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Moderne Weltstädte

 
  K o m m u n a l b a u t e n
[Die Seele der Stadt] [Neo-Stile und Ismen] [Rathaus und Markt] [Nichts Neues] [Megalomanische Patzer]
[Analogien] [Geist der Weltstadt] [Unfruchtbarkeit und Zerfall] [Zellenbau und Weltblasenbau] [Philosophie]

Prä-, peri- und postnatale Gegensätze

NACH OBEN  NACH OBEN

Für eine vorgeburtliche Kultur und ihre Mutterkultur sind ihre Differenzen als gefährliche Gegensätze noch in aller Tiefe erlebbar. (Vgl. 0-2 und 2-4 sowie 4-6). Die indogermanischen Mykener in Griechenland und Westkleinasien und die von ihnen eroberten (spät-) ägyptischen Minoier in Kreta erlebten sich auf gleiche oppositionelle Weise wie die abendländischen Germanen in Europa und Nordafrika und die von ihnen eroberten (spät-) antiken Christen im Römischen Reich. ( )

Urwüchsige Pfalzen und Burgen (mykenisch bzw. germanisch) der jeweiligen Urkultur standen weltstädtischen Palästen und Kultanlagen (minoisch bzw. christlich) der jeweiligen Spätzivilisation gegenüber. In jedem Fall gesellte sich zu dem tiefenstrukturell vorhandenen Seelenbild eine neue oberfächenstrukturelle „Mischung“. Allerdings muß sich auch eine geborene Kultur erst an die neue „Umwelt“ gewöhnen.

„In Karl dem Großen tritt jene Mischung urmenschlichen Seelentums kurz vor dem Erwachen und einer späten darüber gelagerten Geistigkeit hell zutage.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 657).

Wenn sich dann das Ursymbol in der erweiterten Kultursprache (Kultursymbolik) manifestiert, erscheint es aus der historischen Perspektive wie ein Wunder, wie auch die Geburt der Seele einer Stadt ein eigentliches Wunder ist. Sie sondert sich plötzlich aus dem allgemeinen Seelentum ihrer Kultur ab. Die Stadt wird dann derjenige seelische Ort, von dem aus der Mensch das Land als „Umgebung“ erlebt: verschieden und untergeordnet.Allerdings gibt es auch große Siedlungen, die keine Städte sind und es auch nicht sein können, weil sie keine Seele haben. Das Wesen „Stadt“ ist für diese Siedlungsbewohner nicht vorhanden, weil sie wie Bauern leben und denken.

Heute ist das Abendland selbst erwachsen und zu einer Spätkultur geworden; es bleibt also abzuwarten, ob es selbst oder eine andere, werdende Kultur in die Situation kommen wird, sich den neuen Gegensätzen zu stellen, um mit einem „Gegenüber“ in eine neue Ur- und Frühkultur zu starten. Deshalb und geleitet von Spenglers Motto „Weltgeschichte ist Stadtgeschichte“ wird sich der nun folgende Text mit der jüngsten Baugeschichte des Abendlandes beschäftigen, und zwar auf „kommunaler Ebene“.

 

NACH OBEN „Neo-Stile“ und „Ismen“

Schon die Verbindung der Baukunst mit der technischen Entwicklung besonders im Stahlgerüst- und Betonbau, dazu die neuen, auf ein Gesamtkunstwerk zielenden Bestrebungen des Jugendstils zeigten künstlerische Auswege aus dem Historismus auf und zogen als eine Art „Befreiung“ in rascher Folge eine große Zahl von revolutionären „Ismen“ nach sich. Aber die Baukunst ist ihrer Natur nach zu sehr zweckgebunden, ihrer Technik nach zu langsam, als daß sie allen - oft kurzlebigen - Strömungen der Kunst folgen oder ihnen mehr als die Aufgabe der Dekoration überlassen könnte. Der private Wohnungsbau des 20. Jahrhunderts nahm in seiner Breite an diesen Strömungen gar nicht teil. Es setzte sich der rationale geometrische Stil ohne Dekoration und Profile allgemein durch. (Vgl. Rationalismus).

In jeder Kulturgeschichte entsteht mit zunehmender Stadtbevölkerung und wachsendem Handel auch vermehrter Bedarf an Gebäuden für die Verwaltung. Die klassischen Formen, deren Geschichte insbesondere im Abendland noch gut ablesbar ist, sind Rathaus und Markt.

Stilistisch folgten die Kommunalbauten bis ins 19. Jahrhundert dem örtlichen oder landschaftlichen Stil des zeitgenössischen Bürgerbaus, den sie zwar meist repräsentativ überhöhten, dem sie aber selten oder nie voraneilten. Vielmehr bezogen sie ihr Dekor gern von etablierten Bauformen, meist vom Sakralbau, seit der Renaissance auch vom Palastbau. Die Differenzierung der Bevölkerung hatte aber besonders seit der Industrialisierung steigende soziale Bedürfnisse und Ansprüche sowie eine entsprechend ausgeweitete Verwaltung zur Folge. Heute zählen die Stadtverwaltungen in der Regel zu den größten Arbeitgebern innerhalb der Kommune, und ein Studium ihrer kiloschweren Haushaltspläne zeigt die Verästelung ihrer Einflußbereiche. So gut der Kindergarten und die Sparkasse, das Schwimmbad und die Verkehrsbetriebe städtisch sind, gehören auch der Kiosk im Stadtgarten und die öffentlichen Toiletten zu den Kommunalbauten. Aber auch manche Schloßanlage samt Park und manches Kloster aus alter Zeit haben nur überlebt, weil sie in ihrer Nutzung zu ausgelagerten Nebenstellen der Stadtverwaltung, Altersheimen oder anderen städtischen Institutionen geworden sind. Deshalb kann man kaum noch einen landschaftlichen oder gar nur einen örtlich einheitlichen Baustil für Kommunalbauten erwarten oder anstreben. Das stilistische Bemühen hat sich statt dessen auf die verwaltete Stadt verlagert und betätigt sich seitdem mit unterschiedlichem Glück auf den Gebieten der Stadtplanung, Bauaufsicht, Stadtsanierung und des Denkmalschutzes. Fehler sind schon allein wegen der mechanischen Haltbarkeit solcher Baumaßnahmen schwer korrigierbar geworden.

Die Kommune wurde dennoch neben Industrie und Staat gewichtiger Auftraggeber für Architekten. Das fehlende Postulat stilistischer Einheitlichkeit eröffnete ihnen die Chance, alle programmatischen und technischen Möglichkeiten phantasievoll durchzuspielen, die die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts im wesentlichen schon erschlossen hatte. (Vgl. „Ismen“). Ihre mehr oder weniger würdige Nachfolge fanden nach dem 2. Weltkrieg in zahlreichen Varianten die Ideen des Werkbundes, die Kuben des Bauhauses, die Flächen der Stijl-Bewegung, der Expressionismus Mendelsohns und die Erfindungen der großen Einzelgänger wie Le Corbusier und Alvar Aalto.

Wirklich Neues ist selten.
(Vgl. 20-22 und 22-24).


Auch wer die bewußt nach außen verlegten konstruktiven Gerüste des Pariser Centre Pompidou (1971-1977) befremdlich findet, kann ein Vorbild - wenn auch mit statischen Aspekten - im gotischen Strebewerk erkennen, das sich nicht weniger unverhüllt darbietet. Nach Form und Bauvolumen Ungewöhnliches wird - nicht anders als schon in der Antike - vor allem an den Massentreffpunkten populär. Jedoch:

 

„Jede Kultur hat ihren ganz bestimmten Grad von Esoterik und Popularität, der
ihren gesamten Leistungen innewohnt, soweit sie symbolische Bedeutung haben.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 419).
Die Antike war populär, weil nicht esoterisch.
Das Abendland ist esoterisch, weil nicht populär.

 

NACH OBEN Megalomanische Patzer und seelenloser Funktionalismus waren und sind dabei ebensowenig ausgeschlossen wie erdrückender Brutalismus und schlichter Kitsch. Nur selten sind moderne Kommunalbauten ein Gewinn für die Wohnqualität einer Stadt. Mehr noch: Seit die rationalistischen Architekten von Loos bis Gropius die Stadt zum Funktionsgefüge für Produktion erklärten, wurde der reguläre Wohnraum durch die Stadtplanung immer mehr reduziert. (Vgl. Rationalismus). Die Innenstadt, längst die Domäne von Kaufzentren und gewerblicher Verwaltung, wurde mit kommunalen Einrichtungen für Bildung (Schulen, Theater), Verkehr (Busbahnhof), Erholung (Sportanlage, Freizeitpark) zusätzlich vollgestopft. Die Menschen zogen in die Vorstädte und aufs Land:

 

Eine moderne Stadt ist nach Feierabend leer!

 

So gesehen, sind Probleme der kommunalen Architektur viel mehr sozialer als baustilistischer Natur. Aber eigentlich waren sie das schon immer. Nur daß städtische Baukunst in den Zeiten des guten alten, allen Bedürfnissen gerechten Rathauses diese Probleme mitlöste und nicht mitschuf.

 

Spektakel-Lehrsatz für alle moderne Kunst:

Voraussetzung für einen Platz in der
Kunstgeschichte ist die
Originalität!

Antike Analogien zur Antike (Abend-Kult-Uhr: 18-20 und 20-22 sowie 22-24). Abendland

Hellenismus
Der Antike fehlte nicht die Moderne an sich,
der Antike fehlte eine abendländische Moderne.
Industrielle Revolution

 

- Die Seele der Stadt -
(Oswald Spengler, 1918/1922)

- Weltgeschichte ist Stadtgeschichte -
(Oswald Spengler, 1918/1922)

„Es ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte Tatsache, daß alle großen Kulturen Stadtkulturen sind. Der höhere Mensch des zweiten Zeitalters ist ein städtebauendes Tier. Das ist das eigentliche Kriterium der »Weltgeschichte«, das sie von der Menschengeschichte überhaupt auf das Schärfste abhebt - Weltgeschichte ist die Geschichte des Stadtmenschen. Völker, Staaten, Politik und Religion, alle Künste, alle Wissenschaften beruhen auf einem Urphänomen menschlichen Daseins: der Stadt. Da alle Denker aller Kulturen selbst in Städten leben - auch wenn sie sich körperlich auf dem Lande befinden -, so wissen sie gar nicht, ein wie bizarres Ding die Stadt ist. Wir müssen uns ganz in das Erstaunen eines Urmenschen versetzen, der zum ersten Mal inmitten der Landschaft diese Masse von Stein und Holz erblickt, mit ihren steinumgebenen Straßen und steinbelegten Plätzen, ein Gehäuse von seltsamster Form, in dem es von Menschen wimmelt.“

„Das eigentliche Wunder ist die Geburt der Seele einer Stadt. Als Massenseele von ganz neuer Art, deren letzte Gründe für uns ein ewiges Geheimnis bleiben werden, sondert sie sich plötzlich ab aus dem allgemeinen Seelentum ihrer Kultur. Ist sie erwacht, so bildet sie sich einen sichtbaren Leib. Aus der dörflichen Sammlung von Gehöften, von denen jedes seine eigene Geschichte hat, entsteht ein Ganzes. Und diese Ganze lebt, atmet, wächst, erhält ein Antlitz, eine innere Form und Geschichte. Von nun ist außer dem einzelnen Hause, dem Tempel, dem Dom, dem Palast auch das Stadtbild als Einheit der Gegenstand einer Formensprache und Stilgeschichte, welche den ganzen Lebenslauf einer Kultur begleitet.“

„Es versteht sich, daß nicht der Umfang, sondern das Vorhandensein einer Seele Stadt und Dorf unterscheidet. Es gibt nicht nur in primitiven Zuständen wie im heutigen Inner-Afrika, sondern auch im späten China und Indien und in allen Industriegebieten des modernen Europa und Amerika sehr große Siedlungen, die trotzdem keine Städte sind. Sie sind Mittelpunkte des Landes, aber sie bilden innerlich keine Welt für sich. Sie haben keine Seele. Jede primitive Bevölkerung lebt durchaus bäuerlich und landmäßig. Das Wesen »Stadt« ist für sie nicht vorhanden. Was sich äußerlich vom Dorfe abhebt, ist nicht eine Stadt, sondern ein Markt, ein bloßer Treffpunkt ländlicher Lebensinteressen, bei welchem von einem Sonderleben keine Rede sein kann. Die Bewohner eines Marktes, auch wenn sie Handwerker oder Kaufleute sind, leben und denken doch als Bauern. Wir müssen genau nachfühlen, was es heißt, wenn aus einem urägyptischen, urchinesischen oder germanischen Dorf, einem Pünktchen im weiten Lande, eine Stadt wird, die sich äußerlich vielleicht durch nichts unterscheidet, die aber seelisch der Ort ist, von dem aus der Mensch das Land jetzt als »Umgebung« erlebt, als etwas anderes und Untergeordnetes. Von nun an gibt es zwei Leben, das drinnen und das draußen, und der Bauer empfindet das ebenso deutlich wie der Bürger. Der Dorfschmied und der Schmied in der Stadt, der Dorfschulze und der Bürgermeister leben in zwei verschiedenen Welten. Der Landmensch und der Stadtmensch sind vcrschiedene Wesen. Zuerst fühlen sie den Unterschied, dann werden sie von ihm beherrscht; zuletzt verstehen sie sich nicht mehr. Ein märkischer und ein sizilischer Bauer stehen sich heute näher als der märkische Bauer dem Berliner. Von dieser Einstellung an gibt es wirkliche Städte und diese Einstellung ist es, welche dem gesamten Wachsein aller Kulturen mit Selbstverständlichkeit zugrunde liegt.“

„Jede Frühzeit einer Kultur ist zugleich die Frühzeit eines neuen Städtewesens. Den Menschen der Vorkultur erfüllt eine tiefe Scheu vor diesen Gebilden, zu denen er innerlich kein Verhältnis gewinnen kann. Am Rhein und der Donau siedelten sich die Germanen vielfach - z. B. in Straßburg - vor den Toren der Römerstädte an, die unbewohnt liegen blieben. (Vgl. Georg Dehio, Geschichte der deutschen Kunst, 1919, S. 13f.). In Kreta haben die Eroberer auf dem Trümmerschutt der niedergebrannten Städte wie Gurnia und Knossos ein Dorf angelegt. Die Orden der abendländischen Vorkultur ... siedeln wie die Ritter auf freiem Lande. Erst die Franziskaner und Dominikaner bauen sich in den frühgotischen Städten an: da ist die neue Stadtseele eben erwacht. Aber auch da liegt in allen Bauten, in der gesamten Franziskanerkunst noch eine zarte Schwermut, eine fast mystische Furcht des einzelnen vor dem Neuen, Hellen, Wachen, das von der Gesamtheit noch dumpf hingenommen wird. Man wagt es kaum, kein Bauer mehr zu sein. Erst die Jesuiten leben mit dem reifen und überlegenen Wachsein echt großstädtischer Menschen. Es ist ein Symbol der unbedingten Vorherrschaft des Landes, das die Stadt noch nicht anerkennt, wenn die Herrscher jeder Frühzeit in wandernden Pfalzen Hof halten. Im ägyptischen Alten Reiche liegt der stark bevölkerte Verwaltungssitz an der »Weißen Mauer« beim Ptahtempel im späteren Memphis, aber die Residenzen der Pharaonen wechseln unaufhörlich wie im sumerischen Babylonien und im Karolingerreich. (Vgl. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums [I], 1884, S. 188). Die frühchinesischen Herrscher der Dschou-Dynastie haben seit 1109 ihre Pfalz in der Regel zu Loh-yang (heute Ho-nan-fu), aber erst seit 770, was unserem 16. Jahrhundert entspricht, wird der Ort zur dauernden Residenzstadt erhoben.“

„Nirgends hat sich das Gefühl der Erdverbundenheit, des Pflanzenhaft-Kosmischen so mächtig ausgesprochen wie in der Architektur dieser winzigen frühen Städte, die kaum mehr sind als ein paar Straßen um einen Markt, eine Burg oder ein Heiligtum. Wenn es irgendwo deutlich wird, daß jeder große Stil selbst eine Pflanze ist, so hier. Die dorische Säule, die ägyptische Pyramide, der gotische Dom wachsen streng, schicksalhaft, ein Dasein ohne Wachsein aus dem Boden; die ionische Säule und die Bauten des Mittleren Reiches und des Barock ruhen voll erwacht, selbstbewußt, frei und sicher auf ihm. Da ist, von den Mächten der Landschaft abgetrennt, durch das Pflaster unter den Füßen gleichsam abgeschnitten, das Dasein matter, das Empfinden und Verstehen immer mächtiger geworden. Der Mensch wird »Geist«, »frei« und dem Nomaden wieder ähnlicher, aber enger und kälter. »Geist« ist die spezifisch städtische Form des verstehenden Wachseins. Alle Kunst, alle Religion und Wissenschaft wird langsam geistig, dem Lande fremd, dem erdhaften Bauern unverständlich. Mit der Zivilisation tritt das Klimakterium ein. Die uralten Wurzeln des Daseins sind verdorrt in den Steinmassen ihrer Städte. Der freie Geist - ein verhängnisvolles Wort! - erscheint wie eine Flamme, die prachtvoll aufsteigt und jäh in der Luft verlodert.“

Oswald Spengler, 1918-1922

- Geist der Weltstadt -
(Oswald Spengler, 1918/1922)

„Der Steinkoloß »Weltstadt« steht am Ende des Lebenslaufes einer jeden großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht. Diese steinerne Masse ist die absolute Stadt. Ihr Bild, wie es sich mit seiner großartigen Schönheit in die Lichtwelt des menschlichen Auges zeichnet, enthält die ganze erhabene Todessymbolik des endgültig »Gewordenen«. Der durchseelte Stein gotischer Bauten ist im Verlauf einer tausendjährigen Stilgeschichte endlich zum entseelten Material dieser dämonischen Steinwüste geworden.

Diese letzten Städte sind ganz Geist. Ihre Häuser sind nicht mehr wie noch die der ionischen und Barockstädte Abkömmlinge des alten Bauernhauses, von dem einst die Kultur ihren Ausgang nahm. Sie sind überhaupt nicht mehr Häuser, in denen Vesta und Janus, die Penaten und Laren irgendeine Stätte besitzen, sondern bloße Behausungen, welche nicht das Blut, sondern der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der wirtschaftliche Unternehmensgeist geschaffen hat. Solange der Herd im frommen Sinne der wirkliche, bedeutsame Mittelpunkt einer Familie ist, solange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht geschwunden. Erst wenn auch das verloren geht und die Masse der Mieter und Schlafgäste in diesem Häusermeer ein irrendes Dasein von Obdach zu Obdach führt, wie die Jäger und Hirten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade völlig ausgebildet. Diese Stadt ist eine Welt, ist die Welt. Sie hat als Ganzes die Bedeutung einer menschlichen Wohnung. Die Häuser sind nur die Atome, welche sie zusammensetzen.

Jetzt beginnen die alten gewachsenen Städte mit ihrem gotischen Kern aus Dom, Rathaus und spitzgiebligen Gassen, um deren Türme und Tore die Barockzeit einen Ring von gesteigerten, helleren Patrizierhäusern, Palästen und Hallenkirchen gelegt hatte, nach allen Seiten in formloser Masse überzuquellen, mit Haufen von Mietskasernen und Zwecklbauten sich in das verödende Land hineinzufressen, das ehrwürdige Antlitz der alten Zeit durch Umbauten und Durchbrüche zu zerstören. Wer von einem Turm auf das Häusermeer herabsieht, erkennt in dieser steingewordenen Geschichte eines Wesens genau die Epoche, wo das organische Wachstum endet und die anorganische und deshalb unbegrenzte, alle Horizonte überschreitende Häufung beginnt. Und jetzt entstehen auch die künstlichen, mathematischen, vollkommenen landfremden Gebilde einer reingeistigen Freude am Zweckmäßigen, die Städte der Stadtbaumeister, die in allen Zivilisationen dieselbe schachbrettartige Form, das Symbol der Seelenlosigkeit anstreben. Diese regelmäßigen Häuserquadrate haben Herodot in Babylon und die Spanier in Tenochtitlan angestaunt. In der antiken Welt beginnt die Reihe der »abstrakten« Städte mit Thurioi, das Hippodamos von Milet 441 (v. Chr.) »entwarf«. Priene, wo das Schachbrettmuster die Bewegtheit der Grundfläche vollkommen ignoriert, Rhodos, Alexandria folgen als Vorbilder zahlloser Provinzstädte der Kaiserzeit. Die islamischen Baumeister haben seit 762 Bagdad und ein Jahrhundert später die Riesenstadt Samarra am Tigris planmäßig angelegt. In der westeuropäisch-amerikanischen Welt ist das erste Beispiel der Grundriß von Washington (1791). Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Weltstädte der Hanzeit in China und die der Maurya-Dynastie in Indien dieselben geometrischen Formen besessen haben. Die Weltstädte der westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation haben noch bei weitem nicht den Gipfel ihrer Entwicklung erlangt. Ich sehe - lange nach 2000 - Stadtanlagen für zehn bis zwanzig Millionen Menschen, die sich über weite Landschaften verteilen, mit Bauten, gegen welche die größten der Gegenwart zwerghaft wirken, und Verkehrsgedanken, die uns heute als Wahnsinn erscheinen würden.

Selbst in dieser letzten Gestalt seines Daseins ist das Formideal des antiken Menschen noch der körperliche Punkt. Während die Riesenstädte der Gegenwart unseren ganzen Hang zum Unendlichen zur Schau tragen: die Durchsetzung einer weiten Landschaft mit Vororten und Villenkolonien, ein mächtiges Netz von Verkehrsmitteln jeder Art nach allen Seiten und innerhalb des dicht bebauten Geländes ein geregelter Schnellverkehr in, unter und über breiten Straßenzügen, will die echt antike Weltstadt sich nicht ausbreiten, sondern immer mehr verdichten: die Straßen eng und schmal, jeden Eilverkehr ausschließend, wie er doch auf den römischen Heerstraßen voll ausgebildet war; keine Neigung, vor der Stadt zu wohnen oder auch nur die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Die Stadt soll auch jetzt noch ein Körper sein, dicht und rund, soma im strengsten Sinne. Der Synoikismos, der in der antiken Frühzeit allenthalben die Landbevölkerung in die Stadt gezogen und damit erst den Typus der Polis geschaffen hatte, wiederholt sich am Ende noch einmal in absurder Form: jeder will in der Mitte der Stadt wohnen, in ihrem dichtesten Kerne, sonst fühlt er sich nicht als Mensch einer Stadt. Alle diese Städte sind nur City, nur Innenstadt. Der neue Synoikismos bildet statt der Vorortzone die Welt der oberen Stockwerke aus. Rom hatte im Jahre 74 trotz der ungeheuren Kaiserbauten den geradezu lächerlichen Umfang von 19,5 km. Dies führt dahin, daß diese Körper überhaupt nicht in die Breite, sondern unablässig in die Höhe wuchsen. Die Mietskasernen Roms, wie die berüchtigte Insula Feliculae, erreichten bei einer Straßenbreite von 3-5 Metern Höhen, die im Abendlande noch nirgends und in Amerika nur in wenigen Städten vorkommen. Beim Capitol hatten unter Vespasian die Dächer schon die Höhe des Bergsattels erreicht. Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwischen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte. Das ist in Bagdad und Babylon nicht anders gewesen wie in Tenochtitlan und heute in London und Berlin. Diodor erzählt von einem abgesetzten ägyptischen König, der zu Rom in einer jämmerlichen Mietswohnung in einem hochgelegenen Stockwerk hausen mußte.

Aber kein Elend, kein Zwang, selbst nicht die klare Einsicht in den Wahnsinn dieser Entwicklung setzt die Anziehungskraft dieser dämonischen Gebilde herab. Das Rad des Schicksals rollt dem Ende zu; die Geburt der Stadt zieht ihren Tod nach sich. Anfang und Ende, Bauernhaus und Häuserblock verhalten sich wie Seele und Intelligenz, wie Blut und Stein. Aber »Zeit« ist nicht umsonst ein Wort für die Tatsache der Nichtumkehrbarkeit. Es gibt hier nur ein Vorwärts, kein Zurück. Das Bauerntum gebar einst den Markt, die Landstadt, und nährte sie mit seinem besten Blute. Nun saugt die Riesenstadt das Land aus, unersättlich, immer neue Ströme von Menschen fordernd und verschlingend, bis sie inmitten einer kaum noch bevölkerten Wüste ermattet und stirbt. Wer einmal der ganzen sündhaften Schönheit dieses letzten Wunders aller Geschichte verfallen ist, der befreit sich nicht wieder. Ursprüngliche Völker können sich vom Boden lösen und in die Ferne wandern. Der geistige Nomade kann es nicht mehr. Das Heimweh nach der großen Stadt ist stärker vielleicht als jedes andere. Heimat ist für ihn jede dieser Städte, Fremde ist schon das nächste Dorf. Man stirbt lieber auf dem Straßenpflaster, als daß man auf das Land zurückkehrt. Und selbst der Ekel vor dieser Herrlichkeit, das Müdesein vor diesem Leuchten in tausend Farben, das taedum vitae, das zuletzt manche ergreift, befreit sie nicht. Sie tragen die Stadt mit sich in ihre Berge und an das Meer. Sie haben das Land in sich verloren und finden es draußen nicht wieder.

Was den Weltstadtmenschen unfähig macht, auf einem anderen als diesem künstlichen Boden zu leben, ist das Zurücktreten des kosmischen Taktes in seinem Dasein, während die Spannungen des Wachseins immer gefährlicher werden. Man vergesse nicht, daß in einem Mikrokosmos die tierhafte Seite, das Wachsein, zum pflanzenhaften Dasein hinzutritt, nicht umgekehrt. Takt und Spannung, Blut und Geist, Schicksal und Kausalität verhalten sich wie das blühende Land zur versteinerten Stadt, wie etwas, das für sich da ist, zu einem andern, das von ihm abhängt. Spannung ohne den kosmischen Takt, der sie durchseelt, ist der Übergang zum Nichts. Aber Zivilisation ist nichts als Spannung. Die Köpfe aller zivilisierten Menschen von Rang werden ausschließlich von dem Ausdruck der stärksten Spannung beherrscht. Intelligenz ist nichts als Fähigkeit zu angespanntestem Verstehen. Diese Köpfe sind in jeder Kultur der Typus ihres »letzten Menschen«. Man vergleiche damit Bauernköpfe, wenn sie im Straßengewühl einer Großstadt auftauchen. Der Weg von der bäuerlichen Klugheit - der Schlauheit, dem Mutterwitz, dem Instinkt, die wie bei allen klugen Tieren auf gefühltem Takt beruhen - über den städtischen Geist zur weltstädtischen Intelligenz - das Wort gibt schon in dem scharfen Klange die Abnahme der kosmischen Unterlage vortrefflich wieder - läßt sich auch als die beständige Abnahme des Schicksalsgefühls und die hemmungslose Zunahme des Bedürfnisses nach Kausalität bezeichnen. Intelligenz ist der Ersatz unbewußter Lebenserfahrung durch eine meisterhafte Übung im Denken, etwas Fleischloses, Mageres. Die intelligenten Gesichter aller Rassen sind einander ähnlich. Es ist die Rasse selbst, die in ihnen zurücktritt. Je weniger ein Gefühl für das Notwendige und Selbstverständliche des Daseins besteht, je mehr die Gewohnheit um sich greift, sich alles »klar zu machen«, desto mehr wird die Angst des Wachseins kausal gestillt. Daher die Gleichsetzung von Wissen und Beweisbarkeit und der Einsatz des religiösen Mythos durch den kausalen: die wissenschaftliche Theorie. Daher das abstrakte Geld als die reine Kausalität des wirtschaftlichen Lebens im Gegensatz zum ländlichen Güterverkehr, der Takt ist und nicht ein System von Spannungen.

Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die spezifisch weltstädtische Form der Erholung; die Entspannung, die »Zerstreuung«. Das echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der Rausch sind aus dem kosmischen Takt geboren und werden in ihrem Wesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung intensivster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewußtsein betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des »Vergnügens« und die geistige der »Aufregung« des Spiels und der Wette, der Ersatz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch die mit Bewußtsein genossene Mystik - das kehrt in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder. Kino, Expressionismus, Theosophie, Boxkämpfe, Niggertänze, Poker und Rennwetten - man wird das alles in Rom wiederfinden, und ein Kenner sollte einmal die Untersuchung auf die indischen, chinesischen und arabischen Weltstädte ausdehnen. Um nur eins zu nennen: wenn man das Kamasutram liest, versteht man, was für Leute am Buddhismus ebenfalls Geschmack fanden; und man wird nun auch die Stierkampfszenen in den kretischen Palästen mit ganz anderem Auge betrachten. Es liegt ein Kult zugrunde, ohne Zweifel, aber es ist ein Parfüm darüber gebreitet wie über den fashionablen stadtrömischen Isiskult in der Nachbarschaft des Circus Maximus.“
Oswald Spengler, 1918-1922

- Unfruchtbarkeit und Zerfall -
(Oswald Spengler, 1918/1922)

„Und nun geht aus der Tatsache, daß das Dasein immer wurzelloser, das Wachsein immer angespannter wird, endlich jene Erscheinung hervor, die im stillen längst vorbereitet war und jetzt plötzlich in das helle Licht der Geschichte rückt, um dem ganzen Schauspiel ein Ende zu bereiten: die Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen. Es handelt sich hier nicht um etwas, das sich mit alltäglicher Kausalität, etwa physiologisch, begreifen ließe, wie es die moderne Wissenschaft selbstverständlich versucht hat. Hier liegt eine durchaus metaphysische Wendung zum Tode vor. Der letzte Mensch der Weltstädte will nicht mehr leben, wohl als einzelner, aber nicht als Typus, als Menge; in diesem Gesamtwesen erlischt die Furcht vor dem Tode. Das, was den echten Bauern mit einer tiefen und unerklärlichen Angst befällt, der Gedanke an das Aussterben der Familie und des Namens, hat seinen Sinn verloren. Die Fortdauer des verwandten Blutes innerhalb der sichtbaren Welt wird nicht mehr als Pflicht dieses Blutes, das Los, der Letzte zu sein, nicht mehr als Verhängnis empfunden. Nicht nur weil Kinder unmöglich geworden sind, sondern vor allem weil die bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet, bleiben sie aus.

Man versenke sich in die Seele eines Bauern, der von Urzeiten her auf seiner Scholle sitzt oder von ihr Besitz ergriffen hat, um dort mit seinem Blute zu haften. Er wurzelt hier als der Enkel von Ahnen und der Ahn von künftigen Enkeln. Sein Haus, sein Eigentum: das bedeutet hier nicht ein flüchtiges Zusammengehören von Leib und Gut für eine kurze Spanne von Jahren, sondern ein dauerndes und inniges Verbundensein von ewigem Land und ewigem Blute: erst damit, erst aus dem Seßhaftwerden im mystischen Sinne erhalten die großen Epochen des Kreislaufs, Zeugung, Geburt und Tod jenen metaphysischen Zauber, der seinen sinnbildlichen Niederschlag in Sitte und Religion aller landfesten Bevölkerungen findet. Das alles ist für den »letzten Menschen« nicht mehr vorhanden. Intelligenz und Unfruchtbarkeit sind in alten Familien, alten Völkern, alten Kulturen nicht nur deshalb verbunden, weil innerhalb jedes einzelnen Mikrokosmos die über alles Maß angespannte tierhafte Lebensseite die pflanzenhafte aufzehrt, sondern weil das Wachsein die Gewohnheit einer kausalen Regelung des Daseins annimmt. Was der Verstandesmensch mit einem äußerst bezeichnenden Ausdruck Naturtrieb nennt, wird von ihm nicht nur »kausal« erkannt, sondern auch gewertet und findet im Kreise seiner übrigen Bedürfnisse den angemessenen Platz.

Die große Wendung tritt ein, sobald es im alltäglichen Denken einer hochkultivierten Bevölkerung für das Vorhandensein von Kindern »Gründe« gibt.

Die Natur kennt keine Gründe. Überall, wo es wirkliches Leben gibt, herrscht eine innere organische Logik, ein »es«, ein Trieb, die vom Wachsein und dessen kausalen Verkettungen durchaus unabhängig sind und von ihm gar nicht bemerkt werden. Der Geburtenreichtum ursprünglicher Bevölkerungen ist eine Naturerscheinung, über deren Vorhandensein niemand nachdenkt, geschweige denn über ihren Nutzen oder Schaden. Wo Gründe für Lebensfragen überhaupt ins Bewußtsein treten, da ist das Leben schon fragwürdig geworden. Da beginnt eine weise Beschränkung der Geburtenzahl - die bereits Polybios (ca. 200-120) als das Verhängnis Griechenlands beklagt, die aber schon lange vor ihm in den großen Städten üblich war und in römischer Zeit einen erschreckenden Umfang angenommen hat -, die zuerst mit der materiellen Not und sehr bald überhaupt nicht mehr begründet wird. Da beginnt denn auch ... die Wahl der »Lebensgefährtin« - der Bauer und jeder ursprüngliche Mensch wählt die Mutter seiner Kinder - ein geistiges Problem zu werden. Die Ibsenehe, die »höhere geistige Gemeinschaft« erscheint, in welcher beide »frei« sind, frei nämlich als Intelligenzen, und zwar vom pflanzenhaften Drange des Blutes, das sich fortpflanzen will; und Shaw darf den Satz aussprechen, »daß die Frau sich nicht emanzipieren kann, wenn sie nicht ihre Weiblichkeit, ihre Pflicht gegen ihren Mann, gegen ihre Kinder, gegen die Gesellschaft, gegen das Gesetz und gegen jeden, außer gegen sich selbst, von sich wirft«. (George Bernard Shaw, Ein Ibsenbrevier, 1891, S. 57). Das Urweib, das Bauernweib ist Mutter. Seine ganze von Kindheit an ersehnte Bestimmung liegt in diesem Worte beschlossen. Jetzt aber taucht das Ibsenweib auf, die Kameradin, die Heldin einer ganz weltstädtischen Literatur vom nordischen Drama bis zum Pariser Roman. Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, sich »gegenseitig zu verstehen«. Es ist ganz gleichgültig, ob eine amerikanische Dame für ihre Kinder keinen zureichenden Grund findet, weil sie keine season versäumen will, eine Pariserin, weil sie fürchtet, daß ihr Liebhaber davongeht, oder eine Ibsenheldin, weil sie »sich selbst gehört«. Sie gehören alle sich selbst und sie sind alle unfruchtbar. Dieselbe Tatsache in Verbindung mit denselben »Gründen« findet sich in der alexandrinischen und römischen und selbstverständlich in jeder anderen zivilisierten Gesellschaft, ... und es gibt überall ... eine Ethik für kinderarme Intelligenzen und eine Literatur über die inneren Konflikte von Nora und Nana.

Kinderreichtum, dessen ehrwürdiges Bild Goethe im Werther noch zeichnen konnte, wird etwas Provinziales. Der kinderreiche Vater ist in Großstädten eine Karikatur - Ibsen hat sie nicht vergessen; sie steht in seiner »Komödie der Liebe«.

Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land, das durch die über alles Maß anwachsende Landflucht seiner besten Bevölkerung eine Zeitlang das Leerwerden der Städte verzögert. Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig, aber seiner starken und zukunftreichen Elemente beraubt. Es entsteht der Typus des Fellachen.

Wenn irgend etwas, so beweist der allbekannte »Untergang der Antike«, der sich lange vor dem Einbruch der germanischen Wandervölker vollendete, daß Kausalität mit Geschichte nichts zu tun hat. (Zum Folgenden vgl. Eduard Meyer, Kleine Schriften, 1910, S. 145ff.). Das Imperium genießt den vollkommensten Frieden; es ist reich; es ist hochgebildet; es ist gut organisiert; es besaß von Nerva (reg. 96-98) bis Marc Aurel (reg. 161-180) eine Herrscherreihe, wie sie der Cäsarismus keiner zweiten Zivilisation aufzuweisen hat. Und trotzdem schwindet die Bevölkerung rasch und in Masse hin, trotz der verzweifelten Ehe- und Kindesgesetzgebung des Augustus (reg. 27 v. Chr. - 14 n. Chr.), dessen lex de maritandis ordinibus auf die römische Gesellschaft bestürzender wirkte als die Niederlage des Varus (9 n. Chr.), trotz der massenhaften Adoptionen, der ununterbrochenen Ansiedlung von Soldaten barbarischer Herkunft, um Menschen in die verödende Landschaft zu bringen, trotz der ungeheuren Alimentationsstiftungen des Nerva (reg. 96-98) und Trajan (reg. 98-117), um die Kinder unbemittelter Eltern aufzuziehen. Italien, dann Nordafrika und Gallien, endlich Spanien, das unter den ersten Kaisern am dichtesten von allen Teilen des Reiches bevölkert war, sind menschenleer und verödet. Das berühmte und bezeichnenderweise in der modernen Volkswirtschaft immer wiederholte Wort des Plinius: latifundia perdidere Italiam, jam vero et provincias, verwechselt Anfang und Ende des Prozesses: der Großgrundbesitz hätte nie diese Ausdehnung gewonnen, wenn das Bauerntum nicht vorher von den Städten aufgesogen worden wäre und das Land zum mindesten innerlich bereits preisgegeben hätte. Das Edikt des Pertinax von 193 enthüllt endlich den erschreckenden Stand der Dinge: In Italien und den Provinzen wird jedem gestattet, verödetes Land in Besitz zu nehmen. Wenn er es bebaut, soll er Eigentumsrecht darüber erhalten. Die Geschichtsschreiber brauchten sich den übrigen Zivilisationen nur ernsthaft zuzuwenden, um die gleiche Erscheinung überall festzustellen. Im Hintergrund der Ereignisse des Neuen Reiches, vor allem von der 19. Dynastie an (seit 1345 v. Chr.), ist eine gewaltige Abnahme der Bevölkerung deutlich zu verspüren. Ein Stadtbau, wie ihn Amenophis IV. (reg. 1377-1358) in Tell el Amarna ausführte, mit Straßenzügen bis zu 45 m Breite, wäre bei der früheren Bevölkerungsdichte undenkbar gewesen, und ebenso die notdürftige Abwehr der »Seevölker«, deren Aussichten auf Besitznahme des Reiches damals sicherlich nicht schlechter waren als die der Germanen vom 4. Jahrhundert an, und endlich die unaufhörliche Einwanderung der Libyer in das Delta, wo um 945 v. Chr. einer ihrer Führer (Scheschonk) - genau wie 476 n. Chr. Odoaker - die Herrschaft über das Reich an sich nahm. Aber dasselbe fühlt man aus der Geschichte des politischen Buddhismus seit dem »Cäsar« Asoka (reg. 272-231 in Indien) heraus. (Wir kennen in China im 3. Jh. v. Chr. - also in der chinesischen Augustuszeit!-  Maßnahmen zur Hebung der Bevölkerungsziffer). Wenn die Mayabevölkerung in ganz kurzer Zeit nach der spanischen Eroberung geradezu verschwand und die großen menschenleeren Städte dem Urwald anheimfielen, so beweist das nicht allein die Brutalität der Eroberer, die in diesem Punkte einer jungen und fruchtbaren Kulturmenschheit gegenüber wirkungslos gewesen wäre, sondern ein Erlöschen von innen heraus, das ohne Zweifel schon längst begonnen hatte. Und wenn wir uns der eigenen Zivilisation zuwenden, so sind die alten Familien des französischen Adels zum weitaus größten Teil nicht durch die französische Revolution ausgerottet worden, sondern seit 1815 ausgestorben; die Unfruchtbarkeit breitete sich von ihm auf das Bürgertum und seit 1870 auf die gerade durch die Revolution fast neugeschaffene Bauernschaft aus. In England und noch weit mehr in den Vereinigten Staaten, und zwar gerade in deren wertvollster, alteingewanderter Bevölkerung im Osten, hat der »Rasseselbstmord«, gegen den Roosevelt sein bekanntes Buch geschrieben hat, längst im großen Stile eingesetzt.

Deshalb finden wir auch in diesen Zivilisationen schon früh die verödeten Provinzstädte und am Ausgang der Entwicklung die leerstehenden Riesenstädte, in deren Steinmassen eine kleine Fellachenbevölkerung nicht anders haust als die Menschen der Steinzeit in Höhlen und Pfahlbauten. Samarra wurde schon im 10. Jahrhundert verlassen; die Residenz Asokas, Pataliputra, war, als der chinesische Reisende Hsiuen-tsiang sie um 635 besuchte, eine ungeheure, völlig unbewohnte Häuserwüste, und viele der großen Mayastädte müssen schon zur Zeit des Cortez leer gestanden haben. Wir besitzen eine Reihe antiker Schilderungen von Polybios (ca. 200-120) an (vgl. Polybios, Strabo, Pausanias, Dio Chrysostomus, Avien u.a., vgl. dazu: Eduard Meyer, Kleine Schriften, 1910, S. 164ff.): die altberühmten Städte, deren leerstehende Häuserreihen langsam zusammenstürzen, während auf dem Forum und im Gymnasium Viehherden weiden und im Amphitheater Getreide gebaut wird, aus dem noch die Statuen und Hermen hervorragen. Rom hatte im 5. Jahrhundert die Einwohnerzahl eines Dorfes, aber die Kaiserpaläste waren noch bewohnbar.

Damit findet die Geschichte der Stadt ihren Abschluß. Aus dem usprünglichen Markt zur Kulturstadt und endlich zur Weltstadt herangewachsen, bringt sie das Blut und die Seele ihrer Schöpfer dieser großartigen Entwicklung und deren letzter Blüte, dem Geist der Zivilisation zum Opfer und venichtet damit zuletzt auch sich selbst.

Bedeutet die Frühzeit die Geburt der Stadt aus dem Lande, die Spätzeit (eher: Hochzeit; HB) den Kampf zwischen Stadt und Land, so ist Zivilisation (Spätzeit; HB) der Sieg der Stadt, mit dem sie sich vom Boden befreit und an dem sie selbst zugrunde geht. Wurzellos, dem Kosmischen abgestorben und ohne Widerruf dem Stein und dem Geiste verfallen, entwickelt sie eine Formensprache, die alle Züge ihres Wesens wiedergibt: nicht die eines Werdens, sondern die eines Gewordenen, eines Fertigen, das sich wohl verändern, aber nicht entwickeln läßt. Und deshalb gibt es nur Kausalität, kein Schicksal, nur Ausdehnung, keine lebendige Richtung mehr. Daraus folgt, daß jede Formensprache einer Kultur samt der Geschichte ihrer Entwicklung am ursprünglichen Orte haftet, daß aber jede zivilisierte Form überall zu Hause ist und deshalb, sobald sie erscheint, auch einer unbegrenzten Verbreitung anheimfällt. Gewiß haben die Hansestädte in ihren nordrussischen Stapelplätzen gotisch und die Spanier in Südamerika im Barockstil gebaut, aber es ist unmöglich, daß auch nur der kleinste Abschnitt der gotischen Stilgeschichte außerhalb Westeuropas verlaufen wäre, und ebensowenig konnte der Stil des attischen und englischen Dramas oder die Kunst der Fuge oder die Religion Luthers und der Orphiker von Menschen fremder Kulturen fortgebildet oder auch nur innerlich angeeignet werden.

Was aber mit dem Alexandrinismus und unserer Romantik entsteht, das gehört allen Stadtmenschen ohne Unterschied. Mit der Romantik beginnt für uns das, was Goethe weitschauend die Weltliteratur nannte; es ist die führende weltstädtische Literatur, der gegenüber sich eine bodenständige, aber belanglose Provinzliteratur überall nur mit Mühe behauptet. Der Staat Venedigs oder Friedrichs des Großen oder das englische Parlament, so wie es wirklich ist und arbeitet, lassen sich nicht wiederholen, aber »moderne Verfassungen« lassen sich in jedem afrikanischen und asiatischen Lande ... »einführen«. .... Und ebenso sind nicht echte Kultursprachen wie das Attische des Sophokles und das Deutsch Luthers aber die Weltsprachen, die sämtlich wie die griechische Koine, das Arabische, Babylonische, Englische aus der alltäglichen Praxis der Weltstädte hervorgegangen sind, überall erlernbar. Deshalb nehmen in allen Zivilisationen die modernen Städte ein immer gleichförmigeres Gepräge an. Man kann gehen, wohin man will, man trifft Berlin, London und New York überall wieder; und wenn ein Römer reiste, konnte er in Palmyra, Trier, Timgad und in den hellenistischen Städten bis zum Indus und Aralsee seine Säulenstellungen, statuengeschmückten Plätze und Tempel finden. Was aber hier verbreitet wird, ist nicht mehr ein Stil, sondern ein Geschmack, keine echte Sitte, sondern Manieren, und nicht die Tracht, sondern die Mode. Damit ist es denn möglich, daß ferne Bevölkerungen die »ewigen Errungenschaften« einer solchen Zivilisation nicht nur annehmen, sondern in selbständiger Fassung weiterstrahlen. Solche Gebiete einer »Mondlichtzivilisation« sind Südchina und vor allem Japan, die erst seit dem Ausgang der Hanzeit (220) »sinaisiert« wurden, Java als Verbreiterin der brahmanischen Zivilisation und Karthago, das seine Formen von Babylon empfing.

Alles das sind Formen eines extremen, von keiner kosmischen Macht mehr gehemmten und gebundenen Wachseins, rein geistig und rein extensiv und deshalb von einer solchen Gewalt der Ausbreitung, daß die letzten und flüchtigsten Austrahlungen sich fast über die ganze Erde verbreitet und übereinander gelegt haben.

Während aber diese Ausbreitung alle Grenzen überschreitet, vollzieht sich und zwar in großartigen Verhältnissen die Ausbildung der inneren Form in drei deutlich unterscheidbaren Stufen: Ablösung von der Kultur - Reinzucht der zivilisierten Form - Erstarrung.

Die letzte, die Idee der Zivilisation selbst, ist im Umriß formuliert und ebenso sind Technik und Wirtschaft im Problemsinne fertig. Aber damit beginnt erst die mächtige Arbeit der Ausführung aller Forderungen und der Anwendung dieser Formen auf das gesamte Dasein der Erde. Erst wenn diese Arbeit getan und die Zivilisation nicht nur ihrer Gestalt, sondern auch ihrer Masse nach endgültig festgestellt ist, beginnt das Festwerden der Form. Stil ist in Kulturen der Pulsschlag des Sicherfüllens. Jetzt entsteht ... der zivilisierte Stil als Ausdruck des Fertigseins. Er ist vor allem in Ägypten und China zu einer prachtvollen Vollkommenheit gelangt, die alle Äußerungen eines im Innern von nun an unveränderlichen Lebens vom Zeremoniell und Ausdruck der Gesichter an bis zu den äußersten feinen und durchgeistigten Formen einer Kunstübung erfüllt.

Von Geschichte im Sinne des Zutreibens auf ein Formideal kann nicht mehr die Rede sein, aber es herrscht eine beständige leichte Bewegtheit der Oberfläche, welche der ein für allemal gegebenen Sprache immer wieder kleine Fragen und Lösungen artistischer Art ablockt. Darin besteht die gesamte uns bekannte »Geschichte« der chinesisch-japanischen Malerei und der indischen Architektur. Und ebenso wie diese Scheingeschichte sich von der wirklichen des gotischen Stils, so unterscheidet sich der Ritter der Kreuzzüge von dem chinesischen Mandarin als der werdende von dem fertigen Stand. Der eine ist Geschichte, der andere hat sie längst überwunden. Denn, wie schon festgestellt wurde, die Geschichte dieser Zivilisationen ist Schein und ebenso die großen Städte, deren Antlitz sich fortwährend verändert, ohne anders zu werden. Und ein Geist dieser Städte ist nicht vorhanden. Sie sind Land in steinerner Form.

Was geht hier unter?  Und was bleibt ?  Es ist ein bloßer Zufall, daß germanische Völker unter dem Druck der Hunnen die romanische Landschaft besetzten und damit die Entwicklung des »chinesischen« Endzustandes der Antike abbrachen. Den Seevölkern, die seit 1400 v. Chr. in einer bis ins einzelne gleichartigen Wanderung gegen die ägyptische Welt vordrangen, glückte es nur im kretischen Inselgebiet. Ihre mächtigen Züge an der libyschen und phönikischen Küste unter Begleitung von Wikingerflotten sind ebenso gescheitert wie die der Hunnen gegen China. So ist die Antike das einzige Beispiel einer im Augenblick ihrer vollen Reife abgebrochenen Zivilisation. Trotzdem haben die Germanen nur die Oberfläche der Fromen zerstört und durch das Leben ihrer eigenen Vorkultur ersetzt. Die »ewige« Unterschicht erreicht man nicht. Sie bleibt, versteckt und durch eine neue Formensprache vollständig überzogen, im Untergrunde der ganzen folgenden Geschichte bestehen ....“
Oswald Spengler, 1918-1922
„Weltgeschichte ist die Geschichte der großen Kulturen. Und Völker sind nur die sinnbildlichen Formen, in welche zusammengefaßt der Mensch dieser Kulturen sein Schicksal erfüllt. In jeder dieser Kulturen ... - ob unser Wissen dahin reicht oder nicht - gibt es eine Gruppe großer Völker von ein und demselben Stil, die am Eingang der Frühzeit entsteht und die, Staaten bildend und Geschichte tragend, im ganzen Lauf der Entwicklung auch die ihr zugrunde liegende Form einem Ziel entgegenführt.“
Oswald Spengler, 1918-1922

- Geburtenrückgang -
(Richard Korherr, 1927)

„Erst die wirtschaftliche Entwicklung seit Ende des 18. Jahrhunderts brachte eine vollkommne Wandlung. Die wirtschaftliche Seite des Lebens trat allmählich in den Vordergrund und wurde Selbstzweck. Wirtschaftliche Motive begannen bei der Kindererzeugung mitzusprechen.

Die ersten Anzeichen des abendländischen Geburtenrückgangs machten sich um 1800 in ... Frankreich ... bemerkbar. Die große Revolution, die hier den Übergang von der innerlichen Kultur ... zur ... Zivilisation vermittelte, bedeutet gewissermaßen auch den Wendepunkt von der Fruchtbarkeit zur Unfruchtbarkeit des französischen Volkes.

Geburtenrückgang in Frankreich
1783 / 17891801 / 18101811 / 18201821 / 18301831 / 18401841 / 18501851 / 18601861 / 18701871 / 18801881 / 18901891 / 19001901 / 19101911 / 1913
38,432,231,630,829,027,426,326,325,423,922,120,718,8
Geburtenrückgang in Frankreich
 1921  1924  1925   2003 *Prozentualer Geburtenrückgang1783/1789 - 1871/18801871/1880 - 19251925 - 2003 *
20,719,219,6  13,0 *1783/1789 - 2003: 66% *34%23%34% *
* Angaben für 2003 von Hubert Brune; Quelle: Fischer Weltalmanach, 2006, S. 504
Man hielt den Geburtenrückgang anfangs für eine typisch französische Erscheinung. Die Tatsachen widerlegen diese Ansicht. Um die 1870er Jahre griff der Geburtenrückgang allmählich auch auf die anderen Staaten des Abendlandes über. Die Entwicklung der Geburtenverhältnisse der bedeutendsten Staaten Europas und einiger außereuropäischer Länder war seit 1871 folgender:
Geburtenraten
seit 1871
1871 / 18801881 / 18901891 / 19001901 / 19101911 / 1913 1921  1924  1925 Prozentualer
Geburtenrückgang
1871/1880 - 1925
  2003 *Prozentualer
Geburtenrückgang
1871/1880 - 2003
*
Deutschland39,136,836,133,429,025,320,520,647%10,074%
England35,532,530,027,224,022,418,918,348%12,066%
Schottland34,932,330,728,025,725,221,921,339%12,066%
    Frankreich *25,423,922,120,718,820,719,219,623%13,049%
Schweden30,529,027,125,823,721,418,117,543%11,061%
Schweiz30,828,128,727,423,820,818,718,440%10,068%
Belgien32,730,228.926,723,121,919,919,740%11,066%
Norwegen30,930,830,327,625,623,921,720,035%12,061%
Dänemark31,531,930,228,726,724,021,921,133%12,062%
Niederlande36,434,232,530,728,027,425,124,234%12,067%
Italien36,937,834,932,531,930,328,227,525%  9,076%
Ungarn43,444,240,536,835,431,826,827,736%10,077%
Spanien37,936,234,834,531,230,029,929,323%10,074%
Rumänien35,041,440,640,042,637,436,236,2+ 3% 10,071%
Rußland49,347,247,143,943,737,242,7Die Zahlen von 1921 an sind unbrauchbar!
Massachusetts27,227,026,026,525,623,722,3Keine Angaben
Australien36,834,829,426,627,425,023,222,938%13,065%
* Frankreich mit Geburtendefizit !  * Angaben für 2003 von Hubert Brune; Quelle: Fischer Weltalmanach, 2006, S. 504

In fast allen angeführten Staaten geht die Geburtenziffer fast stetig zurück. Die Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1920 ist in der Tabelle ausgeschaltet, da sie anormale Verhältnisse bedeutet, die in eine Untersuchung des typischen Verlaufs des Geburtenrückgangs nur Verwirrung bringen. .... Ohne Elsaß-Lothringen betrug 1924 Frankreichs Geburtenziffer 19,0, war also immer noch um 0,2 höher als 1913, wo sie 18,8 betragen hatte. Diese Erhöhung findet ihre Erklärung in der seit dem Kriege massenhaften Zuwanderung von Fremden, ... die große Fruchtbarkeit entwickeln. 1926 ist nun die französische Geburtenziffer auf den Vorkriegsstand von 18,8 gesunken.

Auch die absolute Zahl der Geburten zeigt bereits einen Rückgang. So in Deutschland, Frankreich, England und vielen Kleinstaaten. .... Einige Geburtenzahlen seit dem Kriege seien hier angeführt:

im Jahre in

Deutschland

   England *

Frankreich

Italien

Spanien

Ungarn
1920

1599287

957782

834411

1158041

623339

258751
192115604478488148133961118344648892255453
192214042157801247598461127444656093249279
192312974497581317618611107505660776238971
192412708207300847521011123260652900221462
192512924997112877689831107736644700235480
19261226342694897766226-662612224716
Erwähnt sei, daß Deutschland in verschiedenen Vorkriegsjahren schon über 2 Millionen Geburten gezählt hat.

Der Geburtenrückgang hat sich in seinen Folgen bisher noch nicht so bemerkbar gemacht, weil gleichzeitig die Sterblichkeit gewaltig nachgelassen hat. Der Geburtenüberschuß zeigt aber in fast allen Staaten des Abendlandes bereits einen bedenklichen Rückgang. So betrug der Geburtenüberschuß z.B. in

 

1920

1921

1922

1923

1924

19251926
Deutschland

666358

700248

523589

439551

508878

546426491366
Frankreich159790117023  70579  84871  72216   60064  52768
   England *491652390185293344313766257016237973241102
Italien459926476110467033481052462240438764-

Die Mediziner und Staatswissenschaftler führen an, daß durch den Rückgang der Kindersterblichkeit heute (1920er Jahre) bei der beschränkten Geburtenzahl dieselbe Zahl von Neugeborenen am Leben bleibt, wie früher bei hoher Geburtenzahl und großer Kindersterblichkeit. Sie treten daher für Geburtenbeschränkung und zugleich für Eindämmung der Kindersterblichkeit ein. Man wünscht einen möglichst kleinen Volksumsatz.

Es ist aber falsch, die Fortpflanzung auf das Wirtschaftliche zu übertragen und eine rationelle Kindererzeugung zu vertreten. Eine kleine Kinderzahl ist wohl nach heutigen Begriffen angenehm, aber von ungeheurem Schaden. Die wenigen Kinder, die erzeugt werden, werden selbst bei angeborener Lebensschwäche mit allen Mitteln ärztlicher Kunst aufgezüchtet und kosten dann viel mehr als viele Kinder und natürliche Auslese. Die Schwächlichen und Kranken, besonders die Arbeitsunfähigen werden dadurch ... immer zahlreicher.

Dazu kommt noch, daß heute die Starken und Tatkräftigen am schnellsten aussterben. Die oberen Schichten heben hervor, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse die Aufzucht einer größeren Kinderzahl nicht mehr gestatten. Andernteils zeugen gerade die wirtschaftlich am schlechtesten stehenden unteren Volksschichten die meisten Kinder, während die Geburtenziffer abnimmt, je höher eine Gesellschaftsgruppe steht. Die Bevölkerung des Abendlandes stirbt also von oben herab aus. In New York ist die Geburtenziffer in den ärmsten Vierteln über viermal so hoch, in Pittsburg, ebenso in Berlin dreimal so hoch, in London und Wien zweieinhalb mal so hoch wie in den vornehmen Vierteln. .... Da ... sterben die oberen Schichten, die samt und sonders weniger Kinder haben, rasch aus. Ihre Stellen werden durch die Nachkommen der unteren fruchtbaren Klassen ausgefüllt. Die unteren Klassen sind die Erben der oberen. Was sie in Revolutionen oder sonst an Gütern der oberen vernichten, das vernichten sie für sich selbst, d.h. für ihre Kinder und Kindeskinder.

Die Familie, die Keimzelle des Volkskörpers, ist in höchster Gefahr. Sie ist in der inneren Zersetzung und in der Schrumpfung begriffen. Geht diese Entwicklung weiter, muß der ganze Volkskörper zugrunde gehen.

Es hat schon Jahre gegeben, wo in Frankreich die Zahl der Geburten kleiner war als die der Sterbefälle (vgl. Sterbeüberschuß bzw. Geburtendefizit *). .... Die Zahl der Fremden in Frankreich wird heute (1920er Jahre) mit 2,5 Millionen angegeben. Tatsächlich dürfte ihre Zahl etwa 6 Millionen betragen.

Die Vereinigten Staaten sind durch den Weltkrieg das reichste Land der Erde geworden. In aller Welt arbeitet heute (us-)amerikanisches Kapital. Und der (US-)Amerikaner ist auf seinen Reichtum stolz. So ist (us-)amerikanischer Reichtum die allgemeine Sehnsucht geworden, die (us-)amerikanische Theorie vom Reichtum in aller Welt bekannt. Aber die (us-)amerikanische Theorie vom Reichtum ist falsch. Nicht der Reichtum an Geld und Maschinen, sondern der an Menschen macht ein Volk wirklich reich.

Die (us-)amerikanische Theorie vom Reichtum hat das (us-)amerikanische Einwanderungsgesetz möglich gemacht, das nicht so sehr aus Gründen der Auslese geschaffen worden ist, als um die Bevölkerung knapp zu halten. Durch dieses Gesetz soll ein ständiger Mangel an Menschen erreicht werden, um die Lebenshaltung der Massen auf der heutigen Höhe zu halten. Hier offenbart sich die ganze Tragik dieser Reichtumstheorie, an der zuerst die Wirtschaft zugrunde gehen wird.

Dasselbe Prinzip der möglichen Beschränkung der Einwanderung zur Hochhaltung des Lebensstandards verfolgt Australien. .... Die Zuwanderung ist auf Betreiben der organisierten Arbeiterschaft bedeutend erschwert. So dürfen nur Weiße einwandern, und zwar auch wieder nur größtenteils aus der Nordwesthälfte Europas. Jede Person, die an Land geht, muß ein Vermögen von 3000 Mark nachweisen.

Deutschland ... steht doch weit besser .... Seine Geburtenziffer ist 1926 wohl auf 19,5 herabgesunken, aber zugleich ist die englische noch weiter auf 17,8 gefallen .... Die Sterblichkeit ist nochmals um zwei Zehntel auf 11,7 gedrückt worden. Daß Deutschland - wie alle anderen Staaten - überhaupt einen Geburtenüberschuß hat, liegt nicht an seiner Fruchtbarkeit, sondern lediglich an seiner ungewöhnlich niedrigen Sterbeziffer.

Der Menschenmagel in Landwirtschaft und Großindustrie, besonders im Bergbau, der trotz der Arbeitslosigkeit der Städte immer mehr um sich greift, hat auch in Deutschland dazu geführt, daß polnische und italienische Arbeiter hereingeholt werden - oft spielt doch auch die geringere Entlohnung gegenüber dem deutschen Arbeiter eine Rolle -, die sich vorübergehend oder dauernd niederlassen. 1925 sind in der Industrie offiziell 120723, in der Landwirtschaft 142694 ausländische Arbeiter beschäftigt gewesen. Der unheimliche Strom der fremden Arbeiter dringt immer tiefer in Deutschland ein, in alle Winkel und Lücken, die der Arbeitsbedarf offen läßt.

Das Abendland ist im Rückgang und Niedergang: das steht fest. Wo - mit Ausnahme Rußlands - heute Weiße leben, mag es in Europa, in Amerika oder den anderen Erdteilen sein, gehen die Geburten zurück. Der Weiße faselt von der Übervölkerung der Erde und schränkt seine Geburten ein. Er tritt die Welt damit an diejenigen ab, die weiterzeugen. Und das sind die fremden Rassen, die immer mächtiger anwachsen.

Lissabon ist zu einem Drittel vernegert. Nicht weniger fortgeschritten ist die Vernegerung Frankreichs .... Eine internationale Bevölkerung vermischt sich bereits langsam mit den Schwarzen und wird so allmählich zu einem Bastardvolk. Frankreich ist die gefährlichste Einbruchstelle der fremden Rassen in Europa, eine furchtbare Gefahr für das Abendland.

Die friedlich eingedrungenen oder hereingeholten fremden Rassen werden in nicht ferner Zukunft das Abendland überschwemmen. Infolge ihrer größeren Fruchtbarkeit werden sie die verfallende weiße Rasse bald an Zahl überflügeln. Die kräftigen fremden Rassen werden sich auch mit dem kranken Blut der weißen Rasse mischen. Das frische Blut wird das kranke aufzehren. Was für das sterbende Rom die zuletzt noch allein vorhandenen Germanen und Syrer waren, das werden für uns die fremden Rassen sein.

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika rächt sich die frühere Einführung von Negern (als Sklaven) bereits bitter. (Vgl. Erich Brock, Die Negerfrage in den Vereinigten Staaten, in : Süddeutsche Monatshefte, September 1926). .... Neben den Negern nehmen die Indianer, die schon am Aussterben (durch Ausrottung) waren, wieder an Volkszahl zu. Im Jahre 1910 zählte man 270544, 1925 dagegen 349595 Indianer.

Den furchtbaren Gefahren, die der weißen Rasse des Abendlandes im Geburtenrückgang, in der Vermischung mit fremden Rassen und im Untergang in den fremden Rassen entstanden sind, steht noch eine andere riesige Gefahr zur Seite, die wohlgemerkt auch durch das Abendland heraufbeschworen ist: Das Erwachen der fremden Rassen. Das Abendland hat Asien und Afrika und besonders Amerika europäisiert und seinem Einfluß zugänglich gemacht. Ihrer Kraft bewußt geworden dehnen sie die Glieder. Es ist kein ursprüngliches Erwachen, kein neues Denken und Fühlen, kein großes Werden, was sich hier vorbereitet. Es ist nichts als ein Reagieren auf Europa.

Das Verhältnis der Abendlandes zu den fremden Rassen ist heute dasselbe wie einst zwischen Ägypten und den Libyern, zwischen dem Reich des Islam und den Türken, zwischen dem kaiserlichen Rom und den Germanen. Die Gefahr ist ungeheuer!

Europa hat den unterdrückten Erdteilen zu offen gezeigt, wie degeneriert es ist, wie wenig urwüchsig kräftiges Blut, wie wenig Religion und Sitte hinter seiner Zivilisation steht; hat ihnen auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges den Ekel und die Verachtung vor der weißen Rasse gebracht, hat ihnen die Schwäche des Westens geoffenbart. Noch schlimmer, es hat sie den Kampf gegen die weiße Rasse gelehrt und in ihnen das Gefühl der Gleichberechtigung und der Kraft, ja der Überlegenheit wachgerufen. Der Weltkrieg hat das Ansehen der weißen Rasse endgültig untergraben.

Bereits 1914 hat ein Japaner vom jämmerlichen Zusammenbruch der sogenannten westlichen Zivilisation gesprochen. Heute gehen die christlichen Missionen in China, Indien und Afrika langsam verloren; buddhistische Missionare ziehen bereits durch das Abendland, um die Weißen zu Buddha zu bekehren. China vertreibt schon die Fremden; in Indien, in Syrien, in Ägypten, in Afrika, in allen Kolonien der europäischen Staaten gärt es. Mächtige Kolonialreiche wie das britische wanken. Der gelbe Osten, der Islam von Java bis zum Atlantischen Ozean bedroht das Abendland. 1200 Millionen Farbige (1920er Jahre; Anfang des 21. Jahrhunderts schon das 4fache! HB), barbarisch, stark, fruchtbar, die ein instinktiver, nicht durch Völkerversöhnungstheorien geschwächter Haß gegen ihre weißen Peiniger eint, stehen gegen das zerfallende Abendland.

Der stärkste Feind des Abendlandes ist wohl Japan (1920er Jahre; Anfang des 21. Jahrhunderts schon hinzugekommen: China, Indien, ja ganz Südostasien und Südasien, und läßt man die Wirtschaft beiseite und schaut nur auf die Demographie, dann muß man besonders auch alle Islamstaaten und Schwarzafrika dazuzählen - insgesamt also heißt der Feind des Abendlandes: Rest der Welt! HB). .... Alle Errungenschaften der abendländische Zivilisation hat sich dieses Land in den letzten Jahrzehnten angeeignet, so daß es nicht selten zu unserer Zivilisation gerechnet wird .... Man fühlt das Herannahen der furchtbaren Auseinandersetzung zwischen der weißen und der gelben Rasse ... im »Stillen« Ozean.

Hinter dem gelben Osten steht gerade für uns die schwarze Gefahr nicht zurück. Die Neger sind sich seit dem Weltkrieg ihrer Zuammengehörigkeit bewußt geworden. Der Islam bekehrt den schwarzen Erdteil mit ungeheurem Erfolg bis zum Kongo hinab und weckt ihn auch politisch. Den Ruf »Afrika den Afrikanern« (also: »Ausländer raus«! HB) hört man heute am Kap und am Kongo nicht leiser als am Nil. Die Schwarzen brauchen nur noch Waffen und Führer.

Neben dem Kampf gegen den Geburtenrückgang, gegen die Vermischung mit den fremden Rassen und gegen das Verbrechen Frankreichs an der weißen Rasse ist die heute dringlichste Forderung wohl der Zusammenschluß der am Geburtenrückgang dahinsiechenden weißen Rasse gegen die gelbe, schwarze und auch rote Gefahr, eine europäische Mauer gegen die Übermacht der fremden Rassen. Jetzt, wo sich diese zu regen beginnt, darf das Abendland nicht kampfesmüde sein, darf nicht vom »Weltfrieden« träumen. Denn dieser Weltfreiden würde des verzicht des Abendlandes auf den kampf mit den fremden Rassen bedeuten und damit die uneingetsandene Bereitschaft, deren Beute zu werden.
*
Seit Beginn der Weltstadt fallen die großen Entscheidungen unserer Geschichte nur mehr in ganz wenigen Riesenstädten, die durch den Begriff Provinz die ganze Mutterlandschaft ihrer Kultur ächten und entwerten. Provinz ist jetzt alles, das Land, die Kleinstadt, selbst die Großstadt mit Ausnahme dieser wenigen Riesenstädte. Provinz zu werden, ist nach Spengler das Schicksal ganzer Länder, die nicht im Strahlenkreis einer dieser Städte liegen. Das ist so in Zivilisationen. »Es gibt nicht mehr Adelige und Bürger, nicht mehr Freie und Sklaven, nicht mehr Hellenen und Barbaren, nicht mehr Gläubige und Ungläubige, sondern nur noch Weltstädtler und Provinzler.« Der ewige, erdverbundene Bauer aber steht verständnislos abseits und wird auch nicht gefragt; er zählt in keiner Zivilisation mehr mit. Die sozialistische Propaganda wendet sich wie die Stoa nur an den Weltstädter. Der Bauer ist auch nicht Demokrat - denn dieser Begriff ist städtisch und ihm unverständlich - und wird von der großstädtischen Masse verlacht und gehaßt. Er ist gerade gut genug, um dieser Welt das Brot zu schaffen und für sie zu sterben. Im Weltkrieg stellten die Bauern den weitaus größten Teil der Heere.

Das abgestorbene Menschentum der Weltstadt geht zuerst am Geburtenrückgang zugrunde, wie oben gezeigt ist. Trotzdem wächst die Weltstadt ständig an. Aber nicht mehr aus eigener Kraft wie die Stadt des Barock, sondern durch Zuzug vom Lande. Diese Entwicklung hat bei uns schon lange eingesetzt: es ist die gewaltig anwachsende Landflucht, der »Zug in die Stadt«, der das Land seiner besten Bevölkerung beraubt und so das Leerwerden der Riesenstädte verhindert.

Deutsches ReichGroßstädte
über 100000
Mittelstädte
20000 - 100000
Kleinstädte
5000 - 20000
Landstädte
2000 - 5000
Landbevölkerung
1871  4,8%  7,7%11,2%12,4%63,9%
1875  6,2%  8,2%12,0%12,6%61,0%
1885  9,5%  8,9%12,9%12,4%56,3%
189513,5%10,1%13,6%12,2%49,8%
190519,0%12,9%13,7%11,8%42,6%
191021,3%12,9%14,6%11,2%40,0%
191924,9%12,9%13,5%11,2%37,5%
192526,7%13,4%13,4%10,9%35,6%
..................
   2003 *       11,9% *
* Angaben für 2003 von Hubert Brune; Quelle: Fischer Weltalmanach, 2006, S. 500

Das fruchtbare Land hat in dieser Zeit gewaltig an Bevölkerung abgenommen; die Landstädte weniger. Die Klein- und Mittelstädte erhielten sich noch einigermaßen auf ihrem Stand. Die unfruchtbaren Großstädte aber, allen voran die Weltstadt Berlin, deren Bevölkerung in dieser Zeit (mit Eingemeindungen) von 826000 auf 4 Millionen gestiegen ist, haben riesenhaft zugenommen. Mehr als ein Viertel des gesamten deutschen Volkes wohnt heute (1920er Jahre) in Großstädten. Ebenso ist die großstädtische Bevölkerung anderer Staaten wie z.B. Frankreichs von 9% der Gesamtbevölkerung i. J. 1872 auf über 15% i. J. 1920 gestiegen, die Englands von 27% auf 39%, die Dänemarks von 8% auf über 20%. Die großstädtische Bevölkerung der Vereinigten Staaten machte 1890 rd. 15%, 1920 dagegen 26% der Gesamtbevölkerung aus, die Australiens 1900 gut 33%, 1920 gut 43%.

Die Bevölkerung der Weltstädte stirbt in wenigen Generationen fast ganz aus und hält sich nur dadurch auf ihrer Zahl oder wächst sogar ständig, weil sie immer wieder durch frischen Zustrom aus den Dörfern ergänzt und erneuert wird. Bereits in den 1880er Jahren waren unter 100 Weltstädtern nur mehr höchstens die Hälfte Stadtgeborene; in Berlin nur etwa 42, in Paris und Wien etwa 35. Selbst München zählte 1900 nur mehr 36% Stadtgeborene.
*
Kampf dem Geburtenrückgang! Der Geburtenrückgang ist noch in allen Zivilisationen bekämpft worden, sobald er sich einmal stärker bemerkbar machte und eine Abnahme der Bevölkerung (also: Sterbeüberschuß bzw. Geburtendefizit) erzeugte. Erinnert sei an einige besonders markante Tatsachen. So befaßte sich im alten Babylon (gemeint ist: Mesopotamien/Sumer) schon zur Zeit der 3. Dynastie von Ur (2050-1950) ein sumerisches Gesetzbuch mit Maßnahmen gegen den Geburtenrückgang, besonders aber das Gesetzeswerk Hammurabis. Ebenso zielten in Ägypten zahlreiche eherechtliche Bestimmungen und die Regelung der Kinderfrage auf eine Förderung der Kindererzeugung hin. In Indien konnte bei Unfruchtbarkeit einer Ehe ein anderer Mann oder eine andere Frau zur Erzeugung eines Nachkommen einspringen. In China gab es neben der gewaltigen Sittenlehre des Konfutse ebenfalls verschiedene Maßnahmen zur Hebung der Bevölkerungsziffer. Die spartanischen und athenischen Maßnahmen gegen die Ehescheu und Kinderlosigkeit sind im allgemeinen bekannt. In Rom gab es zuerst ein aes uxorium, das war das Recht der Zensoren, die Steuersumme wegen des ehelosen Standes des Steuerpflichtigen zu vervielfältigen. Cäsar gewährte unter anderem gesetzliche Prämien für Kindererzeugung; ebenso verordnete er in seiner lex agraria de Campano dividendo, daß die campanischen Domänen nur an Bürger mit drei und mehr Kindern verteilt werden sollten. Zu ganz entschiedener Weise ging Kaiser Augustus gegen die Ehelosigkeit und den Geburtenrückgang durch seine Ehegesetze vor, die unter den Namen lex Julia et Papia Poppaea zusammengefaßt wurden, und die eine Ergänzung in der lex Julia de adulteriis erhielten. Nach diesem Gesetz mußte geheiratet werden; die Ehelosen waren unter anderem unfähig, eine Erbschaft anzutreten; die kinderlosen Eheleute konnten nur die Hälfte von ihnen zufallenden Vermächtnissen erben und nur ein Zehntel ihres Vermögens einander testieren. Die Kinderreichen hatten bedeutende Vorteile im öffentlichen Leben u.s.w.. Unter den späteren Kaisern kämpfte gegen den Geburtenrückgang noch besonders Tiberius an, ferner Nerva und Trajan durch ungeheure Alimentationsstiftungen, selbst für Kinder aus höheren Ständen, dann Kaiser Hadrian, der so weit ging, daß er Verbrechern, die Väter waren, je nach der Zahl ihrer Kinder einen größeren oder geringeren Teil ihrer Strafe erließ. Auf eine Förderung der Kindererzeugung waren ebenso die arabischen wie die aztekischen und tezcucanischen Ehe- und Sklavengesetze eingestellt.

Im Abendland zeigen sich ebenfalls - besonders in Frankreich - bedeutende Ansätze des Kampfes gegen den Geburtenrückgang. Aber man schielt doch noch auch ein wenig nach der Gegenseite, spricht von Übervölkerung und von der notwendigen Verminderung der Menschheit; allerdings mehr aus Bequemlichkeit als aus Überzeugung. Der Mann, der gegen die Geburtenbeschränkung auftritt, ist der Masse, besonders der höheren, und der Frauenwelt verhaßt. Kaiser Augustus in Rom genoß höchste Verehrung; aber im Kampf gegen Ehescheu und Kinderlosigkeit war er bei der Masse verrufener als der schlimmste Verbrecher.

Sehen wir uns die Maßnahmen gegen den Geburtenrückgang in einigen Staaten an. Frankreich hat bereits zahlreiche Maßnahmen gegen den Geburtenrückgang ergriffen. Es schuf z.B. durch Gesetz vom 14. Juli 1913 eine staatliche Unterstützung für bedürftige Familien mit vier und mehr Kindern. Auch stellt es heute unter anderem seine Steuern in den Dienst der Bevölkerungspolitik. Bei der allgemeinen Einkommensteuer ist für jedes Kind des Steuerpflichtigen ein Teil des Einkommens steuerfrei; ferner werden Abschläge von der Steuer gemacht, während der unverheiratete Steuerpflichtige, ebenso Ehepaare ohne Kinder bedeutende Zuschläge zu zahlen haben. In gleicher Weise richtet sich die Erbschafts- und Schenkungssteuer nach der Zahl der Kinder. In Deutschland kann man von einer eigentlichen Bekämpfung des Geburtenrückgangs kaum sprechen. Maßnahmen wie Bekämpfung des Alkoholgenusses, Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Beschränkung und Kontrolle der öffentlichen Vergnügungen, in gewissem Grade auch Fürsorge für kinderreiche Familien (vgl. Reichsverfassung Art. 119), Wohungsfürsorge, Bodenreform und Heimstättenwesen tragen mehr einen sozialpolitischen Charakter und sind auch auf wirtschaftliche und sittliche Momente gegründet. Ein gerechter Schutz der kinderreichen Familien spielt besonders in der Steuergesetzgebung eine Rolle; man sehe sich daraufhin z.B. unsere Einkommensteuer, Lohnsteuer und Vermögenssteuer an. Ebenso erhalten die Beamten für Kinder eine allerdings äußerst niedrige Kinderzulage. Das Erbschaftssteuergesetz von 1925, nach dem Ehegatten erbschaftssteuerpflichtig sind, ausgenommen wenn sie Kinder haben, kann als Ansporn zur Kindererzeugung gelten.

In den Verreinigten Staaten gewährt die Bundeseinkommensteuer den Verheirateten größere Freiheit als den Alleinstehenden und gestattet weitere Abzüge für die »wirtschaftlich Abhängigen«, wozu natürlich besonders die minderjährigen Kinder rechnen. Die Erbschaftssteuer ist ähnlich eingestellt. In diesem Zusammenhang sei auf die künstliche Sterilisierung von Scchwachsinnigen und Verbrechern hingewiesen, wie sie die Vereinigten Staaten seit einiger Zeit durchführen und wie sie auch z.B. in der Schweiz Eingang gefunden hat.

Sehen wir uns noch zum Schluß die italienische Bevölkerungspolitik seit Mussolini an. Mussolini .. schlägt die »Schlacht der Geburten«, wodurch Italien heute schon Frankreich überflügelt hat und zu einer Großmacht geworden ist. Er hat eine Junggesellensteuer geschaffen, ebenso eine Steuer für die unfruchtbaren Ehen angekündigt. Zur Hebung des Landes und der Landbesiedlung hat er die »Getreideschlacht« geschlagen; Umbau und Ertrag des Bodens sind bedeutend gestiegen. Er hat ferner vom rein bevölkerungspolitischen Standpunkt aus das Dekret gegen die Überindustrialisierung der Städte erlassen. Besonders deutlich hat sich die Erschwerung der Auswanderung in der bedeutenden Zunahme der Bevölkerung gezeigt, die 1925 bereits 42 Millionen überschritten hat.

Wie war es nun um den Erfolg der Bekämpfung des Geburtenrückgangs in den vergangenen Kulturen bestellt?  Mit einziger Ausnahme Chinas, wo die Sittenlehre des Konfutse gute Früchte trieb und wenigstens einigermaßen die Entvölkerung der chinesischen Mutterlandschaft hintanhielt, sind alle Maßnahmen der der vergangenen Kulturen nutzlos gewesen. So spricht z.B. zur Zeit des ausgehenden Römertums Tacitus von der Ergfolglosigkeit des papisch-poppaeischen Gesetzes. Die Erfolglosigkeit tritt uns in so ziemlich allen sterbenden Kulturem entgegen, und zwar besonders in der trotz aller Gegenmaßnahmen ständig zunehmenden Entvölkerung. So halfen alle Bekämpfungsmaßnahmen der Antike nichts, was schließlich die Kaiser nach Hadrian selbst erkannten. Nur die massenreiche Zuwanderung von Barbaren bewahrte Rom - wie die meisten niedergehenden Kulturen - vor der vollständigen Verödung. Ebensowenig Erfolg haben bisher alle Maßnahmen Frankreichs zur Bekämpfung des Geburtenrückgangs gezeigt.

Wir Deutsche, die wir in der Lebenskraft unseres Volkstums noch weit besser stehen als Frankreich, England und die USA, haben Aussischt, unsere Geburtenziffer wenigstens auf einige Jahrzehnte hianus auf dem heutigen Stand halten zu können, wenn wir die richtigen Wege mit aller Tatkraft beschreiten. Das nächste Jahrhundert (das 21. Jahhrundert) ist die Brücke zur Zukunft, deren sich schon heute in den unteren Schichten leise andeutende Rückkehr zu den Formen germanisch-gotisch-katholischer Religiosität, allerdings ohne jede schöpferische Urkraft, wieder eine primitive Fruchtbarkeit unserer Menschen bringen wird - voarausgesetzt, daß es solche dann noch in großer Zahl gibt. Wenn Deutschland diese Zeit mit einer einigermaßen starken und lebenswilligen Bevölkerung zu überwinden vermag, dann kann das deutsche Volk vielleicht für das nächste Jahrhundert gerettet werden. Für Frankreich, teilweise auch bereits für die angelsächsische Welt ist diese Hoffnung schon vorbei.

Welche Wege hat nun Deutschland einzuschlagen, um seine Geburtenziffer wenigstens einigermaßen auf ihrem heutigen Stande zu erhalten?  Wir haben gesehen, daß alle Gesetze und Maßnahmen nichts helfen, die nur mit Belohnungen, Zwang, Strafen und Gewalt zum Ziel zu kommen glauben.

Es wird der Vorschlag gemacht, den Geburtenrückgang durch »Züchtung« zu bekämpfen. Dann werden wieder wie in den alten Kulturen Alimentationen, Ackerverteilungen und Ehegesetze verlangt und geschaffen. Aber der Geburtenrückgang geht trotzdem weiter. Es ist eben keine Sache des Körpers, sondern der Seele. Was helfen alle rein äußerlichen Maßnahmen, wenn der Mensch keine Kinder mehr will?  Von diesem Fehlen des Willens zum Kinde muß alle Bekämpfung des Geburtenrückgangs ihren Ausgang nehmen: Der Wille zum Kinde muß geweckt werden. Es muß eine seelische Umstellung unserer Menschen erreicht werden, dergestalt, daß wieder diejenige Ehe als vernünftig und wünschenswert empfunden wird, in der Mann und Frau eins sind und in der die Frau Hausfrau und Mutter ist. Das ganze Leben unseres Volkes müßte von dieser Idee beherrscht sein. Die Grundpfeiler des ganzen Gebäudes wären Ahnen- und besonders Nachkommenkult. Diese seelische Umstellung, die notwendig religiös-ethischen Charakter tragen muß, ist die Grundlage der Bekämpfung des Geburtenrückgangs. Dazu müssen dann als bloße Ergänzung die entsprechenden Maßnahmen kommen: Erziehung der Jugend zur Arbeit, nicht zum Sport; zur wahren Heimatliebe, nicht zum ungezügelten Wandertrieb, der nur die Wurzel späterer Unzufriedenheit und Vaterlandslosigkeit ist; Bindung an den Boden; Kampf gegen Landflucht, Alkoholismus, Sittenlosigkeit; Kampf besonders gegen die Auswüchse der Frauenemanzipation, gegen die Dirne; gegen die gesetzliche Erleichterung der Ehescheidung; gegen die Milderung der Abtreibungsstrafen. Richtige Säuglingsfürsorge, nämlich durch die Hand der Mutter, nicht in Anstalten; Kampf gegen den neomalthusianistischen Zug in der Säuglingsfürsorge; Mutterschutz. bedeutende Senkung der Besoldung der ledigen Beamten und Zuführung des ersparten Teils an kinderreiche Beamte. Hohe Junggesellensteuer; wirtschaftliche Sicherung und Begünstigung der kinderreichen auf Kosten der kinderarmen Familien und besonders der Junggesellen; die Belastung der Junggesellen darf so hoch sein, daß sie sich wirtschaftlich schlechter stellen als die kinderreichen Familien; zugleich für die Mütter die Möglichkeit, nicht mehr im Erwerb tätig sein zu müssen, damit sie sich ganz ihren häuslichen Pflichten und der Erziehung ihrer Kinder widmen können; weitgehende Vorteile im Erbrecht und im öffentlichen Leben; Wahlrecht nur für Mütter. Besonderer Schutz der unehelichen Kinder: Unterhaltspflicht sämtlicher in Betracht kommender Väter (Änderung von § 1717 BGB); ländliche Findelhäuser unter kirchlicher Betreuung, Zuweisung von unveräußerlichem Grund und Boden bei Entlassung.

Es handelt sich um die Zukunft unseres Volkes. Es dürfen hier keine Mittel und Wege gescheut werden. Über dem Wohl des einzelnen steht die Pflicht gegen die Gesamtheit, gegen unser Volk, gegen unsere Vergangenheit und gegen unsere Zukunft.“
Richard Korherr, 1927
Das Abendland hat den Rest der Welt angesteckt, dafür wird es in Zukunft einen hohen Preis bezahlen!

- Städte - Hochburgen des Individualismus -
(Meinhard Miegel, 1993)

„Innerhalb von Regionen ist der Grad der Individualisierung in dicht besiedelten, urbanen Räumen meßbar höher als in ländlichen Gebieten. Ggenläufig hierzu läuft die Fruchtbarkeit der Bevölkerung. Sie ist auf dem Lande höher als in der Stadt und nimmt mit wachsender Bevölkerungsdichte ab. In dieses Land-Stadt-Gefälle sind alle Schichten einbezogen. Sowohl Selbständige als auch abhängig Beschäftigte, sowohl Erwerbstätige in der Landwirtschaft als auch im verarbeitenden Gewerbe haben im allgemeinen auf dem Land mehr Kinder als in der Stadt. Dies zeigen z.B. Untersuchungen des Geburtenverhaltens in Deutschland für die 2. Hälfte der 1920er Jahre von Hans Linde. Danach ist die Geburtenrate von Selbständigen, die in Städten mit über 100000 Einwohnern wohnen, nur reichlich halb so hoch wie die Geburtenrate von Selbständigen auf dem Land. Arbeiter in der Stadt haben lediglich reichlich 60% der Geburten von nicht landwirtschaftlich tätigen Arbeitern im ländlichen Raum. (Vgl. Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung von 1800 bis 2000, 1984, S. 84). An diesem traditionellen Land-Stadt-Gefälle hat sich auch in neuerer Zeit tendenziell kaum etwas geändert. zwar sind die Geburtenraten überall zurückgegangen, doch ist der relative Abstand zwischen Standt und Land gleich geblieben. (Vgl. Hansjörg Bucher / Hans-Peter Gatzweiler / Irmgard Schmalenbach, Das regionale Bevölkerungsprognosenmodell der BfLR, 1984, S. 1149ff.. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Herwig Birg, demzufolge die Nettoreproduktionsrate in Hannover 1983 rund 55% der Nettoreproduktionsrate im Landkreis Borken beträgt. (Vgl. Herwig Birg, Biographische Theorie der demographischen Reproduktion, 1991, S. 150.).“

Meinhard Miegel, 1993

- Verstädterung verstärkt Vereinzelung -
(Meinhard Miegel, 1993)

„Die Individualisierung wird weiter durch die Verstädterung gefördert. Stadtluft befreit (vgl. Paul Schütze, Die Entstehung des Rechtssatzes: Stadtluft macht frei, 1903) zu Beginn der Neuzeit nicht nur von Leibeigenschaft und Unmündigkeit, sondern auch von den Bindungen dörflicher Gemeinschaft. In der Stadt ist der Zusammenhalt der Gruppe geringer. Der Einzelne kann leichter aus ihr heraustreten. Er lebt anonymer. Damit nehmen seine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zu. Die Stadt bietet ... den idealen Nährboden für den Individualisierungsprozeß.“

Meinhard Miegel, 1993

- Geographische Verteilung, Urbanisierung und das Wachstum der Megastädte -
(Herwig Birg, 1996)

„Zwei Trends von großer Tragweite prägen die internationale Bevölkerungsentwicklung im 20. und 21. Jahrhundert: das zunehmende demographische Gewicht der Entwicklungsländer und der weltweite Prozeß der Verstädterung. Bis 2020 wächst die Weltbevölkerung noch jährlich um 70-80 Mio., bis zur Jahrhundertmitte nimmt der jährliche Zuwachs allmählich auf rund 30 Mio. ab, um gegen Ende des 21. Jahrhunderts abzuflachen und auf Null zu sinken. Da fast der ganze Zuwachs auf die Entwicklungsländer entfällt, erhöht sich ihr demographisches Gewicht beträchtlich - ein Prozeß, der schon seit Anfang des 20. Jahrhaunderts im Gange ist. Dadurch erhöht sich der Anteil der Entwicklungsländer an der Weltbevölkerung von 68% (1950) über 80% (2000) auf 86% (2050) [Quelle: UNO]:

195020002050
Bevölkerung in Milliarden (und %)
Industrieländer0,813 (32,3%)1,194 (19,7%)1,220 (13,7%)
Entwicklungsländer1,706 (67,7%)4,877 (80,3%)7,699 (86,3%)
Welt2,519 (100%)6,071 (100%)8,919 (100%)

Innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer erhöht sich der Anteil Asiens und Afrikas. In Asien werden am Ende des 21. Jahrhunderts 5 Mrd. Menschen leben, mehr als 1986 in der Welt insgesamt (1987 erreichte die Weltbevölkerung die Zahl 5 Mrd.; HB). Besonders hervorzuheben ist, daß nicht mehr China mit seinen 1,2, Mrd. Menschen das bevölkerungsreichste Land sein wird, sondern Indien, dessen Bevölkerung von 2000 bis 2050 von 1,017 Mrd. auf 1,531 Mrd. zunehmen wird. Weitere gravierende Änderungen sind das Vorrücken von Äthiopien von Platz 18 der bevölkerungsreichsten Länder (des Jahres 2000) auf Platz 9, von Pakistan von Platz 7 auf Platz 4 und von Nigeria von Platz 10 auf Platz 6 (Quelle: UNO):

Bevölkerung der (12) 10 größten Länder 2000 und 2050 (in Millionen)
RangLand2000Land2050
1China1275Indien1531
2Indien1017China1395
3USA  285USA  409
4Indonesien  212Pakistan  349
5Brasilien  172Indonesien  294
6GUS  146Nigeria  258
7Pakistan  143Bangladesch  255
8Bangladesch  138Brasilien  233
9Japan  127Äthiopien  171
10Nigeria  115Dem. Rep. Kongo  152
11Mexiko    98  
12Deutschland    82  

Wie die absolute Bevölkerungszahl, so wird sich auch die Dichte der Bevölkerung (Einwohner pro km²) in den Entwicklungsländern und im Weltdurchschnitt mehr als verdoppeln. Die Erhöhung der Bevölkerungsdichte stellt für sich allein genommen in der Regel noch kein Problem dar, zumal viele Entwicklungsländer noch immer dünner besiedelt sind als die Industrieländer. (Im Durchschnitt aller Entwicklungsländer betrug die Bevölkerungsdichte im Jahr 2000 59 Einwohner pro km², in Westeuropa 116, und in Afrika nur ein Sechstel des westeuropäischen Niveaus). Die Dichte ist jedoch als Durchschnittsziffer wenig aussagekräftig. Hinter ihr verbirgt sich eine gewaltige regionale Umschichtung der Bevölkerung durch Binnenwanderung von den ländlichen Siedlungen in die Städte und die urbanen Agglomerationsräume. Die Existenz großer Städte beruhte bisher in den Industrieländern auf den Zuwanderungen aus den ländlichen Gebieten mit Geburtenüberschüssen, denn die Geburtenrate der Stadtbevölkerung unterschreitet das für die Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderliche Niveau bei weitem. Im Unterschied dazu wachsen die Städte in den Entwicklungsländern nicht nur durch starke Zuwanderungen aus ländlichen Gebieten, sondern auch durch starke Geburtenüberschüsse ihrer Stadtbevölkerungen.

In den Industrieländern ... ging die Urbanisierung seit den 1970er Jahren in den Prozeß der Suburbaniserung über, ein Begriff, mit dem das Wachstum der Peripherien der urbanen Agglomerationsräume bei gleichzeitiger Stagnation oder Schrumpfung ihrer Kernstädte bezeichnet wird. In den Entwicklungsländern wachsen meist nicht nur die Peripherien der urbanen Agglomerationsräume, sondern auch deren Zentren.

Im Jahr 1950 gab es in der Welt nur eine einzige Stadt mit mehr als 10 Mio. Einwohnern - New York. In ihr lebten 1,7% der Städtebewohner der Welt. 1990 waren es 12 Städte (mit 7,1% der Stadtbevölkerung der Welt), und bis zum Jahr 2015 wird es 27 solcher Megastädte (mit 10,9% der Stadtbewohner) geben, davon 23 in den Entwicklungsländern. In den 27 Megastädten werden im Jahr 2015 450 Mio. Menschen leben. Davon entfallen 72 Mio. auf die Industrieländer und 378 Mio. auf die Entwicklungsländer.

Tokio hat den ersten Platz seit 1970 inne und wird ihn nach den Projektionsrechnungen der UN (1994) bis 2015 behalten. New York fiel von 1960 bis 1970 vom ersten auf den zweiten Platz, und es wird bis 2000 weiter auf den fünften und bis 2015 auf den elften Platz zurückfallen. Die Liste der größten 15 urbanen Agglomerationsräume ändert sich vor allem durch das Wachstum der Megastädte in den Entwicklungsländern. Bis zum Jahr 2000 werden Lagos (Nigeria), Karachi (Pakistan) und Neu-Delhi (Indien) zu den größten 15 gehören; dagegen werden Rio de Janiero, Osaka und Buenos Aires aus dieser Gruppe ausscheiden. .... Lagos wird nach Tokio und Bombay der drittgrößte Agglomerationsraum der Welt sein, vorausgesetzt, daß sich das Wachstum unter Status-quo-Bedingungen fortsetzt und die Entwicklung nicht, wie in Ruanda, in Bürgerkrieg und Chaos endet.

Die 15 größten urbanen Agglomerationsräume der Welt
Rang1994Mio.2015Mio.
1Tokio26,5Tokio27,9
2New York 16,3Bombay18,1
3Sao Paulo 16,1Sao Paulo 17,8
4Mexiko Stadt 15,5Schanghai17,2
5Schanghai14,7New York 16,6
6Bombay14,5Mexiko Stadt 16,4
7Los Angeles 12,2Peking14,2
8Peking12,0Djakarta14,1
9Kalkutta11,5Lagos13,5
10Seoul11,5Los Angeles 13,1
11Djakarta11,0Kalkutta12,7
12Buenos Aires 10,9Tianjin12,4
13Osaka10,6Seoul12,3
14Tianjin10,4Karachi12,1
15Rio de Janeiro  9,8Delhi11,7
Zum Vergleich :   Rhein-Ruhr13,0

Vor allem die Fertitlität steht in Wechselwirkung mit ökonomischen und sozialen Prozessen. Dabei wurde durch zahlreiche Untersuchungen empirisch belegt, daß die Fertilität einer Region bzw. eines urbanen Agglomerationsraumes umso niedriger ist bzw. umso rascher abnimmt, je höher das Pro-Kopf-Einkommen ist und je schneller es wächst (= demographisch-ökonomisches Paradoxon).

In den ökonomisch am stärksten expandierenden Agglomerationsräumen Asiens ist die Fertitlität bereits unter das Ersatzniveau gesunken; sie nähert sich dem westeuropäischen Niveau. In diesen Ländern ist die Dynamik der ökonomischen Entwicklung die entscheidende Bestimmungsgröße sowohl für das Bevölkerungswachstum als auch für die regionale Verteilung der Bevölkerung. Daß der Anteil der Weltbevölkerung, die in den Städten lebt, von 1950 bis 1995 von 29,3 auf 45,2% zunahm (bald wird er die 50%-Marke überschreiten; HB), ist unter den vielen Größen, die die weltweite Abnahme der Geburtenrate verursacht haben, der wichtigste statistische Einzelindikator. Er ist ein komplexes Maß, in dem sich Größen wie Alphabetisierung der Bevölkerung, die Stellung der Frau, das Pro-Kopf-Einkommen, die Säuglings- und Kindersterblichkeit und das Niveau der Lebensbedingungen widerspiegeln. Bis zum Jahr 2025 wird von der UN ein weiterer Anstieg des Anteils der Stadtbevölkerung auf 61% vorausberechnet - ein Trend, der mit dem erhofften bzw. erwarteten Rückgang der Geburtenrate in der Zukunft in enger Beziehung steht. Die Urbanisierung ist eine Bedingung des Fertilitätsrückgangs, und der Fertilitätsrückgang führt zu regionalen Ungleichgewichten der Geburtenbilanz, die Wanderungsströme auslösen und dadurch den Prozeß der Urbanisierung intensivieren.“
Herwig Birg, 1996

- Veränderungen der Zahl und Größe der privaten Haushalte ... -
(Herwig Birg, 2001)

„Eine der sichtbarsten Auswirkungen des demographischen wandels ist die Veränderung der Zahl und Größe der privaten Haushalte und des Wohnungsbedarfs. Die Vorboten dieser Entwicklung sind bereits an den zunehmenden Wohnungsleerständen und den vielerorts sinkenden Immobilienpreisen erkennbar. Im folgenden werden die Zahl und Größenstruktur der privaten Haushalte aus den Ergebnissen der Bevölkerungsvorausberechnungen abgeleitet und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen für die Entwicklung des Wohnungsbedarfs in Deutschland dargestellt. Dabei erweist sich die oft vernachlässigte regionale und die sozialräumliche Dimension der demographischen Entwicklung als ein besonders wichtiges Problem.

Der Bedarf an Wohnraum ändert sich im Lebensverlauf in Abhängigkeit vom Alter und von der jeweiligen Phase im Familienbildungsprozeß, wobei insbesondere der Familienstand (ledig, verheiratet, verwitwet, geschieden) mit dem betreffenden Haushaltstyp (Ein- oder Mehrpersonenhaushalt) und dem sich daraus ergebenden Bedarf an Wohnraum zusammenhängt. Umgekehrt werden jedoch das Eheschließungsverhalten und die Geburtenrate zum Teil auch von der Verfügbarkeit an geeignetem Wohnraum beeinflußt. Ein Prognosemodell für die Vorausschätzung des Wohnungsbedarfs müßte daher idealerweise aus mehreren miteinander gekoppelten Teilmodellen bestehen, vor allem aus einem Bevölkerungs-, einem Familien- und einem Haushaltsmodell. Mit einem solchen Idealmodell müßten alle wesentlichen Beziehungen zwischen den zentralen Größen quantitativ beschrieben und prognostiziert werden. Die verschiedenen Teilmodelle müßten außerdem mit einem Wirtschaftsmodell gekoppelt werden, das die Einkommensentwicklung abbildet, um daraus auch die kaufkräftige Nachfrage nach Wohnraum zu bestimmen.

Ein derartiges Gesamtmodell läßt sich zwar in der Form eines Systems aus Gleichungen entwerfen, mit denen die Beziehungen zwischen den interessierenden Größen beschrieben werden, denn das dafür erforderliche theoretische Wissen ist größtenteils verfügbar, aber das genügt nicht. Die Anwendung eines solchen Modells scheiterte in der Praxis bisher nicht nur daran, daß die empirischen Daten für die Füllung des Gleichungssystems fehlen, sondern die Art des Gleichungssystems selbst änderte sich in den vergangenen Jahrzehnten auf Grund des Wandels der demographischen, sozialen und ökonomischen Verhaltensweisen so rasch, daß die Datenerhebung und Modellbildung stets um einige Jahre hinter der tatsächlichen Entwicklung zurückblieb, wobei sich der Abstand zwischen Modell und Realität tendenziell vergrößerte. So krankt z.B. das z.Zt. anspruchsvollste Modell zur Bevölkerungs- und Haushaltsprognose, das vom Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung entworfen wurde, und das vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung mit Daten gefüllt werden soll, u.a. daran, daß das Bevölkerungsmodell keine Ein- und Auswanderungen enthält und daß die Unterschiede zwischen den Deutschen und den Zugewanderten in bezug auf die Geburtenrate, das Eheschließungsverhalten, die Haushaltsgröße und sämtliche anderen relevanten Verhaltensweisen nicht berücksichtigt werden. Es läßt sich z. Zt. noch nicht absehen, ob und gegebenenfalls wann das Modell in der Zukunft einmal in einer anwendungsreifen Form vorliegen wird. Bis dahin werden Haushaltsprognosen wie bisher mit Methoden durchgeführt, die zwar weniger differenziert sind, aber für die Praxis dennoch brauchbare Ergebnisse liefern.

Die privaten Haushalte und der Wohnungsbedarf werden stark von der Bevölkerungszahl und der Altersstruktur beeinflußt. Der Einfluß der Altersstruktur beruht auf den mit dem Alter stark variierenden Lebensformen im Lebenszyklus. In der Altersgruppe unter 20 leben z.B. mehr als zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen im Haushalt ihrer Eltern. Ein Rückgang der Geburtenzahl bewirkt daher unmittelbar einen Rückgang des Anteils der Haushalte mit drei und mehr Personen. In der Altersgruppe 20 bis 30 sinkt der Anteil der unverheiratet bei ihren Eltern lebenden Kinder durch den Auszug aus dem Elternhaus auf ein Viertel, im höheren Alter auf ein Zehntel. Die Größe der Altersgruppe 20 bis 40 ist entscheidend für die Zahl der verheiratet zusammenlebenden Menschen. Die Besetzungsstärke hängt von der Geburtenrate in der vorangegangenen Generation ab, außerdem von der Eheschließungs- und Scheidungsrate. Die Geburten-, Eheschließungs- und Scheidungsraten beeinflussen wiederum gemeinsam die Zahl der Allienlebenden. Die entsprechenden Zusammenhänge sind bei Männern und Frauen unterschiedlich, so steigt z.B. der Anteil der Alleinlebenden mit dem Alter bei den Frauen wsentlich stärker an als bei den Männern, wobei die bei den Frauen um rd. 6 Jahre höhere Lebenserwartung eine bedeutsame Rolle spielt.

Das Haushaltsbildungs- und -auflsöungsverhalten ist ein komplexes Phänomen, bei dem sozialdemographische und ökonomische Verhaltensweise eng zusammenwirken. Die wichtigsten demographischen faktoren sind: (1) die Höhe der Geburtenraten für Erste, Zweite, Dritte und weitere Kinder, (2) das Lösungsverhalten der Kinder von den Eltern und die Gründung eines eigenen Haushalts, (3) die Entwicklung des Heirats- und Scheidungsverhaltens und des Wiederverheiratungsverhaltens, (4) die Häufigkeit von nicht ehelichen Lebensgemeinschaften, (5) die vom Alter, Geschlecht und Geburtsjahrgang abhängige Mobilität, (6) die nach Alter, Geschlecht und Geburtsjahrgang differierende Sterblichkeit und Lebenserwartung sowie (7) die Häufigkeit von Lebensformen mit mehreren Wohnunngen.

Die aufgeführten Verhaltensweisen differeieren zusätzlich nach der Staatsangehörigkeit (genauer gesagt: Kulturzugehörigkeit! HB*) und dem regionalen Lebensraum. Wegen der höheren Geburtenrate der Ausländer (nur bestimmter Ausländer! HB*) und der jüngeren Alterststruktur (nein: nur bei bestimmten Ausländern! HB*) ist z.B. der Anteil der Personen, dein größeren Haushalten leben, mehr als doppelt so hoch wie bei den Deutschen (vgl. Tabelle). Dieses und die folgenden Analyseergebnisse beruhen auf der Mikrozensus-Erhebung des Statistischen Bundesamtes von 1998.

Bevölkerung in Privathaushalten mit 1, 2, 3, 4, 5, 6 und mehr Personen (1998) - in %
 12345 und mehr
Deutsche16,8%31,5%20,7%21,5%  9.6%
Ausländer10,0%16,6%20,1%27,5%25,7%

Nicht nur die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen, sondern auch die regionalen Unterschiede der sozialdemographischen Verhaltensweisen sind beträchtlich.

Einpersonenhaushalte

Wie bereits erläutert, unterscheidet sich die Geburtenzahl pro Frau für die gleiche Generation bei einem Vergleich zwischen den verschiedenen Regionen stärker als für die gleiche Region bei einem Vergleich der verschiedenen Generationen. Der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten ist insbesondere wegen der niedrigeren Geburtenrate in Städten mit 500000 u.m. Einwohnern wesentlich größer (47,9%) als in den kleinen Siedlungen (36,2%). (Vgl. Tabelle). Im Umland von Berlin (Brandenburg) betrug er z.B. 1994 27,7%, in Berlin-West 49,6% und in Berlin-Ost 41,2%.

Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten [1998] in %
 Im LandesgebietIn Städten mit 500000 u.m. Einwohnern
197025,5%27,0%
198030,2%42,2%
199035,0%46,5%
199836,2%47,9%
Entwicklung der Ein- und Mehrfamilienhaushalte von 1950 bis 1998 mit Vorausberechnungen bis 2050
 Personen je HaushaltAnteil der 1-Personen-Haushalte in %
1950Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
3,47
2,99
19,4%
1978Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
3,15
2,52
29,3%
1988Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,94
2,26
34,9%
1998Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,84
2,19
35,4%
2015Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,70
2,08
36,7%
2030Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,65
2,00
39,2%
2050Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,60
1,96
39,8%
Vorausberechnungen der Bevölkerung nach Altersgruppen in Einpersonenhaushalten von 1998 bis 2050 in %
  0-20 Jahre 20-40 Jahre40-60 Jahre60 u.m. Jahre Insgesamt
1998Einpersonenhaushalte  0,84%33,05%21,67%44,43%35,42%
2015Einpersonenhaushalte  0,69%26,08%24,57%48,65%36,68%
2030Einpersonenhaushalte  0,55%23,62%19,64%56,18%39,20%
2050Einpersonenhaushalte  0,49%22,30%18,61%58,59%39,78%
Für die Ableitung der Haushalte aus den Bevölkerungsvorausschätzungen ist wichtig, daß die Häufigkeit der Eheschließungen ebenso wie die Geburtenrate seit Anfang der 1970er Jahre stark abgenommen hat. Die Heiratsneigung läßt sich quantitativ messen, und zwar durch die nach einzelnen Altersjahren untergliederten Zahlen der Erstheiraten auf 1000 Einwohner. Gleichzeitig mit der abnehmenden Heiratsneigung hat sich die Zahl der gerichtlichen Ehelösungen permanent erhöht. Der Saldo aus der Zahl der Eheschließungen und der Summe aller gerichtlichen und sonstigen Ehelösungen war in der früheren Bundesrepublik seit 1975, in der früheren DDR schon seit 1965, negativ . (Vgl. J. Dorbritz und K. Gärtner, Bericht über die demographische Lage in Deutschland, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 4, 1998. S. 377f.). Diese Trends wirken sich in einer Abnahme der Zahl der Mehrpersonenhaushalte aus.“
Herwig Birg, 2001
- Zellenbau, Egosphären, Selbstcontainer -
Zur Explikation der ko-isolierten Existenz durch das Arpartment
(Peter Sloterdijk, 2004)

- Zelle und Weltblase -
(Peter Sloterdijk, 2004)

„Das moderne Apartment - das in der Literatur auch als Einzimmerwohnung oder, anspruchsvoller, als Einraumwohnung zur Sprache kommt - materialisiert die Tendenz zur Zellenbildung, in der man das architektonische und topologische Analogon zum Individualismus der modernen Gesellschaft erkennen kann.

Wir definieren das Apartment als atomare oder elemntare egosphärische Form - folglich als die zelluläre Weltblase, aus deren massenhafter Wiederholung die individualistischen Schäume entstehen.

Um dem Phänomen Apartment näherzukommen, muß man seine enge Verbindung mit dem Prinzip der Serie wahrnehmen (...). Wie ... der Konstruktivismus die Umsteigstelle von der Malerei zur Architektur darstellte, so der Serialismus die Umsteigstele zwischen Elementarismus und Sozialutopismus. Im Serialismus, der die Beziehung zwischen Teil und Ganzem durch exakte Standardisierung regelt, so daß dezentrale Fertigung und zentrale Montage möglich werden, liegt der Schlüssel zu dem für die Moderne charakteristischen Verhältnis zwischen Zelle und Zellenverband. Wie die Herausarbeitung der Zelle dem Geist der Analyse Rechnung trägt, indem sie den Rückgang auf das Element-Niveau vollzieht, so bedeutet das Bauen von Häusern auf der Basis solcher Elemente eine Kombinatorik oder besser eine Form von »organischer Konstruktion« - mit dem Ziel, architektonisch, urbanistisch und ökonomisch haltbare Ensembles aus Modulen zu erzeugen.

Obschon die größeren Komplexe notwendigerweise durch die Addition von elementaren Einheiten gebildet werden und sich gelegentlich präsentieren, als wären sie bloße Stapel, besitzen sie stets gewisse makroskulpturale Eigenwerte - die Syntax des Apartmenthauses verbietet ohnehin die bloße Stapelung der Einheiten, weil diese ohne die Verbindungen durch Korridore, Treppen, Aufzüge und Leitungssysteme weder funktionsfähig noch begehbar wären.

Das Apartment als Wohnzelle stellt die atomare Ebene im Feld der Habitat-Verhältnisse dar: So wie die lebende Zelle im Organismus das biologische Atom und zugleich das generative Prinzip verkörpert, arbeitet die moderne Apartmentkonstruktion das Habitat-Atom heraus - die Einraumwohnung mit dem alleinlebenden Einwohner als Zellkern seiner privaten Weltblase. Durch den Rückgang auf die zellulare Einheit wird der lebbare Raum selbst auf seine elementare Form gebracht. Man könnte diese, einen Ausdruck von Gottfried Semper abwandelnd, als das »Raumesindividuum« bezeichnen. Es ist kein Zufall, daß die Apartmentarchitektur sich in historischer Gleichzeitigkeit zu den Phänomenolgien Husserls und Heideggers entfaltete. Hier wie dort ging es um die Verankerung des besonnenen Individuums in einem radikal explizit gemachten Weltmilieu. Die Existenz in einer Einpersonenwohnung ist nichts anderes als das In-der-Welt-Sein in einem einzelnen Fall oder die Rück-Einbettung des zuvor eigens isolierten Subjekts in seine sogenannte »Lebenswelt« unter einer raumzeitlich konkreten Adresse. Das neue Wohnungsbewußtsein der Architekten und die präzisierte Gewahrwerdung der welthaften Prämissen des eingebetteten Daseins bei den Philosophen sind gleichzeitige und aktuelle Gegengifte gegen die erlernte Situationsblindheit der alteuropäischen Rationalitätskultur.

Die emanzipierte Wohn-Zelle formuliert ein Konzept von minimalem architektonischen und sanitären Autonomiebedingungen, die gegeben zu sein haben, damit der Tatbestand des Alleinlebenkönnens als formal erfüllt gelten kann.

Die einzelne Blase im Wohn-Schaum bildet einen Container für die Selbstverhältnisse des Bewohners, der sich in seiner Wohneinheit als Konsument eines primären Komforts einrichtet: Ihm dient die vituale Kapsel der Wohnung als Schauplatz seiner Selbstpaarung, als Operationsraum seiner Selbstsorge und als Immunsystem in einem kontaminationenträchtigen Feld aus connected isolations alias Nachbarschaften. (Die Definition der architektonischen Elementareinheit als Zelle oder Habitat-Atom ist unter konstruktivistischen Gesichtspunkten entwicklungsfähiger als die Versuche von Semiotikern, die kleinste Einheit im gabauten Text als Zimmer zu fassen, wobei dieses wie ein Nomen oder Substantiv in einem kompletten architektonischen Satz, das heißt einem Gebäude, plaziert werden müßte). In diesen Hinsichten ist das Apartment eine materiale Nachzeichnung jener surrealen Behälterfunktion. die wir als autogenes Gefäß beschrieben haben. (Vgl. Sphären I - Blasen, 1998, S. 61f.).

Der aphrogene Charakter der Apartments ergibt sich (auf der Ebene der ausgeführten Architektur) aus der Tatsache, daß die »Einraumwohnung« sich üblicherweise in Häusern befindet, die einem Generalplan entsprechend als Aggregate von typisierten Wohneinheiten angelegt sind. Das Apartmenthaus stellt einen sozialen Raum-Kristall oder einen starren Schaumkörper dar, in dem eine Vielheit von Einheiten über- und nebeneinander gestapelt sind - wobei diese Formen mit den labilen Schäumen das Prinzip der Ko-Isolation, das heißt der Raumtrennung durch gemeinsame Wände, teilen.

Daß die massenhafte Addition von zellulären Einheiten von sich her weitreichende soziologische oder, besser, sozialmorphologische Implikationen besitzt, ist eine Beobachtung, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Karl Marx hat in einem bekannten Passus seiner Studie Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von 1852 die politisch-Ökonomische Grundlage der napoleonischen Herrschaft herausgestellt, indem er betonte, daß Bonaparte mit seiner populären Diktatur eine Klasse und deren noch unzureichend artikulierten Bedürfnisse vertrat, »und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern«. (Ebd. S. 198). Was Marx an dieser »ungeheuren Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten« (ebd. S. 198), hervorhebt, ist insbesondere ihre Zersplitterung und ihre Unfähigkeit, aus der Ähnlichkeit ihrer Lage auf ein gemeinsames Interesse zu schließen:
»Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern. Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinahe sich selbst ...«
»Die Parzelle, der Bauer und die Familie; daneben eine andre Parzelle, ein andrer Bauer und eine andre Familie. Ein Schock davon macht ein Dorf, und ein Schock von Dörfern macht ein Departement. So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet.« (Ebd. S. 198).
Der Kontext macht klar, daß Marx hier als Schaum-Phänomenologe ante litteram argumentiert, indem er die gleichförmigen Einheiten der parzellenbäuerlichen Vielheiten in einem additiv gebildeten Kollektiv zusammengefaßt sieht - die Ausdrücke Dorf, Departement und Kartoffelsack liefern unverkennbar aphrologische Metaphern für strukturschwache ZeIlen-Agglomerationen. Sie sollen verdeutlichen, daß und warum ein Gebilde dieser Art tel quel außerstande ist, Parteilichkeit oder Klassensubjektivität an den Tag zu legen - wobei nach der Ansicht von Marx nur eine »revolutionäre« und vom Willen zur Macht erfüllte Klasse in der Lage wäre, ihren eigenen politischen und immunitären Interessen Genüge zu tun. In diesen Überlegungen sind unverkennbar Nachklänge Hegelscher Strukturgedanken zu vernehmen, so sehr sich der Referent der Grundlinien der Philosophie des Rechts über die Vorstellung mokiert hatte, ein »bloßer atomistischer Haufen von Individuen« (§ 273) könne sich aus eigenen Kräften zu einer rechtlich geordneten Existenz oder gar zu einer Verfassung aufschwingen. Ein von Klassenbewußtsein durchdrungener »Haufen« hätte gleichwohl mindestens die Hälfte des Weges zu einer vernünftigen Verfassung zurückgelegt. Über die Länge der Strecke macht sich der Autor des Achtzehnten Brumaire kaum Illusionen; er wirft einen harten Blick auf die Verhältnisse, die im Innern jeder einzelnen Einheit des Parzellen- Universums für Verdunkelung und Isolierung sorgen:
»Das Parzelleneigentum ... hat die Masse der französischen Nation in Troglodyten verwandelt. Sechzehn Millionen Bauern (Frauen und Kinder eingerechnet) hausen in Höhlen, wovon ein großer Teil nur eine Öffnung, der andre nur zwei, und der bevorzugteste nur drei Öffnungen hat. Die Fenster sind an einem Haus, was die fünf Sinne für den Kopf sind.« (Karl Marx, ebd., 1852, S. 201).
Wenn es einen Anlaß gab, die »Idiotie des Landlebens« zu konstatieren, dann materialiter aufgrund der (durch die französische Fenstersteuer mitbedingten) geringen Zahl von Öffnungen in den Wohnverschlägen der Bauern - formaliter aufgrund der Isolierungen, die verhindern, daß die Bewohner der Parzellen den Übergang von der Seinsweise einer Klasse an sich zu der einer Klasse für sich vollzögen. Fensterlosigkeit steht für Mangel an Kommunikation, Aufklärung und Solidarität. Unter diesem Gesichtspunkt bilden die Parzellenbauern ein Para-Proletariat; sie sehen sich, wie das Industrieproletariat, der Aufgabe gegenüber, aus der isolierten und unpolitischen in die organisierte, politisch virulente Existenzweise überzugehen. Dies kommt dem Programm gleich, den »Kartoffelsack« in die Partei zu transformieren - oder, um urbanistisch zu reden, der Forderung, die Agglomeration der in sich verschlossenen Höhlen in eine kommunikativ beatmete nationale Arbeitersiedlung, ja in eine klassenumspannende internationale Kommunalwohnung umzuwandeln. Wo isolierte Höhlen waren, sollen politische Bewegungen, militante Gewerkschaften, interessenbewußte Klassenkampfverbände entstehen - wir würden sagen solidarische Schäume, und zwar um auszudrücken, daß die vielzitierten Werktätigen in systemischer Sicht weder ein Geschichtssubjekt sind noch eine »Masse«, sondern eine immunitäre Allianz. Der Marxsche Diskurs beruht auf der Annahme, daß mit dem Ausdruck »Klasse« das wahre und wirkliche Kollektivformat der Parzellenbauernschaft beschrieben sei und daß daher mit der Entstehung von »Klassenbewußtsein« und einer entsprechenden offensiven oder »revolutionären« Interessenpolitik der entscheidende Immunitätsvorteil für die Angehörigen dieser »Klasse« erobert werden könnte.
Hier zeigt sich, wie die sozialistische Theorie des 19. Jahrhunderts das Epochenthema entdeckte, das festzuhalten ihr jedoch infolge von falschen begrifflichen Vorentscheidungen nicht gelang - jene Verschränkung von Immunität und Kommunität, in der sich seit jeher die »Dialektik« oder kreiskausale Wechselwirkung von Eigenem und Fremdem, Gemeinsamem und Nicht-Gerneinsamem vollzieht. In dem besudelten und irrekuperablen Begriff des Klassenbewußtseins verbirgt sich weiterhin der nicht zu Ende gedachte Hinweis darauf, daß gerade im Zeitalter zunehmender Individualisierung, Parzellierung und Isolierungschancen den Einzelzellen daran gelegen sein kann, sich mit einer größeren Einheit von Gleichsituierten zu solidarisieren, um ihre Interessenvertretung zu optimieren. Merken wir an, daß sich im Ausdruck »Volksgemeinschaft« eine analoge Problematik verbirgt - ein Wort, das ähnlich entstellt und von künftiger affirmativer Verwendung ausgeschlossen ist. Könnte es nicht sein, daß der Begriff Interesse als solcher (zumal in Zusammensetzungen wie nationales Interesse, Klasseninteresse, Unternehmensinteresse, Einwohnerinteresse) immer schon eine verdeckte Metapher für nur kommunitär erzielbare Immunvorteile war?“
Peter Sloterdijk, 2004

- Selbstpaarungen im Habitat -
(Peter Sloterdijk, 2004)

„Als elementare egosphärische Form ist das Apartment der Ort, an dem die Symbiose der Familienmitglieder, die seit unvordenklichen Zeiten die primären Wohngemeinschaften bilden, aufgehoben wird zugunsten der Symbiose des alleinlebenden Individuums mit sich selbst und seinem Environment. Es steht außer Frage, daß sich mit dem Übergang zum zeitgenössischen monadischen Wohnen ein tiefer Einschnitt in die Arten und Weisen des Zusammenseins von Personen mit ihresgleichen und anderem vollzieht. Man könnte von der Krise der zweiten Personen sprechen, die nun gewissermaßen in die ersten hineinverlegt werden.

Vom Vorliegen einer Egosphäre kann die Rede sein, wenn ihr Bewohner elaborierte Gewohnheiten der Selbstpaarung entwickelt hat und sich habituell in einem ständigen Prozeß der Unterscheidung von sich selbst - das heißt im »Erleben« - bewegt. Eine solche Lebensform wäre mißverstanden, wenn man sie nur auf das Merkmal Alleinleben im Sinne von Partnerlosigkeit und menschlicher Unergänztheit festlegen wollte. Die Nicht-Symbiose mit Anderen, die der Alleinlebende im Apartment praktiziert, ist bei genauerer Betrachtung als Autosymbiose zu erläutern. In dieser wird die Form des Paares von dem Einzelnen erfüllt, der sich in ständiger Unterscheidung von sich fortwährend auf sich selbst als den inneren Anderen oder eine Vielheit von Sub-Ichen bezieht. Das Zusammensein verschiebt sich in diesen Fällen auf den dauernden Wechsel der Zustände, in denen der Einzelne sich erfährt. Zur Verwirklichung der Selbstpaarung sind die Medien vorauszusetzen, die wir als Egotechniken bezeichnet haben - es sind dies die gängigen medialen Träger der Selbstergänzung, die ihren Benutzern ein ständiges Zurückkommen auf sich und eo ipso die Paarbildung mit sich als innerem Überraschungspartner erlauben. Die programmatischen Singles heben nicht zufällig oft hervor, das Alleinleben sei die unterhaltsamste Existenzform, die ihnen bekannt sei.

Wie wir im ersten Band (vgl. Sphären I - Blasen, 1998) illustrierten, hat der individualistische Schein, der sich in der Moderne zu einer Ontologie der Getrenntheit verfestigen sollte, erst im Laufe der neuzeitlichen Medienrevolution suggestiv werden können. Zu ihm haben die egotechnischen Medien beigetragen, die bei den Einzelnen neue Routinen des Zurückkommens auf sich selbst eingeschliffen haben - in erster Linie die Schreib- und Lesetechniken, mit deren Hilfe historisch neuartige Prozeduren des inneren Dialogs, der Selbstprüfung und der Selbstdokumentation eingeübt wurden. Dies hatte zur Folge, daß der homo alphabeticus nicht nur eigentümliche Übungen der Selbstobjektivierung entwickelte, sondern auch solche der Wiedervereinigung mit sich selbst durch die Aneignung des Objektivierten.

Im Alltag moderner Apartmentbewohner, wie dem der meisten übrigen Zeitgenossen, ist der Blick in den Spiegel zur regelmäßigen Übung geworden, die der fortlaufenden Selbstjustierung dient.

Der Ausdruck Autosymbiose soll anzeigen, daß die dyadische Struktur der primären Sphäre unter gewissen Bedingungen formal von den Einzelnen nachgespielt werden kann - dann nämlich und nur dann, wenn diese über die nötigen medialen Accessoires verfügen, um sich ganz in auf Selbstergänzung aufgebauten Verhältnissen einzurichten.

Die klösterlichen Wohneinheiten ... waren als Doppelzellen angelegt, mit einem Innen- und Außenraum ... - waren doch in den hochmittellaterlichen Klosterzellen die ersten Keime der neuzeitlichen Subjektform aufgegangen. In diesen Behältern für die Selbstsammlung vollzog sich die Akkumulation der Aufmerksamkeit, aus der sich - nach der Umstülpung der metaphysischen Transzendenz auf Immanenz - der moderne Individualismus westlichen Stils entwickeln sollte. .... Wie sich in der Mönchszelle der asketische außerweltliche Individualismus materialisierte, unterstützt die zeitgenössische Apartmentkultur mitsamt ihren egotechnischen Apparaturen den innerweltlichen hedonistischen Individualismus.“
Peter Sloterdijk, 2004

Zerfall durch Apartheit - bis hin zu neuen Immunvorteilen?

Apart heißt beiseite, abgetrennt - das Apartment ist also etwas Beiseitiges, Abgetrenntes. Dieses gewollte Abgetrennt-Sein, dieses Apart-Sein geht durchaus einher mit Spenglers Satz: „Der letzte Mensch der Weltstädte will nicht mehr leben, wohl als einzelner, nicht aber als Typus, als Menge“. Auch wenn jedes Einzelzimmer im Apartmenthaus nur bedingt eine Raumflucht darstellt, so zeigt diese freiwillige Flucht ins Aparte doch eine Art Weltflucht, die von den „egotechnischen Medien“ befördert wurde und heute mehr denn je verstärkt wird. Spenglers Untergang des Abendlandes setzt natürlich einen Aufgang des Abendlandes voraus und Sloterdijks Schäume folgen natürlich ebenfalls einer Logik des Auf- und Untergangs im Sinne eines Aufblähens und Zerplatzens. In beiden Fällen geht es um Auf- und Abbau - wobei der Abbau auch als Zerfall bezeichnet werden kann. (Vgl. Unfruchtbarkeit und Zerfall). Beide - der Untergang einer Kultur und der Zerfall eines Schaums - können pseudomorph oder synkretistisch charakterisiert sein oder auch nicht, und ihre Einzelteile, ob Individuum oder Zelle (vgl. Zelle und Weltblase), können den Tod der Großeinheit (Kultur, Reich, Volk, Nation, Gruppe oder andere Gemeinschaften des Zusammen-Seins) „überleben“ oder auch nicht, sie können neue Großeinheiten bilden oder auch nicht: beide folgen der inneren Logik ihrer Geschichte. Ob man die Ursymbol-Seelenbild-Metapher oder die Insel-Raum-Metapher hernimmt, um Auf- und Untergänge adäquat beschreiben zu können - es geht zum Leben hin und vom Leben weg, also: um das existentielle Phänomen, zu dem das Leben zählt. (Vgl. Lebensphilosophie). Für Spengler war klar, daß der Auf- und Untergang der abendländischen Kultur am Ursymbol des Faustischen und am Seelenbild der Raum-Unendlichkeit am deutlichsten zu erkennen ist - man beachte jedoch die primäre Bedingung, die erste Voraussetzung: Germanen als kulturgenetisches Kontrollvolk (vgl. Kybernetik) -, und der höchste Punkt des Aufgangs wurde kultursymbolisch mit den gotischen Domen erreicht, der niedrigste Punkt des Untergangs liegt dagegen noch vor uns. (Diese Aussage wäre mißverstanden, wenn man sie bewerten wollte). Ein weiteres unter vielen Beispielen für den Auf- und Untergang des Abendlandes liefert meiner Meinung nach auch Sloterdijks Satz zu den frühen und späten Kloster-Wohneinheiten: „Wie sich in der Mönchszelle der asketische außerweltliche Individualismus materialisierte, unterstützt die zeitgenössische Apartmentkultur mitsamt ihren egotechnischen Apparaturen den innerweltlichen hedonistischen Individualismus.“ (Ebd., S. 588). Ob sich zukünftig ein „bloßer atomistischer Haufen von Individuen“ aus eigenen Kräften zu einer rechtlich geordneten Existenz oder gar zu einer Verfassung wird aufschwingen können, mag fraglich bleiben. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 273). Ob Nietzsches „Übermensch“ als „der letzte Mensch“ in Zukunft doch noch kommen wird, mag ebenfalls fraglich bleiben. Bis dahin bleibt uns wohl nichts anderes übrig, alle aparte Entwicklungen nicht nur einfach als Geschichte der Apartheit oder des im Apartment-Seins zu deuten - wenn auch tatsächlich aus der zellulären Weltblase individualistische Schäume entstehen können -, sondern auch als das, was sie sonst noch deutlich machen: Unfruchtbarkeit und Zerfall.

- Die Helden der Familie -
(Norbert Bolz, 2006)

Wozu Kinder? -

„Jedes gut bürgerlich erzogene Kind kennt das ZauberflötenDuett pa-pa-pa-pa ..., das die Liebe als Kindersegen besingt. Und jeder fleißige Abiturient kennt die Schwarzbrotszene aus Werthers Leiden: »Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinausgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein: Danke!« (Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, 1774, S. 21). (**). Das sind idyllische Bilder eines Familiengeistes, der aus der Bastelstube unserer Lebensstile genau so unwiederbringlich verschwunden scheint wie der Geist des Protestanismus aus dem stahlharten Gehäuse des Kapitalismus. Wie konnte es dazu kommen?


Das Unzeitgemäße dieser Szene hat schon Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 681, deutlich gespürt: »Kinderreichtum, dessen ehrwürdiges Bild Goethe im Werther noch zeichnen konnte, wird etwas Provinziales. Der kinderreiche Vater ist in Großstädten eine Karikatur«.

Es gibt keine tiefer angelegte Analyse zu unserem Thema als die von Oswald Spengler in seinem Hauptwerk über den Untergang des Abendlandes. Der Ton dieser Analyse, vor allem in dem zentralen und für uns einschlägigen Kapitel über die Seele der Stadt, ist aber so überspitzt polemisch und ressentimentgeladen (und beweist, daß man zu Spenglers Zeiten noch frei denken, sprechen und schreiben durfte, das Recht auf freie Meinungsäußerung auch in der Öffentlichkeit praktizierbar war; heute aber darf man praktisch kaum noch frei denken, sprechen und schreiben, ist das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit schon nicht mehr praktizierbar [**]; HB), daß bisher kaum jemand Lust hatte, zu fragen, ob Spengler recht behalten hat. Dabei hat seine Hauptthese über die »Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen«  (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1971, S. 679) durchaus die Qualität, unsere aktuellen Erfahrungen mit der Kinderlosigkeit von Wohlstandsbürgern zu resümieren. Spengler unterstellt dem modernen Menschen, nicht mehr leben zu wollen. Genauer: Er möchte wohl noch als einzelner leben, und zwar möglichst lange, wie Nietzsche das vom »letzten Menschen« vorausgesagt hat, aber er möchte nicht mehr als Typus leben. (**). Der Gedanke an das Aussterben seiner Familie schreckt ihn nicht mehr. Auf die Frage »Wozu Kinder?«  findet er keinen Grund und hat deshalb auch keine.

Vor allem die Frauen rebellieren gegen das Schicksal der Biologie. Kinder zu gebären und die damit einhergehenden Sorgen und Einschränkungen in Kauf zu nehmen war früher selbstverständlich. Doch in der modernen Welt haben sich auch die Frauen daran gewöhnt, ihr Leben zu »wählen«; und seither fordern sie Gründe, warum sie diese Belastungen auf sich nehmen sollten. Da nun die Vorteile einer Schwangerschaft sehr fern liegen, ja zweifelhaft sind, die Nachteile dagegen auf der Hand liegen, kann es nicht überraschen, daß sich immer mehr Frauen gegen Kinder entscheiden.

Bekanntlich hat Spengler den Untergang des Abendlandes analog zum Untergang der Antike konstruiert. Und gerade im Blick auf die zivilisatorische Unfruchtbarkeit funktioniert dieser Vergleich zwischen dem römischen Imperium und dem modernen Europa besonders gut. Beide leben sie in Frieden, sind gut organisiert und hochgebildet. Trotzdem schwindet die Bevölkerung rasch dahin. Und daran können auch die verzweifelten staatlichen Maßnahmen nichts ändern, die Kinder besserstellen, unbemittelte Eltern unterstützen, Adoptionen fördern und Einwanderung erleichtern. All diese politischen Maßnahmen verpuffen, weil das Problem auf einer anderen - wie Spengler meint: metaphysischen - Ebene liegt. »Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, »sich gegenseitig zu verstehen«. Es ist ganz gleichgültig, ob eine amerikanische Dame für ihre Kinder keinen zureichenden Grund findet, weil sie keine season versäumen will, eine Pariserin, weil sie fürchtet, daß ihr Liebhaber davongeht, oder eine Ibsenheldin, weil sie »sich selbst gehört«. Sie gehören alle sich selbst und sie sind alle unfruchtbar.« (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1971, S. 681). Auch wenn wir den Niedergang der bürgerlichen Familie nicht gleich metaphysisch zum Untergang des Abendlandes steigern wollen, müssen wir doch feststellen, daß eine Fülle spezifisch moderner Entwicklungen das Spenglersche Szenario in den letzten fünfzig Jahren erheblich verschärft hat. Dazu gehören die sexuelle Freizügigkeit und die antiautoritäre Erziehung seit den 1960er Jahren, der unaufhaltsame Aufstieg des Feminismus und die Eroberung der Kulturbühnen, aber auch der Straßen der Metropolen durch die Homosexuellen. Dazu gehören aber auch die enorm erweiterten wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen - und die Erfindung der Pille.“

Norbert Bolz, 2006

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Fußnoten

Vorgeburtliche bzw. schwangerschaftliche Verhältnisse sind wie eine Pseudomorphose:
„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 784). Auch eine junge Kultur kann so mächtig sein, daß sie eine alte dort, wo sie zu Hause ist, überlagert. Das Beispiel zwischen der (alten) apollinischen Kultur, auch kurz „Antike“ genannt, und der (jungen) magischen Kultur, auch „Persien/Arabien“ genannt, macht es deutlich: „Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden. Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. .... Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 800-801).

Bekanntlich sind die Mutter und das vorgeburtliche Kind nicht nur zwei verschiedene Lebewesen, sie sind auch durch zwei verschiedene Blutgefäßsysteme voneinander getrennt, also von Anfang an zwei verschiedene Lebenssysteme in zwei verschiedenen Welten. (Vgl. 0-2 und 2-4 sowie 4-6).

Oswald Spengler (Blankenburg/Harz, 28.05.1880 - 08.05.1936, München), Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922. Darin u.a.: Die Seele der Stadt (S. 656-687), darin u.a.: Weltgeschichte ist Stadtgeschichte (S. 661-664), Geist der Weltstadt (S. 673-678), Unfruchtbarkeit und Zerfall (S. 678-687).

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 661-664 (Weltgeschichte ist Stadtgeschichte).

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 673-678 (Geist der Weltstadt).

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 678-687 (Unfruchtbarkeit und Zerfall).

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 761.

Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzliche Attribute: apollinisch und faustisch. Einzelkörper und Unendlicher Raum heißen ihre Ursymbole. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. (Vgl. Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390 und 1922, S. 847f.). Vgl. dazu auch das Germanentum.

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918 (Bd.I), 1922 (Bd.II), S. 661-664.

Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 - 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor?  Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).

Synoikismos („Zusammensiedelung“): Zusammenlegung mehrerer Siedlungen in der griechischen Antike zur Schaffung neuer oder zur Stärkung bestehender Siedlungen.

Samarra zeigt wie die Kaiserfora in Rom und die Ruinen von Luxor und Karnak amerikanische Verhältnisse. Die Stadt erstreckt sich 33 km lang am Flusse hin. Der Palast Balkuwara, den der Kalif Mutawakkil für einen seiner Söhne erbauen ließ, bildet ein Quadrat von 1250 m Seitenlänge. Eine der Riesenmoscheen mißt 260 x 180 m. Schwarz, Die Abbasidenresidenz Sammara (1910). Herzfeld, Ausgrabungen von Samarra (1912).

Friedländer, Sittengeschichte Roms, I S. 5; man vergleiche dies mit dem nicht entfernt so stark bevölkerten Samarra; die„spätantiken“ Großstädte auf arabischem Boden sind auch in dieser Hinsicht nicht antik. Die Gartenvorstadt von Antiocha war im ganzen Osten berühmt.

Die Stadt, welche der ägyptische „Julian Aposta“, Amenophis IV., sich in Tell al Amarna baute, hatte Straßen bis zu 45 m Breite. Borchardt, Zeitschrift für Bauwesen LXVI, 524.

Robert von Pöhlmann, Aus Altertum und Gegenwart, 1910, S. 211 ff..

Man muß hierbei berücksichtigen, daß Oswald Spengler diese Abhandlung 1911 bis 1917 bzw. 1922 geschrieben hat!
Der Untergang des Abendlandes, 1918 (Bd. I), 1922 (Bd. II). Die Seele der Stadt (S.656-687), darin: Geist der Weltstadt (S. 673-678).

Gegenwart war zu dieser Zeit, als Oswald Spengler sein Hauptwerk schrieb 1911 bis 1917 bzw. 1922!
Der Untergang des Abendlandes, 1917 (Bd. I), 1922 (Bd. II). Die Seele der Stadt (S.656-687), darin: Geist der Weltstadt (S. 673-678).

TAEDIUM VITAE (lat.) bedeutet „Lebensmüdigkeit“ im Sinne von „Lebensüberdruß“ oder „Ekel vor der Lebensfreude“.

Henrik Ibsen [Brynjolf Bjarme] (Skien, 20.03.1828 - 23.05.1906, Kristiania/ heute: Oslo), norwegischer Dichter, zunächst Apotheker in Grimstad, dann Mediziner und Mitherausgeber mehrerer Zeitungen sowie Theaterdirektor; verbrachte nach einem längeren Rom-Aufenrhalt 20 Jahre in Deutschland (Dresden, München). An Stoffen aus dem Alltag entwickelte er seine Hauptthemen, die Beziehungen des Individuums zur sozialen Umwelt, die durch Konvention verhinderte Selbstverwirklichung und vor allem die Situation der Frau in der Ehe und die Brüchigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Kennzeichnend ist die hintergründige Symbolik der Leitmotive und die episch-monologische Form. Mit „Stützen der Gesellschaft“ (1877) schuf Ibsen die neue Gattung des Gesellschaftsstücks, das mit radikaler Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen den Beginn des modernen Dramas markiert. In einigen seiner späten symbolistischen Dramen nahm er psychoanalytische Erekenntnisse vorweg, aufgezeigt u.a. an schwierigen Charakteren („Hedda Gabler“, 1890) und an der Auseinandersetzung mit sich selbst („Baumeister Solness“, 1892). Ibsen hat sowohl auf den Naturalismus in Deutschland und Skandinavien gewirkt, als auch das Drama des Symbolismus mitbegründet.
Werke u.a.: Catilina (1850), Kronprätendenten (1862), Brand (1866), Peer Gynt (1867), Stützen der Gesellschaft (1877), Nora oder: Ein Puppenheim (1879), Gespenster (1881), Ein Volksfeind (1882), Die Wildente (1884), Rosmersholm (1886), Die Frau vom Meere (1888), Hedda Gabler (1890), Baumeister Solness (1892), John Gabriel Borkmann (1896), Wenn wir Toten erwachen (1900) u.v.m..

George Bernard Shaw (Dublin, 26.07.1856 - 1950, Ayot Saint Lawrence [Hertford]), irischer Dichter, war überzeugter Antialkoholiker, Nichtraucher und Vegetarier. In dem Essay „Ein Ibsenbrevier“ (1891) legte Shaw erstmals sein literarisches Programm dar: Demaskierung der bürgerlichen Gesellschaft, zerstörung verkrusteter Konventionen, prinzipielle Auflehnung gegen etablierte Normen. Werke u.a.: Ein Ibsenbrevier (1891), Die Häuser des Herrn Sartorius (Heuchler; 1893), Frau Warrens Gewerbe (1898), Der Liebhaber (1898), Helden (1898), Candida (1898), Der Mann des Schicksals (1898), Man kann nie wissen (1898), Künstlerliebe (1900), Plays for Puritans (1901), Der Teufelsschüler (1901), Cäsar und Cleopatra (1901), Captain Brassbounds Bekehrung (1901), Mensch und Übermensch (1903), Major Barbara (1905), Die törichte Heirat (1905), Arzt am Scheideweg (1906), Pygmalion (1912), Die heilige Johanna (1923), Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus (1928), Der Kaiser von Amerika (1929).

Georg Dehio (Reval, 22.11.1850 - 19.03.1932, Tübingen), deutscher Kunsthistoriker, u.a. auch Professor in Straßburg; verfaßte grundlegende Werke.

Eduard Meyer (Hamburg, 25.01.1855 - 31.08.1930, Berlin), deutscher Historiker; stellte u.a. die grundlegende Chronologie der ägyptischen Geschichte auf; Professor: seit 1885 in Breslau, seit 1889 in Halle, seit 1902 in Berlin.

Richard Korherr, Geburtenrückgang, 1927 (mit einer Einführung von Oswald Spengler), in: Süddeutsche Monatshefte, Heft 3, 25. Jahrgang, Dezember 1927, S. 153-190, hier: S. 155ff. Siehe auch: Korherrs Tabellen (S. 164, 174, 179). Korherr als klarer Gegner von Robert Malthus (1766-1834), von Malthusianismus und Neomalthusianismus: „Der Geburtenrückgang, diese Erscheinung voll tiefster Tragik, wird durch den Neomalthusianismus bewußt gefördert, die abendländische Menschheit bewußt in den Abgrund gestürzt! Wir haben keine wirkliche Übervölkerung. .... Aber selbst wenn wir nach den Begriffen von gestern die oberste Grenze des Nahrungsspielraums erreicht hätten, so haben wir bereits heute nach den neuesten Methoden der landwirtschaftlichen Bodenbenutzung wie z.B. elektrische Bestrahlung oder auch nur größere Intensivierung wieder ungeheuer viel Platz für neue Menschen. Der Nahrungsspielraum Europas ist so groß, daß es seine Bevölkerung heute ohne die geringste Einfuhr vollständig ernähren könnte. Es gibt keinen relativeren Begriff als den der Übervölkerung.“ (Ebd., S. 156). Siehe auch genau 78 Jahre später, 2005, bei: Herwig Birg. Weiter heißt es bei Korherr:„Es ist nicht das erste Mal in der Weltgeschichte, daß das Wort Übervölkerung in aller Munde liegt, daß eine Beschränkung der Geburtenzahl gefordert wird. Man konnte dies alles in Hellas zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, in Rom während der punischen Kriege hören. Man konnte es ... zu einer bestimmten Zeit in Babylonien, Ägypten, Indien, China, Arabien, Yucatan hören. Und dann dauerte es immer nur kurze Zeit und der Geburtenrückgang trat in seiner ganzen Tragik offen zutage und wütete einige Jahrhunderte lang so entsetzlich, daß schließlich von einst mächtigen Völkern nichts zurückblieb als einige Stumpfe, degenerierte Horden.“  (Ebd., S. 156).

Frankreich mit Geburtendefizit !

Geburtenrate (Geburtenziffer) bedeutet : Zahl der Lebendgeborenen auf 1000 Einwohner im Jahr! Sie wird also in Promille (‰) angegeben; gleiches gilt für die Sterberate (Sterbeziffer). Abgesehen von Ausgleichsmöglichkeiten (Wanderungen), gilt grundsätzlich:Geburtenrate > Sterberate = Positive Wachstumsrate (= Bevölkerungsmehrung wegen Geburtenüberschuß bzw. Sterbedefizit); Geburtenrate = Sterberate = Neutrale Wachstumsrate (Gleichstand [also: kein Wachstum]); Geburtenrate < Sterberate = Negative Wachstumsrate (= Bevölkerungsminderung wegen Geburtendefizit bzw. Sterbeüberschuß). Weil die „rohe“ Geburtenrate nicht ausreicht, die „Gründe“ für den Geburtenrückgang zu „erklären“, gibt es die Fruchtbarkeitsrate (Fertilitätsrate, - ziffer). Vgl. Demographie, „Übergangstheorie“, „ökonomisch-demographisches Paradoxon“.

Fruchtbarkeitsrate: aus Fortpflanzungsverhalten (allen Bedingungen und Motive des generativen Verhaltens) resulierende (insgesamte) „durchschnittliche Zahl von Kindern, die eine Frau im Laufe ihres Lebens gebären würde, wenn sie in jeder Altersstufe in Übereinstimmung mit der altersspezifischen Fruchtbarkeitsrate Kinder zur Welt bringen würde.“ (Fischer Weltalmanach, 2006, S. 781). Denn bei einer gegebenen Zahl von Frauen zwischen 15 und 45 Jahren hängt die Zahl der Geborenen z.B. „auch davon ab, wie sich die Frauen auf diese Altersjahre innerhalb des Intervalls von 15 bis 45 aufteilen. Je mehr von ihnen zu der Altersgruppe gehören, in der die meisten Kinder zur Welt kommen - in Deutschland liegt das Gebäralter mit der höchsten Geburtenrate bei 30 -, desto höher ist bei gleicher Zahl und gleichem Fortpflanzungsverhalten der Frauen die jährliche Geburtenzahl. Die Verteilung der Frauen auf die Altersjahre von 15 bis 45 ist in jedem der miteinander verglichenen Kalenderjahre oder Länder meist unterschiedlich. Deshalb wird bei zeitlichen oder internationalen Vergleichen künstlich eine gleiche Altersverteilung zugrunde gelegt, indem pro Altersjahr genau 1000 Frauen angenommen werden. Mit diesem Kunstgriff läßt sich die zur Erklärung von Verhaltensänderungen wesentlich besser geeignete, von den Einflüssen der Altersstruktur bereinigte »Zahl der Lebendgeborenen pro Frau« berechnen, die auch als »zusammengefaßte Geburtenziffer«  (englisch: Total Fertility Rate, TFR) bezeichnet wird. Der Begriff »zusammengefaßt« drückt dabei aus, daß die Kinder, die in einem Kalenderjahr von dem im Altersintervall von 15 bis 45 gleichzeitig lebenden 30 Frauenjahrgängen geboren wurden, zusammen berücksichtigt werden. Man tut dabei so, als ob die in einem Kalenderjahr geborenen Kinder von einer künstlich zusammengesetzten Generation zur Welt gebracht worden seien, die aus den 30 verschiedenen Jahrgängen besteht, die im Jahr der Betrachtung gemeinsam leben und in einem unterschiedlichen Alter stehen. Die simpel erscheinende statistische Größe - »Zahl der Geburten pro Frau« - läßt sich also nicht durch Umfragen ermitteln, sie ist das Ergebnis von Berechnungen, die auch Annahmen über die Zahl der Geburten enthalten, die die heute erst 15, 16, 20 oder 30 Jahre alten Frauen in der Zukunft noch haben werden. Eine dieser Annahmen ist beispielsweise, daß die im Jahr der Betrachtung 25jährigen zehn Jahre später als 35jährige so viele Kinder (pro 1000) zur Welt bringen werden wie die heute 35jährigen. Das klingt nicht nur ziemlich konstruiert, sondern ist es auch. Es gibt jedoch keine einfachere Methode um die Geburtenrate eines Landes in einem bestimmten Kalenderjahr - gemessen durch die simpel erscheinde Zahl der Lebendgeborenen pro Frau - anzugeben. Die Unterschiede der Altersstruktur machen sich auch dann störend bemerkbar, wenn nicht verschiedene Kalenderjahre oder Länder, sondern verschiedene Geburtsjahrgänge miteinander verglichen werden. In der Fachliteratur wird ein Geburtsjahrgang auch mit dem Begriff »Kohorte« und die Kinderzahl pro Frau eines Geburtsjahrgangs entspechend als »jahrgangs- bzw. kohortenspezifische Geburtenzahl pro Frau« bezeichnet (englisch: Completed [oder: Cohort] Fertility Rate, CFR). Auch bei der Berechnung der Geburtenzahl pro Frau für die verschiedenen Geburtsjahrgänge wird der im Zeitablauf variierende Einfluß der Altersstruktur künstlich ausgeschaltet, um den reinen Effekt des Fortpflanzungsverhaltens zu messen.“ (Herwig Birg, Die ausgefallene Generation, 2005, S. 35-36). Vgl. Demographie, „Übergangstheorie“, „ökonomisch-demographisches Paradoxon“.

Herwig Birg, Die Weltbevölkerung (Dynamik und Gefahren), 1996, S. 107-111. Herwig Birg ist ebenfalls ein klarer Gegner von Robert Malthus (1766-1834), von Malthusianismus und Neomalthusianismus: „Malthus' »Bevölkerungsgesetz erfüllt keine der Voraussetzungen, die jede Theorie erfüllen sollte, um in der Wissenschaft ernstgenommen zu werden. .... Es ist sogar zu befürchten, daß der Malthusianismus nach seinem gegenwärtigen Wandel zum ökologischen Malthusianismus im 21. Jahrhundert noch verheerendere Auswirkungen haben wird als in den beiden vergangenen Jahrhunderten. Süßmilch (1707-1767) hatte durch empirische Tragfähigkeitsanalysen begründet, daß die Erde mehr als das Zehnfache der Menschenzahl ernähren könne, als zu seiner Zeit lebten. Malthus' Kernthese war, daß die Erde bereits mit der damaligen (um 1800; HB) Bevölkerungszahl von rd. einer Milliarde übervölkert sei und daß ein weiterer Zuwachs die Gesellschaft in den politischen, ökonomischen und moralischen Ruin führen müsse. Heute (1996; HB) lebt die sechsfache Zahl der Menschen als zu Malthus' Zeit, wobei ein großer Teil von ihnen - mehr als die gesamte damalige Menschheit - einen unvergleichlich höheren Lebensstandard hat als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte, und dies bei mehr als der doppelten Lebenserwartung. Süßmilchs Ideen haben sich bestätigt, nicht die von Malthus, warum ist dann aber Süßmilch nahezu vergessen und nicht Malthus?  Wahrscheinlich kann diese Frage in hundert Jahren genauso gestellt werden wie heute. Die Antwort darauf hat viel mit dem Problem zu tun, warum Menschen Hungers sterben müssen, obwohl das Ernährungspotential der Erde groß genug ist, um eine weitaus größere als die heute lebende Menschenzahl zu ernähren. In seiner Beweisführung führt Malthus ein Zahlenbeispiel an, das die entscheidende Voraussetzung seiner Theorie verdeutlichen soll, daß sich nämlich die Bevölkerung in der Form einer geometrischen Reihe vermehrt (entsprechend der Zinseszinsformel), während die Nahrungsmittelmenge nur in linearer Form wächst (wie eine Gerade). Bei einer geometrischen Reihe ist der Zuwachs von Periode zu Periode prozentual gleich und deshalb absolut steigend. Bei einer linearen Reihe ist der Zuwachs absolut gleich und deshalb prozentual fallend. Daher muß jede geometrisch wachsende Reihe jede linear wachsende ab einem bestimmten Punkt übersteigen. Das Zahlenbeispiel von Malthus ist: »Nehmen wir für die Bevölkerung der Welt eine bestimmte Zahl an, zum Beispiel 1000 Millionen, so würde die Vermehrung der Menschheit in der Reihe 1, 2, 3, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512 etc. vor sich gehen, die der Unterhaltsmittel in der Reihe 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 etc.. Nach 225 Jahren würde die Bevölkerung zu den Nahrungsmitteln in einem Verhältnis von 512 zu 10 stehen, nach 300 Jahren 4096 zu 13, nach 2000 Jahren wäre es beinahe unmöglich, den Unterschied zu berechnen, obwohl der Ernteertrag zu jenem Zeitpunkt zu einer ungeheuren Größe herangewachsen wäre.« Die in diesem Beispiel zugrunde gelegte Voraussetzung, daß die Nahrungsmittelmenge nur linear wächst, erwies sich in den meisten Ländern und im Weltmaßstab als falsch. Die empirisch gewonnenen Ergebnisse von Süßmilch bestätigten sich dagegen. Durch die Verbesserung der Anbaumethoden, durch Erfolge bei der Pflanzen- und Tierzüchtung und später durch den Einsatz des Mineraldüngers, der von Justus von Liebig 1840 entdeckt wurde, wuchsen die landwirtschaftlichen Erträge nicht linear, sondern geometrisch. Die jährliche Wachstumsrate der Nahrungsmittelmenge überstieg sogar die Wachstumsrate der Bevölkerung, so daß die Pro-Kopf-Nahrungsmittelmenge zunahm, statt wie in dem Zahlenbeispiel abzunehmen. Das Malthusianische »Bevölkerungsgesetz« war durch die Arbeiten Süßmilchs bereits zu dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung widerlegt.“ (Ebd., S. 29-32). Süßmilchs Hauptwerk (Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen) erschien 1741 (!!!). „Das Ergebnis der Süßmilchschen Berechnungen stimmt mit den Bevölkerungsprojektionen unserer Zeit überein: Im Verlauf des nächsten und übernächsten Jahrhunderts kann bzw. wird die Weltbevölkerung auf mindestens 8 Milliarden wachsen, wobei die Obergrenze weit weniger sicher angegeben werden kann, aber auch hier stimmt die Süßmilchsche Schätzung mit den modernen Berechnungen erstaunlich gut überein: Sie könnte bei etwa 13 Milliarden liegen. Als Süßmilch diese Zahlen veröffentlichte, lebten auf der Erde erst etwa 800 Millionen Menschen, er schätzte also das Wachstumspotential auf das Zehn- bis Sechzehnfache - eine für die damalige Zeit ungeheuerliche Aussage, die auf viel Widerspruch stieß. Malthus kam zu einem völlig anderen Resultat. Für ihn war die Erde mit etwa einer Milliarde Menschen, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des »Bevölkerungsgesetzes« lebten, bereits übervölkert. Die Kernthese seiner Bevölkerungstheorie war, daß gesellschaftlicher Fortschritt, wie er in der französischen Revolution propagiert wurde, aus demographischen Gründen unmöglich sei. Das Bevölkerungswachstum, das als Folge solcher gesellschaftlicher Veränderungen zu erwarten war, müsse auf Grund der »naturgesetzlichen« Mechanismen des »Bevölkerungsgesetzes« zwangsläufig zum Zusammenbruch des Staates und zum moralischen Ruin der Gesellschaft führen.“ (Ebd., S. 22-23). Malthus lag also völlig falsch. (Mehr zu Birgs berechtigten „Antimalthusianismus“).

Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende (Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa), 2001, S. 137-159. In der Einführung dazu heißt es u.a.: „Von der Gruppe der führenden Industrieländer wurde die «Global Ageing Initiative» ins Leben gerufen, um Politik und Öffentlichkeit wach zu rütteln. Unter Anwesenheit mehrerer Minister und früherer Kanzler, Ministerpräsidenten und Notenbankgouverneure fand im Januar 2001 unter Federführung des Washingtoner «Center for Strategic and International Studies» in Zürich eine internationale Konferenz statt, auf der die negativen Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Volkswirtschaften der sieben bedeutendsten Industrieländer (in dieser Reihenfolge: USA, Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Italien) im Zentrum der Debatte standen. Die Gruppe der sogenannten G7-Länder (in dieser Reihenfolge: USA, Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Italien) hat einen Anteil von rund 40% am Sozialprodukt der Welt, und es wird befürchtet, daß sich ihr Gewicht in Zukunft aus demographischen Gründen verringern wird. (Die internationale Konferenz «A Policy Summit of the Global Ageing Initiative», die im Januar 2001 in Zürich stattfand, wurde im August 2001 in Tokio fortgesetzt). Diese Furcht besteht zu Recht.“ (Ebd., S. 15).

Meinhard Miegel, Das Ende des Individualismus - Die Kultur des Westens zerstört sich selbst, 1993 (hier: S. 34). Darin u.a.: Von der Natur- zur Kulturordnung (S. 15-39), darin: Städte - Hochburgen der Individualsierung (S. 34).

Meinhard Miegel, Das Ende des Individualismus - Die Kultur des Westens zerstört sich selbst, 1993 (hier: S. 46). Darin u.a.: Die individualistischen Kulturen (S. 41-65), darin: Verstädterung verstärkt Vereinzelung (S. 46).

Peter Sloterdijk (*26.06.1947, Karlsruhe), Sphären III - Schäume, 2004. Darin u.a.: Zellenbau, Egosphären, Selbstcontainer - Zur Explikation der ko-isolierten Existenz durch das Arpartment (S. 568-603), darin: Zelle und Weltblase (S. 568-581) und Selbstpaarungen im Habitat (S. 582-603).

Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 568-581 (Zelle und Weltblase).

Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 582-603 (Selbstpaarungen im Habitat), hier: S. 582-586 & 587-588.

Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären III (Schäume), 2004. „Die Schaumtheorie ist unverhohlen neo-monadologisch orientiert: Ihre Monaden jedoch haben die Grundform von Dyaden oder komplexeren seelenräumlichen, gemeindlichen und mannschaftlichen Gebilden. (Bei Leibniz nahm der kognitive Optimismus gedämpftere Formen an, weil der Verfasser der Monadologie einen präzisen Begriff besaß von der Unauslotbarkeit der Implikationen, die ins Unendliche reichen. Wenn die Fältelung des von der Seele implizit oder dunkel Mitgewußten ins Unendliche geht, besteht keine Aussicht darauf, zu einem völlig expliziten Wissen zu gelangen; dieses ist dem Gott vorbehalten, für den menschlichen Intellekt ist der Fortschritt im Bewußtsein zunehmnder, doch immer unzulänglicher Explizitheit reserviert). .... Die Schaum-Metapher bietet den Vorzug, die topologische Anordnung von kreativ-selbstsichernden Lebensraumschöpfungen im Bild zu erfassen. .... So evoziert die Schaumvorstellung sowohl die Ko-Fragilität als auch die Ko-Isolation der in dichten Verbänden gestapelten Einheiten. ... Der Begriff der koinsistenten Systeme hebt die Gleichzeitigkeit von Nachbarschaft und Getrenntheit hervor - ein Sachverhalt, ohne dessen Durchdringung moderne Groß»gesellschaften« unverständlich bleiben. Eine sozialmorphologisch angemessene Beschreibung von Wohnanlagen, Appartmenthäusern und Siedlungen setzt ein Instrumentarium voraus, das die koinsistente Koexistenz und die vernetzte Isolierung bewohnbarer sphärischer Einheiten zu erfassen vermag. Mit dem Konzept Ko-Isolation im Schaum läßt sich die Irreführung durch die überspannte Netz-Metapher korrigieren, von der sich zu viele Autoren zu viel versprachen - meist ohne zu bemerken, daß sie mit der Rede von Vernetzung Anleihen machen bei einer falschen Graphik und einer übermäßig reduktiven Geometrie: Statt die Eigenräumlichkeit der miteinander in Bezug zu setzenden Kommunikateure zu betonen, suggeriert das Netzbild die Vorstellung von ausgedehneten Punkten, die als Schnittstellen von Linien verbunden wären - ein Universum für Datenfischer und Anorektiker. .... Die Rede von Schäumen kehrt die Eigenvolumen der kommunzierenden Einheiten hervor. .... Es gehört zu den Tugenden des neo-monadologischen Ansatzes in der Gesellschaftstheorie, daß er durch seine Aufmerksamkeit für die Assoziationen der kleinen Einheiten die Raumblindheit verhindert, die den gängigen Soziologien anhaftet. »Gesellschaften« sind aus dieser Sicht raumfordernde Größen und können nur durch eine angemessene Ausdehnungsanalyse, eine Topologie, eine Dimensionentheorie und eine »Netzwerk«analyse (falls man die Netzmetapher der des Schaums vorzieht) beschrieben werden.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004; S. 61-62, S. 63, S. 255-257, S. 298).

Norbert Bolz, Die Helden der Familie, 2006, S. 9-11. Das von Bolz „höchst engagierte Plädoyer für die Familie richtet sich gleich gegen mehrere Gegner: Gegen einen Fürsorgestaat, der die Familie ersetzen will, gegen einen neuen Hedonismus unter der Marke der »Selbstverwirklichung«, gegen eine als »Political Correctness« (**|**|**|**|**|**|**|**) getarnte Kinderfeindlichkeit der Methusalem-Apologeten und der feministischen Karrierefetischisten.“ (Ebd., Klappentext **).

„Zur Deutung der individualistischen Bestrebungen begnügen wir uns an dieser Stelle mit einer Feststellung, die Gabriel Tarde schon in den achziger Jahren des 19. Jahrhunderts notiert hatte: »Der zivilisierte Mensch von heute strebt eigentlich nach der Möglichkeit, auf menschliche Unterstützung zu verzichten.« (Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, 1890, S. 87). An der Entwicklung des Apartmentbaus läßt sich ablesen, daß nichts voraussetzungsvoller ist als die scheinbar natürliche Erwartung, daß auf eine Person mindestens ein Zimmer komme oder auf einen Kopf eine Wohneinheit. .... So zieht sich der Modernismus des Westens im Mythos des Apartments zusammen, wo sich das freigelesetzte, im Kapitalstrom flexibilisierte Individuum der Pflege seiner Selbstbeziehungen widmet.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 569). Doch: „»Es ist deutlich geworden, daß eine Gesellschaft als Single-Gesellschaft, als Gesellschaft atomistisch aufgelöster Individuen, nicht existieren kann. Sie kann es demographisch ohnehin nicht, sie kann es mittelfristig finanziell nicht, sie kann es aber vor allem moralisch nicht.«“ (Paul Nolte, Generation Reform - Jenseits der blockierten Republik, 2004, hier zitiert aus: Max Wingen, Die Geburtenkrise ist überwindbar - Wider die Anreize zum Verzicht auf Nachkommenschaft, 2004, S. 30).

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 273

Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1852.

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885. Einige Zitate: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden?“  (S. 8). „»Todt sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe.« - diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! -“  (S. 98). „Und noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder, erlöst werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten Menschen: - Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten fand ich - allzumenschlich! Also sprach Zarathustra.“ (S. 115).

Gottfried Semper (1803-1879), Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, 1860-1863 und Gottfried Semper, Kleine Schriften (Hrsg.: Manfred Semper und Hans Semper, 1884), postum.

Internationaler Stil (Internationalismus) bedeutet radikaler Bruch mit der Vergangenheit. „Die Naturform aufheben“ und damit „dasjenige ausschalten, das dem reinen Kunstausdruck, der äußersten Konsequenz jedes Kunstbegriffs, im Wege steht“, wollte ihrem ersten Manifest zufolge die 1917 gegründete holländische Gruppe „de Stijl“ (der Stil). Im Bestreben nach einer „reinen Realität“, die naturfeindlich und nicht weiter reduzierbar ist, entstanden Kompositionen wie jene von Piet Mondrian (1872-1944) aus roten, gelben, blauen und weißen Rechtecken, die von dicken schwarzen Linien getrennt wurden. Unter den wenigen Bauten ist der vielleicht bedeutendste das Haus Schröder in Utrecht von Gerrit Thomas Rietveld (1888-1964). Dieser hatte als Schreiner und Möbeltischler begonnen und 1917 einen aufsehenerregenden Lehnstuhl aus normierten Holzteilen gebaut. Sein Haus Schröder kam der rationalistischen Architektur, die sich nun in kürzester Zeit ausprägte und verbreitete, schon ganz nahe. Diese stellte einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit dar. Die Moderne verlangte ganz neue ästhetische Formen, bar aller malerischen, assoziativen oder historisierenden Tendenzen. Folgerichtig sprach man auch vom „Neuen Bauen“, ferner von „Funktionalismus“ oder „Neuer Sachlichkeit“. Um 1930 kam für den Rationalismus außerdem der Begriff „Internationaler Stil“ auf, da er sich innerhalb weniger Jahre über große Teile der Welt verbreitet hatte. Die globale Vereinheitlichung der Architektur wie der Kultur generell liegt dabei in der Natur moderner, immer schneller werdender Verkehrs- und Kommunikationswege. (Vgl. unter Kult-Uhr, 22-24: Globalismus).

Le Corbusier, Deckname für den französisch-schweizerischen Charles Edouard Jeanneret (La Chaux-de-Fonds, 06.10.1887 - 27.08.1965, Roquebrune-Cap-Martin), ausgebildet bei Joseph Hoffmann in Wien und Peter Behrens in Berlin. Er begründete in Zusammenarbeit mit seinem Vater Pierre Jeanneret einen neuen Stil des Wohnbaus: aus kubischen Elementen zuzsammengesetzte Häuser mit flachem Dach, großen Fenstern, keinerlei Bauornament, sachlich, klar und verstandesmäßig gegliedert. 1952-1955 wurde unter Corbusiers Leitung und nach seinen Entwürfen die Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp (Haute-Saône) errichtet, ein für den modernen Kirchenbau bedeutsames Werk. Von Bedeutung für die moderne Architektur ist sein „Modulor“. 1945 schrieb er „Grundlagen des Städtebaus“.

Alvar Aalto (Kuortane, 03.02.1898 - 11.05.1976, Helsinki). Er lehrte während des 2. Weltkrieges am Technologischen Institut von Massachusetts, USA. Aalto ging von der strengen rechtwinklig konstruierten kubischen Architektur der 1920er Jahre aus, die er zu einer organischen, der umgebenden Landschaft angeglichenen Bauweise weiterentwickelte. Im Grund- und Aufriß benutzte er wie in seiner Innenraumgestaltung oft kurvige oder schräg gestellte Formen.

 

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