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Oswald Arnold Gottfried Spengler
(1880-1936)

Lob, Kritik, Skepsis.

- Seiten -
Anmerkungen zum „Untergang des Abendlandes“ (I und II)
Aphorismen
Arbeitszimmer
Biographie
„Das Doppelantlitz Rußlands und die deutschen Ostprobleme“
„Das heutige Verhältnis zwischen Weltwirtschaft und Weltpolitik“
„Das Verhältnis von Wirtschaft und Steuerpolitik seit 1750“
„Der Mensch und die Technik“
„Der Untergang des Abendlandes“ (I und II)
„Jahre der Entscheidung“
Kulturen gemäß Spenglers Theorie
„Neubau des Deutschen Reiches“
„Neue Formen der Weltpolitik“
Nicht Veröffentlichtes
„Politische Pflichten der deutschen Jugend“
Postum Veröffentlichtes
„Preußentum und Sozialismus“
Spengler, Heidegger, Jünger
Spenglerianer
Verweise
Verweise zu den bedeutendsten Zitaten u.a.
Werke
Werke-Verzeichnis
Zur Kritik

In meinem Tagebuch 2000 ist u.a. zu lesen: „Der Kulturphilosoph Oswald Spengler wagte den »Versuch ..., Geschichte vorherzubestimmen« (**). .... Ich ... gehe ... - ganz im Sinne des Kulturphilosophen Oswald Spengler - davon aus, daß die Prozesse der Kulturen in ihrer tiefsten Logik denen der Natur ähneln. Auch Kulturen fangen »klein« an, blähen sich auf und fallen in sich zusammen, d.h. sie verschwinden scheinbar, doch in Wahrheit bleibt ein geschrumpfter Rest - ein »weißer Zwerg« oder ein »Neutronenstern« oder sogar ein »Schwarzes Loch« - zurück. Auch Kulturen sind abhängig von Bedingungen, ... haben einen »Mittelpunkt« und oft auch »Nachbarn«, die sich gelegentlich »einmischen«. Viele Kulturen - nämlich diejenigen, die sich durchsetzen können - gehorchen jahreszeitlichen Bedingungen. Sie durchlaufen Phasen des unterirdischen Wachsens, der Blüte und Hochblüte sowie der Vollendung und des Verfalls. Nicht selten produzieren sie neue Kulturen, und das müssen oder sollten sie auch, weil auch Kulturen sterblich sind.“ **

Hubert Brune, Tagebuch 2000, Textauszüge vom 09.01.2000, vom 15.01.2000, vom 16.01.2000.

Goethe und Nietzsche verdankte Spengler „so gut wie alles“ (**). Wenn Nietzsche einst Schopenhauer und Wagner nannte, dann kann ich vielleicht Spengler und Sloterdijk nennen (**). Meine Kulturtheorie unterscheidet sich zwar - in Teilen sogar sehr (!) - von Spenglers, aber dennoch hat Spengler mir viele Anregungen hinsichtlich der Analogien gegeben, während Sloterdijk mit seinen Schriften mir Mut machte, das reine und teilweise zu spezialisierte Feld der Wissenschaft zu verlassen, um in der Philosophie vielleicht mehr Erkenntnisse gewinnen zu können. Und hatte Spengler nicht eine ähnliche Entwicklung durchgemacht, als er, von der Mathematik und den Naturwissenschaften ausgehend, zur Kulturphilosophie gelangte, obwohl er ein ambivalentes Verhältnis zur Philosophie zu haben schien?

Gemäß Spengler beginnt die menschliche Kulturgeschichte mit der ersten der monad(olog)ischen Kulturen (die sich übrigens begrifflich nicht ganz decken mit denen, die ich „Historienkulturen“ nenne), indem die jeweilige Landschaft und der ihr entsprechende Typus von Mensch allmählich einen Adel hervorbringt, der die Geschicke dieser Kultur leitet. Dieser Adel ist ein Urstand, der erste Urstand und der erste Stand, dem ein zweiter als Gegen-Stand (der zweite Urstand und der zweite Stand) die Stirn bietet. Der dritte Stand kommt erst später ins Spiel, und der vierte, den Spengler den „Nicht-Stand“ nennt, ist derjenige, der mit dem Beginn der Zivilisation einer jeden Kultur auftaucht, zu allem „nein“ sagt und alle Stände wie die gesamte zivilisatorisch gewordenen Kultur vernichten will, so daß am Ende dieses Vernichtungsprozesses von der Kultur entweder gar nichts mehr oder nur noch ein erstarrter, vergreister und vereister Zivilisationsrest übrigbleibt: die Kultur im Winterschlaf.

Spengler bevorzugte den Menschen der Tatsachen gegenüber dem Menschen der Wahrheiten, was nicht bedeutet, daß er letzteren verachtete, denn schließlich verwirklichen sich gemäß Spengler diese beiden Menschentypen in den zwei Urständen Adel und Priestertum, wobei er allerdings den Adel als den ersten und damit entscheidenden der beiden Urstände ansah. Ein „primitiver Rangunterschied auf Grund bloßer Tatsachen des äußeren Lebens“ (**) ist es, der zu Standesunterschieden führt, also Stände erst entstehen läßt, wodurch die Bauern zum Nicht-Stand degradiert werden (vom späteren „vierten Stand“, der mit der Zivilisation zusammen auftaucht und wiederum ein Nicht-Stand ist, ist hier nicht zu reden), denn bevor es überhaupt Stände gab, gab es nur Bauern oder - in noch viel älterer Form - Jäger und Sammler. Aber nicht die „Kultur“ der Jäger und Sammler, sondern die der Bauern (Ackerbauern und Viehzüchter), also die Agrikultur ist eine entwicklungsmäßige Voraussetzung für die Entstehung jener höherwertigen Arten von Kultur, um die es Spengler ging, die er Hochkulturen nannte - allesamt Ergebnisse des Weges von der Agrikultur zur Stadtkultur bzw. Schriftkultur und also auch Historienkultur -, weshalb ich diese Kulturarten „Historienkulturen“ nenne. Nachdem sie sich vollendet haben, also wenn sie bereits „erstarrt“ oder „vergreist“ sind, münden sie wieder in ihre Ausgangsbasis, also jene Agrikultur, oder sogar, obschon seltener, in die Ausgangsbasis der Agrikultur, nämlich jene Jäger-und-Sammler-Kultur, was eine Rückkehr zur Natur bedeutet. Der „größere“ Zyklus scheint also der von der Natur zur Kultur und wieder zurück zur Natur zu sein.

• JSAK und HK • • JSK und AHK • • JSK und AK und HK •
3 Kulturformen 2 Kulturformen 2 Kulturformen
(1) Primitivkulturform.
(2) Historienkulturform.
(1) Primitivkulturform.
(2) Agri-Historienkulturform
.
(1) Primitivkulturform.
(2) Agrikulturform.
(3) Historienkulturform
.

Da ich eben von vielen, prinzipiell unzählig vielen verschiedenen „Hochkulturen“ oder „Historienkulturen“ gesprochen, aber nur drei verschiedene Kulturformen genannt habe, möchte ich den Sachverhalt mit Hilfe einer Abbildung erläutern. Ich sage: „Die Geschichte der Menschheit verläuft auf mindestens zwei Bahnen“ (**|**), und das heißt, daß sie auch auf mehr als zwei, z.B. drei „Bahnen“ verlaufen kann. Für Spengler gab es nur zwei Kulturformen, nämlich: (1) die Primitivkulturform und (2) die Hochkulturform (obwohl auch er - z.B. in seinem 1931 erschienenen Buch „Der Mensch und die Technik“ - drei Kulturformen nannte: (1) die Form der „Kultur der bewaffneten Hand“ [**|**], (2) die Form der „Kulturen des Sprechens und Unternehmens“ [**|**] und (3) die Form der „Hochkulturen“ als „Kulturen der Städte“ [**|**]). Die Hochkulturform nenne ich „Historienkulturform“, weil sie auf dem beruht, was die Agrikultur auf dem Wege zu ihrer Hochform über die Formen oder Systeme von Wirtschaft, Stadt, Politik und Schrift entwickelt: „Historie“. Spengler hat all dies etwas anders, aber doch zumindest im Grunde ähnlich hergeleitet wie ich. In diesem Zusammenhang läßt sich fragen, ob die Jäger-Sammler-Kultur und die Agrikultur zusammen zur Primitivkulturform gehören, ob die Agrikultur und die verschiedenen Historienkulturen zusammen zur Historienkulturform gehören, oder ob jede der drei eine Kulturform für sich ist. Die Antwort darauf ist zwar nicht sehr einfach, aber auch nicht wirklich sehr wichtig im Zusammenhang mit dem Thema hier, denn es reicht aus, was hier möglich ist, nämlich: in jedem der drei möglichen Fälle von mindestens zwei Kulturformen auszugehen, wobei klar sein dürfte, daß die Jäger-Sammler-Kultur und die Historienkulturen in keinem der drei möglichen Fälle eine gemeinsame Kulturform bilden können.

Solange sich die Lebensbedingungen der Jäger und Sammler nicht sehr veränderten, sahen sie nie einen Sinn darin, Landwirtschaft zu betreiben, eine Stadt zu bauen, eine Schrift zu entwickeln. Natürliche Veränderungen wie Naturkatastrophen oder Klimawandel mit der Folge von bio- und ökologischen Veränderungen führten dazu, daß die Jäger und Sammler ihre für sie typische aneignende Wirtschaftsform in Richtung auf eine auf Ackerbau und Viehzucht bezogene Wirtschaftsform hin änderten. Es ist immer die Not, die eine derartige Veränderung notwendig macht - in der Wortkomposition „Notwendigkeit“ ist nicht zufällig das Wort „Not“ enthalten. Die aneignende Wirtschaftsform erfordert viel weniger Energieaufwand als die auf Ackerbau und Viehzucht bezogene Wirschaftsform. Also kann nur Not zu einer auf mehr Energieaufwand setzende Wirtschaftsform geführt haben. Ein schönes deutsches Sprichwort sagt bekanntlich: „Not macht erfinderisch“.

Es gibt - von der abendländischen „Industriellen Revolution“ einmal abgesehen - keine andere Veränderung innerhalb der menschlichen Entwicklung, die eine ähnlich große Bedeutung erreicht hat wie die „Neolithische Revolution“. Die abendländische „Industrielle Revolution“ ist aber zu jung, um ein endgültiges historisches Urteil über sie zu fällen. Wahrscheinlich werden ihre Auswirkungen die der „Neolithischen Revolution“ um ein unglaublich Vielfaches übertreffen, und zwar trotz der Berücksichtigung des Aspekts der Relativität. Die abendländische „Industrielle Revolution“ bedeutet einen Übergang, vergleichbar mit dem der „Neolithischen Revolution“, die ich oben als Übergang zwischen der Primitivkulturform und der Historienkulturform beschrieben habe. Vielleicht muß die abendländische „Industrielle Revolution“ als Übergang zwischen der Historienkulturform und der Maschinenkulturform gedeutet werden.

Spengler hat sich selbstverständlich auch mit dem Thema „Maschine“ beschäftigt (**|**). „Der faustische Erfinder und Entdecker ist etwas Einzigartiges“ (**) und steckte schon in den Gehirnen der ersten abendländischen „Mönche“ (**) - das ist gewissermaßen der „religiöse Ursprung“ (**) der abendländischen Technik -, denn „diese inbrünstigen Erfinder in ihren Klosterzellen, die unter Beten und Fasten Gott sein Geheimnis abrangen, empfanden das als einen Gottesdienst. Hier ist die Gestalt Fausts entstanden, das große Sinnbild einer echten Erfinderkultur.“ (**). Und als Ergebnis des Rationalismus sozusagen, nämlich gegen Ende des Spätrationalismus folgte konsequenterweise „die Erfindung der Dampfmaschine, die alles umstürzt und das Wirtschaftsbild von Grund aus verwandelt. .... Mit den Millionen und Milliarden Pferdekräften steigt die Bevölkerungszahl in einem Grade, wie keine andre Kultur es je für möglich gehalten hätte. Dieses Wachstum ist ein Produkt der Maschine, die bedient und gelenkt sein will und dafür die Kräfte jedes Einzelnen verhundertfacht. Um der Maschine willen wird das Menschenleben kostbar. Arbeit wird das große Wort des ethischen Nachdenkens. Es verliert ... seine geringschätzige Bedeutung. Die Maschine arbeitet und zwingt den Menschen zur Mitarbeit. Die ganze Kultur ist in einen Grad von Tätigkeit geraten, unter dem die Erde bebt.“ (**). Dieser „Triumph ..., der nur einer Kultur geglückt ist“ (**), bedeutet also auch, daß „gerade damit ... der faustische Mensch zum Sklaven seiner Schöpfung geworden“ (**) ist (**|**|**|**). Faustische Geschichte ist eben besonders tragisch, wie wir wissen.

Die abendländische Kultur ist eine Maschinenkultur. Doch was würde es bedeuten, wenn die Maschinen vom Menschen unabhängig, also selbständig, selbst eine Kultur sein würden? Wie genau würde dieser Zustand erreicht werden können? Würde der Untergang des Abendlandes jäh unterbrochen, also ein jähes Ende der abendländischen Kultur durch eine neue Kulturform, nämlich durch eine Maschinenkulturform herbeigeführt werden, dann würde das nicht nur das Aus der abendländischen Kultur, sondern der gesamten Historienkulturform, vielleicht sogar der gesamten Menschheit bedeuten. Spengler zufolge schreitet die „Weltgeschichte von Katastrophe zu Katastrophe fort .... Man nennt das heute ... Mutation“ (**). Es würde die dritte die Menschen betreffende Mutation sein, denn von zwei Mutationen waren die Menschen bereits betroffen (**|**). Man darf hoffen, daß Spengles Aussage richtig ist, daß der Untergang des Abendlandes erst „nach 2200“ beendet sein werde. ** ** ** ** ** ** **

„Spengler rächt sich, indem er recht behält.“
(Theodor Wiesengrund Adorno).

 

Spengler arbeitete viel mit Begriffspaaren. Es folgen einige Beispiele:

Zeit Raum
Richtung Ausdehnung
Nichtumkehrbarkeit Umkehrbarkeit
Leben Welt
Zeugung Tod
Schicksal (Logik der Zeit) Kausalität (Logik des Raumes)
Schicksalsidee Kausalitätsprinzip
Geschichte (Verwirklichung einer Seele) Natur
Werden Gewordenes
Tragik Technik
Einmalig-Wirkliches Beständig-Mögliches
Merkmal des Einmal-Tatsächlichen Merkmal des Ständig-Möglichen
Logik des Organischen Logik des Anorganischen und Mechanischen
Pflanzenhaftigkeit Tierhaftigkeit (= Pflanzenhaftigkeit + „X“ [aus dem äußeren Keimblatt hervogehend])
Verbundenheit Freiheit (im Verhältnis zum Makrokosmos)
Urfrage: Wann? (Warum?) Urfrage: Wo? (Wie?)
Chronologie und chronolgische Zahl Mathematik und mathematische Zahl
Gestalt Gesetz
Analogie als Mittel, lebendige Formen zu verstehen Mathematisches Gesetz als Mittel, tote Formen zu erkennen
Periodizität Polarität
Tatsachen Wahrheiten
Dasein Wachsein
Adel Priestertum
Rasse Sprache
Symbol (in der Richtung), Bild, Gleichnis Symbol (in der Ausdehnung), Zahl, Begriff, Formel
Land Stadt
Weib Mann
Geschlechtsleben Sinnenleben
Blut / Herz Nerven (Geist) / Gehirn
Blutkreislauf und Fortpflanzung   Sinne und Nerven
Organismus (organische Weltanschauung) Mechanismus (mechanische Weltanschauung)
Lebensgefühl Erkenntnisweise
Physiognomik Systematik
Kenner (Kentnisse, Erlebnisse) Erkenner (Erkenntnisse)
Planvoll ordnende Einbildungskraft Zweckmäßig zergliedernde Erfahrung
Täter (Handelnder) Denker (Grübelnder)
Takt Spannung
Weltliches Geistliches
Kosmos Mikrokosmos in bezug auf einen Makrokosmos
Staat Kirche
Kaisertum Papsttum
Geschlechterfolge / Genealogie Character indelebilis / Zölibat
„Gut und schlecht“ als Totembegriff „Gut und böse“ als Tabubegriff
Ehre Sünde
Wirtschaft / Geld Wissenschaft / Geist
Burgen, Schlösser, Paläste Klöster, Kirchen, Dome
Geldadel (zivilisierter Adel) Geistadel (zivilisiertes Priestertum)
„Ja“ (1. Stand [1. Urstand]) „Nein“ (2. Stand [2. Urstand] als Gegen-Stand)
Hier Dort
Sehnsucht Angst
Totem   Tabu
Politik   Religion
Tiefe   Flachheit
Alle Wesen   Freibewegliche Wesen

Diese Begriffspaare sind aber nicht immer lösgelöst von Querverbindungen zu verstehen, wie auch die folgende Abbildung aus Spenglers Hauptwerk zeigt:

Vgl. Oswald Spengler, „Der Untergang des Abendlandes“, 1918, S. 138

Gemäß dieser Abbildung beziehen sich das Begriffspaar Dasein und Wachsein und die anderen hier erwähnten Begiffspaare nicht auf dieselbe Ebene.

Zum Physiognomik-Systematik-Gegensatz sei gesagt, daß Spengler in der Systematik der Kausalisten einen der vielen Gründe sah, die den Untergang einer Kultur beschleunigen, der Ausdehnung dienen und sich auch solche Gebiete einverleiben, die ihnen eigentlich gar nicht zustehen, z.B. den größten Teil des Gebiets Geschichte (Geschichte völlig und rein kausal zu erklären, ist nicht möglich). Spengler ging es nicht darum, die Systematiker zu verteufeln und zu vertreiben. Er sprach ihnen einen gleichberechtigten Platz neben den Physiognomikern zu, wußte aber, daß die Systematiker seit dem Übergang der Kultur in Zivilisation immer mächtiger, also auch expansiver werden, was bedeutet, daß sie die Physiognomiker verdrängen. Am Anfang der Kulturgeschichte waren die Machtverhältnisse noch umgekehrt. Jeder weiß das auch aus der Kindheit, wenn nur weniges kausal und vieles bildlich (eidetisch) verstanden wird, während die Erwachsenen nur noch weniges bildlich (eidetisch) und vieles kausal erklären.

Hauptsächlich betrifft der Unterschied zwischen meiner und Spenglers Kulturtheorie die „Lebens“dauer (einschließlich „Vorgeburtszeit“), die auf Leibniz zurückgehende Monadologie, die Zyklizität und die Kulturangehörigkeit. Gemäß meiner Kulturtheorie haben nämlich die eventuell über ihren jeweiligen 2150-Jahre-Zyklus hinaus existierenden Historienkulturen relativ regen Kontakt untereinander und sind nicht ganz so „hoch“ einzuordnen wie die eventuell über ihren jeweiligen 1000-Jahre-Zyklus hinaus existierenden und monadologisch zu verstehenden Hochkulturen gemäß Spenglers Kulturtheorie. Die Zeitspanne bezieht sich also auf die „Lebens“dauer, die gemäß meiner Theorie übrigens auch eine Vorgeburtszeit von 7 bis 8 Jahrhunderten einschließt. Die Kulturen sind meiner Theorie zufolge nicht so geschlossen, als wären sie Monaden (wie bei Spengler), sondern eher offen gegenüber anderen Kulturen (fast wie bei Toynbee). „Vergreiste“ Phasen sind gemäß meiner Theorie noch nicht völlig starr (wie bei Spengler), sondern können noch im Zyklus bleiben, wenn auch nur schwach. Die Geschichte der Menschen verläuft meiner Theorie zufolge auf mindestens zwei Bahnen (**|**|**), d.h. als eine Geschichte i.w.S. (Menschenkultur) und als eine Geschichte i.e.S. (Historienkulturen, die bei Spengler „Hochkulturen“ heißen und der einzigen geschichtlich relevanten Kulturform angehören), was u.a. bedeutet, daß die zwischen diesen beiden vermittelnde und erstmals durch die „Neolithische Revolution“ ausgelöste Agrikultur (1.) noch der Geschichte i.w.S., also nur der Menschenkultur, oder (2.) schon der Geschichte i.e.S. (Historie), also bereits einer bestimmten Historienkultur, oder (3.) keiner von beiden angehört und also lediglich vermittelnd wirkt, wie schon gesagt.

Ich enthalte mich (**), was die „Tiefe“ angeht, die Spengler zufolge „die eigentliche Dimension im wörtlichen Sinne, das Ausdehnende“ (**) und als Erlebnis das ist, „was zunächst durch das Wort Zeit bezeichnet wird“ (**), den Raum überhaupt erst erscheinen läßt, so daß gesagt werden kann: „die Zeit gebiert den Raum“ (**). Menschen beginnen ihr vorgeburtliches Leben nicht mit einer eher ausgereiften als unausgereiften, sondern mit einer eher unausgereiften als ausgereiften Bildung an Geometrie. „Das schicksalhaft gerichtete Leben erscheint, sobald wir erwachen, im Sinnenleben als empfundene Tiefe. Alles dehnt sich, aber es ist noch nicht »der Raum«, nichts in sich Verfestigtes, sondern ein beständiges Sich-dehnen vom bewegten Hier zum bewegten Dort. Das Welterlebnis knüpft sich ausschließlich an das Wesen der Tiefe - der Ferne oder Entfernung - deren Zug im abstrakten System der Mathematik neben Länge und Breite als »dritte Dimension« bezeichnet wird. .... Das Erlebnis der Tiefe ist – von dieser Einsicht hängt alles Weitere ab – ein ebenso vollkommen unwillkürlicher und notwendiger als vollkommen schöpferischer Akt, durch den das Ich seine Welt, ich möchte sagen zudiktiert erhält.“ (**). Das Erlebnis der Tiefe „dehnt die Empfindung zur Welt. Das Gerichtetsein des Lebens war mit Bedeutung als Nichtumkehrbarkeit bezeichnet worden und ein Rest dieses entscheidenden Merkmals der Zeit liegt in dem Zwang, auch die Tiefe der Welt stets von sich aus, nie vom Horizont aus zu sich hin empfinden zu können. Der bewegliche Leib aller Tiere und des Menschen ist auf diese Richtung hin angelegt. Man bewegt sich »vorwärts« – der Zukunft entgegen, mit jedem Schritt nicht nur dem Ziel, sondern auch dem Alter sich nähernd – und empfindet jeden Blick rückwärts auch als den Blick auf etwas Vergangnes, bereits zur Geschichte Gewordnes.“ (**). Der Lebensphilosoph Spengler geht hier also von der Art und Weise des Erlebens aus und von dem Zeitpunkt aus, an dem die Seele erwacht (und zwar „mit einer neuen »Weltanschauung«, das heißt einem plötzlichen Blick auf den Tod als dem Geheimnis der erschauten Welt“ [**]). Denn:
„Erst mit dem Wachwerden der Seele erhebt sich auch die Richtung zum lebendigen Ausdruck. Und da ist antik das Ruhen in der nahen Gegenwart, das sich allem Fernen und Künftigen verschließt, faustisch die Richtungsenergie, die nur für die fernsten Horizonte einen Blick hat, chinesisch das Wandeln vor sich hin, das doch einmal zum Ziele führt, und ägyptisch der entschlossene Gang auf dem einmal eingeschlagenen Wege. So offenbart sich die Schicksalsidee in jedem Lebenszuge. Erst damit gehören wir einer einzelnen Kultur an, deren Glieder ein gemeinsames Weltgefühl und aus ihm eine gemeinsame Weltform verbindet. Eine tiefe Identität verknüpft beides: Das Erwachen der Seele, ihre Geburt zum hellen Dasein im Namen einer Kultur, und das plötzliche Begreifen von Ferne und Zeit, die Geburt der Außenwelt durch das Symbol der Dehnung, die von mun an das Ursymbol dieses Lebens bleibt und ihm seinen Stil und die Gestalt seiner Geschichte als der fortschreitenden Verwirklichung seiner inneren Möglichkeiten gibt. (**|**). Erst aus der Art des Gerichtetseins folgt das ausgedehnte Ursymbol, nämlich für den antiken Weltblick der nahe, fest umgrenzte, in sich geschlossene Körper, für den abendländischen der unendliche Raum mit dem Tiefendrang der dritten Dimension, für den arabischen die Welt als Höhle. Hier löst sich eine alte philosophische Frage in Nichts auf: Angeboren ist diese Urgestalt der Welt, insofern sie ursprüngliches Eigentum der Seele dieser Kultur ist, deren Ausdruck unser ganzes Leben bildet; erworben ist sie, insofern jede einzelne Seele jenen Schöpfungsakt für sich noch einmal wiederholt und das ihrem Dasein vorbestimmte Symbol der Tiefe in früher Kindheit, wie ein ausschlüpfender Schmetterling seine Flügel, entfaltet. Das erste Begreifen der Tiefe ist ein Geburtsakt, ein seelischer neben dem leiblichen. Mit ihm wird eine Kultur aus ihrer Mutterlandschaft geboren, und das wird in ihrem ganzen Verlauf von jeder einzelnen Seele wiederholt.“ **
Bis zum „Tod“ der Kultur wird ihr Ursymbol sie begleiten, ja: bestimmen, beherrschen.

Spengler und ich sind uns einig, daß es zwei verschiedene menschlichen Kulturformen gibt. Denn „der Mensch ist als Element und Träger der Welt nicht nur Glied der Natur, sondern auch Glied der Geschichte, eines zweiten Kosmos ....“ (**), wenn man so will, denn „der einzelne Mensch gehört durch seine Geburt entweder einer der hohen Kulturen an oder nur dem menschlichen Typus überhaupt. Eine dritte große Lebenseinheit gibt es für ihn nicht.“ (**). Diese „hohen Kulturen“, die ich als „Historienkulturen“ bezeichne, gibt es seit rund 6000 Jahren. Zuvor gab es nur die menschliche Primitivkultur. Da die Zahl der Historienkulturen zugenommen hat und vor allem eine Historienkultur, die abendländische, den gesamten Globus erobert hat, ist heute fast jeder Mensch Mitglied einer Historienkultur, entweder direkt (Kulturübernahme von den Ahnen) oder indirekt (Kulturübernahme von den Fremden). Vielleicht wäre es besser, wenn es mehr an menschlicher Primitivkultur und weniger an menschlicher Historienkultur gäbe - man denke nur an die Überlebenschancen, die sich vermindern würden, wenn es nur noch eine der beiden Kulturformen geben würde. Noch ist das nicht ein aktuelles Problem. Denn gegenwärtig gibt es noch die beiden verschiedenen menschlichen Kulturformen. Jeder Mensch gehört meiner Kulturphilosophie zufolge der ersten (primitiven) oder der zweiten (historischen) oder beiden (primitiven und historischen) an. Das ist auch ein Unterschied zu Spenglers Kulturphilosophie, der zufolge jeder Mensch nämlich entweder der einen oder der anderen angehört - eine dritte Möglichkeit gibt es also gemäß Spenglers Kulturphilosophie für den einzelnen Menschen nicht. „Aber damit liegt sein Schicksal entweder im Rahmen der zoologischen oder der »Weltgeschichte«. Der »historische Mensch«, wie ich das Wort verstehe und wie es alle großen Historiker immer gemeint haben, ist der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur. Vorher, nachher und außerhalb ist er geschichtslos. Dann sind die Schicksale des Volkes, zu dem er gehört, ebenso gleichgültig wie das Schicksal der Erde, wenn man es nicht im Bilde der Geologie, sondern der Astronomie betrachtet.“ (**). Diese Geschichtslosigkeit ist es, die ich hin und wieder etwas anders beurteile als Spengler und deshalb mich auch wieder zurückbezogen habe auf z.B. Ernst Nolte, der sich mit dem Thema „Ende der Geschichte“ (**) sehr intensiv beschäftigt hat, besonders in seinem Buch „Historische Existenz“ (**). Gemäß Spengler ist der Mensch ohne „hohe Kultur“ geschichtslos.

Man kann „Geschichte“ und „Natur“ so definieren, daß die Natur Geschichte hat. Ja. Aber sollte man das? Sowohl für die Natur als auch für die Kultur reservieren wir die Wörter „Veränderung“, „Entwicklung“ und „Evolution“, für die Kultur (und nur für sie!) aber zusätzlich noch das Wort „Geschichte“. Das wäre eine andere Möglichkeit. Und sie wird auch zumeist so verwirklicht - abgesehen von denen, die es nicht sein lassen können, alles zu „vereinigen“ und darum „Holisten“ genannt werden. Wenn aber das gemeinsame Auftauchen der Wörter „Natur“ und „Geschichte“ tabuisiert ist, wird dadurch das freie Denken eingeschränkt. Also ist der Definitionsweg allein nicht ratsam. Aber definieren wir nicht sowieso ständig? - Spengler bezog sich auf den Physiognomik-Systematik-Gegensatz (**) und den Schicksal(sidee)-Kausalität(sprinzip)-Gegensatz (**), um das Problem der Weltgeschichte (**) zu lösen. Diejenigen, die sich auf einem mehr intuitiven und anschaulichen Weg mit der Geschichte beschäftigen, konzentrieren sich vornehmlich auf Physiognomik und Schicksal, während diejenigen, die sich auf geistigem Weg mit der Natur beschäftigen, sich vornehmlich auf Systematik und Kausalität konzentrieren. Beide Wege sind stets möglich, doch nur der erstere wird im Leben, in der Kultur, in der Geschichte einen Sinn oder ein Ziel finden können, aber der letztere nicht, jedenfalls zuletzt nicht. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Kultur(en), der Geschichte ist entscheidend, aber man kann sie nicht auf rein systematische und kausalistische Weise beantworten, weil deren Antworten früher oder später stets auf so etwas wie Zufall im Sinne von Sinnlosigkeit hinauslaufen, während die physiognomischen und schicksalsbezogenen Antworten den Zufall ganz anders verstehen und darum auch die Sinnhaftigkeit befürworten können.

„Aber »die Menschheit« hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. »Die Menschheit« ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. (»Die Menschheit? Das ist ein Abstraktum. Es hat von jeher nur Menschen gegeben und wird nur Menschen geben« [Goethe zu Luden].)“ **
Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip.  –  Dieser Grundgedanke erschließt endlich den Blick auf einen Gegensatz, der den Schlüssel zu einem der ältesten und mächtigsten Menschheitsprobleme bildet, das erst durch ihn zugänglich und - soweit das Wort überhaupt einen Sinn hat - lösbar erscheint: den Gegensatz von Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip, der wohl niemals bisher als solcher, in seiner tiefen, weltgestaltenden Notwendigkeit erkannt worden ist. Wer überhaupt versteht, inwiefern man die Seele als Idee eines Daseins bezeichnen kann, der wird auch ahnen, wie nahe verwandt ihr die Gewißheit eines Schicksals ist und inwiefern das Leben selbst, das ich die Gestalt nannte, in welcher die Verwirklichung des Möglichen sich vollzieht (**), als gerichtet, als unwiderruflich in jedem Zuge, als schicksalhaft hingenommen werden muß - dumpf und ängstigend vom Urmenschen, klar und in der Fassung einer Weltanschauung, die allerdings nur durch die Mittel der Religion und Kunst, nicht durch Begriffe und Beweise mitgeteilt werden kann, vom Menschen hoher Kulturen. Jede höhere Sprache besitzt eine Anzahl Worte, die wie von einem tiefen Geheimnis umgeben sind: Geschick, Verhängnis, Zufall, Fügung, Bestimmung. (**|**). Keine Hypothese, keine Wissenschaft kann je an das rühren, was man fühlt, wenn man sich in den Sinn und Klang dieser Worte versenkt. Es sind Symbole, nicht Begriffe. Hier ist der Schwerpunkt des Weltbildes, das ich die Welt als Geschichte im Unterschiede von der Welt als Natur genannt habe. Die Schicksalsidee verlangt Lebenserfahrung, nicht wissenschaftliche Erfahrung, die Kraft des Schauens, nicht Berechnung, Tiefe, nicht Geist. Es gibt eine organische Logik, eine instinkthafte, traumsichere Logik allen Daseins im Gegensatz zu einer Logik des Anorganischen, des Verstehens, des Verstandenen. Es gibt eine Logik der Richtung gegenüber einer Logik des Ausgedehnten. Kein Systematiker, kein Aristoteles, kein Kant hat mit ihr etwas anzufangen gewußt. Sie verstehen von Urteil, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung zu reden, aber sie schweigen von dem, was in den Worten Hoffnung, Glück, Verzweiflung, Reue, Ergebenheit, Trotz liegt. Wer hier, im Lebendigen, Gründe und Folgen sucht und wer da glaubt, daß eine tiefinnere Gewißheit über den Sinn des Lebens gleichbedeutend mit Fatalismus und Prädestination sei, der weiß gar nicht, wovon die Rede ist, der hat schon das Erlebnis mit dem Erkannten und Erkennbaren verwechselt. Kausalität ist das Verstandesmäßige, Gesetzhafte, Aussprechbare, das Merkmal unsres gesamten verstehenden Wachseins. Schicksal ist das Wort für eine nicht zu beschreibende innere Gewißheit. Man macht das Wesen des Kausalen deutlich durch ein physikalisches oder erkenntniskritisches System, durch Zahlen, durch begriffliche Zergliederung. Man teilt die Idee des Schicksals nur als Künstler mit, durch ein Bildnis, durch eine Tragödie, durch Musik. Das eine erfordert eine Unterscheidung, also Zerstörung, das andre ist durch und durch Schöpfung. Darin liegt die Beziehung des Schicksals zum Leben, der Kausalität zum Tode. In der Schicksalsidee offenbart sich die Weltsehnsucht einer Seele, ihr Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung. Sie ist keinem Menschen ganz fremd, und erst der späte, wurzellose Mensch der großen Städte mit seinem Tatsachensinn und der Macht seines mechanisierenden Denkens über das ursprüngliche Schauen verliert sie aus den Augen, bis sie in einer tiefen Stunde mit furchtbarer, alle Kausalität der Weltoberfläche zermalmender Deutlichkeit vor ihm steht.“ **
„Ich protestiere hier gegen zwei Annahmen, die alles historische Denken bis jetzt verdorben haben: gegen die Annahme eines Endziels der gesamten Menschheit und gegen die Leugnung von Endzielen überhaupt.“ **
„Das Leben hat ein Ziel. Es ist die Erfüllung dessen, was mit seiner Zeugung gesetzt war. Aber der einzelne Mensch gehört durch seine Geburt entweder einer der hohen Kulturen an oder nur dem menschlichen Typus überhaupt. Eine dritte große Lebenseinheit gibt es für ihn nicht. Aber damit liegt sein Schicksal entweder im Rahmen der zoologischen oder der »Weltgeschichte«. Der »historische Mensch«, wie ich das Wort verstehe und wie es alle großen Historiker immer gemeint haben, ist der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur. Vorher, nachher und außerhalb ist er geschichtslos. Dann sind die Schicksale des Volkes, zu dem er gehört, ebenso gleichgültig wie das Schicksal der Erde, wenn man es nicht im Bilde der Geologie, sondern der Astronomie betrachtet. - Und daraus folgt eine ganz entscheidende und hier zum erstenmal festgestellte Tatsache: daß der Mensch nicht nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos ist, sondern wieder geschichtslos wird, sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft hat.“ **
„Das Leben hat kein »Ziel«. Die Menschheit hat kein »Ziel«. Das Dasein der Welt, in welcher wir auf unserm kleinen Gestirn eine kleine Episode abspinnen, ist etwas viel zu Erhabenes, als daß Erbärmlichkeiten wie »das Glück der meisten« Ziel und Zweck sein könnten. In der Zwecklosigkeit liegt die Größe des Schauspiels. So empfand es Goethe.“ **

Wenn „das Leben als die Gestalt, in welcher sich die Verwirklichung des Möglichen vollzieht“ (**), zu deuten ist und „die Seele – und zwar ihre erfühlte Art, nicht ihr gedachtes und vorgestelltes Bild – das Mögliche, die Welt dagegen das Wirkliche“ (**), „die Wirklichkeit ... in bezug auf eine Seele“ (**), zu bedeuten hat, dann ist es wahr, daß „das Leben selbst ... als gerichtet, als unwiderruflich in jedem Zuge, als schicksalhaft hingenommen werden muß“ (**), woraus der Satz folgt: „Geschichte ist die Verwirklichung einer Seele“ (**). „Alles, was überhaupt geworden ist, alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele.“ (**). „Wer hier, im Lebendigen, Gründe und Folgen sucht und wer da glaubt, daß eine tiefinnere Gewißheit über den Sinn des Lebens gleichbedeutend mit Fatalismus und Prädestination sei, der weiß gar nicht, wovon die Rede ist, der hat schon das Erlebnis mit dem Erkannten und Erkennbaren verwechselt.“ (**). „Höhere Geschichte ist, mit dem Leben, dem Werden eng verwandt, die Verwirklichung möglicher Kultur.“ (**). „Kulturen sind Organismen.“ (**). „Die Geschichte einer Kultur ist die fortschreitende Verwirklichung ihres Möglichen. Die Vollendung ist gleichbedeutend mit dem Ende.“ (**). „Kultur als Inbegriff des sinnlich-gewordenen Ausdrucks der Seele in Gebärden und Werken, als ihr Leib, sterblich, vergänglich, dem Gesetz, der Zahl und der Kausalität verfallen; Kultur als historisches Schauspiel, als Bild im Gesamtbilde der Weltgeschichte; Kultur als Inbegriff großer Sinnbilder des Lebens, Fühlens und Verstehens: das ist die Sprache, durch welche allein eine Seele sagen kann, was sie leidet.“ (**). „Wer überhaupt versteht, inwiefern man die Seele als Idee eines Daseins bezeichnen kann, der wird auch ahnen, wie nahe verwandt ihr die Gewißheit eines Schicksals ist und inwiefern das Leben selbst, das ich die Gestalt nannte, in welcher die Verwirklichung des Möglichen sich vollzieht, als gerichtet, als unwiderruflich in jedem Zuge, als schicksalhaft hingenommen werden muß - dumpf und ängstigend vom Urmenschen, klar und in der Fassung einer Weltanschauung, die allerdings nur durch die Mittel der Religion und Kunst, nicht durch Begriffe und Beweise mitgeteilt werden kann, vom Menschen hoher Kulturen. .... Es gibt eine Logik der Richtung gegenüber einer Logik des Ausgedehnten. .... In der Schicksalsidee offenbart sich die Weltsehnsucht einer Seele, ihr Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung.“ (**). „Denn es war Zufall, daß die Geschichte des höheren Menschentums sich in der Form großer Kulturen vollzieht, und Zufall, daß eine von ihnen um das Jahr 1000 in Westeuropa erwachte. Von diesem Augenblick an aber folgte sie »dem Gesetz, wonach sie angetreten«. Innerhalb jeder Epoche besteht eine unbegrenzte Fülle überraschender und nie vorherzusehender Möglichkeiten, sich in Einzeltatsachen zu verwirklichen, die Epoche selbst aber ist notwendig, weil die Lebenseinheit da ist. Daß ihre innere Form gerade diese ist, ist ihre Bestimmung.“ (**). „Die Wirklichkeit – die Welt in bezug auf eine Seele – ist für jeden einzelnen die Projektion des Gerichteten in den Bereich des Ausgedehnten; sie ist das Eigne, das sich am Fremden spiegelt, sie bedeutet ihn selbst. Durch einen ebenso schöpferischen als unbewußten Akt – nicht »ich« verwirkliche das Mögliche, sondern »es« verwirklicht sich durch mich – wird die Brücke des Symbols geschlagen zwischen dem lebendigen Hier und Dort; es entsteht plötzlich und mit vollkommenster Notwendigkeit aus der Gesamtheit sinnlicher und erinnerter Elemente »die« Welt, die man begreift, für jeden einzelnen »die« einzige. Und deshalb gibt es so viele Welten, als es wache Wesen und im gefühlten Einklang lebende Scharen von Wesen gibt, und im Dasein jedes von ihnen ist die vermeintlich einzige, selbständige und ewige Welt – die jeder mit dem andern gemein zu haben glaubt – ein immer neues, einmaliges, nie sich wiederholendes Erlebnis.“ (**). „Ich behaupte ..., daß die gelehrte Psychologie, weit entfernt, das Wesen der Seele aufzudecken oder auch nur zu berühren - es ist hinzuzufügen, daß jeder von uns, ohne es zu wissen, Psychologie dieser Art treibt, wenn er sich eigne oder fremde Seelenregungen »vorzustellen« sucht -, zu allen Symbolen, die den Makrokosmos des Kultmenschen bilden, ein weiteres hinzufügt. Wie alles Vollendete, nicht sich Vollendende, stellt es einen Mechanismus an Stelle eines Organismus dar. Man vermißt im Bilde, was unser Lebensgefühl erfüllt und was doch gerade »Seele« sein sollte: das Schicksalhafte, die wahllose Richtung des Daseins, das Mögliche, welches das Leben in seinem Ablauf verwirklicht.“ (**). „In beiden Fällen, in der Geschichte einer Kultur wie im Einzeldasein, handelt es sich um die Verwirklichung von Möglichem.“ (**).

 Welt
- Welt in bezug auf eine Seele 
 
 
- „Das Wirkliche“.
- „Die Wirklichkeit“.
- „Projektion des Gerichteten in den Bereich des Ausgedehnten.“ 
- „Das Eigne, das sich im Fremden spiegelt.“
 Leben - „Gestalt, in welcher sich die Verwirklichung des Möglichen vollzieht“.
- „Werden“.
- „Gerichtet“.
- „Unwiderruflich in jedem Zuge“.
 Geschichte
- Höhere Geschichte 
 
- Geschichte einer Kultur 
- „Verwirklichung einer Seele“.
- „Mit dem Leben, dem Werden eng verwandt“.
- „Verwirklichung möglicher Kultur“.
- „Verwirklichung ihres Möglichen“.
 Kultur
 
- Geschichte einer Kultur 
- „Organismus“.
- „Inbegriff des sinnlich-gewordenen Ausdrucks der Seele in Gebärden und Werken.“ 
- „Verwirklichung ihres Möglichen“.
 Seele - „Das Mögliche“.
- „Das Mögliche, welches das Leben in seinem Ablauf verwirklicht“.
- „Idee eines Daseins“.
- „Das Schicksalhafte“.
- „Wahllose Richtung des Daseins“.
 Symbol - „Alles, was überhaupt geworden ist“.
- „Alles, was erscheint“.
- „Ausdruck einer Seele“.

So ist also die Welt das Wirkliche - in bezug auf eine Seele die Wirklichkeit -, das Leben die Vollzugsgestalt für die Verwirklichung des Möglichen, die Geschichte die Verwirklichung einer Seele, jede Kultur ein Organismus, die Seele das Mögliche und ein Symbol Ausdruck einer Seele. Das Leben ist die Gestalt, in der die Geschichte sich vollzieht, und eng verwandt mit der Höheren Geschichte als der Verwirklichung möglicher Kultur. Kultur ist Inbegriff des sinnlich-gewordenen Symbols (Ausdrucks der Seele) in Gebärden und Werken. Jede Kultur ist als Organismus ein Lebewesen, also ein Wesen des Lebens, der Gestalt, in der die Geschichte sich vollzieht, die Verwirklichung einer Seele sich vollzieht, die Verwirklichung des Möglichen sich vollzieht, die Verwirklichung der Idee des Daseins sich vollzieht, die Verwirklichung der wahllosen Richtung des Daseins sich vollzieht, die Verwirklichung des Schicksalhaften sich vollzieht. Wenn z.B. „das Mögliche, welches das Leben in seinem Ablauf verwirklicht“ thematisiert wird, so kann aus logisch-semantischen Gründen „das Mögliche“ im grammatischen Sinne nicht das aktive Subjekt, sondern muß entweder das passive Subjekt oder das Objekt sein - das Muster „S-P-O“ (Subjekt-Prädikat-Objekt) macht es leichter verständlich: „Das Leben verwirklicht (in seinem Ablauf) das Mögliche“. Wäre es so nicht gemeint, dann wäre trotz der Tatsache, daß das Leben die Gestalt ist, in welcher sich die Verwirklichung des Möglichen vollzieht, und trotz des semantischen Regelverstoßes gemeint, daß das Mögliche das Leben in seinem Ablauf verwirklicht, und das geht nicht, ist also falsch. Mögliches verwirklicht nichts, sondern wird verwirklicht oder nicht verwirklicht. Spengler hat sich also richtig ausgedrückt. Alles, was überhaupt geworden ist, und alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele und also auch Ausdruck des Möglichen, Ausdruck der Idee eines Daseins, Ausdruck der wahllosen Richtung des Daseins, Ausdruck des Schicksalhaften.

Leben, Werden und Geschichte bedeuten Verwirklichung; Symbol, Gewordenes und Erscheinung bedeuten Ausdruck. Berücksichtigt man dies, weiß man gleich, warum Spengler für sein Hauptwerk mit dem Titel „Der Untergang des Abendlandes“ den Untertitel „Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“ gewählt hat. Die Morphologie ist die Lehre oder Wissenschaft von den Formen, Gestalten, Organisationsprinzipien, insbesondere von Lebewesen, aber auch von historischen, sprachlichen, ästhetischen Erscheinungen und Gegenständen. Schon Goethe hatte sie für seine Forschungen benutzt und weiterentwickelt.

Die Welt ist das Wirkliche und die Geschichte die Verwirklichung einer Seele, des Möglichen, der Idee bzw. wahllosen Richtung des Daseins, des Schicksalhaften. Demzufolge ist Weltgeschichte die Verwirklichung der Seele (des Möglichen, der Idee bzw. wahllosen Richtung des Daseins, des Schicksalhaften) des Wirklichen, was darauf schließen läßt, daß dies entweder (a) falsch ist, weil die Welt ja schon das Wirkliche ist oder (b) so zu deuten ist, daß es innerhalb des Wirklichen auch Mögliches gibt, was im Falle der Höheren Geschichte, die dem Leben, dem Werden eng verwandt und die Verwirklichung möglicher Kultur ist, bedeutet, daß sogar die Weltkultur möglich ist, wenn die Höhere oder dann Höchste Geschichte sie verwirklicht. Da aber Spengler die Weltgeschichte nicht als „Geschichte der Welt“, was grammatisch richtig ist, sondern im Sinne der „Welt als Geschichte“ (**|**|**|**|**|**|**) verstanden wissen wollte, haben wir ihn hier bei einem linguistischen Fehler ertappt, denn eine Wortkomposition bedeutet niemals eine Identiät der Wortteile, sondern immer nur eine Hyponymie-Hyperonymie-Relation (logisch: Teil-von-Relation). Um diese linguistischen, genauer semantisch-logischen Fehler zu vermeiden, hätte Spengler also entweder (a) den Untertitel seines Hauptwerks „Umrisse einer Morphologie der Welt als Geschichte“ nennen müssen oder (b) einen Teil seines Hauptwerks inhaltlich ändern müssen, um bei dem gewählten Untertitel bleiben zu können. Doch er liebte seine „Idee einer Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte, die im Gegensatz zur Morphologie der Natur, bisher fast dem einzigen Thema der Philosophie, alle Gestalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung noch einmal, aber in einer ganz andern Ordnung, nicht zum Gesamtbilde alles Erkannten, sondern zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, sondern des Werdens zusammenfaßt.“ (**). „Ich erinnere an Goethe. Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird.“ (**). Spengler war also daran gelegen, dem „Gegensatz zur Morphologie der Natur“, also der „Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte“, eine Gelegenheit zu geben, zu „der Philosophie der Zukunft“ (**) zu werden.

Spenglers Aussage, daß „die Welt ... das Wirkliche“ (**) und „die Wirklichkeit ... in bezug auf eine Seele“ (**) ist, erinnert an Schopenhauers Aussage, „daß Alles, was für die Erkenntniß da ist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung“ (**). Also ist die Welt gemäß Schopenhauer (im Anschluß an Kant) „meine“ Vorstellung oder „von mir“ abhängig, als Erscheinung bedingt durch die Anschauungsformen Raum und Zeit und durch die Kategorie der Kausalität. Alles, was Objekt ist, kann dies nur in bezug auf ein Subjekt sein. Gerade deshalb aber kann die Welt nicht nur Vorstellung sein: Das Subjekt erkennt wegen der Tatsachen dieser seiner Welt die eigene Bedingtheit als Subjekt. Der Welt als Vorstellung muß also noch etwas als „Ding an sich“ (**) zugrunde liegen. Jeder ist sich selbst in zweifacher Hinsicht gegeben, als „Leib“ und als „Wille“. Zwischen Wille und Leib besteht Schopenhauer zufolge kein Ursache-Wirkungs-Verhältnis, weil Willensakte und Leibesveränderungen ein Vollzug in zwei Bereichen sind: Der Leib (und analog die gesamte Welt) ist die Objektivation des Willens, das heißt: der Leib (und analog die gesamte Welt) ist der zur Vorstellung gewordene Wille, wobei den Entwicklungsstufen der Welt als Vorstellung Objektivationsstufen des Willens entsprechen. Alle Erscheinungen sind nichts als Objektivationen des einen Willens, der als unerkennbares Ding an sich der Welt zugrunde liegt. Dieser Wille ist ein vernunftloser und blinder Drang (vgl. Evolutionstheorie **). Kants Ding an sich ist Schopenhauers Wille und Spenglers Seele. Letztere Gleichsetzung deute jedenfalls ich so. Schopenhauers Aussage, daß „die gesamte Welt nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt“ (**) sei, ist gleichzusetzen mit Spenglers Aussage, daß „die Wirklichkeit – die Welt in bezug auf eine Seele – ... für jeden einzelnen die Projektion des Gerichteten in den Bereich des Ausgedehnten“ sei: „sie ist das Eigne, das sich am Fremden spiegelt, sie bedeutet ihn selbst“ (**). Als Kants Ding an sich wirken Schopenhauers Wille und Spenglers Seele wie eine Vermittlungsinstanz zwischen Objekt und Subjekt.

„Eine Reihe von Graden der Bewußtheit führt von den Uranfängen kindlich-dumpfen Schauens, in denen es noch keine klare Welt für eine Seele und keine ihrer selbst gewisse Seele inmitten einer Welt gibt, zu den höchsten Arten durchgeistigter Zustände, deren nur Menschen ganz reifer Zivilisationen fähig sind. Diese Steigerung ist zugleich eine Entwicklung der Symbolik vom Bedeutungsgehalt aller Dinge bis zum Hervortreten vereinzelter und bestimmter Zeichen. Nicht nur, wenn ich in der Art des Kindes, des Träumers, des Künstlers die Welt voll dunkler Bedeutungen hinnehme; nicht nur, wenn ich wach bin, ohne sie mit der gespannten Aufmerksamkeit des denkenden und tätigen Menschen aufzufassen – ein Zustand, der selbst im Bewußtsein des eigentlichen Denkers und Tatmenschen weit seltener herrscht als man glaubt –, sondern stets und immer, solange von wachem Leben überhaupt die Rede sein kann, verleihe ich dem Außermir den Gehalt meines ganzen Selbst, von den halb träumerischen Eindrücken der Welthaftigkeit an bis zur starren Welt der kausalen Gesetze und Zahlen, die jene überlagert und bindet. Aber selbst dem reinen Reich der Zahlen fehlt das Symbolische nicht, und gerade ihm entstammen die Zeichen, in welche das grüblerische Denken unaussprechliche Bedeutungen legt: das Dreieck, der Kreis, die Sieben, die Zwölf.  –  Dies ist die Idee des Makrokosmos, der Wirklichkeit als dem Inbegriff aller Symbole in bezug auf eine Seele. Nichts ist von dieser Eigenschaft des Bedeutsamen ausgenommen. Alles, was ist, ist auch Symbol.  –  Allein auf der größeren oder geringeren Verwandtschaft der einzelnen Welten untereinander, soweit sie von Menschen einer Kultur oder seelischen Gemeinschaft erlebt werden, beruht die größere oder geringere Mitteilbarkeit des Geschauten, Empfundenen, Erkannten, das heißt des im Stil des eignen Seins Gestalteten durch die Ausdrucksmittel der Sprache, Kunst und Religion, durch Wortklänge, Formeln, Zeichen, die ihrerseits selbst Symbole sind. Zugleich erscheint hier die unverrückbare Grenze, fremden Wesen wirklich etwas mitzuteilen oder deren Lebensäußerungen wirklich zu verstehen. Der Verwandtschaftsgrad der beiderseitigen Formenwelten entscheidet darüber, wo das Begreifen in Selbsttäuschung übergeht. Wir können die indische und ägyptische Seele – offenbart in ihren Menschen, Sitten, Gottheiten, Urworten, Ideen, Bauten, Taten – sicherlich nur sehr unvollkommen verstehen. Den Griechen, ahistorisch wie sie waren, war auch die geringste Ahnung vom Wesen fremden Seelentums versagt.“ **

So erklärt es sich kulturmorphologisch fast von selbt, daß es für jede Kultur nicht nur ein Seelenbild, sondern eben auch ein Ursymbol geben muß. Daß die abendländische Kultur mit ihrem „faustischen“ Seelenbild und dem „unendlichen Raum“ als Ursymbol der antiken Kultur mit ihrem „apollinischen Seelenbild“ und dem „Einzelkörper“ als Ursymbol geradezu entgegengesetzt (worden) ist, ist wahrscheinlich kein Zufall, da beide ja erwiesenermaßen genetisch und - jedenfalls gemäß meiner Kulturphilosophie - auch kulturell verwandt sind. Apollon liebt den Einzelkörper, doch Faust liebt den unendlichen Raum. Der Einzelkörper geht im unendlichen Raum leicht verloren und ist dann kaum noch zu finden.

Spenglers Hauptwerk beinhaltet bedeutende Gedanken von Goethe und Nietzsche - Spengler sagte, daß er beiden „so gut wie alles verdanke“ (**) -, doch auch von Schopenhauer, was nicht wundert, weil Schopenhauer Nietzsches Geistesvater war. Schopenhauers Argumente für „Die Welt als Wille und Vorstellung“ ähneln denen für „Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem“ - es ist das 1. Unterkapitel des 3. Kapitels des 1. Bandes in Spenglers Hauptwerk. So sind die Welt als Raum(problem), der Wille als Seele und die Vorstellung als Weltbild deutbar, obschon sicherlich beide - Schopenhauer wie Spengler - einige Einwände dagegen vorgebracht hätten, den Willen (bzw. die Objektivation des Willens) und die Seele (bzw. das Symbol als den Ausdruck der Seele) gleichzusetzen. Aber diese Gleichsetzung geschieht auch nur, um festzustellen, daß der Wille und die Seele nicht selbst, sondern die Bezugspunkte gleich sind und beide wie eine Vermittlungsinstanz zwischen Objekt und Subjekt wirken, denn gemäß Schopenhauer erscheint der Wille objektiv bzw. die Objektivation des Willens als Welt einschließlich des menschlichen Leibes und subjektiv als Vorstellung bzw. bewußter Wille, und gemäß Spengler erscheint die Seele objektiv bzw. der Ausdruck der Seele, also das Symbol als Welt bzw. Raum(problem) und subjektiv als Weltbild bzw. Seelenbild bzw. Ursymbol. Die Schopenhauersche Objektivation des Willens ist ja vielleicht wie die Spenglersche Symbolik die Ausdruckskunde der Seele, denn „alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele“ (**). Jedenfalls können beide - Wille wie Seele - an sich auf wissenschaftlichem Wege nicht nachgewiesen, sondern nur erlebt werden. Schopenhauer selbst sagte sinngemäß, daß der Wille als solcher auf wissenschaftlichem Wege nicht nachgewiesen, sondern nur erlebt werden könne; und Spengler selbst sagte sinngemäß, daß die Seele als solche auf wissenschaftlichem Wege nicht nachgewiesen, sondern nur erlebt werden könne. Unter diesem Aspekt sind beide Phänomene also Kants Ding an sich, und Schopenhauer bestätigte in seinem Hauptwerk, daß der Wille Kants Ding an sich sei, doch in dem 1 Jahrhundert später erschienenen Hauptwerk Spenglers ist nicht zu lesen, daß die Seele Kants Ding an sich sei. Der Unterschied ist in einigen Rahmenbedingungen zu finden, z.B. in der, daß innerhalb der zwischen diesen beiden Hauptwerken liegenden 100 Jahre der Zeitgeist sich verändert hatte und der sowohl von Schopenhauer als auch von Spengler vertrenene Skeptizismus noch mächtiger geworden war. „Das Geheimnis der Welt erscheint nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als Gegenstand der Wertung. Der Skeptiker würde beides lediglich als historischen Ausdruck einer Kultur betrachten.“ (**). Und - wie gesagt - ein Skeptiker war nicht nur Spengler, sondern auch lange vor ihm Schopenhauer. **

„Eine noch immer aktuelle Annahme besagt, daß sich in der Geschichte des Individuums gewissermaßen die (i.w.S. biologische) Stammesgeschichte »wiederhole« (in der »Ontogenese« die »Phyogenese« [vgl.: Biogenetisches Grundgesetz von Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Band II, 1866; Anm. HB]). Von Spenglers eigener Entwicklung her wäre zumindest eine ganze Strecke weit Geschichte als ein schmerzhafter, leidvoller Erfahrungsprozeß deutlich geworden. Entsprechend findet sich diese Annahme im Untergang des Abendlandes wieder. Vor allem umgekehrt,* zur menschheitsgeschichtlichen Entwicklung innerhalb einer Kultur »relativiert«.** (* Individualgeschichtlich ›wiederholt nun auch mit tiefster Notwendigkeit jedes irgendwie bedeutende Einzeldasein alle Epochen der Kultur, welcher es angehört‹ [**]. Zur zeitgenössischen Formulierung dieser Annahmen vgl. Leo Frobenius, Paideuma - Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, 1920. .... Auch Frobenius bezieht sich dabei vor allem auf Goethe. Noch neuere sozialwissenschaftliche Konzeptionen halten prinzipiell an solchen Annahmen fest.) (** Spengler hat um die Affinität seines eigenen Systems zu »relativistischen« Ansätzen von Anfang an gewußt. Heraklits Denken ist ihm »ein vollkommen zu Ende gedachtes System des Relativismus« [**], insofern es, bei dessen Absage an Teleologie, »in diesem Chaos der Verwandlungen keine bleibenden Werte geben kann« [**]. Der Untergang des Abendlandes stellt die Beziehung zur Relativitätstheorie her, die Fälle zulasse, »in welchen die Bezeichnungen ›früher‹ oder ›später‹ sich umkehren‹ [**] ....) »Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum« (**).“ (Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 61).

Zwischen etwa 1890/1900 und 1920/1930 wurde der Begriff „Zeit“ gedankenexperimentell auf fast alles Mögliche projiziert. Mag sein, daß der Anstoß dazu von Albert Einstein mit seiner Relativiätstheorie (1905 ff.) kam, gemäß der die relativierte, von einem Bezugssystem abhängige, durch die Geschwindigkeit des Lichtes definierte, als Strecke oder Weltlinie vorstellbare, sich in Union mit dem Raum befindliche, mathematisch auch mit Ausdrücken wie Spengler beschreibbare, also gewissermaßen eine „Entzeitlichung“ bedeutende Zeit diejenige „Macht“ ist, die „den Raum krümmt“. Die schon seit Beginn der sogenannten „Neuzeit“ immer mehr zunehmende Trennung der beiden Weltanschauungen - erkenntnistheoretisch gesprochen: der „Subjekt-Objekt-Dualismus“ - nahm durch Einsteins Relativitätstheorie noch mehr zu. Also mußte Einsteins Relativitätstheorie auch auf andere Gebiete als die naturwissenschaftlichen starken Einfluß haben. Philosophische Werke, in denen der Begriff „Zeit“ ebenfalls im Mittelpunkt des Interesses stand, folgten jedenfalls bald, z.B. Spenglers Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“ (1917 ff.), Heideggers Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) und Jaspers’ Werk „Die geistige Situation der Zeit“ (1930), in denen jeweils die Zeit, wenn auch mehr als Schicksalsidee und also im Gegensatz zum Kausalitätsprinzip, im Mittelpunkt des Interesses stand und dabei oft in ein Gedankenexperiment gebracht wurde, daß auch eine außergewöhnliche Deutung zuließ, während die Zeit, in der dies geschah, nicht zufällig die Zeit von Spätimpressionismus, Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus, Abstraktionismus, Futurismus, Konstruktivismus, Dadaismus bis hin zum Surrealismus war.

Wenn gemäß der Physik die Zeit als 4. Koordinate zu den 3 Raumkoordinaten hinzukommt (vgl. 4-dimensionales Kontinuum von Bernhard Riemann) und seit der Anerkennung der allgemeinen Relativitätstheorie (**) auch von einem Raum-Zeit-Kontinuum gesprochen wird, wenn also die Zeit als Koordinate ihre Absolutheit verloren hat und Aussagen über die Zeit nur noch relativ sind, dann wundert es nicht, wenn die Philosophie sich dieser Deutung entweder erwehrt oder anpaßt. Wenn nämlich die Physik als die bedeutendste Naturwissenschaft lehrt, daß es eine objektive Zeit nicht gebe, daß sie nur eine Koordinate im vierdimensionalen Kontinuum, eine Wellenlinie sei, die formal als Entzeitlichung der Welt verstanden werden könne, dann ist das (1.) eine gewagte Aussage (gemessen an dem, was vorher galt) und (2.) ein Grund, darauf stark zu reagieren, sei es dagegen oder dafür.

„Alles was »wissenschaftlich« über die Zeit gesagt worden ist, ... was nämlich die Zeit »ist«, betrifft niemals das Geheimnis selbst, sondern lediglich ein räumlich gestaltetes, selbstvertretendes Phantom, in dem die Lebendigkeit der Richtung, ihr Schicksalszug, durch das wenn auch noch so verinerlichte Bild einer Strecke ersetzt worden ist, ein mechanisches, meßbares, teilbares und umkehrbares Abbild des in der Tat nicht Abzubildenden; eine Zeit, welche mathematisch in Ausdrücke wie Spengler gebracht werden kann, die die Annahme einer Zeit von der Größe Null oder negative Zeiten wenigstens nicht ausschließen. Ohne Zweifel kommt hier der Bereich des Lebens, des Schicksals, der lebendigen, historischen Zeit gar nicht in Frage. Die Relativitätstheorie, eine Arbeitshypothese, welche im Begriff steht, die Mechanik Newtons - im Grunde bedeutet das: seine Fassung des Bewegungsproblems - zu stürzen, läßt Fälle zu, in welchen die Bezeichnungen »früher« oder »später« sich umkehren; die mathematische Begründung dieser Theorie durch Minkowski wendet imaginäre Zeiteinheiten zu Meßzwecken an.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 1918, S. 161-162 **).

Wenn Spenglers Aussage zufolge die „Welt als Geschichte“ (**|**|**|**|**|**|**) verstanden werden soll, dann ist demzufolge die Zeit rein begrifflich nicht getrennt von der Welt, sondern in ihr, also ebenfalls im Raum enthalten, so daß auch Spenglers Aussage zufolge Zeit und Raum als ein vierdimensionales Kontinuum verstanden werden können; denn die Welt besteht aus den 3 Raumkoordinaten und in der Geschichte ist die Zeit enthalten, so daß die „Welt als Geschichte“ nur ein vierdimensionales Kontinuum sein kann, die Zeit als Koordinate ihre Absolutheit verloren hat und Aussagen über die Zeit nur noch relativ sind (siehe oben) - außer dieser: „die Zeit gebiert den Raum, der Raum aber tötet die Zeit“ (**), „die Zeit siegt über den Raum“ (**). Letzten Endes siegt die Zeit immer über den Raum, weil der Raum nur durch die Zeit verwirklicht - „zur Welt gebracht werden“ - kann, weil die Zeit als „Richtung der Ursprung der Ausdehnung“ (**) und darum auch des Raumes ist, denn „das schicksalhaft gerichtete Leben erscheint, sobald wir erwachen, im Sinnenleben als empfundene Tiefe. Alles dehnt sich, aber es ist noch nicht »der Raum«, nichts in sich Verfestigtes, sondern ein beständiges Sich-dehnen vom bewegten Hier zum bewegten Dort. Das Welterlebnis knüpft sich ausschließlich an das Wesen der Tiefe - der Ferne oder Entfernung - deren Zug im abstraken System der Mathematik neben Länge und Breite als »dritte Dimension« bezeichnet wird. .... Erst die Tiefe ist die eigentliche Dimension im wörtlichen Sinne, das Ausdehnende“ (**). Wenn die Zeit den Raum erst entstehen und ihn mächtig werden läßt und zuletzt sowieso über ihn siegt, dann bedeutet das doch, daß hier der Raum relativiert, also seiner Absolutheit beraubt ist und gelegentlich die Zeit krümmt, indem er sie gelegentlich und nur zum Schein besiegt, ja „tötet“ (**). Diese Entmachtung, Relativierung, „Enträumlichung“ des Raums könnte man als Spenglers lebensphilosophische Relativitätstheorie bezeichnen, denn sie kommt von der Lebensphilosophie her, auf die Naturwissenschaft zu und spiegelt (eulenspiegelt?) Einsteins physikalische Relativitätstheorie, die eine Entmachtung, Relativierung, „Entzeitlichung“ der Zeit bedeutet. Daß Spengler den Hauptakzent auf die Zeit legte, ist ebenfalls nicht verwunderlich, da das bei seinen damaligen Zeitgenossen - z.B. eben bei Einstein, Jaspers und Heidegger - zu der Zeit ebenfalls der Fall war (siehe oben: Zeit von Spätimpressionismus, Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus, Abstraktionismus, Futurismus, Konstruktivismus, Dadaismus bis hin zum Surrealismus). Diesbezüglich entsprach Spenglers damaliges Denken also durchaus dem Zeitgeist, jedenfalls dem der zeitgenössischen „Außenseiter“, die „das Neue wagen“ oder, wie Spengler wahrscheinlich sagen würde, „Mögliches verwirklichen können“.

„Spengler war ein Außenseiter“ heißt es auch in einem 2006 veröffentlichten, „Sturmjahre“ genannten Lied eines Spengler gewidmeten Musikalbums von Nick und Chris Nedzynski, deren Musikgruppe „Lady Morphia“ heißt. ** **

„Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ - diese Formulierung stammt bekanntlich aus dem Gedicht „Resignation“ (1786) von Schiller und wurde bald nach seiner Veröffentlichung in der Zeitschrift „Rheinische Thalia“ als Zitat von Hegel benutzt, um zu verdeutlichen, daß die Rechtsfragen, die sich im Zuge der Weltgeschichte stellen, nicht auf den „Jüngsten Tag“ verschoben werden, daß das Geschichtsmaterial kein kontingent fixierter Faktenbestand ist, der nachträglich mit Hilfe theoretischer Kategorien des Wissenschaftlers geordnet und analysiert wird, um vom Geschichtsschreiber mit rhetorisch-literarischen Mitteln dem Publikum zur Vergegenwärtigung präsentiert zu werden, sondern daß der Gang der Geschichte im großen immanent und als solcher zu einer wertenden Stellungnahme heraufordert. Später benutzte auch Spengler dieses Zitat.

„Die Heraufkunft des Cäsarismus bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie. Nach einem langen Triumph der weltstädtischen Wirtschaft und ihrer Interessen über die politische Gestaltungskraft erweist sich die politische Seite des Lebens doch als stärker. Das Schwert siegt über das Geld, der Herrenwille unterwirft sich wieder den Willen zur Beute. Nennt man jene Mächte des Geldes Kapitalismus, und Sozialismus den Willen, über alle Klasseninteressen hinaus eine mächtige politisch-wirtschaftliche Ordnung ins Leben zu rufen, ein System der vornehmen Sorge und Pflicht, die das Ganze für den Entscheidungskampf der Geschichte in fester Form hält, so ist das zugleich ein Ringen zwischen Geld und Recht. (Zu dem die Interessenpolitik der Arbeiterparteien auch gehört, denn sie wollen die Geldwerte nicht überwinden, sondern besitzen.). Die privaten Mächte der Wirtschaft wollen freie Bahn für ihre Eroberung großer Vermögen. Keine Gesetzgebung soll ihnen im Wege stehen. Sie wollen die Gesetze machen, in ihrem Interesse, und sie bedienen sich dazu ihres selbstgeschaffenen Werkzeugs, der Demokratie, der bezahlten Partei. Das Recht bedarf, um diesen Ansturm abzuwehren, einer vornehmen Tradition, des Ehrgeizes starker Geschlechter, der nicht im Anhäufen von Reichtümern sondern in den Aufgaben echten Herrschertums jenseits aller Geldvorteile Befriedigung findet. Eine Macht läßt sich nur durch eine ander stürzen, nicht durch das Prinzip, und es gibt dem Geld gegenüber keine andere. Das Geld wird nur vom Blut überwältigt und aufgehoben. Das Leben ist das erste und letzte, das kosmische Dahinströmen in mikrokosmischer Form. Es ist die Tatsache innerhalb der Welt als Geschichte. Vor dem unwiderstehlichen Takt der Geschlechterfolgen schwindet zuletzt alles hin, was das Wachsein in seinen Geisteswelten aufgebaut hat. Es handelt sich in der Geschichte um das Leben und immer nur um das Leben, die Rasse, den Triumph des Willens zur Macht, und nicht um den Sieg von Wahrheiten, Erfindungen oder Geld. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: sie hat immer dem stärkeren, volleren, seiner selbst gewisseren Leben Recht gegeben, Recht nämlich auf das Dasein, gleichviel ob es vor dem Wachsein recht war, und sie hat immer die Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und die Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten, und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht. So schließt das Schauspiel einer hohen Kultur, diese ganze wundervolle Welt von Gottheiten, Künsten, Gedanken, Schlachten, Städten, wieder mit den Urtatsachen des ewigen Blutes, das mit den ewig kreisenden kosmischen Fluten ein und dasselbe ist. Das helle, gestaltenreiche Wachsein taucht wieder in den schweigenden Dienst des Daseins hinab, wie es die chinesische und römische Kaiserzeit lehren; die Zeit siegt über den Raum, und die Zeit ist es, deren unerbittlicher Gang den flüchtigen Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch einbettet, eine Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahinströmt, während in der Lichtwelt unserer Augen sich dahinter die strömenden Horizonte der Erdgeschichte und Sternengeschichte auftun. Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben, ohne das es sich nicht zu leben lohnt.“ **

Die Phase dieses leise und unaufhaltam nahenden Cäsarismus sagte Spengler für die Zeit „nach 2000“ (**), „lange nach 2000“ (**), im „21. Jahrhundert“ (**|**) oder „2000-2200“ (**) voraus - das Ende des Zyklus also frühestens in, spätestens nach „den ersten Jahrhunderten des nächsten Jahrtausends“ (**), wahrscheinlich 2200, denn „nach 2200“ (**) wird Spengler zufolge bereits die nachgeschichtliche Zeit, also die Zeit der Erstarrtheit, Vergreistheit des Abendlandes sein. Spenglers Hauptwerk und auch sein letztes Werk wurden (und werden) von vielen Menschen mißverstanden; zwei der größten Fehldeutungen beruhten (und beruhen) auf zwei Verwechslungen, nämlich zum einen wurde (und wird) der Untergang des Abendlandes mit dem Ergebnis des 1. Weltkrieges für Deutschland und zum anderen der nahende Cäsarismus mit dem nahenden Hitlerismus verwechselt, wobei jedesmal auch die Zeitspannen nicht richtig eingeordnet wurden (und werden): das Verwechselte wurde (und wird) zeitlich verkürzt, weil das Verwechselnde es nahegelegt hatte (und hat). Bei einigen Menschen war (und ist) sicherlich auch „absichtliches Mißverstehen“ ein Grund, denn insbesondere die zweite der beiden Verwechslungen kursierte nicht so sehr in der Zeit vor dem Ende des 2. Weltkrieges, sondern wurde (und wird) zu einem Großteil erst seit der Zeit nach dem Ende des 2. Weltkrieges nachgeliefert. Zu Spenglers Lebenszeit kann die Phase des abendländischen Cäsarismus sogar garantiert nicht angefangen haben, denn der 2. Weltkrieg, den Spengler nicht mehr erlebt hat, ist wegen seiner „Parallele“ zum 2. Punischen Krieg (und trotz der Tatsache, daß Spengler diese „Parallele“ nicht vorhersah, wahrscheinlich, weil er sie nicht vorhersehen wollte) gerade eine der notwendigen Voraussetzungen für den später aufkommenden Cäsarismus, so daß die Phase des abendländischen Cäsarismus frühestens 1945 angefangen haben kann, wahrscheinlich 1990 angefangen hat, spätestens aber 2035 angefangen haben wird (**|**|**|**|**|**|**|**).

Eine der Konsequenzen aus den eben genannten zwei der größten Fehldeutungen, die Spenglers Hauptwerk betreffen, war (und ist) der unberechtigte „Pessimismus“-Vorwurf (**|**|**). Pessimismus ist das Gegenteil von Optimismus und heißt volkstümlich „Schwarzseherei“, ist die Überzeugung oder auch philosophische Richtung, die die Welt für unverbesserlich schlecht und das menschliche Dasein für (letzten Endes) sinnlos hält, die schlechtesten Seiten der Welt in den Vordergrund stellt: „Pessimum“ heißt „das Schlechteste“, „das Schlimmste“. In religiöser Ausprägung ist der Pessimismus im Buddhismus, im Judentum und im Christentum zu finden. Aber zu behaupten, daß er auch in Spenglers Hauptwerk zu finden sei, ist schlichtweg falsch. Die größten Fehldeutungen - insbesondere die eben schon genannten zwei - sind ja gemäß der Logik Fehlschlüsse; sie haben schlicht und einfach zu weiteren Fehlschlüssen geführt. Der Untergang des Abendlandes ist „nicht im Sinne eines Schiffsunterganges, sondern im Sinne der Vollendung“ (**) zu deuten. „Ein Weltbild, in dem man leben, und nicht ein Weltsystem, in dem man grübeln kann, war das eigentliche Ziel meiner Arbeit“ (**), wehrte sich Spengler: „Nein, ich bin kein Pessimist. Pessimismus heißt keine Aufgaben mehr sehen. Ich sehe so viele noch ungelöst, daß ich fürchte, es wird uns an Zeit und Männern fehlen.“ (**). Spengler war Skeptizist (**), aber kein Pessimist. „Wir glauben nicht mehr an die Macht der Vernunft über das Leben. Wir fühlen, daß das Leben die Vernunft beherrscht. Menschenkenntnis ist uns wichtiger als abstrakte und allgemeine Ideale. .... Das Leben ist das erste und das letzte, und das Leben hat kein System, kein Programm, keine Vernunft; es ist für sich selbst und durch sich selbst da, und die tiefere Ordnung, in der es sich verwirklicht, läßt sich nur schauen und fühlen - und dann vielleicht beschreiben, aber nicht nach gut und böse, richtig oder falsch, nützlich und wünschenswert zerlegen.“ (**). Man darf hierbei nicht vergessen, daß Spengler zufolge das „Leben“ sich auf zwei verschiedene Weisen zeigt: (1.) ohne Hochkultur, (2.) mit Hochkultur. Spengler „protestiere hier gegen zwei Annahmen, die alles historische Denken bis jetzt verdorben haben: gegen die Annahme eines Endziels der gesamten Menschheit und gegen die Leugnung von Endzielen überhaupt.“ (**[**]). Denn:
„Das Leben hat ein Ziel. Es ist die Erfüllung dessen, was mit seiner Zeugung gesetzt war. Aber der einzelne Mensch gehört durch seine Geburt entweder einer der hohen Kulturen an oder nur dem menschlichen Typus überhaupt. Eine dritte große Lebenseinheit gibt es für ihn nicht. Aber damit liegt sein Schicksal entweder im Rahmen der zoologischen oder der »Weltgeschichte«. Der »historische Mensch«, wie ich das Wort verstehe und wie es alle großen Historiker immer gemeint haben, ist der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur. Vorher, nachher und außerhalb ist er geschichtslos. Dann sind die Schicksale des Volkes, zu dem er gehört, ebenso gleichgültig wie das Schicksal der Erde, wenn man es nicht im Bilde der Geologie, sondern der Astronomie betrachtet. - Und daraus folgt eine ganz entscheidende und hier zum erstenmal festgestellte Tatsache: daß der Mensch nicht nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos ist, sondern wieder geschichtslos wird, sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft hat.“ ** **
Aber:
„Das Leben hat kein »Ziel«. Die Menschheit hat kein »Ziel«. Das Dasein der Welt, in welcher wir auf unserm kleinen Gestirn eine kleine Episode abspinnen, ist etwas viel zu Erhabenes, als daß Erbärmlichkeiten wie »das Glück der meisten« Ziel und Zweck sein könnten.“ ** **
Das Leben hat also nur dann ein Ziel für den Menschen, wenn er historisch, also hochkulturell ist, denn nur dann ist er „der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur“. Wenn eine solche Kultur aufgeht, ist sie von der Vollendung weiter entfernt als später, wenn sie in Hochform ist, und noch viel weiter entfernt als wiederum noch später, wenn sie untergeht. Dennoch ist sie von Anfang an in Vollendung begriffen. Der Untergang einer Kultur ist dem Prozeß ihrer Vollendung am nächsten. Nach dem Untergang mag sie auf erstarrte Weise noch existieren, aber sie vollendet sich nicht mehr, sondern ist vollendet.

Gilt ein Mensch, der nicht mehr kindlich und nicht mehr jugendlich, sondern erwachsen, aber noch nicht zu alt, d.h. noch nicht im Rentenalter ist, als Pessimist, wenn er sein Alter verrät? - Wohl kaum.

Wenn es also kein Endziel der Menschheit, wohl aber ein Endziel der menschlichen Historienkulturen gibt, dann könnte man das tatsächlich auch als den Unterschied zwischen Natur und Geschichte in dem Sinne deuten, daß die Menschen als Menschheit nur im Sinne der Natur Kulturgeschöpfe sind, nämlich primitive, während die Menschen der Historienkulturen Kulturgeschöpfe im Sinne der Geschichte sind, nämlich höhere. Da der Sinn des Lebens mit einem Endziel verbunden ist, ist er somit nicht in der Menschheit, wohl aber in den menschlichen Historienkulturen zu finden. Gemäß meiner Kulturtheorie bleibt jedoch die Frage offen, ob der einzelne Mensch tatsächlich nur eine Möglichkeit der Kulturangehörigkeit hat, also: entweder der Primitivkultur oder aber einer der Hochkulturen angehört. Meiner Kulturtheorie gemäß kann der einzelne Mensch „zweigleisig“ (**) fahren - zumindest billige ich ihm das zu. Diese „doppelte Kulturangehörigkeit“, die ich auf dekadente Weise einräume, hat nicht zufällig Ähnlichkeit mit der „doppelten Staatsbürgerschaft“, die die dekadenten Abendländer jedem Nichtabendländer wie „selbstverständlich“ zugestehen, obwohl das rechtlich als Rassismus und Hochverrat gilt, also ein Verbrechen ist. Da auch ich Abendländer bin, haben Sie hoffentlich Verständnis für mein Zugeständnis an jeden einzelnen Menschen, eine „doppelte Kulturzugehörigkeit“ für sich beanspruchen zu dürfen, obwohl nicht wenig dagegen spricht. So befinden sich manche oder gar viele Menschen auf zwei Kulturbahnen (**), die zusammen die menschliche Geschichte beschreiben - und auch dieser Aspekt ist meines Wissens nach „bisher von niemandem sonst vorgestellt worden, also einzigartig“ (**). Ich muß aber zugeben, daß das Entweder-oder-Prinzip auch überzeugen kann. Ist es nicht tatsächlich so, daß der Mensch entweder dem historienkulturellen oder eben nur dem menschlichen Typus angehört? (**|**|**). Oder ist es doch so, daß der Mensch beiden angehören kann?

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Selbst dann, wenn man alles Zyklische bzw. Spiralzyklische wegließe, wäre sowohl Spenglers als auch meine Kulturtheorie richtig. Beide können nämlich auch ohne Zyklizität bzw. Spiralzykliziät auskommen, wenn es um eine geschichtswissenschaftliche Aussage geht, denn: „Zwischen der noch nicht über Schrift und also Historie verfügenden Primitivkultur und den über Schrift und also Historie verfügenden Historienkulturen vollzog sich die unter dem Terminus »Neolithische Revolution« bekannt gewordene Agrarisierung, die in der Tat zu Schrift und also Historie führte.“ (**). Diese Aussage ist auch unter Mainstream-Historikern unumstritten, obwohl sie manche Wörter (z.B. „Primitivkultur“, „Historienkulturen“) lieber durch andere (z.B. „Ur- oder Vorgeschichte der Menschheit“, „Geschichte der Menschheit“) ersetzt haben möchten, weil sie sonst Probleme mit ihren Führern kriegen. Ich selbst arbeite ja auch mit für Mainstream und Führung „angenehmeren“ Begriffen wie „Ur-/Vorgeschichte“, „Frühgeschichte“, „Hochgeschichte“, „Spätgeschichte“, „Neu-/Nachgeschichte“ (   ), schließlich ist mein Webangebot ja eine Enzyklopädie. Anders als bei Spengler ist eine solche „Zweigleisigkeit“ bei mir möglich, denn ich „fahre“ ja mit meiner Kulturtheorie „zweigleisig“, weil ich sage: „Die Geschichte der Menschheit verläuft auf mindestens zwei Bahnen“ (**|**). Denn die Menschheitsgeschichte („M“ in der Abbildung), umkreist ihr WORUM-ES-GEHT (Natur?), während sie selbst von jeder Historienkultur auf einer zweiten „Bahn“ („H“ in der Abbildung) umkreist wird. Menschen müssen also mindestens zwei „Bahnen“ oder „Ebenen“ berücksichtigen - dürfen aber dabei ihre „Eigendrehung“ (**) und „Neigung“ (**) nicht vergessen -, wenn sie ihre eigene Entwicklung verstehen wollen. Wahrscheinlich wird die erste Bahn („M“) die zweite Bahn („H“) überdauern, aber es ist auch möglich, daß beide gleichzeitig verschwinden werden. **

Wenn eine Hoch- bzw. Historienkultur bereits „vergreist“, „erstarrt“, „versteinert“ ist, dann ist sie gemäß Spenglers Kulturtheorie geschichtslos, also wieder Teil der Primitivkultur, die ja geschichtslos ist; gemäß meiner Kulturtheorie ist diese Wieder-Geschichtslosigkeit einer in dem Fall richtigerweise als „ehemalig“ zu bezeichnenden Hoch- bzw. Historienkultur nicht mit Sicherheit vorhersagbar, wenn sie keine Monade ist (was sie gemäß Spengler eindeutig ist), was ich unterstelle; und sie wird ja eventuell Objekt einer oder mehrerer der nicht oder noch nicht geschichtslosen Hoch- bzw. Historienkulturen oder kann sich gegebenfalls doch noch erinnern, selbst über eine Historie verfügt zu haben, vielleicht sogar wieder auch Subjekt der Geschichte werden, obschon auf eher sanfte Art. Diese Unterscheidung betrifft wiederum den monadologischen Aspekt, der in Spenglers Kulturtheorie absolut gilt, während das in meiner Kulturtheorie nicht der Fall ist. Es ist richtig und logisch konsequent, daß Spenglers geschichtliche Kulturen als „Einzelwelten des Werdens“ (**), also als Monaden-Welten der Geschichte sozusagen, nach ihrer Vollendung wieder geschichtslos werden und auch über keine Geschichtserinnerung mehr verfügen - als hätte es ihre Kulturgeschichte nie gegeben (!) -, aber man kann sich auch solche geschichlichen Kulturen denken, für die dies nur unter bestimmten Bedingungen gilt, nämlich auf ähnliche Weise, wie es für sehr alte Menschen von ganz bestimmten Bedingungen abhängt, ob sie völlig dement werden oder nicht. Diese Bedingungen sind (1) angeboren oder (2) erworben oder (3) angeboren und erworben. Und genau diese Bedingungen gelten gemäß meiner Kulturtheorie auch für die Historienkulturen. Das macht mir zwar die Antwort auf die Frage nach einem Ende der Geschichte schwieriger, als dies für Spengler der Fall war: wenn nämlich alle Monaden geschichtslos sein werden, wird es auch insgesamt keine Geschichte mehr geben, also auch außerhalb dieser Monaden nicht, weil ja vor dem Ende der Geschichte nur sie über Geschichte verfügten. Diesbezüglich mußte Spengler lediglich die Frage beantworten, ob nach der achten, nämlich der abendländischen Kultur, noch eine neunte Kultur kommen würde oder nicht. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gab er jedoch nicht. Geht man von meiner Kulturtheorie aus, dann ist die Beantwortung der Frage fast unmöglich, weil vergreiste Kulturen gemäß meiner Kulturtheorie prinzipiell ewig leben können und darum die eben schon erwähnte „sanfte Art“ von Geschichte ebenfalls prinzipiell ewig dauern kann.

 

Urgefühl(e) als Beweggrund für die großartigen schöpferischen Geistestätigkeiten Spenglers?

„Aber wie Goethe schon wußte, läßt sich in einer Selbstbiographie Wahrheit von Dichtung schwer unterscheiden.
Die Thesen, die Spengler ... für den Untergang des Abendlandes erarbeitete, haben selbstverständlich auf diese
autobiographischen Aufzeichnungen zurückgewirkt, ganz genau wie umgekehrt die persönlichen Erfahrungen
keinen unwesentlichen Beitrag zum Gedankenkomplex der historischen Morphologie geliefert haben.“
(Gilbert Merlio, Urgefühl Angst, Nachwort in: Ders., Oswald Spengler, 2007, S. 108).

Es ist gleichgültig, ob Spengler sich mit seinen literarischen Werken seinen Frust wegschreiben wollte, sich auf die Art also selbst therapieren wollte, oder ob er das nicht wollte; ob er eine tragische Person war, oder ob er das nicht war (sind nicht alle Angehörigen einer Hochkultur [Historienkultur] - und ganz besonders der abendländischen [!] - tragische Personen?): Sachlich ist ihm in vielem zuzustimmen. Man kann mit Vernunft nicht alles erklären, wie auch Schopenhauer schon zu berichten wußte. Schopenhauer ist ja „der erste Denker ersten Ranges gewesen, der aus der abendländischen Vernunftkirche ausgetreten ist“, wie Sloterdijk einmal meinte (in seinem Werk „Philosophische Temperamente“, 2009, S. 94 **). Und: „Verzicht ist für die Modernen das schwierigste Wort der Welt. Schopenhauer hat es gegen die Brandung gerufen.“ (Ebd., S. 95 **). Beide - Schopenhauer und Spengler - hielten ja auch sehr viel von Goethe (das taten und tun allerdings sowieso sehr viele - also zählt das Argument nicht so richtig). „Wir glauben nicht mehr an die Macht der Vernunft über das Leben. Wir fühlen, daß das Leben die Vernunft beherrscht.“ (**). Spengler sah in der Vernunft bzw. in der „Systematik“ der Kausalisten einen der Gründe, die den Untergang beschleunigen, der Ausdehnung dienen und sich auch solche Gebiete einverleiben, die ihnen eigentlich gar nicht zustehen, z.B. den größten Teil des Gebiets Geschichte (Geschichte völlig und rein kausal zu erklären, ist nicht möglich). Spengler ging es nicht darum, die Systematiker zu verteufeln und zu vertreiben. Er sprach ihnen einen gleichberechtigten Platz neben den Physiognomikern zu, wußte aber, daß die Systematiker seit dem Übergang der Kultur in Zivilisation immer mächtiger, also auch expansiver werden, was bedeutet, daß sie die Physiognomiker verdrängen. Am Anfang der Kulturgeschichte waren die Machtverhältnisse noch umgekehrt. Jeder weiß das auch aus der Kindheit, wenn nur weniges kausal und vieles bildlich (eidetisch) verstanden wird, während die Erwachsenen nur noch weniges bildlich (eidetisch) und vieles kausal erklären.

Spengler hatte einfach auch einen „Riecher“ für all diese Phänomene, insbesondere für die zukünftigen, und beherrschte sowohl die kindliche (mehr bildliche als kausalistische) bzw. alltagsverständliche als auch die erwachsene (mehr kausalistische als bildliche) bzw. institutionalisierte Art des Verstehens und Erklärens in einem Ausmaß, daß sie zusammen ein Gleichgewicht auf hohem Niveau bildeten, das ja notwendig ist, um eben auf hohem Niveau stets ein gerechtes Urteil fällen zu können. Im tiefsten Innern seiner Seele jedoch rumorte es wegen seiner „Angst vor der Zukunft“ (**), und zu dieser Zukunft gehört eben auch der endgültige Sieg der Systematiker über die Physiognomiker. Diese Zukunftsangst geht sicherlich mit der „Weltangst“ (**) einher oder ist vom Phänomen her sogar mit ihr identisch, und gemäß seinen eigenen Worten ist ja die „Weltangst ... sicherlich das schöpferischste aller Urgefühle. Ihr verdankt ein Mensch die reifsten und tiefsten aller Formen und Gestalten nicht nur seines bewußten Innenlebens, sondern auch von dessen Spiegelung in den zahllosen Bildungen äußerer Kultur.“ (**). Wenn (1.) die Zeit als Richtung und (2.) der Raum als Ausdehnung beängstigen, dann sind die Zukunft (siehe: 1.) und die Welt (siehe: 2.) sicherlich diejenigen Phänomene, die am meisten beängstigen, sind sie doch auch weniger bekannt: die Zukunft ist weniger bekannt als die Vergangenheit und die Gegenwart (siehe: 1.), und die Welt ist weniger bekannt als der Mutterschoß, die Familie, der Heimatort, das Vaterland .... (siehe: 2.). Je größer die Angst vor der Zukunft und der Welt, desto stärker der Wille zur Macht über sie und desto schöpferischer die Vorgehensweise zur Erlangung und Verwirklichung dieser Macht. Auf diese Weise kann man jene auf Ausgewogenheit und Gerechtigkeit abzielende Urteilsbildung auf möglichst hohem Niveau erreichen.

Doch sollten wir das Subjekt-Objekt-Problem nicht vergessen. Sind die Wissenschaftler wirklich objektiv in dem, was sie tun, wenn sie Geld brauchen und es nur noch von den ihre eigenen, ganz privaten, also subjektiven Wünsche verwirklicht haben Wollenden bekommen? Haben nicht auch sowieso die Kausalisten ganz subjektive Interessen, die sie selbst schon und oft schon von vornherein in ihre späteren Ergebnisse einbringen? Ist es nicht eher als objektiv zu bezeichnen, wenn alles, was außerhalb des Objekts selbst liegt, also auch jede Art von Interesse, ein Tabu ist? Ist es nicht sowieso schon schwierig genug, das Subjektive vom Objektiven zu trennen? Kann überhaupt noch jemand an Institutionen wie z.B. den Universitäten oder anderen Forschungsinstituten forschen, ohne von den Interessen anderer abhängig zu sein? Ist nicht gerade von den in der Öffentlichkeit stets „Experten“ Genannten, angeblich „der Objektivität Verpflichteten“ stets mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu sagen, daß sie das genaue Gegenteil sind? Sollten über sie nicht eher ganz andere Information gegeben werden, z.B. ehrliche Antworten auf die Fragen, welche subjektiven Interessen sie vertreten, wer sie bezahlt, wie glaubhaft sie sind u.ä.? Sind solche Antworten überhaupt noch erwartbar? Angesichts dieser Umstände kann man denjenigen, die den Mut haben, an diesem Subjekt-Objekt-Tausch nicht oder nicht mehr teilzunehmen, nur zustimmen. Ob dies vielleicht sogar aus einer Angst heraus geschieht, ist von der Sache selbst her ziemlich unerheblich.

Anton M. Koktanek über Spenglers „Angst“: „Unter den eisigen zwingenden Anhauch seiner unaufhörlichen Angst, die sich reflektiert politisch als Sorge darstellt, psychologisch als Lebensangst und Todesangst, überkompensiert durch ein starres Willenstrotzdem (der er sich gelegentlich entzieht im Eskapismus der »freien« Phantasie), verdrängt Spengler die im gymnasialen Traditionalismus überbetonte Tatsache des Fortlebens vieler historischer Einzelprodukte und Einzelelemente, bedeutender Problemstellungen und Teilsysteme; seine Tapferkeit besteht im entschlossenen Momento mori. .... Spenglers Geschichtsmorphologie ist durchdrungen vom Prinzip Sorge als Objektivierung und Rationalisierung der Angst. Sein Werk ist, was er der ägyptischen Kultur nachrühmt, eine »Inkarnation der Sorge« (**). »Die Sorge ist ein Gefühl, das ein Wissen in die Ferne hinaus voraussetzt, um das, was kommen wird, wie die Scham ein Wissen um das, was es war.« (**).“ (Anton M. Koktanek, Oswald Spengler in unserer Zeit, 1972; als Nachwort zur ersten Taschenbuchausgabe in: Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 1260-1261). Koktanek nennt als Beispiele von Spengler-Schülern oder Spengler-Nachfolgern bzw. der auf Spengler folgenden Kulturmorphologen, Kultursoziologen und Kulturphilosophen solche, die Spengler direkt folgten, und solche, die „zum Teil in Opposition gegen ihn ihre Kulturmodelle und Systeme entwickelt haben: Arnold J. Toynbee, Walter Schubart, Theodor Lessing, Nikolai Berdjajew, F. S. C Northrop, Alfred L. Kroeber, Pitirim A. Sorokin, Arnold Gehlen, Hugo Fischer, Albert Schweitzer, Hans Freyer, Christopher Dawson, Alfred Weber, Karl Jaspers, Alois Dempf, Romano Guardini, Philip Bagby u.a.m. (**). Sie alle - bei weitgespannten Unterschieden des Ansatzes, der Betrachtungsweisen und Ordnungsformen - machen ernst mit der Geschichtlichkeit, Vergänglichkeit, Sterblichkeit und also Zeitlichkeit der geschichtlichen Formen. Sie haben vor dem Hintergrund eines schier endlosen Trümmerfeldes einst glanzvoller Städte, zum Nomadentum herabgesunkener Kriegervölker, nicht mehr geglaubter Relgionen, unzugänglich gewordener Kunstwerke und sinnleer gewordener Einrichtungen und im Hinblick auf das eindringlichste Deklinationsbeispiel, den Untergang der Antike, in den Auflösungserscheinungen der westlichen Zivilisation den möglichen Untergang dieser neuen Gesittungsgemeinschaft diagnostiziert, viele mit der Hoffnung, durch Einsicht in die Gründe ihrer Krise einen Weg zu ihrer Überwindung zu finden, Spengler konsequent von der Unerbitterlichkeit des Fatums durchdrungen.“ (Ebd., S. 1260). Diese Schüler oder Nachfolger hatten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dieselben seelischen Beweggründe wie vor ihnen ihr Lehrer Spengler.

Die „Angst“ war für Oswald Spengler (vgl. z.B. seine Notiz in: Eis heauton 79 **) von so zentraler Bedeutung und ist vor allem in seinem Hauptwerk eindrucksvoll beschrieben (**|**|**|**), daß er ihr „wesentliche Bedeutung als kulturellen Antrieb innerhalb der Weltgeschichte zuschreibt“ (Frank Lisson, Oswald Spengler - Philosoph des Schicksals, 2005, S. 21 **). „Es ist diese permanente Angst vor allem Möglichen, die ihn seit Kindertagen verfolgt und quält und die er, trotz aller Stilisierung, doch als höchst problematisch wahrnimmt. Das Gefühl scheinbar unbestimmter Angst ist bei sensiblen Kindern auffällig verbreitet. So berichtet etwa der junge Hermann Hesse fast wortgleich mit Spengler: »Wenn ich alle die Gefühle und ihren qualvollen Widerstreit auf ein Grundgefühl zurückführen und mit einem einzigen Namen bezeichnen sollte, so wüßte ich kein anderes Wort als: Angst. Angst war es, Angst und Unsicherheit, was ich in allen jenen Stunden empfand: Angst vor Strafe, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst vor Regungen meiner Seele, die ich als verboten und verbrecherisch empfand.« Vgl. Hermann Hesse, Kinderseele (**), in: Gesammelte Erzählungen, Bd. 5, S. 183.“ (Frank Lisson, ebd., S. 21 bzw. S. 82 [Anm. 39 z. S. 21]). So wie Frank Lisson bezüglich der Weltangst (als der Angst des Schöpferischen in der Weltgeschichte) Oswald Spenglers Ähnlichkeiten bei Hermann Hesse sieht, so sieht Andreas Hetzel (**) bezüglich der ästhetischen Welterschließung Oswald Spenglers Ähnlichkeiten bei Walter Benjamin (**). Die drei Dichter-Ästheten gehören derselben Generation an, was dazu verleiten könnte, sie allein schon wegen dieser Parallele über alle Unterschiede hinweg, die es zwischen ihnen zweifellos auch gibt, zu verkuppeln. Aber trotzdem sind die von Lisson und Hetzel festgestellten Ähnlichkeiten nicht unerheblich.
„Für Ihre freundliche Zusage, einen Beitrag zu dem Gedenkbuch für Oswald Spengler zu liefern, sage ich Ihnen zugleich im Namen Frau Kornhardts, der Schwester Spenglers, verbindlichsten Dank. .... Bezüglich einer etwaigen politischen Tendenz in dem Gedenkbuche können Sie vollkommen beruhigt sein, auch wenn Mussolini darin schreiben sollte. Ich habe allen deutschen Mitarbeitern mitgeteilt, daß das Buch der Tagespolitik und politischen Tendenzen »so ferne als nur möglich zu stehen hat«, um der geistigen Höhe dieses einzigartigen Mannes und einsamen Denkers voll gerecht zu werden. Um volle politische Neutralität zu wahren, und um Ihnen die Mitarbeit nicht zu erschweren, habe ich veranlaßt, daß auch jede Verbindung oder Beziehung zum heutigen Deutschland vermieden wird, daß wir alle Spengler als den großen Einsamen des heutigen Abendlandes sehen. Auch Ihre Sorge vor einer Propaganda der Frau Quesada, deren Schreibweise mir persönlich unbekannt ist, kann ich beseitigen: Ich habe eine harte Hand, wenn ich um Spenglers willen mich zum Streichen veranlaßt sehe. Ich werde keine Propaganda dulden, wenn sie sich an den Namen Spenglers klammern will.“ (Richard Korherr, Brief an André Fauconnet, 20. Mai 1937).
Wie auch immer: auch als Autor kann man die eigene Kindheit wohl nie so richtig abschütteln, sollte man auch gar nicht, wie man an Spenglers Verarbeitung seiner Kindheit als Angstgeschichte sehen kann. „Später schreibt er dem Phänomen der Angst wesentliche Bedeutung als kulturellem Antrieb innerhalb der Weltgeschichte zu: »Es ist jene tiefe Weltangst der Kinderseele, welche den höheren Menschen, den Gläubigen, den Dichter, den Künstler in seiner grenzenlosen Vereinsamung niemals verläßt .... Es ist etwas ganz Unfaßbares, das Zukunft in Vergangenheit verwandelt, und dies gibt der Zeit im Gegensatz zum Raume jenes widerspruchsvoll Unheimliche und drückend Zweideutige, dessen sich kein bedeutender Mensch ganz erwehren kann. Die Weltangst ist sicherlich das schöpferischste aller Urgefühle« (**).“ (Frank Lisson, ebd., S. 21-22). Jürgen Naeher (*1947 **) stellte 1984 in seinem Buch Oswald Spengler (mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten **) fest, daß der von Angst und Einsamkeit bestimmte „Teufelskreis“ nur punktuell zu durchbrechen sei: „Gerade Spenglers »Einsamkeit« läßt ihn immer wieder mißverstehen, wie sehr solche Einsamkeit doch auch die anderer Menschen sein könnte, wie sehr sie tatsächlich, in vielem, die anderer ist. Sie läßt ihn immer auch mißkennen, wie sehr die durch solche Einsamkeit mitbedingte »Angst« gleichfalls andere empfinden, wie sehr diese Angst ein Grundgefühl seiner Zeit bestimmt. Solche Angst, die wiederum zu einer Bedingung von Einsamkeit wird, sie fand auch prägnanten Ausdruck etwa bei George, Thomas Mann und Kafka, in Werken, die nach Hegels Einsicht Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfassen, durch ästhetische Form vermittelt. Jene Einsamkeit, jene Angst, sie sind - umgekehrt von jenen anderen, von jedenfalls vielen, verstanden, als ihre eigene Erfahrung empfunden worden. Spengler hat sie im Untergang des Abendlandes, zumindest für die damalige Leseerfahrung offensichtlich, mitgestaltet. Was er immer wieder auch als seine Besonderheit empfindet, ist das Gefühl einer Einsamkeit und Angst, »wie sie vielleicht niemand hat«. In dieser «Besonderheit» kann er sich auch als Prototypus, als Symbol von «allgemeiner» Bedeutung auffassen. Dem Untergang des Abendlandes ist dies unterlegt. Will man es auf diese Weise sehen, hat sich Spengler mit dem Hauptwerk auch als er selber mitgeteilt: auf dem Umweg, von seiner Biographie so weit abzusehen, daß er sie als »Biographie« seiner Zeit, einer »Zwischenzeit« (**), zusammenfassen kann. Von hier schließlich konzipiert er sie als »Biographie« derjenigen Geschichte, die diese Zeit hervorbrachte (»Biographie« ist ein - Goethesches - Stichwort im Untergang des Abendlandes).“ (Jürgen Naeher, ebd., S. 52-53). Einige Zeilen weiter ist zu lesen, was auch (oder sogar nur!?!) auf Naeher selber zutrifft: „Dies ist zunächst krude Individualpsychologie, «Psychoanalyse» im verkürzenden Sinne, und benennt dabei kaum den Begründungszusammenhang von »Einsamkeit: Verzweiflung, Angst und Schuldgefühl« als Zusammenhang, als kreisende Struktur.“ (Ebd., S. 53-54).

Bestimmte Spengler-Kritiker wollten und wollen auch auf ihren angeblichen Optimismus, bei dem es meistens um den Glauben an das sogenannte „kommunistische Endziel“ geht, durch den Hinweis auf den Kontrast zum angeblich bei Spengler nachzuweisenden Pessimismus aufmerksam machen (**|**|**). Doch: „Optimismus und Pessimismus, die Prinzipien Hoffnung und Sorge, haben keinen Ort in der klassischen Historik Rankes, die methodsich von Gegenwart und Zukunft absehend nur ermitteln will, »wie es wirklich gewesen ist« .... Wenn der Gang der Epoche uns etwa lehren kann, ist es hinterfragende Kritik: Einsicht in die Willensgründe des Pessimismus ebenso wie Skepsis gegenüber einem Optimismus, der auf die Machbarkeit aller Dinge und auf die Vollendbarkeit des Menschen aus eigener Kraft vertraut. Die Hoffnung, die Natur des Menschen durch Veränderung des Gesellschaftssystems oder der Gesellschaftsphilosophie zu verändern, ist durch die geschichtliche Erfahrung nicht bestätigt worden. Die machtvolle Entwicklung aller Wissenschaften und die durchgehende Technisierung der »Erdumfangskultur« (Arnold Gehlen), das Bekenntnis der meisten Staatsführungen zu einem Kodex humanitärer Verpflichtungen und der ... Sozialismus hat die begründete Sorge um die Zukunft nicht etwa nur der bürgerlichen Klasse oder der westlichen Zivilisation, sondern der ganzen Menschheit nicht vermindert.“ (Anton M. Koktanek, Oswald Spengler in unserer Zeit, 1972; als Nachwort zur ersten Taschenbuchausgabe in: Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 1261-1262). Gesetzt, daß Hoffnung und Sorge sich zueinander verhalten wie Optimismus und Pessimismus, so gehört das Prinzip Hoffnung wie Optimimus dem Idealreich und das Prinzip Sorge wie Pessimismus dem Realreich an. Suchen Sie sich aus, in welchem Reich sie lieber leben mögen.

„Die exzessive Zunahme der Kriminalität in allen verstädterten und industrialisierten Gesellschaften aller weltanschaulichen Farben, die spezifische Ausbildung der Wohlstandskriminalität zumal redet eine deutliche Sprache. »Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwischen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte. Das ist in Bagdad und Babylon nicht anders gewesen wie in Tenochtitlan und heute in London und Berlin.« (**). So Spengler. Und schon Nietzsche sah den Ausbruch aller Triebe in der regelstörenden Form der Krankheiten und Verbrechen als nicht aufhebbares Symptom einer gesamtgesellschaftlichen nihilistischen Dekadenz: »Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an sich zu verurteilen wäre: er ist eine notwendige Konsequenz des Lebens .... Es ist eine Schmach für alle sozialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Kombinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Not nicht mehr wüchse .... Aber das heißt das Leben verurteilen .... Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben .... Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht .... Was man bisher als Ursachen der Degeneration ansah, sind deren Folgen« (**). .... – Spengler ist tatsächlich in der Wahl seiner Bilder, in seiner Wissenschaftslehre und in seinem Sprachstil, dem angemessenen Ausdruck seines Denkstils, der Lebensphilosophie (**) verbunden gewesen, die im irrationalen Leben und Erleben eine dem rationalen Denken überlegene Erkenntnisquelle zu besitzen glaubte. Zudem wirkt in ihm der Enthusiasmus einer durch stürmische Fortschritte der Biologie (und Medizin) geprägten Epoche, der das Schlagwort Evolution soviel bedeutete wie der späteren (oder/und der früheren [?]; HB) das Schlagwort Revolution, einer Epoche, in der dank Ernst Haeckel die Deszendenztheorie vor allem Darwinscher Prägung sich durchsetzte. Spengler hat das biologische Gleichnis überbetont, eine Phänomenologie und Morphologie der Geschichte gefordert, den morphologischen Vergleich der Kulturen gefordert, für sie rationale und kausale Methoden abgelehnt und sich auf physiognomischen Takt berufen. Doch hat der dogmatische, mythopoetische und prophetische Vortrag einer an sich fruchtbaren Arbeitshypothese der unmittelbaren Wirkung ebenso genützt, wie es der Nachwirkung geschadet hat. Seine Kulturlehre ist Ergebnis der Intuition, doch muß sie diskursiv überprüft, falsifiziert oder verifiziert werden. Heute kann sie, aus dem Symbolismus ihrer Entstehungszeit gelöst, weitergedacht werden, da uns die Kybernetik erlaubt, den für Spengler unaufhebbaren Gegensatz von mechanischen und organischen Abläufen zu überwinden und ein gemeinsames Modell biologischer, mechanischer und soziologischer Prozesse zu entwickeln. Die Spenglerschen Kulturen können als hochkomplexe, überstabile dynamische Systeme mit doppelter Rückkoppelung gelesen werden. Das Spenglersche Ursymbol (**) stellt den soziogenetischen Code dar. Das Denkmodell erklärt gleicherweise die relative quasi-organische Geschlossenheit, Individualität und Ablaufsgesetzlichkeit der Kulturen wie ihre Offenheit, ihre Fähigkeit, fremde Güter, gewissermaßen »Störungen« im kybernetischen Sinn abzuweisen oder auch zu integrieren; auch das Problem der Pseudomorphosen (**) kann dergestalt sinnvoll gelöst werden wie schließlich bei klarer Anerkennung der Diskontinuität der Kulturen die Frage nach der Kontinuität der Geschichte.“ (Anton M. Koktanek, Oswald Spengler in unserer Zeit, 1972; als Nachwort zur ersten Taschenbuchausgabe in: Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 1262-1267).

Aber was ist beispielsweise mit Freuds Urgefühl(en) als Beweggrund für seine Geistestätigkeiten? Wollte Freud wirklich seine Mutter heiraten und mit ihr Nachkommen zeugen? Haßte Freud wirklich seinen Vater so sehr, daß er ihn töten wollte?

Oder was ist beispielsweise mit Marx’ Urgefühl(en) als Beweggrund für seine Geistestätigkeiten? War Marx wirklich bereits so sehr von seinen Produktionsmitteln entfremdet und so sehr verelended, daß nur noch ein Engels und andere Engel ihn retten konnten, indem sie mit ihm zuammen ihre Revolution zum Erfolg brachten, anschließend die Diktatur des Proletariats errichteten und danach in ihrem Paradies glücklich bis an ihr Lebensende waren?

Wollte Thomas Mann wirklich unbedingt der Hochstapler Felix Krull sein, weil sein Bruder Heinrich Mann unbedingt der Untertan Diederich Heßling sein wollte?

Es folgen einige Beispiele von Meinungen zu Spengler:

„Mit großer Bewunderung muß zum Schluß noch der Name Oswald Spengler
genannt werden, vielleicht des stärksten und farbigsten Denkers, der seit Nietzsche
auf deutschem Boden erschienen ist. Man muß in der Weltliteratur schon sehr
hoch hinaufsteigen, um Werke von einer so sieghaften psychologischen
Hellsichtigkeit und einem so persönlichen und suggestiven Rhythmus
des Tonfalls zu finden wie den »Untergang des Abendlandes«.“
(Egon Friedell).

„Mit gleicher Post sende ich Ihnen aus der Bibliothek meines Bruders einen Band
Hölderlingedichte, die er sehr schätzte, und hoffe, Ihnen durch dieses
Andenken eine kleine Freude zu bereiten. Eine größere Freude wird es
Ihnen jedenfalls sein, zu hören, daß er Ihr Buch über ihn stets als
»das Gescheiteste, was überhaupt über mich geschrieben ist« bezeichnete.“
(Hildegard Kornhardt
[Spenglers Schwester], Brief an André Fauconnet, 24.07.1936).

„Der Brief meines Onkels, den sie zitieren, war mir nicht mehr bekannt
und hat mich natürlich außerordentlich interessiert. Sie können sich denken,
daß ich besonders dankbar bin für eine Stimme, die sich in Frankreich erhebt, um
Spengler gegen ungerechte Vorwürfe zu verteidigen, die ihm in Deutschland
immer wieder in gedankenloser und gehässiger Form gemacht werden,
ohne daß sich in der deutschen Öffentlichkeit, bzw. in der Presse,
Gegenstimmen in größerem Ausmaß dagegen hören lassen.“
(Hildegard Kornhardt
[Spenglers Nichte], Brief an André Fauconnet, 03.09.1947).

„Lassen Sie mich zuerst sagen, daß ich die größte Bewunderung für Spengler habe.
Ich glaube, er ist ein Genie und irgendwie einzigartig.“
(Arnold J. Toynbee).

„Spengler hat kaum einen Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte.“
(Theodor Wiesengrund Adorno, Spengler nach dem Untergang, 1938).

„Man spricht von einem Krankenzimmer, seit Dr. Oswald Spengler die Diagnose
gestellt und es verlassen hat, nicht vom Sterben. Im Gegenteil .... Die ein Zentimeter
über dem Horizont hängende Sonne wird zur aufgehenden Sonne ernannt.“
(Joachim Fernau, Die Genies der Deutschen, 1968, S. 15).

„An Spenglers fortdauernder Bedeutung läßt sich kaum zweifeln. Sie besteht
unabhängig von der politischen und philosophischen Einschätzung seines Werkes.“
(Hermann Lübbe, Vorwort zu: P. C. Ludz [Hrsg.], Spengler heute, 1980, S. VII f.).

„Es greift immer ein bißchen zu kurz, wenn man den Schlüssel
eines Werkes nur in der Biographie des Autors finden will ....“
(Gilbert Merlio, Oswald Spengler, 2007, S. 101).

Folgendes ist - sogar (!) - bei Wikipedia zu lesen: „Spengler selbst bezeichnete sein Hauptwerk als »Metaphysik«. Das hinderte den britischen Historiker Arnold J. Toynbee nicht, ihn zeitlebens zu bewundern. Noch bei Franz Borkenau findet sich eine Spengler sehr ernst nehmende grundsätzliche Auseinandersetzung. Auch in weiten Teilen der Bildungsschicht, besonders in Deutschland und Österreich (Egon Friedell, Gottfried Benn u. a.), wurde sein Blick auf die Weltgeschichte ernst genommen. Der Dichter Gottfried Benn war zeitlebens angetan von Spenglers Morphologie und wurde »Poet des Spenglerschen Lebensgefühls« - .... - Thomas Mann lobte das Werk zunächst emphatisch und schlug es der Jury des Nietzsche-Preises zur Auszeichnung vor. Es sei ein »Buch voller Schicksalsliebe und Tapferkeit der Erkenntnis, worin man die großen Gesichtspunkte findet, die man heute gerade als deutscher Mensch braucht.« Schon 1922, als er sich mit der Weimarer Republik zu versöhnen begann, distanzierte er sich von Spengler. In seinem ersten Brief aus Deutschland würdigte er zwar den literarischen Glanz des Werkes, sprach dem Verfasser aber den humanistischen Pessimismus eines Schopenhauer oder den „tragisch-heroischen“ Charakter Nietzsches ab. Das Werk sei vielmehr fatalistisch und zukunftsfeindlich. »Solche Anmaßung aber und solche Nichtachtung des Menschlichen sind Spenglers Teil … Er tut nicht wohl daran, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche zu Vorläufern seines hyänenhaften Prophetentums zu ernennen.« (Ders., Über die Lehre Spenglers, 1922). - Erheblichen Einfluß übte das Denken Spenglers auf die anthropologische und ethnologische Forschung aus – so etwa im Frühwerk von Claude Lévi-Strauss (Tristes tropiques). - Theodor W. Adorno verteidigte Spenglers Geschichtsphilosophie. Die in der Nachkriegszeit kurrente Kritik an diesem extrem reaktionären Theoretiker sei zu einfach und affirmativ, da seine Kritik am Liberalismus einer progressiven Kritik überlegen sei. Seine Voraussicht auf den ... Cäsarismus sei wertvoll und enthalte Wahrheiten über Massenkultur und Parteienorganisation. - In jüngerer Zeit zeigte sich Morris Berman in seiner Kritik der amerikanischen Zivilisation von Spenglers Werk beeinflußt. Auch der belgische Althistoriker David Engels, der sich auch sonst intensiv mit Spengler auseinandergesetzt hat, beruft sich bei seinem Versuch, die Krise der Europäischen Union mit dem Untergang der römischen Republik zu vergleichen, explizit auf Spenglers Geschichtsmorphologie.“ **

Der Wendehals Thomas Mann hatte wahrscheinlich „gute Gründe“ für seine 180-Grad-Drehung. Er ist ein passendes Beispiel dafür, daß die Änderung einer Meinung oft mehr von außen als von innen bewirkt wird. Natürlich stimmt es nicht, daß Spenglers Hauptwerk „zukunftsfeindlich“ ist. Es ist gerade wegen der Zukunft und für die Zukunft geschrieben worden. Außerdem trifft doch die von Thomas Mann angesprochene „Anmaßung und Nichtachtung der Menschlichkeit“, die vor seiner 180-Grad-Drehung noch „Schicksalsliebe und Tapferkeit der Erkenntnis“ hießen, auf ihn selbst nach seiner 180-Grad-Drehung mehr zu als auf Spengler. Und was - bitte schön - sollen wir uns denn unter seinem „hyänenhaften Prophetentum“ vorstellen? Mit welcher Absicht hat er hier ausgerechnet Hyänen in Verbindung mit Prophetentum gebracht? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er von außen gesteuert worden ist.

 

Erkenntnistheoretische Relevanz der lebensphilosophischen Kulturmorphologie.

Die Mathematik kann problemlos mit irrationalen und imaginären Zahlen arbeiten, denn sie kommt mit ihnen zu widerspruchsfreien Aussagen. Spengler ging von der Mathematik aus - das ist auch der Grund, weshalb das 1. Kapitel seines Hauptwerks ein mathematisches ist: „Vom Sinn der Zahlen“ (**). Hier also startete Spengler. Von hier aus bewegte er sich allmählich auf die für sein lebensphilosophisches Thema relevanten Phänomene zu, z.B. auf die Phänomene „Zeit“ und „Raum“, weil sie prägend auf das erste „Erwachen“, die „Weltanschauung“, das „Ursymbol“ der Subjekte wirken. Das von Koktanek erwähnte Modell der Kybernetik (**) ist ebenfalls geeignet, das auch in der Lebensphilosophie enthaltene Irrationale und Imaginäre zu integrieren und zu differenzieren. Nach meinem Dafürhalten müssen wir aber unbedingt mehrere Ebenen oder Schichten bzw. Kategorien berücksichtigen, weil für kulturelle Phänomene nicht dieselben Wertmaßstäbe angelegt werden können wie für natürliche Phänomene, und innerhalb des Kulturellen wie auch des Natürlichen ebenfalls unterschiedliche Wertmaßstäbe bzw. Kategorialkomplexe und Determinationstypen (vgl. N. Hartmann [**]) gelten. Mein Modell ist ebenfalls ein Kybernetikmodell, nämlich eines, das von einer für die Erkenntnislehre fast unabdingbaren Schichten- oder Kategorienlehre ausgeht und auf diese Weise auch Integrierungen, Differenzierungen und Relativierungen ermöglicht sowie die Bedingungen dafür erfüllt, daß Kulturen „als hochkomplexe, überstabile dynamische Systeme mit doppelter Rückkoppelung gelesen werden“ (**) können.

Naturwissenschaften —› —› Kulturwissenschaften
(auch genannt: Empirie-, Erfahrungswissenschaften) ‹— ‹— (auch genannt: Sozial-, Geisteswissenschaften)
...  Ü b e r g ä n g e  ...
(1) N ==> (2) N-K ==> (3) K ==> (4) K-N ==>
(1a) Physik
==>
(1b) Chemie
==>
(2a) Biologie
==>
(2b) Ökonomie
==>
(3a) Semiotik
==>
(3b) Linguistik
==>
(4a) Philosophie
==>
(4b) Mathematik
==>
<== <== <== <== <== <== <== <==
(1) N <== (2) N-K <== (3) K <== (4) K-N <==

(4) Grund
(3) Motiv
(2) Trieb (Gencode)
(1) Ursache (Kausalität)
(4) Geistiges (K-N)
(3) Seelisches (K)
(2) Organisches (N-K)
(1) Anorganisches (N)
Wenn man eine Kultur an sich - als Phänomen - beschreiben will, dann kann der gesamte Bereich der Naturwissenschaften (im Modell: „N“) ignoriert werden; will man sie jedoch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Natur beschreiben, dann muß der gesamte Bereich der Naturwissenschaften (im Modell: „N“) berücksichtigt werden. Genau genommen muß in allen im Schema erwähnten Bereichen oder Schichten ebenfalls differenziert werden. Wenn Kulturen „Organismen“ sein oder zumindest ähnlich wie sie sein sollen, dann müssen sowohl der Kategorialkomplex als auch der Determinationstyp der organischen Schicht berücksichtigt werden, in der zwar die anorganischen Kategorien der Materie und die Determiniertheit durch Kausalität wiederkehren, aber eben abgewandelt durch das spezifische Novum der Kategorie des Lebendigen (Organischen). Das jeweilige kulturelle „Urymbol“ wäre wie ihr „Seelenbild“ auf der nächsthöheren Schicht, nämlich der des „Seelischen“, zu untersuchen. Die Schichten sind dadurch charakterisiert, daß die jeweils höhere (und leichtere) von der/den niederen (und stärkeren) zwar getragen wird, der/den niederen gegenüber aber relativ „frei“ ist (soweit die „Freiheit“ nicht durch das Getragenwerden beschränkt ist), besonders deshalb, weil sie im Vergleich zu dieser/diesen neue Eigenschaften aufweist. „Jede Seinsschicht hat ihren eigenen Kategorialkomplex, und zu jedem solchen gehört ein eigener Determinationstyp. Und wie die Kategorien jeder niederen Schicht in der höheren abgewandelt und um ein spezifisches Novum verstärkt wiederkehren, so natürlich auch die niederen Determinationstypen in den höheren.“ (Nicolai Hartmann, Ethik, 1926). Meine Schichten- oder Kategorienlehre unterscheidet sich zwar ein wenig von der Hartmanns, ist aber grundsätzlich mit ihr vereinbar. Die Schicht des Geistigen verfügt über die meiste relative Freiheit, ist also am meisten entfernt von der Natur, dem um den Begriff der Materie gruppierten Kategorialkomplex und dem Determinationstyp Kausalität. Wir müssen hier nicht zu sehr in die Einzelheiten gehen, um zu erkennen, daß Phänomene wie die Kulturen weniger durch Kausalität determiniert sind als beispielsweise Planeten, Sonnen und Galaxien oder auch Moleküle und Kristalle. Jedoch kann auch nach meinem Modell kein Phänomen wirklich völlig frei von der untersten Ebene mit dem Determinationstyp Kausalität sein. Dies ist auch einer der Gründe, warum ich Kulturen nicht wie Spengler als Monaden verstehe. Doch es bedeutet noch lange nicht, daß Spenglers Kulturtheorie und speziell seine Kulturmorphologie falsch oder belanglos wäre für die Erkenntnislehre. Für die Erkenntnis von Kulturen an sich ist Kausalität, obwohl sie ansonsten durch sie determiniert sind, mehr hinderlich als förderlich. Welche Ursache auch immer den Menschen bewirkt hat: der Mensch will selber Ursachen setzen, Finalursachen nämlich, also seine eigenen Zwecke oder Ziele. So ist es auch bei Kulturen. Dabei kommen Triebe, Motive und Gründe in Frage, während die Ursache ja gerade ausgetrickst werden soll, gehört sie doch zum Determinationstyp Kausalität der untersten Schicht Natur, die alles trägt und bestimmt, worüber sich ihr „Empörer“ doch gerade immerzu „empören“ und wehren will - und eben auch kann (!). In dem Sinne sind auch die folgenden Sätze Spenglers zu verstehen:
„Der »freie Wille« schon ist ein Akt der Empörung, nichts anderes. Der schöpferische Mensch ist aus dem Verbande der Natur herausgetreten, und mit jeder neuen Schöpfung entfernt er sich weiter und feindseliger von ihr. Das ist seine »Weltgschichte«, die Geschichte einer unaufhaltsam fortschreitenden, verhängnisvollen Entzweiung zwischen Menschenwelt und Weltall, die Geschichte eines Empörers, der dem Schoße seiner Mutter entwachsen die Hand gegen sie erhebt. Die Tragödie des Menschen beginnt, denn die Natur ist stärker. Der Mensch bleibt abhängig von ihr, die trotz allem auch ihn selbst, ihr Geschöpf, umfaßt. Alle großen Kulturen sind ebenso viele Niederlagen. Ganze Rassen bleiben, innerlich zerstört, gebrochen, der Unfruchtbarkeit und geistigen Zerrüttung verfallen, als Opfer auf dem Platze. Der Kampf gegen die Natur ist hoffnungslos, und trotzdem wird er bis zum Ende geführt werden.“ **
Man wird den Menschen niemals völlig verstehen bzw. erkennen können, wenn man dies immer nur von der Natur, dem um den Begriff der Materie gruppierten Kategorialkomplex und dem Determinationstyp Kausalität aus versucht.

Beobachtung der Beobachtung
Er beobachtet nur, wie ein anderer beobachtet, wie
ein anderer beobachtet, wie ein anderer
beobachtet, wie ... u.s.w.; aber er sieht nicht, wie er
selbst beobachtet; denn das kann nur ein anderer
beobachten, der auch nicht beobachten kann, wie
er selbst beobachtet ... u.s.w.: Jeder hat seinen
blinden Fleck. Und nur den gibt es zu sehen!

Es wurde ja schon gesagt (**), daß gemäß Schopenhauer (**|**) alles, was für die Erkenntnis da ist - also diese ganze Welt - Objekt in Beziehung auf ein Subjekt ist, also Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort: Vorstellung. Schopenhauer sah in der Vorherrschaft des Rationalismus auch ein Hindernis für die Erkenntnis. Rund 100 Jahre später wurde diese Aussage von Spengler (**) sogar noch verstärkt, denn er wollte „mehr als Rationalismus: Goethe hatte der aufklärerischen Differenzierung in vernunftgeleitetes Sinnes-, Denk- und Handlungsvermögen als »vierte Kraft« die Phantasie abgepreßt (es muß dahingestellt bleiben, ob Goethes [bzw. Spenglers an Goethe anknüpfender] Anspruch, damit auch die von Kant dargestellten Vermögen, Kräfte [der drei berühmten erkenntniskritischen Hauptwerke] zu übersteigen, eingelöst werden konnte ...); jene »›exakte sinnliche Fantasie‹«, welche Spengler bereits seinem Heraklit zuschreibt (gegen den späteren Aristoteles, gegen viele Spätere); auf ein Vermögen, das »auf Gestalten und Gedanken, nicht deren abstrakte Folgerungen, Begriffe und Gesetze« (**) gerichtet sein soll. Im Widerstreit von Ratio und Sinnlichkeit, aber auch von Verstand umd Empfindsamkeit, vor allem, will Spengler Goethe folgen ....“ (Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 57.) Es wurde auch schon gesagt (**), daß Heidegger (**) die Subjekt-Objekt-Beziehung durch das In-der-Welt-Sein des Menschen ersetzte. Wenn nun Spenglers Kulturen wie „Organismen(**) sind und sie ihre Weltanschauung gemäß der Art und Weise ihres Erlebens der Raumtiefe bzw. Ausdehnung beim Erwachen ihrer Seele, also gemäß dem Ursymbol erhalten - denn: „die Wahl des Ursymbols in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur in ihrer Landschaft zum Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden, der Weltgeschichte so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes hat, entscheidet alles.“ (**) -, dann ist nicht nur jede einzelne Person, sondern ebenfalls jede einzelne Kultur auch erkenntnistheoretisch ein Subjekt, also ein jedes Objekt auf subjekive Weise erkennendes und somit bestimmendes Subjekt. Wenn wir dieses Subjekt objektiv erkennen wollen, dann müssen wir zuletzt zur Kenntnis nehmen, daß das zu Luhmanns selbstreferentieller, rekursiver Beobachtung führt: Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung ... u.s.w. (siehe Abbildung), also zur selbstreferentiellen, rekursiven Beobachtung. Luhmanns Beobachter des Beobachters ist eine tragische Figur. Wenn aber - abgesehen von Ausnahmen (die allerdings früher die Regel waren) - jede Einzelperson immer schon in einer Welt ist (und dies ab einem bestimmten Alter auch weiß) und immer schon in einer Kultur ist (und dies ab einem bestimmten Alter auch weiß) sowie ihre Weltanschauung bzw. „Welt als Vorstellung“ aufgrund des kultuellen Ursymbols abhängig von eben dieser Kultur ist, dann könnten wir ja vielleicht den Subjekt/Objekt-Dualismus so ersetzen, wie es Heidegger uns mit dem In-der-Welt-Sein vorgemacht hat, und es durch ein jeweiliges In-der-Kultur-Sein ergänzen oder sogar ersetzen . Wir sind dann keine Subjekte mehr, weil wir immer schon in einer Welt bzw. Kultur sind, also von der Welt gar nicht getrennt sein können, und die Welt wäre dann für uns aus denselben Gründen auch kein Objekt mehr. Heideggers „In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.“ (**). „Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt.“ (**). Die Weisen des In-Seins haben die ... Seinsart des Besorgens.“ (**). In-Sein ist ein Existenzial.
„In-Sein ... meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial. Dann kann damit aber nicht gedacht werden an das Vorhandensein eines Körperdings (Menschenleib) »in« einem vorhandenen Seienden. Das In-Sein meint so wenig ein räumliches »Ineinander« Vorhandener, als »in« ursprünglich gar nicht eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet (vgl. Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Band VII, S. 247); »in« stammt von innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten; »an« bedeutet: ich bin gewohnt, vertraut mit, ich pflege etwas; es hat die Bedeutung von colo im Sinne habito und diligo. Dieses Seiende, dem das In-Sein in dieser Bedeutung zugehört, kennzeichneten wir als das Seiende, das ich je selbst bin. Der Ausdruck »bin« hängt zusammen mit »bei«; »ich bin« besagt wiederum: ich wohne, halte mich auf bei ... der Welt, als dem so und so Vertrauten. Sein als Infinitiv des »ich bin«, d.h. als Existenzial verstanden, bedeutet wohnen bei ..., vertraut sein mit .... In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesentliche Verfassung des In-der-Welt-seins hat. Das »Sein bei« der Welt, in dem noch näher auszulegenden Sinne des Aufgehens in der Welt, ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial.“ **
Erkennen ist ein Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein .... Erkennen ist ein im In-der-Welt-sein fundierter Modus des Daseins.“ (**). „Natur ist - ontologisch-kategorial verstanden - ein Grenzfall des Seins von möglichem innerweltlichen Seienden. Das Seiende als Natur in diesem Sinne kann das Dasein nur in einem bestimmten Modus seines In-der-Welt-seins entdecken. Dieses Erkennen hat den Charakter einer bestimmten Entweltlichung der Welt.“ (**). „Das Ent-fernen ist zunächst und zumeist umsichtige Näherung, in die Nähe bringen als beschaffen, bereitstellen, zur Hand haben. Aber auch bestimmte Arten des rein erkennenden Entdeckens vom Seienden haben den Charakter der Näherung. Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.“ (**). „Im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil das Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verstehen ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht. Das Sicherkennen gründet in dem ursprünglich verstehenden Mitsein.“ (**). Eine Erkenntnis im Sinne der Subjekt-Objekt-Beziehung ist so gar nicht möglich, denn der Einzelne als das Subjekt kann von außen, also außerhalb seiner Welt, gar nicht wirklich eine Erkenntnis über die Welt als Objekt bekommen, weil er immer schon in ihr ist. Dies gilt nach meinem Dafürhalten auch für die Kultur, und zwar sowohl dann, wenn sie erkennendes Subjekt sein will, als auch dann, wenn sie zu erkennendes Objekt sein soll. Gemäß Heidegger ist „Verstehen“ als „eine ursprünglich existenziale Seinsart“ zu verstehen, „die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht“; also ist es unerläßlich, bei jeder Art von „Erkenntnis“ oder „Kenntnis“ vom „ursprünglich verstehenden Mitsein“ auszugehen.

Regelkreis Regelkreis

Zurück zum Kybernetikmodell. - Ein Regelkreis besteht aus zwei Hauptteilen: der Regelstrecke bzw. dem zu regelnden Objekt und dem Regler. Der Regler hat die Aufgabe, eine bestimmte veränderliche Größe, die Regelgröße (den Istwert), gegenüber störenden Einwirkungen aus der Systemumwelt oder aus dem System selbst gemäß einer ihm vorgegebenen Funktion, der Führungsgröße oder dem Sollwert (Zielwert) zu variieren. Seine „Maßnahmen“ erfolgen über die Stellgröße. Auf diese Weise kann der Regler (aufgrund der ihm selbst vorgegebenen Zielwerte) die Regelstrecke mittels der Stellgröße bestimmen, die Ergebnisse der Regelstrecke über die Regelgröße auswerten (z.B. Störungen erkennen) und wiederum regulierende „Maßnahmen“ einleiten. Die Regelgröße wird mit der Führungsgröße verglichen. Die Regelabweichung (= Sollwert – Istwert) wird dem Regler zugeführt, der daraus entsprechend der gewünschten Dynamik des Regelkreises eine neue Stellgröße bildet. Die Störgröße wirkt meistens auf den Ausgang der Regelstrecke, sie kann aber auch auf verschiedene Teile der Regelstrecke Einfluß nehmen. Rückkoppelung bedeutet das allgemeine Steuerungsprinzip kybernetischer Regelkreise, bei dem die Wirkung einer auf ein bestimmtes Reaktionssystem einwirkenden Ursache wieder auf die Ursache zurückwirkt. Negative Rückkoppelung wird ein Effekt genannt, durch den die Stabilität des Funktionensystems im Zeitablauf erhalten und jede störende Einwirkung paralysiert wird. Bei positiver Rückkoppelung verstärkt die Rückwirkung des Systemeffekts die erzeugenden Ursachen. Das philosophische Interesse für die Kybernetik rührt daher, daß diese die Möglichkeit eröffnet, den Begriff „Zweck“ rekursiv zu begreifen (Beispiel einer rekursiven Regel: A–›B(A)): Der Zweck eines komplexen Systems, etwa auch eines Lebewesens, ist es selbst. Ein Zweck bräuchte keine vom System getrennte Instanz mehr, die ihn setzt. Wenn das auch für menschliche Zwecke gilt, gewinnt die Autonomie der Person und damit ihre Verantwortung für ihre Handlungen sehr stark an Bedeutung. Man könnte nun einen Regelkreis entwerfen, in der die Rollen folgendermaßen verteilt sind: Führungsgröße: Wille bzw. Seele von Mensch(en) bzw. Kultur(en); Regler: Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex; Stellgröße: Stellform; Regelstrecke: Geschichte; Regelgröße: Regelform. In diesem Regelkreis bestehen die beiden Hauptteile also aus der Geschichte und dem Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex. Demnach hat der Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex die Aufgabe, eine bestimmte veränderliche Größe, die kulturgeschichtliche Regelform (den Istwert), gegenüber Störungen aus der Umwelt dieses Regelkreises oder aus dem Regelkreis selbst gemäß einer ihm vorgegebenen Funktion, der Führunsgröße (dem menschlichen/kulturellen Willen bzw. der menschlichen/kulturellen Seele) oder dem ursymbolischen Sollwert (Zielwert) zu variieren. Seine „Maßnahmen“ erfolgen über die kulturgeschichtliche Stellform. Auf diese Weise kann der Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex, und zwar aufgrund der ihm selbst vom Willen bzw. von der Seele des Menschen bzw. der Kultur vorgegebenen ursymbolischen Sollwerte die Geschichte (Verwirklichung der Seele) mittels der kulturgeschichtlichen Stellform bestimmen, die Ergebnisse der Geschichte über die kulturgeschichtliche Regelform auswerten (z.B. Störungen erkennen) und wiederum regulierende „Maßnahmen“ einleiten. Die kulturgeschichtliche Regelform wird mit dem Willen bzw. der Seele des Menschen bzw. der Kultur verglichen. Die Regelabweichung (= ursymbolischer Sollwert – Istwert [Regelform]) wird dem Ursymbol-und-Seelenbild-Komplex zugeführt, der daraus entsprechend der gewünschten Dynamik des Regelkreises eine neue kulturgeschichtliche Stellform bildet, es sei denn, daß es keine Regelabweichung gibt (ursymbolischer Sollwert – Istwert [Regelform] = 0). Die Störgröße wirkt meistens auf den Ausgang der Geschichte, sie kann aber auch auf verschiedene Teile der Geschichte Einfluß nehmen. (Die Geschichte ist hier nicht nur im allgemeinen, sondern auch im besonderen, z.B. bezüglich Epochen, Phasen u.s.w. zu verstehen.) - Setzen wir nun an die Stelle des übergeordneten Systems das Leben bzw. Lebewesen (Organismus, Kultur), an die des zielsetzenden Systems die Seele mit ihren Erlebnissen (vor allem ihrem Tiefenerlebnis XK, das auch als Herausforderung zu verstehen ist), an die des Reglers den aus Ursymbol (Sollwerteinstellung) und Seelenbild (Meßeinrichtung) bestehenden Komplex für den Vergleich und die Entscheidung, an die der Stellgröße Y die Stellform Y, an die der Regelstrecke die Geschichte (Verwirklichung der Seele) und an die der Regelgröße X die Regelform X (siehe Abbildung).

Ich weiß, daß Spengler auch jedem noch so perfekt funktionierenden Kybernetikmodell skeptisch bis ablehnend gegenüber eingestellt war. Spengler zufolge sind Phänomene wie Leben, Kultur, Seele, Geschichte u.ä. für die Erkenntnis auf rein systematischem Wege nicht ergiebig. Ich habe es hier dennoch versucht und hoffe, daß mein auf Spenglers Kulturmorphologie bezogenes Kybernetikmodell von der Erkenntnistheorie schon bald dankenswerterweise begrüßt werden wird.

Nach meinem Dafürhalten ist Spenglers Kulturtheorie auch in Luhmanns Systemtheorie integrierbar. Spengler ging davon aus, daß eine Kultur sich von seiner Umwelt unterscheidet, und zwar so sehr, daß sie ähnlich wie das ist, was sehr lange vor Spengler schon bei Leibniz „Monade“ hieß und lange nach Spengler bei Luhmann „System“ heißen sollte, was auch bedeuten sollte, „daß ein System die Differenz ist - die Differenz zwischen System und Umwelt“ (**|**). Leibniz’ Monaden, Spenglers Kulturen und Luhmanns Systeme haben vor allem die Selbstbezüglichkeit gemeinsam, wozu auch die Tatsache gehört, daß sie keinen direkten Kontakt zu ihrer Umwelt haben, obwohl sie von ihr abhängen und auch von ihr beeinflußt werden, allerdings, wie gesagt, nicht über den direkten Kontakt. Sie reagieren auf ihre Umwelt, aber haben keinen, jedenfalls keinen direkten Kontakt zu ihr. Spenglers Kulturen sind auf Grund von Ursymbol und ihr Seelenbild nicht in der Lage, ihre Umwelt zu verstehen, und da auch andere Kulturen zu dieser Umwelt gehören, können sie auch diese nicht verstehen. Erkenntnistheoretisch sind also Spenglers Kulturen durch ihr jeweiliges Ursymbol und ihr jeweiliges Seelenbild und Luhmanns Systeme durch den blinden Fleck des Beobachters eingeschränkt (**), also in beiden Fällen eben durch die Selbstreferenz, und zwar auch dann, wenn sie versuchen, sich selbst von außen zu beobachten und zu beschreiben oder als zweiter Beobachter einen ersten Beobachter beobachten, wenn also die Fremdreferenz zwar eine Rolle spielt, aber letztlich doch wieder in Selbstreferenz mündet. Luhmanns Systeme sind wie zuvor schon Spenglers Kulturen unwahrscheinliche Gebilde, die durch Zufall wahrscheinlich werden: Mit anderen Worten: es wird „geringe Entstehenswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungsswahrscheinlichkeit transformiert“ (**). Luhmanns Systeme sind wie zuvor schon Spenglers Kulturen Formen. Also geht es in beiden Theorien um Formanalyse.

Spenglers Kulturen sind selbstbezügliche Monaden - ähnlich wie später Luhmanns Systeme. Sie kreisen um sich selbst, verstehen einander nicht, können nicht, jedenfalls nicht direkt miteinander kommunizieren. Darum kann auch jede auf sie bezogene Beobachtung nur eine Selbstbeobachtung sein, aber immerhin in einem Als-ob-Modus einer Fremdbeobachtung, also so, als ob diese Selbstbeobachtung jene wäre, die von außen auf dieses Selbst gerichtet ist. Deshalb war es Spengler und Luhmann zumindest indirekt möglich, über den Weg der Selbstbeobachtung, der Als-ob-Fremdbeobachtung also, und Selbstbeschreibung, der Als-ob-Fremdbeschreibung also, mehr über Kulturen und Gesellschaften zu wissen als beispielsweise jene Selbstbeobachter und Selbstbeschreiber vor ihnen, denn diese früheren Selbstbeobachter und Selbstbeschreiber wurden ja als Beobachter erster Ordnung von Spengler bzw. Luhmann als Beobachter zweiter Ordnung ebenfalls beobachtet, also mitbeobachtet (**). Spengler und Luhmann hatten also den Vorteil, diejenigen Beobachter mitzubeobachten, die das noch nicht konnten.

„Die Wissenschaft bleibt als Beobachter der aus sich selbst ausgeschlossene Dritte.  –  Die erkenntnistheoretische Reflexion nimmt mit ihrer Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit« nur sehr begrenzt auf, was in den Wissenschaften selbst geschieht. Die Einstellung der Natuwissenschaften auf »Materie«, der Biologie auf »Population« und der Humanwissenschaften auf »Subjekt« lassen immerhin erkennen, daß es um zukunftsoffene Forschungsprogramme geht, die eine Festlegung auf Wesen, ja sogar auf invariante Gesetze, die das Vergangene mit dem Zukünftigen verbinden, nach Möglichkeit vermeiden oder doch immer weiter aufzulösen suchen. Das entspricht einer Gesellschaft, die ihr eigenes »Wesen« nicht mehr bestimmen kann, ihre Geschichte als vergangen behandelt und auf eine selbstbestimmte Zukunft setzt. Die erkenntnistheoretische Konsequenz lautet zunächst: Pragmatismus, dann Konstruktivismus“ **

So wie Spenglers Kultur, so ist auch Luhmanns Gesellschaft ihren eigenen Bemühungen um Erkenntnis wehrlos ausgesetzt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Erkenntnis sinnlos wäre. In einem Gesamtunternehmen namens „Sinn“ (Luhmann) muß es immer auch um Erkenntnis gehen.

 

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