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Logik und Logistik - Erkenntnis und Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie)

 

Philosophie Logik und Logistik Philosophie

Logik

Logische BeziehungenAxiomBegriffBegriffsbildungUrteilSchlußDefinitionBeweisMethodeFachspracheTerminologieKonventionalismusSystem

Die Logik ist bekanntlich die Fähigkeit richtig, d.h. eben logisch zu denken und die Lehre von der Identität und ihrer Verneinung bzw. von der Folgerichtigkeit und von den Methoden des Erkennens (**). Als elementare formale Logik befaßt sie sich mit den allen Begriffen eigenen allgemeinen Eigenschaften. Die grundlegenden Eigenschaften der Begriffe werden ausgesprochen in den logischen Axiomen. Es folgt die Lehre vom Begriff, dann die vom Urteil, zuletzt die vom Schluß - diese drei bilden zusammen die reine Logik. Die angewandte Logik umfaßt gemäß der traditionellen Logik die Lehre von der Definition, vom Beweis, von der Methode; neuerdings werden ihr oft vorausgesandt die noch nicht logikwissenschaftlichen, sondern erkenntnistheoretischen (**) Lehren vom Erleben, vom Beschreiben und Formulieren, besonders mit Hilfe einer Fachsprache, einer Terminologie, eines Konventionalismus, und von der Begriffsbildung. Bisweilen wird ihr angeschlossen die Lehre vom System.

Logik Logische Beziehungen
W a h r h e i t s t a f e l
NegationDisjunktion
(Adjunktion)
Konjunktion
(Koordination)
Implikation
(Inklusion)
ÄquivalenzKontravalenzTautologieKontradiktion
p  q ¬ pp \/ qp /\ qp -› qp <> qp >< qz.B.
p -› (q - p)
z.B.
p /\ (q /\ ¬ p)
w  w fwwwwfwf
w  ffwfffwwf
f  w wwfwfwwf
f  f wffwwfwf
Die Wahrtheitstafel ist eine Methode zur Definition von logischen Partikeln (sie werden auch aussagenlogische Konstanten, Funktoren, Junktoren, Konnektoren, Operatoren genannt [vgl. v.a.: Aussagenlogik bzw. Aussagenkalkül], also von logischen Elementen wie „und“ (Konjunktion), „oder“ (Disjunktion bzw. Adjunktion), „nicht“ (Negation), „wenn, dann“ (Implikation bzw. Inklusion), „genau dann, wenn“ (Äquivalenz) u.v.a., die elemantare Sätze zu komplexen Aussagen verknüpfen, deren Wahrheitswert von dem Wahrheitswert der elementaren Sätze funktional abhängt.

Logische Beziehungen Negation

Die Negation kehrt den Wahrheitswert einer Aussage in ihr Gegenteil um (Notation: ¬ p), d.h. p ist wahr genau dann, wenn p falsch ist und umgekehrt. „Tokio ist die Hauptstadt von Japan“ ist genau dann wahr, wenn „Tokio ist nicht die Hauptstadt von Japan“ falsch ist. Der Terminus Negation bezieht sich sowohl auf den einstelligen Satzoperator „es ist nicht der Fall, daß“ bzw. „nicht“ als auch auf die durch ihn definierte Aussage. Darstellung:
 p  ¬ p 
w     f
f     w

Logische Beziehungen Disjunktion (Adjunktion)

Die Disjunktion (auch: inklusives „oder“) ist die Verbindung zweier elementarer Aussagen p und q durch den logischen Junktor „oder“ (Notation: p \/ q) und genau dann wahr, wenn mindestens eine der elementaren Aussagen wahr ist. Dieses „oder“ entspricht dem lateinischen „vel“ („oder auch“), das zu paraphrasieren ist mit „das eine oder das andere (oder beides)“. Dieses „oder“ heißt auch inklusives (also nicht ausschließendes) „oder“. „Hans ist entweder müde oder traurig (oder vielleicht auch beides)“. Darstellung:
 p    q 
 p \/
w    w
w     f
f    w
f     f
w
w
w
f

Logische Beziehungen Konjunktion (Koordination)

Die Konjunktion (Koordination) ist die Verbindung zweier elementarer Aussagen p und q durch den Junktor „und“(Notation: p /\ q) , die nur dann wahr ist, wenn beide Teilaussagen (Konjunkte in diesem Falle) wahr sind. Die Aussagenverbindung „Tokio ist die Hauptstadt von Japan“ und „Tokio ist eine europäische Stadt“ erhält den Wahrheitswert „falsch“ aufgrund der zweiten falschen Teilaussage. Darstellung:
 p    q 
 p /\
w    w
w     f
f    w
f     f
w
f
f
f

Logische Beziehungen Implikation (Inklusion)

Die Implikation ist der Junktor, der zwei elementare Aussagen p und q zu einer neuen Aussage verbindet, die dann und nur dann falsch ist, wenn die erste Teilaussage wahr und die zweite Teilaussage falsch ist (Notation: p -› q). Demnach ist die Aussage „Wenn München an der Isar liegt, dann ist 3 mal 3 gleich 10“ falsch, aber die Aussage „Wenn 3 mal 3 gleich 10, dann liegt München an der Isar“ richtig. Darstellung:
 p    q 
 p -› q 
w    w
w     f
f    w
f     f
w
f
w
w

Logische Beziehungen Äquivalenz

Die Äquivalenz ist die Verbindung zweier elementarer Aussagen p und q, die dann und nur dann wahr ist, wenn beide Teilaussagen denselben Wahrheitswert haben (Notation: p <> q ). Die Äquivalenz bezieht sich sowohl auf den zweistelligen Operator „p genau dann, wenn q“ als auch auf die durch ihn definierte Aussagenverbindung. Die Äquivalenz entspricht der bilateralen Implikation, d.h. es gilt sowohl p -› q als auch q -› p. „Heiko ist Heinzis Vater“ -› „Heinzi ist Heikos Sohn“ und umgekekrt. Darstellung:
 p    q 
 p <> q  
w    w
w     f
f    w
f     f
w
f
f
w

Logische Beziehungen Kontravalenz

Die Kontravalenz (auch: exklusives „oder“) ist die Verbindung zweier elementarer Aussagen p und q durch „oder“, so daß die Aussagenverknüpfung nur dann wahr ist, wenn entweder p oder q wahr ist, nicht aber, wenn beide wahr sind (Notation: p >< q ). Diese dem lateinischen „aut ... aut ...“ entsprechende „oder“ kommt in der Alltagssprache häufig vor; es wird realisiert durch „entweder das eine oder das andere (aber nicht beides)“. „Hans ist entweder älter oder jünger als seine Freundin (aber auf keinen Fall beides zugleich)“. Darstellung:
 p    q 
 p >< q  
w    w
w     f
f    w
f     f
f
w
w
f

Logische Beziehungen Tautologie

Die Tautologie ist aufgrund ihrer logischen Form in allen möglichen Welten immer wahr. Beispielsweise p oder nicht p (Notation: z.B. p -› (q - p)). Tautologien sind analytisch und logisch wahre Aussagen. „Es regnet oder es regnet nicht“. Darstellung:
 p    q 
 z.B. p -› (q - p) 
w    w
w     f
f    w
f     f
w
w
w
w

Logische Beziehungen Kontradiktion

Die Kontradiktion ist aufgrund ihrer logischen Form in allen möglichen Welten immer falsch. Beispielsweise p und gleichzeitig nicht p (Notation: z.B. p /\ (q /\ ¬ p)). Kontradiktionen sind analytisch und logisch falsche Aussagen. „Es regnet und es regnet nicht“. Darstellung:
 p    q 
 z.B. p /\ (q /\ ¬ p)  
w    w
w     f
f    w
f     f
f
f
f
f

Logik Axiom

Das Axiom ist derjenige Grundsatz oder Satz, der nicht bewiesen werden kann, aber auch nicht bewiesen zu werden braucht, weil er unmittelbar als richtig einleuchtet und deshalb - eben als Grundsatz - für andere Sätze dient (vgl. Deduktion) bzw. als solcher auch vereinbart werden kann (vgl. Konventionalismus). Logische Axiome sind z.B. der Satz des Grundes (Satz vom zureichenden Grunde, principium rationis sufficientis), der Satz der Identität, der Satz des Widerspruchs (principium contradictionis), der Satz des ausgeschlossenen Dritten (exclusi terti principium). Die Axiomatik ist die Lehre vom Postulieren und Ableiten, sofern dabei von einem Axiomensystem ausgegangen wird (vgl. Logistik).

Axiom Satz des Grundes (Satz vom zureichenden Grunde, principium rationis sufficientis)

Der Satz des Grundes stellt für alles Bestehende einen Grund fest, aus dem es rechtmäßigerweise abgeleitet werden kann bzw. gefolgert werden kann.

Ein Grund ist ein Urteil oder Gedanke, dessen Gültigkeit die eines anderen (die Folgerung) notwendig macht: Grund der Logik oder Grund der Erkenntnis (**). Von diesem wird der Realgrund unterschieden, der den Gedanken vom Erfahrungsinhalt bzw. von einer metaphysischen Wirklichkeit abhängig macht. Zu unterscheiden davon ist auch der seelische Grund, nämlich: das Motiv als Voraussetzung einer Handlung oder Tat. Der Satz des Grundes jedoch stellt für alles (alles!) Bestehende einen Grund fest, aus dem es rechtmäßigerweise abgeleitet werden kann bzw. gefolgert werden kann.

Als allgemeiner Grundsatz ist der Satz des Grundes in der Geschichte der Philosophie und speziell in der Logik, also einer der bedeutendsten Disziplinen der Philosophie, unterschiedlich formuliert und auch in unterschiedlicher Funktion verwendet worden. Ein Konsens war und ist jedoch in etwa folgende Formulierung: Jedes Sein oder Erkennen kann und/oder soll in angemessener Weise auf ein anderes zurückgeführt werden.

Den Rationalisten zufolge haben die Denk- und die Seinsordnung einen gemeinsamen Grund, sind folglich die Denk- und die Seinsformen identisch.

Folgend drei Beispiele (**|**|**) für die unterschiedlichen Ansätze zum Satz des Grundes:
Kulturgeschichtliche Phase
Leibniz (**|**) Hochphase des Rationalismus (**)
Kant (**|**|**|**) Spätphase des Rationalismus (**) und Frühphase des Nihilismus (**)
Schopenhauer (**|**)Frühphase des Nihilismus (**)

Satz des Grundes (Satz vom zureichenden Grunde) Satz des Grundes gemäß Leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz erhob den Satz des Grundes in seiner Monadologie und auch in seiner Theodizee zu einem tragenden Prinzip seiner Philosophie. Der Satz ist neben dem Satz des Widerspruchs nach Leibniz eines der beiden Prinzipien, auf die sich die Vernunftschlüsse stützen.
„Im Sinne des zureichenden Grundes finden wir, daß keine Tatsache als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage als richtig, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gibt, daß es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, 1713, § 32).
In seiner Theodizee charakterisierte Leibniz das Prinzip als „bestimmenden Grund“ als eine Gesetzmäßigkeit mit Gültigkeit vor aller Erfahrung, derzufolge „nichts geschieht, ohne daß es eine Ursache oder wenigstens einen bestimmenden Grund gibt, d.h. etwas, das dazu dienen kann, a priori zu begründen, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer anderen Weise existiert.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, 1710, § 44).

Satz des Grundes (Satz vom zureichenden Grunde) Satz des Grundes gemäß Kant

Kant unterschied in einem seiner frühen Werke zwischen Seinsgrund und Erkenntnisgrund und zog die Bezeichnung Satz des bestimmenden Grundes vor.
„Denn das Wort »zureichend“ ist, wie derselbe vollauf deutlich macht, zweideutig, weil nicht sofort ersichtlich ist, wie weit er zureicht; bestimmen aber heißt, so zu setzen, daß jedes Gegenteil ausgeschlossen ist, und bedeutet daher das, was mit Gewißheit ausreicht, eine Sache so und nicht anders zu begreifen.“ (Immanuel Kant, Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnis, 1755, in: Werke, Band 1, S. 427).

Satz des Grundes (Satz vom zureichenden Grunde) Satz des Grundes gemäß Schopenhauer

Der Satz des Grundes steht stellvertretend als gemeinsamer Oberbegriff, als gemeinschaftliche Wurzel aller Arten von Relation, wie sie in der vorgestellten Welt erscheinen. Diese Relationsbeziehungen ordnete Arthur Schopenhauer vier verschiedenen Klassen zu, in denen jeweils bestimmte Objekte auf unterschiedliche Weise aufeinander wirken, also eine unterschiedene Ausformung des Satzes des Grundes herrscht. (vgl. Arthur Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1813, § 16 [**], § 17-25 [**], § 26-34 [**], § 35-39 [**], § 40-45 [**]).

Als erste Klasse (**) faßte Schopenhauer die Klasse der „anschaulichen, vollständigen, empirischen Vorstellungen“ (**), in denen der „Satz vom zureichenden Grunde des Werdens“ (**) herrscht. Vereinfacht gesagt stellt diese Klasse die physikalische Ebene der Naturwissenschaft dar, in der das Prinzip von Ursache und Wirkung auftritt: Damit etwas wird, braucht es eine Ursache, welche auf es wirkt.

Die zweite Klasse (**) dagegen umfaßt die Begriffe, womit Schopenhauer die Erzeugnisse der Vernunft meinte, also die Sprache. In dieser Klasse herrscht der „Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens“ (**). Denn abstraktes Denken, das sich in Begriffen vollzieht, operiert stets mit Urteilen, die, wenn sie wahr sind, eine Erkenntnis ausdrücken. Somit stellt die zweite Klasse der Objekte die sprachlich-formale Ebene der Vorstellungen dar, in der der Satz des Grundes wesentlich das Verhältnis zwischen Prämissen und Schluß beschreibt bzw. zwischen Erkenntnisgrund und Folge.

Mit der dritten Klasse (**) der Vorstellungen setzte Schopenhauer Zeit und Raum gleich. Diese sind hier in ihrer rein formalen Ausformung zu betrachten, während sie eigentlich schon in der ersten Klasse (**) auftreten, dort jedoch in ihrer Vereinigung als materielles Produkt (Zeit vereinigt mit Raum war für Schopenhauer gleich Materie und somit Kausalität). Zwischen den Teilen im Raum bzw. in der Zeit findet sich das Verhältnis von Lage (im Raum) und Folge (in der Zeit). Dieser Verhältnismäßigkeit, die die Grundlage allen Seins bildet, schrieb Schopenhauer den „Satz vom zureichenden Grunde des Seyns“ (**) zu.

Als vierte Klasse (**) nannte Schopenhauer diejenigen Vorstellungen, die sich auf ein einziges Objekt beziehen, nämlich auf das „Subjekt des Wollens“ (**|**): Der Mensch betrachtet den inneren Vorgang des Wollens in ihm als etwas Objektives, er betrachtet sich als wollendes Subjekt. Innerhalb dieses Objektes nun herrscht wiederum Kausalität, jedoch nicht eine „äußere“ wie in der ersten Klasse (**), sondern eine „innere“: Der Ursache entspricht hier das Motiv und der Wirkung die Handlung. Der zugeordnete Satz ist der „Satz vom zureichenden Grunde des Handelns“ (**).

Jeder Klasse ordnete Schopenhauer ein „subjektives Korrelat“ (**) zu, durch welches der jeweilige Satz vom Grunde sich uns darstellt: Die erste (**) besteht durch den Verstand, die zweite (**) durch die Vernunft, die dritte (**) durch die reine Sinnlichkeit, die vierte (**) durch den inneren Sinn oder das Selbstbewußtsein. **

Axiom Satz der Identität

Der Satz der Identität - das Identitätsprinzip (A = A) - verlangt daß jeder Begriff im Verlauf eines zusammenhängenden Denkaktes genau dieselbe Bedeutung beibehalte. Er fordert die feststehende Bedeutung der in einem Urteil gebrauchten begrifflichen Symbole.

„»Ein Triangel ist ein von drei Linien eingeschlossener Raum«, hat zum letzten Grunde den Satz der Identität ....“ (Arthur Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1813, § 30, S. 122 **).

Axiom Satz des Widerspruchs (principium contradictionis)

Ein Widerspruch ist ein Gegensatz zu einem behaupteten Satz, genauerer gesagt: ein Widerspruch ist ein ausschließender Gegensatz zweier Urteile oder Begriffe. Daher besagt der Satz des Widerspruchs, daß kontradiktorisch (vgl. Kontradiktion) entgegegengesetzte Urteile nicht beide zugleich wahr sein können, sondern wenn das eine wahr ist, muß das andere falsch sein - oder auch: dasselbe Urteil kann nicht zugleich bejaht und verneint werden.

„»Kein Körper ist ohne Ausdehnung«, hat zum letzten Grunde den Satz vom Widerspruch.“ (Arthur Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1813, § 30, S. 123 **).

Axiom Satz des ausgeschlossenen Dritten (exclusi terti principium)

Der Satz des ausgeschlossenen Dritten besagt, daß A entweder gleich B oder nicht gleich B ist und daß es eine dritte Möglichkeit nicht gibt.

„»Jedes Urtheil ist entweder wahr, oder nicht wahr«, hat zum letzten Grunde den Satz vom ausgeschlossenen Dritten.“ (Arthur Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1813, § 30, S. 123 **).

Logik Begriff

Der Begriff ist der einfachste Denkakt im Gegensatz zu Urteil und Schluß, die aus den Begriffen zusammengesetzt sind. Ein Begriff muß die Forderung durchgängiger Konstanz, vollkommener Bestimmtheit, allgemeiner Übereinstimmung und unzweideutiger sprachlicher Bezeichnung erfüllen. Von den Begriffen der Logik weichen die Begriffe des alltäglichen Sprachgebrauches bisweilen erheblich ab, da dieser die Dinge vorzugsweise nach Typen einteilt und nicht nach Merkmalsgesamtheiten (ein Rechteck mit den Seitenlängen 1 und 150 gehört nicht dem Typus Rechteck, sondern dem Typus Band an und fällt daher unter dem Begriff „Band“). So bilden sich auch die Begriffe im Denken eines Volkes oder eines Menschen nicht dadurch, daß die einer Gruppe von Dingen oder Erscheinungen gemeinsamen Merkmale wahrgenommen und zu Begriffen zusammengesetzt werden (vgl. Art), sondern dadurch, daß zunächst die Wesensgemeinschaften an den Dingen oder Geschehnissen aufgefaßt und zu Begriffen verarbeitet werden (für viele Stadtkinder ist jedes vierbeinige Tier oft zunächst ein „Wauwau“) und daß sich erst allmählich diese wenigen, weiten aber unscharfen Begriffe in viele, enge und scharf abgegrenzte Begriffe dadurch aufgliedern, daß im Bereich des Gegebenen das Prägnante erkannt wird sowie eine zunehmende Zahl an Prägnantstufen, die zum Prägnanten hin- oder von ihm wegführen. Der Umfang natürlicher Begriffe fällt mit Prägnanzbereichen zusammen.

Begriff Einzelbegriffe („Individualbegriffe“) und Allgemeinbegriffe (Art-, Gattungs-, Klassenbegriffe u.s.w.)

Art oder Artbegriff bedeutet in der Logik einen Begriff, der aus den gemeinsamen Merkmalen der „Individualbegriffe“ (Einzelbegriffe, die nur ein einzelnes Ding oder Geschehen bezeichnen - im Gegensatz zu den Allgemeinbegriffen, zu denen z.B. die Art-, Gattungs-, und Klassenbegriffe gehören) gebildet ist und selbst mit anderen Artbegriffen gemeinsame Merkmale hat, aus denen der nächsthöhere, nämlich der Gattungsbegriff (Gruppe, die wesentliche Eigenschaften gemeinsam haben) gebildet werden kann.

Logik Die Begriffsbildung ist die jeweilige Methode einer Wissenschaft, durch die das Zustandekommen der Begriffe je nach eigener Betrachtungsweise, Definition (Begriffsbestimmung) und Formulierung ermöglicht wird. Es sind drei Grundformen der Begriffsbildung voneinander zu unterscheiden:
(1.) die mathematische Begriffsbildung, die auf Deduktion beruht;
(2.) die empirisch-naturwissenschaftliche Begriffsbildung, die auf Induktion (induktive Ableitungen) beruht;
(3.) die geisteswissenschafliche Begriffsbildung, die von der „individualisierenden“ Betrachtungsweise bestimmt ist.

Theorie - Deduktion - Empirie - Induktion

Begriffsbildung Deduktion

Die Deduktion ist die Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen, derjenige Weg des Denkens, der vom Allgemeinen zum Besonderen, von einem allgemeinen zu einem speziellen Satz führt. Die allgemeine Denkform der Deduktion ist dabei der Schluß, dessen Voraussetzung das betreffende Allgemeine und dessen Schlußfolgerung das betreffende Besondere bilden. So kann z.B. aus dem Hilbert'schen Axiom (2 voneinander verschiedene Punkte A und B bestimmen stets eine Gerade a) mittels Deduktion geschlossen werden, daß die kürzeste Verbindungslinie zweier Punkte eine durch die beiden Punkte gelegte Gerade ist.

Es gibt seit Kant auch noch die „transzendentale Deduktion“ als die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, d.h. wie sich vorbegriffliche Wahrnehmung zu begrifflicher Erfahrung bzw. Erkenntnis (**) umformen kann, zum Unterschied von der „empirischen Deduktion“, welche nur die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über diese erworben werden.

Begriffsbildung Induktion

Die Induktion schließt vom Einzelnen, Besonderen auf Allgemeines, Gesetzmäßiges. Das Indukionsverfahren folgert, im einfachsten Falle, aus dem Umstand, daß z.B. S und p (zeitlich oder räumlich) miteinander verbunden auftreten, sei es einmal, sei es öfter, daß sie stets miteinander auftreten oder auftreten werden. Dieser Folgerung kommt natürlich keine absolute Gewißheit, sondern nur Wahrscheinlichkeit zu, und diese wächst mit der Zahl der überprüften Einzelfälle. Ein Schluß der Induktion ist z.B.: „Gold, Silber, Eisen u.s.w. sind Metalle. Gold, Silber, Eisen u.s.w. sind schwerer als Wasser. Also sind alle Metalle schwerer als Wasser“. Der Schluß war richtig, bis das Kalium entdeckt wurde.

Die Induktion als Methode besteht darin, daß eine aus irgendwelchen Beobachtungen geschöpfte oder sonstwie entstandene Vermutung über den Zusammenhang gewisser Erscheinungen planmäßig, durch Beobachtung und Experiment, an den Tatsachen geprüft und mehr oder weniger zur Gewißheit erhoben wird. Dem gegenüber ist Induktion im Alltagsdenken sehr kurzschlüssig, führt von wenigen, oft nur einzelnen beobachteten Fällen zu Verallgemeinerungen. Die strenge Induktion führt zu erst erarbeiteten, aus mehrfacher Erfahrung abgeleiteten Allgemeinbegriffen und zu „Gesetzen“, die Deduktionen zugrunde gelegt werden können. Besonders die Naturwissenschaften sind mit Hilfe der Induktion groß geworden.

„Die Empirie kommt nicht über das Besondere hinaus, sie schreitet immer nur von Erfahrungen zu Erfahrungen, von Versuchen zu neuen Versuchen; die Induktion dagegen zieht aus den Versuchen und Erfahrungen die Ursachen und allgemeinen Sätze heraus und leitet dann wieder neue Erfahrungen und Versuche aus diesen Ursachen und allgemeinen Sätzen oder Prinzipien ab.“ (Francis Bacon, Novum organum, 1620).

Logik Urteil

Das Urteil ist ein Akt des Bejahens oder Verneinens, in dem zwei Begriffe (Subjekt und Prädikat) in Beziehung zueinander gesetzt werden. Im Urteil bezieht das Denken einen Begriff auf einen Gegenstand und setzt diesen zugleich mitsamt seinen Prädikaten, und zwar durch die Kopula „ist“, die stets auf absolute Geltung des behaupteten Sachverhaltes abzielt. Denn es ist für das echte Urteil kennzeichnend, daß es nichts als möglich zuläßt, was dieser Setzung widersprechen und zugleich Geltung haben könnte. Wenn es Bedingungen gibt, unter denen der Sachverhalt steht, so sind durch das Urteil diese Bedingungen ebenso kategorisch mitgesetzt wie der Sachverhalt selbst. Jedes Urteil enthält somit innerlich und unabtrennbar eine Beziehung zu einem Inbegriff möglicher Erkenntnissubjekte (**), zu einem Inbegriff möglicher Sachverhalte und zu einem Inbegriff notwendiger Bedingungen. Dieser Inbegriff aller möglichen Subjekte, Sachverhalte und notwendigen Bedingungen wird regiert von einem gemeinsamen „Gesetz“, dem „Gesetz“ des Nicht-Widerspruchs. Kant z.B. unterscheidet (in seiner Kritik der reinen Vernunft, Logik, 1781) folgende Arten von Urteilen:
(1.)nach ihrer Quantität: allgemeine, besondere, einzelne;
(2.) nach ihrer Qualität: bejahende, verneinende, unendliche;
(3.)nach ihrer Relation: kategorische, hypothetische, disjunktive;
(4.)nach ihrer Modalität: problematische, assertorische, apodiktische.
Analytische oder Erläuterungs-Urteile sind nach Kant solche Urteile, deren Prädikat im Subjekt bereits enthalten ist (alle Körper sind ausgedehnt); synthetische oder Erweiterungsurteile bringen zu dem Begriff des Subjekts ein Prädikat hinzu, welches in jenem noch nicht gedacht war (alle Körper sind schwer).

Logik Schluß

Der Schluß ist das formale logische Verfahren, aus mehreren Urteilen, den Voraussetzungen (Prämissen), ein einziges Urteil, die Schlußfolgerung, begrifflich abzuleiten. Im einfachsten Falle besteht der Schluß aus zwei Voraussetzungen und der Schlußfolgerung - ein solcher Schluß heißt Syllogismus. Schlüsse mit mehr als zwei Voraussetzungen müssen in Syllogismen zerlegt werden. Es können folgende Schlußfehler auftreten, die vermieden werden müssen:
(1.)es dürfen nicht vier Begriffe auftauchen (vgl. Quarternio Terminorum);
(2.) aus zwei verneinenden bzw. zwei partikulären Voraussetzungen folgt nichts (ebenso natürlich aus zwei partikulär-verneinenden).
Sehr oft tritt der Schluß (durch Weglassung des Obersatzes) verkürzt auf, z.B.: (Gefährliches ist verboten), Hinauslehnen ist gefährlich, also ist Hinauslehnen verboten - oder kürzer: Hinauslehnen, da gefährlich, ist verboten! Schlußketten entstehen dadurch, daß die Schlußfolgerung eines Schlusses als Voraussetzung in einen anderen Schluß verwendet wird (Episyllogismus) und umgekehrt (Prosyllogismus); etwas anders ist der Kettenschluß geartet. Für alle Schlüsse gilt: Die Schlußfolgerung folgt dem schwächeren Teil (schwächer ist in diesem Sinn das Verneinende, Partikuläre, Hypothetische gegenüber dem Bejahenden, Allgemeinen, Kategorischen).

Schluß Syllogismus

Der Syllogismus ist insbesondere der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere (vgl. Deduktion). Die Grundelemente der Syllogistik, der klassischen, von Aristoteles begründeten Lehre von den Schlüssen, sind:
(1.)Beide Prämissen (als vorausgesetzte Urteile sozusagen), aus denen der Schluß (Conclusio, Konklusion) gezogen wird, die man als Obersatz und Untersatz bezeichnet;
(2.) die daran beteigten Begriffe, wovon der den beiden Prämissen gemeinsame Begriff Mittelbegriff (M) heißt, die beiden anderen als Außenbegriffe - Unterbegriff als Subjekt (S) und Oberbegriff als Prädikat (P) - bezeichnet werden.
Im Syllogismus müssen also drei verschiedene Begriffe vorkommen: Der Oberbegriff als Prädikat (P) in Obersatz und Konklusion, der Mittelbegriff (M) als Subjekt im Obersatz und als Prädikat im Untersatz, der Unterbegriff als Subjekt (S) in Untersatz und Konklusion.
1. Prämisse (Urteil; Obersatz, propositio maior):Mittelbegriff (M) als Subjekt und Oberbegriff als Prädikat (P)
2. Prämisse (Urteil; Untersatz, propositio minor): Unterbegriff als Subjekt (S) und Mittelbegriff (M) als Prädikat
Schluß (Urteil; Konklusion, conclusio): Unterbegriff als Subjekt (S) und Oberbegriff als Prädikat (P)
Verkürzt formuliert:
Alle M sind P   (M P)
Alle S sind M   (S M)
Alle S sind P   (S P)
Eine solche Schlußform ist z.B.:
Alle Menschen sind sterblich.
Alle Könige sind Menschen.
Alle Könige sind sterblich.
Die traditionelle Logik untersucht die verschiedenen Schlußfiguren nach den möglichen Grundformen der Prämissen, die der Qualität und Quantität nach (a) allgemein bejahend, (b) allgemein verneinend, (c) partikulär bejahend, (d) partikulär verneinend sein können. Die vier Schlußfiguren (Schlußschemata), die (mit Ausnahme der vierten) von Aristoteles stammen, sind:
(1.)M P
S M
S P
 (2.)P M
S M
S P
 (3.)M P
M S
S P
 (4.) P M
M S
S P
Wenn man die Zahl der einzelnen Schlußarten (Schlußmodi) feststellt, die sich aus der Anwendung der möglichen Urteilsformen (a, e, i, o) auf diese vier Figuren ergeben, so gibt es rein schematisch insgesamt 64 Schlußmodi, von denen aber nur 19 zu logisch gültigen Schlußfolgerungen führen.

Die schematische Darstellung der Syllogismen und die Anwendung der klassischen Operationsregel haben in der Logistik eine erweiterte Formalisierung erfahren, innerhalb derer die Aristotelischen Grundfiguren als Einzelfälle der gesamten symbolisierten Logik betrachtet werden.

Schluß Prämissen (Voraussetzungen, Vordersätze)

Prämissen sind die Vordersätze als die Voraussetzungen eines Schlusses. Voraussetzungen sind das, wovon ausgegangen wird, um etwas (schluß)folgern zu können.

Sind die Prämissen in einem gültigen Schluß wahr, muß auch die Konklusion (Schlußfolgerung) wahr sein. Das Umgekehrte gilt jedoch nicht: Sind die Prämissen (oder einige der Prämissen) falsch, gilt nicht notwendigerweise, daß die Konklusion falsch ist.

Prämissen brauchen also nicht unbedingt wahr zu sein. Im Gegenteil, wie die „Techniker“ des Beweises verdeutlichen, wenn sie gelegentlich absichtlich Beweisfehler benutzen, indem sie z.B. Prämissen setzen, von denen sie genau wissen, daß sie falsch sind. Dies ist z.B. so bei der Beweistechnik für den indirekten Beweis (Widerspruchsbeweis, reductio ad absurdum), bdenn dabei wird absichtlich von einer falschen Annahme ausgegangen, um diese zu widerlegen. Das vielleicht bekannteste Beispiel für einen indirekten Beweis ist der Satz des Euklid, bei dem bewiesen wird, daß es unendlich viele Primzahlen gibt.

Schluß Kettenschluß

Kettenschluß heißt jede Schlußkette, bei der alle zwischen der ersten Prämisse und der abschließenden Folgerung anfallenden Zwischenfolgerung aufgeführt werden. 1. Beispiel: Hunde sind Raubtiere, also Fleischfresser, also mit kurzem Darm ausgestattet. Dieser Kettenschluß, bei dem alle Obersätze verkürzt sind, heißt Aristotelischer Kettenschluß oder Sorites. 2. Beispiel: Hunde sind (mitunter) Bernhardiner, also (mitunter) Alpenbewohner, also (mitunter) Retter aus Bergnot. Dieser Kettenschluß, bei dem alle Untersätze verkürzt sind, heißt Goclenischer Sorites (nach: Rudolf Göckel). Ein Beispiel für diesen Kettenschluß ist: Nimmt jemand ein Wesen als wirklich an, dann leugnet er nicht alles; glaubt er an sich selbst, dann nimmt er bereits ein Wesen als wirklich an. Jeder Skeptiker glaubt an sich selbst, also leugnet er nicht alles.

Logik Definition

Die Definition ist die Begriffsbestimmung bzw. Darstellung eines Begriffs durch Aufzählung des Begriffsinhalts. Sie kann bei Begriffen von empirischen Gegenständen nur in der Angabe der wesentlichen Merkmale bestehen, weil solche Begriffe unabsehbar viele Merkmale haben.

Logik Beweis

Der Beweis bedeutet das Unternehmen, die Richtigkeit einer Behauptung, die Gewißheit einer Erkenntnis (**) herbeizuführen oder, falls sie bestritten wird, sie zusätzlich und ergänzend zu sichern. Der strenge oder deduktive Beweis (die Demonstration) wird erbracht, indem die betreffende Behauptung durch solche als wahr anerkannten Sätze (Beweisgründe, Argumente) gestützt wird, daß aus ihnen das Behauptete als die Folgerung in einem formgerechten Schluß folgt (vgl. Deduktion). Wenn dies nicht möglich ist, muß umgekehrt versucht werden, Tatbestände als Beweisgründe beizubringen, die aus der betreffenden Behauptung als deren Besonderungen hervorgehen: induktiver Beweis (vgl. Induktion). Wenn nur entweder die Richtigkeit oder die Falschheit der betreffenden Behauptung, nicht aber die Unentscheidbarkeit jener beiden in Frage steht, kann fernerhin versucht werden, das Gegenteil der betreffenden Behauptung zu beweisen bzw. zu widerlegen, womit diese selbst dann widerlegt bzw. bewiesen ist: indirekter Beweis. Das Gegenteil des Beweises ist die Widerlegung; sie besteht darin, daß hinsichtlich der Sache, auf die die betreffende Behauptung geht, Tatsachen vorgebracht werden, aus denen diese Behauptung nicht gefolgert werden kann.

In der Beweistechnik werden gelegentlich Beweisfehler benutzt, indem z.B. absichtlich falsche Prämissen gesetzt werden. Ein Beispiel ist der schon erwähnte indirekte Beweis (Widerspruchsbeweis, reductio ad absurdum), bei dem von einer falschen Annahme ausgegangen wird mit dem Ziel, diese zu widerlegen. Das vielleicht bekannteste Beispiel für einen indirekten Beweis ist der Satz des Euklid, bei dem bewiesen wird, daß es unendlich viele Primzahlen gibt.

Beweis Beweisfehler

Beweisfehler liegen möglicherweise:
(1.)in der Unklarheit der Behauptung, die bewiesen werden soll (das Thema probandum);
(2.) n der Unrichtigkeit oder Unsicherheit der vorgebrachten Beweisgründe;
(3.)in der formalen Unrichtigkeit der zu vollziehenden Folgerung.
Die bekanntetsen Beweisfehler sind:
-Hysteron-Proteron
-Circulus Vitiosus
-Petitio Principii
-Ignoratio Elenchi
-Proton Pseudos
-Quarternio Terminorum
Davon zu unterscheiden sind:
-Fehlschluß
-Fangschluß
-Trugschluß

Beweisfehler Hysteron-Proteron

Das Hysteron-Proteron (altgriechisch: „das Spätere [wird] das Frühere“) ist die Vorwegnahme dessen, was eigentlich nachfolgen soll, was sich aus der Umkehrung der natürlichen Ordnung ergibt. Ein Hysteron-Proteron ist z.B. ein (Schein-)Beweis aus einem Satz, der selbst erst aus dem Bewiesenen hätte abgeleitet werden müssen.

Der spätere Vorgang steht vor dem früheren und wird dadurch hervorgehoben, wie man das aus der Rhetorik und - als Stilmittel - aus der Literatur kennt, z.B.:
„Laßt uns sterben und uns in die Waffen stürzen!“
(Vergil, Aeneis, ca. 20-30).
Oder z.B.:
„Ihr Mann ist tot und läßt sie grüßen.“
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust [I], 1790 bzw. 1808, S. 129).

Beweisfehler Circulus Vitiosus

Der Circulus vitiosus (lateinisch: „fehlerhafter Kreis“) - auch Circulus in probando (lateinisch: „Kreis beim Beweisen“) genannt - ist ein Zirkelschluß, ein Beweis mit Voraussetzungen, in denen das zu Beweisende schon enthalten ist.

Wenn also die Voraussetzungen das zu Beweisende schon enthalten, so wird dann behauptet, eine Aussage durch Deduktion zu beweisen, indem die Aussage selbst als Voraussetzung verwendet wird. Dabei wird eine These in einem Argument durch Schlußfolgerung aus Prämissen abgeleitet, deren Gültigkeit ebenso fragwürdig ist wie die der These, auch wenn sie glaubwürdiger klingen oder den Eindruck erwecken, unabhängig von der Akzeptanz der These gültig zu sein. Dadurch wird der Satz vom zureichenden Grunde (Satz des Grundes) verletzt. Der Selbstbezug kann auch über mehrere Stufen geschehen, so daß der Zirkelschluß bielen Unvorsichtigen oder auch sogar dem Urheber selbst verborgen bleibt.

Der Zirkelschluß ist ein Element des Münchhausen-Trilemmas, das bekanntlich zu zeigen versucht, daß Aussagen prinzipiell nicht abschließend begründbar seien. Wird der Zirkelschluß in der Eristik (Lehre vom Streitgespräch) oder Elenktik (Mäeutik, Maieutik, „logische Hebammenkunst“) eingesetzt, so handelt es sich um einen Spezialfall namens Petitio Principii. Ansonsten ist der Zirkelschluß dem Hysteron-Proteron sehr ähnlich.

Beispiele:

Die Bibel ist Gottes Wort, denn es steht geschrieben „alle Schrift ist von Gott eingegeben“. - Dieses Argument zitiert den 2. Brief an Timotheus aus dem Neuen Testament; da das Neue Testament ein Teil der christlichen Bibel ist, wird also die Autorität der Bibel durch ein Bibelzitat begründet. Die Bibel zieht damit ihre Autorität als Gotteswort aus sich selbst. Zudem handelt es sich bei dem Zitat nur um ein Argumentum ad verecundiam (Argument durch Ehrfurcht), da es aus einem speziellen Brief des Apostels Paulus stammt, also eine logisch nicht zwingende rhetorische Figur. Somit könnte man zwar den Standpunkt vertreten, die Begründung sei nicht selbstbezüglich: Der Kanon der christlichen Bibel bestand noch nicht, als Paulus den 2. Timotheusbrief schrieb. Aber dann hat der Verfasser des Briefes mit „aller Schrift“ vermutlich den Tanach gemeint.

Molières Mediziner. - Molière verspottete in einer seiner Komödien treffend diese Art von logischen Fehlern: Der Vater einer stummen Tochter möchte wissen, warum seine Tochter stumm ist. „Nichts einfacher als das“, antwortet der Arzt, „das hängt vom verlorenen Sprachvermögen ab.“ „Natürlich, natürlich“, entgegnet der Vater, „aber sagen Sie mir bitte, aus welchem Grunde hat sie das Sprachvermögen verloren?“ Darauf antwortet der Arzt: „Alle unsere besten Autoren sagen uns, daß das vom Unvermögen abhängt, die Sprache zu beherrschen.“

Sich selbst bestätigender Zeuge. - „Wenn beispielsweise ein Gericht feststellt, ein Zeuge sei glaubwürdig, sich dabei aber nur auf die Aussagen des Zeugen selbst bezieht, um dessen Glaubwürdigkeit es gerade geht, so liegt zumindest der Verdacht nahe, daß hier das Urteil über die Glaubwürdigkeit des Zeugen schon gefällt war, bevor seine Aussage näher in Betracht gezogen wurde.“ (Jan C. Joerden, Logik im Recht, 2009)

Beweisfehler Petitio Principii

Die Petitio principii (lateinisch: „Beanspruchung des Beweisgrundes“) bedeutet die Voraussetzung eines unbewiesenen, erst noch zu beweisenden Satzes als Beweisgrund.

Es wird also eine Behauptung durch Aussagen begründet, welche die zu beweisende Behauptung schon als wahr voraussetzen. Dies kann einerseits explizit geschehen, wenn die Behauptung als Schlußsatz (Konklusion) eines Arguments vorliegt, in dem sie selbst als Prämisse vorkommt, und andererseits implizit, indem die Konklusion kein expliziter Bestandteil des Arguments ist, sondern stillschweigend angenommen wird.

Eine Petitio Principii kann ein logisch gültiger Schluß sein: Aus jeder beliebigen Aussage folgt fraglos diese selbst. Bei diesem Spezialfall eines unmittelbaren Zirkelschlusses (vgl. Circulus Vitiosus) liegt formal betrachtet kein Fehlschluß vor - die Ableitung ist korrekt -, aber es handelt sich nicht um einen Beweis in klassisch-aristotelischem Sinn: Wenn die Prämissen des Beweises von der Konklusion nicht verschieden sind, ist der Satz vom zureichenden Grund (Satz des Grundes) verletzt.

Es gibt verschiedene Weisen, auf die eine Petitio principii konstruiert werden kann. Eine Prämisse taugt nicht zur Unterstützung der Konklusion, wenn sie lediglich (a) eine andere Formulierung der Konklusion ist (z.B.: „Schwarzfahren ist unsozial, weil es auf Kosten der zahlenden Fahrgäste geschieht“), (b) eine Generalisierung der Konklusion ist (z.B.: „Kopfschmerztabletten haben unerwünschte Nebenwirkungen, denn alle Medikamente haben unerwünschte Nebenwirkungen“), (c) aus der Luft gegriffen ist, bloß um die Konklusion zu beweisen (z.B.: „Ich nehme immer am Karneval teil, denn Traditionen müssen bewahrt werden“).

Beweisfehler Ignoratio Elenchi

Die Ignoratio elenchi (lateinisch: „Unkenntnis der Widerlegung“ [bzw. des Beweises]) ist ein Fehler im Beweis, darin bestehend, daß das, was bewiesen oder wiederlegt werden soll, außer acht gelassen, ignoriert, also etwas anderes als das Geforderte bewiesen oder widerlegt wird.

Beweisfehler Proton Pseudos

Das Proton Pseudos (altgriechisch: „falsches Frühere“) ist ein Grundirrtum als die falsche Voraussetzung zu Anfang einer Beweisführung, aus der andere Irrtümer folgen.

Im folgenden Beispiel wird in einem Schluß eine fehlerhafte erste Prämisse vorausgesetzt.
Gott ist der Schöpfer der Moral.
Atheisten glauben nicht an Gott.
Atheisten sind unmoralisch.
Daß Gott der Schöpfer der Moral ist, setzt voraus, daß sich Gott beweisen läßt. Aber Gott läßt sich nicht beweisen. Man kann an ihn glauben u.s.w., aber man kann ihn nicht beweisen. Also ist die 1. Prämisse falsch. Dadurch ist aber auch die Schlußfolgerung falsch. Atheisten können ihre Moral z.B. aus Kants Kategorischem Imperativ (**|**) ableiten, der mit der menschlichen Vernunft begründet ist. Andererseits könnte man ähnlich argumentieren, wenn man Kants Kategorischen Imperativ an die Stelle Gottes setzte und behauptete, er sei der Schöpfer der Moral. Denn Kants Kategorischer Imperativ läßt sich ebenfalls nicht beweisen.

In einem Wörterbuch von 1886 fand ich den folgenden Text zum Proton Pseudos: „So ist z.B. Schopenhauers Proton Pseudos die Idee, daß diese Welt die denkbar schlechteste sei, J. G. Fichtes, daß die Außenwelt eine Setzung des menschlichen Ichs sei, Herbarts, daß Vorstellungen durch Zahlen ohne ein gegebenes Maß gemessen werden könnten.“ (Kirchner/Michaëlis, Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, 1886 Kirchner/Michaëlis). Man könnte jedoch auch mit derselben Berechtigung sagen, daß z.B. Leibniz’ Idee, daß diese Welt die denkbar beste sei (**), ein Proton Pseudos ist, oder z.B. Kants Idee, daß der Kategorische Imperativ die allgemeingültige sittliche Vorschrift sei (**|**), ein Proton Pseudos ist, oder z.B. Habermas’ Idee, daß die Diskurstheorie die Wahrheit sei (**|**|**) ein Proton Pseudos ist. Oder? Entscheidet hierüber vielleicht nur noch der Konventionalismus? Wohl nicht, jedenfalls nicht allein!

Beweisfehler Quarternio Terminorum

Die Quarternio terminorum (lateinisch: „Vervierfachung der Begriffe“) ist ein logischer Fehler im Schlußverfahren, der dadurch entsteht, daß ein Begriff doppelsinnig gebraucht und dadurch zum vierten und damit unzulässigen Begriff wird oder sonstwie ein vierter und damit unzulässiger Begriff eingeführt wird.

Im folgenden Beispiel treten zwei verschiedene Mittelbegriffe auf, wodurch der Schluß, ungeachtet der Wahrheit der Prämissen und der Konklusion, ungültig wird:
Alle Hunde sind Tiere.
Alle Katzen sind Säugetiere.
Alle Katzen sind Tiere.
Alle Hunde (Mittelbegriff 1) sind Tiere (Oberbegriff 1).
Alle Katzen (Unterbegriff 1) sind Säugetiere (Mittelbegriff 2).
Also sind alle Katzen (Unterbegriff 1) Tiere (Oberbegriff 1).
Quaternio-Terminorum-Fälle sind selten so offensichtlich wie in dem Beispiel, da die Verschiedenheit der Begriffe oft durch eine echte oder durch Formalisierung entstandene Homonymie (Wörter mit gleicher Form, aber unterschiedlicher Bedeutung) verborgen ist. Quaternio terminorum durch Homonymie bedeutet Verletzung der Form des Syllogismus, indem in Ober- und Untersatz an die Stelle des Mittelbegriffs ein mehrdeutiger Ausdruck gesetzt wird, der in einer Bedeutung den Obersatz, in einer anderen den Untersatz zu einer wahren Aussage macht. Ein Fehlschluß ist die Folge, da mit der alternativen Bedeutung des Ausdrucks in der Position des Mittelbegriffs ein vierter Begriff eingeführt wurde. Neben der Homonymie kann auch eine Amphibolie (Ambiguität, Mehrdeutigkeit einses kompkexen Ausdrucks), also eine grammatische Vieldeutigkeit, oder eine Metábasis eis állo génos (Wechsel in eine andere Gattung), also ein Wechsel des Bezugssystems der Begriffe, Ursache der Täuschung sein. Die bewußte Verwendung wird auch als Erschleichung oder Subreption bezeichnet, denn die Erschleichung ist einerseits die Erreichung eines falschen Ergebnisses aufgrund eines korrekten Schlusses, aber falscher Voraussetzungen, die möglicherweise das gewollte Ergebnis in unklarer Formulierung bereits enthalten, und andererseits ist es ein falscher Schluß im Syllogismus, bei dem der Mittelbegriff im Obersatz und Untersatz nicht identisch ist (wie im obigen Beispiel: „Hunde“ als Mittelbegriff im Obersatz und „Säugetiere“ als Mittelbegriff im Untersatz).

Beweisfehler Fehlschluß

Der Fehlschluß ist derjenige Schluß, bei dem die Schlußfolgerung unabsichtlich falsch gezogen wird, obwohl die Voraussetzungen (Prämissen) richtig sein können.

Beweisfehler Fangschluß

Der Fangschluß ist ein absichtlicher Fehlschluß, nämlich derjenige Schluß, der die Zustimmung eines Menschen zu einer Behauptung durch alle möglichen Verdrehungen und Verschleierungen bewirkten soll. Folgender Fangschluß wird dem Eubulides zugesprochen: Wenn einer Lügner ist und dabei sagt, daß er lügt, so lügt er und sagt zugleich die Wahrheit.

Beweisfehler Trugschluß

Der Trugschluß ist derjenige falsche Schluß, der auf ungewollten oder gewollten Denkfehlern baut. Ein Beispiel: „Was du nicht verloren hast, das hast du noch; Hörner hast du nicht verloren, also hast du Hörner.“

Logik Methode

Die Methode ist ein mehr oder weniger planmäßiges Verfahren zur Erreichung eines bestimmten Zieles, der Weg zum Ziel. Im Bereich der Wissenschaft ist sie der Erkenntnisweg (**), den der Forscher sich an Hand einer Hypothese zu seinem Gegenstand hin bahnt. Dabei gibt die Philosophie, falls sie als Grundwissenschaft verstanden wird (das kann man ja auch bestreiten!), dem Forscher die Mittel, zu prüfen, ob die gewählte Methode überhaupt geeignet ist (vgl. Methodenlehre als Untersuchung der Methoden) und ob er die Methode im Verlauf der Arbeit konsequent benutzt. Die Philosophie vermag das Methodenbewußtsein in den Einzelwissenschaften wach und kritisch zu halten.

Logik Fachsprache

Jede Fachsprache ist eine Sondersprache oder Verständigungssystem, die für bestimmte Fachgebiete gelten und eine genaue Verständigung und exakte Bezeichnungen auf einem bestimmten Gebiet ermöglichen. Man kann die Fachsprache auch als ein Fachwortschatzsystem (mit den syntaktischen und morphologischen Regeln einer Sprache [vgl. Morphologie und Syntax]) eines bestimmten Bereiches bezeichnen. Nur einige extreme Bereiche - z.B. Mathematik, Logik, Logistik, Linguistik - verlassen mit ihren formalisierten Zeichen und Operationsregeln, ihren Grammatiken die Regeln einer Sprache und gelten so mehr oder weniger als eine Metasprache.

Logik Terminologie

Die Terminologie ist die Gesamtheit der in einer Wissenschaft, Philosophie oder Kunst gebrauchten Fach- und Kunstausdrücke und insofern fast ein Synonym zur Fachsprache; besonders in der Philosophie gestaltet sie sich immer schwieriger, weil die philosophischen Begriffe durch die neuen Aspekte historisch späterer Interpretationen so vieldeutig werden, daß jeder Forscher, um richtig verstanden zu werden, seinen Darstellungen eine Terminologie, d.h. eine Erklärung der von ihm benutzten Termini, voranstellen muß. Die Folge davon ist, daß die Terminologie als Ganzes immer unübersichtlicher wird und nur durch Nachvollzug der entsprechenden Aspekte verstanden werden kann.

Logik Konventionalismus

Der Konventionalismus ist die philosophische Richtung, die den auf rein zweckmäßiger Übereinkuft der Wissenschaftler beruhenden Charakter von Begriffen, Definitionen, Axiomen, Hypothesen u.ä. betont. So brauchen z.B. für den mathematischen Konventionalismus die Axiome keine evidenten Wahrheiten zu sein, sondern sie werden zweckmäßig ausgewählt und als Setzungen vereinbart, müssen nur den formal widerspruchsfreien Aufbau eiens Axiomensystems genüge leisten. Der Konventionalismus steht soweit im Mittelpunkt der heutigen Mathematik, daß behauptet werden kann, es könnte so viele gleichberechtigte bzw. „wahre“ Mathematiken geben wie Mathematiker.

Logik System (Lehre vom System)

Ein System ist ein Zusammenschluß eines - mehr oder weniger - Mannigfaltigen zu einem einheitlichen und wohlgegliederten Ganzen und zu den übrigen Teilen, in dem das Einzelne eine angemessene Stellung einnimmt. Ein philosophisches System ist die Vereinigung grundsätzlicher bzw. grundlegender Erkenntnisse (**) zu einer organischen Ganzheit, zu einer Doktrin, einem „Lehrgebäude“ (vgl. Methode). Vgl. auch Systemtheorie.

 

Logistik

AussagenkalkülPrädikatenkalkülKlassenenkalkülRelationenkalkülSequenzkalküleSonderkalküle

Die Logistik ist die moderne Form der Logik. Sie unterscheidet sich von der älteren, traditionellen Logik vor allem durch ihre Formalisierung (d.h. sie berücksichtigt nicht die inhaltlichen Bedeutungen der einzelnen Ausdrücke, sondern nur ihre syntaktische Kategorie und deren strukturelle Beziehungen) und ihre Kalkülisierung (d.h. die Ausdrücke können nach festen Operationsregeln rein formal umgeformt werden, man kann mit ihnen rechnen). Nicht notwendigerweise, aber aus praktischen Gründen doch meistens ist sie symbolisiert (d.h. den einzelnen Ausdrücken sind ganz bestimmte Zeichen zugeordnet) und axiomatisiert (d.h. alle vorkommenden Zeichen werden durch einige Grundzeichen definiert und alle „Gesetze“ werden durch bestimmte Schlußregeln aus einigen „Grundgesetzen“, den Axiomen, hergeleitet).

Im weiteren Sinne ist die Logistik die Lehre vom Logikkalkül, seinen Voraussetzungen und Anwendungen. Kalkül ist ein System von Zeichen mit dazugehörigen Operationsregeln. Beispielsweise stellt das Schachspiel einen Kalkül dar: die Spielfelder und Spielfiguren stellen ein System von Zeichen dar, die Zug- und Schlagregeln sind Operationsregeln. Die formalen Voraussetzungen des Logikkalküls behandelt die Metalogik - die Lehre von den philosophischen Grundlagen des Logigkalküls -, und dazu gehören vor allem die Syntaktik, die Semantik und die Pragmatik (alle drei sollten trotz Ähnlichkeit nicht verwechselt werden mit denen in der Sprachwissenschaft [Linguistik]).

Innerhalb der Logistik lassen sich folgende Aufgabenfelder unterscheiden:

Logistik (1.) Aussagenkalkül

Ein Aussagenkalkül untersucht die Verbindungen zwischen nichtanalysierten Aussagen durch sogenannte Funktoren (Junktoren, Konnektoren, Operatoren, Konstanten, Partikel), die etwa den Wörtern bzw. Ausdrücken „nicht“, „oder“, „stets dann, wenn, ... so ...“, „und“ u.s.w. entsprechen. Diese Funktoren heißen auch Wahrheits(wert)funktoren.

Logistik (2.) Prädikatenkalkül

Ein Prädikatenkalkül analysiert die Aussagen, die der Aussagenkalkül als Ganzes behandelt. Prädikat ist hier der Name oder das äußere Zeichen für eine Beschaffenheit. Die Zuordnung einer Beschaffenheit zu einem „Individuum“, d.h. zu einem bestimmten, einzelnen Ggenstand, wird durch den Prädikator, der Umfang der Zuordnung durch den Quantifikator ausgedrückt; in den Kalkül gehen nicht die Beschaffenheiten selbst, sondern nur die Prädikatoren bzw- Quantifikatoren ein.

Logistik (3.) Klassenkalkül

Ein Klassenkalkül bezieht sich auf Klassen, wobei in jeder Klasse die Gesamtheit der Einzelgegenstände, denen etwas durch einen Namen Bezeichnetee (gemeinsam) zukommt - z.B. wird die Klasse der Pfeifenraucher als eine „Abstraktion“ der Aussageform „X raucht Pfeife“ aufgefaßt; wenn „ff“ bedeutet „Pfeife rauchen“, so bedeutet „^X“ („fX“) diejenigen X, für die gilt: fX (X raucht Pfeife). Der Funktor „^“ heißt dabei Abstraktor (Komprehensor); er hat als Argument eine Aussageform und bildet daraus eine Klasse.

Logistik (4.) Relationenkalkül

Ein Relationenkalkül analysiert Aussagen über Relationen („der Bruder von“, „größer als“, „ähnlich“ u.s.w.). Wenn Relation „Verfasser“ bezeichnet und „A“ „Bibel“, dann ist „A“ die Klasse der Verfasser der Bibel; wenn „A“ Homer bezeichnet, dann ist „A“ die Klasse der Werke Homers.

Logistik (5.) Sequenzkalküle

Ein Sequenzenkalkül ist quasi eine Familie formaler Systeme (oder Kalküle), die einen bestimmten Stil der Ableitung und gewisse Eigenschaften teilen. Die ersten Sequenzenkalküle, LK für die klassische Logik und LJ für die intuitionistische Logik, sind von Gerhard Gentzen im Jahre 1934 als formaler Rahmen für die Untersuchung von Systemen des natürlichen Schließens in der Prädikatenlogik 1. Ordnung eingeführt worden (vgl. Prädikatenkalkül). Der Gentzen‘sche Hauptsatz über LK und LJ besagt, daß die Schnittregel in diesen Systemen gilt, ein Satz mit weitreichenden Konsequenzen in der Metalogik. Die Flexibilität des Sequenzenkalküls zeigte sich später, im Jahr 1936, als Gentzen die Technik der Schnitt-Elimination verwendete, um die Widerspruchsfreiheit der Peano-Arithmetik zu beweisen. Die auf Gentzen zurückgehenden Sequenzenkalküle und die allgemeinen Konzepte, die dahinterstehen, werden in weiten Bereichen der Beweistheorie, mathematischen Logik und des maschinengestützten Beweisens standardmäßig verwendet.

Logistik (6.) Sonderkalküle

Zu den Sonderkalkülen gehören:
-die mehrwertige Logik (Formalismus);
-die kombinatorische Logik;
-die Syllogistik (vgl. auch: Syllogismus).
Außer den in Abschnitt Aussagenkalkül widergegebenen fünf Symbolen werden etwa noch mehr als 100 weitere (neben großen und kleinen lateinsichen und altgriechischen Buchstaben) benutzt.

Die ersten Ansätze zu einer inhaltlich fundierten (nicht bloß formalisierenden) Logistik schuf Gottfried Wilhelm Leibniz. Seine Ideen wurden zwar weitergeführt, aber ihre Lehren fanden immer weniger Beachtung wegen des rund 100 Jahre später einsetzenden Siegeszuges der transzendentalen Logik Kants. Unabhängig von diesen Vorgängen wurde George Boole durch die Veröffentlichung seinen Hauptwerke von 1847 der Begründer der „Algebra der Logik“, womit im Gegensatz zu den Leibniz‘schen Ansatz für die ganze künftige Entwicklung der Formalismus einsetzte. Diese Entwicklung wurde fortgesetzt und fand ihren Höhepunkt im Werk des Mathematikers Ernst Schröder. Der eigentliche Begründer der heutigen Logistik ist Gottlob Frege. Die Axiomatik und die Grundlagenforschung wurde entscheidend gefördert von David Hilbert.

 

Philosophie Erkenntnis und Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) Philosophie

Erkenntnis

Erkenntnis bedeutet das Sichaneignen des Sinngehalts von erlebten bzw. erfahrenen Sachverhalten, Zuständen, Vorgängen, mit dem Ziel der Wahrheitsfindung. Erkenntnis heißt sowohl (ungenau) der Vorgang, der genauer als Erkennen bezeichnet werden muß, als auch dessen Ergebnis. Im Sinne der Philosophie ist Erkennen immer „etwas als etwas erkennen“, so wie man z. B. sagt: „Er hatte ihn als Lügner erkannt“. In der Erkenntnis ist also ein Beurteilen enthalten, das sich auf Erfahrungen stützt. Wer nicht weiß, was ein Lügner ist und daß es Lügner gibt, kann niemals einen Menschen als Lügner erkennen. In der Erkenntnis ist stets auch ein Wiedererkennen enthalten. Neue, von innerer und äußerer Erfahrung unabhängige Erkenntnisse können nur durch die schöpferische Phantasie entstehen.

Die Erkenntnis wird seit der griechischen Philosophie untersucht nach den Gesichtspunkten von (objektiver) Quelle bzw. Herkunft, (subjektiver) Fähigkeit, d. h. Vermögen dazu, Ziel und Zweck, Kennzeichen und Maßstäben, Grenzen und Hindernissen (Aporien und Antinomien) in einer Erkenntnislehre, die erst seit Kant als philosophisches Sondergebiet unter dem Namen Erkenntnistheorie auftritt und dann mitunter beinahe die ganze übrige Philosophie überwuchert. Seit Leibniz und Wolff bedeutet Erkenntnis sowohl Prozeß als auch Ergebnis der spezifisch empirisch-wissenschaftlichen Wahrheitsfindung. Kant unterschied in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) die Prozesse bei der Erkenntnis (a) des Verstandes, (b) der Vernunft und (c) der Sinne - alle drei müssen zusammenwirken, um die Erkenntnis im engeren Sinne als systematisch geordnetes Wissen hervorzubringen. Schopenhauer machte aus Kants drei Erkenntnisprozessen vier (Schopenhauer). Innerhalb der Erkenntnis wird unterschieden zwischen der (uneigentlichen) formalen oder abstrakten Erkenntnis und der (eigentlichen) inhaltlichen oder konkreten Erkenntnis. Diese zerfällt ihrerseits in so viele Erkenntnisarten, wie es wichtige Sachgebiete gibt.

 Subjekt  Objekt
 
 real   ideal 
 (z.B. Zahlen, 
geometrische
Objekte, logische Begriffe und ihre
 Zusammenhänge) 

Bei der Erkenntnis stehen sich Subjekt und Objekt als Erkennendes und Erkanntes gegenüber. Das Subjekt erkennt, das Objekt ist erkennbar (es sei denn, dieses gehört zum Bereich des Unerkennbaren [Transintelligiblen]). Das Erkennen geschieht dadurch, daß das Subjekt gleichsam in die Sphäre des Objekts hinübergreift und es in seine eigene hereinholt, genauer dadurch, daß die Bestimmungsstücke des Objektes an seinem, im Subjekt entstehenden Abbild wiederkehren. Auch dieses Abbild ist objektiv, d.h. das Subjekt unterscheidet es, an dessen Aufbau es selbst beteiligt ist, von sich selbst als ein Gegenüberstehendes. Das Abbild ist nicht identisch mit dem Objekt, aber ihm kommt „Objektivität“ zu. Das Objekt ist unabhängig vom Subjekt. Es ist mehr als nur ein Gegenstand der Erkenntnis und in diesem Mehr-als-bloßes-Objekt-Sein ist es das „Transobjektive“. Neben dem Gegenstand-Sein besitzt das Objekt An-sich-Sein. Wird das Objekt unabhängig von der Erkenntnisbeziehung gedacht, so wird es zum Ding. Das Subjekt aber kann auch für sich selbst Subjekt sein, d.h. es kann ein Bewußtsein für seine Fähigkeit des Erkennens haben, es besitzt über seine Eigenschaft als eines Erkennenden hinaus noch ein Für-sich-Sein. Das An-sich-Sein des Objektes bedeutet, daß neben dem am Objekt Erkannten noch ein unerkannter Rest übrig bleibt. Die Tatsache, daß wir den Erkenntnisgegenstand nie vollständig und ohne Rest, nie in der Fülle seiner Bestimmtheit erkennen können, spiegelt sich wider in der Nichtübereinstimmung zwischen Objekt und Abbild. Sofern das Subjekt von diesem Unterschied weiß, ergibt sich das Phänomen des Problems, das den weiteren Erkenntnisvorgang mit Spannung lädt und auf immer weitere Erkenntnisbemühungen drängt. Der Ausgleich einer solchen Spannung liegt in der Richtung eines Erkenntnisprogresses, durch den die Grenze zwischen dem, was bereits erkannt wurde, und dem, was erkannt werden sollte, auf das Transobjektive hin verschoben wird. Der Erkenntnisdrang des Bewußtseins, dessen Wirkung der Erkenntnisprogreß ist, ist ein fortschreitendes Sich-empfänglich-Machen für die Bestimmtheiten des Objekts. Für den Erkenntnisdrang ist das, was erkannt werden soll, unerschöpflich, für ihn ist es ein Unendliches.

„In aller Erkenntnis stehen einander Erkennendes und Erkanntes gegenüber.
Das Gegenüber beider Glieder ist unaufhebbar und trägt den Charakter
gegenseitiger Ungeschiedenheit oder Transzendenz.“
(Nicolai Hartmann N. Hartmann).


Erkanntes
(Objectum)
Zu Erkennendes
(Objiciendum)
Unerkanntes
(Transobjektives)
Unerkennbares
(Transintelligibles)
Vier Schichten der Transzendenz
gemäß Nicolai Hartmann N. Hartmann

Der Erkenntnisprogreß findet seine Schranke an der selten verschiebbaren Grenze der Erkennbarkeit. Dahinter beginnt das Unerkennbare, das Transintelligible (irreführend oft das Irrationale genannt). „Wie das Transobjektive in der verlängerten Richtung des Erkannten liegt, so liegt innerhalb des Transobjektiven das Transintelligible in der verlängerten Richtung des Erkennbaren“ (Nicolai Hartmann N. Hartmann). Die Existenz des Transintelligiblen ist es, die den Erkenntnisvorgang nicht zur Ruhe kommen läßt. Der Bereich des Transintelligiblen, dem An-sich-Sein und Für-sich-Sein zugehören, ist das Medium, das den Wirkungszusammenhang zwischen Objekt und Subjekt ermöglicht. In welcher Weise die Übertragung der Bestimmungsstücke des Objekts auf das Subjekt erfolgt, ist im wesentlichen unbekannt. Geht man aber davon aus, daß alles Seiende, da der gemeinsamen Sphäre des Unerkannbaren angehörend, sich gegenseitig irgendwie bedingt und bestimmt, bedenkt man ferner, daß das Subjekt das reaktionsfähigste und empfindsamste unter allem Seienden ist, so ergibt sich, daß das ganze System des Seienden vom Transobjektiven her über das Objekt und das Abbild vor dem Subjekt in Erscheinung treten muß. Erkenntnis ist, so gesehen, ein Wahrnehmen der dem Subjekt zunächst gelegenen Glieder der Beziehungen zwischen Objekt und Subjekt.

Die Erkenntnisprinzipien, d.h. die Art und Weise, in der Erkenntnis stattfindet, müssen also für alle Subjekte die gleichen sein. Andererseits ergibt sich, z.B. aus der (innerhalb der bekannten Fehlerbereiche möglichen) Berechenbarkeit physikalischer Vorgänge, daß die Gesetze der mathematischen Logik (und somit die Gültigkeit apriorischer Einsichten) die logisch-mathematische Sphäre überschreiten und darüberhinaus Gültigkeit haben. Die Anwendung eines mathematischen Satzes auf ein Naturgeschehen bedeutet ein Übergreifen der logischen Sphäre auf die reale. Es gibt logische Zusammenhänge und Beziehungen, die mit denen des Realen übereinstimmen. Die logische Sphäre vermittelt demnach zwischen der Welt der Abbilder und der Welt des Realen. Die Erkenntnisprinzipien sind also nicht nur für alle Subjekte dieselben, sondern sie treten auch in der Welt der Objekte auf, und zwar als die Kategorien. Erkenntnis ist möglich, weil Erkenntniskategorien und Seinskategorien identisch sind. Aber weder sind alle Erkenntniskategorien zugleich Seinskategorien, noch sind alle Seinskategorien zugleich Erkenntniskategorien. Träfe das erstere zu, so würden alle Erkenntnisse die reine Wahrheit zum Inhalt haben, träfe das letztere zu, so wäre alles Seiende ohne Rest erkennbar. Die Bereiche der Seins- und der Erkenntniskategorien decken sich teilweise, und nur so ist es zu verstehen, daß sich das Naturgeschehen nach mathematischen Gesetzen zu richten scheint: daß z.B. die Planetenbahnen auch tatsächlich „elliptisch“ sind. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird Erkenntnis hauptsächlich mit empirischer Erkenntnis der Naturwissenschaften gleichgesetzt, während Geisteswissenschaften über die rationale Erkenntnis hinauszugreifen gezwungen sind.

In seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) unterschied Kant die Prozesse bei der Erkenntnis der Sinne, des Verstandes und der Vernunft. Alle drei müssen zusammenwirken, um die Erkenntnis im engeren Sinne als systematisch geordnetes Wissen hervorzubringen. „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauungen zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.“ (Ders., Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in zwölf Bänden, S. 311). Gemäß Kant besteht die Erkenntnis aus Anschauungen (Sinnlichkeit und Verstand) und Begriffen (Vernunft). „Die Erkenntnis durch Begriffe heißt diskursiv, die in der Anschauung intuitiv; in der Tat wird zu einer Erkenntnis beides miteinander verbunden erfordert, sie wird aber von dem benannt, worauf als den Bestimmungsgrund desselben ich jedesmal vorzüglich attendiere.“ (Ebd., Beilage, 2. Absatz, V 3, 156 f.). Als Hauptsatz des (seines!) Kritzismus gilt daher auch: Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen leer. „Alle unsere Erkenntnis hat eine zwiefache Beziehung: erstlich eine Beziehung auf das Objekt, zweitens eine Beziehung auf das Subjekt. In der ersteren Rücksicht bezieht sie sich auf Vorstellung, in der letzteren auf das Bewußtsein, die allgemeine Bedingung aller Erkenntnis überhaupt.“ (Ebd., Einleitung, V). „Alle Erkenntnisse, das heißt: alle mit Bewußtsein auf ein Objekt bezogenen Vorstellungen sind entweder Anschauungen oder Begriffe.“ (Ebd., Transzendentale Logik, § 1, IV, 98). Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft arbeiten also während unserer Erkenntnis zusammen, beziehen sich auf Objekt und Subjekt, auf Vorstellung und Bewußtsein.

Sinnlichkeit
(gemäß Kant)
Verstand
(gemäß Kant)
Vernunft
(gemäß Kant)
-  V e r s u c h   e i n e r   A n a l o g i s i e r u n g   -
Ikone
(gemäß Peirce)
Indizes
(gemäß Peirce)
Symbole
(gemäß Peirce)

Auch Schopenhauer (Arthur SchopenhauerArthur Schopenhauer) zufolge ist alles, was für die Erkenntnis da ist - also diese ganze Welt - Objekt in Beziehung auf ein Subjekt, ist Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort: Vorstellung. Also: kein Subjekt ohne Objekt, kein Objekt ohne Subjekt. Zum Bewußtsein, mit dem sich das Subjekt auf ein Objekt bezieht, also Vorstellungen (Anschauungen [durch Sinnlichkeit und Verstand] und Begriffe [durch Vernunft]) hat, fügte er das Selbstbewußtsein hinzu (vgl. in der folgenden Tabelle).

Arthur Schopenhauer   S c h o p e n h a u e r s   V o r s t e l l u n g ( e n )   Arthur Schopenhauer
Arthur Schopenhauer Vier Klassen der Objekte für das Subjekt und die in ihnen herrschende Gestaltung des Satzes vom zureichenden Grunde Arthur Schopenhauer
1. Klasse der Objekte ... 2. Klasse der Objekte ... 3. Klasse der Objekte ... 4. Klasse der Objekte ...
Subjektives Korelat:
Verstand
SchopenhauerSubjektives Korrelat
Subjektives Korelat:
Vernunft
SchopenhauerSubjektives Korrelat
Subjektives Korelat:
Sinnlichkeit
SchopenhauerSubjektives Korrelat
Subjektives Korelat:
Selbstbewußtsein SchopenhauerSubjektives Korrelat
Raum, Zeit;
Ursache und Wirkung
(Kausalität)
Begriffe und Urteile u.s.w. wie 1. Klasse - nur ohne Zeit
(also auch ohne Kausalität), weil Raum und Zeit gleichgesetzt
wie 1. Klasse - nur bezogen
auf den Leib, den inneren Sinn; innerlich
Satz vom zureichenden
Grunde des Werdens
Arthur SchopenhauerArthur Schopenhauer
Satz vom zureichenden
Grunde des Erkennens
Arthur SchopenhauerArthur Schopenhauer
Satz vom zureichenden
Grunde des Seins
Arthur SchopenhauerArthur Schopenhauer
Satz vom zureichenden Grunde
des Handelns (Motivs)
Arthur SchopenhauerArthur Schopenhauer

Die Erkenntnis, daß die Welt Vorstellung sei, genügte Schopenhauer nicht. Wir fragen, ob diese Welt nichts weiter als Vorstellung sei, und was, wenn sie noch etwas anderes ist. Wir erkennen nun: das als Individuum erscheinende Subjekt des Erkennens findet als sein innerstes Wesen den Willen, und zwar aus der Erfahrung seines Leibes; er ist auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: als Vorstellung, als Objekt unter den Objekten, zugleich aber auch als das jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet. Also: Der Leib ist die Objektivation des Willens: der Wille ist das Ansich des Leibes. Diese Erkenntnis ist der Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur; alle Objekte müssen ihrem inneren Wesen nach dasselbe sein, was wir an uns Wille nennen. Der Wille ist das „Ding an sich“, also ist er auch das innerste Wesen des Menschen. Raum und Zeit allein sind es, mittels welcher das dem Wesen und dem Begriff nach Gleiche und Eine doch als verschieden, als Vielheit neben- und nacheinander erscheint. Der Wille als Ding an sich liegt außer allem Raum und aller Zeit, wie auch außer aller Kausalität: er ist grundlos, ursachlos, ziellos und erkenntnislos. Sobald er sich der objektiven Erkenntnis darstellt, zeigt er sich in Raum und Zeit dem Individuationsprinzip (principium inidividuationis) unterworfen und wird dadurch Wille zum Leben. Die durch Raum und Zeit bestimmten Objekte (Vorstellungen) betrachtet die Wissenschaft am Leitfaden der Kausalität. Darüber hinaus vermag allein das Genie in der Kunst durch reine Kontemplation und ungewöhnliche Kraft der Phantasie die ewigen Ideen aufzufassen und darzustellen, in der Poesie, der bildenden Kunst, der Musik. Die Musik nimmt eine besonders hohe Stellung ein, da sie nicht wie die anderen Kunstgattungen die Ideen abbildet, sondern die unmittelbare Objektivation des Weltwillens in uns ist.

Der Wille muß immer streben, weil Streben sein alleiniges Wesen ist, dem kein erreichtes Ziel ein Ende macht, das daher keiner endlichen Befriedigung. d.h. keines Glückes, fähig ist. Laut Schopenhauer ist jede Lebensgeschichte Leidensgeschichte: „Der Lebenslauf des Menschen“ besteht darin, „daß er, von der Hoffnung genarrt, dem Tod in die Arme tanzt.“ Die ganze Natur ist ein unbarmherziger Kampf ums Dasein. Sie ist ein „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist“. Was alles Wirkliche kennzeichnet, ist „der endlose, aus dem Leben wesentlich entspringende Schmerz, davon die Welt übervoll ist.“ So zeigt sich: Diese ist „an allen Enden bankrott“. Sie ist, entgegen Leibniz, der sie für die bestmögliche hielt, die schlechteste aller möglichen Welten (**). In summa: Die Welt ist etwas, was nicht sein sollte. Mitleid ist nach Schopenhauer das Fundament der Moral. Das Gefühl des Mitleids bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern, was für Schopenhauer besonders wichtig war, ebenso auf Tiere. Aus Egoismus entspringt das Böse, aus Mitleid das Gute. Das ist das Grundprinzip der Ethik Schopenhauers. Ihr gemäß wird der das Leiden schaffende Wille durch die Tat des Mitleids verneint. Die Verneinung des Willens zum Leben kann also in letzter Konsequenz nichts anderes sein als die Aufhebung des Individuationsprinzips (principium inidividuationis) oder gar der Übergang ins Nichtsein, ins Nichts (Nirwana). Diese Verneinung geht aus der Durchschauung des Individuationsprinzips hervor, aus dem Sich-wieder-Erkennen (Sichwiedererkennen) in der fremden Erscheinung.

 

Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie)

 Erkenntnislehre - gegliedert in Erkenntnismetaphysik und Erkenntniskritik (Kant)   „Wissenschaftstheoretische Wende“ in der Erkenntnislehre?   Phänomenologisch-strukturale, also sprachliche (i.w.S.) Erkenntnis   Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis 
 H e r r s c h a f t s f o r m e n   i n   d e r   E r k e n n t n i s t h e o r i e   -   m ü s s e n   d i e   s e i n ? 
 Kulturmorphologische Erkenntnistheorie, existenzialistische Erkenntnistheorie, kybernetisch-systemische Erkenntnistheorie, quadrialistische Erkenntnistheorie 
 Evolutionäre Erkenntnistheorie   Digitale Erkenntnistheorie - werden wir die bald nötig haben? 

Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) Erkenntnislehre - gegliedert in Erkenntnismetaphysik und Erkenntniskritik (Kant)

Die Erkenntnislehre, auch Erkenntnistheorie, Wissenschaftslehre (einschließlich Wissenschaftstheorie und -praxis), Epistemologie oder Erkenntniswissenschaft genannt, ist die spezialisierteste Lehre der Erkenntnis und gliedert sich in (a) Erkenntniskritk, die von einem vorher bestehenden Erkenntnistypus ausgeht, an dem sie die vorhandenen Kenntnisse kritisch mißt, so Kant in seine Kritik der reinen Vernuft (1781), und (b) Erkenntnismetaphysik, die das Wesen der Erkenntnis erforscht und dabei meist von den im Sein des Erkennenden und im Sein des Erkannten beschlossenen Möglichkeiten des Erkennens ausgeht.


Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) „Wissenschaftstheoretische Wende“ in der Erkenntnislehre?

Die im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts entstandene (sogenannte!) „wissenschaftstheoretische Wende“ konnte die Erkenntnistheorie zwar ein bißchen bereichern, doch das Verhältnis der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaft blieb ambivalent. Jede Wende (Beispiele: „Linguistische Wende“, scheinbar neue „anlytische Philosophie“, „kritischer Rationalismus“ u.s.w.) konnte dieses Verhältnis nur leicht verbessern. Da vor allem die Entwicklung der formalen Logik (bzw. Logistik) und der Sprachphilosophie sowie die im Rahmen der damaligen Denkgewohnheiten nicht erfaßbaren Vorstellungen der Quantentheorie (Max Planck) und Relativitätstheorie (Albert Einstein) zur Entstehung einer neueren Wissenschaftstheorie geführt hatten, blieb sie zunächst auch wesentlich bestimmt vom Neopositivismus und logischen Empirismus; dagegen begründete z.B. Karl Popper die zweite Grundrichtung dieser neueren Wissenschaftstheorie, den sogenannten kritischen Rationalismus, nach dem sich Wissenschaftstheorie auf die Untersuchungen der Bedingungen für eine Falsifikation der als Hypothesen aufgefaßten wissenschaftlichen Theorien beschränken muß. (Anti-Test). Der begründungstheoretische Ansatz wird, gefördert z.B. durch die analytische Philosophie, zum einen von der analytischen Wissenschaftstheorie, zum anderen in der operationalistisch orientierten und von Paul Lorenzen begründeten konstruktiven Wissenschaftstheorie fortgeführt. Aber trotzdem: das Verhältnis der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaft ist ambivalent. Faktische wissenschaftliche Forschung steht eben oft unter anderen Bedingungen als ihre in der Wissenschaftstheorie analysierten Strukturen und Normen. Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis wird wissenschaftstheoretisch immer noch als Abgrenzungsproblem zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Aussagen oder - wie bei Kant - als Kritik der „reinen Vernunft“ behandelt. Als theoretische Fundamentaldisziplin hat die Erkenntnistheorie damit die Stelle der Metaphysik, d.h. ihren ersten Platz übernommen, denn in der transzendentalen Erkenntnistheorie Kants hatte die Erkenntnistheorie ihre (wirklich) entscheidende Wende erfahren. (Kant als „Vater der ModerneVater der ModerneKant, Vater der Moderne). Das scheinbar ewige Subjekt-Objekt-Problem führte, indem unter Erkenntnistheorie nicht mehr nur primär Methodologie naturwissenschaftlichen Wissens verstanden wurde, zu der auch heute noch fundamentalen Unterscheidung zwischen Realismus und Idealismus. (Übrigens muß wohl fraglich bleiben, ob Heideggers „In-der-Welt-Sein“ trotz enormen Willens und grandioser Versuche das Subjekt-Objekt-Problem tilgen konnte ). Zugleich wurde die Erkenntnistheorie aus der Einsicht in die historische Bedingtheit des Erkennens (vgl. Historismus) durch die Hermeneutik ergänzt, d.h. wissenschaftstheoretisch um die Unterscheidung von Verstehen und Erklärung. Die erkannte Bedeutung der Sprachphilosophie gilt angesichts der sprachlichen Verfaßtheit aller Erkenntnis auch für die Begründung des sogenannten exakten Wissens (Mathematik, Naturwissenschaft).


Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) Phänomenologisch-strukturale, also sprachliche (i.w.S.) Erkenntnis

Der 1937 geborene Elmar Holenstein beabsichtigte in seinem 1976 erschienen Buch Linguistik, Semiotik, Hermeneutik (Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie), das eine Zusammenstellung von acht Aufsätzen aus den Jahren 1973, 1974 und 1975 enthält, „zum einen .... in der Zeit eines wiedererstarkten wissenschaftsgeschichtlichen Bewußtseins, die gänzlich verschütteten historische Abhängigkeiten der Linguistik und Semiotik von der Phänomenologie Husserls und dessen philosophischen Vorfahren freizulegen; zum anderen ... über die Schlüsselposition, die der Linguistik im Konzept der Wissenschaften zukommt, der auf dem europäischen Kontinent weitgehend erstarrten phänomenologischen Philosophie wiederum Anschluß zu verschaffen an die neuen Forschungsfronten in den Humanwissenschaften.“ (Klappentext).

Alles Sprachliche (Zeichenhafte) hat ein Eigenleben. - Im 19. Jahrhundert wurden nur kausale und genetische Erklärungen als wissenschafliche Leistungen anerkannt. „Dem vorherrschenden Ideal der empirizistischen Naturwissenschaft der damilgen Zeit entsprechend versuchte man, die Psychologie gleichfalls als eine empirisch erklärende Tatsachenwissenschaft zu fassen, Den naheligendsten Weg dazu bot die Reduktion alles Psychischen auf die es fundierenden physiologischen Prozesse. In der Folge dieser Reduktion erfuhren auch sämtliche geistigen und kulturellen Phänomene eine in letzter Instanz physiologische Erklärung.“ (Ebd., S. 24). Das konnte natürlich nicht funktionieren, auch nicht auf Dauer per Dogma durchgehalten werden. Friedrich Ludwig Gottlob Frege, der Begründer der modernen mathematischen Logik, der Logistik und der modernen philosophischen Logik (**|**|**), war der erste, der gegen den Psychologismus kämpfte, besonders gegen den in der Logik, so daß er auch noch zum Begründer des Antipsychologismus wurde. Frege wirkte besonders maßgeblich auf z.B. Russel, Church, Quine u.a., ja auf die gesamte angelsächsische Philosophie bis heute, wirkte auf den Wiener Kreis (Neupositivismus), dessen Begründer Schlick war und zu dem sonst noch z.B. Wittgenstein, Carnap, Reichenbach gehörten, und wirkte auch u.a. auf Husserl und Heidegger.

Husserl
„Logische Untersuchungen“ (1900)
Prolegomena und II. Untersuchung V. und VI. Untersuchung I., III. und IV. Untersuchung

1. Strömung

2. Strömung

3. Strömung
Eidetische Phänomenologie Transzendentale Phänomenologie Strukturale Phänomenologie
München-Göttinger
Phänomenologie
Husserlsche
Phänomenologie
Heideggersche
Phänomenologie des Daseins
(Existenzphilosophie)
Prager Strukturalismus
Antipsychologismus, autonome
Phänomene, eidet. Universalien
Französische Phänomenologie als Versuch, Husserls und
Heideggers Phänomenologie wieder zusammenzubringen
Autonome Linguistik,
strukturale Universalien
Autonome Phänomene Korrelation von Subjekt und Objekt Autonome Linguistik
Eidetische Universalien Objektiver Idealismus Subjektiver Dezisionismus Strukturale Universalien
* Es sind hinzuzufügen: (1.) Freges Antipsychologismus oben, weil er eine Voraussetzung für Husserls „Logische Untersuchungen“ ist; (2.) der frz.
    Strukturalismus/Poststrukturalismus, Gadamers „Philosophische Hermeneutik“, Schmitz’ „Neue Phänomenologie“ innerhalb der 2. Strömung unten.
„Husserls Logische Untersuchungen können als Ausgangspunkt von drei ausgezeichneten phänomenologischen Strömungen angesehen werden.“ (Ebd., S. 57). Siehe Skizze rechts. 1. Strömung: München-Göttinger Phänomenologie; 2. Strömung: Transzendentale Phänomenologie; 3. Strömung: Prager Strukturalismus. Alle drei Strömungen richten sich nach dem von Frege begündeten Antipsychologismus.

„Diese kurze Skizze ist eine Vereinfachung. Sie beschränkt sich auf die Herausstellung der hauptsächlichen Quelle und der vorherrschenden Aspekte jeder der drei Strömungen. Sie soll nicht als eine erschöpfende Charakterisierung mißverstanden werden. Insbesondere ist vor der weitverbreiteten Meinung zu warnen, der Strukturalismus setze sich über das Hauptanliegen der transzendentalen Phänomenologie (siehe 2. Strömung in der Skizze; HB), die immanennte Korrelation von Subjekt und Objekt, positivistisch hinweg. Der subjektive Pol der Konstitution ist im Strukturalismus nicht abwesend. Was der Strukturalismus verwirft, ist allein der »Egozentrismus« der klassischen Transzendentalphänomenologie. Nicht anders als Husserl selber in seinen späteren Jahren befaßt sich der Strukturalismus vorab mit dem unbewußten und mit dem intersubjektiven Charakter der Subjektivität der sprachlichen Konstitution.“ (Ebd., S. 58-59).

„Abgesehen von elementaren und primitiven Erkenntnissen, die als solche freilich grundlegend sind, beruht alles Wissen auf einer Interdependenz von intuitiven und semiotisch (also: sprachlich! HB) vermittelten Erkenntnissen.“ (Ebd., S. 148).

„In der heutigen Wissenschaftsphilosophie kommt zur kognitiven Funktion der Zeichen deren planifikatorische Funktion hinzu. Zeichen dienen der Planung und Steuerung von Handlungen. Mit den kybernetischen Wissenschaften ist es einer semiotischen (also: sprachlichen! HB) Disziplin gelungen, das Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zum ersten Mal seit dem Beginn der Neuzeit umzukehren und mit Erfolg naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen ein humanwissenschaftliches (also: geisteswissenschaftliches; HB) Modell zu unterschieben.“ (Ebd., S. 148).

„Husserl beginnt mit einer Philosophie der Arithmetik (1891), die als die gründlichste Studie zu der von Locke und Leibniz inaugurierten semiotischen Konzeption der Zahlbegriffe angesehen werden kann. Zur Verblüffung seines Lehrers Franz Brentano und wohl auch heute noch eines jeden, der von der erkenntnispraktischen Bedeutung der Zeichensysteme eine Ahnung hat, kehrt er sich neun Jahre später in seinen Logischen Untersuchungen (1900) einer platonisch anmutenden Erkenntsnistheorie zu, deren ausschließliches Interesse in einer unvermittelten Einsicht in das Wesen von Sachen und Sachverhalten liegt. Gegen Ende seines Lebens schließlich verfaßt er einen allusionsreichen Essay, der bei der posthumen Publikation (1939) den Titel »Vom Usprung der Geometrie« erhält. In ihm sieht er den Wissensfortschritt, wie er von hochentwickelten Wissenschaften wie der Mathematik geleistet worden ist, unumgehbar gebunden an eine sukzessive Semiotisierung und damit der unmittelbaren Evidenz entzogenen Sedimentierung der vorangehenden intutiven Erkenntnisschritte. Die Position dieser Spätschrift ist eine Entfaltung und Ausweitung der Ausgangsposition.“ (Ebd., S. 158-159).
Ich bejahe Holensteins Frage größtenteils: „Ist alle Erkenntnis semiotisch vermittelt ...?“ (Ebd., S. 158). Somit verneine ich dessen zweite Frage größtenteils: „Oder gibt es Regionen, die der Wahrnehmung z.B., die uns unmittelbar zugänglich sind?“ (Ebd.). Ich würde nur für das Wort „semiotisch“ das Wort „sprachlich“ einsetzen, weil dadurch mehr zum Tragen kommt, daß die Sprache (i.w.S.!) der Oberbegriff für alles Zeichenhafte und die Semiotik nur ein Teil davon ist - so wie auch z.B. die Kommunikation oder die Mathematik oder das Denken.  –  Holenstein zufolge unternahm Husserl eine dreifache Unterteilung der Erkenntnis: (1.) Intuition, (2.) (Gestalt-)Psychologie, (3.) Semiotik. „Auch in der Philosophie der Arithmetik huldigt Husserl keinen absoluten Semiotismus. Es gibt von den Zahlen eine dreifache Weise der Erkenntnis. Die kleinsten ganzen Zahlen (nach 1891: 250, im besten Fall die Zahlen bis zwölf) sind uns in einer unmittelbaren Intuition zugänglich. Die Genesis dieser direkten Zahlvorstellung ruht freilich auf der sinnlichen Wahrnehmung von Gegenständen auf. D.h. es gibt eine Erkenntnis ohne Vermittlung von Zeichen, es gibt jedoch keine Erkenntnis ohne eine sinnliche Unterlage, auf die sie sich anfänglich beziehen kann. In dieser Hinsicht ist die Rede von einer unvermittelten Intuition von idealen Gegenständen, wie es die Zahlen sind, zu relativieren. Allerdings spielt weder die Beschaffenheit noch die räumlich-zeitliche Anordnung der sinnlichen Substrate eine konstitutive Rolle. Sind die Zahlenbegriffe einmal abstrahiert, wird die sinnliche Grundlage entbehrlich. Größere Zahlen bedürfen zu ihrer Konstitution, wie dargelegt, einer systematischen semiotischen Vermittlung. - Zwischen der intutiven und der semiotischen Erfassung der Zahlen gibt es noch eine mittlere Weise der Zahlerkenntnis. Ihr Anhalt ist ein figürliches Moment oder, wie der bekanntere gestaltpsychologische Term lautet, eine Gestaltqualität.
Baumallee (gezeichnet von Oswald Spengler)
Indischer Säulengang
Starenschwarm
Wie wir eine Vielfalt von konkreten Gegenständen, etwa eine Allee von Bäumen, eine Kolonne von Säulen, einen Schwarm Vögel, ohne einen Akt der Abzählung unmittelbar über eine spezifische Gestaltqualität als eine Vielheit erfassen, so können wir auch Zahlenmengen aufgrund eines figuralen Moments abschätzen. Eine sichere Abschätzung kommt nach Husserl jedoch in der Regel nicht über eine fünfgliedrige Menge hinaus. Nach anderen Autoren soll die erreichbare Grenze im Durchschnitt bei zwanzig liegen, ja bei besonderen Gegenständen, wie z.B. beim Würfel- oder Dominospiel, sollen von geübten Personen bis zu vierzig Einheiten mit einem Blick erfaßbar sein. Die figuralen Momente gehören zum psychologischen Gehalt der Zahlvorstellungen, während die semiotische Erfassung auf ihrem logischen Gehalt basiert (Husserl, 1891: 244 f., 287 ff.).“ (Ebd., S. 159-160). Nach meinen Dafürhalten machen die Intuition (=> 1.) und die Semiotik (=> 3.) und also die Sprache allein die Erkenntnis aus, brauchen dazu somit keine „mittlere Weise“, d.h. keine „(Gestalt-)Psychologie“ (=> 2.). Jede Gestalt ist ein Zeichen, also Teil der Sprache!

„Die Verschränkung von unmittelbar intuitiver und semiotisch (also: sprachlich! HB) vermittelter Erkenntnis gilt meiner Meinung nach nicht nur für hochentwickelte Wissenschaften, sondern bereits schon für die Gebiete der Wahrnehmung und der körperlichen Handlung .... - Ohne Projekt, ohne zeichenhafte Vorwegnahme, sind wir nur zu extrem simplen Handlungen fähig, zu solchen, die durch Reflexe oder durch Assoziation von den jeweiligen Gegenständen der Wahrnehmung ausgelöst werden. Eine experimentelle Untersuchung mit sprachbehinderten Kindern ... zeigt eindrücklich, wie sinnvolle Handlungsabläufe von einer gewissen Dauer erst möglich werden, wenn die Kinder fähig sind, ein Projekt - im untersuchten Fall sprachlich - zu formulieren. Die Handlung wird zu einer stufenweise Entfaltung eines Planes. Die einzelnen Gegenstände sind nicht mehr beliebig dieser oder jener Handlung ausgeliefert, je nach dem momentanen Zusammenhang, in dem sie im Gesichtsfeld des Kindes auftauchen. Sie behalten vielmehr eine bleibende Bedeutung die ganze Handlungsperiode hindurch. Ihre Bedeutung ergibt sich nicht aus der unmittelbaren Handlungsphase, sondern aus dem Gesamtprojekt. (Klötze werden z.B. nicht weggeräumt, weil ihr Wegwerfen an sich Spaß macht, sondern um für einen Bahnbau Platz zu schaffen.) Der Handlungsablauf wird fortwährend im Hinblick auf das Projekt geprüft und bewertet. (»Ist der Tunnel innen dunkel?« »Nein, zu wenig dunkel!« u. dgl..) - Wie weit Wahrnehmungen semiotisch vermittelt sind, ist weniger eindeutig festzustellen. Der Unterschied in einer Bildbeschreibung - das sprachlich unterentwickelte Kind begnügt sich mit der Benennung von einzelnen Gegenständen, sein sprachtrainierter Zwilling gibt Beschreibungen von Sachverhalten, die er wahrnimmt - braucht nicht einen Fortschritt in der Wahrnehmung anzuzeigen. Was er in erster Linie bezeugt, ist ein Fortschritt in der Beherrschung der Beschreibungsmittel. - Der Gewinn, den die sprachliche Prädikation und ebenso die algebraische (ebenfalls sprachliche! HB) Gleichung mit sich bringt, liegt weniger in der getreuen Bestandsaufnahme der Wahrnehmung als vielmehr in der von ihr ermöglichten Loslösung von der Wahrnehmung durch die Transformation ihrer Struktur und die Variation ihrer Elemente. Statt »Christopherus trägt das Kind« kann ich sagen »Das Kind wird von Christopherus getragen«, statt »über den Fluß« kann ich ersetzen »über die Straße«. Was die semiotische Formulierung für die Wahrnehmung leistet, so kann vermutet werden, ist passiv eine größere Aufgeschlossenheit für unvorhergesehene Variationen und aktiv eine Anregung zu einer eigenmächtigen Modifikation des Wahrnehmungsfeldes. - Wenn wir an der Einsichtigkeit unseres Zeichengebrauchs festhalten wollen, ist eine transzendentale, d.h. erkenntnisphänomenologische Transformation der Semiotik ein nicht weniger dringliches Postulat als die Möglichkeit einer semiotischen Transformation der Transzendentalphilosophie. .... Die Deamarkationslinie zwischen einer rein intuitiven und eine semiotisch-linguistisch vermittelten Konstitutionsleistung ist in all diesen Gebieten erst noch zu suchen. Vieles deutet auf eine sehr weit zurückliegende Grenzlinie.“ (Ebd., S. 162, 163-164, 165).

„Nicht jede Handlungsantizipation braucht, bevor sie automatisiert wird, die Gestalt einer Vorstellung zu haben. Bei Liepmanns Patienten (Apraxie-Patienten; HB) ist nach Merleau-Ponty eine motorische Intentionalität defekt, die er als ein »Zur-Welt-Sein« beschreibt. Nach meiner Meinung verzichtet man mit einem Gewinn an Sachlichkeit auf die existentialphilosophische Terminologie.“ (Ebd., S. 166).

„Zusammengesetzte Zeichen versteht, wer die Regeln beherrscht, nach denen sie ineinander übersetzt werden können, wer die Beziehungen beherrscht, die zwischen den einzelnen Elementen eines Zeichensystems walten. .... Intralinguale Transformationen sind nicht anders als interlinguale Übersetzungen meistens leicht bedeutungsverschiebend. Für das volle Verständnis eines Satzes genügt entsprechend nicht die bloße Beherrschung aller möglichen Transforamtionen. Das volle Verständnis weist sich durch die Kompetenz zu kommentierenden Angaben aus, inwieweit solche Transfomationen bedeutungsverschieden sind, bzw. durch den sitauationsgemäßen Gebrauch der Transformationen.“ (Ebd., S. 168).

Systeme gemäß meiner Theorie:
Systeme Systeme
„Seit dem Beginn der Neuzeit hatten die Naturwissenschaften die Führung in der Wissenschaftstheorie übernommen. Sie waren es, die ihre Modelle auch den Geisteswissenschaften aufdrängten. Mit der Planungs- und Steuerungsfunktion der Zeichen ist es einer semiotischen Disziplin als erster Geisteswissenschaft gelungen, das Fundierungsverhältnis umzukehren und einer ganzen Reihe von naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen ein geisteswissenschaftliches Modell zugrundezulegen. Der Umbruch hatte eine befreiende Rückwirkung auf die Geisteswissenschaften selber. Die Überholung des Behaviorismus durch die Kognitive Psychologie erfolgte nicht zuletzt unter dem Einfluß der Computerwissenschaften (Neisser, 1967: 8 f.). Ihre hochdifferenzierte, nichtmechanische Konzeption einer Maschine erwies sich als aufschlußreiches Modell für die Aktionsweise des menschlichen Geistes (ja, des Geistes, aber eben nicht der Psyche; HB), von dem sie in groberer Form ursprünglich übernommen worden war. Computer sind physikalische Systeme, deren Ingangsetzung nicht nur zu Prozessen führt, die als physikalische Leistungen in einer physikalischen Sprache beschrieben werden können. Sie zeitigen auch Prozesse, die als Informationsverarbeitung und als Handlungssteuerung in einer geisteswissenschaftlichen Sprache beschrieben werden können. Analog wie in der Lautlehre zwischen der Phonetik, die sich mit den physikalischen und physiologischen Eigenschaften der Laute befaßt, und der Phonem(at)ik, die es auf ihre linguistische Funktion abgesehen hat, unterschieden wird, muß man auch in den Computerwissenschaften zwischen einer etischen Disziplin, die sich mit den physikalisch-mechanischen Prozessen des Computers befaßt, und einer emischen Disziplin, die es auf seine rechnerischen Leistungen abgesehen hat, unterscheiden.“ (Ebd., S. 171-172).

„Es ist freilich im Auge zu behalten, daß die Informationsübermittlung bei sich selbst regulierenden Systemen mit durch und durch mechanischen Mitteln vorgenommen wird. Revolutionär ist allein die ganzheitliche, teleonomische Konzeption der Funktion dieses, für sich isoliert betrachtet, mechanisch-kausalen Informationsprozesses. Es kommt noch ein zweites »freilich« hinzu. Die teleonomischen Prozesse, soweit sie in der Natur selber gefunden werden können und nicht, wie die automatischen Maschinen, menschlicher Produktion entstammen, sind, wie schon erwähnt, nach der vorherrschenden Meinung unter den Biologen ganz und gar zufälligen Ursprungs. Den Geisteswissenschaftler, der an den Primat von Gestalt (Form) und Sinn (Funktion) gegenüber der mechanischen Kausalität glaubt, sollte immerhin trösten - und noch mehr zu denken geben -, daß offenbar doch auch im Reiche der Natur »Kreationen«, die sich durch vollendete Formen und durch hohe Sinnhaftigkeit auszeichnen, anderen Gebilden, die nichts zur vermehrten Ordnung des Kosmos beitragen, überlegen sind. Das Kriterium der Selektion in der vom Zufall in Gang gebrachten Evolution ist die Funktionalität.“ (Ebd., S. 172-173).

Holensteins „vier Phasen einer umfassenden, den Strukturalismus miteinschließenden hermeneutischen Bewegung“
(Einteilung der Phasen nach der jeweiligen Definition des Ganzen, in das Einzelnes als eingebettet angesehen wird)
1. Phase 2. Phase 3. Phase 4. Phase
Dogmatischer Kanon 2 Pole:
Text, geschichtlicher Kontext
3 Pole:
Text, geschichtlicher Kontext, Lebenszusammenhang des Deuters
Polymorpher Kode
Theologie, Philologie Deutungsarbeit , - situation Welthorizont des Deuters Strukturalismus
Bibel, v.a. N.T. (Theologie),
klass. Altertum (Philologie)
Geschichtliche Tatsachen Geschichtliches Verstehen ist relativ, da selbst auch geschichtlich Formale Eigenschaften
von Beziehungen
Eine geschlossene
geschichtliche Einheit
ist nicht gegeben
Hermeneutischer Zirkel bei Schleiermacher (für das Verstehen eines Textes bedarf es eines Vorverständnisses des Zusammenhangs, und für das Vorverständnis muß man schon einzelne Teile verstanden haben) Historischer Relativismus bei Dilthey, ontologischer Unterbau des geschichtlichen Verstehens bei Heidegger (der Mensch kann gemäß seiner ontologischen Struktur gar nicht anders als horizonthaft und relativ zu sein); für Heidegger - und nach ihm auch Gadamer - ist, weil alles Wissen auf Verstehen beruht, die Hermeneutik Philosophie schlechthin und darum die Lehre von der Selbstauslegung des Menschen in geschichtlicher Situation Linguistik als modellhafte Stellung und mit der Schlüsselposition im Konzept aller Wissenschaften
Vorherrschend bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Schleiermacher) Vorherrschend vom Ende des 18. Jahrhunderts (Schleiermacher) bis zum Ende des 19.Jarhunderts (Dilthey) Vorherrschend vom Ende des 19. Jahrhunderts (Dilthey)
bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts (Jakobson)
Vorherrschend von etwa der Mitte des 20 Jahrhunderts (Jakobson) bis ...
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„Die gemeinsame Grundregel der Hermeneutik und des Strukturalismus besagt, daß das Einzelne aus dem Ganzen und dieses aus jenem zu verstehen ist. Nach der jeweiligen Definition des Ganzen, in das Einzelnes als eingebettet angesehen wird, lassen sich vier Phasen einer umfassenden, den Strukturalismus miteinschließenden hermeneutischen Bewegung auseinanderhalten. Das Ganze ist in der ersten, vorkritischen Phase ein dogmatischer Kanon, in der zweiten Phase (Schleiermacher) der unmittelbare historische Kontext einer Textstelle, in der dritten Phase (Dilthey, Heidegger) der jeweilge Welthorizont des Interpreten, in der vierten Phase, die im folgenden Eassay dem Strukturalismus (Jakobson, Lévi-Strauß) zugeschrieben wird, ein polymorpher Kode, dessen Basis universal und desssen Aufbau - nach gleichfalls universalen Gesetzen - variabel und zugleich konvertibel ist. Über die dezentrierte Auffassung des Ganzen hinaus unterscheidet sich die strukturalistische Phase radikal von der lebens- und existenzphilosophischen Phase der Hermeneutik durch eine weitere wesentliche Arbeitshypothese: Alle menschlichen Phänomene, auch die affektiver Natur, sind »kodiert«, d.h. kategorial strukturiert und Regeln unterworfen. Sie sind als solche nicht nur einer glückhaften Einfühlung, sondern prinzipiell auch einem rationalen Begreifen zugänglich. Intersubjektive Mißverständnisse lassen sich strukturell und funktional aus einer unterschiedlich vorangetriebenen oder divergierenden Entwicklung des universalen Kodes erklären. Ihre hauptsächlichen Formen sind die (»regelmäßige«!) Reduktion auf den eigenen (Sub-)Kode und die Hyperakkomodation an den fremden (Sub-)Kode.“ (Ebd., S. 176).

„Für die Theorie des Verstehens, die vom Strukturalismus vertreten wird, ist die Struktur des sprachlichen Kodes beispielhaft. Eine sprachliche Mitteilung (es gibt nur sprachliche Mitteilungen; HB) versteht, wer den Kode der betreffenden Sprache beherrscht, d.h. die sprachlichen Elemente und Regeln, nach denen sich die Elemente aufbauen und zu komplexeren Einheiten verbinden lassen. Das Kind erhält diesen Kode bekanntlich nicht fertig ausgebildet in die Wiege gelegt. Es muß ihn sich erst aneignen oder aufbauen. Vor allem drei Eigenschaften des Kodes sind für die Möglichkeit des Verstehens von entscheidender Bedeutung.
1. Der Aufbau des Kodes erfolgt nach strengen Regeln. Diese Regeln lassen sich als Implikationsgesetze formulieren: »B wird nur dann erworben, wenn bereits A erworben ist.« - »Wenn A erworben ist, dann sind außer B auch C und D möglich.« - »Wenn A nicht vorhanden ist, dann ist B nicht möglich.« Usw.. Diese formalen Regeln lassen sich inhaltlich, von der Beschaffenheit der sprachlichen Gegebenheiten her, die sie regeln, begründen. Der Strukturalismus geht davon aus, daß alle menschlichen Phänomene, auch die intimsten, »kodiert« sind, d.h. Regeln und Strukturen folgen. Ohne eine solche Grundannahme wären z.B. die Erfolge der Psychoanalyse nicht möglich gewesen. Das Verstehen reduziert sich bei dieser Einstellung nicht auf eine glückhafte Einfühlung, deren Lebenswert im übrigen nicht bestritten wird, wie sollte er auch! Wo einem Phänomen Regeln zugrundeliegen, da ist das Verstehen als ein »analytisches« Begreifen möglich. Die formale Verwandtschaft aller humanwissenschaftlichen Phänomene ist der Grund, weshalb eine Wissenschaft wie die Phonologie, deren Regeln und Strukturen dank der diskreten Natur ihrer Phänomene besonders augenfällig sind, zur Modellwissenschaft aller Humanwissenschaften gewählt werden könnte.
2. Die Regeln von sprachlichen Kodes sind in einem gewissen Ausmaße universaler Natur. Sie gelten für alle Sprachen.
3. Der Kode des einzelnen Sprechers ist nicht monolithischer Art. An gewissen Punkten im Aufbau des Kodes baut der Sprecher zwei oder mehrere der möglichen Wege aus. In der Folge kann er nach Belieben von einer Variante oder, wie man sich ausdrückt, von einem Subkode zum andern wechseln. Jakobson (1961: 574) bezeichnet daher den sprachlichen Kode, über den der einzelne Sprecher verfügt, als einen »konvertiblen Kode«. Der Ausdruck ist nicht der Finanzwelt entliehen, sondern der Automobilindustrie. Im Englischen nennt man ein Auto, das man zugleich mit oder ohne Dach (als »Cabriolet«) fahren kann, a convertible car. Der Mechansimus der Sprachbeherrschung ist seiner Beschaffenheit nach einem solchen Auto vergleichbar.
Ein simples Beispiel. .... Ich kann einen Bauern, der ein Feld bepflanzt, fragen »Was dönd er setze?« (hoch- oder niederalemmanisches Deutsch, andere Beispiele: »Wat döit hey seaten?« [westfälisches Niederdeutsch], *»Was tut er stezen?«, »Was setzt er?« [Hochdeutsch]; HB) und dabei eine der englischen do-you-do-Form analoge Konstruktion und die zweite Person Plural des Pronomens als Höflichkeitsausdruck gebrauchen. Ebenso leicht kommt mir aber auch die der Hochsprache nähere Form »Was setzid Sie?« über die Lippen.“ (Ebd., S. 183-184).

Im Grunde ist die Sprache schon in den vier Naturkräften (**) angelegt, die nicht zufällig auch „Wechselwirkungen“ heißen, also genausogut bereits „Sprachen“ oder „vier Dialekte der natürlichen Ursprache dieser Welt“ heißen könnten. Es geht bei ihnen um Austausch - genauso wie später bei den menschlichen Sprachen -, und die Austauschteilchen könnte man auch „Ursprecher“ oder „Ursender“ nennen.

Nichts ist in der Welt, was nicht schon in der Natur ist. Genauso wie die Kultur ist die Sprache bereits in der Natur angelegt. Und es kann auch nicht anders sein. Die natürliche, nämlich physikalische Grundlage der gesprochenen Sprache () ist die Phonetik. Mit der Sprache kommt der Widerspruch in die Welt. Auch noch da, wo die Sprache sich schon deutlicher als System zeigt - und das beginnt mit den Lebewesen -, da gehorcht sie noch den Regeln der Natur. Gehorchen, ja, denn die Sprache muß noch selber gehorchen, solange es noch keinen Hörsinn gibt. Mit den höheren Lebewesen kommt auch der Hörsinn in die Welt. Aber erst mit dem Menschen kommt die Sprache, die wir meistens meinen, die linguistische, in die Welt. Erst in dem Menschen kann die Natur ihre Augen aufschlagen und feststellen, daß sie da ist, wie es Schelling so schön formulierte (**). Nun ist ein Wesen in der Welt, daß die Natur zum Untertan machen will und es zum Teil auch schafft.

Schmitz „selber nennt einen Denker, dem er sich - wie keinem anderen - verwandt fühlt und als dessen Erbe er sich selbst
begreift, und das ist Ludwig Klages (
**).“ (Jochen Kirchhoff, Zur Leibphilosophie von Hermann Schmitz, Vorlesung, SS 2000 Kirchhoff).
Schmitz unterscheidet sich aber auch stark von Klages, besonders stark z.B. bezüglich des uns sehr interessierenden und
auch darum hier angesprochenen Themas: Psyche/Psychologismus.      —      Schmitz’ begründete sein Erbe wohl eher so:
„In unserem Jahrhundert hat der Averroismus eine unerwartbare, vermutlich dem Autor selbst nicht bewußte Wiedergeburt
in der Metaphysik von Ludwig Klages erhalten, der die Seele mit einer an die aristotelische Seelendefinition erinnernden
Wendung als den Sinn des Leibes ausgibt und den transzendenten, einzigen Geist von außen einbrechen läßt, nun aber
nicht mehr als höchste Vollendung und Beglückung, sondern als böse, katastrophale Lebensstörung. Klages verteidigt das
unwillkürlich strömende, schauend empfängliche Leben gegen die Willkür geistigen Tuns; abermals tritt in seinem Werk
also der Averroismus in Gegensatz zu der seit Jahrtausenden in der abendländischen Philosophie herrschenden Strömung,
die die Ermächtigung des Menschen gegen seine unwillkürlichen Regungen verlangt und dafür auch den psychosomatischen
Dualismus in Kauf zu nehmen bereit ist.“
(Hermann Schmitz, Leib und Seele in der abendländischen Philosophie, 1978, S. 239 [**]).
Ich meine dennoch, daß Schmitz eher Heideggers Erbe ist und beide die größten Philosophen des 20. Jahrhunderts sind.
Jedenfalls muß der Psychologismus überwunden, die Subjektivität neu, d.h. ohne Berufung auf Innenwelten bestimmt werden (**). Hermann Franz-Heinrich Schmitz, der Begründer der „Neuen Phönomenologie“ (**), geht vom leibhaftigen „In-der-Welt-Sein“ aus (**). In seinem 1964 erschienenen Buch Subjektivität heißt es: „In meiner Analyse des leiblichen Befindens setze ich mir - soviel ich sehe, zum ersten mal in der Weltliteratur - das Ziel, ein abgerundetes Begriffssystem allein auf das Zeugnis des eigenleiblichen Spürens zu gründen, also dessen, was der Mensch, wie man sagt, am eigenen Leibe spürt.“ (**). Schmitz arbeitete ein in 10 Büchern vorliegendes System der Philosophie aus, dessen Basis die Erfahrung der Leiblichkeit und des Augenblicks unmittelbarer Betroffenheit ist. Er setzte bei der ursprünglichen, unwillkürlichen Lebenserfahrung an. Seine Methode ist „Phänomenologie in neuem, empirisch ernüchterten Stil“; sein Grundgedanke ist, daß die „Innenwelthypothese“ Quell aller „Verfehlungen“ des abendländischen Geistes seit der Antike sei (vgl. ders.: Die vier Verfehlungen des abendländischen Geistes, in: ders.: Adolf Hitler in der Geschichte, 1999, S. 32–82). Schmitz „will beschreiben, wie die Welt sich zeigt, wenn ihr zurückgegeben wird, was man fälschlich in die vermeintlich private Innenwelt einzelner Subjekte (Seele, Bewußtsein, Gemüt pp.) hineingesteckt hat.“ (**). Der Sinn von Subjektivität sei neu (ohne Berufung auf Innenwelten) zu bestimmen. Mit Hilfe des „Spürens am eigenen Leib (Leiblichkeit) und des Fühlens (Gefühle)“ und der durch die Neue Phänomenologie ermöglichten kategorialen Erschließung der so wahrgenommenen Gegenstände könne erstmals der jahrtausendealte „Psychologismus“ überwunden werden. Zur falschen Innenwelthypothese gehört eben auch und besonders die Seele bzw. Psyche.
„Ich war immer davon überzeugt, daß es dem Schmitz mit diesem System gelingen könnte, mit den traditionellen Mitteln der europäischen Gelehrsamkeit das 3. Jahrtausend zu erschließen, d.h. Verkrustungen aufzubrechen, die sich so festgesetzt haben im Denken, daß eigentlich nur mit einer ganz grundsätzlichen und ganz breit angelegten Auseinandersetzung überhaupt dem beizukommen ist. .... Den letzten Band des Systems übergab mir Hermann Schmitz persönlich mit der Bemerkung: ,Ich habe es fertig und jetzt bin ich nur noch ein gewöhnlicher Gelehrter. Diese Bescheidenheit hat er nicht durchgehalten, denn anschließend ging es los mit den historischen Bänden .... Er hat ja wirklich die ganze Philosophiegeschichte durchgeackert .... Carl Friedrich Weizsäcker hatte Heidegger meine Dissertation (**) geschickt. Heidegger lud mich ein nach Todtnauberg. Ich bin dann noch ein paar Mal bei ihm gewesen .... Er hat bei verschiedenen Besuchen immer wieder gesagt: ,Nötig ist eine Rekonstruktion der Geschichte der Philosophie. Und da muß man bei den Vorsokratikern anfangen. .... Heidegger ... wollte mich noch zur Historie, zur Philosophiegeschichte bekehren, und ich wußte von vornherein: das ist nicht mein Ding. Aber ...“ es war Hermann Schmitz’ Ding: er hat später „ja wirklich die ganze Philosophiegeschichte durchgeackert“, wie Werhahn es formulierte. (Vgl. Hans Werhahn, in: Neue Phänomenologie - Über Hermann Schmitz / Gespräch mit einem Weggefährten, Film von Michael Großheim, 2010 Hans Werhahn, a.a.O.).
Durch die „Eichung von Worten an Phänomenen“ werde die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die Menschen in die Lage versetzt werden, „über Erfahrungen zu sprechen, die ihnen wichtig werden, wenn sie nach durchdringender Enttäuschung des Lebens in Projektionen und Utopien Gelegenheit und Bedürfnis haben, ihren Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern.“ (Ders., Mein System der Philosophie, 1977 [**]). Theoretischer Kernbegriff der Philosophie von Schmitz ist der Begriff des Leibes. Sein Verständnis von Leib erläutert er so: „Wenn ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen oder tierischen Körper, den man besichtigen oder betasten kann, sondern an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein ‚Sinnesorgan‘ wie Auge oder Hand zu verfügen ....“ (Ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990, S. 115 [**]). Damit ist der für die traditionelle Philosophie klassische Dualismus von Körper und Seele radikal in Frage gestellt. Schmitz’ Neue Phänomenologie kann daher auch treffend als Leibphilosophie bezeichnet werden. Vom Leib als zentralem Gegenstand der Analyse aus gelangt Schmitz auf nahezu allen Gebieten der Philosophie zu neuen Einsichten, die er zu seinem „System der Philosophie“ zusammengefaßt hat. Eine kritische Retraktion bestimmter Aspekte des „Systems“ hat Schmitz 1990 in seinem Werk Der unerschöpfliche Gegenstand vorgelegt. Neben seinem umfangreichen systematischen Werk hat Schmitz zahlreiche philosophiehistorische Werke erarbeitet und veröffentlicht, die seine eigenen Gedanken in den Kontext der Geschichte stellen. Dabei hat sich Schmitz mit Vertretern nahezu aller Epochen der abendländischen Kultur beschäftigt.

„Meine Berufsbezeichnung heißt ja »Psychiater«. Und ich habe von Hermann Schmitz gelernt: Die Psyche ist es gar nicht! Ich habe einen berufliche Identitätskrise, die mir aber viel Freude macht. Mir fehlt nur noch eine Sache in der Neuen Phänomenologie. Wenn ich die noch kriege von Hermann Schmitz ...: Was ist Gesundheit?“ (Robby Jacob, Hermann Schmitz im Gespräch, VIII, Zukunft der Neuen Phänomenologie, 06.06.2010 Robby Jacob, in :  „Hermann Schmitz im Gespräch, VIII, Zukunft der Neuen Phänomenologie“, 6. Juni 2010. [**]).

.... Es ist immer eine Labilität. Es wird immer bei einem gewissen »Wellenreiten« bleiben. Die Person kann sich nicht stabil über ihre Basis erheben, sondern es ist immer ein Hin und Her von Emanzipation und Regression nötig. Und diese Regression ist nicht abzuschätzen. Es ist also der Fehler der asiatischen Weisheitslehren, daß sie denken, die Regression in die Emanzipation einbinden zu können, so daß man zwar hinfallen kann, aber sich überhaupt nicht mehr dabei wehtut und gleich wieder aufsteht, wie das auch in den asiatischen Kampfkünsten eingeübt wird. Diese Technik ... ist dann aber keine richtige personale Regression mehr. Das Gegenbeispiel ist die attische Tragödie. Tragödie ist eigentlich nicht dafür, in eine Katastrophe zu geraten, sondern ist eine Option für eine der Mächte, und zwar im Grunde der göttlichen Mächte, in deren Bann der Mensch steht, ... und indem er sich auf diese Option nun eben festlegt, wählt er einen Weg, der - weil es nur eine von mehreren Mächten ist, eine von mehreren Perspektiven -, der ihn ins Verderben führen kann, aber nicht muß. Und er ist im Grunde optionsfähig: der tragische Mensch der Griechen. Die griechische Tragödie ist keine Katastrophendramatik, besteht nicht aus lauter Trauerspielen, sondern aus dem für den Menschen unvermeidlichen Risiko der Vereinseitigung und daß er da - im Grunde genommen - seiner eigenen glücklichen oder unglücklichen Hand überlassen ist: da gibt es personale Regression mit dem Risiko des Scheiterns. Darüber wird man nicht hinwegkommen. .... Ja, das ist natürlich auch etwas, ... aber mehr für die Menschengestaltung ..., auch da ist die Neue Phänomenologie wichtig als Besinnung - Herr Böhme hat das verstanden in Darmstadt -, das ist aber keine direkte Anwendung in den Wissenschaften.“ (Hermann Schmitz, Hermann Schmitz im Gespräch, VIII, Zukunft der Neuen Phänomenologie, 06.06.2010 Hermann Schmitz, in :  „Hermann Schmitz im Gespräch, VIII, Zukunft der Neuen Phänomenologie“, 6. Juni 2010. [**]).

Gernot Böhme bemühte sich darum, die philosophische Ästhetik thematisch zu erweitern. Er konzipierte Ästhetik als Aisthetik, also als allgemeine Wahrnehmungslehre. Hierbei bezog er sich zentral auf die Arbeiten des Philosophen Hermann Schmitz, welcher bereits in den 1970er Jahren eine ausführliche Theorie der Wahrnehmung vorgelegt hatte, dessen Werk jedoch weitgehend unbeachtet blieb. Von diesem übernahm Böhme in den 1990er Jahren den Begriff der Atmosphäre sowie zahlreiche phänomenologische Beobachtungen und übertrug dessen Neue Phänomenologie in eine Neue Ästhetik. Im Zentrum der Betrachtung sollen nun Design, Natur und Kunst stehen. Ästhetik hat nicht nur die Aufgabe, moderne Kunst zu vermitteln. Eine ausschließlich intellektualistische Interpretation von Kunstobjekten wird abgelehnt. Sie hat sich auch mit dem neuen Verhältnis zu der zunehmend vom Menschen gestalteten Natur zu befassen. Eine besondere Rolle spielen für die Ästhetik die Stimmungen und Affekte. Atmosphären sind Böhme zufolge die erste und entscheidende Wirklichkeit für die Ästhetik. Dabei handelt es sich um räumliche Träger von Stimmungen. Sie bilden die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Böhme verstand die Wahrnehmung als Modalität leiblicher Anwesenheit. Dabei betonte er dann die gefühlsmäßige Komponente. So wie Schmitz bereits Wahrnehmung als „eigenleibliches Spüren“ definiert hatte (in: System der Philosophie, 3. Band: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung, 1978), ist auch gemäß Böhme die Wahrnehmung ein Spüren von Anwesenheit bzw. das Spüren einer gewissen Atmosphäre. Die Atmosphäre gehört weder zum Objekt noch zum Subjekt, sondern ist eine Kopräsenz diesseits der Subjekt-Objekt-Spaltung. Erst später differenziert sich die Atmosphäre in einem Ich- und Gegenstands-Pol der Relation aus und verfestigt sich in der dualen Subjekt-Objekt-Struktur.
„In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, daß ich jetzt hier bin. .... Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren.“ (Gernot Böhme, Atmosphäre, 1995, S. 96).
Die Atmosphäre ist auf eine unbestimmte Art in den Raum ergossen. Der Atmosphäre kann nur nachgegangen werden, indem sie erfahren wird. Man muß sich ihr aussetzen und affektiv von ihr betroffen sein. So kann beispielsweise in einem Raum eine gewisse heitere oder eine bedrückende Stimmung herrschen. Dabei handelt es sich nicht um eine subjektive Stimmung. Diese Atmosphäre wird als quasi objektiv äußerlich erlebt. Es wird ein gemeinsamer Zustand des Ichs und seiner Umwelt bezeichnet. Die Phänomene des Atmosphärischen werden als freischwebende Qualitäten, wie Kräfte im leiblich-emotionalen Sinn oder als halb personifizierte Naturmächte erlebt. Böhme unterschied verschiedene Charaktere von Atmosphären. Zu den gesellschaftlichen Charakteren zählen Böhme zufolge Reichtum, Macht oder Eleganz. Wärme, Kälte und Helligkeit gehören zu den Synästhesien. Kommunikative Charaktere sind zum Beispiel gespannt, ruhig oder friedlich. Bewegungsanmutungen können drückend, erhebend und bewegend sein. Es gibt auch noch Stimmungen im engeren Sinne wie beispielsweise die Szenen des Englischen Gartens. In der Wahrnehmung spürt das Ich nicht nur die Anwesenheit von etwas, sondern es spürt es leiblich und spürt sich dabei auch selbst. Die Dinge entstehen aus dem atmosphärischen Spüren durch Prozesse der Abwehr, Differenzierung und Verengung. Sie werden als dynamisch wahrgenommen, weil sie Atmosphären und damit unsere Befindlichkeit erzeugen. Die Dinge sind durch ihre räumlich feste Lokalität, durch Körperlichkeit, Identität und durch die Verdichtung als die in einem endlichen Raum konzentrierte Potenz des atmosphärisch gespürten Charakters gekennzeichnet. Erst die Wahrnehmung der Dinge konstituiert die duale Subjekt-Objekt-Beziehung. Dabei werden sie als etwas Faktisches und Objektives außerhalb des Subjekts erfahren. (Vgl. Gernot Böhme, Aisthetik, 2001, bes. S. 103 und S. 166 ff.).

Gernot Böhme hatte in seinem 1980 erschienenen Buch „Alternativen der Wissenschaft“ u.a. Kants Erkenntnistheorie kritisiert: „Die Wahl von Kants Erkenntnistheorie - gegenüber anderen - läßt sich aus verschiedenen Gründen rechtfertigen. Für uns sind zwei Merkmale ausschlaggebend: Kants Erkenntnistheorie begründet objektive Erkenntnis und zielt letzten Endes auf die Möglichkeit von Physik, und doch ist sie durch und durch eine Theorie des Subjekts, des Ich, der Innerlichkeit. Diese Tatsache läßt vermuten, daß sich bei ihm die Selbstdressur, die sich das Subjekt in der objektiven Erkenntnis auferlegt, besser noch identifizeiren läßt als in neueren Theorien objektiver Erkenntnis, wo nur noch von Meßverfahren, Apparaten und vielleicht noch diskursiven Strukturen die Rede ist. .... - Kant ... behauptet ..., daß wir der Natur die Gesetze vorschreiben. .... - Wir schreiben der Natur die Gesetze vor. - .... Erkenntnis ist Rekonstruktion. .... - Die systematische Beziehung von Erkenntnis und Moral wird durch Kants Auffassung des Begriffs als Regel gestiftet. Für Kant bedeutet »der Begriff vom Hunde eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann. Entsprechend ist der Begriff geometrischer Figuren die Konstruktionsanweisung, nach der Figuren in der reinen Anschauung herzustellen sind. Schließlich sind die reinen Verstandesbegriffe Regeln der Einheit, denen gemäß die Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen in der Anschauung herzustellen ist. .... - Für die Objektivität der Erkenntnis ist ... Freiheit ebenso Voraussetzung wie für moralisches Handeln. - Man soll den Regeln objektiver Erfahrung folgen - aber man tut es nicht immer. Auch das weiß Kant. ..... Die Normen und Regeln der Erfahrungskenntnis setzen sich also keineswegs von selbst durch. Vielmehr ist man verpflichtet, sich ihnen zu unterwerfen, wenn anders man als Vernunftwesen mitgezählt werden will. - Diese Unterwerfung eines durchaus widerspenstigen Subjektes unter bestimmte Verhaltensregeln nennt Kant in seiner praktischen Philosophie »Nötigung«. Vorstellungen, denen man nicht unwilllkürlich folgt, die deshalb durch Nötigung durchgesetzt werden müsse, nennt er Imperative (**). ..... - Man soll sich durch Befolgung dieser Regeln zum Vernunftwesen machen. Man soll nicht als vereinzeltes individuelles Subjekt denken, sondern als Subjekt überhaupt. In der praktischen Philosophie heißt das, daß man nur solchen Maximen, d.h. also subjektiven Motivationen folgen soll, von denen man zugleich annehmen kann, daß sie allgemeines Gesetz seien: das ist der kategorische Imperativ. (»Kant sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand ...« [Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Band I, 1918, S. 481 {**}]; HB). In der theoretischen Philosophie heißt das, man soll seine subjektiven Auffassungsweisen so stilisieren, daß man in ihnen als allgemeines Vernunftsubjekt fungiert. Ebenso wie man als moralischer Mensch seine subjektiven Neigungen überwinden muß, so muß man sich als Erkennender zu allererst von seinen Gefühlen trennen. Denn diese bestimmen auch - das sieht Kant ganz klar - die primären unmittelbaren Auffassungsweisen, die Kant Wahrnehmungsurteile nennt: Das Zimmer ist warm, der Zucker süß, der Wermut widrig. - Was der Gegenstand für mich ist, ist für die objektive Erkenntnis uninteressant, denn die Bestimmungen, die dem Objekt zuzuschreiben sind muß dieses Objekt für jedermann haben - folglich muß ich mich als Subjekt objektiver Erkenntnis quasi zu diesem »Jedermann« machen (vergleichbar mit dem „Man“ Heideggers [**]; HB). - »Es sind ... objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeinheit (für jedermann) Wechselbegriffe«, schreibt Kant in dem Prolegomena, § 19 (**).“ (Gernot Böhme, Alternativen der Wissenschaft, 1980, S. 62-67).

„Die kantischen Kategorien sind Regeln, denen sich das empirische Subjekt unterwerfen muß, soll sein Wissen Anspruch auf Objektivität erheben können. Durch diese Regeln werden die möglichen subjektiven Auffassungsweisen des empirischen Subjektes auf solche eingeschränkt, die zur Einheit des Bewußtseins »schicklich« sind. Das empirische Subjekt, das sich in seinem Erkenntnisverhalten nur auf die Einheit von Bewußtsein überhaupt bezieht, stilisiert sich so selbst zum allgemeinen Subjekt, zum Jedermann (vergleichbar mit dem „Man“ Heideggers [**]; HB). Die dadurch erreichte Gültigkeit seines Wissens für jedermann garantiert zugleich die Objektivität dieser Erkenntnis. Denn die Zusammenstimmung der Vorstellungen in einem Bewußtsein ist zugleich der Garant der Zusammenstimmung der Vorstellungen zu einem Objekt. - Man hat in jüngeren Interpretationen das kantische transzendentale Subjekt als die unendliche Forschergemeinschaft reinterpretiert. Diese Interpretation ist durchaus angemessen, insofern auch für Kant die Einheit des Bewußtseins eine Aufgabe bleibt, die nur im unendlichen Forschungsprozeß, d.h. also auch von vielen empirischen Bewußtseinen, durchgeführt werden. - Reflexivität und Kontrolle. - .... Der Verstand bestimmt (unter der Benennung der Einbildungskraft) die Sinnlichkeit. .... Der Verstand reguliert bereist die Sinnlichkeit. .... In der Innerlichkeit des inneren Sinnes geschieht die geregelte Aneignung der eigenen Vorstellungen. Dabei wird nur zugelassen, was zur objektiven Erkenntnis taugt. d.h. was den Bedingungen der transzendentalen Apperzeption gemäß ist. Kant redet hier ganz konsequent von Selbstaffektion: Der Verstand bestimmt in dieser Beziehung den inneren Sinn; d.h. er affiziert ihn. Dadurch wird zugleich sichergestellt, daß das so innerlich angeeignete Material der Sinne der Anwendung der Kategorien gemäß ist. Diesen wird umgekehrt damit ihre Anwendbarkeit oder, wie Kant sagt, objektive Gültigkeit a priori gesichert. - .... Objektive Erkenntnis ist im strengen Sinne reflexiv. Der Verstand spiegelt sich in ihr am inneren Sinn. So gesehen ist objektive Erkenntnis Selbsterkenntnis. Der Verstand übt unter der Benennung der Einbildungskraft eine Kontrollfunktion über die Sinnlichkeit aus. Durch diese Kontrolle wird die Aneignung der Affektionen durch den äußeren Sinn im inneren Sinn so reguliert, daß die dadurch produzierten Daten einer späteren Anwendung der Kategorien gemäß sind. Die Kontrollfunktion des Verstandes setzt genau den Hiat zwischen Realität und Vernunft, der Erkenntnis zu bewußtem Wissen macht. Der von den Sinnen herkommende Einfluß auf den Menschen wird durch die Kontrolle aufgehalten, es wird Innerlichkeit erzeugt. d.h. der innere Sinn kommt ins Spiel. Die entstehenden Vorstellungen sind als kontrollierte bewußt.“ (Gernot Böhme, Alternativen der Wissenschaft, 1980, S. 68-71).

„Damit dürfte deutlich geworden sein, wie sehr Kants Erkenntnistheorie - ohne daß dies ihre Absicht wäre - Zeugnis für die Disziplinierung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten zugunsten objektiver Erkenntnis ablegt. .... Es ist eine generelle Schwäche der kantischen Erkenntnistheorie, daß sie nicht zwischen lebensweltlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Erfahrung unterscheidet. .... - .... Gegenstände wie Atmosphären, Halbdinge (siehe Hermann Schmitz, Die Wahrnehmung, in: System der Philosophie, Band III, Teil 5, 1978) wie ein Wind oder ein Blick, die doch so deutliche, artikulierbare Erfahrungen mit sich bringen, können nicht Thema sein. Gesetzeszusammenhänge können nur nach dem Schema der Kausalität gedacht werden. d.h. Zweckbezüge müssen entsprechend umgedeutet werden, Strukturzusammenhänge oder symbolische Zusammenhänge oder gar Analogien gehören nicht in den Bereich der Erkenntnis. Schließlich wird als objektiv nur anerkannt, was in durchgängiger Beziehung von Wechselwirkung ist, d.h. also in den Zusammenhang einer Zeit bzw. eines Erfahrungskontextes gebracht werden kann. Die Erfahrung von Ungleichzeitigkeit, die Vielfalt der »Welten«, in der wir gleichwohl leben müssen, verfällt dem kruden Bereich der Subjektivität. - .... Objektives Wissen, d.h. Wissenschaft im Sinne neuzeitlicher Naturwissenschaft ist nicht im Rahmen individuellen Bewußtseins denkbar. Bei Kant äußert sich das so, daß nach seiner Erkenntnistheorie sich das individuelle Bewußtsein zum Bewußtsein überhaupt, d.h. also zum Repräsentanten des allgemeinen Bewußtseins stilisieren muß. .... - Der Stand der Selbstaufklärung der europäischen Wissenschaft verlangt nicht nur zu verstehen, daß wissenschaftliches Wissen kontrolliertes und diszipliniertes Wissen ist, sondern gleichzeitig einen Begriff davon zu haben, welche Dunkelheiten, Verdrängungen diese Kontrolle erzeugt, welche Vorstellungen aus dem offiziellen Kanon ausgeschlossen sind und warum.“ (Gernot Böhme, Alternativen der Wissenschaft, 1980, S. 71-74).

Ich habe mich mich bestätigt gefühlt und sehr gefreut, als Hermann Schmitz ebenfalls sagte, daß die Sprache etwas ist, in dem man sich immer schon vorfindet, so wie in einer Umgebung, wie in einem Raum (hier ist Heideggers „In-Sein“ angesprochen [vgl. auch: „In-der-Welt-Sein“ {**}]). Information allein reicht als Definition für Sprache nicht aus, meint auch Schmitz (dessen Aussage ich hier jetzt mit eigenen Worten wiedergebe), denn alle Sprachteilnehmer sind mehr als nur Informationssender und Informationsempfänger, sondern eben Teilnehmer an der Sprache - die Sprache selbst ist es also -, und um an dieser teilnehmen zu können, muß die Sprache schon da sein, was auch für die gilt, die die Sprache erst noch erwerben, denn ohne eine bereits in der Umgebung und der Situation gegebene Sprache müßte man da anfangen, wo diejenigen anfangen mußten, die noch keine Sprache vorfanden (oder fanden auch die bereits eine Sprache vor?).

„Sie haben die Bedeutung der satzförmigen Rede im Zusammenhang mit der Reifung der Person betont. Könnte man nicht sagen, daß grundsätzlich unser gesamtes Erleben sprachlich vermittelt ist, daß selbst die einfachsten körperlichen Eindrücke wie Schmerzen im Grunde sprachlich vermittelt sind? Zwar ist es so, daß der Schmerz als Schmerz sich im Leben eines sprachlichen Wesens nicht so sehr unterscheidet vom Schmerz im Leben eines nicht-sprachlichen Wesens. Aber bei sprachlichen Wesen ist der Schmerz immer schon eingebettet in Befragungen: Was ist das für ein Schmerz?, Muß ich zum Arzt?, Wie schlimm ist das?. Das heißt: Unsere scheinbar unwillkürlichste Regung scheint noch in ein Netz von Sprache hineingespannt zu sein. Vorsprachliche Bedeutsamkeitsbezüge scheinen immer schon auf sprachliche Bedeutungen bezogen zu sein. Ich würde hier sogar von einem apriorischen Perfekt der Artikulation sprechen. Die Rede ist nicht nur gliedernd, wie Sie es gesagt haben, sondern sie ist artikulatorisch stiftend, während Sie auch im Fall von sprachlichen Wesen noch so einen Bereich des Vorsprachlichen eingeräumt haben.“ (Christoph Demmerling [**]). „Diese Sprachlichkeit liegt insbesondere im personalen Verhalten in der Tat vor.“ (Hermann Schmitz [**]).
Gemäß Hermann Schmitz ist Philosophie „Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung“ (**). Die Umgebung wird am Leib erfahren und ist ein Raum (vgl. Heideggers „In-Sein“, aus dem er das „In-der-Welt-Sein“ {**} abgeleitet hat). Schmitz zufolge sind „Personen“ diejenigen Menschen, die das „Präpersonale“ hinter sich haben, und „Präpersonen“ Tiere, Säuglinge, folglich auch Föten, Embryonen, Morulen. Ich unterteile Sprache in Sprache i.e.S. (im engeren und im engsten Sinne), womit der rein linguistische Bereich der Sprache gemeint ist, und Sprache i.w.S. (im weiteren und im weitesten Sinne), womit der gesamte semiotisch-linguistische und der gesamte logisch-mathematische Bereich der Sprache gemeint sind (**). Die Sprache i.e.S. (im engeren Sinne) kann aktiv nur dann werden, d.h. kann nur dann verwendet werden, wenn die Verwender „Personen“ im Schmitzschen Sinne sind, und zu diesen zählen auch die, die schon oder noch dabei sind, „Personen“ zu werden, die Sprache i.e.S. zu erwerben, um sie bald aktiv zu beherrschen: z.B. Kinder, die keine Säuglinge mehr sind. Meine Folgerung daraus ist, daß „Personen“ Sprachwesen i.e.S. sind. „Präpersonale“ Lebewesen verwenden noch keine linguistische, sondern nur und auch nur die, die dazu in der Lage sind (Säuglinge, Föten und sog. Höhere Tiere), eine semiotische Sprache, sind aber in der Lage, Teile der linguistischen Sprache zu verstehen. Vorsprachlich ist alles, was zeitlich vor dem Erscheinen der Sprache i.e.S. liegt, da es vor dem Erscheinen der Sprache i.e.S. noch kein einziges Wesen gibt, daß die Sprache i.e.S. benutzt und folglich erkennen kann, daß es Sprache überhaupt gibt. Ist die Sprache i.e.S. da, ist für die Benutzer der Sprache i.e.S. alles andere nur noch bedingt durch die Sprache i.e.S.. Es gibt also einen Sprachrelativismus, allerdings nur einen solchen, der die Frage, ob etwas auch ohne die Bedingtheit durch die Sprache i.e.S. existiert, einfach unbeantwortet läßt, ja lassen muß, denn diese Frage ist nicht beantwortbar, weil die Sprache i.e.S. ja nun schon da ist, erreicht ist. Wir Personen als die Verwender der Sprache i.e.S. müßten, um die Frage beantworten zu können, wieder zu Wesen ohne Sprache i.e.S. werden, doch wenn wir wieder Wesen ohne Sprache i.e.S. werden würden, würden wir die Frage nicht mehr beantworten können.

Ohne viel Gerede im Überblick:

Vorsprache => Vorsprache => Vorsprache => Vorsprache => Vorsprache i.e.S. (Sprache i.w.S.) => Sprache i.e.S. => Nachsprache (Sprache i.w.S.) => Nachsprache (Sprache i.w.S.) =>
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(1b) Chemie
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(2a) Biologie
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(2b) Ökonomie
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(3a) Semiotik
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(3b) Linguistik
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(4a) Philosophie
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(4b) Mathematik
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Nachsprache <= Nachsprache <= Nachsprache <= Nachsprache <= Nachsprache i.e.S. (Sprache i.w.S.) <= Sprache i.e.S. <= Nachsprache (Sprache i.w.S.) <= Nachsprache (Sprache i.w.S.)


Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis

Mitunter, so bei Nicolai Hartmann, wurde die Erkenntnislehre in die Metaphysik einbezogen. Hartmann wählte den Titel „Metaphysik der Erkenntnis“ (1921) ganz gezielt, um auszudrücken, daß die Grundannahme über die Relation von Erkenntnissubjekt und –objekt rational nicht zu erklären ist. Das unlösbare Rätsel der Beziehung von Erkenntnis und Sein führt nach Hartmann notwendig in Aporien. Gegen Kant war Hartmann der Auffassung, daß man keine voraussetzungsfreie Erkenntnistheorie aufstellen kann. Jede Erkenntnistheorie hat metaphysische Voraussetzungen. Erkenntnis bedeutete für Hartmann ein Erkennen von etwas schon Vorhandenem. Dieses beschrieb Hartmann als einen Vorgang in drei Phasen. Am Anfang steht eine (a) Phänomenologie der Erkenntnis. Hierzu gehören Vorgänge der Wahrnehmung ebenso wie Vorgänge des Bewußtseins, wie die Bildung von Repräsentationen, und der Erkenntnisfortschritt. In der phänomenologischen Betrachtung versucht man ein „Maximum an Gegebenheit“ zu erreichen. (Vgl. Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1921, S. 43). Allerdings zeigt sich, daß es Grenzen der Erkenntnis gibt. Der Mensch kann das Wesen der Wirklichkeit, von dem er und seine Erkenntnisleistung selbst lediglich ein Teil sind, nie vollständig erfassen. Bestenfalls kann er die Grenzen verschieben und seinen Erkenntnishorizont erweitern. Im zweiten Schritt erfolgt eine (b) Analyse der gegebenen Phänomene. Diese Analyse zeigt eine Grundaporie, die Grundlage für alle weiteren Probleme der Erkenntnis ist. Einerseits ist das Subjekt in den Grenzen seines Bewußtseins gefangen, andererseits bezieht es sich auf ein Seiendes außer sich selbst. Die Erkenntnis ist abhängig von der Beziehung auf einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst. Hartmann suchte für diesen Widerspruch keine Lösung, sondern betrachtete ihn als gegeben. Die Auffassung von der Existenz ist Ergebnis der phänomenologischen Betrachtung. Hartmann versuchte im dritten Schritt, diese (c) Auffassung zu rechtfertigen. Sein wesentliches Argument ist, daß von der Annahme des Realismus, der sowohl die natürliche als auch die wissenschaftliche Weltsicht widerspiegelt, nur aus guten Gründen abgewichen werden darf. „In Wirklichkeit fällt also die Beweislast gerade dem Idealismus zu, eben weil er es ist, der sich vom natürlichen Gegenstandsbewußtsein und von der Sachlage des Erkenntnisphänomens entfernt und eine Behauptung aufstellt, die von vorn herein den Stempel der Widernatürlichkeit trägt.“ (Ebd., 1921, S. 229).

Reale Sphäre und ideale Sphäre (vgl. Nicolai Hartmann, „Der Aufbau der realen Welt“, 1940)Reale Sphäre und ideale Sphäre (vgl. Nicolai Hartmann, „Der Aufbau der realen Welt“, 1940)
Reale Sphäre und ideale Sphäre (vgl. Nicolai Hartmann, „Der Aufbau der realen Welt“, 1940)Reale Sphäre und ideale Sphäre (vgl. Nicolai Hartmann, „Der Aufbau der realen Welt“, 1940)
Wenn Hartmann zufolge z.B. „der Gegenstand der reinen Mathematik eine niedere Seinsschicht, unterhalb der anorganischen Natur, also auch unterhalb des ganzen Schichtenbestandes der realen Welt bildet“ (**), die Erkenntnis als sekundäre Sphäre eine der „übrigen Teilsphären des geistigen Seins“ (**) ist und „keine Sonderstellung beanspruchen“ (**) kann, nur entstehen kann „in einem Bewußtsein, das bereits über die rein seelischen Aktzusammenhänge hinausgewachsen und auf die Höhe des objektiv Geistigen gelangt ist“ (**), die im Geist vollzogenen „Akte“ mathematischer Art wie z.B. das Rechnen oder Kalkulieren dafür sprechen, daß der Gegenstand der reinen Mathematik nicht nur eine niedere sondern auch eine höhere Seinsschicht, nicht nur unterhalb der anorganischen Natur, sondern auch oberhalb der geistigen Kultur, also nicht nur unterhalb, sondern auch oberhalb des ganzen Schichtenbestandes der realen Welt bildet, so kann man übrigens, sofern man zusätzlich die ohnehin schon als dynamisch zu verstehende Hartmansche Schichtenlehre bis hin zu meiner Schichtenlehre noch mehr dynamisiert, eine Kreisbewegung (**|**) voraussetzen.

„Erkenntnis ist eine spezifische Funktion des geistigen Seins. Sie gehört also in den Schichtenbau des Realen hinein, gehört seiner höchsten Schicht an, und muß, wenn man sie ontologisch verstehen will, aus ihrer Einordnung in diese Seinsschicht heraus verstanden werden.“ (**). „Die Stufen der Erkenntnis, denen sie eigen sind, liegen innerhalb des geistigen Seins so weit auseinander, daß sie auch im Schichtenbau sehr verschiedene Höhenlagen haben. Das geistige Sein eben ist in sich vielstufig. Die Wahrnehmung gehört in seine Niederungen, sie steht dem bloß Seelischen noch nah; das Begreifen aber mit seiner Beweglichkeit des Eindringens und seiner kritischen Selbstkontrolle zählt zu den höchsten und reichsten Inhaltsgebieten des Geistes .....“ (**). „Die Erkenntnis als solche ist nicht etwas Quantitatives oder Substantielles oder auch nur etwas in sich kausal Geordnetes. Der Geist, und mit ihm die Erkenntnis, hat vielmehr seine eigenen, auf keinerlei niederen Seinsstufen vorkommenden Kategorien. Dahin gehört vor allem die höchst eigenartige Kategorie der Zuordnung selbst, deren Problem uns hier beschäftigt. Aber auch einige andere lassen sich als wohlbekannt aufzählen; so z.B. die sog. Objektivität des Inhalts, seine Übertragbarkeit (Mittelbarkeit) von Subjekt zu Subjekt, seine Ablösbarkeit vom tragenden Akt, seine Indifferenz gegen Subjekt und Akt, seine eigentümlich schwebende Seinsform im objektiven Geiste u.a.m.. Das alles sind Realkategorien des Geistes; sie alle zusammen - und es sind ihrer nicht wenige - machen die Eigenart seines Seinscharakters aus.“ (**). „Darum muß das Wiederauftauchen auch der niederen Seinskategorien am Inhalt der Erkenntnis als das Eigentümliche des geistigen Seins angesehen werden, soweit wenigstens zum Wesen des Geistes gehört, daß er Repräsentation der Welt, ein Bild der Welt in der Welt selber, ist.“ (**). Und das heißt, daß er noch mehr als das ist.

Martin Heidegger ersetzte mit seiner Existenz(ial)philosophie die Subjekt-Objekt-Beziehung durch das In-der-Welt-Sein des Menschen. Heideggers Existenz(ial)ontologie (Fundamentalontologie) und Hartmanns „Neue Ontologie“ entwickleten sich zum Teil aus denselben Wurzeln. „Die alte Seinslehre hing an der These, das Allgemeine, in der essentia zur Formalsubstanz verdichtet und im Begriff faßbar, sei das bestimmende und gestaltgebende Innere der Dinge. Neben die Welt der Dinge, in der auch der Mensch eingeschlossen ist, tritt die Welt der Wesenheiten, die zeitlos und materielos ein Reich der Vollendung des höheren Seins bildet.“ (Nicolai Hartmann, Systematische Philosophie, 1942, S. 240). Im Gegensatz zu Heidegger klammerte Hartmann jedoch die Frage nach dem „Sein an sich“, nach der speziellen Metaphysik, aus und beschränkte seine Ontologie auf die Untersuchung des Seienden als Seienden, auf die Welt der Wirklichkeit. Die Kategorien dieser neuen Ontologie werden „Zug um Zug den Realitätsverhältnissen abgelauscht“ (ebd., 1942, S. 209). Aufgrund der Grenzen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen faßte Hartmann seine gesamte Ontologie als Hypothese, als weiterzuentwickelndes Konzept auf. Bei der phänomenologischen Untersuchung der Kategorien des Seienden unterschied Hartmann die „intentio recta“ als Untersuchung der natürlichen und wissenschaftlichen Einstellungen zu einem Gegenstand. Mit diesem Vorgehen können – anders als bei Kant oder im Neukantianismus – keine Ergebnisse a priori gewonnen werden. Den Gegenpol bildet die „intentia obliqua“, die sich apriorisch-deduktiv und reflektorisch mit dem Akt der Erkenntnis in Logik, Psychologie oder Erkenntnistheorie befaßt. Gemäß Hartmann ist die Wirklichkeit in allem Seienden. „Das Sein des Seienden ist eines, wie mannigfaltig dies auch sein mag. Alle weiteren Differenzierungen des Seins sind aber nur Besonderungen der Seinsweise.“ (Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S. 38) „Sein ist ein Letztes, nach dem sich fragen läßt. Ein Letztes ist niemals definierbar. Definieren kann man nur aufgrund eines anderen, das hinter dem Gesuchten steht.“ (Ebd., 1935, S. 43). Diese Undefinierbarkeit bedeutete für Hartmann, daß man vom Begriff des Seins kein Gegenteil bilden kann. Daher lehnte er auch eine dialektische Gegenüberstellung von „Sein“ und „Nichts“ (gegen Hegel und Heidegger) ab. Für ähnlich verfehlt hielt er auch Heideggers Frage nach dem „Sinn von Sein“. Die Untersuchung des Seienden als Seiendem gehe auf die Wirklichkeit und nicht auf Begriffe, so Hartmann (vgl. ebd., 1935, S. 42). Seiendes sei nicht mit Gegenständen gleichzusetzen, denn ein Gegenstand bestimme sich durch seine Beziehung zu einem Subjekt, während Seiendes subjektunabhängig sei.

Die phänomenologische Analyse führte Hartmann zu verschiedenen Unterscheidungen:
Seinsmomente sind Dasein und Sosein Mehr
Seinsweisen sind Realität und Idealität Mehr
Seinsmodi sind Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit Mehr
Jedes Seiendes hat sowohl Dasein als auch Sosein. Beide Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden (vgl. Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, S. 86). Dasein und Sosein haben sowohl reale als auch ideale Entitäten wie mathematische Gegenstände. Jedes Dasein hat ein Sosein. Und jedes Sosein ist stets ein Sosein eines Daseienden. Realität und Idealität schließen sich hingegen aus. Ein Daseiendes ist entweder real oder ideal. Ideales ist nicht etwas nur Gedachtes, sondern nicht-gegenständliches Seiendes. Hierzu zählte Hartmann Mathematisches, Wesenheiten, Logisches und Werte. Ideales Seiendes ist zeitlos, allgemein und unveränderlich. Reales Seiendes ist dagegen zeitlich, konkret und vergänglich. Realität ist aufdringlich. Man erfährt sie in einem Widerstandserlebnis. Ideales ist in Realem als Struktur oder Gesetzmäßigkeit enthalten. So ist eine geometrische Kugel ein ideales Gebilde, das die Struktur einer materiellen Kugel beschreibt. Empirische Urteile beziehen sich stets auf reale Entitäten, mathematische Urteile auf ideales Seiendes. Beide Arten von Urteilen sind ein Erfassen von etwas An sich-Seiendem.


Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) Herrschaftsformen in der Erkenntnistheorie - müssen die sein?

In der Erkenntnistheorie darf es keine Herrschaftsformen geben. Die jeweils herrschende bzw. vorherrschende Erkenntnis ergibt sich sowieso schon aus der Natur der Macht. Also muß da nicht auch noch mit Formen der Herrschaft „nachgeholfen“ werden. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt jedoch seit dem Ende des 2. Weltkriegs und verstärkt seit dem Ende des sogenannten „Kalten Krieges“, daß die je nach Bedarf gewählten Herrschaftsformen sich immer mehr durchgesetzt haben.

Zum Verständnis dessen, was ich meine, sei aus meinem E-Brief vom 04.01.2012 (E-Brief) zitiert:

„Eine Theorie muß falsifizierbar sein. Aber wir können ja nicht abstreiten, daß die Theorien solcher Wissenschaftler schwer zu widerlegen oder, um es wissenschaftlicher bzw. erkenntnistheoretischer auszudrücken, schwer zu falsifizieren sind. Solange sie gelten, gelten sie auch als nicht widerlegt, nicht falsifiziert.  –  Poppers Aussagen betreffen ja die wissenschaftliche Erkenntnis, genauer: die Erkenntnistheorie als Teil der Erkenntnislehre. .... Wir müssen uns darüber natürlich im klaren sein, daß Popper mit seiner Falsifikationsthese die Naturwissenschaft einerseits nicht sicherer, sonderen unsicherer, aber andererseits nicht unsicherer, sondern sicherer gemacht hat. Für wen jeweils? Darauf kommt es an! Denn (nicht nur, aber) auch dank Popper können sich zwar alle diejenigen Naturwissenschaftler, deren Theorien als nicht falsifiziert gelten, sicher sein, daß sie es ziemlich lange bleiben werden, während alle anderen Naturwissenschaftler unsicher bleiben müssen darüber, ob ihre vielleicht bessere bzw. erkenntnistheoretisch wertvollere Theorie jemals akzeptiert werden wird (denken Sie nur daran, wie lange Alfred Wegener ausgelacht worden ist - gerade auch in dem englischsprachigen Teil der Erde -, obwohl auch damals schon die vorherrschenden Theorien in der Geologie falsifiziert werden konnten, aber eben nicht wurden [warum wohl?]). Die anderen Wissenschaftler sind gegenüber den etablierten Wissenschaftlern aber immer eine riesige Mehrheit und könnten sich unter anderen Bedingungen als den geltenden viel leichter durchsetzen. Es ist ähnlich wie in der Evolution bzw. Geschichte. Manchmal setzt sich die Minderheit aufgrund ihrer Qualität (Intelligenz, Leistung u.s.w.) durch und manchmal die Mehrheit aufgrund ihrer Quantität (Masse, Anzahl). Wenn es nur die Qualität wäre, dann gäbe es - übrigens - auch keinen Untergang des Abendlandes; denn leider ist es die Quantität, z.B. die Zahl der Migranten aus fremden Kulturen (weil sie schlicht mehr Nachkommen haben!), die zuletzt dem Abendland den Todesstoß versetzen wird. Wenn es in der (Natur-)Wissenschaft auch noch exakt so wäre - seit Poppers These Doktrin ist, ist das aber immer seltener so -, dann wären Theorien, dann wäre z.B. Einsteins Relativitätsheorie mehr Druck seitens der Konkurrenz ausgesetzt, als es tatsächlich der Fall ist. (Übrigens: Ich bin nicht gegen Einstein oder dessen Relativitätstheorie!).“ E-Brief

Hallig Südfall
H a l l i g   S ü d f a l l

Dadurch, daß politisch „nachgeholfen“ wird, können sich Theorien und Erkenntnisse nicht oder zumindest nicht mehr so durchsetzen, wie es in der Wissenschaft eigentlich üblich ist, wie es gemäß des freien Spiels in der Wissenschaft möglich zu sein hat. Statt dessen wird also politisch selektiert, d.h. nach Machtverhältnissen selektiert, was durchaus nicht der Evolutionstheorie (Evolutionstheorie) widerspricht, aber es wird dadurch die Wissenschaft zerstört, denn die Wissenschaft ist eine „Insel im Meer der Evolution“ und war ursprünglich auch so erdacht, weil sie anders auch nicht existieren kann. Schon Lebewesen und ganz besonders die Menschen sind solche „Inseln“ bzw. suchen sie auf, um sich gegen die Regeln der Natur zu wehren - und sei es auf so gefährliche Weise, wie es die Bewohner auf den Halligen in der Nordsee oder den Malediven im Indischen Ozean tun.  –  „Nun wird aber, wenn ich nur die Falsifikation im Sinne Poppers gelten lasse, natürlich versucht, die Falsifikation zu verhindern. Das heißt: Das ganze Wissenschaftliche erhält eine politische Komponente, und daß dies heute längst immer mehr der Fall ist, läßt sich schon seit dem Ende des 2. Weltkrieges sagen.“ (E-Brief). Daß also auch z.B. so Leute wie Popper erst seit dem Ende des 2. Weltkrieges vermehrt im Sinne der Mächtigen „argumentieren“ und dadurch die Wissenschaft zur Nicht-Wissenschaft machen, ist kein Zufall, sondern gewollt.

Es gibt mittlerweile so viele sogenannte „Theorien“ von sogenannten „Experten“, die in Wirklichkeit alles andere als das sind, so daß ohne Gehirn sein muß, wer immer noch nicht weiß, worauf das alles hinauslaufen soll. Die angeblich „naturwissenschaftliche“ „Urknalltheorie“ geht konform mit dem Kreationismus bzw. der angeblichen „Schöpfungsgeschichte“ aus dem angeblich „Alten Testament“ des angeblich „auserwählten Volkes“. („Urknall“). Die angeblich „physikalischen“, die angeblich „chemischen“ die angeblich „biologischen“, die angeblich „ökonomischen“, die angeblich „soziologischen“, die angeblich „psychologischen“, die angeblich „semiotischen“, die angeblich „linguistischen“, die angeblich „philosophischen“ und die angeblich „mathematischen“ uns diktierten „Theorien“ sollen wir ihren, uns ebenfalls diktierten „Experten“ überlassen, und - zur Krönung - sollen wir auch noch das eventuelle Falsifizieren dieser „Theorien“ ihren „Experten“ überlassen. Was hier geschieht, ist die Dekonstruktion, der rücksichslose Abbau bzw. Rückbau, die bewußte Zerstörung bzw. Vernichtung unserer Tradition, wozu u.a. eben auch unsere in Jahrhunderten aufgebaute Wissenschaft gehört. Dabei ist das Ziel, aus Freiheit wieder Sklaverei zu machen - über den Weg von einer Neu-Theologie zu einer Neu-Religion. (Mehr). Wenn erst die Globalisten diese Neu-Religion etabliert haben werden, werden sie keine Ausnahme mehr zulassen - die ersten Ansätze dazu erkennt man jetzt bereits (vgl. Klimahysterie u.v.a.) -, aber daß ihre bereits seit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert etablierte Neu-Theologie, deren Idealismen bzw. Nihilismen anfangs wenigstens noch mehr Gut- als Bösartiges in sich hatten, seit ungefähr der Mitte des 20. Jahrhunderts, als deren Idealismen und Nihilsimen erstmals mehr Bös- als Gutartiges in sich hatten, stärker als zuvor danach streben muß und auch wirklich immer mehr - weil immer bösartiger werdend - danach strebt, zur Neu-Religion zu werden, scheinen viele noch gar nicht begriffen zu haben. Diese Neu-Religion muß wegen seines Anspruches auf Gültigkeit in der gesamten Welt Elemente aus den größten bzw. bedeutendsten Religionen integrieren, also synkretistisch (SynkretistismusSynkretistismus) sein - dabei helfen ihr eben auch diejenigen Elemente aus allen Wissenschaftsdisziplinen, die sich für den Synkretsimus eignen, und da, wo sie fehlen, müssen sie kreiert werden. Also, Leute, zieht euch lieber jetzt schon warm an, denn die Globalisten haben längst alles, was sie für ihre für die Ewigkeit geplante Macht brauchen, „aus dem Nichts“ geschöpft. MehrMehrMehrMehrMehrMehrMehrMehrMehrMehr

Die Wissenschaft braucht keine Gesetze, Vorschriften, Regularien, Regeln darüber, wie lange eine Theorie Theorie bleiben darf. Wenn dies aber in der Wissenschaft der Fall ist, dann ist sie im Fall. Sie geht dann unter. Wenn bestimmt wird, wie lange eine Theorie „überleben“ darf, dann wird auch bestimmt, was als Theorie überhaupt gelten darf. Was die Wissenschaft - also: die abendländische Wissenschaft, denn sie ist die einzige, die diesen Namen wirklich verdient hat - für ihre jeweilige Theorie und Praxis braucht, sind Logik und Empirie. Für sie dürfen, ja müssen Regeln aufgestellt werden - das ist klar -, aber doch nicht dafür, was wie lange Theorie und Praxis, was wie lange Logik und Empirie sein darf und was nicht. Alle Wissenschaftler sollen, ja müssen streiten dürfen darüber, was in der Wissenschaft gelten soll und was nicht, aber kein Wissenschaftler soll bestimmen dürfen darüber, was in der Wissenschaft gelten soll und was nicht. Da, wo diktiert wird, ist keine Freiheit, keine Wissenschaft möglich. Die z.B. auch von Lerner angesprochene wissenschaftliche Methode „besagt: »Prüfe die Theorie anhand intensiver Beobachtungen.« Wenn die Beobachtung der Theorie widerspricht, verwirf die Theorie. Auf dieser Basis hätte die Urknalltheorie schon vor Jahrzehnten verworfen werden müssen. Diese Abwendung von der wissenschaftlichen Methode und die Wiedereinführung der Vorstellung, daß man sich in Sachen Wissen auf die Experten verläßt, ist sehr verhängnisvoll.“ (Lerner). Wer diktiert, wie lange wer oder was in der Wissenschaft „überleben“ darf, wird auch bald diktieren, wer oder was in der Welt „überleben“ darf, wird also wie ein „Evolutionsgott“ selektieren und dadurch Gott herausfordern. Das nannte man früher Sünde!


Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) Kulturmorphologische Erkenntnistheorie, existenzialistische Erkenntnistheorie, kybernetisch-systemische Erkenntnistheorie, quadrialistische Erkenntnistheorie

Die Mathematik kann problemlos mit irrationalen und imaginären Zahlen arbeiten, denn sie kommt mit ihnen zu widerspruchsfreien Aussagen. Spengler ging von der Mathematik aus - das ist auch der Grund, weshalb das 1. Kapitel seines Hauptwerks ein mathematisches ist: „Vom Sinn der Zahlen“ (**). Hier also startete Spengler. Von hier aus bewegte er sich allmählich auf die für sein lebensphilosophisches Thema relevanten Phänomene zu, z.B. auf die Phänomene „Zeit“ und „Raum“, weil sie prägend auf das erste „Erwachen“, die „Weltanschauung“, das „Ursymbol“ der Subjekte wirken. Das von Koktanek erwähnte Modell der Kybernetik (**) ist ebenfalls geeignet, das auch in der Lebensphilosophie enthaltene Irrationale und Imaginäre zu integrieren und zu differenzieren. Nach meinem Dafürhalten müssen wir aber unbedingt mehrere Ebenen oder Schichten bzw. Kategorien berücksichtigen, weil für kulturelle Phänomene nicht dieselben Wertmaßstäbe angelegt werden können wie für natürliche Phänomene, und innerhalb des Kulturellen wie auch des Natürlichen ebenfalls unterschiedliche Wertmaßstäbe bzw. Kategorialkomplexe und Determinationstypen (vgl. N. Hartmann [**]) gelten. Mein Modell ist ebenfalls ein Kybernetikmodell, nämlich eines, das von einer für die Erkenntnislehre fast unabdingbaren Schichten- oder Kategorienlehre ausgeht und auf diese Weise auch Integrierungen, Differenzierungen und Relativierungen ermöglicht sowie die Bedingungen dafür erfüllt, daß Kulturen „als hochkomplexe, überstabile dynamische Systeme mit doppelter Rückkoppelung gelesen werden“ (**) können.

Naturwissenschaften —› —› Kulturwissenschaften
(auch genannt: Empirie-, Erfahrungswissenschaften) ‹— ‹— (auch genannt: Sozial-, Geisteswissenschaften)
...  Ü b e r g ä n g e  ...
(1) N ==> (2) N-K ==> (3) K ==> (4) K-N ==>
(1a) Physik
==>
(1b) Chemie
==>
(2a) Biologie
==>
(2b) Ökonomie
==>
(3a) Semiotik
==>
(3b) Linguistik
==>
(4a) Philosophie
==>
(4b) Mathematik
==>
<== <== <== <== <== <== <== <==
(1) N <== (2) N-K <== (3) K <== (4) K-N <==

(4) Grund
(3) Motiv
(2) Trieb (Gencode)
(1) Ursache (Kausalität)
(4) Geistiges (K-N)
(3) Seelisches (K)
(2) Organisches (N-K)
(1) Anorganisches (N)
Wenn man eine Kultur an sich - als Phänomen - beschreiben will, dann kann der gesamte Bereich der Naturwissenschaften (im Modell: „N“) ignoriert werden; will man sie jedoch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Natur beschreiben, dann muß der gesamte Bereich der Naturwissenschaften (im Modell: „N“) mitberücksichtigt werden. Genau genommen muß in allen im Schema erwähnten Bereichen oder Schichten ebenfalls differenziert werden. Wenn Kulturen „Organismen“ sein oder zumindest ähnlich wie sie sein sollen, dann müssen sowohl der Kategorialkomplex als auch der Determinationstyp der organischen Schicht berücksichtigt werden, in der zwar die anorganischen Kategorien der Materie und die Determiniertheit durch Kausalität wiederkehren, aber eben abgewandelt durch das spezifische Novum der Kategorie des Lebendigen (Organischen). Das jeweilige kulturelle „Urymbol“ wäre wie das jeweilige „Seelenbild“ auf der nächsthöheren Schicht, nämlich der des „Seelischen“, zu untersuchen. Die Schichten sind dadurch charakterisiert, daß die jeweils höhere (und leichtere) von der/den niederen (und stärkeren) zwar getragen wird, der/den niederen gegenüber aber relativ „frei“ ist (soweit die „Freiheit“ nicht durch das Getragenwerden beschränkt ist), besonders deshalb, weil sie im Vergleich zu dieser/diesen neue Eigenschaften aufweist. „Jede Seinsschicht hat ihren eigenen Kategorialkomplex, und zu jedem solchen gehört ein eigener Determinationstyp. Und wie die Kategorien jeder niederen Schicht in der höheren abgewandelt und um ein spezifisches Novum verstärkt wiederkehren, so natürlich auch die niederen Determinationstypen in den höheren.“ (Nicolai Hartmann, Ethik, 1926).
(IV)
(8)  Mathematik Geistiges Kultur-Natur
(7)  Philosophie
(III)
(6)  Linguistik Seelisches Kultur
(5)  Semiotik
(II)
(4)  Ökonomie Organisches Natur-Kultur
(3)  Biologie
(I)
(2)  Chemie Anorganisches Natur
(1)  Physik
Die Seinsschichten sind dadurch charakterisiert, daß die jeweils höhere (und leichtere) von der/den niederen (und stärkeren) getragen wird, der/den niederen gegenüber aber
„frei“ ist (soweit die „Freiheit“ nicht durch das Getragenwerden beschränkt ist [**|**]), besonders deshalb, weil sie im Vergleich zu dieser/diesen neue Eigenschaften aufweist.
Meine Schichten- oder Kategorienlehre unterscheidet sich zwar ein wenig von der Hartmanns, ist aber grundsätzlich mit ihr vereinbar. Die Schicht des Geistigen verfügt über die meiste relative Freiheit, ist also am weitesten entfernt von dem Anorganischen, dem um den Begriff der Materie gruppierten Kategorialkomplex und dem Determinationstyp Kausalität. Wir müssen hier nicht zu sehr in die Einzelheiten gehen, um zu erkennen, daß Phänomene wie die Kulturen weniger durch Kausalität determiniert sind als beispielsweise Planeten, Sonnen und Galaxien oder auch Moleküle und Kristalle. Jedoch kann auch nach meinem Modell kein Phänomen wirklich völlig frei von der untersten Ebene mit dem Determinationstyp Kausalität sein. Dies ist auch einer der Gründe, warum ich Kulturen nicht wie Spengler als Monaden verstehe. Doch es bedeutet noch lange nicht, daß Spenglers Kulturtheorie und speziell seine Kulturmorphologie falsch oder belanglos wäre für die Erkenntnislehre. Für die Erkenntnis von Kulturen an sich ist Kausalität, obwohl sie ansonsten durch sie determiniert sind, mehr hinderlich als förderlich. Welche Ursache auch immer den Menschen bewirkt hat: der Mensch will selber Ursachen setzen, Finalursachen nämlich, also seine eigenen Zwecke oder Ziele. So ist es auch bei Kulturen. Dabei kommen Triebe, Motive und Gründe in Frage, während die Ursache ja gerade ausgetrickst werden soll, gehört sie doch zum Determinationstyp Kausalität der untersten Schicht, die alles trägt und bestimmt, worüber sich ihr „Empörer“ doch gerade immerzu „empören“ und wehren will - und eben auch kann (!). In dem Sinne sind auch die folgenden Sätze Spenglers zu verstehen:
„Der »freie Wille« schon ist ein Akt der Empörung, nichts anderes. Der schöpferische Mensch ist aus dem Verbande der Natur herausgetreten, und mit jeder neuen Schöpfung entfernt er sich weiter und feindseliger von ihr. Das ist seine »Weltgschichte«, die Geschichte einer unaufhaltsam fortschreitenden, verhängnisvollen Entzweiung zwischen Menschenwelt und Weltall, die Geschichte eines Empörers, der dem Schoße seiner Mutter entwachsen die Hand gegen sie erhebt. Die Tragödie des Menschen beginnt, denn die Natur ist stärker. Der Mensch bleibt abhängig von ihr, die trotz allem auch ihn selbst, ihr Geschöpf, umfaßt. Alle großen Kulturen sind ebenso viele Niederlagen. Ganze Rassen bleiben, innerlich zerstört, gebrochen, der Unfruchtbarkeit und geistigen Zerrüttung verfallen, als Opfer auf dem Platze. Der Kampf gegen die Natur ist hoffnungslos, und trotzdem wird er bis zum Ende geführt werden.“ **
Man wird den Menschen niemals völlig verstehen bzw. erkennen können, wenn man dies immer nur von der Natur, dem um den Begriff der Materie gruppierten Kategorialkomplex und dem Determinationstyp Kausalität aus versucht.

Beobachtung der Beobachtung
Er beobachtet nur, wie ein anderer beobachtet, wie
ein anderer beobachtet, wie ein anderer
beobachtet, wie ... u.s.w.; aber er sieht nicht, wie er
selbst beobachtet; denn das kann nur ein anderer
beobachten, der auch nicht beobachten kann, wie
er selbst beobachtet ... u.s.w.: Jeder hat seinen
blinden Fleck. Und nur den gibt es zu sehen!

Es wurde ja schon gesagt (**), daß gemäß Schopenhauer (**|**) alles, was für die Erkenntnis da ist - also diese ganze Welt - Objekt in Beziehung auf ein Subjekt ist, also Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort: Vorstellung. Schopenhauer sah in der Vorherrschaft des Rationalismus auch ein Hindernis für die Erkenntnis. Rund 100 Jahre später wurde diese Aussage von Spengler (**) sogar noch verstärkt, denn er wollte „mehr als Rationalismus: Goethe hatte der aufklärerischen Differenzierung in vernunftgeleitetes Sinnes-, Denk- und Handlungsvermögen als »vierte Kraft« die Phantasie abgepreßt. (Es muß dahingestellt bleiben, ob Goethes [bzw. Spenglers an Goethe anknüpfender] Anspruch, damit auch die von Kant dargestellten Vermögen, Kräfte [der drei berühmten erkenntniskritischen Hauptwerke] zu übersteigen, eingelöst werden konnte ...); jene »›exakte sinnliche Fantasie‹«, welche Spengler bereits seinem Heraklit zuschreibt (gegen den späteren Aristoteles, gegen viele Spätere); auf ein Vermögen, das »auf Gestalten und Gedanken, nicht deren abstrakte Folgerungen, Begriffe und Gesetze« (**) gerichtet sein soll. Im Widerstreit von Ratio und Sinnlichkeit, aber auch von Verstand umd Empfindsamkeit, vor allem, will Spengler Goethe folgen ....“ (Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 57.) Es wurde auch schon gesagt (**), daß Heidegger (**) die Subjekt-Objekt-Beziehung durch das In-der-Welt-Sein des Menschen ersetzte. Wenn nun Spenglers Kulturen wie „Organismen(**) sind und sie ihre Weltanschauung gemäß der Art und Weise ihres Erlebens der Raumtiefe bzw. Ausdehnung beim Erwachen ihrer Seele, also gemäß dem Ursymbol erhalten - denn: „die Wahl des Ursymbols in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur in ihrer Landschaft zum Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden, der Weltgeschichte so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes hat, entscheidet alles“ (**) -, dann ist nicht nur jede einzelne Person, sondern ebenfalls jede einzelne Kultur auch erkenntnistheoretisch ein Subjekt, also ein jedes Objekt auf subjekive Weise erkennendes und somit bestimmendes Subjekt. Wenn wir dieses Subjekt objektiv erkennen wollen, dann müssen wir zuletzt zur Kenntnis nehmen, daß das zu Luhmanns selbstreferentieller, rekursiver Beobachtung führt: Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung ... u.s.w. (siehe Abbildung), also zur selbstreferentiellen, rekursiven Beobachtung. Luhmanns Beobachter des Beobachters des Beobachters ... u.s.w. ist eine tragische Figur, deren „blinder Fleck“ die Relativität der Erkenntnis symbolisiert. (Günter Schulte sieht in Luhmanns Theorie eine umgestülpte Subjekttheorie, eine schlichte Umstellung von Subjekt auf System [vgl. Günter Schulte, Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, 1993, S. 12 und 22 ] **). Wenn aber - abgesehen von Ausnahmen (die allerdings früher die Regel waren) - jede Einzelperson immer schon in einer Welt ist (und dies ab einem bestimmten Alter auch weiß) und immer schon in einer Kultur ist (und dies ab einem bestimmten Alter auch weiß) sowie ihre Weltanschauung bzw. „Welt als Vorstellung“ aufgrund des kultuellen Ursymbols abhängig von eben dieser Kultur ist, dann könnten wir ja vielleicht den Subjekt/Objekt-Dualismus so ersetzen, wie es Heidegger uns mit dem In-der-Welt-Sein vorgemacht hat, und es durch ein jeweiliges In-der-Kultur-Sein (gemäß Spengler) oder durch ein System-Sein bzw. dessen Beobachter-Sein oder auch ein An-der-(Welt-)Gesellschaft-irritativ-beteiligt-Sein bzw. ein In-der-Welt-als-Einheit-der-Differenz-von-Umwelt-und-System-Sein (gemäß Luhmann) ergänzen oder sogar ersetzen. Wir sind dann keine Subjekte mehr, weil wir immer schon in einer Welt oder in einer Kultur sind oder irritativ an einer (Welt-)Gesellschaft teilhaben bzw. in einer Welt als der Einheit der Differenz von Umwelt und System, jedenfalls von der Welt gar nicht getrennt sein können, und die Welt ist dann für uns aus denselben Gründen auch kein Objekt mehr. Heideggers „In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.“ (**). „Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt.“ (**). Die Weisen des In-Seins haben die ... Seinsart des Besorgens.“ (**). In-Sein ist ein Existenzial.
„In-Sein ... meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial. Dann kann damit aber nicht gedacht werden an das Vorhandensein eines Körperdings (Menschenleib) »in« einem vorhandenen Seienden. Das In-Sein meint so wenig ein räumliches »Ineinander« Vorhandener, als »in« ursprünglich gar nicht eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet (vgl. Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Band VII, S. 247); »in« stammt von innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten; »an« bedeutet: ich bin gewohnt, vertraut mit, ich pflege etwas; es hat die Bedeutung von colo im Sinne habito und diligo. Dieses Seiende, dem das In-Sein in dieser Bedeutung zugehört, kennzeichneten wir als das Seiende, das ich je selbst bin. Der Ausdruck »bin« hängt zusammen mit »bei«; »ich bin« besagt wiederum: ich wohne, halte mich auf bei ... der Welt, als dem so und so Vertrauten. Sein als Infinitiv des »ich bin«, d.h. als Existenzial verstanden, bedeutet wohnen bei ..., vertraut sein mit .... In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesentliche Verfassung des In-der-Welt-seins hat. Das »Sein bei« der Welt, in dem noch näher auszulegenden Sinne des Aufgehens in der Welt, ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial.“ **
Erkennen ist ein Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein .... Erkennen ist ein im In-der-Welt-sein fundierter Modus des Daseins.“ (**). „Natur ist - ontologisch-kategorial verstanden - ein Grenzfall des Seins von möglichem innerweltlichen Seienden. Das Seiende als Natur in diesem Sinne kann das Dasein nur in einem bestimmten Modus seines In-der-Welt-seins entdecken. Dieses Erkennen hat den Charakter einer bestimmten Entweltlichung der Welt.“ (**). „Das Ent-fernen ist zunächst und zumeist umsichtige Näherung, in die Nähe bringen als beschaffen, bereitstellen, zur Hand haben. Aber auch bestimmte Arten des rein erkennenden Entdeckens vom Seienden haben den Charakter der Näherung. Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.“ (**). „Im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil das Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verstehen ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht. Das Sicherkennen gründet in dem ursprünglich verstehenden Mitsein.“ (**). Eine Erkenntnis im Sinne der Subjekt-Objekt-Beziehung ist so gar nicht möglich, denn der Einzelne als das Subjekt kann von außen, also außerhalb seiner Welt, gar nicht wirklich eine Erkenntnis über die Welt als Objekt bekommen, weil er immer schon in ihr ist. Dies gilt nach meinem Dafürhalten auch für die Kultur, und zwar sowohl dann, wenn sie erkennendes Subjekt sein will, als auch dann, wenn sie zu erkennendes Objekt sein soll. Gemäß Heidegger ist „Verstehen“ als „eine ursprünglich existenziale Seinsart“ zu verstehen, „die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht“; also ist es unerläßlich, bei jeder Art von „Erkenntnis“ oder „Kenntnis“ vom „ursprünglich verstehenden Mitsein“ auszugehen.

Regelkreis Regelkreis

Zurück zum Kybernetikmodell. - Ein Regelkreis besteht aus zwei Hauptteilen: der Regelstrecke bzw. dem zu regelnden Objekt und dem Regler. Der Regler hat die Aufgabe, eine bestimmte veränderliche Größe, die Regelgröße (den Istwert), gegenüber störenden Einwirkungen aus der Systemumwelt oder aus dem System selbst gemäß einer ihm vorgegebenen Funktion, der Führungsgröße oder dem Sollwert (Zielwert) zu variieren. Seine „Maßnahmen“ erfolgen über die Stellgröße. Auf diese Weise kann der Regler (aufgrund der ihm selbst vorgegebenen Zielwerte) die Regelstrecke mittels der Stellgröße bestimmen, die Ergebnisse der Regelstrecke über die Regelgröße auswerten (z.B. Störungen erkennen) und wiederum regulierende „Maßnahmen“ einleiten. Die Regelgröße wird mit der Führungsgröße verglichen. Die Regelabweichung (= Sollwert – Istwert) wird dem Regler zugeführt, der daraus entsprechend der gewünschten Dynamik des Regelkreises eine neue Stellgröße bildet. Die Störgröße wirkt meistens auf den Ausgang der Regelstrecke, sie kann aber auch auf verschiedene Teile der Regelstrecke Einfluß nehmen. Rückkoppelung bedeutet das allgemeine Steuerungsprinzip kybernetischer Regelkreise, bei dem die Wirkung einer auf ein bestimmtes Reaktionssystem einwirkenden Ursache wieder auf die Ursache zurückwirkt. Negative Rückkoppelung wird ein Effekt genannt, durch den die Stabilität des Funktionensystems im Zeitablauf erhalten und jede störende Einwirkung paralysiert wird. Bei positiver Rückkoppelung verstärkt die Rückwirkung des Systemeffekts die erzeugenden Ursachen. Das philosophische Interesse für die Kybernetik rührt daher, daß diese die Möglichkeit eröffnet, den Begriff „Zweck“ rekursiv zu begreifen (Beispiel einer rekursiven Regel: A–›B(A)): Der Zweck eines komplexen Systems, etwa auch eines Lebewesens, ist es selbst. Ein Zweck bräuchte keine vom System getrennte Instanz mehr, die ihn setzt. Wenn das auch für menschliche Zwecke gilt, gewinnt die Autonomie der Person und damit ihre Verantwortung für ihre Handlungen sehr stark an Bedeutung. Man könnte nun einen Regelkreis entwerfen, in der die Rollen folgendermaßen verteilt sind: Führungsgröße: Wille bzw. Seele von Mensch(en) bzw. Kultur(en); Regler: Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex; Stellgröße: Stellform; Regelstrecke: Geschichte; Regelgröße: Regelform. In diesem Regelkreis bestehen die beiden Hauptteile also aus dem Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex und der Geschichte. Demnach hat der Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex die Aufgabe, eine bestimmte veränderliche Größe, die kulturgeschichtliche Regelform (den Istwert), gegenüber Störungen aus der Umwelt dieses Regelkreises oder aus dem Regelkreis selbst gemäß einer ihm vorgegebenen Funktion, der Führunsgröße (dem menschlichen/kulturellen Willen bzw. der menschlichen/kulturellen Seele) oder dem ursymbolischen Sollwert (Zielwert) zu variieren. Seine „Maßnahmen“ erfolgen über die kulturgeschichtliche Stellform. Auf diese Weise kann der Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex, und zwar aufgrund der ihm selbst vom Willen bzw. von der Seele des Menschen bzw. der Kultur vorgegebenen ursymbolischen Sollwerte die Geschichte (Verwirklichung der Seele) mittels der kulturgeschichtlichen Stellform bestimmen, die Ergebnisse der Geschichte über die kulturgeschichtliche Regelform auswerten (z.B. Störungen erkennen) und wiederum regulierende „Maßnahmen“ einleiten. Die kulturgeschichtliche Regelform wird mit dem Willen bzw. der Seele des Menschen bzw. der Kultur verglichen. Die Regelabweichung (= ursymbolischer Sollwert – Istwert [Regelform]) wird dem Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex zugeführt, der daraus entsprechend der gewünschten Dynamik des Regelkreises eine neue kulturgeschichtliche Stellform bildet, es sei denn, daß es keine Regelabweichung gibt (ursymbolischer Sollwert – Istwert [Regelform] = 0). Die Störgröße wirkt meistens auf den Ausgang der Geschichte, sie kann aber auch auf verschiedene Teile der Geschichte Einfluß nehmen. (Die Geschichte ist hier nicht nur im allgemeinen, sondern auch im besonderen, z.B. bezüglich Epochen, Phasen u.s.w. zu verstehen.) - Setzen wir nun an die Stelle des übergeordneten Systems das Leben bzw. Lebewesen (Organismus, Kultur), an die des zielsetzenden Systems die Seele mit ihren Erlebnissen (vor allem ihrem Tiefenerlebnis XK, das auch als Herausforderung zu verstehen ist), an die des Reglers den aus Ursymbol (Sollwerteinstellung) und Seelenbild (Meßeinrichtung) bestehenden Komplex für den Vergleich und die Entscheidung, an die der Stellgröße Y die Stellform Y, an die der Regelstrecke die Geschichte (Verwirklichung der Seele) und an die der Regelgröße X die Regelform X (siehe Abbildung).

Ich weiß, daß Spengler auch jedem noch so perfekt funktionierenden Kybernetikmodell skeptisch bis ablehnend gegenüber eingestellt war. Spengler zufolge sind Phänomene wie Leben, Kultur, Seele, Geschichte u.ä. für die Erkenntnis auf rein systematischem Wege nicht ergiebig. Ich habe es hier dennoch versucht und hoffe, daß mein auf Spenglers Kulturmorphologie bezogenes Kybernetikmodell von der Erkenntnistheorie schon bald dankenswerterweise begrüßt werden wird.

Nach meinem Dafürhalten ist Spenglers Kulturtheorie auch in Luhmanns Systemtheorie integrierbar. Spengler ging davon aus, daß eine Kultur sich von seiner Umwelt unterscheidet, und zwar so sehr, daß sie ähnlich wie das ist, was sehr lange vor Spengler schon bei Leibniz „Monade“ hieß und lange nach Spengler bei Luhmann „System“ heißen sollte, was auch bedeuten sollte, „daß ein System die Differenz ist - die Differenz zwischen System und Umwelt“ (**|**). Leibniz’ Monaden, Spenglers Kulturen und Luhmanns Systeme haben vor allem die Selbstbezüglichkeit gemeinsam, wozu auch die Tatsache gehört, daß sie keinen direkten Kontakt zu ihrer Umwelt haben, obwohl sie von ihr abhängen und auch von ihr beeinflußt werden, allerdings, wie gesagt, nicht über den direkten Kontakt. Sie reagieren auf ihre Umwelt, aber haben keinen, jedenfalls keinen direkten Kontakt zu ihr. Spenglers Kulturen sind auf Grund von Ursymbol und ihr Seelenbild nicht in der Lage, ihre Umwelt zu verstehen, und da auch andere Kulturen zu dieser Umwelt gehören, können sie auch diese nicht verstehen. Erkenntnistheoretisch sind also Spenglers Kulturen durch ihr jeweiliges Ursymbol und ihr jeweiliges Seelenbild und Luhmanns Systeme durch den blinden Fleck des Beobachters eingeschränkt (**), also in beiden Fällen eben durch die Selbstreferenz, und zwar auch dann, wenn sie versuchen, sich selbst von außen zu beobachten und zu beschreiben oder als zweiter Beobachter einen ersten Beobachter beobachten, wenn also die Fremdreferenz zwar eine Rolle spielt, aber letztlich doch wieder in Selbstreferenz mündet. Luhmanns Systeme sind wie zuvor schon Spenglers Kulturen unwahrscheinliche Gebilde, die durch Zufall wahrscheinlich werden: Mit anderen Worten: es wird „geringe Entstehenswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungsswahrscheinlichkeit transformiert“ (**). Luhmanns Systeme sind wie zuvor schon Spenglers Kulturen Formen. Also geht es in beiden Theorien um Formanalyse.

Spenglers Kulturen sind selbstbezügliche Monaden - ähnlich wie später Luhmanns Systeme. Sie kreisen um sich selbst, verstehen einander nicht, können nicht, jedenfalls nicht direkt miteinander kommunizieren. Darum kann auch jede auf sie bezogene Beobachtung nur eine Selbstbeobachtung sein, aber immerhin in einem Als-ob-Modus einer Fremdbeobachtung, also so, als ob diese Selbstbeobachtung jene wäre, die von außen auf dieses Selbst gerichtet ist. Deshalb war es Spengler und Luhmann zumindest indirekt möglich, über den Weg der Selbstbeobachtung, der Als-ob-Fremdbeobachtung also, und Selbstbeschreibung, der Als-ob-Fremdbeschreibung also, mehr über Kulturen und Gesellschaften zu wissen als beispielsweise jene Selbstbeobachter und Selbstbeschreiber vor ihnen, denn diese früheren Selbstbeobachter und Selbstbeschreiber wurden ja als Beobachter erster Ordnung von Spengler bzw. Luhmann als Beobachter zweiter Ordnung ebenfalls beobachtet, also mitbeobachtet (**). Spengler und Luhmann hatten also den Vorteil, diejenigen Beobachter mitzubeobachten, die das noch nicht konnten.

„Die Wissenschaft bleibt als Beobachter der aus sich selbst ausgeschlossene Dritte.  –  Die erkenntnistheoretische Reflexion nimmt mit ihrer Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit« nur sehr begrenzt auf, was in den Wissenschaften selbst geschieht. Die Einstellung der Natuwissenschaften auf »Materie«, der Biologie auf »Population« und der Humanwissenschaften auf »Subjekt« lassen immerhin erkennen, daß es um zukunftsoffene Forschungsprogramme geht, die eine Festlegung auf Wesen, ja sogar auf invariante Gesetze, die das Vergangene mit dem Zukünftigen verbinden, nach Möglichkeit vermeiden oder doch immer weiter aufzulösen suchen. Das entspricht einer Gesellschaft, die ihr eigenes »Wesen« nicht mehr bestimmen kann, ihre Geschichte als vergangen behandelt und auf eine selbstbestimmte Zukunft setzt. Die erkenntnistheoretische Konsequenz lautet zunächst: Pragmatismus, dann Konstruktivismus“ **

So wie Spenglers Kultur, so ist auch Luhmanns Gesellschaft ihren eigenen Bemühungen um Erkenntnis wehrlos ausgesetzt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Erkenntnis sinnlos wäre. In einem Gesamtunternehmen namens „Sinn“ (Luhmann) muß es immer auch um Erkenntnis gehen.

Man kann sagen, daß Luhmanns Systemtheorie „die funktionale Analyse als Methode reflektiert (also eine Theorie dieser Analyse liefert), die zentral an die Stelle zwischen Theorie und (Re)Konstruktion des Phänomenbereiches Sozialität platziert wird unter Einschluß der Rekonstruktion der dies rekonstruierenden Theorie. Funktionale Analyse ist, so gesehen, eine Theorietechnik, durch die das wissenschaftliche Abtasten von Differenzen, das der Informationsgewinnung dient, in eine besondere Form gebracht wird. (Als Technik sei sie, sagt Luhmann, mit der Mathematik vergleichbar [vgl. ders., Soziale Systeme, 1984, S. 83 {**}].) Mit anderen Worten (bezogen auf ein häufig vorzufindendes Mißverständnis): Die Theorie der Methode ist nicht identisch mit der Methode der Theorie. (In gewisser Weise kann man sagen, daß die funktionale Analyse die Methode ist, mit deren Hilfe die Theorie die »Erzählungen« generiert, die sich [im Unterschied zu ihr selbst] testen lassen.) Die Rekonstruktion nicht beliebiger, sondern de-arbitrarisierter, spezifischer Ereignisverkettungen „setzt funktionale Analyse als Methode voraus. Dabei geht es kaum darum, »wirkliche« Kausalitäten zu ermitteln (das ist eigentlich seit Kant ausgeschlossen), sondern darum, verschiedene, funktional äquivalente Kausalattributionen zu vergleichen, mithin die Schemata Problem/Problemlösung, Kontingenz/Notwendigkeit und Ursache/Wirkung im Schema des Vergleichs zu kombinieren. (Siehe dazu schon früh Luhmann, N., Funktion und Kausalität, in ders., Soziologische Aufklärung, Bd.1, 1970, S. 9-30.)“ (Peter Fuchs, Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch [**].) Gemäß Luhmann ist also die funktionale Analyse, wenn man sie als eine Theorietechnik versteht, mit der Mathematik vergleichbar (vgl. ders., Soziale Systeme, 1984, S. 83 [**]), und wenn man Erkenntnis und Gegenstand als Zusammenhang oder Einheit eines Problems begreift, dann geht „die funktionale Methode über eine bloße Methodenentscheidung hinaus und beansprucht, Theorie der Erkenntnis zu sein“ (ebd., S. 90 [**]).

Dem Luhmann-Schüler Peter Fuchs zufolge „ordnet sich die funktionale Analyse als Methode dem systemtheoretischen (und durch Luhmann forcierten) Grundzug der De-Ontologisierung von Erkenntnis zu und insoweit dem weiteren Paradigma des Konstruktivismus. De-Ontologisierung ist aber nicht gleichbedeutend damit, Erkenntnismöglichkeiten im klassischen Sinne schlechthin zu bestreiten. Damit würde sich diese Theorie aus der Wissenschaft katapultieren. Stattdessen wird eine Minimalontologie eingeführt, ... nämlich die der dezidiert naiven Präsupposition der Existenz von realen Systemen in einer realen Welt, die – nachdem mit ihr gestartet wurde – einer Post-festum-Entnaivisierung unterzogen wird. (Vgl. dazu Luhmann, N., Erkenntnis als Konstruktion, a.a.O., S. 218-239.) Dieser Ausgangspunkt führt zu der verblüffend einfachen Konsequenz, daß Erkenntnis zurückgebunden wird an Beobachter (eben: informationsverarbeitende Systeme), die exklusiv Beobachtungen und Beschreibungen anfertigen, von denen einige als erkenntnisorientierte Beobachtungen und Beschreibungen imponieren.“ (Peter Fuchs, ebd. [**].)

„Erkenntnis als Operation wird ... in den Anschluß (Beobachtung als Erkenntnis durch weitere Beobachter, für die dasselbe gilt) »verschoben«. (Und zwar auf immer und ewig, also abschlußfrei, solange es sinnorientierte Beobachter gibt.) Sie justiert sich nicht an »Gültigkeiten«, die durch Approximation an »Sachverhalte«, an ein Wesen oder Sein gewonnen werden, wie es Assimilations-, Korrespondenz- und Repräsentationstheorien versucht haben, indem sie Erkenntnis und ihren Gegenstand prinzipiell trennten. Darin koinzidieren systemtheoretische Überlegungen mit epistemologischen Einsichten, die die Konstruktion der Welt an die Vernetzung von Beobachtungen binden, die keinen Außenhalt haben. Beispiele dafür wären die Saussuresche Linguistik, die Dekonstruktion Derridas oder die Quantenphysik, die ersichtlich angesiedelt ist auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung.“ (Peter Fuchs, ebd. [**].)

„Fremdreferenz (das Außen) wird, so könnte man diese Entwicklung bündeln, im System erwirtschaftet. Außenhalte sind Konstrukte systemischer Beobachter, die Fremdreferenz auf der Innenseite des Schemas Fremd-/Selbstreferenz bezeichnen. Sobald diese Unterscheidungs- und Bezeichnungsleistung erkenntnisorientiert vollzogen wird, erscheint das Ausgangsschema (Fremd/Selbst) als das Schema Erkennen/Erkanntes (wobei es sich schickt, daß diese Unterscheidung baugleich solchen Schemata ist wie signifiant/signifié oder Bezeichnendes/Bezeichnetes etc.), dessen Raffinesse darin besteht, daß die Einheit des Schemas (Erkennen) im Schema auftaucht. (Das Schema ist also der System/Umwelt-Unterscheidung isomorph, für die ja auch gilt, daß die Einheit des Schemas das System ist.) Erkennen ist die Projektion dieser Differenz oder in etwas anderer Formulierung: die Einheit von Erkenntnis und Gegenstand. Und wie beim Zeichen (signifiant/signifié oder Bezeichnendes/Bezeichnetes) ist die Seite des Bezeichneten (des Erkannten, des Gegenstandes) keine schema-externe Größe, die in der Welt darauf wartet, benannt oder erkannt zu werden.“ (Peter Fuchs, ebd. [**].)

Modell Modell Modell Modell Modell Modell
Modell

 

Meine Quadrialistische Erkenntnistheorie, auf die ich oben schon einleitend eingegangen bin (**), ist mit Nicolai Hartmanns Kategorien- bzw. Schichtenlehre (**|**) verwandt. Die vier Schichten, die Hartmann „Anorganisches“, „Organisches“, „Seelisches“ und „Geistiges“ genannt hat, habe ich übernommen, sie aber auch mit vier anderen Begriffen verbunden:
(4) Geistiges (Kultur-Natur)
(3) Seelisches (Kultur)
(2) Organisches (Natur-Kultur)
(1) Anorganisches (Natur)
Dieses Schichten- bzw. Stufenmodell wird zu einem zyklischen, genauer zu einem spiralzyklischen Modell, wenn man sowohl die Richtung von unten nach oben als auch die Richtung von oben nach unten auf sonst gleiche Weise berücksichtigt. Wenn wir anstelle von „unten“ „links“ und anstelle von „oben“ „rechts“ sagen, dann ergibt sich folgendes Bild:
Naturwissenschaften —› —› Kulturwissenschaften
(auch genannt: Empirie-, Erfahrungswissenschaften) ‹— ‹— (auch genannt: Sozial-, Geisteswissenschaften)
 Ü b e r g ä n g e 
(1) N ==> (2) N-K ==> (3) K ==> (4) K-N ==>
(1a) Physik
==>
(1b) Chemie
==>
(2a) Biologie
==>
(2b) Ökonomie
==>
(3a) Semiotik
==>
(3b) Linguistik
==>
(4a) Philosophie
==>
(4b) Mathematik
==>
<== <== <== <== <== <== <== <==
(1) N <== (2) N-K <== (3) K <== (4) K-N <==
Es ist nicht nur so, daß alles durch die anorganische Natur determiniert ist, sondern auch, daß alles von der geistigen Kultur-Natur ausgehend in die entgegengesetzte Richtung (<==) beeinflußt werden kann, nur eben nicht die Determiniertheit selbst, die ja in die andere Richtung (==>) geht. Mit anderen Worten: Wenn ich weiß, wie man Atomkerne spaltet, und anschließend dann auch tatsächlich Atomkerne spalte, bedeutet das nicht, daß für mein Leben keine Atomkerne mehr notwendig sind. Die beiden Richtungen sind nicht austauschbar. Determination und Indetermination schließen sich gegenseitig aus. Auch deswegen hat Kant von zwei „Welten“ gesprochen: einerseits der „empirischen“, andererseits der „intelligiblen“. Die Frage ist nun, wo genau die Grenze zwischen diesen beiden „Welten“ liegt. Und da sie nicht eindeutig festzulegen ist, weil es sich bei ihr um fließende Übergänge handelt, ist es ratsam, aus diesen zwei vier oder gar acht „Welten“ zu machen, auch wenn dann die jeweiligen Hälften nur aus Übergängen bestehen. Wir müssen sowieso davon ausgehen, daß wir letztlich nur noch Übergänge erkennen werden. („Alles fließt“ [Heraklit].) Ich habe aus jenen zwei erst vier, dann acht „Welten“ (Disziplinen) gemacht - wohlwissend, daß es trotzdem eigentlich nur zwei sind.

Natur und Kultur
Auf zwei „Welten“ (Natur [Körper] und Kultur [Geist]) mit zwei Übergängen basierende acht kleinere „Welten“ mit acht Übergängen,
wobei man sich das Ganze (die „eine Welt“) auch als Spiralbewegung in zwei Richtungen (siehe Abbildungen) vorstellen sollte.

Der Relativismus wird von den in diesem Abschnitt erwähnten anderen drei Theorien - der kulturmorphologischen, der existenzialphilosophischen und der kybernetisch-systemischen - noch verstärkt. Beispielsweise ist jeder Angehörige einer Spenglerschen Monade „Kultur“ durch sie auch in der Erkenntnisfähigkeit eingeschränkt, aber deswegen bezüglich der Erkenntnis trotzdem nicht weniger erfolgreich, sondern ganz im Gegenteil. Gleiches gilt für jeden Menschen des Heideggerschen „In-der-Welt-Seins“ und für jeden Menschen, der über Irritation bzw. Interpenetration oder strukturelle Kopplung an der Luhmannschen Gesellschaft teilhat. Sie sind entweder immer schon in den jeweiligen Begrenzungen oder Räumen, ob sie nun „Kultur“, „Welt“ oder „Gesellschaft“ heißen, oder doch zumindest, wie im Falle der Luhmannschen „Gesellschaft“, an ihnen so beteiligt, daß der Luhmannsche „blinde Fleck“ auch sie (und nicht nur das System!) betrifft. Den kulturmorphologisch, existenzphilosophisch und kybernetisch-systemisch begründeten Relativismus berücksichtigt meine Quadrialistische Erkenntnistheorie ebenfalls.

Wir setzen uns selbst Beschränkungen, Bedingungen, Werte und Normen, oft „Gesetz“ genannt, das dann kulturell fast genauso funktioniert wie die ebenfalls „Gesetz“ genannte natürliche Kausalität. Wir können z.B. unsere Lebensart oder unseren Wohnort unter bestimmten Bedingungen zwar wechseln, aber diese „bestimmten Bedingungen“ sind genau das, was ich meine: relative Determination durch kulturell nur zu erklärende Beschränkungen, Bedingungen, Werte und Normen, oft „Gesetz“ genannt, das dann kulturell fast genauso funktioniert wie die ebenfalls „Gesetz“ genannte natürliche Kausalität. Kulturelle Errungenschaft setzt u.a. voraus, daß die Kulturangangehörigen wissen, daß es auch anders kommen kann, setzt also das Wissen von Kontingenz voraus. Je mehr Wissen sie davon haben, desto wahrscheinlicher wird es, daß ihr System erweitert und komplexer wird. Wäre unsere Erkenntnisfähigkeit nicht relativiert, sondern absolut, wäre alles, also auch das Ende, bekannt und die eben beschriebene Entwicklung obsolet. Da diese Entwicklung aber stattfindet, kann unsere Erkenntnisfähigkeit nicht absolut (göttlich), sondern nur relativ oder auf dem Wege sein, die absolute (göttliche) Erkenntnisfähigkeit zu erreichen - wie Hegels absoluter Geist (göttlicher Geist) das absolute Wissen.

Ob Menschen nun durch ihr zunächst kontingent, dann aber spezifisch werdendes kulturelles Schlüsselerlebnis, das ihnen die für sie ganz speziell emergierenden Phönomene wie das kukturelle Ursymbol und das kulturelle Seelenbild beschert, oder durch ihr In-der-Welt-Sein oder durch ihr durch Irritation bzw. Interpenetration oder strukturelle Kopplung Mit-der-Gesellschaft-verbunden-Sein eine zusätzliche Einschränkung ihrer ohnehin, nämlich durch ihre Natur schon eingeschränkten Erkenntnisfähigkeit haben, ändert nichts an der grundsätzlichen Möglichkeit und Fähigkeit, sich zumindest von allen nicht-rein-natürlichen Einschränkungen wieder zu lösen, z.B. durch das Ende ihrer je spezifischen Kultur, die einen Neubeginn bedeuten kann, wenn auch nicht muß, oder durch eine Kehre oder aber durch Kommunikation, die rein theoretisch alles Mögliche konstruieren und in Erkenntnis umsetzen kann, in eine Richtung des neuen Erkenntnisgewinns. Aber die von Kant zuerst behauptete rein-natürliche Einschränkung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit ist davon natürlich nicht betroffen. Also geht es tatsächlich „kaum darum, »wirkliche« Kausalitäten zu ermitteln (das ist eigentlich seit Kant ausgeschlossen), sondern darum, verschiedene, funktional äquivalente Kausalattributionen zu vergleichen, mithin die Schemata Problem/Problemlösung, Kontingenz/Notwendigkeit und Ursache/Wirkung im Schema des Vergleichs zu kombinieren. (Siehe dazu schon früh Luhmann, N., Funktion und Kausalität, in ders., Soziologische Aufklärung, Bd.1, 1970, S. 9-30.)“ (Peter Fuchs, Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch [**].) Allerdings will ich mich hier nicht allein auf eine funktionale Analyse als Methode, die ja „beansprucht, Theorie der Erkenntnis zu sein“ (Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 90 [**]) beschränken, sondern auch und zuvor fragen, wie aufgrund der Einschränkungen und ganz besonders der nicht-rein-natürlichen Einschränkungen die Erkenntnis relativiert wird.

Meine Unterscheidung von Natur und Kultur ist durchaus zu vergleichen mit der systemtheoretischen Unterscheidung von Umwelt und System (**). Aus Sicht des Systems ist der gesamte Rest immer Umwelt. Aus Sicht der Kultur ist der gesamte Rest Natur. In der Systemtheorie geht es stets um das System, nicht aber um die Umwelt, die unberücksichtigt bleibt. In meiner Theorie geht es nicht immer nur, aber doch meistens sowohl um Kultur als auch um Natur, also bleibt nur selten eine der beiden jeweils unberücksichtigt, wenn es nur um die jeweils andere geht. Meine Theorie berücksichtigt auch systemtheoretische Aspekte und Begriffe wie z.B. „Autopoiesis“, „Selbstreferenz“, „operative Geschlossenheit“. In der Systemtheorie sind Grenzziehungen auf binäre Unterscheidungen bezogen und sehr wichtig. In meiner Theorie ist dieser Aspekt leider nicht so stark berücksichtigt, wie ich mir es manchmal doch wünsche. Gerade als Sprachwissenschaftler, der ich ja auch bin, müßte ich innerhalb meiner Theorie viel mehr binäre Unterscheidungen berücksichtigen, als ich das tue; aber ich bin eben auch Historiker und Ökonom, so daß die historischen und ökonomischen Aspekte die sprachwissenschaftlichen nicht selten zurückdrängen. Das Historische spielt hierbei sogar eine ganz besondere Rolle, da es für den zeitlichen Aspekt innerhalb der Kultur (einschließlich der kulturellen Hälfte der Natur-Kultur und einschließlich der der kulturellen Hälfte der Kultur-Natur) steht, während die Evolution zusätzlich den zeitlichen Aspekt innerhalb der natürlichen Hälfte der Natur-Kultur und die Kosmogenese zusätzlich den zeitlichen Aspekt innerhalb der Natur repräsentiert.

Gemäß meiner Allgemeinen Entwicklungstheorie (**) sind, wie schon mehrfach angedeutet, zwei entgegengesetzte Richtungen zu beachten, denn einerseits bestimmt zwar die Kosmogenese, so daß Evolution und Geschichte sich nicht ohne Kosmogenese ereignen können, aber andererseits können sie die Kosmogenese beeinflussen, weil sie ihr gegenüber relativ frei sind. Aus meinem Schichtenmodell geht ja hervor, daß die Leichteren von den Schwereren abhängen, getragen werden, und sie trotzdem, wegen der relativen Freiheit, beeinflussen können, daß es also eingeschränkte Einwirkungsmöglichkeiten in umgekehrter Richtung gibt. So kann es passieren, daß die Macht der Kosmogenese als die der Entropie bzw. des Zerfalls durch die Evolution vorübergehend erfolgreich und diese ebenfalls vorübergehend erfolgreich durch die Geschichte bekämpft wird. Geschichte ist zwar abhängig von Evolution, und Evolution ist zwar abhängig von der Kosmogenese, aber Evolution ist gegenüber der Kosmogenese freier als diese, und Geschichte ist gegenüber Kosmogenese und Evolution freier als diese beiden. Deswegen ist Geschichte aber nicht absolut frei. Absolute Freiheit gibt es ohnehin nicht. Aber Geschichte kann etwas, was die anderen beiden Entwicklungsdimensionen nicht können: sie kann mit ihnen im Rahmen der eben erwähnten zusätzlichen relativen Freiheit „spielen“ und deren Synthese bilden - trotz der Tatsache, daß sie von beiden abhängig ist. Geschichte muß nicht, aber kann die Synthese aus Evolution und Kosmogenese bilden. Außerdem ist Geschichte eine Erweiterung der Evolution, die eine Erweiterung der Kosmogenese ist. Wenn Geschichte auf eine oder beide Einfluß nimmt, dann nenne ich dieses Ereignis auch „Metagenese“ (**), die, wie schon gesagt, in die entgegengesetzte Richtung (**) geht.

Am ehesten eignet sich gemäß meiner Theorie die Kultur dafür, ein System im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie zu sein, so daß dann für die Kultur logischerweise die Natur der gesamte Rest, also Umwelt wäre. Meiner Kulturtheorie zufolge besteht die Kultur aus mehreren Teilen (systemtheoretisch: Teilsystemen), und ich wähle jetzt die Historienkulturen und unter ihnen die abendländische Historienkultur aus, um zu zeigen, daß auch jede Historienkultur nicht wählen kann zwischen „irgendwelchen“ Erkenntnissen, sondern genau die immer wieder wählt, die sie von Anfang an gewählt hat, nämlich im abendländischen Falle solche, die den unendlichen Raum als das Tiefenerlebnis am Anfang dieser faustischen Abendlandkultur symbolisieren. Sie kann zwar innerhalb ihrer Selbstbezüglichkeit (systemtheoretisch: Selbstreferenz) wählen, also entsprechend ihrem Alter und ihrer jeweiligen Situation, aber sie kann nicht wirklich über sich selbst hinaus, folglich auch nicht wirklich sich selbst von außen beschreiben, sondern immer nur so tun, als könne sie das, und hoffen, daß sie dabei immer mehr Erkenntnisse gewinnt, was auch möglich ist, jedoch immer im Rahmen ihres kulturellen Eingeschränktseins (siehe oben). Also funktioniert dies auf ähnliche Weise wie in Luhmanns Systemtheorie beschrieben, gemäß der die zu Erkenntnissen führende Beobachtung (einschließlich Selbstbeobachtung) immer besser gelingt, weil sie von immer mehr Beobachtern auf immer mehr Ebenen vollzogen wird, was Luhmann „Beobachter erster Ordnung“, „Beobachter zweiter Ordnung“ u.s.w. genannt hat. Es sind aber - jedenfalls gemäß meiner Theorie - nur bestimmte Erkenntnisse, nämlich diejenigen, die immer wieder gewählt werden aufgrund der erwähnten Einschränkungen. Gewählt wird also - und zwar im spiralzyklischen Geschichtsrahmen - immer Gleiches oder Ähnliches, was als Neues „erkannt“ wird, obwohl es das nur innerhalb der erwähneten Rahmenbedingungen ist. Vorgegeben sind diese Rahmenbedingungen bezüglich der Kultur z.B. gemäß Spenglers und auch meiner Kulturtheorie durch das Ursymbol und das Seelenbild der jeweiligen Kultur, bezüglich der Welt z.B. gemäß Heidegger durch das In-der-Welt-Sein oder das In-dem-Sinngeschehensbereich-Sein, bezüglich der Gesellschaft z.B. gemäß Luhmanns Systemtheorie durch die Autopoiesis (Selbsterschaffung, Selbsterhaltung und Selbstreproduktion) und die Selbstreferenz der auf Sinn basierenden kommunikativen Systeme.

Wenn ich Physik und Chemie der Natur, Biologie und Ökonomie der Natur-Kultur, Semiotik und Linguistik der Kultur, Philosophie und Mathematik der Kultur-Natur zuordne, dann hauptsächlich wegen der größtmöglichen Referenz und Unterscheidbarkeit. Hierfür sind Unterdisziplinen wie Demographie, Soziologie und Psycholgie, um nur drei von mehreren Beispielen zu nennen, nicht geignet. Disziplinen, Unterdisziplinen, Unterunterdisziplinen u.s.w. verhalten sich ähnlich wie Subsysteme, Subsubsysteme, Subsubsubsysteme u.s.w., die ja wie alle anderen Systeme der Systemtheorie fast genau wie Monaden oder Spenglers Kulturen funktionieren. Die Kommunikation der Systeme untereinander ist kaum möglich, d.h. nur Organisationsysteme sind dazu fähig, weil „Organisationen die einzigen Sozialsysteme sind, die mit Systemen ihrer Umwelt kommunizieren können“ (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 842-843 **) - ansonsten gibt es unter Systemen nur gegenseitige Einflüsse durch Irritationen, z.B. als jeweilige Interpenetration oder strukturelle Kopplung. Meine Disziplinen, die ich auch „Welten“ nenne und damit die Heideggerschen „Bereiche eines Sinngeschehens“ (Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 1963, S. 54) meine, sind nicht so streng voneinander getrennt wie die Systeme gemäß der Systemtheorie, mit denen sie aber dennoch sehr viel Ähnlichkeiten haben; denn auch sie kommunizieren eigentlich nur mit Organisationen und werden beeinflußt auch nur durch Irritationen, z.B. als jeweilige Interpenetration oder strukturelle Kopplung; also kann eine Interdisziplinarität aufgrund der Unmöglichkeit, direkt miteinander zu kommunizieren, nicht wirklich zustande kommen; und da ich diese Disziplinen ja auch als „Welten“ bzw. „Bereiche eines Sinngeschehens“ verstehe, befinden sich deren „Teilnehmer“ sozusagen auf jeweils einer dieser sinnhaften „Inseln“, zwischen denen sie gelegentlich mit den „Segelbooten“ der Organisationen hin und her pendeln.

Je komplexer diese Disziplinen („Welten“, „Sinngeschehensbereiche“) werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß sie zu solchen Phänomen werden („sich ausdifferenzieren“, wie Luhmann jetzt sagen würde [**]), die Luhmann zufolge „Funktionssysteme“ (**) heißen und besondere, nämlich funktionale Teilsysteme sind.

Hallig Südfall
Es könnte dann auch zur Gewohnheit geworden sein, daß die oben erwähnten „Segelboote“ der Organisationen nur noch zu solchen „Inseln“ fahren, die von ihnen und den Funktionssystemen selbst bevorzugt werden. Und genau das ist der Fall in unserer abendländischen Moderne. Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es eine den gesamten Globus beherrschende Kultur - die abendländische -, die „Weltkultur“, „Weltgesellschaft“ oder sonstwie genannt werden mag; diese ist aber als Gesamtsystem zu funktional differenziert, zu schwach, um seine funktional ausdifferenzierten Teilsysteme wirklich beherrschen zu können, und es fehlt ihr ein äußerer Beobachter, so daß sie diesen Fremdbeobachter selber spielen muß, also so, als wäre sie einer, obwohl sie nur ein Selbstbeobachter ist.
Natur und Kultur
Es gibt keinen Gott oder einen sonstigen Beobachter von außen mehr, also muß sich dieses Gesamtsystem ohne äußeren Beobachter selbst beobachten, selbst beschreiben, selbst erkennen, während es ansonsten nur hoffen kann, daß seine Teilsysteme alles richtig machen. Doch ein Teilsystem ist eben kein Gesamtsystem. Wenn aber die Kultur, wie ich sie verstehe, auch als ein Gesamtsystem im Sinne Luhmanns verstanden werden kann, dann bedeutet diese Schwäche, diese zu geringe Macht, daß in dieser Kultur die Zivilisation dominant geworden ist, was gleichbedeutend mit Untergang ist, der sich z.B. politisch und rechtlich als Zunahme von Anarchie, wirtschaftlich und künsterisch sowie technisch und wissenschaftlich als Zunahme der Bedeutung von Geld und Reichtum bzw. Wohlstand äußert mit der Konsequenz, daß z.B. erkenntnistheoretisch kaum noch anderes hinzugewonnen werden kann als eine Erkenntnis, die auf fatale Weise mit eben jener Zunahme von Anarchie bei gleichzeitiger Zunahme an Gier nach Geld, Reichtum bzw. Wohlstand zu tun hat. Der die Erkenntnisfähigkeit eingrenzende Rahmen eröffnet durch eben jene Eingrenzung auch Chancen, weil er spezielle Erkenntnisse enorm zu steigern vermag. Außerdem können diese speziellen Erkenntnisse, allerdings erst nach relativ langer Zeit, nämlich durch einen Neubeginn bewirkt, andere, vielleicht sogar wirklich neue Erkenntnisse befruchten. Die Finalursache für die Schließung könnte sogar die spätere Öffnung sein, so daß sich sagen läßt, daß die durch den Rahmen gesetzte Einschränkung nur geschieht, weil durch sie Energie in Form von Erkenntnis gespeichert wird, die in der Folge freigesetzt werden kann, um der Erkenntnis „Leben“ einzuhauchen. Dieser Mechanismus ähnelt nicht zufällig einem Muskel, besonders dem Herzmuskel, d.h. einem Muskel des Zeichens von „Leben“ und „Liebe“ (  ).

Ja, auch eine „geneigte Achse“ und einen „Äquator“ sowie ein „Magnetfeld“ muß meine Quadrialistische Erkenntnistheorie als „Himmelskörper“ beachten, auch und besonders dann, wenn sie nicht ohne meine Allgemeine Entwicklungstheorie (**) auskommt. So wie die drei anderen Theorien (**) ist auch sie einem gesamttheoretischen „Zentralgestirn“ untergeordent, mit dem diese vier mehr oder weniger „synchronisiert“ sind, um in der kosmologischen Methaphorik zu bleiben. Sie zeigen diesem „Zentralgestirn“ immer dieselbe Seite - mehr oder weniger. Um bei dem Beispiel meiner quadrialistischen Erkenntsnistheorie zu bleiben, so läßt sich sagen, daß aufgrund der „geneigten Achse“, die besonders für diese Theorie eine große Rolle spielt, ihre zwei „kalten Zonen“ sowohl in der West- als auch in der Ost-Hemisphären und ihre zwei „tropischen Zonen“ sowohl in der Nord- als auch in der Südhemisphäre „wandeln“, vorübergehend „zuhause“ sein können. Das ist auch darum wichtig, weil - durch die „Synchronisation“ bedingt - ursprünglich nur die sich dem „Zentralgestirn“ zeigende eine Seite von der Entwicklung betroffen war und erst aufgrund der wegen der „geneigten Achse“ entstehenden „Kreiselbewegung“ für eine solche Abwechslung sorgen kann, daß die „dunkle Seite“ auch, allerdings nur auf ihre Art zur Entwicklung kommt. Mit anderen Worten: Die Kultur war anfangs nicht selbständig, sondern noch abhängig von der Biologie, also der Natur direkt ausgeliefert, entwickelte dann aber aufgrund der entstandenden „Achsneigung“ die Ökonomie (Wirtschaft), wodurch dann alle weitere Entwicklung bis dahin gehen konnte, wo wir heute sind. Gleichzeitig verlief der metagenetische Prozeß auf ähnliche Art, nur waren hier die betroffenen Bereiche nicht Biologie (mit dem Zwischenschritt Kultur) und Ökonomie, sondern Physik und Mathematik und die Richtung die entgegengesetzte. Diese Parallelität sorgte dafür, daß von der natürlichen Seite die Genese auf den Bereich Ökonomie-Semiotik-Linguistik-Philosophie-Mathematik und die Metagenese auf den Bereich Mathematik-Philosophie-Linguistik-Semiotik-Ökonomie erweitert werden konnte. Einfacher gesagt. Vorher gab es z.B. Amöben und deren Kultur war noch rein natürlich, doch als die Ökonomie durch eben jene „Achsneigung“ mit einer Hälfte hinzukam, waren bereits erste komplexere Kulturen entstanden; denn gleichzeitig kam ja die Mathematik aus demselben Grund hinzu, sodaß der Geist Einzug halten konnte und mit seiner Komplexität beide - Mathematik (Geist, Kulturnatur) und Ökonomie (Wirtschaft, Naturkultur) - so aufeinander zugehen und sich erstmals am Revier der Kultur (Sprache), nämlich an der „östlichen Hemisphäre“ des „Äquators“, treffen konnten, daß dabei die erste von der Natur relativ unabhängige Kultur „geboren“ werden konnte; denn, wie gesagt, vorher war jede Kultur völlig abhängig von der Natur.

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Chemie und Linguistik Wirtschaft und Mathematik
Die in den Darstellungen angegebenen Begriffe sind als „Disziplinen“ nicht etwa „universitär“ zu verstehen, sondern bedeuten „Welten“ bzw. Systeme mit ihren jeweiligen Subbereichen. Ich gehe von zwei ursprünglichen Welten aus: Natur und Kultur, wobei die Natur nicht eher da war, sondern die Kultur von Anfang an beherrscht hat, bis eben zu jenem oben angesprochenen Zeitpunkt (**), an dem die Kultur ihre erste relative Freiheit erhielt und also die Natur sie nur noch relativ beherrschen konnte. Natur und Kultur sind also nicht wie Adam und Eva entstanden, sondern waren von Anfang an da. Aber eine von ihnen war von Anfang an mächtiger. Ob das ewig so bleiben wird, ist möglich und wahrscheinlich, aber es kann auch sein, daß sich das irgendwann umdreht. Steht nun aber diese eingeschränkte Freiheit mit der eingeschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeit im selben Zusammenhang?

 
U r s a c h e n   o d e r   G r ü n d e   f ü r   d i e   e i n g e s c h r ä n k t e   m e n s c h l i c h e   E r k e n n t n i s f ä h i g k e i t
Quadrialismus =>
Natur
(Anorganische Ursachen)
Natur-Kultur
(Organische Triebe)
Kultur
(Seelische Motive)
Kultur-Natur
(Geistige Gründe)
Kant
Sinne, Verstand und Vernunft des Menschen sind nicht in der Lage, das Ding an sich zu erkennen. Es gibt also Unerkennbares (Transintelligibles).
Spengler
Wegen eines auf die Raumtiefe bezogenen Erlebnisses schränken das Ursymbol und das Seelenbild einer Kultur die Erkenntnisfähigkeit kulturell ein.
Heidegger
Die Geworfenheit als Faktizität, d.h. als unentrinnbares Überantwortetsein des Daseins an sein eigenes In-der-Welt-Sein, schränkt die Erkenntnisfähigkeit ein.
Luhmann
Die Selbstreferenz der Systeme schränkt die Erkenntnisfähigkeit ein. Der blinde Fleck des Beobachters kann zwar korrigiert, aber nicht vernichtet werden.
Luhmanns
Systemtheorie =>
Physikalisch-chemische Systeme
(Nicht-sinnhafte Systeme)
Lebende Systeme (autopoietisch)
(Nicht-sinnhafte Systeme)
Psychische Systeme (autopoietisch)
(Sinnsysteme)
Soziale Systeme (autopoietisch)
(Sinnsysteme)

D i e   L u h m a n n s c h e   G e s e l l s c h a f t   u n d   i h r e   U m w e l t e n .
Die Luhmannsche Gesellschaft und ihre Umwelten

S y s t e m e   ( a u f   a c h t   E b e n e n   u n d   i n   v i e r   Q u a d r i a l i s m e n )   g e m ä ß   m e i n e m   M o d e l l .
Systeme

Die „sozialen Systeme“ und die „psychischen Systeme“ Luhmanns kommen in meinem Modell nicht vor bzw., weil sie gemäß Luhmann „Sinnsysteme“ sind, stecken sie gemäß meinem Modell in den „sinnhaften Systemen“, genauer sowohl in den „ökonomischen Systemen“ als auch in den „sprachlichen Systemen“ und in den letzteren wiederum sowohl in den „semiotisch-linguistischen Systemen“ als auch in den „logisch-mathematischen Systemen“. Beispielsweise gilt das „Geld“ Luhmann zufolge als ein „symbolisch-generalisiertes Medium“ (**) des „Funktionssystems Wirtschaft“, eines „Subsystems“ der „Gesellschaft“, also der „kommunikativen Systeme“ bzw. der „sozialen Systeme“; doch in meinem Modell gehört das „Geld“ als Symbol zum „semiotischen System“, innerhalb dessen es ebenfalls sowohl ein „Funktionssystem Wirtschaft“ als auch ein zu ihm gehöriges „symbolisch-generalisiertes Medium“ namens „Geld“ gibt. Der Unterschied zwischen Luhmanns und meinem Modell besteht nur in der Begrifflichkeit, die allerdings auch zu unterschiedlichen Konsequenzen führt.
Kants Erklärung dafür, warum die menschliche Erkenntnisfähigkeit eingeschränkt ist, ist garantiert richtig und das Fundament für alle weiteren Erkärungen, die nur noch Ergänzungen zu Kants 1781 veröffentlichte Feststellung und darum auch mehr auf die Kultur als auf die Natur bezogen nur noch sein können. Alle hier erwähnten vier Begründungen für die Einschränkung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit beziehen sich nicht direkt auf die anorganische Natur (sie ist also nicht die Ursache für die Einschränkung), sondern auf das Organische, die Sinne, die Neurologie von Verstand und Vernunft (**), auf das Tiefenerlebnis, das kulturelle Seelenbild, das kulturelle Ursymbol (**), auf das unentrinnbare Überantwortetsein an das eigene In-der-Welt-Sein (**), auf die Autopoiesis und die Selbstbezüglichkeit der Beobachter (Stichwort: „Blinder Fleck“), der Gesellschaft (**). Wahrscheinlich kennt jeder von uns auch eigene Erlebnisse, Sinngeschehnisse oder Selbstbezüglichkeiten, die bestimmte Erkenntnisse verhinderten, wenn auch vielleicht nur vorübergehend: es war eine Einschränkung. In diesem Sinne sind auch die Begründungen, die Spengler, Heidegger und Luhmann für die Einschränkung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit uns über ihre literarischen Werke (im Falle Heideggers und Luhmanns sogar auch über Filme) vermittelt haben, zu verstehen. Übrigens läßt sich besonders aus Spenglers und Luhmanns Begründungen herauslesen, daß auch das jeweilige Interesse wichtig für Erkenntnis und Erkenntnisfähigkeit ist. Im Falle Spenglers geht das u.a. zurück auf den unergründlichen Willen gemäß Schopenhauer und speziell auf den Willen zur Macht gemäß Nietzsche. Im Falle Luhmanns geht das zurück auf die Autopoiesis gemäß Maturana, womit nämlich nicht nur die Selbstproduktion, sondern auch die Selbstreproduktion der Systeme angesprochen ist, was Peter Mersch dazu veranlaßt hat, das Reproduktionsinteresse so sehr zum Hauptmotiv oder gar zum alleinigen Motiv, und zwar auch und besonders im Hinblick auf Erkenntnis und Erkenntnisfähigkeit, zu machen (**), daß er sich hierbei ebenfalls auf den Willen bei Schopenhauer und speziell den Willen zur Macht bei Nietzsche zu beziehen scheint.

Der in der Tabelle (**) angestrengte Versuch einer Analogiebildung zwischen meinem auf Hartmanns Kategorien- bzw. Schichtenmodell (**) zurückgehenden und mit diesem dennoch nicht völlig deckungsgleichen Modell eines Quadrialismus (**) einerseits und Luhmanns Modell der Systeme (**) andererseits kann nur dann als gelungen gelten, wenn man absieht von der nicht ganz zutreffenden Analogie zwischen Hartmanns, Luhmanns und meinem Modell. Außerdem sind die Begrifflichkeiten und deren Relationen jeweils anders. Für mich sind sowohl die sozialen als auch die psychischen Systeme sprachliche (im umfassendsten Sinne!) Systeme, weshalb ich also auch z.B. das sogenannte „Handeln“ und „Verhalten“ als semiotisch-linguistische Zeichen und die Kommunikation als semiotisch-linguistische Sprache und somit auch als reine Kultur deute, was nach meinem Dafürhalten wissenschaftlich und also auch erkentnistheoretisch viel ergiebiger ist als jede andere Deutung. Außerdem dienen Wörter wie z.B. „sozial“ und „psychisch“ subjektiven Schuldzuweisungen (**|**|**), Schlechtes-Gewissen-Machen, Ausbeutungen (auch und besonders im Zusammenhang mit eben jenen Schuldzuweisungen, Schlechtes-Gewissen-Machen, also bis hin zur Selbstausbeutung [**]), Zwangskonsensualismus und anderen modernen Negativismen bzw. zivilisationistischen Nihilismen, mit denen wir es zunehmend zu tun haben. Leider hat auch Luhmann Wörter wie „sozial“ und „psychisch“ verwendet und natürlich nicht ihre eigentliche Bedeutung genannt, auch darum nicht, weil er, wenn er es versucht hätte, die mit den beiden Wörtern im Zusammenhang stehenden Wörter, Terme, Begriffe, Begrifflichkeiten aus eben diesem Zusammenhang hätte herausreißen müssen. Allein schon auf die Frage, was das Wort „soziales“ in dem Term „soziales System“ bedeutet oder was das Wort „psychisches“ in dem Term „psychisches System“ bedeutet, hat Luhmann nie eine Antwort gegeben - aus verständlichen Gründen. Aus diesen und noch einigen anderen Gründen können Luhmanns und mein Modell nicht völlig problemlos analogisiert werden. Das ist aber im Hinblick auf die obige Tabelle (**) deswegen nicht schlimm, weil es mir bei ihr insbesondere um die Verdeutlichung geht, daß es verschiedene organische Triebe, verschiedene seelische Motive und verschiedene geistige Gründe für die Einschränkung der Erkenntnisfähigkeit geben kann und auch gibt, ja geben muß. Das im Hinblick auf die organische Evolution Entscheidende für die Einschränkung der Erkenntnisfähigkeit hat Kant schon gesagt; die seelischen Motive und die geistigen Gründe für die Einschränkung der Erkenntnisfähigkeit, die nach meinem Dafürhalten ebenfalls berücksichtigt werden sollten, können verschiedene sein, sind verschiedene, ja müssen verschiedene sein.

Das zu meinem Modell entworfene Schema (**) ist nicht vollständig, weil es sich hauptsächlich auf die zum Teil problematische Analogie zu Luhmanns Modell, also auf die „Sinnsysteme“ (siehe: „Sinnhafte Systeme“ auf den Ebenen 5 bis 8) bezieht und darum nicht alle Platzierungen auf den Ebenen berücksichtigt sind, denn eigentlich sind auch die Ebenen 6 , 7 und 8 vollständig mit Systemen belegt.

Das sogenannte „Soziale“ und das sogenannte „Psychische“ werden erst durch Interpretationen und vor allem Interesse oder Desinteresse (vgl. Macht) an diesen Interpretationen zu „Sozialem“ und „Psychischem“; und besonders in diesen beiden Bereichen ist die Mißbrauchsrate wegen der Machtinteressen stets sehr hoch. Luhmanns Beobachter ist ja ein Entscheider und Bezeichner und deswegen auch ein Interpret. Aber wenn er sich nicht mehr auf nahezu willkürliche Deutungen sehr abstrakter Begrifflichkeiten, sondern auf rein sprachliche (im weitesten Sinne!) Formen, wie sie in der Semiotik, Linguistik, Logik (Philosophie) und Mathematik vorherrschen, beziehen muß, ist von vornherein klar, daß es eben um solche Formen geht und nicht um angeblich durch „Empirie“ ermittelte, also in Wirklichkeit durch gefälschte Statistiken und Medienpropaganda vermittelte „Wahrheiten“ (mit diesem Wort soll ebenfalls, zusätzlich das Ziel durch Propaganda erreicht werden, neuerdings auch mit Wendungen wie „wissenschaftlich bewiesen“ oder „Forscher haben herausgefunden, daß ...“ oder „Experten sagen, daß ...“), die ja dennoch nur mittels Formen mitgeteilt werden können. Es ist außerdem nicht möglich, Soziologie und Psychologie zu Chemie und Physik zu machen, nicht einmal das Ähnlichmachen funktioniert. Soziologie und Psychologie sind keine Naturwissenschaften und auch keine Geisteswissenschaften, sondern etwas dazwischen (oft „Sozialwissenschaften“, selten „Seelenwissenschaften“ genannt); ihnen fehlt das wissenschaftliche Objekt; nicht zuletzt deshalb sind sie gemäß meinem Modell keine wissenschaftlichen Disziplinen, sondern Unterdisziplinen.
Da sie also ohnehin einen niedrigen Wissenschaftswert und eine um so höhere Mißbrauchsrate haben, sollten sie im Status der Unterdisziplinarität bleiben oder/und wieder mehr dem Formalen untergeordnet werden. Wenn es um Formen geht, die von anderen Formen bewiesen oder widerlegt werden, also nicht oder kaum (je weniger, desto besser) auf etwas anderes als Formen sich beziehen müssen, dann ist die Mißbrauchsrate niedriger. Das ist evident. Aber „Beweise“ durch Statistik, also Fälschung? Nein, danke! Es geht ja um die Menschen, wenn von „Sozialem“ und „Psychischem“ die Rede ist, also wird dann am meisten gelogen, denn die Machthaber wollen nicht irgendwelche, sondern „ihre“ Menschen, wollen also Menschen, die in „ihrem“ Sinne funktionieren. Ich aber sage, daß wir den Formen und also auch der Wissenschaft als Vernunft wieder so viel Macht zukommen lassen sollten, wie es das „Zeitalter der Vernunft“ so vehement gefordert hat; die Vernunft als unsere Zweitreligion wird entweder den Endsieg über unsere Erstreligion davontragen, oder wir werden sowohl auf natürliche als auch auf kulturelle Art aussterben. Die Vernunft ist für das Abendland das, was für das Morgenland der Islam ist. Ich finde, daß Luhmann sich für die Vernunft sehr, sehr stark gemacht hat (wie Hegel es viel früher schon getan hatte) und einen hohen Beitrag dazu geleistet hat, jene Mißbrauchsrate zu senken. Aber er hätte einen noch höheren Beitrag dazu geleistet, wenn er auf leider mittlerweile typsich gewordene soziologische und psychologische Begriffe bzw. das, was heute als typisch für „Psychologie“ und „Soziologie“ zu gelten hat, nicht nur teilweise, sondern ganz verzichtet hätte - vorausgesetzt, die Machthaber hätten das geduldet (hätten sie aber nicht!). Auch im „Funktionssystem Wissenschaft“ gibt es Diktatur, z.B. durch „politische Korrektheit“, also Zwangskonsensualismus, oder durch scheinbare und in Wirklichkeit ebenfalls gelenkte „Revolte“. Auch eine Abweichung von Luhmanns Systemdenken ist wahrscheinlich schon zur Wirklichkeit geworden: „Wenn Luhmann wirklich, wie manchmal behauptet wird, der Hegel des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dann wird sich das nicht zuletzt durch das Auftreten von Jungluhmannianern bewahrheiten, die sich mit einer erneuten existentialistischen Abweichung vom Systemdenken bemerkbar machen.“ (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 140-141 **). Wenn diese Analogie ganz genau zutrifft, dann dürften die ersten Jungluhmannianer ab 1960 geboren worden sein.

Der 1949 geborene Peter Mersch gehört also noch zu den „artigen“ Luhmannianern. „Die Luhmannsche Systemtheorie weist einige Ähnlichkeiten zur Systemischen Evolutionstheorie auf, da es sich bei beiden Ansätzen letztlich um Systemtheorien handelt. Allerdings bestehen in einigen entscheidenden Punkten (Begriff der Autopoiesis, Evolutionsprinzip, Zugehörigkeit von Menschen zu sozialen Systemen etc.) so große Differenzen, daß die beiden Ansätze als nicht miteinander kompatibel bezeichnet werden müssen.“ (**). Ist Peter Mersch also vielleicht gar nicht so sehr ein Luhmannianer? Er meint ja auch, „daß der Luhmannschen Systemtheorie aufgrund der vollständigen Auslagerung des Menschen aus den sozialen Systemen in deren Umwelten etwas ganz Entscheidendes verlorengegangen ist“ (**), während ich diese „Auslagerung des Menschen aus den sozialen Systemen“ wie auch den psychischen und organischen Systemen als einen Gewinn verbuche, weil es für den Menschen nur gut sein kann, wenn er hier nicht im Mittelpunkt steht, und zwar wegen der erwähnten hohen Mißbrauchsrate seitens der Machthaber, die ein Interesse daran haben, den Menschen zunächst in den Mittelpunkt zu stellen, um ihm anschließend Schuld zuzusprechen, ein schlechtes Gewissen zu machen, den Zwangskonsensualismus und andere diktatorische Maßnahmen durchzusetzen (**). Mersch hat außerdem nicht verstanden, was die „Auslagerung des Menschen aus den sozialen Systemen“ bedeutet. Sie bedeutet nicht, daß der Mensch gar nichts mit den sozialen Systemen zu tun hat, denn gemäß Luhmanns Systemtheorie ist der Mensch über Irritation, z.B. als Interpenetration oder strukturelle Kopplung, mit den sozialen als den kommunkativen (für mich also: sprachlichen) Systemen verbunden, obwohl er ansonsten mit ihnen nichts zu tun hat - und das ist auch gut so (**). Darum kann man auch die Namen dieser Systeme problemlos ändern, so wie ich es getan habe (**|**|**|**). Mersch muß auf sein „Akteurbasiertheits“-Konzept aber trotzdem nicht verzichten, sondern es nur relativieren - schließlich ist der Mensch einerseits viel zu komplex, um nur in eines der autopoeitischen Systeme gepreßt zu werden, und andererseits als einzelner Evolutions-„Akteur“ sowieso ziemlich überschätzt, denn er ist so etwas wie ein Rudeltier, jedenfalls ein Gemeinschaftswesen, tut also meistens sowieso nur das, was man so tut (vgl. Heideggers „Man“). Der Mensch „ist nicht mehr Maß der Gesellschaft“ (**) und gehört aus der Sicht aller autopoietischen Systeme zur Umwelt.

Also gehört der Mensch auch sogar von seinem Organismus her gesehen zur Umwelt. Denn mit dem Wort „Mensch“ ist ja mehr gemeint als nur ein Organismus. Und was das Wort „sozial“ angeht, so läßt sich mit absoluter Sicherheit sagen, daß nicht alle und jede Kommunikation „sozial“ im Sinne der semantischen Verwendung dieses Wortes ist. Nicht nur für Luhmann geht es bei der Kommunikation um Information, Mitteilung und Verstehen. Kommunikation ist Sprache im Sinne einer sowohl semiotisch-linguistischen als auch logisch-mathematischen Sprache. Wörter wie z.B. „Mensch“, „sozial“, „psychisch“ sind wissenschaftlich und also auch erkenntnistheoretisch Hindernisse. Denn sie deuten bereits an, wohin die Semantikreise gehen soll. Mit ihnen ist etwas ganz anderes bezweckt, als der erste Eindruck vermitteln soll. Das Wort „Mensch“ ist immer mehr zu einer rhetorischen Waffe geworden, diejenigen Wörter, die mit dem Begriff des „Sozialen“ zu tun haben, sind sogar schon seit ihrem erstmaligen Gebrauch rhetorische Waffen (sie sind ja eben „moderne“ Wörter), und genauso verhält es sich mit denjenigen Wörtern, die mit dem Begriff des „Psychischen“ zu tun haben.

Der Unterschied zwischen der Kybernetik und der Systemtheorie ist der zwischen der innerhalb bestimmer Variationsgrößen (Differenzen) sich ereignenden Stabilisierung des zu steuernden Systems (Regelkreises) und dem grundsätzlich bis in Unendliche reichenden Abweichungsverhalten als der Differenzierung von Stabilisierung. Gemäß der Kybernetik bezieht sich die Stabilisierung auf einen innerhalb eines relativ geringen Ausmaßes zwar veränderbaren und ansonsten eher als gleichgewichtig zu bezeichnenden Zustand, während es gemäß der Systemtheorie eher umgekehrt ist, weil in ihr eher eine Instabilisierung vorherrscht oder zumindest ständig droht, jedenfalls insofern, als ein ständiges Abweichungsverhalten als eine ständige Differenzierung von der Stabilisierung stattfindet, eine Stabilisierung also nur sehr kurzfristig erreicht werden kann (ständig folgt auf Zerfall Neuaufbau, auf Entropie Negentropie, auf Chaos Ordnung). Die Temporalisierung der Systemkomplexität bedeutet die laufende Wiederherstellbarkeit und Wiederherstellung der reduzierten Systemkomplexität. Systeme sind basal unruhig und strukturell ruhig und unruhig zugleich. Die Zunahne der Komplexität führt Beschränkungen der Erweiterung des Systems mit sich: Kein System kann eine willkürliche und unbestimmte Zunahme seiner Komplexität aushalten. Darum werden Grenzen gezogen, die Teilsysteme erzeugen. Die heutige Gesellschaft erzeugt wegen ihrer Differenzierungsform sehr viel höhere Komplexität als die früheren Gesellschaften. Gerät ein System an einen Zufall, der stärker ist als die Kapazität der Komplexitätsreduktion, geht es im Zufall zugrunde.

Wahrscheinlich könnten wir mehr bzw. besser erkennen, wenn wir mehr bzw. bessere Sinne sowie mehr bzw. besseren Verstand und mehr bzw. bessere Vernunft hätten, wenn wir nicht durch kulturelle Monaden, nicht durch ein Sein im Unentrinnbaren, nicht durch eine auf Irritation bzw. Interpenetration oder strukturelle Kopplung beruhende Vernetzung mit dem blinden Fleck eines Systems (Beobachters) in unserer Erkenntnisfähigkeit eingeschränkt wären. Aber auch das können wir aufgrund mangelnder Erkenntnisfähigkeit nicht ganz genau wissen, sondern nur tendenziell. Wir können unsere Erkenntnisse erweitern, ob wir es tun, hängt von vielem ab, aber ganz sicher nicht von einem linear oder gar progressiv verlaufenden Fortschritt. Meine starke Vermutung ist, daß im bisherigen Verlauf der Evolution unserer Erkenntnis die meiste Zeit damit verbracht worden ist, höhere Erkenntnis zu vermeiden oder gar zu bekämpfen. Ich unterstütze Heideggers Aussage, daß man dem „Man“ (**), das „die Seinsart des Alltäglichkeit“ (**) vorschreibt, verfallen ist, mehr Zeit dem „alltäglichen Selbstsein“ (**) widmet als der Erkenntnis, jedenfalls der des höheren Grades, wo „das Man seine eigentliche Diktatur“ (**) nicht entfalten kann, weil es doch z.B. „Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit“ (**) diktiert. Trotzdem oder sogar deswegen hat die Welteroberung funktioniert. Man ist in der Welt, die man erobert hat. Jedenfalls gilt das für den Abendländer. Auf die Welteroberung folgt unweigerlich die Weltherrschaft. Luhmanns Aussage, daß unsere moderne Gesellschaft als die „funktional differenzierte Gesellschaft“ (**) eine „Weltgesellschaft“ (**) ist, unterstütze ich ebenfalls, allerdings nur bei gleichzeitigem Verweis auf die historische Tatsache, daß es diese moderne, funktional differenzierte, weltliche Gesellschaft nur wegen der abendländischen Kultur gibt, von ihr auch immer noch beherrscht wird, also eine abendländische, ja sogar eine typisch abendländische „Weltgesellschaft“ ist. Darum unterstütze ich besonders Spenglers Aussage, daß es kein Wunder ist, wenn eine Kultur, deren Seelenbild „faustisch“ (**) ist und deren Ursymbol den „unendlichen Raum“ (**) bedeutet, die Welt erobert hat, frei nach dem Motto „Ausdehnung ist alles“ (**). Hat es ihr erkenntnistheoretisch viel genützt? Auch dann, wenn die Welt von den mit weitem Abstand intelligentesten und folglich auch erkenntnisfähigsten Menschen - den Abendländern - beherrscht wird, spricht das nicht unbedingt dafür, daß dies immer so weitergeht, kein Ende hat; denn es ist doch schon seit langem erkennbar, daß besonders die intelligentesten Abendländer, also die intelligentesten der intelligentesten Menschen, immer weniger Kinder haben, sich also dem Aussterben nähern. Warum reicht die menschliche Erkenntnis auch hier nicht aus, um dem entgegenzuwirken? Oder ist das gar nicht nötig? Ist ein Leben ohne Intelligenz vielleicht besser? Oder ist das doch nur das öde Leben linker Menschen? Wenn auch die intelligentesten Menschen aussterben, dann bedeutet das doch entweder, daß es evolutionsmäßig auf Intelligenz und also auch auf Erkenntnis gar nicht ankommt, was aber durch die Evolutionstheorie gar nicht bestätigt wird, oder, daß es keine aureichende Intelligenz und also auch keine ausreichende Erkenntnisfähigkeit gibt, denn wenn es sie gäbe, würden die Abendländer mehr Kinder haben als sie tatsächlich haben. Also ist Kants Aussage, daß die Erkenntnisfähigkeit des Menschen schon von Natur aus eingeschränkt ist, unbedingt zuzustimmen; denn: „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauungen zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.“ (**). Menschliche Erkenntnis ist schon von Natur aus eingeschränkt. Dazu kommt, daß z.B. die Moral diese Einschränkung fördert und fordert: „Die Moral hat ja auch eine schlechte Seite, fordert dann aber als Moral, daß man sich gegen das Schlechte wendet“ (**), so Luhmann. Was ist in evolutionärer Hinsicht mächtiger: die Erkenntnis oder die Moral? Diese Frage lasse ich unbeantwortet, sie ist nämlich auch gedacht für die im folgenden Text vorgestellte Evolutionäre Erkenntnistheorie.


Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) Evolutionäre Erkenntnistheorie

„Die Evolutionäre Erkenntnistheorie betrachtet das menschliche Erkenntnisvermögen als eine Fähigkeit, die wir im Laufe der Evolution erworben haben. Auch mit diesem Vermögen haben wir uns an unsere Umwelt angepaßt. Den Ausschnitt der realen Welt, an den wir kognitiv angepaßt sind, nennen wir Mesokosmos. Er ist - in Analogie zur ökologischen Nische - die kognitive Nische des Menschen. Er ist räumlich dreidimensional; bei Entfernungen reicht er von Millimetern (»Haaresbreite«) zu Kilometern (Tagesmarsch), zeitlich vom subjektiven Zeitquant (etwa 1/20 Sekunde) zum eigenen Lebensalter, von Gramm zu Tonnen, von Stillstand zur Geschwindigkeit eines geworfenen Steins, von gleichförmiger Bewegung (Beschleunigung Null) zur Sprinter- oder Erdbeschleunigung, vom Gefrier- bis zum Siedepunkt des Wassers, von Komplexität Null (unzusammenhängender Staub) bis zu linearen Systemen und damit auch zu linearer Kausalität. Dagegen gehören elektrische und magnetische Felder nicht zum Mesokosmos: Sie sind zwar, wie das Erdmagnetfeld zeigt, makroskopisch; wir haben jedoch kein Sinnesorgan für sie und können sie deshalb nicht »unmittelbar« wahrnehmen.“ (Gerhard Vollmer, Die Evolution entläßt ihre Kinder - geht das überhaupt? , in: Kulturelle Vererbung, Hrsg: Klaus Gilgenmann, Peter Mersch, Alfred K. Treml, 2010, S. 35 **).

„Die Evolutionäre Erkenntnistheorie (vgl. Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 1994) geht in ihrer realistischen Variante davon aus, daß es eine reale Welt gibt, deren Objekte zunächst auf die Sinnesorgane projiziert werden. Im Erkenntnisprozeß wird dann versucht, die Objekte aus ihren Projektionen zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion bleibt jedoch stets hypothetisch. Mit anderen Worten: Alles Tatsachenwissen ist hypothetisch. Daß dennoch eine gute Passung der Erkenntnisstrukturen zur Realität besteht, ist gemäß der Evolutionären Erkenntnistheorie eine Folge von Evolution: »Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der biologischen Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte. Sie sind individuell angeboren und somit ontogenetisch a priori, aber stammesgeschichtlich erworben, also phylogenetisch a posteriori. .... Die Evolutionäre Erkenntnistheorie deutet die Passung unserer kognitiven Strukturen als Ergebnis eines Selektionsprozesses, einer evolutiven Anpassung. Nicht nur Sinnesorgane, Zentralnervensystem und Gehirn sind Evolutionsprodukte, sondern ebenso ihre Funktionen: Sehen, Wahrnehmen, Urteilen, Erkennen, Schließen.« (Gerhard Vollmer, Biophilosophie, 1995, S. 120 f.).“ (Peter Mersch, Systemische Evolutionstheorie, 2012, S. 89 **).

Das mag so sein, obwohl hier rasch der Gedanke an einen Zirkelschluß (Circulus Vitiosus) aufkommt, weil ja behauptet wird: „Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese Welt herausgebildet haben.“ (**). Das ist ähnlich wie: „Wir sind Gottes Geschöpfe, weil Gott uns geschöpft hat.“ Eine Seinsform („die subjektiven Erkenntnisstrukturen“ **) wird mit einer Werdensform (die Herausbildung „im Laufe der Evolution in Anpassung an diese Welt“ **), also das Sein mit dem Werden erklärt. Zwar ist hier mehr das „Ergebnis gemeint, aber das ist nicht neu. So lautete Friedrich W. Nietzsches metaphysische These: Alles, was ist, auch das menschliche Erkennen, ist Erscheinungsform des Willens zur Macht; es gibt kein absolutes Sein, sondern Sein ist Werden, aber kein endloses Neuwerden, sondern „ewige Wiederkehr“ dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist - „die ewige Sanduhr wird immer wieder umgedreht“ (**) -; das identische Ich ist eine Fiktion ebenso wie das wahre Sein. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie sollte also - bitte - nicht mit einem Zirkelschluß „argumentieren“ und „um den heißen Brei herumreden“, sondern so wie zuvor z.B. Nietzsche trotz der Abneigung gegenüber der Metaphysik eine metaphysische These aufstellen: Sein ist Werden. Auch Heraklit hätte sich darüber gefreut!

„Der Ansatz der Systemischen Evolutionstheorie (**) unterscheidet sich in der genannten Fragestellung nur unwesentlich von der Evolutionären Erkenntnistheorie. Beispielsweise ist für sie der menschliche Erkenntnisapparat ein Ergebnis der biologischen und der soziokulturellen Evolution. Ferner entstanden in ihrer Auffassung die Erkenntnisstrukturen nicht nur durch Anpassungen an die reale Welt und im Rahmen eines Selektionsprozesses, sondern vor allem in Übereinstimmung mit den Reproduktionsinteressen .... Anders gesagt: Erkenntnis ist immer auch interessengeleitet.“ (Peter Mersch, Systemische Evolutionstheorie, 2012, S. 90 **).

„Wahrheit hat ganz massiv etwas mit Interessen zu tun. Wissenschaftliche Ergebnisse kommen nicht durch den
Wahrheitswillen der Wissenschaftler, sondern durch ihr Kompetenzerhaltungsinteresse zustande (dies wiederum
ist eine Kernaussage der Systemischen Evolutionstheorie zum Erkenntnisgewinn). Anders wäre es nicht erklärbar,
daß Mediziner fundamental falsche Aussagen verbreiten und als allerneuesten Forscherstand verkaufen,
von denen jederzeit leicht nachprüfbar ist, daß sie falsch sind, wie es falscher nicht geht.“
(Don Quijote [Pseudonym], 24.08.2012, 11:37 [
**|**]).

Ob man die Systemische Evolutionstheorie sogar in jedem Fall als eine der Evolutionären Erkenntnistheorie untergeordnete Theorie verstehen kann, ist nicht sicher, aber der Einfachheit halber unterstelle ich das einmal.

Halten wir also bezüglich der Evolutionären Erkenntnistheorie und auch der ihr ähnlichen und erkenntnistheoretisch ihr untergeordneten Systemischen Evolutionstheorie fest: Sein ist Werden - sowohl natürlich als auch kulturell und in Übereinstimmung mit den Reproduktionsinteressen -, und das gilt auch für die Erkenntnis (wie schon im letzten Abschnitt gesagt [**]). In diesem Sinne ist also die Erkenntnis stets ein interessengeleiteter Erkenntnisprozeß.


Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) Digitale Erkenntnistheorie - werden wir die bald nötig haben?

Byung-Chul Han

Der aus Korea stammende Byung-Chul Han glaubt, daß wir „eine neue, ja eine digitale Anthropologie, eine digitale Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie“ (Han) brauchen. „Wir brauchen eine digitale Sozialphilosophie und Kulturphilosophie“ (Han). Um genauer zu verstehen, wie er das begründet, ist es ratsam, den dazugehörigen Text - ein Gespräch mit dem Titel: „Der Eros besiegt die Depression“, in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 61-65 - zu lesen. Folgend ist er in nur etwas verkürzter Form dargestellt (lassen Sie sich von der ostasiatischen Mentalität nicht irritieren!):

P.-M.: „Was ist denn überhaupt das Problem an der neoliberalen Leistungsethik?

Das Problem ist, daß sie so listig ist und dadurch so verheerend effizient. Ich will Ihnen erzählen, worin diese List besteht. Karl Marx hat eine Gesellschaft kritisiert, die durch eine Fremdherrschaft regiert wurde. Im Kapitalismus wird der Arbeiter ausgebeutet, und diese Fremdausbeutung stößt ab einem bestimmten Produktionsniveau an ihre Grenzen. Ganz anders die Selbstausbeutung, der wir uns heute freiwillig (bedingt freiwillig [**]; HB) unterwerfen. Die Selbstausbeutung ist grenzenlos! Wir beuten uns freiwillig aus, bis wir zusammenbrechen. Wenn ich scheitere, mache ich mich selbst für dieses Scheitern verantwortlich. Wenn ich leide, wenn ich pleitegehe, dann bin nur ich selbst schuld. Selbstausbeutung ist eine Ausbeutung ohne Herrschaft, denn sie geschieht völlig freiwillig. Und weil sie unter dem Zeichen der Freiheit steht, ist sie so effektiv. Niemals bildet sich ein Kollektiv, ein »Wir«, das sich gegen das System erheben könnte.

Sie diagnostizieren unsere Gesellschaft mit Hilfe des ungewöhnlichen Begriffspaars von Positivität und Negativität. Und stellen dabei die verschwindende Negativität fest. Wozu soll Negativität gut sein? Und was verstehen Sie überhaupt unter Negativität?

Die Negativität ist etwas, das eine immunologische Abwehrreaktion hervorruft. So ist der Andere das Negative, das in das Eigene eindringt und dies zu negieren, zu zerstören sucht. Ich habe behauptet, daß wir heute in einem postimmunologischen Zeitalter leben. Die psychischen Erkrankungen von heute wie Depression, ADHS oder Burnout sind keine Infektionen, die durch eine virale oder bakterielle Negativität verursacht werden, sondern Infarkte, für die das Übermaß an Positivität verantwortlich ist. Die Gewalt geht nicht nur von der Negativität, sondern auch von der Positivität aus, nicht nur vom Anderen, sondern auch vom Gleichen. Die Gewalt der Positivität oder des Gleichen ist eine postimmunologische Gewalt. Krank macht die Fettleibigkeit des Systems. Es gibt bekanntlich keine Immunreaktion auf das Fett.

Inwiefern hat die Depression mit der verschwindenden Negativität zu tun?

Die Depression ist ein Ausdruck des krankhaft gesteigerten narzißtischen Selbstbezugs. Der Depressive versinkt und ertrinkt in sich. Ihm ist der Andere abhandengekommen. Haben Sie Lars von Triers Film »Melancholia« gesehen? An der Protagonistin Justine zeigt sich, was ich meine: Sie ist depressiv, weil sie total erschöpft, zermürbt ist von sich selbst. Ihre ganze Libido richtet sie auf ihre eigene Subjektivität, daher ist sie unfähig zur Liebe. Und dann, ja dann: Ein Planet erscheint, der Planet Melancholia. In der Hölle des Gleichen kann die Ankunft des ganz Anderen eine apokalyptische Form annehmen. Der todbringende Planet offenbart sich Justine als der ganz Andere, der sie aus dem narzißtischen Sumpf herausreißt. Sie blüht angesichts des todbringenden Planeten förmlich auf. Sie entdeckt auch die Anderen. So wendet sie sich fürsorglich Claire und ihrem Sohn zu. Der Planet entfacht ein erotisches Begehren. Eros als Beziehung zum ganz Anderen beseitigt Depression. Das Desaster bringt ein Heil mit sich. Das Desaster geht im übrigen auf das lateinische Wort »desdesatrum« zurück, das »Unstern« bedeutet. »Melancholia« ist ein Unstern.

Sie meinen, nur ein Desaster kann uns noch retten (in Anlehnung an einen Satz von Martin Heidegger: „Nur noch ein Gott kann uns retten“ [Heidegger und Augstein (1966)]; HB) ?

Wir leben in einer Gesellschaft, die ganz auf Produktion, ganz auf Positivität gerichtet ist. Sie schafft die Negativität des Anderen oder des Fremden ab, um die Kreisläufe der Produktion und des Konsums zu beschleunigen. Zulässig sind nur konsumierbare Differenzen. Den Anderen, dem die Andersheit genommen worden ist, kann man nicht lieben, sondern nur konsumieren. Vielleicht wächst deshalb heute wieder das Interesse für die Apokalypse. Man spürt eine Hölle des Gleichen, der man entkommen möchte.

Können Sie uns keine griffigere Definition des Anderen anbieten?

Der Andere, das ist auch der Gegenstand, ja der Anstand. Wir haben die Fähigkeit, die Anständigkeit verloren, den Anderen in seiner Andersheit zu sehen, weil wir alles mit unserer Intimität überfluten. Der Andere ist etwas, das mich in Frage stellt, das mich aus meiner narzißtischen Innerlichkeit herausreißt.

Aber formiert sich nicht gerade im Moment, etwa in Gestalt der jungen Protestbewegungen wie Occupy, ein widerständiges Wir, das im System, hier vertreten durch die Börse und den Markt, ein anderes erkennt und dagegen angehen will?

Das geht nicht weit genug. Ein Börsencrash ist noch keine Apokalypse. Er ist ein innersystemisches Problem, das schnell beseitigt werden soll. Und was bringen schon die 300 oder 500 Leute, die sich schnell von Polizisten wegtragen lassen? Das ist noch lange nicht das Wir, das wir brauchen. Die Apokalypse ist ein atopisches Ereignis. Sie kommt von ganz woanders her.

Wo fände sich dann ein Ausweg?

Eine Gesellschaft ohne den Anderen ist eine Gesellschaft ohne Eros. Auch die Literatur, die Kunst und die Dichtung leben vom Begehren des ganz Anderen. Die Krise der Kunst von heute ist vielleicht auch eine Krise der Liebe. Bald, da bin ich mir sicher, werden wir die Gedichte von Paul Celan nicht mehr verstehen, denn sie sind an den ganz Anderen adressiert. Auch mit den neuen Kommunikationsmedien schaffen wir den Anderen ab. In einem Gedicht von Celan heißt es: »Du bist so nah, als weiltest du nicht hier.« Darum geht es! Die Abwesenheit, das ist der Grundzug des Anderen, das ist Negativität. Weil er nicht hier weilt, kann ich sprechen. Nur deshalb ist Poesie möglich. Der Eros richtet sich auf den ganz Anderen.

Dann wäre die Liebe eine utopische, eine uneinlösbare Option.

Das Begehren wird vom Unmöglichen genährt. Wenn es aber, etwa in der Werbung, ständig heißt: »du kannst« und »alles ist möglich«, dann ist das das Ende des erotischen Begehrens. Es gibt keine Liebe mehr, weil wir uns zu frei wähnen, weil wir zwischen zu vielen Optionen wählen. Der Andere ist natürlich dein Feind. Aber der Andere ist auch der Geliebte. Es ist wie mit der mittelalterlichen Minne, von der Jacques Lacan gesagt hat, sie sei ein Schwarzes Loch (Schwarzes Loch), um das herum sich das Begehren verdichtet. Wir kennen dieses Loch nicht mehr.

Haben wir nicht den Glauben an Transzendenz durch den Glauben an Transparenz ersetzt?

Vor allem in der Politik geht es doch kaum noch um etwas anderes. Ja, das Geheimnis ist eine Negativität. Der Entzug zeichnet es aus. Die Transzendenz ist auch eine Negativität, während die Immanenz eine Positivität darstellt. So äußert sich das Übermaß an Positivität als ein Terror der Immanenz. Die Transparenzgesellschaft ist eine Positivgesellschaft.

Worauf führen Sie den Kult der Transparenz zurück?

Zunächst muß man das digitale Paradigma verstehen. Ich halte die digitale Technologie für einen ähnlich dramatischen historischen Einschnitt wie etwa die Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks (Buchdruck). Das Digitale selbst drängt zur Transparenz. Wenn ich eine Taste auf dem Computer drücke, habe ich sofort ein Ergebnis. Die Temporalität der Transparenzgesellschaft ist die Unmittelbarkeit, die Echtzeit. Der Stau, der Informationsstau wird nicht mehr geduldet. Alles muß sich in der Gegenwart der unmittelbaren Sichtbarkeit zeigen.

Die Piratenpartei ist der Ansicht, daß die Politik von dieser Unmittelbarkeit nur profitieren kann.

»Liquid feedback« heißt da wohl das Zauberwort. Es scheint, als bringe die repräsentative Demokratie einen unerträglichen Zeitstau mit sich. Aber diese Ansicht führt zu massiven Problemen: Es gibt nämlich Dinge, die sich nicht der Unmittelbarkeit fügen. Dinge, die erst reifen müssen. Und Politik sollte eben ein Experiment sein, auch ein Experiment mit offenem Ausgang. Solange aber experimentiert wird, kann das Ergebnis noch nicht bekannt sein. Solange eine Vision realisiert werden soll, braucht es den Zeitstau geradezu. Die Politik, die die Piratenpartei anstrebt, ist daher notwendigerweise eine Politik ohne Vision. Und das gilt auch auf der Ebene der Unternehmen. Ständig findet irgendeine Evaluation statt. Jeden Tag muß ein optimales Ergebnis präsentiert werden. Es ist kein langfristiges Projekt mehr möglich. Der digitale Habitus bedeutet auch, daß wir ständig unsere Standpunkte wechseln. Daher wird es keine Politiker mehr geben. Politiker ist jemand, der auf einem Standpunkt beharrt.

Und all das verstehen Sie als Resultat einer neuen Technologie?

Was heißt denn »digital«? Digital kommt von »digitus«, dem lateinischen Wort für »Finger«. Im Digitalen wird das menschliche Tun auf die Fingerkuppen reduziert. Lange Zeit war ja die menschliche Tätigkeit mit der Hand verbunden. Daher die Begriffe Handlung, Handwerk. Aber wir fingern heute nur noch. Das ist die digitale Leichtigkeit des Seins. Eine Handlung im emphatischen Sinne ist aber immer eine Art Drama. Heideggers Fetischisierung der Hand protestiert bereits gegen das Digitale.

Die Frage, ob man überhaupt noch handeln und experimentieren kann, spiegelt sich auch darin wider, daß es in dieser neuen digitalen Logik keine Führungspersonen gibt, daß es eine Politik ist ohne Führer.

Das ist bereits in der Piratenpartei der Fall. Führung ist eine andere Tätigkeit. Wenn man führen will, muß man die Zukunft im Blick behalten. Ein Führer sieht in die Zukunft hinein. Und wenn ich ein politisches Experiment mache, dann muß ich auch ein Risiko eingehen können, weil das Ergebnis nicht sofort vorliegt, weil ich mich in einen unberechenbaren Raum begebe. Ein Führer im Sinne von Vorhut begibt sich ins Unberechenbare. Die Transparenz, die hingegen mit dem Digitalen verbunden ist, strebt eine totale Berechenbarkeit an. Alles muß berechenbar sein. Es gibt aber keine Handlung, die berechenbar ist. Sie wäre dann ein Rechnen, ja eine Rechnung. Die Handlung reicht immer in das Unberechenbare, in die Zukunft, hinein. Das heißt, die Transparenzgesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Zukunft. Zukunft ist die temporale Dimension des ganz Anderen. Zukunft ist heute nichts anderes als optimierte Gegenwart.

Hat nicht die Feier der Urunmittelbarkeit auch etwas mit Infantilisierung zu tun? Auch Dreijährige können es nicht ertragen, wenn ihnen ihre Eltern nicht sofort geben, was sie wollen.

Natürlich. Das Digitale infantilisiert uns, weil wir nicht mehr warten können. Denken Sie etwa daran, wie die Zeitlichkeit der Liebe verlorengeht. Der Satz »Ich liebe dich« ist ja ein Versprechen in die Zukunft hinein. Menschliche Handlungen, die emphatisch zukünftig sind, wie Verantwortung oder Versprechen, verkümmern heute. Auch Wissen, Erkenntnis oder Erfahrung besitzen einen Zeithorizont der Zukunft. Die Zeitlichkeit der Information oder des Erlebnisses ist dagegen die Gegenwart. Es gibt eine neue Krankheit der Informationsgesellschaft. Sie heißt »Information Fatigue Syndrom« (IFS). Eines ihrer Symptome ist die Lähmung der analytischen Fähigkeit. Mitten in der Informationsflut ist man offenbar nicht mehr in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Ein weiteres Symptom ist interessanterweise die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.

Sie nennen die Transparenzgesellschaft auch »Pornogesellschaft». Warum ?

Die Transparenzgesellschaft ist insofern eine pornographische Gesellschaft, als die Sichtbarkeit totalisiert und verabsolutiert wird und das Geheimnis darüber ganz verschwindet. Der Kapitalismus verschärft die Pornographisierung der Gesellschaft, indem er alles als Ware ausstellt und der Sichtbarkeit ausliefert. Angestrebt wird die Maximierung des Ausstellungswerts. Der Kapitalismus kennt keinen anderen Gebrauch der Sexualität. Die erotische Spannung entspringt nicht der permanenten Ausstellung der Nacktheit, sondern der Inszenierung eines Auf- und Abblendens. Es ist die Negativität der Unterbrechung, die der Nacktheit einen erotischen Glanz verleiht.

Das Pornographische zerstört also das Erotische.

Ja. Denken Sie an diesen wunderbaren Moment in Flauberts »Madame Bovary«: Die Kutschfahrt mit Leon und Emma - eine sinnlose Kutschfahrt durch die ganze Stadt, und der Leser erfährt nichts, aber auch gar nichts vom Geschehen in der Kutsche selbst. Flaubert zählt statt dessen Plätze und Straßen auf. Und am Ende streckt Emma ihre Hand aus dem Fenster und läßt Papierschnipsel wie Schmetterlinge auf ein Kleefeld segeln. Ihre Hand ist das einzig Nackte in dieser Szene - das ist der denkbar erotischste Moment. Weil man nichts sieht. In der Hypervisibilität, die uns umgibt, ist so etwas nicht mehr vorstellbar.

Welche Rolle spielt die Philosophie angesichts der Hölle des Gleichen?

Die Philosophie ist für mich der Versuch, eine ganz andere Lebensform zu entwerfen, andere Lebensentwürfe zumindest in Gedanken zu erproben. Aristoteles hat es uns vorgemacht. Er hat die Vita contemplativa erfunden. Heute ist die Philosophie weit davon entfernt. Sie ist ein Teil der Hölle des Gleichen geworden. Heidegger vergleicht in einem Brief das Denken mit dem Eros. Er spricht vom Flügelschlag des Eros, von dem sein Denken ins Unbegangene getragen wird. Die Philosophie ist vielleicht die Liebkosung, die Formen und Sprachmuster dem sprachlos Anderen in die Haut einzeichnet.

Mittlerweile haben Sie eine Professur, aber Ihr Verhältnis zur akademischen Philosophie war nicht immer spannungsfrei, oder?

Wie Sie wissen, bin ich Philosophieprofessor an einer Kunsthochschule. Ich bin wahrscheinlich zu lebendig für das philosophische Seminar einer Universität. Die akademische Philosophie ist leider total erstarrt und leblos. Sie läßt sich nicht auf die Gegenwart, auf gesellschaftliche Probleme der Gegenwart ein.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für das Denken?

Heute gibt es so viele Dinge und Ereignisse, die einer philosophischen Erörterung bedürften. Depression, Transparenz oder auch Piratenpartei sind für mich ein philosophisches Problem. Vor allem die Digitalisierung und die digitale Vernetzung stellen heute für die Philosophie eine besondere Aufgabe und Herausforderung dar. Wir brauchen eine neue, ja eine digitale Anthropologie, eine digitale Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie. Wir brauchen eine digitale Sozialphilosophie und Kulturphilosophie. Heideggers »Sein und Zeit« hätte man längst digital updaten müssen.

Wie meinen Sie das?

Heidegger hat das Subjekt durch das »Dasein« ersetzt. Wir müssen nun das Subjekt durch das Projekt ersetzen. Wir sind nicht mehr »geworfen«. Wir haben kein »Schicksal«. Wir sind entwerfende Projekte. Die Digitalisierung bringt Heideggers »Ding« endgültig zum Verschwinden. Sie erzeugt ein neues Sein und eine neue Zeit. Wir müssen mehr Theorie wagen. Dafür ist die akademische Philosophie zu ängstlich. Ich wünsche ihr mehr Mut und Wagnis. »Geist« bedeutet ursprünglich Unruhe oder Ergriffenheit. Die akademische Philosophie ist, so gesehen, ohne Geist.“ (Ebd., S. 61-65).

Die Aussagen von Byung-Chul Han sind sehr interessant, wie ich finde.

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© Hubert Brune, 2001 ff. (zuletzt aktualisiert: 2018).

 

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