Lob, Kritik, Skepsis.
Der in Lüneburg geborene Niklas Luhmann hat sich
nicht nur als Soziologe, sondern auch als Philosoph hervorgetan, der einzige
des 20 Jahrhunderts mit einem System. Er wird auch als Hegel des
20. Jahrhunderts bezeichnet. Wenn Luhmann wirklich, wie manchmal
behauptet wird, der Hegel des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dann wird
sich das nicht zuletzt durch das Auftreten von Jungluhmannianern bewahrheiten,
die sich mit einer erneuten existentialistischen Abweichung vom Systemdenken
bemerkbar machen. (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche
nach Heidegger, 2001, S. 140-141 **).
Wer von Luhmann selbst erfahren will, was Gesellschaft ist und wie sie
beschrieben werden kann, sei hier an seine literarischen Werke
verwiesen, besonders an sein letztes Hauptwerk: Die Gesellschaft
der Gesellschaft (**).
Gemäß Luhmann ist die Gesellschaft das Ergebnis von Kommunikation
- Kommunktation erzeugt Gesellschaft - und beschreibt sich selbst.
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D i e G e s e l l s c h a f t
u n d i h r e U m w e l t e n |
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Die Gesellschaft der Gesellschaft bedeutet, weil sie linguistisch
eine Hyponymie-Hyperonymie-Relation (logisch: Teil-von-Relation)
ist, daß die Gesellschaft sowohl Teil als auch Ganzes ist,
nämlich die Gesellschaft als Teil der Gesellschaft
als Ganzes. Luhmann hat in diesem Zusammenhang von Teilsystem
(oder auch: Subsystem) und Gesamtsystem gesprochen.
Die Gesellschaft ist also sowohl ein Gesamtsystem als auch ein Teilsystem
dieses Gesamtsystems. Und gemäß dem Luhmann-Schüler Dirk
Baecker kann die Gesellschaft ein Konkurrent für die anderen Teilsysteme
des Gesamtsystems Gesellschaft (also: ihrer selbst) nur dann sein, wenn
sie ihre Rolle als Teilsystem und nicht als Gesamtsystem vertritt, obwohl
sie natürlich trotzdem das Gesamtsystem bleibt (**).
Die moderne Gesellschaft ist immer schwächer, immer komplexer
und zuletzt so komplex und zur Weltgesellschaft (**)
geworden, daß außerhalb von ihr kein Standpunkt und keine
privilegierte Beobachterposition mehr möglich ist und insofern die
diesbezügliche Relevanz nicht mehr durch sie als Gesamtsystem, sondern
durch ihre Teilsysteme repräsentiert wird. Die Reduktion der Komplexität
des Gesamtsystems hat sich vollzogen durch Ausdifferenzierung von Funktionssystemen
(Teilsystemen), die immer komplexer geworden sind. Die Gesellschaft als
das Gesamtsystem ist seitdem eine funktional differenzierte Gesellschaft
(**),
womit eben die moderne Gesellschaft gemeint ist.
Komplexität kann im System oder in seiner Umwelt oder auch in der
Welt (Einheit von System und Umwelt) beobachtet werden. Nur die Komplexität
eines Systems ist organisierte Komplexität. Sie besteht in der selektiven
Verknüpfbarkeit der Elemente des Systems; sie ist die selektive Organisation
der Autopoiesis. Die Zahl der abstrakt möglichen Relationen zwischen
den Elementen eines Systems nimmt exponentiell mit der Zunahme der Zahl
der Elemente zu (2 Elemente bilden 4 Relationen, 3 Elemente bilden 9 Relationen
u.s.w.). Wenn in einem System die Zahl der Elemente sehr groß wird,
erreicht deshalb die Zahl der Relationen Größenordnungen, die
vom System selbst nicht unmittelbar kontrolliert werden können. Das
impliziert, daß im System nicht alles aktualisiert und zugleich
mit allem anderen verbunden werden kann; jede Operation verweist auf einen
Bereich weiterer Möglichkeiten. Komplexität bedeutet, daß
es immer mehr Möglichkeiten gibt, die im sozialen System als Kommunikation
aktualisiert werden können. Nur Komplexität kann Komplexität
reduzieren (**).
Die Temporalisierung der Systemkomplexität (**|**)
bedeutet die laufende Wiederherstellbarkeit und Wiederherstellung der
reduzierten Systemkomplexität. Also sind Systeme basal unruhig (wegen
temporaler Elemente) und strukturell ruhig (wegen relationierter Elemente)
und unruhig (wegen re-relationierter Elemente) zugleich (**).
Die Zunahne der Komplexität, also der Relationen zwischen den Elementen,
führt Beschränkungen der Erweiterung des Systems mit sich: Kein
System kann eine willkürliche und unbestimmte Zunahme seiner Komplexität
aushalten. Darum werden Grenzen gezogen, die Teilsysteme erzeugen. Die
heutige Gesellschaft erzeugt wegen ihrer Differenzierungsform sehr viel
höhere Komplexität als die früheren Gesellschaften. Gerät
ein System an einen Zufall, der stärker ist als die Kapazität
der Komplexitätsreduktion, geht es im Zufall zugrunde ().
Das, was in diesem Zusammenhang für Systeme gilt, gilt auch für
Subsysteme und Subsubsysteme u.s.w.. Für jedes gesellschaftliche
Teilsystem gehört das Gesamtsystem Gesellschaft zur Umwelt. Wenn
die Komplexität in einem System wächst und Komplexität
auch mit Offenheit für Beliebiges übersezt werden
kann, so wächst in ihm die Offenheit für Zufälliges, für
Chaotisches, da das Beliebige für das Zufällige,
das Chaotische steht, während die Offenheit semantisch
auch die Bereitschaft zum Risiko enthält. Nicht umsonst gilt die
moderne Gesellschaft ja auch als Risikogesellschaft.
Also bezieht sich das Riskio auch auf die moderne Kommunikation.
Kommunikation ist die Einheit von dreierlei: Information, Mitteilung
und Verstehen. Wobei Information als Inhalt, Mitteilung als Form
(in der die Information vermittelt wird) und Verstehen als Identitifikation
der Differenz von Information und Mitteilung zu verstehen ist. Das
Verstehen hat also gar nichts mit Psychischem zu tun, sondern ist eine
rekursive Operation des Kommunikationssystems.
Als Sprachwissenschaftler kann ich sagen, daß mir das innerhalb
dieser Kommunikationstheorie befindliche Kommunikationsmodell sehr gut
gefällt, zumal ich selbst ein ähnliches Modell entwickelt habe,
in dem ebenfalls alles Psychische ausgeklammert ist und auch sein muß,
weil das Sprachsystem, hier verstanden als Kommunikationssystem, gemäß
meiner semiotisch-linguistischen Theorie ein autopoietisches System ist.
Die moderne Gesellschaft - die für mich bekanntlich
(denn die intensiven Leser meiner Webseiten wissen das) nur die abendländisch-moderne
Gesellschaft der abendländischen Kultur sein kann, ohne die es jene
Weltgesellschaft (**)
gar nicht gäbe - gehört für ihre Teilsysteme, obwohl sie
deren Gesamtsystem ist, zur Umwelt, denn: Vom Teilsystem aus gesehen,
ist der Rest des umfassenden Systems jetzt Umwelt. Die Systemdifferenzierung
generiert, mit anderen Worten, systeminterne Umwelten. Es handelt sich
also um ein »re-entry« (Wiedereintritt;
HB) der Unterscheidung von System und Umwelt in das durch sie Unterschiedene,
in das System. (**).
Für jedes System - ob Gesamtsystem oder Teilsystem - gibt
es immer nur System und Umwelt, also sich selbst und den
Rest, und es kann wegen seiner Autopoiesis mit dem Rest nicht kommunizieren.
Das System ist sozusagen jene Identität, die sich in einer komplexen
und veränderlichen Umwelt druch Stabilisierung einer Innen/Außen-Differenz
erhält. Es entsteht durch Grenzziehung und Konstituierung einer Differenz
von Außen und Innen, durch die Schaffung von Bereichen unterschiedlicher
Komplexität, durch Reduktion von Komplexität. Durch Selektion
von Möglichkeiten der äußeren Weltkomplexität wird
diejenige Innen/Außen-Differenz geschaffen. Diese Reduktion der
äußeren Weltkomplexität auf ein Format, das Erleben, Entscheiden,
Sichentscheiden und Handeln überhaupt erst gewährleistet, wird
bei allen sozialen Systembildungen durch Sinn gesteuert. Systembildung
heißt darum, eine einmal getroffene Sinnentscheidung gegenüber
einer komplexen und sich weiterhin verändernden Umwelt durchzuhalten,
eine Ordnung des Systems gegenüber der Umwelt relativ einfach und
konstant zu halten. Die Systemtheorie untersucht die (Selektions- und
Entscheidungs-)Prozesse sowie die Zweckprogramme, die ein System innerhalb
der Grenzen seiner Autonomie in die Lage versetzen, Umweltkomplexität
zu reduzieren, um sich zu erhalten, um sich (systemsinngemäß)
in der realen Welt rational zu verhalten.
Erst wenn man die Theorie der Systeme
mit einer Sinntheorie verbindet und zugleich klärt, daß
Sinn immer Differenzen erfordert, immer Unterschiede erfordert,
erst dann kann man eine Theorie sozialer Phänomene als Systemtheorie
entwickeln, die auf die Differenz von System und Umwelt achtet.
.... Das heißt, daß man eigentlich die Untersuchungseinheit
nicht als ein Objekt oder eine Gestalt oder ein Wesen sieht, sondern
als eine Differenz, die sich als Differenz reproduziert. Und das
heißt für die Gesellschaftstheorie, daß man die
Gesellschaft begreifen muß als eine Differenz zwischen System
und Umwelt, die als Differenz erhalten bleibt und reproduziert
wird, aber dies natürlich nicht durch die Umwelt, sondern
durch das System selber. Und von dort aus kommt man dann zur Theorie
über Selbstreferenz und Selbstorganisation und Autopoiesis,
also Selbstreproduktion, was sich immer bezieht auf das Erhalten
einer Differenz. **
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Ein System ist die eine Seite einer Differenz (nämlich der zwischen
System und Umwelt) und gleichzeitig auch diese Differenz selbst: das ist
paradox! Die Systemtheorie beginnt mit der Differenz (zu den Vorläufern
der Systemtheorie gehört der Strukturalismus, denn der geht auch
von der Differenz aus). Mit der Differenz zugleich beginnt auch die Selbtreferenz,
denn:
Es gibt ...
keinen Unterschied zwischen Selbtstreferenz und Differenz, ... keinen
Unterschied zwischen Selbstreferenz und Beobachtung, ... derjenige,
der etwas beobachtet, muß sich selbst von dem, was er beobachtet,
unterscheiden, muß also zu sich selbst schon ein Verhältnis
haben, um sich unterscheiden zu können **
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Eine Unterscheidung wird immer nur gebraucht, um eine Seite und nicht
die andere zu bezeichnen.
Wozu soll man sonst unterscheiden, wenn
man nicht das eine statt des anderen bezeichnen will? Die Unterscheidung
ist eigentlich eine Grenze, das Markieren eine Differenz, und
dann hat man zwei Seiten - aber mit der Maßgabe, daß
man nicht beide zugleich brauchen kann, denn dann wäre die
Unterscheidung sinnlos. .... Im Prinzip enthält die Unterscheidung
zwei Komponenten, nämlich die Unterscheidung selbst (den
vertikalen Strich: |) und die Bezeichnung (den horizontalen Strich:
). Und nun kommt das Merkwürdige: daß die Unterscheidung
eine Unterscheidung und eine Bezeichnung enthält, also Unterscheidung
und Bezeichnung unterscheidet. **
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Gemeint ist damit u.a., daß schon am Anfang eine verborgene Paradoxie
vorhanden war, nämlich die Unterscheidung in der Unterscheidung!
Der Beobachter kann diese Paradoxie auflösen, denn er kann sich auf
die interne oder auf die externe Unterscheidung beziehen, so daß
deutlich wird, daß er z.B. ein und dasselbe System entweder intern
oder extern beobachtet (unterscheidet und bezeichnet), also dies entweder
selbstreferentiell oder fremdreferentiell tut (auch wenn er dies in Wirklichkeit
niemals als Fremdbeobachter tun kann: der Wiedereintritt [re-entry]
der Unterscheidung ermöglicht den Fremdbeobachter im Sinne des Als-ob).
Von demselben System ist also zweimal die Rede. Das gilt für den
Wiedereintritt (re-entry) der Form in die Form, der Unterscheidung
in die Unterscheidung, des Systems (als der Differenz von System und Umwelt)
in das System. In allen Fällen ist von demselben zweimal die Rede.
Die Konsequenz
für die Systemtheorie ist, daß »System« als
eine Form bezeichnet werden kann - mit der Maßgabe, daß
mit dem Formbegriff immer die »Differenz von System und Umwelt«
bezeichnet wird. .... System ist eine Form, eine Form mit zwei Seiten.
**
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Man könnte diese Form auch als Synthese (**)
deuten. Jedenfalls ist es eine Dreier-Figur, die sowohl in der Semiotik
als auch in der Linguistik sehr bedeutsam ist, denn Semiotikern und Linguisten
zufolge ist ein Zeichen ebenfalls eine Form mit zwei Seiten: Bezeichnendes
und Bezeichnetes (**).
Das Zeichen
ist ... die Differenz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem.
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Wenn man die Form namens Zeichen gebraucht, dann wird auf der inneren
Seite dieser Form - also auf der Seite des Bezeichnenden - operiert. Systemtheoretisch
gesagt: Wenn man die Form namens System (Differenz von
System und Umwelt) gebraucht, dann wird auf der inneren Seite
dieser Form - also auf der Seite des Systems - operiert. Die Form (das
Zeichen [als Differenz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem]
bzw. System [als Differenz zwischen System und Umwelt])
wird benutzt, indem die innere Seite (Bezeichnendes bzw. System) operiert.
Psychische
und soziale Systeme ... unterscheiden ... Selbstreferenz und Fremdreferenz.
Für sie sind Grenzen daher keine materiellen Artefakte, sondern
Formen mit zwei Seiten. - Abstrakt gesehen handelt es sich dabei
um ein »re-entry« einer Unterscheidung in das durch
sie selbst Unterschiedene. Die Differenz System/Umwelt kommt zweimal
vor: als durch das System produzierter Unterschied
und als im System beobachteter Unterschied. Mit dem
Begriff des »re-entry« zitieren wir zugleich angebbare
Konsequenzen .... - Das für das System selbst sichtbare Resultat
dieser Konsequenzen des re-entry soll ... mit dem Begriff »Sinn«
bezeichnet werden. **
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Erleben |
Handeln |
Erleben |
Ae => Ee
Wahrheit
Werte |
Ae => Eh
Liebe |
Handeln |
Ah => Ee
Eigentum/Geld
Kunst |
Ah => Eh
Macht/Recht |
Vgl. Niklas Luhmann, ebd,
1997, S. 336. **
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Autopoiesis der Gesellschaft |
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Kommunikation |
Evolution |
Differenzierung |
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SOZIAL |
ZETLICH |
SACHLICH |
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Selbstbeschreibung
der Gesellschaft |
Vgl. Niklas Luhmann, ebd,
1997, S. 1138. **
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Gemäß Luhmanns Systemtheorie gibt es drei Sinndimensionen,
die durch jeweils eine dimensionsspezifische Unterscheidung konstituiert
werden. In der Sachdimension (traditionell repräsentiert in
der Kategorienlehre) gibt es das »Innen« im Unterschied zum
»Außen« der Form. Die systemtheoretische Fassung spricht
von System und Umwelt. In der Zeitdimension (traditionell repräsentiert
durch den Begriff der Bewegung) geht es um die Unterscheidung von Vergangenheit
und Zukunft. In der Sozialdimension (traditionell repräsentiert
durch die Lehre vom »animal sociale«) geht es um die Unterscheidung
von Ego und Alter, wobei wir als Ego den bezeichnen, der eine Kommunikation
versteht, und als Alter den, dem die Mitteilung zugerechnet wird.
(**).
Die Kommunikation läuft von Alter zu Ego. (Wir
kehren die übliche Reihenfolge Ego-Alter um, um daran zu erinnern,
daß wir den Kommunikationsprozeß vom Beobachter, also vom
Verstehen her konstruieren, und nicht handlungstheoretisch.)
Erst muß Alter etwas mitteilen, nur dann kan Ego verstehen und annehmen
oder ablehnen. Dies basale Einheit wird heraussubstrahiert, obwohl doppelte
Kontingenz immer als Zirkel gebaut ist (»wenn
Du tust, was ich will, tue ich, was Du willst«) und Kommunikation
als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen in rekursiver Vernetzung
mit anderen Kommunikationen erzeugt wird. (**).
Nur dort, wo Zurechnungen Kausalität platzieren, können
Konditionierungen angebracht werden. Insofern dirigiert (nicht determiniert!)
das Zurechnungsschema die Konditionierungen der Selektion und über
diese die erwartbare Motivation. Es macht mithin einen Unterschied aus,
ob Alter und Ego als handelnd oder erlebend (sie sind beide natürlich
immer beides) konditioniert werden. Im Prinzip muß man deshalb,
wie unsere Tabelle zeigt, mit vier verschieden Konstellationen rechnen,
nämlich (1) Alter löst durch Kommunikation seines Erlebens ein
entsprechendes Erleben von Ego aus; (2) Alters Erleben führt zu einem
entsprechenden Handeln Egos; (3) Alters Handeln wird von Ego nur erlebt;
und (4) Alters Handeln veranlaßt ein entsprechendes Handeln von
Ego. (**).
Ich fasse zusammen: (1) Ae => Ee (Erleben Alters => Erleben Egos),
symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien: Wahrheit, Werte; (2) Ae
=> Eh (Erleben Alters => Handeln Egos), symbolisch generalisiertes
Kommunikationsmedium: Liebe; (3) Ah => Ee (Handeln Alters => Erleben
Egos), symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien: Eigentum/Geld,
Kunst; (4) Ah => Eh (Handeln Alters => Handeln Egos), symbolisch
generalisiertes Kommunikationsmedium: Macht/Recht. In diesen Beispielen
ist Erleben wie Information, das Handeln wie Mitteilung
zu verstehen; und dies gilt für beide Seiten: für die,
die eine Kommunikation initiiert, und für die, die darufhin über
(Kommunikation von) Annahme und Ablehnung zu entscheiden hat. Wenn eine
Selektion (von wem immer) dem System selbst zugerechnet wird, wollen wir
von Handlung sprechen, wird sie der Umwelt zugerechnet, von Erleben.
Entsprechend unterscheiden sich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
danach, ob sie die beiden sozialen Positionen Ego und Alter als erlebend
oder als handelnd voraussetzen. (**).
Jedes symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium ist ein Medium
der Weltkonstruktion und nicht ein nur für bestimmte Zwecke geeignetes
Mittel. (**).
Im Falle von Werten mag man zweifeln, ob überhaupt ein
symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium vorliegt, oder ob wir
hier, wenn überhaupt, ein Medium im Prozeß des Entstehens beobachten
können; denn eine entsprechende Semantik gibt es erst seit etwa zweihundert
Jahren. (**).
Die Funktion der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
ist es, Selektionen so zu konditionieren, daß Kommunikationen angenommen
werden, obwohl dies von der Zumutung her unwahrscheinlich ist. In bezug
auf auf den tatsächlichen Motivationserfolg kann ein symbolisches
Medium aber zu viel oder zu wenig gebraucht werden. Den erstgenannten
Fall bezeichnen wir als Inflation, den anderen als Deflation.
(**).
Da hier gerade auch Selektionen erwähnt worden sind,
sei erwähnt, was bezüglich der Autopiesis des Gesellschaftssystems
Variation, Selektion und Restabilisierung bedeuten:
Wir schlagen vor, die unterschiedlichen Komponenten der Evolution
auf unterschiedliche Komponenten der Autopoiesis des Gesellschaftssystems
zu beziehen, und zwar in folgender Weise:
(1) |
Durch Variation werden die
Elemente des Systems variiert, hier also die Kommunikationen.
Variation besteht in einer abweichenden Reproduktion der Elemente
durch die Elemente des Systems, mit anderen Worten: in unerwarteter,
überraschender Kommunikation. |
(2) |
Die Selektion betrifft die
Strukturen des Systems, hier also Kommunikation steuernde Erwartungen.
Sie wählt anhand abweichender Kommunikation solche Sinnbezüge
aus, die Strukturaufbauwert versprechen, die sich für wiederholte
Verwendung eigenen, die erwartungsbildend und -kondensierend wirken
können; und sie verwirft, indem sie die Abweichung der Situation
zurechnet, sie dem Vergessen überläßt oder sie sogar
explizit ablehnt, diejenigen Neuerungen, die sich nicht als Struktur,
also nicht als Richtlinie für die weitere Kommunikation zu
eignen scheinen. |
(3) |
Die Restabilisierung betrifft
den Zustand des evoluierenden Systems nach einer erfolgten,
sei es positiven, sei es negativen Selektion. Dabei wird es zunächst
um das Gesellschaftssystem selbst im Verhältnis zu seiner Umwelt
gehen. Man denke etwa an die Erstentwicklung von Landwirtschaft
mit Konsequenzen, die im Sozialsystem der Gesellschaft »systemfähig«
sein müssen. Oder an die Vermeidung einer Agrarisierung (aus
ökologischen oder anderen Gründen), die dann zur Entstehung
von »Nomadenvölkern« am Rande von bereits politisch
entwickelten Bauerngesellschaften führt. Im weiteren Verlauf
der gesellschaftlichen Evolution verlagert die Restabilisierungsfunktion
sich dann mehr und mehr auf Teilsysteme der Gesellschaft, die sich
in der inflergesellschaftlichen Umwelt zu bewähren haben. Dann
geht es letztlich um das Problem der Haltbarkeit gesellschaftlicher
Systemdifferenzierung. (**). |
Besondere Aufmerksamkeit gebührt unter den sozialen Systemen auch
den Organisationssystemen (**):
Während
Interaktionssysteme ihre Umwelt nur über eine Aktivierung von
Anwesenden und nur über eine Internalisierung der Differenz
von anwesend/abwesend berücksichtigen können, haben Organisationen
zusätzlich die Möglichkeit, mit Systemen in
ihrer Umwelt zu kommunizieren. Sie sind der einzige Typ sozialer
Systeme, der diese Möglichkeit hat, und wenn man dies erreichen
will, muß man organisieren. Dies Nach-außen-Kommunizieren
setzt Autopoiesis auf der Basis von Entscheidungen voraus.
Denn die Kommunikation kann intern nur im rekursiven Netzwerk der
eigenen Entscheidungstätigkeit, also nur als Entscheidung angefertigt
werden; sie wäre anderenfalls nicht als eigene Kommunikation
erkennbar. **
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Organisationssysteme sind also die einzigen unter den sozialen
Systemen, die mit Systemen in ihrer Umwelt kommunizieren können.
Werden Sie so schnell wie möglich Mitglied einer Organisation!
Mein Lob gehört Luhmann vor allem deswegen, weil es sein Verdienst
ist, sich in all seinen Äußerungen möglichst wertneutral,
sehr gelassen und auch sehr humorvoll (ganz im Sinne der Tradition der
deutschen Romantik) zu geben. Wenn ich dabei bedenke, daß er einer
Fakultät verpflichtet gewesen ist, die - gemessen an allen anderen
Fakultäten - genau das Gegenteil repräsentiert, so muß
mein Lob noch höher ausfallen, obwohl das kaum möglich ist,
weil sein Verdienst nicht nur auf diese Fakultät, sondern auch auf
die Philosophie und die Wissenschaft allgemein bezogen ist, und zwar jeweils
die theoretische Seite betreffend. Luhmann war Theoretiker durch und durch.
Offenbar trieb ihn seine hohe Intelligenz in eine regelrechte Liebe zum
Abstrakten, mit dessen Hilfe er das seinen Ausgangspunkt bildende und
weit verbreitete Defizit in der gegenwärtigen intellektuellen
Landschaft (**)
abbauen wollte und zumindest teilweise auch tatsächlich abbaute.
Luhmanns Systemtheorie war und ist konkurrenzlos, weil niemand
sonst den Mut zur Gesellschaftstheorie hat. (Norbert Bolz, Niklas
Luhmann: Das Genie der Gesellschaftstheorie, in: Neue Zürcher
Zeitung, 08.12.2017, 05:30 **).
Dieser Aussage ist unbedingt zuzustimmen.
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Da die Gesellschaft gemäß Luhmann ein operativ geschlossenes
System, d.h. ein kommunikativ geschlossenes System (denn in der Gesellschaft
ist Operation gleich Kommunikation) ist, kann z.B. die Selbstreferenz
nur ein Einwirken von Kommunikation auf Kommunikation (Dirk
Baecker) bedeuten. Die Realität dieses kommunikativ geschlossenen
Systems ergibt sich sich eben nur aus diesen Rekursionen von Sprache auf
Sprache (Kommunikation auf Kommunikation) und nicht durch ein Sichaufdrängen
der irgendwie geordnet vorhandenen Außenwelt, so Dirk Baecker,
der weiß, daß nichts uns die Selbstverantwortung für
unsere Sicht der Welt abnimmt. Unsere Weltgesellschaft kann nicht von
außen beobachtet werden, und beobachten bedeutet gemäß
Luhmann unterscheiden und bezeichnen. Die Gesellschaft kann
sich nur selbst beschreiben. Eine andere Autorität als sie selbst
gibt es für sie nicht. Das müssen endlich auch diejenigen Soziologen
begreifen, die immer noch innnerhalb der Soziologie eine Mehrheit bilden.
Bis heute hat man zu Luhmanns These, daß sich die Gesellschaft allein
über selbstbezügliche Kommunikationen bildet, kein funktionales
Äquivalent gefunden und auch nichts gefunden, was sie als funktional
überflüssig machen würde.
Die hohe Spezialisierung und Autonomisierung der Funktionssysteme werden
gemäß Luhmann zu wechselseitigen Belastungen führen,
von denen man nicht voraussehen kann, wie sie in Einzelfällen zu
bewältigen wären - oder gar in ihrer Summe. Aktuelle Beispiele
für diese Konsequenzen der Differenzierung sind u.a. (1) eine Politik,
die unter Brechung europäischen Rechts den Nationalstaat aufgibt,
weil sie dessen Grenzen unter dem Einwanderungsdruck nicht mehr verteidigen
zu können glaubt und dann dem Rechtssystem die Abarbeitung der Folgen
des eigenen Rechtsbruches überläßt; (2) ein Rechtssystem,
das aus Rücksicht auf außerrechtliche Empfindlichkeiten auf
seine eigene Durchsetzung verzichtet (siehe rechtsfreie Zonen in westeuropäischen
Großstädten); (3) ein Wissenschaftssystem, das sich selbst
Ethikregeln verschreibt, um den moralischen Erwartungen aus der Gesellschaft
(Kommunikation) zu genügen; (4) ein Erziehungs-/Schulsystem, das
lieber alte Bildungsstandards aufgibt, als deren Aufrechterhaltung in
der Notenvergabe transparent zu machen, um dann dem Wirtschaftssystem
die undankbare Aufgabe zu überlassen, die Qualifikationen selbst
zu bewerten; ... u.s.w. - es gibt noch viel mehr Beispiele für die
Konsequenzen der Differenzierung, insgesamt mindestens so viele, wie es
Funktiosnsysteme gibt.
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B e o b a c h t u n g
n - t e r
O r d n u n g .
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Es ist, wie es ist; aber es könnte auch alles ganz anders
kommen: das könnte das Motto von Luhmanns Gesellschaftstheorie sein.
Und das ist auch ganz explizit der Gestus, mit dem er an solche Fragen
herangeht. Was passiert, passiert; und der Soziologe hat die Aufgabe,
einen Schritt zurückzutreten und als Beobachter zweiter Ordnung zu
beobachten, wie andere beobachten. (Peter Zudeick **).
Auch findet man in Luhmanns spätem Hauptwerk einen Ansatz,
wie man Protestbewegungen auch systematisch einnordet, indem man ihnen
die gesellschaftliche Funktion zuweist, die Negation der Gesellschaft
in der Gesellschaft in Operationen umzusetzen - ein fast Hegelscher Ansatz.
(Peter Zudeick **).
Die Gesellschaft beobachtet sich nicht nur selbst, also nicht nur in
sich selbst, sondern auch gegen sich selbst. Wir haben hier
das Musterbeispiel einer Methode, die ausschließlich an der Funktion
eines Systems orientiert ist, also an dem, was sich gleichsam hinter dem
Rücken der Subjekte abspielt. Ähnlichkeiten mit Hegel, Adam
Smith und Karl Marx sind nicht zufällig. (Peter Zudeick **).
Luhmann hat mit seinem großen Theoriegebäude eine Große
Erzählung geliefert - also genau das, was gemäß
der Postmoderne (**)
gar nicht mehr möglich sein soll. Der Luhmann-Schüler Peter
Fuchs meint, daß Luhmanns großer Wurf des 20. Jahrhunderts
zu den Versuchen gehört, die schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
immer wieder aktualisiert worden sind, vor allem auch z.B. der Versuch,
Antworten zu finden auf die folgenden zwei Fragen:
1.) |
Was geschieht mit dem
Sein, wenn das Sein aus der Welt herausgenommen wird, weil wir nichts
mehr dazu sagen können?
Hier geht es also um das, was ein halbes Jahrhundert vor Luhmann
schon Heidegger auf dem Punkt gebracht hatte: Die Durchkreuzung
des Seins. |
2.) |
Was geschieht, wenn das Subjekt verlorengeht
und mit ihm auch das Objekt?
Auch hiermit hatte sich ein halbes Jahrhundert vor Luhmann schon
Heidegger beschäftigt: Die Durchkreuzung des Subjekts -
und damit auch des Objekts. |
Peter Fuchs meint: Die Größe Luhmanns liegt in seinem
antikartesischen Affekt; also was er im Grunde verwirft, das ist Descartes,
die Subjekt/Objekt-Unterscheidung. Aber er macht es auf eine Weise, die,
wie ich finde, handfester oder stärker mit empirischen Befunden aufgeladen
ist, als man das typischerweise findet. (Peter Fuchs **).
Auch und gerade Kybernetiker, Biologen und Anthropogen stimmen Luhmann
zu. Luhmann ist der Realität ziemlich nahe, sagte sogar
der marxistische Sozialphilosoph Oskar Negt (**)
von der Frankfurter Schule, also der Gegnerschaft Luhmanns. Dem Luhmann-Schüler
Peter Fuchs zufolge besteht die Philosophie fast nur noch aus einer Klassiker-Exegese
.... Wobei das jetzt aber keine Abwertung der Philosophie darstellt. Luhmann
hat den Hegel-Preis bekommen, - also, es hat wenigstens irgendwelche Philosophen
gegeben, die gemerkt haben, daß dort etwas passiert. (Peter
Fuchs **).
Der zur Ritter-Schule (**)
gehörende Philosoph Robert Spaemann nannte 1988 seine Laudatio anläßlich
der Verleihung des Hegel-Preises explizit Niklas Luhmanns Herausforderungen
der Philosophie. Diese Herausforderung beschreibt
der Kölner Philosoph, Mathematiker, Physiker und Künstler Günter
Schulte wie folgt: Er will zum Beispiel die Erkenntnistheorie mitbetreuen,
oder er sagt, er will die Firma Vernunft unter einer neuen Bezeichnung,
nämlich Selbstreferenz, übernehmen. Vernunft war sicherlich
ein Thema der Philosophie, wenn nicht das Thema. Das würde
der Philosophie jetzt aus der Hand genommen. Da fragt man sich natürlich:
Woher dieser Anspruch? Wir hatten in der Philosophie natürlich schon
mal Leute, die rigoros aufgeräumt haben, was die Philosophie der
Vernunft betraf: das war Hegel, der meinte, man müßte die subjektive
Vernunft, also die Vernunft der individuellen Subjekte, die frei handeln
und entscheiden, umstellen auf eine göttliche, absolute Systemvernunft.
Und dieses System Hegels ist das, was Luhmann zunächst mal am allermeisten
beeindruckt, weshalb er auch zu recht den Hegel-Preis bekommen hat. Dann
kam nach Hegel Marx und stellte dieses System des absoluten Geistes um
auf Materie. Prima, sagt Luhmann, das können wir auch benutzen, indem
wir jetzt eine naturalisierte Erkenntnistheorie machen ..., indem man
nämlich meint: dieses Geistsystem (das er jetzt Sinnsystem nennt)
Hegels kann empirisch beobachtet werden. Damit hat er also diese Marxsche
Wendung mit drin. (Günter Schulte **).
Schulte sieht in Luhmanns Theorie eine umgestülpte Subjekttheorie,
eine schlichte Umstellung von Subjekt auf System (vgl. Günter Schulte,
Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, 1993, S. 12 und 22)
und vermutet dabei auch einen neuen Gottesbeweis: Luhmanns Gottesbeweis
ist der Beweis eigener Göttlichkeit. Diese Systemtheorie ist das
Re-entry Gottes selbst in seine Schöpfung (ebd., S. 161). Schulte
muß gegen sich selbst gelten lassen, was er Luhmann unterstellt:
Wer meint, er hätte die Einheit gesehen, der irrt sich; denn
hätte er recht, könnte er das nicht mehr mitteilen ([]
ebd. S. 151). Luhmann hält philosophischerseits den Blick auf das
Ganze aufrecht (man nennt diese Vorgehensweise auch Holismus)
und soziologischerseits die Aufklärung für das angemessene Mittel,
Soziologie zu betreiben. Die Verleihung des Hegel-Preises an Luhmann war
absolut berechtigt. Der Unterschied zwischen
Luhmann und z.B. den Vertretern der Frankfurter Schule ist
der zwischen auf Vernunft basierender Gelassenheit oder Unschuldsunterstellung
auf der einen Seite (Luhmann) und Kritik oder Moral im Sinne von Schuldzuweisungen
auf der anderen Seite (Frankfurter Schüler mit ihrer angeblichen
Kritischen Theorie). Jedenfalls befinde ich mich in guter
Gesellschaft (!) auf der Seite der auf Vernunft basierenden Gelassenheit
oder Unschuldsunterstellung.
Die methodische Unschuldsunterstellung in bezug auf Systeme
in ihren Umwelten läßt sich nur durchhalten, wenn auf der
Seite des Analytikers eine spezifische Abstinenz gewahrt wird - ich
möchte sie als eine systemtheoretische Gelassenheit bezeichnen,
auf die Gefahr hin, daß eine Versuchung aufkommen könnte,
den Namen Luhmanns mit dem von Meister Eckhart und Heidegger in einem
Atemzug zu nennen. (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche
nach Heidegger, 2001, S. 108 **).
In Baeckers 2007 veröffentlichtem Buch Studien zur nächsten
Gesellschaft ist zu lesen, daß die nächste Gesellschaft
eine Gesellschaft sein wird, die die funktionale Differenzierung hinter
sich gelassen haben wird. Luhmann habe uns, so Baecker, mit seinem
Werk nicht den Abschluß seiner Theorie, sondern den nächsten
Schritt zu ihrer Weiterentwicklung hinterlassen. Das Buch sei durchzogen
von der Annahme, daß eine Epochenzäsur durch die Reaktion der
Gesellschaft auf die Durchsetzung elektronischer Medien möglich sei.
Damit komme die moderne Buchdruckgesellschaft zu ihrem Ende, und es begänne
eine neue, eben die nächste Gesellschaft, die eine andere Differenzierungsform
aufweise und die sich in einer neuen Kulturform andeute. Baecker zufolge
ist Luhmann jedenfalls von der Bedeutung der Digitalisierung schon so
überzeugt gewesen, daß er sich in der Gesellschaft der
Gesellschaft an einer zentralen Stelle zum Offenhalten einer überraschenden
Unbestimmtheitsstelle genötigt sah, die die weitere Ausdifferenzierung
und Reproduktion der Gesellschaft als auch ihre Theorie betreffe. Luhmann
habe an dieser Stelle zugegeben, die Konsequenzen der Digitalisierung
in der weiteren Evolution des Gesellschaftssystems einfach nicht überblicken
zu können. Und das liege nicht daran, daß man die internen
Operationen des Computers bereits als Kommunikation betrachten müsse,
die menschliche Kommunikation ersetzen oder gar überbieten könne.
Das war für Luhmann eher eine Verharmlosung des Problems. Was also
war das nicht lösbare Problem der Gesellschaft der Gesellschaft?
Vielleicht äußerte sich darin die Skepsis eines Gelehrten aus
dem späten 20. Jahrhundert, aber Luhmann war wohl davon überzeugt,
daß der Computer die Gesellschaft unsichtbar macht. Oder jedenfalls
einen wachsenden Teil von ihr. Diese Teilmenge, also die Leistungen der
unsichtbaren Maschine Computer, ist und bleibt dem Bewußtsein und
der Kommunikation unzugänglich, also auch die von ihnen konstruierte
Realität. Und doch wirkten sie über strukturelle Kopplungen
auf Menschen und die Gesellschaft ein.
Der Mensch
ist eigentlich nicht Subjekt, sondern Adjekt der Gesellschaft.
** |
Wie schon erwähnt: Nicht Menschen kommunizieren, sondern die Kommunikation
kommuniziert. Die Gesellschaft (Kommunikation) operiert (kommuniziert).
Dies bedeutet nicht, daß ein Mensch überhaupt nichts mit der
Kommunikation (Gesellschaft) zu tun hat. Er steht mit seinem Bewußtseinssystem
mit dem Kommunikationssystem (Gesellschaftssystem) in einem Verhältnis
der Interpenetration. Interpenetration ... bedeutet,
daß ... Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen, daß
sie in das jeweils andere ihre eigene Komplexität einbringen - sie
bleiben dabei füreinander Umwelt (Peter Zudeick **).
Aber ansonsten hat der Mensch mit der Kommunikation (Gesellschaft) nichts
zu tun. Er ist also nicht Subjekt, sondern lediglich Adjekt dieser Operationen.
Jede dieser Operationen (im Falle der Gesellschaft also: jede
ihrer Kommunikationen) vollzieht sich aufgrund vorhergegengener Operation
oder Operationen in dem durch sie entstandenen System, dem Kommunikationssystem
(Gesellschaftssystem) - und sonst nirgendwo.
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Systemkomplexität.
Ein System ist komplex, wenn die Menge der in ihm möglichen die
Menge der in ihm aktualisierten Ereignisse übersteigt. |
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Weltkomplexität.
Als Korrelat von Systemkomplexität ist die Weltkomplexität
die jeweilge Einheit der durch ein System ermöglichten und potentialisierten
Möglichkeiten. |
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Selbstreferentialität
von Komplexität.
Komplexität ist ein selbstreferentieller evolutionärer Zusammenhang
der gleichzeitigen Verminderung und Steigerung.
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System-Umwelt-Komplexität.
Im System ist die Menge möglicher Ereignisse geringer als in
seiner Umwelt. |
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Informationsmangel.
Komplexität ist die Information, die dem System fehlt, um sich
selbst bzw. seine Umwelt vollständig beobachten zu können. |
Die Komplexität ist zu verstehen als die systemselektive
Gesamtheit möglicher Ereignisse als Elementen; denn eine solche systemselektive
Menge von Elementen ist dann komplex, wenn nicht mehr jedes Element mit
jedem anderen Element verknüpfbar ist. Jede Ermöglichung von
selektiven Ereignissen beruht auf kontingenter Systembildung, wobei Systembildung
als evolutive Antwort auf eine sonst nicht übersehbare und beherrschbare
Fülle unbestimmter Möglichkeiten zu verstehen ist. Systembildung
heißt ja (wie schon gesagt), eine einmal getroffene Sinnentscheidung
gegenüber einer komplexen und sich weiterhin verändernden Umwelt
durchzuhalten, eine Ordnung des Systems gegenüber der Umwelt relativ
einfach und konstant zu halten. Kein System kann in sich alle ihm möglichen
Ereignisse gleichzeitig aktualisieren. Aus der Sicht des Systems enthält
die Umwelt des Systems immer mehr Ereignismöglichkeiten, als jemals
im System aktualisiert werden könnten. Jede Ausdifferenzierung eines
Systems bedeutet Erzeugung von geringerer systemeigener Komplexität
und größerer systembezogener Umweltkomplexität. Die Komplexität
wird in diesem Sinne zugleich reduziert und gesteigert. Werden die in
einem System selektiv zugelassenen und selektiv relationierten Ereignisse,
z.B. legitime Rechte, ihrerseits im System selektiv relationiert, d.h.
abstrahiert, z.B. positive Rechte, werden wieder mehr Ereignisse, etwa
rechtliche Entscheidungen, als zuvor möglich, da sie ja unbestimmter
und deshalb bestimmbarer geworden sind. Gleichzeitig wird Systemkomplexität
reduziert und Umweltkomplexität gesteigert. Logisch zwingend ist
nur die Gleichzeitigkeit von Reduktion und Steigerung, nicht aber in der
Zeit ein Steigerungsverhältnis bezüglich der Gesamtkomplexität.
Evolutorisch-historisch ist dennoch eine Steigerung von Gesamtkomplexität
wahrscheinlich.
Der Abgrenzung der sozialen Systeme gegen lebende
Systeme dient das psychische System. Der Begriff des psychischen Systems
ist ausdrücklich nicht an den klassischen Begriff des Subjekts gebunden,
für den ja Differenzen wie z.B. Subjekt/Objekt und empirisch/transzendental
noch konstitutiv sind. Das psychische System ist ein entsubjektiviertes
beobachtbares beobachtendes System. Er ist vor allem nicht vorstellbar
als ein Ort, von dem her sich eine Erkenntnistheorie gewinnen ließe,
denn das ist eine Veranstaltung des sozialen Systems. Erkenntnis als System
kann sich wie jedes System nur auf sich selbst beziehen, d.h. Umweltkontakt
als Realitätskontakt nur durch Selbstkontakt herstellen, real eine
systemeigene Unterscheidung von Realität leisten. Insgesamt ist so
Erkenntnis als System rekursiv in erkannter Realität als System abgesichert.
Erkenntnis als Konstruktion ist eine Konstruktion. Da Erkenntnis auf der
Beobachtung von Beobachtungen, aber nicht auf Gründen gründet,
operiert sie blind (vgl. blinder Fleck). Wenn jede Beobachtung
blind operiert, aber eben doch stattfindet (vgl. Paradoxie), dann
muß das, was beobachtet wird, ein Konstrukt sein: Konstrukttheorie
der Erkenntnis. Der systemtheoretische Konstruktivismus
weiß, daß er konstruiert und selbst konstruiert ist. Das ist
Realität, und das erzeugt Realität. Entscheidend ist die Frage,
ob das als Realität Erkannte dem Erkennenden durch die Realität
als so und nicht anders zu erkennen vorgegeben ist, ob einer Instrukt-
oder Konstrukttheorie der Erkenntnis der Vorzug zu geben ist. Realität
kann auch vom Instrukt zum Konstrukt und zum Dekonstrukt werden. Realität
ist dann einfach das, was unterschieden wird, einschließlich der
Realität des Unterscheidens. Das als instruiert bezeichnete Beobachten
leugnet jedoch die eigene Beobachtung als instruiert, während das
als konstruiert bezeichnete Beobachten sich selbst als konstruiert zu
beobachten vermag. Der Konstruktvariante oder dem systemtheorerischen
Konstruktivismus zufolge ist Realität ein beobachtungs- oder beobachterabhängiger,
weil als solcher unterschiedener Sachverhalt. Realität ist wie Sinn
und Welt ein differenzloser Begriff (differenzlos bezüglich
ihrer Begründbarkeit). Der systemtheoretische Konstruktivismus
unterscheidet sich vom radikalen Konstruktivismus durch Vermeidung einer
Radikalisierung der Subjektivität des Beobachtens. Denn würde
der Subjektstandpunkt radikalisiert, seiner Gegenseite, des Objekts, entledigt,
dann wäre keine Erkenntnis mehr möglich, da diese auf einer
Unterscheidung beruhen müßte. Der systemtheoretische Konstruktivismus
hat weniger den Abschluß oder die Vollendung klassischer Erkenntnistheorie
als mehr deren emergente Ersetzung zum Ziel. An die Stelle des sich seiner
selbst in Differenz zu seinem Objekt gewissen Subjekts tritt der quasi-objektivierte
Beobachter als ein beobachtendes System. An die Stelle des Objekts an
sich außerhalb des Subjekts tritt die Operation des Beobachtens
des Beobachters, wobei man sich diese Operation als einen quasi-objektlosen
Vollzug vorzustellen hat. Erkenntnis wird so zur Operation des Beobachters,
und der Gegenstand der Erkenntnis wird in und mit der Operation des Beobachters
gesetzt. In einem Satz: Erkenntnis wird als eine paradoxe selbstreferentielle
Operation (re)konstruiert. So könnte der systemtheoretische Konstruktivismus
auch operativer Konstruktivismus heißen.
Eine der Hauptleistungen Luhmanns ist, Bewußtseinstheorie in Systemtheorie
überführt zu haben. Theorien müsen sich bewähren (um
nicht zu sagen: bewahrheiten), indem sie durch die Empirie
bestätigt (um nicht zu sagen: verifiziert) werden. Luhmanns
starker Hang für Abstraktes ist allein schon Grund genug für
die Annahme, daß seine Systemtheorie weiterhin von der Empirie bestätigt
werden wird. Luhmann hatte zunächst Jura studiert, also seiner eigenen
späteren Terminologie zufolge in dem Subsystem (Teilsystem) Recht,
einem Funktionssystem des Gesellschaftssystems (Kommunkationssystems).
Zwei Jahre nach seinem Studium hatte er schon mit dem Aufbau seiner Zettelkästen
begonnen, drei Jahre danach seine Berufstätigkeit als Jurist im Bereich
der Verwaltung an verschiedenen Orten (Lüneburg, Hannover, Speyer).
Aber erst viel später begann seine berufliche Universitätskarriere
im Bereich der Soziologie, einem Subsubsystem des Subsystems Wissenschaft,
das wiederum ein Funktionssystem des Gesellschaftssystems (Kommunkationssystems)
darstellt. Wir halten fest: Jura, Verwaltung, Soziologie. Dazu kommt Luhmanns
Ader für Philosophie - nicht zuletzt aufgrund seines
starken Hangs für Abstraktes, für Theorien und eben für
Philosophie. Auch diese Fakten aus Luhmanns Biographie sprechen für
seine Systemtheorie.
Das Subsubsystem Soziologie innerhalb des Subsystems Wissenschaft hat
in seiner Geschichte nur wenige Erfolge errungen, einer davon ist die
von der Soziologie immer noch nich so recht begrüßte Systemtheorie
Luhmanns; also ist das Subsubsystem Sozologie gut beraten, Luhmanns Systemtheorie
intensiver anzuwenden und darauf mehr aufzubauen. Auch nach meinem Dafürhalten
kann man mit Hilfe der Systemtheorie mehr erklären und aufklären
als ohne sie. Luhmann hat eine Theorie über die Gesellschaft entwickelt,
doch alle anderen Soziologen vor ihm und auch nach ihm bis heute noch
nicht.
Wenn Luhmann ganz speziell die moderne Gesellschaft
als die funktional differenzierte Gesellschaft (**)
und somit als die Weltgesellschaft (**)
thematisiert, dann muß jeder Mensch, der als Subjekt versucht, sich
außerhalb dieser Gesellschaft zu stellen, um sie zu beschreiben,
erfolglos bleiben, weil dies nicht möglich ist, denn er kann nicht
außerhalb, sondern nur innerhalb dieser Gesellschaft sein. Man kann
die Existenz einer Weltgesellschaft bezweifeln, aber nicht deren Konsequenzen,
die sich aus ihr im Sinne der Systemtheorie Luhmanns ergeben. Denn wenn
es eine Weltgesellschaft gibt bzw. gäbe, dann sind bzw. wären
die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen nach meinem Dafürhalten
gleich oder zumindestens ähnlich denjenigen, die Luhmann mit Bezug
auf diese Weltgesellschaft beschrieben hat. Und wenn es keine Weltgesellschaft
gibt bzw. gäbe, dann gibt bzw. gäbe es an deren Stelle eben
jene Gesellschaften der Stratifikation (**)
oder/und der Zentrum/Peripherie-Unterscheidung (**)
oder/und der Segmente (**),
die zumindest in der Lage sind bzw. wären, die jeweils andere(n)
Gesellschaft(en) von außen zu beschreiben, allerdings sind bzw.
wären Menschen dieser Gesellschaften ebenfalls nicht in der Lage,
ihre jeweils eigene Gesellschaft von außen zu beschreiben, weil
sie selbst immer schon in eben dieser jeweils eigenen Gesellschaft sind
bzw. wären. Der Vorteil solcher vormodernen Gesellschaften ist aber
der, daß sie als Gesamtsystem ihre Subsysteme und Subsubsysteme
z.B. mittels einer Zentralinstanz steuern und also kontrollieren können.
Eine solche zentrale Macht fehlt in einer modernen Gesellschaft als Weltgesellschaft,
weil sie eine funktional differenzierte Gesellschaft ist, also in ihr
diese Macht verteilt, nämlich auf unterschiedliche Funktionssysteme
übertragen ist, obwohl (oder weil?) diese Funktionssysteme sich noch
nicht einmal gegenseitig absprechen, geschweige denn unterstützen
oder helfen können, denn es gilt ja gemäß der Systemtheorie,
daß jedes System, also auch jedes Funktionssystem,
ein autopoietisches (selbstreproduktives) und selbstbezügliches System
ist - und also der Rest Umwelt -, so daß es eben auch nur selbstreproduktiv
und selbstbezüglich kommunizieren kann.
Wer will denn abstreiten, daß in unserer, ausschließlich
auf der Grundlage der abendländischen Kultur operierenden (kommunizierenden)
Weltgesellschaft (**)
diejenigen ihrer Subsysteme, die gleichzeitig Funktionssysteme sind -
z.B. die Wirtschaft, die Politik, das Recht, die Wissenschaft u.v.a. -,
sich autopoietisch und selbstbezüglich verhalten? Gleiches gilt für
deren Teilsysteme u.s.w.. Wir können doch beobachten - unterscheiden
und bezeichnen -, daß die Götter und Subjekte (welche auch
immer), die aus ihren mächtigen Zentralen vertrieben worden sind,
in die Funktionssysteme oder andere Subsysteme und auch in die Subsubsysteme
und Subsubsubsysteme u.s.w. geflüchtet sind und sich mit anderen
Namen geschmückt haben: Weltbank, UNO, Menschenrechte, Ethikkommission
u.v.a.. Aber ihre frühere Allmacht haben sie verloren - durch funktionale
Differenzierung.
Was ist mit der Moral?
Die Moral
hat ja auch eine schlechte Seite, fordert dann aber als Moral, daß
man sich gegen das Schlechte wendet .... ** |
In modernen Zeiten ist die Moral mehr schlecht (böse) als gut.
Jedenfalls hat die Moral bzw. Ethik in der Wissenschaft eigentlich überhaupt
nichts zu suchen. Denn die Wissenschaft soll ungehindert forschen können.
Warum klappt das in den Naturwissenschaften (obwohl sich auch hier die
Moral immer mehr einmischt), aber nicht in den Sozial- und Geisteswissenschaften,
und zwar ganz besonders nicht in den Sozialwissenschaften? Das, was Luhmanns
Kritiker aus der Frankfurter Schule an Luhmanns Systemtheorie kritisieren,
ist das Fehlen von Moral bzw. Ethik; dabei zeichnet sie sich ja auch und
gerade durch das Fehlen von Moral bzw. Ethik aus; denn Luhmann glänzt
insbesondere mit seinen Unschuldsunterstellungen und seiner Gelassenheit.
Unschuldsunterstellungen und Gelassenheit sind genau diejenigen Tugenden,
die man als Wissenschaftler, insbesondere als Sozialwissenschaftler verinnerlicht
haben muß. Schuldzuweisungen und Ungelassenheit haben in der Wissenschaft
nichts zu suchen. Luhmann ist also auch als Wissenschaftler besser als
seine Kritiker.
Die Gründe
für Berufung auf Moral sind eben nicht mehr ohne weiteres »gute«
Gründe. Die Ethik selbst muß auf Gödel hören.
** |
Für die Soziologie (und auch für andere Subsubsysteme, die
Subsysteme des Subsystems Wissenschaft sind) gibt es grundsätzlich
zwei Möglichkeiten: (1) sie läßt sich weiterhin von der
Moral bzw. Ethik irritieren und beweist damit, daß sie ihren Anspruch,
eine Wissenschaftsdisziplin, also ein Subsubsystem des Subsystems Wissenschaft
zu sein, bald ganz aufgeben muß und wird; (2) sie verbannt die Moral
bzw. Ethik und beweist damit, daß sie eine Wissenschaftsdisziplin,
also ein Subsubsystem, das ein Subsystem des Subsystems Wissenschaft sein
will. Wenn gesagt wird, die Wissenschaft verstoße gegen oder nicht
gegen Moral bzw. Ethik, so liegt hier entweder ein Mißverständnis
oder ein Mißbrauch vor. Ich argumentiere hier also nicht gegen Moral
bzw. Ethik, sondern gegen Mißverständnisse und Mißbräuche
von bzw. durch Moral bzw. Ethik.
Also Ethik
müßte lernen, vor Moral zu warnen. ** |
Es gibt nichts, was der Gesellschaft die gesellschaftlichen
Normen verordnet, außer der Gesellschaft selbst, also: der Kommunikation
(gemäß meiner Theorie: Sprache i.w.S. [**]).
Natur, Götter, der eine Gott, Vernunft, das Subjekt (welches
auch immer) waren und sind nicht wirklich diejenigen, die gesellschaftliche
Normen vorgeben, sondern diejenigen, die dafür hergenommen
wurden und vielerorts heute noch werden, um so etwas wie eine Machtinstanz
zu haben, die von außen die Gesellschaft beobachten und kontrollieren
kann. Abgesehen von den schon erwähnten vielen Regionen, ist dies
offenbar obsolet geworden in der modernen Gesellschaft als der
funktional differenzierten Gesellschaft (**)
und somit der Weltgesellschaft (**),
zu der also auch die eben erwähnten vielen Regionen zu zählen
sind, weil eben diese Weltgesellschaft eine auf abendländische Werte
basierende und operierende (kommunizierende) ist. In ihrem Kern sind diese
immer stärker relativierten, ja fast (fast!) schon zerstörten
Werte zu Normen geworden, die in der Weltgesellschaft gelten, und zwar
unabhängig davon, wieviele Menschen für und wieviele Menschen
gegen diese Fast-nicht-mehr-existenten-Normen (eine Fast-Anarchie) sind.
Ob die Weltgesellschaft eines Tages sich in viele Gesellschaften zersplittern
(das würde formell bedeuten: zurückverwandeln) oder sogar die
ganze Menschheit zum Verschwinden bringen wird (nach meinem Dafürhalten
ist beides nicht unwahrscheinlich), ist weder in die eine noch
in die andere Richtung eindeutig vorherzusagen. Jetzt müssen wir
uns mit dem begnügen, was jetzt der Fall ist. Fatalismus? Nein. Der
Fatalismus-Vorwurf kommt meistens von denen, die an der Produktion
von Gründen für Fatalismus an vorderster Stelle beteiligt sind.
Mein einziger Rat an Menschen ist einer, der
auch von Luhmann stammen könnte:
Gelassenheit und Ironie annehmen und immer wieder
Ablehnung und Bekämpfung von Schuldzuweisungen und Zwangskonsensualismus
üben! |
Vielleicht geht das nur, wenn man - wie Luhmann - das Abstrakte liebt.
Einige Bemerkungen möchte ich aber auch noch an die Weltbürger
unter den Menschen richten.
Gemäß meiner Theorie ist die Weltgesellschaft
(**)
ein Konstrukt der abendländischen Kultur, wie schon mehrfach erwähnt
(**|**|**).
Die faustischen Träger dieser Kultur befinden sich nicht nur demographisch,
sondern auch ganz allgemein, also kulturell (mit Luhmann gesagt: gesellschaftlich)
im Abbau, im Untergangsprozeß. Der Untergang einer Kultur ist deren
Moderne (oder auch deren Zivilisation), kann also relativ lange dauern,
ist aber nicht aufzuhalten. Also ist auch das abendländische Kulturkonstrukt
Weltgesellschaft dabei, unterzugehen. Dafür, daß
Träger anderer Kulturen bereit sind, dieses für sie fremde Konstrukt
zu übernehmen, spricht gegenwärtig nichts. Es könnte also
noch in diesem oder im nächsten Jahrhundert eine Abkehr von der Weltgesellschaft
als der funktional differenzierten Gesellschaft (**)
und etwa gleichzeitig eine Rückkehr zu älteren Differenzierungsformen
der Gesellschaften, also zu den Gesellschaften der Stratifikation
(**)
oder/und der Zentrum/Peripherie-Unterscheidung (**)
oder/und der Segmente (**)
herbeigeführt werden, da sie noch nicht verschwunden, also immer
noch vorhanden sind, obwohl sie aufgrund der fast allmächtigen Dominanz
der Weltgesellschaft als der funktional differenzierten Gesellschaft an
Bedeutung verloren haben. Es könnte aber auch zu Katastrophen globalen
Ausmaßes kommen. Daß diese Weltgesellschaft eine Risikogesellschaft
ist, hat ja auch Luhmann oft gesagt; ich sage, daß allein schon
die abendländische Kultur eine Risikokultur, also noch mehr als nur
eine Risikogesellschaft ist.
Die abendländische Kultur könnte auch
die letzte ihrer Art (Historienkultur) sein und ihre Moderne, ihr Untergang,
ihre Weltgesellschaft, ihre funktional differenzierte Gesellschaft gleichzeitig
ein Übergang zu einer neuen Art von Kultur. Welche Art von Kultur
das auch immer ganz genau sein wird: sie könnte auch eine Kultur
ohne Menschen und dennoch eine Kultur mit Bewußtsein und Kommunikation
sein. Luhmann zufolge gibt es keine Kommunikation ohne Bewußtsein
und kein Bewußtsein ohne Kommunikation, obwohl die Kommunikation
ohne Menschen kommuniziert, also für die Kommunikation keine
Menschen benötigt werden, folglich die Kommunikation auch dann noch
kommunizieren wird, wenn es keine Menschen mehr geben wird. Darum läßt
sich vermuten, daß auch das Bewußtsein ohne Menschen
existiert, also für das Bewußtsein keine Menschen benötigt
werden, folglich das Bewußtsein auch dann noch existieren wird,
wenn es keine Menschen mehr geben wird. Luhmann zufolge ist das Bewußtsein
unabhängig vom menschlichen Gehirn, so wie auch die Kommunikation
unabhängig vom menschlichen Gehirn ist. Das Bewußtsein und
die Komunikation sind abhängig voneinander, aber nicht abhängig
von etwas anderem.
Wenn die Funktionssysteme eines Gesamtsystems - ob dieses das von Luhmann
(Welt-)Gesellschaft oder das von mir Kultur genannte
Gesamtsystem ist, ist im Zusammenhang mit diesem Thema hier irrelevant
- so komplex werden und dabei die Komplexität ihrer Umwelt (zu der
für sie ja auch eben dieses Gesamtsystem gehört, zu dem sie
selbst gehören) so weit reduzieren, daß diese Umwelt kollabieren
muß, dann wird diese Katastrophe unweigerlich zur Folge haben, daß
auch die Funktionssysteme kollabieren: sie würden also wegen ihrer
eigenen Komplexität kollabieren. Kein System kann ohne Umwelt
existieren. Wie weit haben es die Funktionssysteme des Gesamtsystems
in dieser Hinsicht bereits getrieben? Bis zu welchem Grad kann z.B. das
Funktionssystem Wirtschaft unseren Planeten ausbeuten, das Funktionssystem
Politik Wohlfahrt für alle versprechen und also
ebenfalls ausbeuten, das Funktionssystem Recht von Menschenrechten
sprechen und Ausbeutung meinen, das Funktionssystem Erziehung Bildung
für alle versprechen und also das Bildungsniveau drastisch
senken, um auf Kosten der echten Leistungsträger sich selbst auch
weiterhin erhalten zu können, das Funktionssystem Wissenschaft
sich erlauben, Nichtwissenschaft zu treiben, um auf Kosten der echten
Leistungsträger sich selbst auch weiterhin erhalten zu können,
das Funktionssystem Medien sich erlauben, Lügen zu verbreiten
... u.s.w.? Anders gefragt: Bis wie weit können die Funktionssysteme
die Komplexität ihrer Umwelt reduzieren, um nicht selbst aufgrund
ihrer eigenen zu hohen Komplexität zu kollabieren? Moralisch gefragt:
Sollten alle Funktionssysteme ihre Komplexität auf Kosten ihrer Umwelt
bis zu ihrem anarchischen, chaotischen, ja entropischen Ende aufblähen
dürfen?
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Quadrialismus mit 8 Disziplinen (Welten). |
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Dynamisches Yin-Yang Prinzip. |
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2 Unterdisziplinen-Beispiele (rote
Kreise). |
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Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat ein so umfangreiches System
als Werk vorgelegt, daß alle Subsysteme des Subsystems Wissenschaft
von ihm profitieren können. (In den Abbildungen ist mein Acht-Welten-Modell
mit dem hiefür wichtigsten acht Wissenschaftsdisziplinen zu sehen,
die alle anderen Wissenschaftsdisziplinen und damit das gesamte Subsystem
Wissenschaft abdecken.) In Luhmanns drei Sinndimensionen
(**)
ist diejenige, die es Luhmann am meisten angetan hat, die Sozialdimension,
in der es um Gesellschaft im Sinne von Kommunikation geht, also
um Information, Mitteilung und Verstehen - Verstehen als Einheit
der Differenz von Information und Mitteilung. (In meinem Acht-Welten-Modell
befindet sich die Kommunikation in der Hauptsache in den Disziplinen Semiotik
und Linguistik, die wiederum zwischen den Disziplinen Ökonomie und
Philosophie zu finden sind, während die Unterdisziplinen Soziologie
und Psychologie zu vier verschiedenen Disziplinen gehören - vgl.
Abbildungen). Es ging Luhmann darum, in der Soziologie endlich Ordnung
zu schaffen, und zwar als Philosoph, dem die Sozialdimension half, in
die Soziologie eine semiotisch-linguistische Ordnung - die Kommunikation
- zu bringen. Luhmann war nicht nur Jurist, nicht nur Verwaltungsbeamter,
nicht nur Soziologe, sondern auch und besonders Philosoph.
Ich erinnere an das eingangs erwähnte Zitat: Wenn Luhmann
... der Hegel des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dann wird sich das nicht
zuletzt durch das Auftreten von Jungluhmannianern bewahrheiten, die sich
mit einer erneuten existentialistischen Abweichung vom Systemdenken bemerkbar
machen. (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger,
2001, S. 140-141 **).
Wenn diese Analogie ganz genau zutrifft, dann dürften die ersten
Jungluhmannianer ab 1960 geboren worden sein.
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