeplhaft ist, gehört
zum Schicksal. Die Tragödien der einzelnen liegen in dem Widerspruch dieser
inneren und der äußeren Schicksale. Die Art, wie jeder damit fertig
wird, kennzeichnet seinen Rang. Die Weltgeschichte ist eine Tragödie, weil
der Kulturmensch, im Unterschied zum Tier, geistig genötigt ist, Fragen zu
stellen, auf die es keine Antwort gibt. Es ist feige, an die willkürliche
Verlängerung des Lebens zu glauben, von einzelnen Völkern und Kulturen.
Das ist ein Ausweichen vor der Tatsache der Voll-endung (nur für sich will
man sie nicht gelten lassen!). Es ist feige, vom Entstehen und Vergehen das zweite
zu negieren, zu unterschlagen. Alles Lebendige vergeht, weil es entstanden ist.
Der Wille kann es nicht »verlängern«. Wer das nicht versteht
oder es verschweigt, ist minderwertig. Der Mensch ist eine Episode, ein Augenblick
im Weltschicksal. Der größte Teil der Kultur ist schon vorüber.
Das Ende dämmert auf. Aber was bedeutet das für das Schicksal der Welt
? Wie klein und unedel ist es, sich an sein eignes Schicksal zu klammern
! Was sind wir! Was bilden wir uns ein zu sein? Aber für uns Menschen
ist es etwas Gewaltiges, mit Bewußtsein das Ganze der Welt in uns aufzunehmen.
Das ist »Geist«, das ist Kultur. Das hebt den Kulturmenschen über
das bloße Leben hinaus. Damit wird, für uns lang, für die Welt
kurz, trotz der Bedeutungslosigkeit des »Lebens« für die Welt,
für uns etwas Bedeutendes daraus. Der Kulturmensch, der geistige Mensch hat
eine Aufgabe, einen Sinn in sich. Insofern hat er recht, seine kurze Geschichte
als Weltgeschichte zu denken. (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 349-350).
Anhang (S. 351-380):(Fragen nach
dem) Ursprung ... (Fragen nach der) Flamme (dem Urerlebnis
Spenglers [];
HB) .... (Fragen nach) Erwachen - Wachsein, Ich und Welt; Wissen und
Glauben; Sprechen und Denken; Bewegung und Zeitgefühl; Zeitgefühl und
Zeitbewußtsein; Individuum und Generation; Seele und Leib; Instinkt, Trieb,
Wille; Pflanze und Tier; Leib und Organ; Sinnenwelt; Seelenleben; Mensch und Schicksal.
.... Metaphysik im Umriß .... Entwurf einer Frühgeschichte der Menschheit.
(Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente aus dem Nachlaß,
postum, S. 353-360).»Urfragen«
- Entwurf einer Frühgeschichte der Menschheit - Einleitung 1.
Wie ich dazu kam: Von der morphologischen Deutung der Gegenwart zurück
zu den Anfängen der tragischen Hochkulturen - Nun von deren Deutung zurück
bis zu den kindlichen blühenden, lyrischen Anfängen der »Menschwerdung«
- Was ist das als geschichtliches Bild, seelisch, metaphysisch (als Wesen)?
- Dieses Buch ist eine Antwort - Es enthält das Epos des Menschen (humana
comoedia) bis zur tragischen Entzweiung von Natur (Rasse, Seele, Instinkt) und
Kultur (Ich, Stadt, Gesellschaft) 2. Innere Bedeutung dieser Entwicklung: Was
ist »Menschheit«? Zuerst innere Einheit der Gattung, nicht bewußt
von innen, sondern als tatsächliche Form - Mit den Kulturen zunächst
noch Substrat einer Entwicklung, dann lediglich Summe, endlich Begriff, während
die gefühlten Einheiten immer kleiner werden Was ist »Geschichte«
? Erst Gattungsgeschichte, dann Rassengeschichte, dann Kulturgeschichte, endlich
Weltgeschichte .... (Oswald Spengler, Urfragen, in: Fragmente
aus dem Nachlaß, postum, S. 354).
Briefe
Die ganze Sentimentalität bei Thomas Mann
()
ist deshalb so verlogen, weil ihre Wurzel noch in der romantischen Belletristik
steckt. Er erzählt scheinbar moderne Stoffe, aber mit einem ganz veralteten
Gehalt (Biedermeierempfindsamkeit oder Heine []
ins Großstädtisch-Homosexuelle projiziert). Das merkt das Lesevolk
natürlich nicht. [1913 an Hans Klöres]
.... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 24).
Wer heute etwas Bleibendes machen will, muß eine Idee
in sich fühlen, die noch gar nicht zum allgemeinen Bewußtsein gelangt
ist. (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 25).(Ende
März 1914 ... die Ankündigung: ...) ... nun doch die ganze Arbeit (gemeint
ist: Der Untergang des Abendlandes; HB) ... jetzt abschließen.
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 26).
(Adolf Weigel)
... das Manuskript fleißig in die Maschine (diktiert). (Oswald
Spengler, Briefe, postum, S. 27).
In
dem Deutschland, das durch technische Intelligenz, Geld und den Blick für
Tatsachen seine Weltstellung befestigt hat, wird ein vollkommen seelenloser Amerikanismus
zur Herrschaft gelangen, der Kunst, Adel, Kirche, Weltanschauung zu einem Materialismus
auflöst, wie er nur in Rom der ersten Kaiserzeit schon einmal vorhanden war.
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 29).
Die Unehrlichkeit und Verlogenheit unserer Pinsler und Schmierer
... Was sich als Denker und Dichter breit macht ... - dumm, schmutzig und schäbig.
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 29f. ).
Ich beneide die Leute, die ... den Krieg erleben. [25.10.1914 an
Hans Klöres] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 31).Aber
das ist gewiß: dieser Krieg (der 1. Weltkrieg; HB) ist kein abschließendes Ereignis, sondern der Beginn einer neuen
ungeheuren Epoche, die vielleicht noch ganz andere Katastrophen heraufführt.
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 32).Ihre
Einberufung war mir eine große Überraschung ... - nun lernen Sie den
Krieg selbst kennen. Er wird für Sie sehr wertvoll sein, mit eigenen Augen
wenigstens dem Schluß dieser großen Ereignisse zusehen zu können..
[30.01.1915 an Hans Klöres] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum,
S. 34).Ein
Roman soll die Summe des Daseins einer Epoche ausschöpfen ..., ein Drama
kann das nicht. ... Ein Roman kann nur durch Reichtum Gehalt erlangen und
wir hatten seit 80 Jahren keinen innerlich reichen Menschen mehr in unserer Literatur.
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 35).Verfolgen
Sie die preußische Geschichte in ihrem wundervoll organischen Aufstieg ...,
ein riesenhaftes Fortschreiten auf dem Wege zur Weltmacht ..., wie es nur noch
die Römer 300-50 v. Chr. erlebt haben. [14.07.1915 an Hans Klöres] ....
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 42).
Meine Hoffnungen gehen auf eine neue deutsche Meisterprosa. Vom
Vers erwarte ich nichts mehr. Eine Prosa, die über Luther und Goethe
hinaus, weitab vom Snobismus Nietzsches, etwas von dem verkörpert,
das ich »Hindenburgstil« nennen möchte, kurz, klar, römisch,
vor allem natürlich. ... Ich finde gutes Deutsch oft in Leitartikeln,
bei Bismarck, in Geschäftsberichten unsrer großen Industrieunternehmen,
aber nie in Romanen. (Oswald Spengler, Briefe, postum, S.
45).
(Nach
Kriegs-) Ereignissen ... Sehnsucht, ... (die das) große Leben (sind) ...
[07.09.1915 an Hans Klöres] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum,
S. 46).Angst,
... Schrecken ... (vor dem) ... Gespenst der Einberufung [03.11.1915 an Hans Klöres]
.... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 49).(Den
Band [gemeint ist: Der Untergang des Abendlandes,
Band I; HB]) ... gern noch in diesem Sommer (1916) drucken lassen
(nicht ausgeben), um ihn los zu sein. Der wird allerdings wie ein Bergrutsch in
einen flachen Teich in die Gegenwartsliteratur fahren. (Oswald Spengler,
Briefe, postum, S. 54).Wir
haben aber noch keine innere Form für den deutschen Roman. (Oswald
Spengler, Briefe, postum, S. 56).Augenblicklich
habe ich mir die genaue Disposition eines längst in Notizen vollständig
gesammelten kleinen Buches vorgenommen, die ... ich fertigstellen will. [17.01.1917
an Hans Klöres] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 65).Ich
wünsche mir so sehnlich die Möglichkeit, täglich einige Stunden
mit jemandem sprechen zu können, um so ... ein kleines Buch nach dem andern
ins reine zu schreiben. ... Die Sachen schließen sich ja langsam von selbst;
es kommt Ordnung, Disposition und Abrundung hinein, aber ein gewisses Etwas hindert
mich, mit dem Letzten anzufangen. Ein Jahr, ohne seelischen Druck und mit entsprechendem
Umgang, und ich hätte in zehn kleinen Bänden den ganzen Umkreis meiner
Geadnken für die Öffentlichkeit reif gemacht. [03.03.1917 an Hans Klöres]
.... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 71).
(Der) Erste Band des Untergangs des Abendlandes ..., Metaphysik
als philosophische Höhenbetrachtung der Zeitlage ..., historische
Analyse ..., Realpolitik [01.05.1917 an Hans Klöres] .... (Oswald
Spengler, Briefe, postum, S. 74).
Ich lebe derartig einsam, daß ich in der Regel tagelang
mit niemandem spreche, und das ist eine Voraussetzung für mich, in
meiner Weise zu arbeiten. Sobald ich gezwungen bin, auch nur einige Stunden
mich mit anderen zu unterhalten oder gar etwas auseinderzusetzen, muß
ich es mit Kopfschmerzen bezahlen. [24.06.1917 an Hartnacke] ....
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 79).
Ich
habe nur vier Bücher fertig geordnet, Abschnitt für Abschnitt klar durchdacht,
hier; ich brauchte nur ein anderer Mensch zu sein, um sie in ein paar Wochen diktiert
zu haben, ich brauchte nur einen Menschen in meiner Nähe, der mich geistig
wieder in Gang bringt. [06.11.1917 an Hans Klöres] .... (Oswald Spengler,
Briefe, postum, S. 81).
»Vieles steht wie eine Erfüllung da. Hier ist der Wurf
gelungen. Aber um so stärker erregt mich der Gegensatz: daß
für Sie die Kulturen etwas pflanzenhaft Wachsendes sind und daher
die geschichtlichen Entscheidungen in die Sphäre des Zufalls fallen,
daß Ihnen jede der Kulturen etwas Isoliertes bleibt, daß die
Individualität derselben zwar als etwas Ursprüngliches erfaßt
ist, aber dieser Dämon als festgelegt gilt, so daß die Gestaltung
des Lebens zu Kulturen nur in Neuschöpfungen verläuft, daß
die Kontinuität ihren Sinn verliert und das Zusammengelebt-werden
des Heterogenen nicht eine spezifisch historische Form von Einung und
Spannung ist, sondern bloße Maskerade.« [Georg Misch am 08.11.1918]
.... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 110).
Mein Buch hat inzwischen, obwohl noch keine einzige Besprechung
erschienen ist, sich weit verbreitet und denjenigen Eindruck gemacht,
den ich erhoffte. Ich habe zahlreiche Urteile gehört, die mich gefreut
haben, weil sie zeigen, daß ich verstanden worden bin. Simmel hat
kurz vor seinem Tode in seinem Kreis erklärt, es handle sich um die
bedeutendste Geschichtsphilosophie seit Hegel. (Oswald Spengler,
Briefe, postum, S. 111).
Niederlage ..., Zusammenbruch alles dessen was mir innerlich teuer
und wert gewesen ist [18.12.1918 an Hans Klöres] .... (Oswald
Spengler, Briefe, postum, S. 111).
...
Diktatur, irgendetwas Napoleonisches ... als Erlösung [18.12.1918 an Hans
Klöres] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 111).
(Ein einerseits vom Adel) - »nachdem er von jeder feudal-agrarischen
Enge gereinigt ist« - (und andererseits vom einfachen Volk) - »nachdem
es sich von der anarchisch-radikalen Masse durch Ekel und
Selbstgefühl abgesondert hat« - (getragener Sozialismus) ...
[27.12.1918 an Hans Klöres] .... (Oswald Spengler, Briefe,
postum, S. 115).
(Zur Absage an die am 08.11.1918
erfolgte) ... »prinzipielle« Anfrage von Georg Misch, ob Herr
Spengler eine Professur für Philosophie an der Universität Göttingen
zu übernehmen bereit sei ... [Antwortbrief vom 05.01.1919 an Georg
Misch] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 116 ).
Daß Hegel (und deshalb wohl auch Dilthey) vor seinem Bilde
der Weltgeschichte den Eindruck hatte, daß hier ein Schatz von höchsten
menschlichen Möglichkeiten sich ständig vermehre, eine einheitliche
Aufgabe mehr und mehr erfüllt werde, ist natürlich, obwohl ich
schon bei Goethe Einblicke allertiefster Skepsis finde (von ihm und seinem
Urphänomen habe ich denn auch den Gedanken der selbständigen,
pflanzenhaften Kulturindividuen). .... Der Stand des Wissens um 1820 rechtfertigte
noch den Glauben an etwas Absolutes »hinter« den einmaligen
individuellen historischen Ereignissen. Indessen sehen wir heute Indien
und China und Mexiko mit ihren erstorbenen Kulturen. Was ist von den Schöpfungen
der ägyptischen in die antike als lebendiger Geist übergegangen?
.... Es ist ein rein faustisches Bedürfnis, ein überindividuelles
Element anzunehmen, das sich trotz aller historischer Niedergänge
einem Ziel zu bewegt. (Oswald Spengler, Briefe, postum, S.
116 )
Ich
habe nun sieben Jahre lang, ohne Erholung, unter den ungünstigsten äußeren
Verhältnissen gearbeitet und endlich doch wenigstens das eine Buch fertig
gebracht (gemeint ist: Der Untergang des Abendlandes,
Band I; HB), immer in der Hoffnung auf eine Erlösung aus dieser
Art von Dasein. Jetzt geht es nicht mehr. (Oswald Spengler, Briefe,
postum, S. 122).Ich
sehe in der zunehmenden Radikalisierung Deutschlands kein Unglück. Wir müssen
hindurch .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 123).»Die
einseitige Beurteilung der Kulturen als geschlossene Größen ... fehlerhaft
gegenüber ihrem kettengliederartigen Ineiendergreifen, mögen dabei auch
die Kettenglieder neue Werte erhalten haben .... (Ob Spengler nicht) zu schnell
den Gedanken beseitigt habe, daß sich doch durch den Wechsel der verschiedenen
Kulturen das Werden einer, sei es auch nur im allgemeinen Zügen zu
fassenden Kultur hindurchziehe« [Adolf Harnack am 30.10.1919] ....
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 191).»Gemeinsame
mythische Grundlage der Menschen aller Kulturen. .... Das ist der Punkt, in dem
ich gerade als Erdgeschichtsforscher von Ihrer Gesamtanschauung differiere, daß
nicht jede Kultur ihre eigne mythische Zeit und Geisterwelt hat, sondern daß
sie aus einer gemeinsamen schöpfen, wenn auch die Zeit, in der jede daraus
schöpft, natürlich verschieden ist.« [Edgar Dacqué am 14.06.1922]
.... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 199).
»Die Menschheitsbildung ist ein einheitliches Ganzes, und
die Religion ist Kern und Stern derselben; die Religion ist ein einheitliches
Ganzes, und die Erlösererwartung ist Kern und Stern. Die Konstanz
der Idee ist erschütternd, Und wenn Sie Ihre Metaphysik eine Etage
höher höben und mit dem Auge Gottes schauten, wie
in Ihrer ersten Auflage stand, würden wir uns gewaltig nähern.«
[Alfred Jeremias am 02.07.1927] .... (Oswald Spengler, Briefe,
postum, S. 191).
»Oswald
Spengler, reiten Sie allein - Ihr Gaul geht sichrer!« [Eleonore Quesada
am 16.04.1922] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 191).(In
Spenglers Hauptwerk ist) »... bei dem Streben nach einer einheitlichen universalen
Auffassung der Geschichte viel zu viel konstruiert und oft aus Analogie und Parallelerscheinungen
zu viel gefolgert. .... Für meine Denkweise kommt dabei die unendliche Mannigfaltigkeit
und Verschiedenheit aller Geschichte und die Besonderheit des Einzelfalles zu
sehr zu kurz.« [Eduard Meyer am 25.06.1922] .... (Oswald Spengler,
Briefe, postum, S. 202).
»Ihre Welthistorischen Perspektiven geben ... höchst
belehrende und höchst überraschende Durchblicke durch die Weltgeschichte,
wie man solche bisher noch nicht bekommen hat. .... Sie bieten viel, sehr viel.
Auch decken Sie die dieWeltgeschichte beherrschenden Ideen ... oder wie man jetzt
besser sagen kann: die Wahnideen auf, durch welche die Menschheit sich führen
und verführen läßt.« [Hans Vaihinger am 29.08.1922] ....
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 210f.).Metaphysik
()
sollte heute nur noch von solchen getrieben werden, die eines ganz primitiven
Denkens und Fühlens fähig sind. Dazu gehört der Umgang mit Kindern,
Hunden, Katzen .... Eine Schule der Weisheit würde also das Leben selbst
sein, wenn man es von jeder Berührung mit bewußtem Philosophieren freihält.
[30.12.1922 an Hermann Graf Keyserling]
.... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 232f. ).
Ich selbst halte es für einen
Vorzug, daß ich nie etwas wie eine philosophische Schule durchgemacht
habe und die ganze philosophische Literatur der Gegenwart nicht kenne
.... Unter Weisheit verstehe ich etwas, das man sich nach Jahrzehnten
harter praktischer Arbeit abseits von aller Gelehrsamkeit erwirbt ....
Eine Schule der Weisheit würde also das Leben selbst sein ... [30.12.1922
an Hermann Graf Keyserling]
.... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 233).
Was
die russische Reise betrifft, so wünsche ich natürlich die russische
Architektur und prähistorischen Ausgrabungen in den Museen der größeren
Städte kennenzulernen ... und würde sehr gern die persönliche Bekanntschaft
der führenden Professoren in Petersburg und Moskau machen. Ich glaube, daß
dieser Grund wichtig genug ist, zumal ich jetzt an einem Buch arbeite, dem diese
Dinge zugrundeliegen. [01.09.1924 an Martin Blank] .... (Oswald Spengler,
Briefe, postum, S. 351).Ich
arbeite augenblicklich wieder an einem größeren philosophischen Werk.
[17.04.1925 an Otto Liebmann] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum,
S. 389).Dienstag
früh fahre ich in ein kleines Nest irgendwo in Sizilien, um da ein neues
philosophisches Buch still für mich in Ordnung zu bringen, ohne daß
mich Telegramm und Telephon, Besuch und Brief erreichen. [09.02.1925 an Elisabeth
Förster-Nietzsche] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S.
368).
»Wenn Sie schon in der Individualität (nicht bloß
im allgemeinen Typus) der primitiven Kultur die Kulturentelechie aufsuchen,
die sich in ihr auswirkt und auseinanderlegt, so erkennen Sie damit (wie
ja auch sonst) ein inneres Gesetz des Werdens an.« [Eduard Spranger
am 14.04.1926] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S.
441).
»Ich bin nicht ganz sicher, inwieweit Ihre eigene Methode
zu arbeiten und sich Urteile zu bilden, mit dem Axiom, das Sie mir hier
entgegenhalten, in Einklang zu bringen ist. Hier erkenne ich eine für
mich bei Ihnen jedenfalls neuartige Tendenz, das Gedruckte, die Fachgelehrten
und die Spezialwissenschaftlichkeit zu adorieren, und ich habe mich vergeblich
in Ihrem eigenen Werke nach einer Stelle umgesehen, aus der zu ersehen
ist, daß Sie von diesem Satz als Grundlage ausgegangen wären.«
[Leo Frobenius am 24.02.1927] .... (Oswald Spengler, Briefe,
postum, S. 503).
Ȇbersehe ich das Ganze als eine Einheit, so erhalte
ich ... den Eindruck, daß diese Angriffe erfolgt sind, um eine eigene
Meinung ungestört aufwachsen zu lassen und vor der Abfassung einer
eigenen Schrift über diese Dinge der früheren Freundschaft zu
kündigen und gewissermaßen über ihr den Stab zu brechen,
um die störenden Elemente zu beseitigen.« [Leo Frobenius am
24.02.1927] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 512).
Sehr geehrter Herr Fauconnet!
Seit ich Ihr Buch über meine Philosophie kennengelernt habe, ist
es mein Wunsch gewesen, Ihnen einige Worte des Dankes und der Anerkennung
zu senden. Ich will Ihnen ganz offen gestehen, daß unter der Masse
von Literatur, welche mein Werk hervorgerufen hat, in Deutschland nichts
entstanden ist, was sich mit Ihrer Kritik messen kann. .... Zum Schluß:
es würde mir eine besondere Freu-de sein, wenn ich Ihnen eine meiner
Arbeiten, die Sie noch nicht besitzen, oder mein Bild senden könnte.
Wollen Sie mir mitteilen, was Sie sich wünschen?
Mit den besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener O. Spengler (Oswald
Spengler, Briefe, postum, S. 516-517).
Einen Irrtum möchte ich aus für mich wichtigen Gründen
berücksichtigen: ich habe der nationalsozialistischen Bewegung, die
zu dem Münchener Putsch führte, nicht nur ferngestanden, sondern
sogar, leider vergeblich, das Äußerste zu verhindern versucht.
Mein kleiner Vortrag »Politische Pflichten der deutschen Jugend«
ist an dem Tage gehalten worden, wo der Prozeß gegen Hitler begann.
Ich bin der Meinung, daß Politik sich auf nüchterne Tatsachen
und Erwägungen und nicht auf einer Romantik der Ge-
fühle stützen darf? (Oswald Spengler, Briefe, postum,
S. 517).
Hochverehrter Meister!
Ihr freundlicher Brief hat mir eine große Freude bereitet, und ich
danke Ihnen herzlich dafür. Sollten Bild und Handschrift es bald
bestätigen, was die Klaviatur der Schreibmaschine unpersönlicher
ausgedrückt, so würde die von der ersten Frühlingssonne
erhellte Wand meiner stillen Arbeitsstube einer mir so wert-vollen Sendung
freudig entgegenlächeln. Was Ihre Lehre betrifft, so ist meine Rolle
eine sehr bescheidene gewesen und zwar ungefähr die eines elektrischen
Umschalters, der eine übermächtige Strömung zum
Hausbedarf umbildet. Und natürlich mußte ich auch nicht vergessen,
aus Furcht vor dem Gewitter, die Antenne zu »erden«. Ich bin
ja Staatsbeamter, und, als Franzose, von meinem »Habitus«,
von Raum und Zeit bestimmt, aber ich hatte es Ihnen mit Recht zugetraut,
sie wüßten, wie Schiller sagt, »den Mann von seinem Amte
zu unterscheiden«. .... Die Einfühlung habe ich nicht er-zwungen.
Ich schrieb, weil ich mußt!, und da ich mußt, so konnt
ichs. Der »Herbst«, der schrieb für mich. ....
Was Wunder, daß Ihr Brief, theurer Meister, mir eine hohe »Freude«
war. Sein Zauber bindet ja wiederum, was die Mode streng geteilt. So sang
es gestern von Langenburg her, dank dem Funker, der so freundlich war,
die Chorsymphonie, also die Kultur, die fürchterliche englische Jazzmusik,
also die »Zivilisation«, eine Weile übertönen zu
lassen.
In treuer und dankbarer Verehrung
André Fauconnet? (Oswald Spengler, Briefe, postum,
S. 521).
Der
Tod Eduard Meyers ist um so erschütternder, weil man aus der gesamten Presse
ersieht, daß im Grunde niemand seinen Rang geahnt hat und an seinem Schaffen
irgendwelches Interesse nahm. Jeder kleine Dutzendgelehrte, von Bühnenkünstlern,
Boxern und Verbrechern ganz zu schweigen, würde mit seinem Tode mehr Eindruck
gemacht haben. Ich fühle sogar, daß an den Universitäten im Grunde
genommen ein Aufatmen stattfand, weil nun der Mann verschwunden ist, an dessen
Maße gemessen sich die Arbeiten der anderen herzlich klein ausnahmen. [07.09.1930
an Hans Erich Stier] .... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 616).
Ich habe mir immer gedacht, daß Eduard Meyer zuletzt die
Konsequenzen seiner Einsichten auf das gesamte Gebiet der Geschichte ziehen
würde, und hoffte, daß er eines Tages darüber das
grundlegende Buch schreiben würde.. [10.11.1930 an Hans Erich Stier]
.... (Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 617).
Wenn man dem angeblichen sterbenden Bauerntum »den Arbeiter«,
das heißt den Fabrikarbeiter, als neuen Typus gegenüberstellt,
entfernt man sich von der Wirklichkeit und damit von jedem Einfluß
auf die Zukunft, die ganz andre Wege gehen wird. [25.09.1932 {}
an Ernst Jünger, der sein Buch Der Arbeiter mit einer
respektvollen Widmung (05.09.1932)
Spengler zugesandt hatte] .... (Oswald Spengler, Briefe,
postum, S. 667 f. ).
Sehr gehrter Herr Reichskanzler!
Ich erlaube mir, Ihnen heute ein Exemplar meines neuen Buches zugehen
zu lassen, das ich freundlich anzunehmen bitte. Ich würde es begrüßen,
wenn ich gelegentlich Ihr Urteil über diese Fragen mündlich
entgegennehmen könnte.
Mit sehr ergebenem Gruß
Ihr ... [18.08.1933 an Adolf Hitler] .... (Oswald Spengler, Briefe,
postum, S. 699).
In diesem Fall liegt die Sache so, daß ich mich aus bestimmten
Gründen noch nicht entschließen kann, eine französische
Übersetzung (des Buches »Jahre
der Entscheidung«; HB) zu
gestatten. Sie wissen ohne Zweifel, daß mein Buch bei einem Teil
der in Deutschland regierenden Partei mißverstanden worden ist ....
Da mir nichts ferner liegt als eine Handlungsweise, die man als Vernachlässigung
vaterländischer Pflichten auslegen könnte, so muß ich
bis auf weiteres das soll nicht heißen für immer
auf eine Übersetzung ins Französische verzichten ....
(Oswald Spengler, Briefe, postum, S. 721).
»Eine
Geschichte von der Art, wie Sie sie in ihren Briefen skizzieren, können zur
Zeit nur Sie schreiben.« [Hans Erich Stier am 30.04.1934] .... (Oswald
Spengler, Briefe, postum, S. 725).
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