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Ernst Nolte (1923-2016)
- Selbstentfremdung und Dialektik im deutschen Idealismus und bei Marx (Dissertation; 1952) -
- Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Theorien über den Faschismus (Hrsg.; 1967) -
- Sinn und Widersinn der Demokratisierung in der Universität (1968) -
- Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen (1968) -
- Deutschland und der Kalte Krieg (1974) -
- Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg (1977) -
- Zwischen Geschichslegende und Revisionismus?  (Aufsatz, in: F.A.Z., 24.07.1980) -
- Der Weltkonflikt in Deutschland (1981) -
- Marxismus und Industrielle Revolution (1983) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (Aufsatz, in: F.A.Z., 06.06.1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus (1987) -
- Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten „Historikerstreit“ (1988) -
- Das Vor-Urteil als „strenge Wissenschaft“ (1989) -
- Nietzsche und der Nietzscheanismus (1990) -
- Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert (1991) -
- Martin Heidegger. Politik und Geschichte im Leben und Denken (1992) -
- Martin Heidegger und die Konservative Revolution (Aufsatz; 1992) -
- Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus (1993) -
- Die Deutschen und ihre Vergangenheiten (1995) -
- Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?  (1998) -
- Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus im 20 Jahrhundert. Ein Briefwechsel (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
- Der kausale Nexus. Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft (2002) -
- Faschismus. Von Mussolini zu Hitler (2003) -
- Die europäische Philosophie und die Zukunft Europas (Aufsatz, in: Sezession; Juli 2003) -
- Der heutige Islam - im Angriff oder in der Verteidigung? (2004)
- Carl Schmitt und der Marxismus (in: Der Staat, Band 44, Heft 2; 2005) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (Gespräch; 2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (Gespräch; 2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -
- Geschichte Europas 1848-1918. Von der Märzrevolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (2007) -
- Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus (2009)

Nolte-Zitate. Da ich Ernst Nolte für einen großartigen Geschichtsphilosophen halte, möchte ich ihm eine
separate Seite widmen und aus folgenden seiner Werke zitieren:      

 

- Der Faschismus in seiner Epoche (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 (1987) -
- Historische Existenz (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
-Der kausale Nexus (2002) -
- Der heutige Islam (2004) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -

 

Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte? (1998)

 –  Vorwort (S. 9-14)
     ERSTER TEIL
 –  Einführung (S. 17-54)
A) Naturgeschehen - Vorgeschichte - die frühen Hochkulturen (S. 55-179)
B) Schema der „historischen Existenz“ (S. 181-278)
     
ZWEITER TEIL
A) Die Weltreligionen und die Weltgeschichte (S. 281-363)
B) Schema der historischen Existenz (S. 365-484)
C) Modernität und praktische Transzendenz (S. 485-596)
D) Die Gegenwart als Anfang der „Nachgeschichte“? (S. 597-668)
 –  Schlußbetrachtung: Die „Nachgeschichte“ - außerhalb oder innerhalb der Geschichte ? (S. 669-684)

Vorwort
„Daß im Jahre 1989 ein Zeitschriftenartikel mit dem Titel »Das Ende der Geschichte ?« (**) weltweites Aufsehen erregte, hing offenbar damit zusammen, daß nach allgemeinem Empfinden mit der unverkennbaren Schwächung des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion und seinem möglicherweise bevorstehenden Ende sich eine historische »Wende« vollzog, die an Bedeutung über frühere geschichtliche Wandlungen weit hinausging und nicht mehr lediglich Epochen wie etwa das »Zeitalter des Imperialismus« ablöste, sondern »die Geschichte« im ganzen zur Vergangenheit machte und zur Disposition stellte (vgl. Schlußbetrachtung, S. 669-684).“ (Ebd., 1998, S. 9).

„Bei allen Differenzen der genaueren Bestimmung und zumal der - positiven oder negativen - Wertsetzung dürfte eine Einsicht außer Frage stehen: Wenn »die Geschichte« so oft mit distanzierendem Blick zum Thema gemacht worden ist, wenn sie so häufig - wie längst schon der »Vorgeschichte« - als ganze einer »Nachgeschichte« oder »Weltzivilisation« entgegengestellt worden ist, dann ist die Frage nach den Merkmalen der »historischen Existenz« jedenfalls legitim geworden, und sie würde ihre Legitimität auch dann behalten, wenn am Ende des untersuchenden Nachdenkens eine schroffe Trennung zwischen »Geschichte« und »Nachgeschichte« nicht anerkannt werden würde. Daher ist der Untertitel des vorliegenden Buches als Frage formuliert: »Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?«. Es wird also für möglich gehalten, daß bestimmte grundlegende Kennzeichen - oder Kategorien oder »Existenzialien« - der historischen Existenz tatsächlich nur für das sechstausendjährige »Zwischenspiel« der »eigentlichen Geschichte« bestimmend waren und heute als solche verschwinden oder bereits verschwunden sind, während andere weiterhin in Geltung bleiben, obwohl auch sie einer tiefgreifenden Wandlung unterliegen. Die Analyse solcher Existenzialien im Rahmen eines »Schemas der historischen Existenz« ist das Hauptziel dieses Buches.“ (Ebd., 1998, S. 10).

„Es wäre ein leichtes, in den großen Werken von Oswald Spengler (**|**|**|**|**), Arnold Toynbee (**|**|**) und Karl Jaspers (**|**|**) die Kategorein aufzufinden, welche zur Kennzeichnung der »Kultur« oder der »bisherigen Geschichte« in ihrer Verschiedenheit von den für die »Zivilisation« oder den »Weltstaat« bestimmenden Kategorien verwendet werden. (**|**).“ (Ebd., 1998, S. 11).

„So ist es wohl nicht bloß ein Zufall, daß ein Buch mit dem Titel »Historische Existenz« meines Wissens noch nicht publiziert worden ist.“ (Ebd., 1998, S. 11).

„»Revisionen« und nicht lediglich bedeutungslose Korrekturen vorzunehmen ist ein Hauptmerkmal der Geschichtswissenschaft, sobald es ihr nicht nur um Detailforschung geht; aber deshalb werden Historiker nicht notwendigerweise zu »Revisionisten«, und der Widerspruch, den Revisionismusversuche erfahren, gehört in das Gesamtbild der richtig verstandenen Revisionen hinein.“ (Ebd., 1998, S. 11-12).

ERSTER TEIL

Einführung

1) Explikation der Frage: Was heißt „historische Existenz“?  (S. 17-26)
2) „Geschichtlichkeit“ und „historische Anthropologie“ (S. 26-35)
3) „Naturgeschichte“ oder „Vernunftgeschichte“?  (S. 35-44)
4) Spengler, Toynbee, Jaspers und der Begriff der „historischen Existenz“  (S. 44-54)

1) Explikation der Frage: Was heißt „historische Existenz“?

„Vielmehr finden sich Erzählungen von dem »Goldenen Zeitalter« der Menschheit, das dem »Eisernen Zeitalter« oder, in der Sprache des indischen Mythos, dem »Kali-Zeitalter« der Gegenwart vorhergegangen sei, bei zahlreichen Völkern und in der klassischen Antike zuerst bei Hesiod.“ (Ebd., 1998, S. 18).

„Als »Vorgeschichte« wird der unvorstellbar lange Zeitraum zwischen den ersten Spuren menschlicher oder mindestens menschenähnlicher Wesen ... bis zur Ablösung des Zeitalters der Sammler und Jäger durch den Übergang zur Seßhaftigkeit und zur Landwirtschaft in der »neolithischen Revolution« oder auch erst durch das Aufkommen von Schrift und »Hochkultur« verstanden.“ (Ebd., 1998, S. 18).

„Zu diesem Zeitalter gab es im 19. Jahrhundert an ziemlich vielen Stellen der Erde und gibt es heute noch in ganz versteckten Winkeln Analogien unter »Naturvölkern«, die durchweg durch einen fundamentalen Konservativismus und durch die Ablehnung von »Neuerungen«, zugleich aber durch ein in zivilisierten oder entwickelten Zuständen längst verschwundenes Höchstmaß an »Sozialintegration«, an Gemeinschaftlichkeit, gekennzeichnet sind. Eben diese Geschlossenheit und eben dieses hartnäckige Festhalten an den überlieferten Lebensformen unter Horden, Sippen und aktuellen Stämmen, welche die Wissenschaft der Ethnologie vorfand und beschrieb, darf für die gesamte Vorgeschichte der Menschheit angenommen werden, die ihrer Zeitdauer nach ebensoviel länger währte, als die eigentliche Geschichte seit 6000 Jahren bewegter und dynamischer ist. (**|**|**|**).“ (Ebd., 1998, S. 18).

„Zur Veranschaulichung hat man das Bild eines Serpentinenwegs gewählt, dessen unterstes und sichtbarstes Teilstück 25000 Jahre umfaßt, während die entsprechenden Abschnitte nach oben zu immer kleiner erscheinen, bis sie an der Spitze kaum mehr als die Länge von Millimetern aufweisen.“ (Ebd., 1998, S. 19).

„Aber auch in der Geschichte und neben der Geschichte gab und gibt es »geschichtslose« oder »ungeschichtliche« Zustände, die denen der »Vorgeschichte« mehr oder weniger entsprechen. So ist der Ausdruck »Geschichtslosigkeit der Fellachen« gebräuchlich, und damit ist jenes Herabsinken von einstigen Höhen der Geschichte gemeint ....“ (Ebd., 1998, S. 19).

„Schließlich soll Hegel das Wort haben. Er spricht, wie auch Ranke, von den »Völkern eines ewigen Stillstands«, er kennzeichnet das Vordringen der Arier in Indien als eine »dumpfe vorgeschichtliche Ausbreitung«, er nennt die von Kämpfen und Völkerwanderungen bestimmte frühe Geschichte Mittelasiens eine »ungeschichtliche Geschichte«, und er spricht sogar den Weltreichen der Mongolen und Hunnen den geschichtlichen Charakter ab, weil sie in die Geschichte als »Fortgang des Geistes« nicht hineingehören, sondern nur in die Geschichte, »sofern sie natürliche Seiten, äußerliche Notwendigkeiten, Impulse hat.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophjie der Weltgeschichte, a.a.O., S. 342, 348 bzw. 234).“ (Ebd., 1998, S. 20).

„Aber es wird nicht nur die Vorgeschichte oder das Ungeschichtliche von der Geschichte geschieden, sondern auch eine »Nachgeschichte«, welche die wesentlichen Kennzeichen der »bisherigen« Geschichte nicht mehr aufweist. Es klingt zwar modisch, wenn von der »Posthistorie« oder der »Postmoderne« die Rede ist, wenn Alfred Weber »Abschied von der bisherigen Geschichte« nimmt oder wenn ein Historiker von dem »nachhistorischen Zeitalter« spricht, in dem wir leben, aber auch diese Vorstellung wurzelt in in uralten Zeiten.“ (Ebd., 1998, S. 20).

„1784 .... Um dieselbe Zeit dachte Kant in seiner kleinen Schrift Idee zu einer kleinen allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht diese künftige Nachgeschichte und eine sogar außermenschliche Vorgeschichte in einer Weise zusammen, die für den Philosophen der menschlichen Freiheit und der Unerkennbarkeit des »Dings an sich« höchst überraschend ist. Er schreibt nämlich: »Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinctmässig, wie Thiere, und doch auch nicht, wie vernünftige Weltbürger, nach einem verabredeten Plane, im Ganzen verfahren; so scheint auch keine planmässige Geschichte (wie etwa von Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein.« Kant meint aber, daß eine »Naturabsicht« in diesem »widersinnigen Gange menschlicher Dinge«, d.h. in der bisherigen Geschichte, zu entdecken sei, die am Ende jenes planmäßige Zusammenwirken vernünftiger Weltbürger nach der Analogie von Bienen und Bibern herrstellen könne. So scheint er ein Konzept zu entwickeln, das man vereinfachend auf die Formel bringen könnte: von der Harmonie der unbewußten Tierheit zur Harmonie der bewußten Tierheit, die als Weltbürgertum das eigentlich Menschliche wäre. Kant schränkt dieses Konzept zwar im weiteren Verlauf durch den Begriff der »ungeselligen Geselligkeit«, die niemals zu einer »reinen« Geselligkeit werden kann, und noch mehr durch das Bild vom »krummen Holz« ein, aus dem der Mensch geschnitzt sei, aber er verwendet dann doch wieder die Metapher vom »Automaten«, dem die »vollkommene bürgerliche Verfassung« ähnlich sei, welche als »großer Völkerbund« das schlimmste aller Übel, den Krieg, aus der Welt geschafft habe. (Vgl. a.a.O., S. 293-309).“ (Ebd., 1998, S. 21-22).

„Das »dialektische« Denken legtees dann allen Vertertern des »Deutschen Idealismus«, nicht zuletzt Schiller, nahe, eine Nachgeschichte vorherzusehen, die »auf höherer Stufe« die Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands der harmonie sein würde, während die Gegenwart und die ganze nachgriechische Geschichte eine Phase der zerrissenhaiet und Entfremdung darstellten.“ (Ebd., 1998, S. 22).

„Notwendigerweise mußte sich das Denken der rationalistischen Aufklärung mit ihrem Hinblick auf eine künftige »Welt der Vernunft« nicht nur gegen die christlichen Kirchen den »Feudalismus« und allen »Obskurantismus« richten, sondern auch gegen die Geschichte selbst, mindestens gegen die »bisherige« Geschichte, die von Phänomenen wie den bekämpften so stark bestimmt war. Nichts ist weniger verwunderlich, als daß ihr von seiten der Angregriffenen ein starker Widerstand begegnete, der keinseswegs in bloßer Apologie bestand. Er konnte vielmehr bald zum Gegenangriff übergehen, denn insbesondere die französische Revolution schien unter Beweis zu stellen, daß die Kosmopoliten zu fanantischen französischen Nationalisten und die Prediger der Humanität zu blutgierigen Tyrannen wurden. Letzten Endes wurde so »die Geschichte« zu derjenigen Realität, auf die sich die Vorkämpfer der »christlich-germanischen« Staatsidee beriefen, und ihre Hervorhebung des »Konkreten« war immerhin einleuchtend genug, daß nicht wenige Anhänger des Rationalismus auf ihre Seite übergingen.“  (Ebd., 1998, S. 23).

„Aber nicht immer war die bloße Verneinung der Mäglichkeit einer »Nachgeschichte« ebensosehr Intention wie Konsequenz. Alexis de Tocqueville erblickte in der (us-)amerikanischen Demokratie ... die Lebensform der zukünftigen Menschheit. Er bejahte sie in ihrer Verschiedenheit von der revolutionären Demokratie Frankreichs, und doch sah er offenbar mit einer Mischung von geringschätzung und Schrecken auf diese künftige Welt, in der die Lebenden ohne ein Verhältnis zu den Toten sein würden und in der extremer Individualismus mit stärkster Konformität Hand in Hand gehen würde. So wird die demokratische »Nachgeschichte« zwar als solche akzeptiert, aber gleichwohl mit einem negativen Akzent versehen. Der negative Akzent wird zum allesbeherrschenden Inhalt, wenn Nietzsche die »letzten Menschen« charakterisiert: »›Was ist Liebe?  Was ist Schöpfung? Was ist Selbstsucht? Was ist Stern?‹  - so fragt der letzte Mensch und blinzelt .... ›Wir haben das Glück erfunden‹ - sagen die letzten Menschen und blinzeln .... ›Ehemals war die Welt irre‹ - sagen die Feinsten und blinzeln ....« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, a.a.O.).“ (Ebd., 1998, S. 23-24).

„Ihre stärkste theoretische Artikulation fand die Hervorhebung der Geschichte und damit die Verwerfung der Nachgeschichte in den Schriften Wilhelm Diltheys und seines Freundes, des Grafen Yorck (von Wartenburg; HB), für den der Mensch des rationalistischen Planens mit seinem sich erfüllenden »Programm« ein »von vornherein fertiggemachter Homunculus« war. (Vgl. deren Briefwechsel 1877-1897, a.a.O.). Aber diese Verwerfung schließt doch ein Ernstnehmen der Möglichkeit in sich, und im 20. Jahrhundert wird oft die Unausweichlichkeit zugestanden, während an der Stigmatisierung festgehalten wird, so von Arnold Gehlen, wenn er über die »Posthistorie« schreibt, in der beginnenden Welt-Industriekultur werde zunehmend die »echte Überlieferung der europäischen Geschichte in der Vergangenheit verschwinden« (Arnold Gehlen, Anthropologische Forschungen, 1961, S. 133f.).“ (Ebd., 1998, S. 24).

„Es könnte so aussehen, als schrumpfe die Geschichte zu einer winzigen Zwischenphase zwischen den Jahrhunderttausenden (bzw. Jahrmillionen; HB) der Vorgeschichte und jenen unabsehbaren Zeiträumen der Nachgeschichte zusammen, welche die Menschheit zur Verfügung habe, um das große Werk ihrer Konstituierung als Einheit, der Überwindung innerer Konflikte und vor allem jenes Ausgreifens in den Weltraum zu bewältigen, das sie nun nicht mehr bloß in schöner Metaphorik zur vollen Herrschaft über die äußere und auch die innere Natur führe.“ (Ebd., 1998, S. 25).

„Ist es nicht sogar vorstellbar geworden, daß die Schrift, deren Erfindung als der Beginn der »eigentlichen Geschichte« gilt und deren Kenntnis die »Schriftvölker« als die geschichtlichen Völker von den schriftlosen und damit vorgeschichtlichen Völkern schied, zu einem Instrument von sekundärer Bedeutung absinkt, während die Bilder und Zeichen auf den weltweit vernetzten Bildschirmen ganz in den Vordergrund treten ?  Was soll da noch der »Wille zur geschichtlichen Existenz«, von dem ein Historiker ... meint, er sei ein Hauptfaktor der Geschichtlichkeit (vgl. Eberhard Otto, Saeculum-Weltgeschichte, Band 1, 1965, S. 382), da dieser Wille immer Distanz, ja Feindschaft zu anderen Staaten und Völkern in sich schloß?“  (Ebd., 1998, S. 25).

„Aber auch dieser negative Blick auf die Geschichte erkennt ihre Eigenart und Unterschiedlichkeit an, ganz wie das negative Urteil über die »Nachgeschichte« mindestens deren Möglichkeit akzeptiert.“ (Ebd., 1998, S. 25).

„Es ist also jedenfalls legitim, die Frage nach der »historischen Existenz« aufzuwerfen. In der Frage als solcher ist noch keine Antwort vorweggenommen. Es könnte sein, daß das Ergebnis lauten wird, die Trennung von Geschichte und Vorgeschichte sei nicht angebracht, auch die Vorgeschichte sei Geschichte, und sie sei von den _000 Jahren der als »eigentlich« bezeichneten Geschichte nicht stärker verschieden als die künftige Nachgeschichte, welche keineswegs so »ungeschichtlich« sein werde, wie sie von enthusiastischen Freunden und von furchtsamen Gegnern hingestellt werde.“ (Ebd., 1998, S. 25).

„Es ist also jedenfalls legitim, die Frage nach der »historischen Existenz« aufzuwerfen. In der Frage als solcher ist noch keine Antwort vorweggenommen. Es könnte sein, daß das Ergebnis lauten wird, die Trennung von Geschichte und Vorgeschichte sei nicht angebracht, auch die Vorgeschichte sei Geschichte, und sie sei von den 6000 Jahren der als »eigentlich« bezeichneten Geschichte (**|**|**|**) nicht stärker verschieden als die künftige Nachgeschichte, welche keineswegs so »ungeschichtlich« sein werde, wie sie von enthusiastischen Freunden und von furchtsamen Gegnern hingestellt werde. Es könnte sein, daß ... die vollständige Andersartigkeit der wissenschaftlich-technischen Zukunft der geeinten Menschheit anerkannt werden müßte, daß aber Würde und Menschlichkeit ausschließlich dem Hingeschwundenen zugeschrieben wären.“ (Ebd., 1998, S. 25-26).

„Gerade hier wären überrasschende Denkmöglichkeiten vorstellbar; etwa in der Spur von Konrad Lorenz, der in einer Nebenbemerkung die Menschlichkeit des Menschen gerade in demjenigen erblickt, was den Menschen mit Tieren gemeinsam ist, also in dem emotionalen Bereich, den Platon abwertend das »epithymetikón«, das Begierdehafte, nannte, während die Intellektualisierung als extremes Hervortreten von Platons »logistikón«, der Vernunft, zwar überaus leistungsfähige Instrumente hervorbringt, aber den Menschen selbst entleert und zerstört. (Vgl. Konrad Lorenz, So kam der Mensch auf den Hund, 1950, S. 102).“ (Ebd., 1998, S. 26).

„Die Antwort kann indessen keine »These« sein, sondern ihr ist nur auf einem langen Wege der darlegung, der Analyse und des Denkens, ja streckenweise sogar der Erzählung, näherzukommen.“ (Ebd., 1998, S. 26).

2) „Geschichtlichkeit“ und „historische Anthropologie“

„»Historische Existenz« ist kein Thema der Geschichtswissenschaft allein. Es führt ja offenbar schon in einen Randbezirk, welcher der Philosophie benachbart ist, wenn der Begriff der »Geschichtlichkeit« gebildet wird, für den »Historizität« ein gelehrt wirkendes Synonym ist. Auf ihn muß der Historiker in dem Augenblick stoßen, wo er sich über die Grundlage seines Tuns Rechenschaft gibt. Wenn der Mensch ein Wesen ist, das Geschichte hat, sei es als »eigentliche« Geschichte oder auch als Vor- und Nachgeschichte, dann muß er geschichtlich sein, und die Frage nach der eigentümlichen, der kennzeichnenden Seinsweise des Menschen ist kein lediglich historische, sondern eine philosophische Frage.“ (Ebd., 1998, S. 29).

„Allzu philosophisch ist ... die Bestimmung von Geschichtlichkeit durch »Vergänglichkeit« oder »Endlichkeit«. Vergänglich und endlich ist alles Seiende, vom Wurm bis zur Milchstraße, ja vielleicht bis zum Universum selbst. Sofern man der Endlichkeit des Menschen nicht eine spezifische Bedeutung zuschreibt, ist die Bestimmung allzu allgemein, sie gehört in die Ontologie und nicht in die Anthropologie. .... Erst Begriffe wie »Schöpfertum«, »Verantwortlichkeit«, »Tradition«, »Zukunftsentwurf« gehören spezifisch zum Menschen und bilden vermutlich, richtig gefaßt - z.B. als Traditionsbildung oder Traditionalität - wesentliche Momente der Geschichtlichkeit des Menschen. Eine kurze und brauchbare Bestimmung wäre wohl die folgende: Der Mensch ist das Wesen, zu dessen Natur das »Unnatürliche«, d.h. das Künstliche, Nicht-bloß-Biologische gehört, das Wesen, das sich bis zu einem gewissen Grade selbst macht, indem es das von seinen Vorfahren an Fähigkeiten, Werken und Einsichten Tradierte übernimmt und weiterentwickelt. Allzu eng wäre dagegen die Definition, die Geschichtlichkeit des Menschen bestehe in seinem Selbstbewußtsein. Selbstbewußtsein ist in der Tat das elementarste Kennzeichen des Menschen, und ohne Selbstbewußtsein gibt es keine menschliche Geschichte, aber wie das Beispiel der indischen Asketen oder der christlichen Säulenheiligen zeigt, kann eine extreme Form des Selbstbewußtseins gerade den Ausstieg aus der Geschichte implizieren. Fragen wie diese werden in der »historischen Anthropologie« aufgeworfen, und man könnte vermuten, der Begriff »historische Existenz« lasse sich durch denjenigen der »historischen Anthropologie« ersetzen. Bevor der Unterschied geklärt werden kann, ist aber ein Blick auf das weit ältere Fach der »philosophischen Anthropologie« zu werfen, und als Repräsentanten dürfen Immanuel Kant und Arnold Gehlen gelten.“ (Ebd., 1998, S. 30).

„Eben ... erst dem Menschen begegnet statt einer »Umwelt« eine »Welt«, deren Dinge »objektiv« erfaßt werden können, und zwar derart, daß sich »eine wirkliche Welterweiterung über das aktuell Gegebene hinaus« vollzieht, und so tun sich »Zeit und Raum, Zukunft und Ferne um ihn auf« (Arnold Gehlen, Der Mensch, 1940, S,. 252).“ (Ebd., 1998, S. 34).

3) „Naturgeschichte“ oder „Vernunftgeschichte“?

Die Geschichte der Natur von Carl Friedrich von Weizsäcker - eine Reihe von Vorlesungen, die im Sommersemester 1946 in Göttingen gehalten wurden. Von Weizsäcker geht von dem Eindruck der »Geschichtslosigkeit der Natur« aus, der sich in der Tat dem Bauern bei der ständigen Wiederkehr der elementaren Naturphänomene wie der Jahreszeiten ebenso aufdrängt wie dem Astronomen der Zeit Newtons, der die stets gleichbleibenden und mathematisch berechenbaren Bewegungen der Planeten beobachtet. Aber dieser Eindruck ist nach von Weizsäcker eine »optische Täuschung«, denn es handelt sich um eine Frage des Zeitmaßstabes: Für die Eintagsfliege würde der Mensch geschichtslos sein. (Vgl. ebd., S. 10). In der Tat lösen sich fast alle Gestalten und alle festen Grenzen auf, wenn man wie in einem Film 100000 Jahre in einer Viertelstunde vor dem geistigen Auge ablaufen läßt: Die Alpen heben sich, wie ein Tier sich morgens von seinem Lager erhebt; andere Gebirge sinken zu Ebenen herab; Kontinente lösen sich voneinander und driften in unterschiedliche Richtungen; die Meere dehnen sich aus und ziehen sich wieder zurück; Wälder treten an die Stelle von Eiswüsten, Sandmassen rücken auf fruchtbares Land vor; die Erde scheint ein- und auszuatmen wie ein Lebewesen.“ (Ebd., 1998, S. 38).

„Den letzten Grund dafür, »daß die Welt geschichtlich ist«, sieht von Weizsäcker in dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, daß »die Vorgänge in der Welt einmalig, unumkehrbar und von endlicher Dauer sind« (ebd., S. 32), weil zwar die Gesamtmasse der Energie in der Welt nach dem Ersten Hauptsatz unveränderlich ist, aber die verschiedenen Energieformen einem Wandlungsgesetz unterworfen sind, welches es nicht zuläßt, daß Wärmeenergie vollständig in kinetische Energie zurückverwandelt werden kann; der Weltprozeß hat also die Richtung einer ständigen Vermehrung der nicht mehr arbeitsfähigen Wärmeenergie - der »Entropie« (**|**). In genauerer Ausdrucksweise heißt das, daß innerhalb eines geschlossenen Systems, und also auch innerhalb des Weltganzen, »geordnete Bewegung vollständig in ungeordnete, ungeordnete Bewegung hingegen nicht vollständig in geordnete Bewegung überführt werden kann« (ebd., S. 39). Das Weltall strebt mithin einem Zustand des vollständigen Ausgleichs der Wärmedifferenzen zu und muß daher im »Wärmetod« enden, d.h. in der Bewegungslosigkeit und der Erstarrung aller Formen.“ (Ebd., 1998, S. 38).

„Zwischen dem anfänglichen Chaos und der schließlichen Erstarrung liegt indessen die uns unendlich scheinende Zeit der »Geschichte der Natur«, und dazu gehört auch die »Geschichte des Lebens«, die als Aufsteigen von einfachsten zu höchst differenzierten Formen dem Zweiten Hauptsatz zu widersprechen scheint, aber durch die ständige Energiezufuhr von der Sonne möglich gemacht wird. Hinsichtlich der Entstehung des Lebens ist die Annahme einer »Urzeugung« nicht zu umgehen; die Vitalisten haben unrecht, einen essentiellen Unterschied zwischen dem Anorganischen und dem Organischen zu postulieren. So hebt von Weizsäcker mit besonderem Nachdruck hervor: »Das Leben ist ein geschichtliches Phänomen« (ebd., S. 90): Aus dem Hauptstamm der Bilateralia, die einen Leibeskanal aufweisen, gehen die Protostomia und am Ende - vor 100 Millionen Jahren - die Termiten, Ameisen und Bienen hervor, während die nah verwandten Deuterostomier ihre bisherige Endphase in den Primaten und darunter den Menschen erreichen. Schon bei einzelnen Tierarten sind Intelligenz und Lernfähigkeit zu finden, die im Menschen dann das Übergewicht über die angeborenen Instinkte erlangen, ohne diese freilich völlig auszuschalten. Eben dadurch gewinnt die menschliche Geschichte ihre Eigenart, denn »der Natur widerfährt ihre Geschichte, aber sie erfährt sie nicht« (ebd., S. 9f.). Mithin vollzieht der Mensch nicht etwa bloß dasjenige mit Bewußtsein, was sich in der Natur ohne Bewußtsein abspielt - »den Kampf ums Dasein« z.B. -, sondern er kann einen Zugang zu Gott als der Liebe gewinnen und dadurch selbst zu einer »Haltung der Seele« gelangen, »die sehend den Kampf ums Dasein aufhebt« (ebd., S. 124).“ (Ebd., 1998, S. 38-39).

„So tritt für von Weizsäcker auf dem höchsten Punkt der Naturgeschichte der christliche Gott in das menschliche Dasein ein, den Kant noch als Schöpfer der Grundeigenschaften der Materie an den allerersten Anfang der Naturgeschichte gestellt hatte, wenngleich schwerlich auf überzeugende Weise. Der Geschichtsbegriff von Weizsäckers läßt also eine eigenartige Doppelung erkennen: Einerseits stehen Geschichte des Kosmos, Geschichte des Lebens und Geschichte des Menschen als grundsätzlich gleichartige Phänomene nebeneinander; andererseits aber zeigt sich, daß die Unterscheidung, der Natur widerfahre die Geschichte, der Mensch aber erfahre sie, nicht ausreicht, denn im Menschen kommt keineswegs bloß zum Bewußtsein, was in der Natur unbewußt vor sich geht. Vielmehr kann der Mensch im Aufschwung der Liebe aus der Natur heraustreten und ihr oberstes Gesetz verneinen, das Gesetz des Kampfes ums Dasein; es existiert also nicht nur eine spezifische - in der »species« Mensch begründete - Differenz zwischen der Geschichte der Lebewesen und der Geschichte der Menschen, sondern ein essentieller Unterschied, eine Differenz toto coelo, welche die Verwendung desselben Begriffs - der »Geschichte« - für so verschiedenartige Erscheinungen fragwürdig macht.“ (Ebd., 1998, S. 39).

„Aber man muß die Meinung von Weizsäckers wohl so verstehen, daß die naturüberlegene oder auch »naturwidrige« Existenz des Menschen eine Forderung und nicht etwa eine die Geschichte bestimmende Wirklichkeit ist, und insofern ist der Hauptertrag seines Buches doch darin zu sehen, daß er einen viel umfassenderen Begriff der Geschichte zu entwickeln sucht, als er bisher begegnet ist; und mit noch größerer Entschiedenheit weisen jüngere Konzeptionen von Naturwissenschaftlern, wie noch zu zeigen sein wird, in dieselbe Richtung.“ (Ebd., 1998, S. 40).

„In den Geisteswissenschaften wiederum sind hier und da Begriffe der Geschichte entwickelt worden, die sehr viel enger sind als die geläufige Vorstellung, daß Geschichte in Gestalt der auf Kenntnis der Schrift beruhenden »Hochkulturen« vor etwa 6000 Jahren (**|**|**|**) an mehreren und weit voneinander entfernten Orten der Erde die »Vorgeschichte« abgelöst habe und heute in einem Prozeß fundamentaler Wandlung begriffen sei, welche die Verwendung des Begriffs »Nachgeschichte« nahelege.“ (Ebd., 1998, S. 40).

„Aber bevor die lange Wanderung durch dieses riesige Spektrum angetreten werden kann, sollen noch die Auffassungen von drei Geschichtsdenkern des 20. Jahrhunderts, die einen besonders großen Einfluß ausgeübt haben, in knappem Umriß vergegenwärtigt werden. Danach sind einige Vorüberlegungen zur Methode anzustellen, und damit ist die Einleitung an ein Ende gebracht.“ (Ebd., 1998, S. 44).

4) Spengler, Toynbee, Jaspers und der Begriff der „historischen Existenz“

„Die Behauptung wäre wohl nicht abwegig, daß die berühmten Bücher von Oswald Spengler, Arnold Toynbee und Karl Jaspers alle drei den Titel »Historische Existenz« tragen könnten, obwohl der Terminus, wenn ich mich nicht täusche, in keinem an hervorgehobener Stelle vorkommt. Zumindest Spenglers Untergang des Abendlandes würde dadurch jedoch vermutlich ein Gutteil seiner großen Wirkung eingebüßt haben, denn kaum je hat ein monumentaler Titel besser in seine Zeit gepaßt, aber kaum je auch ist sein nächster Sinn so sehr mißverstanden worden wie im Falle dieses Buches. Sein Erscheinen fiel praktisch mit der Niederlage Deutschlands zusammen, die von vielen Hunderttausenden als Untergang einer ganzen Kultur, einer Welt der Sicherheit und der Größe empfunden wurde, und so fand die These des Autors weithin Glauben, daß er mit diesem Buch die »Philosophie der Zeit« vorgelegt habe. Aber das Vorwort datiert vom Dezember 1917, und es bringt in seinem letzten Satz den Wunsch zum Ausdruck, das Buch möge neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen. »Untergang« bedeutete für Spengler eben keineswegs Niederlage oder Zusammenbruch, sondern den Übergang in die Nachgeschichte der bloßen Zivilisation. (**).“ (Ebd., 1998, S. 44).

„Das Neuartige bestand zunächst darin, daß nach Spengler ebensoviele Nachgeschichten oder Spätzeiten existierten wie Kulturen und daß diese Kulturen die wirklichen Subjekte der Geschichte waren - es also eine lineare Weltgeschichte, die sich zu »der« Zivilisation erhebe oder in »die« Dekadenz abstürze, gar nicht gebe. Mithin müsse die Fortschrittsgeschichte der Comte, Spencer und auch Hegel durch eine »Morphologie der Weltgeschichte« ersetzt werden. Geschichtlich im eigentlichen Sinne sind die großen Kulturen wie die der Antike, der Ägypter, der Araber, des Abendlandes, die »mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden bleibt, aufblühen« (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S, 29 **) und die allesamt schließlich in das Stadium der »Zivilisation« oder, wie Spengler häufig sagt, »der Weltstadt« übergehen und darin ihren Untergang finden.“ (Ebd., 1998, S. 44-45).

„Gegen die immer noch vorherrschende Konzeption vom geschichtlichen Fortschritt, dessen Objekt und Subjekt »die Menschheit« war, setzt Spengler also einen Kulturpluralismus und -relativismus, die zugleich eine Dekadenzlehre sind. Deren Pessimismus war es, der so gut zur Verzweiflung der Deutschen paßte, aber das merkwürdige war, daß Spengler während der Niederschrift des Buches zuversichtlich einen Sieg Deutschlands erwartete und den Deutschen gerade Mut zur Übernahme einer nachgeschichtlichen Existenz machen wollte, die in seinen Augen nichts Geringeres als die Herrschaft Deutschlands über Europa bedeuten würde. Allerdings würde dieses Deutschland auf einem »metaphysisch erschöpften Boden« (des Abendlandes! Vgl. Oswald Spengler, ebd., S. 6 **) stehen und nicht mehr im gleichen Sinne geschichtlich sein wie die Goethezeit, das Zeitalter Ludwigs XIV. oder das Mittelalter, und insofern würde es auch hinter dem frühen Islam und der chinesischen Shang-Zeit zurückstehen, die bei aller chronologischen Differenz jeweils bestimmten Perioden der abendländischen Geschichte »gleichzeitig« waren.“ (Ebd., 1998, S. 45).

„So sieht Spengler es als seine »kopernikanische Tat« an, das eurozentrische Schema überwunden und an dessen Stelle ein System gesetzt zu haben, »in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylonien, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur ... eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen«. ( Oswald Spengler, ebd., S. 24 **). Tatsächlich hat Spengler von einigen dieser Kulturen, nicht zuletzt der durch den magischen Dualismus eines »Höhlengefühls« gekennzeichneten arabischen, sehr eindringliche Lebensbilder gezeichnet, aber dennoch ist nicht zu übersehen, daß er die abendländische, die »faustische« Kultur mit weit größerer Teilnahme zum Gegenstand macht und in ihr die eigentlich geschichtliche Kultur erblickt, während er etwa die antike Kultur als ungeschichtlich bezeichnet, d.h. als vom Ursymbol des stofflichen Einzelkörpers geprägt. Der abendländische Mensch dagegen, dessen Ursymbol der reine unendliche Raum ist, hat »von den Tagen der Sachsenkaiser bis zur Gegenwart Geschichte im allerbedeutendsten Sinne durchlebt, und zwar mit einer Bewußtheit, die in keiner anderen Kultur ihresgleichen findet«. (Oswald Spengler, ebd., S. 953 **).“ (Ebd., 1998, S. 45).

„Aber Spengler macht sich das Gesetz seiner eigenen Konzeption nicht zu eigen, d.h. er akzeptiert die unvermeidlichen Kennzeichen der heutigen Spätzeit nicht, die in allen anderen Spätzeiten die gleichen waren, nämlich die Weltstadt, den Pazifismus und die Vorherrschaft der Intellektuellen, und daher ist das ganze Buch von schärfster Polemik gegen »die geborenen Weltbürger und Schwärmer für den Weltfrieden«, gegen »die geistigen Führer des Fellachentums« (Oswald Spengler, ebd., S. 781 **), gegen den »Sieg des bloßen Lebenwollens in wurzelloser Freiheit über die großen bindenden Kultursysteme« erfüllt, nicht zuletzt auch gegen die »Masse« und sogar gegen den sozialistischen Vierten Stand als »Ausdruck der Geschichte, die ins Geschichtslose übergeht«.“ (Ebd., 1998, S. 45-46).

„Oft genug drängt sich der Eindruck auf, daß sogar die Interpretation von historischen Phänomenen außerhalb Europas von einer polemischen und aktuellen Intention geleitet wird, so etwa die Beschreibung der »magischen« Kultur, die als Einheit von Staat, Kirche und Volk in den jüdischen Ghettos fortlebt und schließlich jene »Gehirnmenschen« hervorbringt, die keine Beziehung zu der »Seele« der Kultur haben, in deren Mitte sie leben. So wäre also in der abendländischen »Nachgeschichte« eine Scheidung vorzunehmen, nämlich die Scheidung in die Tendenz zu Pazifismus und Kosmopolitismus, welche durch den Einfluß jener »Literaten« verstärkt wird, die letztlich einer anderen Kultur entstammen, und dem spezifisch Abendländischen, das zwar auch Niedergang bedeutet, aber doch zugleich den Willen zum Eintritt in das »Zeitalter der Riesenkämpfe, in dem wir uns heute befinden« (Oswald Spengler, ebd., S. 1081 **) ....“ (Ebd., 1998, S. 46).

„Scharf akzentuierte Unterscheidungen hatte Spengler zuvor im Hinblick auf die »Vorgeschichte« getroffen, wo er die »Vorkultur« als den Anfang jeder hohen Kultur scharf von der völlig andersartigen primitiven Kultur abgrenzt, und auch im Hinblick auf die Geschichte selbst, wo er dem Adel, der in einer Welt von Tatsachen lebt und »der Mensch als Geschichte« ist, das Priestertum entgegensetzt, das sich in einer »Welt von Wahrheiten« bewegt und »den Menschen als Natur« repräsentiert. Es wäre daher keine allzu gewagte These, daß für Oswald Spengler trotz allem, was er über die Gleichberechtigung und prinzipielle Gleichartigkeit der großen Kulturen zu sagen weiß, letzten Endes der abendländische Adlige der eigentlich geschichtliche Mensch ist und daß er noch im Niedergang der Nachgeschichte Nachfolger findet, zu denen Spengler später einen »Cäsar« wie Mussolini rechnete - Nachfolger, die dasjenige verwirklichen, was Spengler 1917 den Deutschen ans Herz gelegt hatte: den Willen zum Imperium, der ein Gegenzug zur drohenden Weltherrschaft des Geldes und des Händlertums ist. So läßt sich jedenfalls die Schlußwendung des erst 1922 erschienenen zweiten Bandes am ehesten verstehen, die ganz und gar Mahnung und Appell ist und nichts mehr von verstehender Analyse an sich hat: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: ... sie hat immer die Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und die Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht .... Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn. Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.« (Oswald Spengler, ebd., S. 1194-1195 **).“ (Ebd., 1998, S. 46-47).

„Auch für Arnold Toynbee gab es eine aktuelle Aufgabe, die gelöst werden mußte, aber sie besteht in dem genauen Gegenteil dessen, was Spengler im Auge hatte. Es ist für ihn an der Zeit, daß das Zeitalter der nebeneinander existierenden Kulturen und Religionen durch eine »Weltgesellschaft«, ja durch einen Weltstaat abgelöst wird, in dem die Menschen in einer Art Synthese der Lehren des heiligen Franziskus von Assisi und des Mahayana-Buddhismus zueinander finden, so daß sie die Bejahung des Leidens und der »Erbsünde« bewahren können und mithin nicht in die negative Alternative eines oberflächlichen und wohl auch wohlfahrtsstaatlichen Amerikanismus, d.h. in eine bloße »Nachgeschichte«, absinken müssen. Aber im übrigen stimmt seine Geschichtskonzeption weitgehend mit derjenigen Spenglers überein, denn auch für ihn sind der Aufstieg und der Niedergang einzelner Kulturen der Hauptinhalt der Geschichte. Auch für ihn ist der Aufstieg der Kulturen von einer »schöpferischen Minderheit« abhängig, die jedoch in der Spätzeit zu einer »herrschenden Klasse« entartet und dann den Massen als einem »inneren Proletariat« konfrontiert ist. An solchen Kulturen zählt Toynbee 21 auf, von denen ein Drittel noch lebendig ist, während die übrigen im Lauf der Geschichte untergegangen sind oder wie die Juden und die Parsen als bloße Relikte fortexistieren.“ (Ebd., 1998, S. 47).

„Alle diese Kulturen macht Toynbee in den von 1934 bis 1954 erschienenen neun Bänden seiner Study of History mit stupender Gelehrsamkeit zum Thema, aber nicht so sehr in beschreibenden und analysierenden Einzeldarstellungen, sondern in unablässigen Vergleichen unter bestimmten Sachgesichtspunkten, mit denen er Gesetzen oder Regelmäßigkeiten ihrer Entwicklung nachzuspüren sucht. Den Spenglerschen Organizismus vermeidet er jedoch durch das grundlegende Begriffspaar »Herausforderung und Antwort« (»challenge and response«), das der Welt nicht den Charakter einer hervorbringend-bewahrenden »Landschaft«, sondern den eines »Anreizes« zuschreibt, welcher wie bei den Eskimos zu stark und wie bei den Polynesiern zu schwach für die Ausbildung von Kultur und damit von »Geschichte« sein kann. Und während für Spengler zwischen Kulturen nur oberflächliche Berührungen und äußerstenfalls »Pseudomorphosen« möglich sind, spielen bei Toynbee die wechselseitigen Einflüsse der Kulturen aufeinander eine große und positive Rolle.“ (Ebd., 1998, S. 47).

„Als positiv werden von ihm auch die »äußeren Proletariate« gesehen, mit anderen Worten die primitiven oder barbarischen Völker, deren Ansturm zwar, zumal im Zusammenwirken mit einem »inneren Proletariat«, Kulturen zerstören, aber auch neue Kulturen erzeugen kann - offenbar schwebt Toynbee vornehmlich der Untergang des Römischen Reiches durch Germanen und Christen sowie die daraus entstehende abendländische Kultur vor. Diese Kultur nun, »die unsere«, hebt Toynbee ausdrücklich von allen anderen Kulturen ab, aber gerade deshalb, weil sie sich zu jener Weltgesellschaft fortzuentwickeln vermag, die mehr Ähnlichkeit mit den Universalkirchen als mit den Universalstaaten der Vergangenheit haben wird.“ (Ebd., 1998, S. 47-48).

„So ist der Unterschied zwischen geschichtlicher und nachgeschichtlicher Existenz hier nicht so ausgeprägt wie für Spengler, aber an Appellen und aktuellen Bezugnahmen fehlt es auch bei Toynbee nicht. In der Zeit nach 1945 galt er zunächst als »Kalter Krieger«, ganz wie Spengler 20 Jahre früher vielen als »Wegbereiter des Nationalsozialismus« gegolten hatte, aber dann brachte er so viel Verständnis für den Bolschewismus als nationalistischen und dem Westen gegenüber defensiven Sozialismus zum Ausdruck und griff Amerikas »Verrat an der Revolution« so heftig an, daß er zum Vorkämpfer des Antiokzidentalismus geworden zu sein schien.“ (Ebd., 1998, S. 48).

„Es war ein im Vergleich mit den Werken Spenglers und Toynbees schmales Büchlein, das Karl Jaspers, bis dahin vornehmlich als Mitbegründer der »Existenzphilosophie« bekannt, 1949 unter dem Titel Vom Ursprung und Ziel der Geschichte publizierte. Anders als Spengler und Toynbee zieht er zwei Schnitte durch die Geschichte, die beide nicht eine Vorgeschichte von einer Nachgeschichte trennen. Der erste Schnitt sondert nicht etwa die »Jahrhunderttausende lange Vorgeschichte« von der Welt der Hochkulturen, vielmehr werden durch die »Achsenzeit«, wie Jaspers den Zeitraum von 800 bis 200 vor Christus nennt, Vorgeschichte und alte Hochkulturen auf die eine Seite und »die Geschichte« auf die andere Seite gestellt. Der Umbruch vollzieht sich im wesentlichen durch das Aufkommen der Philosophie und philosophischer Religionen, und zwar an drei Stellen der Erde: dem aus Orient und Okzident bestehenden Abendland, in Indien und in China. Damit tritt der Mensch in das Stadium der Reflexion über sich selbst und die Welt ein, das ein neues und bis dahin unbekanntes Selbstbewußtsein bedeutet, und die großen Geister, die den Weg bahnen, sind Männer wie Konfuzius und Buddha, ... wie Sokrates und Platon, allesamt Angehörige der »Achsenvölker« .... Der tiefe Graben des Sich-nicht-verstehen-Könnens, den Spengler um jede einzelne Kultur zog, trennt »uns« nach Jaspers von den alten Ägyptern und Babyloniern, aber nicht von Chinesen und Indern, die uns »unendlich näher« sind als jene.“ (Ebd., 1998, S. 48).

„Die Achsenzeit ist indessen nur ein Durchbruch zu geistiger Universalität und insofern zwar »wie eine Einweihung des Menschseins«, aber sie bleibt an begrenzte Regionen gebunden, und erst heute beginnt die »eigentliche Weltgeschichte«, die planetarisch ist und in eine zweite, wenngleich vielleicht »noch ferne« Achsenzeit der eigentlichen Menschwerdung führt. Jaspers spitzt also jenes Condorcet-Marxsche Konzept von der bisherigen Geschichte als bloßer Vorgeschichte noch zu, und seine Formulierung lautet: »Was wir Geschichte nennen, und was im bisherigen Sinne nun zu Ende ist, das war der Zwischenaugenblick von 500 Jahren zwischen der durch vorgeschichtliche Jahrhunderttausende sich erstreckenden Besiedlung des Erdballs und dem heutigen Beginn der eigentlichen Weltgeschichte.« (Karl Jaspesr, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte , 1949, S. 59, 61, 34ff.). Den entscheidenden Schritt vollzogen jedoch nicht etwa die Achsenvölker gemeinsam, sondern es waren die germanisch-romanischen Völker, die das schlechthin Neue und Zukünftige hervorbrachten, nämlich Wissenschaft und Technik, zu deren Voraussetzungen die Idee der politischen Freiheit, die Rationalität und der Wille zur Weltgestaltung zu zählen sind. Zwar ist ein »Unheil des Abendlandes« nicht zu übersehen, nämlich der Ausschließlichkeitsanspruch, aber das Konkurrenzverhältnis zwischen Staat und Kirche bedeutete doch eine Mäßigung und damit die Erzeugung einer »unaufhaltsam weiterfragenden Bewegung«, ohne die es Wissenschaft und Technik nicht hätte geben können. (Vgl. ebd., 1949, S. 31, 70).“ (Ebd., 1998, S. 49).

„Es könnte mithin so aussehen, als wäre Jaspers ein bedingungsloser Lobredner der technischen Rationalität, und damit hätte er sich von seinen eigenen Anfängen, nämlich der ausgeprägten Zivilisationskritik in dem Büchlein Die geistige Situation der Zeit von 193:1 sehr weit entfernt. Aber in Wahrheit hat er diese Zivilisationskritik keineswegs vollständig hinter sich gelassen, und nur sehr mühsam weist er die Denkmöglichkeit zurück, »daß die Erde samt den Menschen nur Material einer einzigen Riesenfabrik würde, das Ganze ein Ameisenhaufen, der alles in sich hineinverwandelt hat und ... der Leerlauf eines gehaltlosen Geschehens bleibt«. Sein Urteil über »die Masse«, die »bodenlos und leer« ist, und über »die Simplifikationen der alles erklärenden Universaltheorien« bleibt so hart, wie es 1931 gewesen war, und gegen einen »bodenlosen Vernunftglauben führt er die »Kontinuität echter Freiheit in England, Amerika, Holland und der Schweiz« ins Feld, so daß die französische Revolution nicht minder als der deutsche Bismarckstaat auf die Gegenseite gerät. (Vgl. ebd., 1949, S. 123, 125, 131, 134).“ (Ebd., 1998, S. 49).

„Lange vor dem Club of Rome und der Partei der Grünen bringt Jaspers Gesichtspunkte der Ökologie ins Gespräch, und über die beiden »Supermächte« ist sein Urteil kaum minder absprechend als dasjenige Heideggers. Anders als Spengler und Toynbee verwendet er den Begriff des »Totalitarismus«, der als Weltimperium und als erzwungene Glaubenseinheit für ihn eine beängstigende Möglichkeit der Zukunft bleibt, und seine letzte Perspektive ist die »grenzenlose Kommunikation« innerhalb der »unorganisierten und unorganisierbaren Gemeinschaft eigentlicher Menschen«, einer Art von »unsichtbarer Kirche«, die sich schwerlich im vollen Einklang mit der »eigentlichen Geschichte« befindet, wenn sie aus dem Grund der Einheit heraus, den Jaspers sonst das Umgreifende oder die Transzendenz nennt, »in der Geschichte übergeschichtlich« lebt. (Vgl. ebd., 1949, S. 220, 262).“ (Ebd., 1998, S. 49-50).

„Bei dem Versuch, auf die Frage nach der »historischen Existenz « eine Antwort zu geben, wird des öfteren auf diese drei Bücher Bezug zu nehmen sein. Das bedeutet nicht, daß sie die einzigen Orientierungspunkte wären. Alfred Weber ist bereits genannt worden; Eric Voegelin, Alexander Rüstow, Hans Freyer, Raymond Aron und nicht wenige andere Denker wären hinzuzufügen, die man allesamt dem Begriff »Geschichtsdenken« subsumieren könnte. Als Geschichtsdenker sind sie keine Geschichtsphilosophen, die wie Hegel ein Gesamtbild der menschlichen Geschichte von ihren Anfängen bis zu ihrer Vollendung zeichnen, und zwar im Kontext einer Kosmologie oder auch Theologie. Ihnen allen fehlen die Sicherheit und der feste Zugriff, aber auch der fundamentale Optimismus, der für Hegel kennzeichnend war; sie sehen sich in erster Linie einer beängstigenden und undurchsichtigen Gegenwart konfrontiert, und sie haben in der Regel keine »Lösung« des »Rätsels der Geschichte« anzubieten wie Marx. (Vgl. Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert, 1991, S. 33-58). Sie alle machen implizit und manchmal auch explizit die »historische Existenz« zu ihrem Thema, aber dabei handelt es sich doch nur um einen Ausschnitt aus einem größeren Ganzen; die Frage nach der »historischen Existenz« entspricht also nur einem Segment des Geschichtsdenkens. Eine Abgrenzung gegenüber der philosophischen Anthropologie ist bereits durch die Bezugnahme auf Kant und Gehlen vorgenommen worden.“ (Ebd., 1998, S. 50).

„Das vorliegende Buch mag am ehesten der schon genannten »historischen Anthropologie« der Gegenwart zugerechnet werden, und als parallele Literatur wären etwa Reinhart Kosellecks Aufsatzsammlung Vergangene Zukunft (1982) oder Thomas Nipperdeys Studie Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft (1976) zu nennen. In einem weiteren Sinne könnte als einschlägig ein Aufsatz und ein daran anschließendes Buch angeführt werden, die großes Aufsehen erregten und mehr oder weniger essayistisch sind: Francis Fukuyamas Das Ende der Geschichte? (**). Eher zur »Geschichtstheorie« gehören zahlreiche Publikationen, die zu einem guten Teil von Autoren wie Alfred Heuß, Jörn Rüsen und Karl-Georg Faber stammen. Die Historische Existenz weist allerdings einen weit größeren Umfang auf als die in der Regel aus Aufsätzen bestehende Literatur zur »historischen Anthropologie«, und über weite Strecken scheint das Buch der Geschichtsschreibung näher zu sein als der »Geschichtstheorie«.“ (Ebd., 1998, S. 50-51).

„Eine weitere Abgrenzung ist gegenüber den Universalgeschichten erforderlich. Sie haben heute durchweg die Form von Sammelwerken, denn von einigen Ausnahmen besonderer Art abgesehen, unterfangen sich heute keine einzelnen mehr, auf wissenschaftliche Weise ein so ungeheures Werk zu unternehmen, das selbst Ranke in seiner Spätzeit wohl beginnen, aber nicht vollenden konnte. Wer wäre heute imstande, die Geschichte Sumers ebensogut zu kennen wie die Geschichte der Omajjaden und die der Taiping-Bewegung, d.h. aus dem Vertrautsein mit allen wichtigen Quellenwerken und der gesamten Sekundärliteratur heraus?  Wenn aber bloß die Kenntnis der allerwichtigsten Quellen, oftmals nur in Gestalt von Übersetzungen, und einer eng begrenzten Anzahl von Werken der Sekundärliteratur gegeben ist, dann kann keine erzählende Universalgeschichte, sondern allenfalls eine analysierende und vergleichende historische Anthropologie resultieren. Ein Dutzend oder besser einige Dutzend Fachgelehrte sind aber durchaus in der Lage, die vorgeschichtliche Hallstattkultur, die Herrscherdynastien Babylons und Ägyptens, die Geschichte des römischen Weltreichs, den Untergang von Byzanz, die Voraussetzungen und Ereignisse der französischen Revolution und die Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit vielen anderen Einzelgeschichten erzählend darzustellen und unter Umständen auch einen nahezu erschöpfenden Überblick über die Sekundärliteratur zu geben. In der Regel werden daraus vielbändige Werke in Großformat entstehen. (Beispiele: Propyläen-Weltgeschichte, Saeculum-Weltgeschichte, Historia Mundi, Fischer-Weltgeschichte, Historische Zeitschrift, Past and Present, Annales u.v.a.).“ (Ebd., 1998, S. 51).

„Um so bedrängender wird die wichtigste aller methodologischen Vorfragen: Muß ein Versuch, wie er in dem vorliegenden Buch unternommen wird, nicht von einem geradezu erschreckenden Dilettantismus geprägt sein, da Fachkenntnisse nicht nur im Bereich der Vorgeschichte, sondern sogar in den meisten Feldern der »eigentlichen« Geschichte fehlen - von Kosmologie und Evolutionstheorie zu schweigen - und lediglich als eine Art »captatio benevolentiae« die Versicherung abgegeben werden kann, daß überall in möglichst großem Umfang Werke von Fachleuten herangezogen werden. Aber darauf ist eine einfache und entschiedene Antwort zu geben: Die Frage nach der »historischen Existenz« kann nicht als fachwissenschaftliche gestellt werden; äußerstenfalls läßt sich die historische Anthropologie dadurch als ein Fachgebiet behandeln, daß sämtliche bisher vorfindbaren Aussagen dazu, mögen sie von Historikern oder von Philosophen stammen, nebeneinandergestellt und erörtert werden. Eine solche Fachwissenschaft würde sich jedoch nicht auf genuine Quellen, sondern auf lauter nicht-fachwissenschaftliche oder dilettantische Aussagen gründen und insofern ein Dilettantismus im Quadrat sein.“ (Ebd., 1998, S. 51-52).

„Große Fragen wie die nach der »historischen Existenz« können auch von recht jungen Menschen schon aufgeworfen und beantwortet werden, und eben deshalb darf man, wie im Falle von Oswald Spengler, von »genuinen Impulsen« sprechen, die in der geduldigen und beharrlichen Arbeit der Fachwissenschaften normalerweise keine Stätte haben. Wo ein solcher Ausnahmefall nicht gegeben ist, wird lediglich die lange Bewährung in einer Fachwissenschaft zu verlangen sein, und dann versteht es sich von selbst, daß bloße Wiedergaben durch die Perspektive, in die sie gestellt werden, eine eigentümliche Färbung erhalten werden, aus der häufig eine ungewohnte Gewichtsverteilung resultieren mag. Und es zeigt sich dann rasch, daß der häufig so abschätzig gebrauchte Begriff des »Dilettantismus« eine positive Bedeutung haben kann. Ein Fachwissenschaftler wird möglicherweise seinem Gegenstand mit vollendeter Gleichgültigkeit gegenüberstehen, weil die Spezialisierung so weit geht, daß höchstens noch ein ganz pragmatisches »Interesse« vorhanden sein kann. Wer nach »historischer Existenz« in ihrer Differenz zu natürlichem, vorgeschichtlichem und möglicherweise nachgeschichtlichem Dasein fragt, der fragt nach sich selbst - nach sich selbst nicht als einem Individuum, aber auch nicht als bloßem »Gattungswesen«.“ (Ebd., 1998, S. 52).

„Das ausdrückliche Bemühen um ein Selbstverständnis, das sich gegen andere Arten von Selbstverständnis, Weltinterpretation und Geschichtsbewußtsein zu behaupten sucht, ist offenbar ein Grundzug der historischen Existenz überhaupt. Diesem Grundzug wird in erster Linie die Aufmerksamkeit gelten müssen, und damit ist zugleich eine Vorentscheidung darüber getroffen, wie die unumgängliche Selektion aus der Überfülle geschichtlicher Ereignisse und Tatbestände vorgenommen werden muß.“ (Ebd., 1998, S. 52).

„Vor allem muß zunächst die Religion das Thema sein, weil sie die früheste und für lange Zeit grundlegende Gestalt des »Weltbezuges« des Menschen ist: Ob er ein von Angst vor »Mächten« oder »Göttern« oder Dämonen erfülltes Leben führt, ob er in allem, was geschieht, das Walten der Vorsehung Gottes erkennt, ob er sich in die Harmonie eines wohlgeordneten Kosmos eingefügt sieht oder ob er die Welt im ganzen als ein entsetzliches Ungeheuer empfindet - das prägt ihn offenbar bis in die einfachsten Vollzüge des Lebens hinein, und das ist die Voraussetzung dafür, daß Philosophen über die Welt und das menschliche Leben nachdenken können, daß noch in späten Zeiten »Weltanschauungen« das Leben bestimmen und ideologische Kriege hervorzurufen vermögen und daß schließlich die Naturwissenschaften objektive Aussagen über den Anfang des Universums und über die entferntesten Sternsysteme zu machen beanspruchen.“ (Ebd., 1998, S. 52-53).

„Das heißt indessen nicht, daß nur von Religion, Philosophie, Ideologie und den Grundzügen der wissenschaftlichen Welterklärung die Rede sein soll. Mit höchster Wahrscheinlichkeit darf der Krieg - als aktueller und als potentieller Zustand - ein wesentlicher Bestandteil historischer Existenz genannt werden, und eine Hauptfrage muß dann darin bestehen, ob es den Krieg in der Vorgeschichte und bei Tieren noch nicht gegeben hat und inwiefern es ihn in einer Nachgeschichte vielleicht nicht mehr geben wird. Weit verbreitet ist heute die schon von Alfred Weber und Alexander Rüstow vertretene Auffassung, daß Herrschaft und Staat durch kriegerische Reitervölker in Erscheinung getreten sind und mit dem Herrenbewußtsein von regierenden Aristokratien verschwinden müssen. Auch Probleme wie diese gehören in die Frage nach der »historischen Existenz« hinein, und schon dadurch wird deutlich, daß Analyse und Interpretation zwar im Vordergrund stehen müssen, daß aber das Moment der Erzählung nicht vollständig fehlen darf.“ (Ebd., 1998, S. 53).

„Wie die Selektion sich im einzelnen vollzieht und in welches Verhältnis die einzelnen Momente zueinander gebracht werden, hängt sicherlich weitgehend vom relativen Zufall der Kenntnis oder Unkenntnis ab. Aber kein Philosoph hat es je als notwendig betrachtet, alle Körper zu untersuchen, wenn er die Körperlichkeit als »res extensa« definierte. Von dem vorliegenden Buch ist nur zu fordern, daß gleichsam von jedem Einzelthema Strahlen ausgehen, die im Begriff der »historischen Existenz« zusammentreffen. Das eigentliche Zentrum wird sowohl im ersten wie im zweiten Teil das »Schema der historischen Existenz« (**|**) sein, wo im Anschluß an die eher erzählenden, aber ihrerseits auf dieses »Schema« bezogenen Kapitel Grundbestimmungen der historischen Existenz wie Religion, Herrschaft, Staat, Aristokratie, das Aufbegehren und die »Linke«, Krieg und Frieden, Geschichtsschreibung, Ökonomie und Sexualität als Ordnungen des Alltags herausgearbeitet werden. »Schema« bedeutet so viel wie » Umriß « oder » Skizze «; es ist also keine Abbildung, aber auch nicht ein bloßer »Idealtyp«.“ (Ebd., 1998, S. 53).

„Der Anfang wird jedoch nicht mit der »Vorgeschichte« gemacht, vielmehr soll die These Carl Friedrich von Weizsäckers von der Geschichtlichkeit der Natur ernst genommen und einbezogen werden. Der Hauptgrund ist der, daß in den letzten Jahrzehnten der Begriff der »Geschichtlichkeit« geradezu ein Modewort in einigen Naturwissenschaften geworden ist, so daß Raum, Zeit und Materie als »geschichtliche Phänomene« bezeichnet und »narrative Elemente« in die Physik eingeführt wurden. So sagt Ilya Prigogine ausdrücklich, die Natur werde insgesamt wegen aufeinanderfolgender Verzweigungen zu einem historischen Objekt. (Vgl. I. Prigogine, Vom Sein zum Werden, S. 22).“ (Ebd., 1998, S. 53-54).

„Dieser Auffassung wird, wie zu zeigen ist, durch die Unterscheidung von »Geschehen« und »Geschichte« begegnet. Aber zunächst muß im engen Anschluß an einige naturwissenschaftliche Theorien im Umriß ein Bild jenes ungeheuren Geschehens umrissen werden, von dem die menschliche Geschichte sich wahrscheinlich schon in der »Vorgeschichte« unterscheidet und von dem sie doch sogar in einer »Nachgeschichte« abhängig bleiben wird.“ (Ebd., 1998, S. 54).

A) Naturgeschehen - Vorgeschichte - die frühen Hochkulturen

  5) Geschichte des Kosmos oder kosmische Vorbedingungen der Geschichte?  (S. 55-62)
  6) „Geschichte der Erde“ - „Geschichtle des Lebens“? (S. 62-68)
  7) Evolution als Fundamentalgeschichte?  (S. 68-76)
  8) Stufen der „Geschichtsfähigkeit“ bei Tieren?  (S. 76-85)
  9) Probleme der „Menschwerdung“ (S. 86-95)
10) Die Zeitalter der Vorgeschichte (S. 95-104)
11) Der Anfang der „Geschichte“: „Neolithische Revolution“ oder „Schriftlichkeit“ ? (S. 104-112)
12) Die frühen Hochkuturen: I. Sumer und Akkad (S. 112-123)
13) Die frühen Hochkuturen: II. Ägypten (S. 123-133)
14) Die frühen Hochkuturen: III. Ugarit (S. 133-141)
15) Die großen Zeugnisse: I. Das Gilgamesch-Epos (S. 141-150)
16) Die großen Zeugnisse: II. Die Ilias (S. 150-158)
17) Die großen Zeugnisse: III. Das Alte Testament 1 (S. 159-169)
18) Die großen Zeugnisse: IV. Das Alte Testament 2 (S. 169-179)

5) Geschichte des Kosmos oder kosmische Vorbedingungen der Geschichte?

„An einer der meistzitierten Stellen seines Werkes schreibt Kant, zwei Dinge erfüllten das Gemüt mit Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und einhellender sich das Nachdenken damit beschäftige - »der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir«. (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, a.a.O., Band IV, S. 288).“ (Ebd., 1998, S. 55).

„Der Mensch ist also auf das engste mit den Sternen und daher mit dem Weltall verbunden, weil er darin ein Ewiges anschaut, dem in seinem Innersten ein Vermögen entspricht, das ebenso die Zeit und die Widersprüchlichkeit des täglichen Lebens übergreift, wie die ewigen Naturgesetze die Bewegungen der Gestirne beherrschen, welche in mathematisch berechenbarer Weise ihre nie veränderten Bahnen ziehen. Darin findet der Mensch Stärkung und Trost, denn er weiß, daß er als körperliches Wesen hinfällig ist und sterben muß, aber in ihm lebt ein Ewiges, das ihm Anweisungen gibt und, christlich gefaßt, seiner Seele Unsterblichkeit verheißt.“ (Ebd., 1998, S. 55).

„Aber auch wo der christliche Glaube nicht mehr lebendig ist, empfängt der Mensch durch die Majestät des gestirnten Himmels Orientierung, und daraus gewinnt er die Gewißheit, nicht hilflos der Wechselhaftigkeit des gesellschaftlichen Lebens ausgesetzt zu sein, sondern über »Naturrechte«, »Menschenrechte« zu verfügen, die ebenso unveränderlich und festgegründet sind wie die Gestirne. So bleibt das Vertrauen auf den ewigen und gerechten Gott im Newtonschen und aufklärerischen Weltbild bewahrt, auch wenn der Schöpfer in weite Ferne gerückt ist, seit er als Weltbaumeister tätig war, oder wenn die aristotelische Vorstellung von der Ewigkeit der Welt das Denken bestimmt. Noch wenn die Gegensätzlichkeit von Natur und Mensch hervorgehoben wird, bleibt die Unveränderlichkeit der Natur ein tröstendes Gegenbild zur Beweglichkeit des Menschen: »Nature revolves and man advances«, wie Edward Young schreibt.“ (Ebd., 1998, S. 55).

„Im 20. Jahrhundert haben Astronomie und Physik eine tiefgreifende Veränderung des Weltbilds hervorgebracht, die man Dynamisierung oder auch Historisierung nennen könnte. Ein Anfang der Welt rückt ins Zentrum der Betrachtung. Vor 17 oder 20 oder vielleicht auch 10 Milliarden Jahren erfolgte eine Urexplosion, ein »Urknall«, dem »Nichts« vorherging und der einen Feuerball von unvorstellbar hoher Temperatur und Dichte erzeugte - eine Billion »Kelvin«, d.h. Grade über dem absoluten Nullpunkt. Dieser Feuerball war noch nicht »materiell«, er bestand vielmehr aus Strahlung, in der die Urbestandteile der späteren Materie, die erst jüngst entdeckten und heute aus ihren Verbindungen nicht mehr lösbaren »Quarks«, eine freie Existenz innerhalb eines vergleichsweise ganz kleinen Raumes hatten, welcher offenbar nicht dreidimensional und »absolut«, sondern in sich zurücklaufend war, eine überwältigende Präfiguration dessen, was Einstein später die gekrümmte Raumzeit nennen sollte.“ (Ebd., 1998, S. 55-56).

„Erst nach Hunderttausenden von Jahren und starker Abkühlung begann das »atomare Zeitalter«, d.h. die Bildung der Atome, wie wir sie heute kennen, mit Protonen und Neutronen als Kern und Elektronen, die den Kern schalenförmig umkreisen, und zwar in vergleichsweise riesigem Abstand und meist in sehr kleinen Zahlen. Man könnte daher geneigt sein, einen berühmten Satz Demokrits abzuwandeln und zu sagen, es gebe nicht »die Atome und das Leere«, sondern vor allem die Leere in den Atomen: Ein Autor zieht die St. Pauls-Kathedrale zum Vergleich heran und läßt auf der Mitte ihres Fußbodens einen Stecknadelknopf als Atomkern existieren, der in der Höhe der Kuppel von seinen Elektronen umkreist wird, welche an Gewicht kaum mehr als ein Zweitausendstel dieses Stecknadelknopfes aufzuweisen haben. (Vgl. John Gribbin, Auf der Suche nach Schrödingers Katze, 1987, S. 46).“ (Ebd., 1998, S. 56).

„Solche Atome schließen sich nun an vielen Stellen zu Gaswolken zusammen, weil sie nicht gleichmäßig auseinanderstreben, sondern weil Unregelmäßigkeiten gegeben sind, und wer mit der antiken Atomistik vertraut ist, fühlt sich bei der Lektüre der neuesten Kosmologien an einen Zentralbegriff Epikurs erinnert, den der »declinatio«, jener Abweichung vom senkrechten Fall, welcher die Körper ihr Dasein verdanken. Da die Abkühlung ebenso weitergeht wie das Auseinanderstreben, bilden sich Konzentrationen von Gasen, die zu rotieren beginnen, und so dämmert im Verlauf von Milliarden von Jahren das Zeitalter der Gestirne herauf, in denen das einfachste der Elemente, der Wasserstoff, der nur ein Proton und ein Neutron aufweist, durch Kernfusionen in eine Art Fortschrittsprozeß verwickelt wird, aus dem zunächst das Heliumatom mit seinen zwei Protonen, zwei Neutronen und zwei Elektronen hervorgeht.“ (Ebd., 1998, S. 56).

„Wasserstoff und Helium bilden noch heute 99% der Materie des Weltalls, aber allmählich gelangen in den unterschiedlich großen und unterschiedlich heißen Fixsternen auch andere Atome des »Periodischen Systems der Elemente« zur Existenz, so daß nun eine Anzahl von Atomarten von unterschiedlicher Kernladungszahl und unterschiedlichem Atomgewicht entsteht, d.h. mit verschiedenen Anzahlen von Protonen bzw. von Protonen und Neutronen.“ (Ebd., 1998, S. 56-57).

„Heute erkennt die Astronomie, daß alle Gasnebel und alle Galaxien mit ihren Milliarden von Fixsternen oder Sonnen immer weiter auseinanderstreben und sie sich in ganz unterschiedlichen Zuständen befinden: Da gibt es »rote Riesen« und »weiße Sterne«, von denen die einen jung und die anderen alt sind; da schließt man auf Neutronensterne, die vielleicht nur einen Durchmesser von 10 Kilometern haben und in denen die Materie so dicht zusammengepreßt ist, daß ein Kubikzentimeter viele Hunderttausende von Tonnen wiegt, da lassen sich Aussagen über »Schwarze Löcher« machen, die zwar eine gewaltige Anziehungskraft, aber keine Masse haben, da leuchten »Novae« und »Supernovae« auf und verlöschen wieder.“ (Ebd., 1998, S. 57).

„Im ganzen ist diese Sternenwelt in rasend schneller Bewegung, die sich sogar der Lichtgeschwindigkeit nähert, also der nach dem heutigen Erkenntnisstand in der Tat »absoluten«, nicht überschreitbaren Geschwindigkeit der »Photonen«, von denen man nicht weiß, ob sie besser als Korpuskeln oder als Wellen aufgefaßt werden. Aber alle diese Bewegungen sind nicht ungerichtet oder unendlich. Zwar bleibt die Gesamtsumme der Energie im Weltall nach dem 1. Hauptsatz Thermodynamik immer gleich, aber es gibt verschiedene Arten der Energie, von denen die Wärmeenergie am meisten auf einer ungeordneten Bewegung der Atome beruht. Nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik wächst die »Entropie« (**|**) unablässig, d.h. der Anteil jener ungeordneten Wärmebewegung, die nicht in »Arbeit« oder kinetische Energie zurückverwandelt werden kann. Ohne Energie- und also auch Wärmedifferenzen gibt es aber keine Bewegung, und so strebt das Universum nach einer allerdings nicht ganz unbestrittenen Meinung der Naturwissenschaftler auf einen »Wärmetod« hin, der manchmal auch »Kältetod« genannt wird, auf einen Zustand, wo alle Energiedifferenzen ausgeglichen sind und die Wärme - menschlich gesprochen die Kälte, nah am absoluten Nullpunkt - sich überall ausgeglichen hat, so daß alle Formen, die sich so langsam aus der Formlosigkeit des strahlenden Anfangs herausgebildet hatten, erstarren und in die Zeitlosigkeit versinken.“ (Ebd., 1998, S. 57).

„Andere Astronomen lassen einen »Gravitationskollaps« eintreten, so daß das ganze Weltall zu einem einzigen »Schwarzen Loch « wird, aber auch hier ist die Grundvorstellung die gleiche: Nicht nur die Materie, auch die Zeit hat einen Anfang und ein Ende - nicht anders als ein Lebewesen wird das Universum geboren und es stirbt; es ist, wie häufig gesagt wird, ein geschichtliches Phänomen. Newtons ewige Kreis- und Ellipsenbewegungen haben als Letztaussage hier ebenso ihre Gültigkeit verloren wie Kants und Schillers und noch Max Schelers Vertrauen in das »Ewige im Menschen«. Niemand hat das auf bewegendere Weise ausgedrückt als der junge Nietzsche, der in seiner Unzeitgemäßen Betrachtung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« von dem »Begriffsbeben der Wissenschaft« spricht, das »dem Menschen das Fundament aller seiner Sicherheit und Ruhe, den Glauben an das Beharrliche und Ewige, nimmt«. (Friedrich Nietzsche, 1874, a.a.O., S. 330).“ (Ebd., 1998, S. 57-58).

„Dieser geschichtliche Kosmos ist in gewisser Weise handhabbar geworden; man kann sein Alter in eine ganz einfache Zahl fassen, etwa 17 mal 109 Jahre, und die Astronomen vermessen sogar »Quasare« und »Pulsare«, die Milliarden von Lichtjahren von uns entfernt sind, beinahe so professionell, wie die Geographen die irdischen Kontinente nach Längenund Breitengraden bestimmen. Diesen Kosmos könnte man in einem abendfüllenden Film zur Anschauung bringen: Da blitzt es im Dunkel auf, da erweitert sich ein Feuerball ganz wie ein Luftballon, da kreisen kleinste und gigantische Körper mit großer Geschwindigkeit umeinander und um die eigene Achse, da durchfliegen vielleicht Weltraumfahrzeuge vernünftiger, d.h. rechnender, Lebewesen fast mit Lichtgeschwindigkeit die Weiten des Kosmos, und ihre Insassen altern nur wenig oder gar nicht, weil Zeiterfahrung an die Nähe zu Materie gebunden ist und im nahezu leeren Weltraum so gut wie keine Materie begegnet. Aber wenn sie nicht in die Nähe eines Schwarzen Lochs geraten und mit unüberwindbarer Kraft hineingesaugt und vernichtet werden, ohne eine Spur zu hinterlassen, wenn sie am Ende vielleicht sogar zu ihrem Planeten zurückkehren und dort ihre fernen Nachkommen antreffen, während sie selbst noch ohne Runzeln sind, so währt es im Film nicht allzulange, bis nur noch Dunkelheit wahrzunehmen ist - Zeit, Welt, Bewegung gibt es nicht mehr, das Universum hat seinen Zeitraum ausgeschritten, ganz wie ein Tier und ein Mensch im Tode ihre Zeit erfüllt haben.“ (Ebd., 1998, S. 58).

„So stimmen Mensch und Universum darin überein, daß sie beide geschichtliche Wesen sind, wenngleich in unterschiedlichen Größenordnungen; ein Hinaufblicken zum Ewigen, ein Trostsuchen im Unvergänglichen ist nicht mehr möglich. Nur das Staunen würde als große Emotion noch übrigbleiben, sobald man sich klargemacht hat, daß 17 mal 109 eine rasch hinzuschreibende Zahl ist, daß jedoch schon ein Zeitraum von 100 Millionen Jahren eine unvorstellbare Größe darstellt. Aber das Staunen mündet am ehesten in ein Empfinden, das der französische Molekularbiologe Jacques Monod in die Worte gekleidet hat, der Mensch müsse nun »aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen«, denn er habe seinen Platz »wie ein Zigeuner am Rande des Universums, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen«. Es hilft dem Menschen also in keiner Weise, wenn er glaubt, das Universum als ein geschichtliches Wesen zu sich selbst in Parallele setzen zu können: Mit dem Ewigen der Gestirne wird auch das Ewige im Menschen hinfällig.“ (Ebd., 1998, S. 58-59).

„Es ist hier nicht danach zu fragen, wie diese moderne und vielleicht auch modische Auffassung von der Geschichtlichkeit des Weltalls, von seinem Entstehen und Vergehen, begründet wird - da wäre an dasjenige zu erinnern, was im Physikunterricht der Schulen über die Spektralanalyse und die »Rotlichtverschiebung« oder die »kosmische Hintergrundstrahlung« gesagt wird. Zweifellos handelt es sich nur um eine Hypothese oder sogar um mehrere Hypothesen, die allesamt nicht völlig unbestritten geblieben sind. Es ist auch nicht darauf einzugehen, wie manche Naturwissenschaftler dasjenige zu bewältigen versuchen, was an diesen Lehren noch rätselhafter ist als in uralten Kosmogonien: z.B. die Entstehung der Zeit, wo doch »Entstehung« die Zeit schon voraussetzt, oder die Natur eines dem Sein vorgeordneten Nichts, das doch jetzt nicht mehr als ein göttliches, sich selbst erschaffendes »ens a se« verstanden werden kann.“ (Ebd., 1998, S. 59).

„Die Frage von Leibniz »Warum ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts?«  ist heute so unbeantwortet wie um 1700, und manche naturwissenschaftliche Denker sehen in diesem »geschichtlichen Kosmos« nur eine Welt unter zahllosen anderen, so daß der durch den Gravitationskollaps entstandene Endzustand wieder zum Ausgangspunkt für einen neuen »Urknall« werden könnte. Aber hatte nicht schon Heraklit den Kosmos als eine Folge vieler Kosmen sehen wollen, als »ewiglebendiges Feuer, das sich nach Maßen entzündet und nach Maßen verlischt«? Und kommen wir nicht schließlich in der modernen Kosmologie zu dem archaischen Mythos der Inder zurück, in dem die Welt von einem weißen Elefanten getragen war, der seinerseits auf einer Schildkröte stand, d.h. versuchen wir bei solchen »letzten Fragen« nicht, durch Erzählungen dem »regressus in infinitum« zu entgehen?“  (Ebd., 1998, S. 59).

„Es ist nicht wirklich ein Halt, wenn darauf hingewiesen wird, daß es in diesem Kosmos sehr wohl »Absolutes« und Feststehendes gebe: von der Lichtgeschwindigkeit bis zur Struktur der Elemente, die jeweils immer die gleiche Zusammensetzung aus Protonen, Neutronen und Elektronen haben, wo sie sich auch befinden mögen. Kein Elektron unterscheidet sich als solches von einem anderen, und wo immer es das Element Natrium im Weltall gibt, weist es die gleiche Zusammensetzung auf. Nur radioaktive Atome zerfallen, etwa das Uranatom; auch heute kann man sagen, die seit längerem bekannten Bausteine der Welt seien im wesentlichen stabil und unveränderlich.“ (Ebd., 1998, S. 59-60).

„Aber die moderne Physik hat so etwas wie Instabilität und Unsicherheit in das Innerste der Materie eingeführt: Impuls und Ort eines Elektrons lassen sich nach der berühmten Unschärferelation Werner Heisenbergs nicht gleichzeitig mit Genauigkeit messen; es hängt vom Beobachter ab, was faßbar wird, und manche Physiker sind zu dem Schluß gelangt, im Bereich der Planckschen Energiequanten und der Elektronenbewegungen gebe es nicht nur Unbestimmtheit und Unvorhersagbarkeit, sondern geradezu »Freiheit«.“ (Ebd., 1998, S. 60).

„Für den »Sprung« eines Elektrons von einer Umlaufbahn in die andere läßt sich keine »Ursache« mehr angeben, und das bedeutet nach der Auffassung einiger Physiker nichts anderes als »das Ende für den Laplaceschen Traum von einem absolut deterministischen Modell des Universums«. (Stephen W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 1988, S. 77). Das heißt zugleich, daß man eine individuelle Lebensgeschichte jedes Elektrons und jedes Atoms schreiben könnte, wenn man sich nicht mit den statistischen Gesetzen begnügen müßte, die aus dem Durchschnitt zahlloser Einzelbewegungen resultieren. Es bedeutet keine Rückkehr zu dem früheren geistesgeschichtlichen Zustand, daß diese Gesetze außerhalb des subatomaren Bereichs ebenso unverbrüchlich Geltung haben wie zur Zeit von Newton und Laplace.“ (Ebd., 1998, S. 60).

„Schon Einsteins Relativitätstheorie hatte dem Beobachter eine entscheidende Rolle zugewiesen. Bei manchen Physikern führt dieses Beobachterprinzip zu Folgerungen, die ganz extrem sind und dem reinsten »subjektiven Idealismus« zu entsprechen scheinen. So erwägt John Gribbin als eine immerhin mögliche These, daß nichts real sei, ehe wir es nicht betrachten, und daß die Realität verschwinde, sobald wir nicht mehr hinschauten. Für ihn könnte es sogar sein, »daß wir durch die Beobachtung der Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung, die ein Echo des Urknalls sind, den Urknall und das Universum erschaffen«. (John Gribbin, Auf der Suche nach Schrödingers Katze, 1987, S. 190. 229).“ (Ebd., 1998, S. 60).

„Aber auch wo von einem solchen Idealismus nicht die Rede ist, führen moderne Physiker eine Fülle von Begriffen und Vorstellungen ein, etwa die der Quarks und der Antiquarks, die sich gegenseitig vernichten - Vorstellungen, die Newton in sprachloses Erstaunen versetzt haben würden und die dem Laien wie eine Mysterienerzählung erscheinen müssen, vor der die gnostischen Lehren von Weltentstehung und Weltlauf sich als Musterbilder der Verstehbarkeit ausnehmen. Wie anders soll man Erwägungen charakterisieren, welche mit der Vorstellung eines Rücklaufs der Zeit operieren, so daß ein Wesen sterben könnte, bevor es geboren wird?Und wie soll der normale Zeitgenosse, der auf der »festgegründeten Erde« zu stehen meint, die Vorstellung von den »Neutrinos« nachvollziehen, die den ganzen Erdball zu durchfliegen vermögen?“  (Ebd., 1998, S. 60-61).

„Aber auch hier tritt oft auf sehr eigentümliche Weise der Mensch wieder in den Mittelpunkt, wenngleich ganz anders als einst im geozentrischen Weltbild oder heute bei Teilhard de Chardin, bei dem das sich »auswickelnde« Universum auf den Menschen und über ihn hinaus auf den »Punkt Omega« zielt. Nach Stephen Hawking entstanden beim Urknall, den er auf die Zeit vor 10 Milliarden Jahren ansetzt, Quarks und Antiquarks in nicht ganz gleicher Anzahl, und nur infolgedessen können wir uns glücklich schätzen, denn wenn die Zahlen nicht ungleich wären, »hätten sich im frühen Universum alle Quarks und Antiquarks gegenseitig vernichtet und ein Universum voller Strahlung, aber fast ohne Materie zurückgelassen. Dann hätte es keine Galaxien, Sterne oder Planeten gegeben.« Und an anderer Stelle schreibt er: »Wäre die Expansionsgeschwindigkeit eine Sekunde nach dem Urknall nur um ein Hunderttausendmillionstel Millionstel kleiner gewesen, so wäre das Universum wieder in sich zusammengefallen, bevor es seine gegenwärtige Größe erreicht hätte.« (Stephen W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 1988, S. 103, 155).“ (Ebd., 1998, S. 61).

„Hawking spricht deshalb von einem »anthropischen Prinzip«: Die zufälligen Ausgangsbedingungen des Universums müssen so genau aufeinander abgestimmt gewesen sein, daß schließlich der Mensch entstehen konnte; unsere eigene schwache und hinfällige Existenz wird so zum einzig Festen in einem Universum, das aus Zufall und Indeterminiertheit hervorgegangen ist. Damit wird sogar die zwar nicht tröstliche, aber doch erhellende Analogie zwischen der Geschichtlichkeit des Universums und der Geschichtlichkeit des Menschen gleichsam überholt und in Klammern gesetzt durch die Vorstellung von einem Universum, das nicht nur ebensogut, sondern mit einer milliardenfach höheren Wahrscheinlichkeit nicht hätte sein können, so daß die alte Ur-Zuversicht des Menschen, Ebenbild Gottes als des Weltschöpfers oder Weltgrundes zu sein, durch eine Ur-Verwunderung darüber abgelöst werden muß, daß es so etwas wie die Welt und so etwas wie den Menschen überhaupt gibt.“ (Ebd., 1998, S. 61).

„Aber welche Entscheidung auch immer zwischen den verschiedenen Denkmöglichkeiten getroffen werden mag: zwischen dem Idealismus, der die Rolle des Beobachters für entscheidend hält, oder dem Indeterminismus, der die Bestimmtheit aus der subatomaren Unbestimmtheit hervorgehen läßt, zwischen dem verfeinerten Atomismus der 27 Elementarteilchen oder dem Zufälligkeitsprinzip - die Vorstellung von der Geschichtlichkeit des Universums, welcher die Geschichtlichkeit des Menschen entspricht, ist zu verwerfen. Das Universum ist voll von Geschehen, und es mag entstanden sein und einstmals vergehen, aber es ändert sich nicht dadurch, daß es mit anderem in Wechselwirkung tritt, denn es gibt nichts außer ihm, und wenn die begriffliche Unmöglichkeit real wäre, daß eine Anzahl von Universen existierte, so bliebe unser Universum doch immer noch ein geschlossenes System, das von außen keine Einwirkung erfährt und nach außen keine Wirkung ausübt.“ (Ebd., 1998, S. 61-62).

„Geschichte kann es nur in der Wechselwirkung von Mehrerem, das heißt innerhalb des Universums, geben. Angenommen, ein Kind würde taubstumm, blind und ohne nennenswerte intellektuelle Anlagen geboren, und es würde dennoch von seinen Eltern geliebt und aufgezogen: Es würde wachsen, und sein Körper wäre voller Geschehen. Aber es würde nicht einmal diejenige Art von Geschichte haben, die möglicherweise schon Adlern und Pinguinen zugeschrieben werden kann, sofern sie Partner des anderen Geschlechts finden, Nester bauen und Nachkommen erzeugen. Vielleicht könnte sogar die Auffaltung von Gebirgen unter dem Druck entgegengesetzter Kräfte oder die Ausbreitung von Meeren nach dem Wegdriften von Kontinenten als eine Geschichte bezeichnet werden, die sich vom Geschehen in der Sonne oder im Andromeda-Nebel wesentlich unterschiede. Wechselwirkung als Vollzug von Reaktionen dürfte der elementarste, wenngleich schwerlich schon ausreichende Charakter von »Geschichte« sein und der Menschengeschichte jedenfalls weit näher stehen als die »Veredlung« niederer zu höheren, d.h. komplexeren, Elementen in den Kernfusionsprozessen der Sonne und der anderen Fixsterne. So mag es zulässig sein, von der »Geschichte der Erde« und der »Geschichte des Lebens« zu sprechen, aber in beiden Fällen ist ein Fragezeichen zu setzen.“ (Ebd., 1998, S. 62).

6) „Geschichte der Erde“ - „Geschichte des Lebens“?

„Wir kennen Milliarden von Fixsternen, zumindest nach ihrer Lichtstärke und ihrer Position im Weltall, aber wir kennen nur ein einziges Planetensystem, »das unsere«, obwohl eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür sprechen mag, daß um zahllose Sonnen Satelliten in unterschiedlichen Erstarrungszuständen ihre Bahnen ziehen. Insofern ist nicht bloß die Erde, sondern das ganze Planetensystem ein Sonderfall, wenn auch von der Art, daß er nur auf unserer Unwissenheit beruhen mag. Die vier sonnennächsten, die »terrestrischen« Planeten - Merkur, Venus, Erde und Mars -, bestehen indessen großenteils aus schweren erstarrten Elementen wie Eisen, Nickel und Silikaten, und insofern nehmen sie gegenüber allen Fixsternen und auch unserer Sonne eine bemerkenswerte Sonderstellung ein, denn überall dort haben die leichten und einfachen Elemente Wasserstoff und Helium den Vorrang. Die äußeren Planeten - Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun - sind Gasbälle, auf denen Oberfläche und Atmosphäre nicht unterscheidbar sind. Sie sind weitaus größer als die terrestrischen Planeten ... und ... viel weiter von der Sonne entfernt. Daß auf ihnen Leben existieren könnte, ist nach allem menschlichen Ermesen ausgeschlossen, obgleich der Phantasie von Science-fiction-Autoren natürlich keine Grenzen gesetzt sind.“ (Ebd., 1998, S. 62-63).

„Aber auch auf Venus und Mars dürfte es kein Leben geben, denn die Venus - wegen der nahezu übereinstimmenden Größe oft der »Schwesterplanet« der Erde genannt - hat zwar eine dichte Wolkenschicht aufzuweisen, aber die Atmosphäre besteht zu 96 % aus Kohlendioxid und zu 3,5% aus Stickstoff, und auf der Oberfläche herrscht eine Temperatur von etwa 460 Grad. Deshalb gibt es dort so gut wie kein Wasser, Ozeane haben sich nicht bilden können. Auf dem Mars wollten Astronomen einst »Kanäle« entdeckt haben, und es gibt tatsächlich Vertiefungen, die auf frühere Wirksamkeit von Wasser oder Eis hindeuten. Heute ist die Atmosphäre aber jedenfalls so dünn, daß kein Wasser mehr fließen und keine Sanddüne sich bewegen könnte.“ (Ebd., 1998, S. 63).

„Diese Eigentümlichkeiten sind wohl nicht ausschließlich auf kosmologische Grundtatsachen wie den unterschiedlichen Abstand von der Sonne zurückzuführen, der eben nicht wesentlich differiert, sondern auf eine Wechselwirkung mehrerer Gegebenheiten, die es erlaubt, auch diesen Planeten und dem Erdmond ein je eigentümliches Geschehen zuzuschreiben, das häufig »Geschichte« genannt worden ist und heute dort bereits an ein Ende gelangt ist etwa durch ein frühes Erlahmen der tektonischen Spannungen, das jene Todesstarre nach sich ziehen kann, welche der Menschheit seit der Mondlandung aus direkter Anschauung bekannt ist. “ (Ebd., 1998, S. 63).

„Jedenfalls weist die Erde heute gegenüber der Treibhaushitze der Venus und der Kälte des Mars eine gemäßigte Temperatur auf, und auch darin hat sie eine Sonderstellung gegenüber den anderen terrestrischen Planeten. Vor allem kommt nur auf ihr Wasser in größeren Mengen vor, nur sie besitzt Ozeane. Wir sehen sie notwendigerweise unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit der Entstehung von Leben, und wir kommen im Blick auf das Planetensystem zu dem Ergebnis, daß nur dieser Himmelskörper die Voraussetzungen für die Existenz von Leben bot.“ (Ebd., 1998, S. 63).

„Aber auch der Schöpfungsmythos der Bibel läßt Pflanzen, Tiere und Menschen nicht gleichzeitig mit den Lichtern des Himmels und mit dem Wasser entstehen.“ (Ebd., 1998, S. 63).

„Über die Entstehung der Erde und der anderen Planeten gibt es heute unterschiedliche Theorien, die sich indessen nicht allzuweit von der Kantschen »Urnebelhypothese« entfernen und dasjenige »Akkretion« nennen, was Kant als die Bildung von Klumpen bezeichnet hatte. Jedenfalls wird das Alter der Erde fast einhellig auf 4,5 Milliarden Jahre geschätzt, und es wird ein Differentiationsprozeß angenommen, in dem Erdkern, Erdmantel und Erdkruste zur Unterscheidung gelangten. Die Erdkruste ist eine außerordentlich dünne Haut, die an der tiefsten Stelle etwa 70 km in das Erdinnere hinunterreicht, d.h. bis zu dem oberen Mantel, und von der wir nur 5-6 km durch Tiefenbohrungen direkt kennen. Die Kontinente schwimmen gewissermaßen auf dem Mantel, und sie haben ihre Positionen darauf wesentlich verändert: So existierte noch vor etwa 250 Millionen Jahren ein beinahe geschlossener Festlandblock, Pangäa genannt, aus dem sich die heutigen Kontinente bildeten, indem sie auseinanderdrifteten. Wenn Nietzsche verlangte, die Menschen sollten, um der ertötenden Routine zu entgehen, »gefährlich leben« und ihre »Städte an den Vesuv« bauen, so muß man erwidern, daß die ganze Menschheit sozusagen auf einem riesigen Vesuv wohnt.“ (Ebd., 1998, S. 63-64).

„Und wenn Nietzsche an einer anderen Stelle den metaphysischen Hochmut des »Gottesgeschöpfes« zu brechen versucht und die Menschheit mit einem Apfelhäutchen über glühendem Chaos vergleicht, so hatte er insofern Unrecht, als hinsichtlich des Lebens keine scharfe Trennung zwischen dem gewaltigen Erdkörper mit seinem Radius von 6000 Kilometern und der winzigen, auf der dünnen Kruste aus kosmischer Entfernung kaum wahrnehmbaren »Biomasse« gemacht werden kann, denn die Atmosphäre, so dünn sie ihrerseits mit ihren 10 oder 18 Kilometern der »Troposphäre« ist, muß zum Wesen des Planeten gezählt werden, wie auch die Atmosphärelosigkeit aus keiner Kennzeichnung des Mars fortgelassen werden darf.“ (Ebd., 1998, S. 64).

„Die Gashülle der Erde entstand zwar letzten Endes durch den kosmischen Prozeß der Akkretion von herausgeschleuderter, durch Zentripetal- und Zentrifugalkraft in der Bahn gehaltener Sonnenmasse, aber die konkrete Atmosphäre, die die Erde seit etwa 350 Millionen Jahren (viel länger, denn schon eine atembare Atmosphäre gab es schon vor etwa 1,8 Miliarden Jahren! HB) umgibt, verdankt ihre Entstehung den Lebewesen, welche durch die Photosynthese den Anteil von Sauerstoff so sehr vergrößerten, daß er aus einem Spurenelement zu einem Hauptbestandteil von 20% wurde.“ (Ebd., 1998, S. 64).

„Damit nimmt eine neue Geschehensart ihren Anfang, die man jedenfalls mit größerem Recht Geschichte nennen könnte als jene Entstehung des Planetensystems, welche noch dem astronomischen Geschehen zugerechnet werden kann, so singulär ihr Ergebnis möglicherweise war. Wenn man von »Erdgeschichte« oder »Erdzeitaltern« spricht, meint man in der Regel nicht die Vorgänge in Erdkern und Erdmantel und nicht einmal die frühe Bombardierung der sich festigenden Erdkruste durch Meteore oder Planetoiden, sondern man meint die verschiedenen Zeitalter des Lebens auf der Erde in ihrem innigen Zusammenhang mit klimatischen und tektonischen Veränderungen.“ (Ebd., 1998, S. 64-65).

„Diese neue »Geschichte« lassen die Biologen und Geowissenschaftler in gewisser Hinsicht bereits vor 3,5 Milliarden Jahren mit dem ersten Auftreten von sauerstoffproduzierenden Organismen, den sogenannten Cyanobakterien, beginnen, die oft und etwas ungenau Blaualgen genannt werden. Aber es dauerte noch weitere zwei Milliarden Jahre, bis die ersten atmenden Organismen zur Existenz gelangten. Der Terminus »Archäozoikum«, synonym mit »Archaikum«, läßt schon diese Ausrichtung am »Leben« erkennen, das also drei Vierteln der gesamten Erdexistenz die Namen gibt, obwohl die Zeitspanne bis zum Beginn des »Paläozoikums« nahezu drei Milliarden Jahre beträgt. Einfacher ist es wohl, den gesamten Zeitraum von der Entstehung der Erde bis zum Beginn des Paläozoikums als »Präkambrium« zu bezeichnen und als dessen Hauptereignisse nur das Auftreten der Photosynthese und der Lebewesen mit echten Zellkernen festzuhalten.“ (Ebd., 1998, S. 65).

„Aber ob Lebewesen schon atmen oder noch »anaerob« (ohne Sauerstoff) existieren, sind sie jedenfalls als »sich selbst replizierende Eiweißkörper« zu bestimmen, und das heißt, daß sie »Zellen« als Grundbestandteile aufweisen. Auch wenn diese Zellen noch keinen Zellkern besitzen, wenn es sich also um sogenannte Prokaryonten handelt, haben sie in ihrem Inneren ein ringförmiges Molekül aus Desoxyribonukleinsäure, das die genetischen »Informationen« enthält und damit die Voraussetzung für die Selbstreplikation ist. Mit den Eukaryonten beginnt die sexuelle Vermehrung, d.h. die Mischung des Erbguts in den Nachkommen eines Elternpaares. Damit kommen eine Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit auf, die es bei ungeschlechtlicher Vermehrung noch nicht geben kann und die es rechtfertigt, daß die »Nukleinsäuren«, welche die »Doppelhelix « der DNS bilden und die in einem komplizierten Prozeß die Proteine, die Eiweißkörper der Organismen, zur Entstehung bringen, als das Grundelement des Lebens bezeichnet werden. Der Biologe Rupert Riedl nennt daher die DNS, die, populär ausgedrückt, hauptsächlich aus Zuckermolekülen besteht und schon in niedrigen Lebewesen eine sehr komplizierte und staunenswerte Struktur aufweist, das »ebenso universelle, sich verzweigende und unsterbliche Molekulargedächtnis alles Lebendigen«. (Rupert Riedl, Die Strategie der Genesis, 1976, S. 13).“ (Ebd., 1998, S. 65).

„Alle einzelnen Zellen eines Lebewesens, beim Menschen etwa hundert Billionen, enthalten diese »Information«, die man besser Bauanleitung oder auch Befehlszentrum nennen sollte. Aber nur die Geschlechtszellen der Gameten dienen der Fortpflanzung, indem sie einen halben Chromosomensatz enthalten, so daß sich durch die Vereinigung mit den ebenfalls haploiden Gameten des anderen Elternteils die ursprüngliche Diploidie in dem neuen Lebewesen wiederherstellt. Nach der heute kaum noch bestrittenen Meinung der Biologen gibt es dagegen keine Rückwirkung von der Ebene der Proteine auf die Ebene der Nukleinsäuren, d.h. vom Phänotyp auf den Genotyp, mithin keine »Vererbung erworbener Eigenschaften«.“ (Ebd., 1998, S. 65-66).

„Über die »Entstehung des Lebens« existieren auch heute noch unter den Naturwissenschaftlern unterschiedliche Ansichten, wenngleich die herrschende Meinung dahin geht, daß die ersten organischen Verbindungen in der »Ursuppe« der frühesten irdischen Zeit unter der Einwirkung von Blitzschlägen oder vulkanischen Eruptionen aus anorganischen Molekülen entstanden sind. Wie immer es sich damit verhalten hat: Jedenfalls war schon das frühe Leben von den anorganischen Elementen, aus denen es »bestehen« mag, wesensmäßig verschieden - Konrad Lorenz hat für diese essentielle Differenz innerhalb des grundsätzlich Gleichartigen den glücklichen Ausdruck »Fulguration« verwendet.“ (Ebd., 1998, S. 66).

„Man braucht nur einen Vergleich mit den Fixsternen und Planeten anzustellen: Kein Himmelskörper repliziert und vervielfältigt sich von sich aus - er mag explodieren oder unter dem übermächtigen Einfluß eines anderen Körpers geteilt werden, aber das ist keine autonome Vervielfältigung; kein Weltkörper gibt den Teilen, in die er zerfallen mag, »Erbgut«, d.h. Anweisungen, mit, nach denen der Folgekörper sich gestaltet; kein Weltkörper steht in »Stoffwechsel« mit seiner Umgebung, indem er durch rhythmische Aufnahme und Abgabe von Stoffen sein Dasein erhält; kein Weltkörper »wird geboren«, und kein Weltkörper »stirbt« -, wenn diese Termini, wie es häufig geschieht, Verwendung finden, handelt es sich um metaphorische Redeweisen. Leben ist ein Geschehen, wie auch die Expansion des Weltalls oder die Strahlung der Fixsterne ein Geschehen ist, aber es ist ein Geschehen von ganz anderer Art. Wenn man tatsächlich das Wort »Geschichtlichkeit« verwenden darf, so ist diese Geschichtlichkeit des Lebens jedenfalls toto coelo von der »Geschichtlichkeit« der kosmischen Nebelwolken und der Sternhaufen verschieden.“ (Ebd., 1998, S. 66).

„Alle wesentlichen Kennzeichen des Lebens waren schon im Präkambrium vorhanden, genauer gesagt: von dem letzten Drittel der Zeit nach der Entstehung der Erde an. Die »Geschichte« der Lebewesen, die damit ihren Anfang nimmt, gehört heute zum allgemeinen Bildungsgut, und die Dinosaurier sind zu einem populären Filmstoff geworden. Mindestens einige der »Erdzeitalter«, die durchweg 50-100 Millionen Jahre umfassen, sind allgemein bekannt wie »Kreide« oder »Jura«, und man kann sich leicht darüber unterrichten, daß im »Kambrium« (590-500 Millionen Jahre vor der Gegenwart) alles Leben, meist noch in der Form von Mollusken oder Algen, nur in den Meeren existierte, daß im »Silur« Pflanzen und Tiere Süßwasser und Festland »eroberten«, daß im »Karbon« (360-290 Millionen Jahre v.d.G.) der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre den heutigen Wert erreichte und sich schon eine Tier- und Pflanzenwelt herausgebildet hatte, welche die Bezeichnung »üppig« verdient. Das »Perm« ist das Zeitalter der Amphibien und Reptilien, zu denen die ersten Dinosaurier gehören, in dem aber auch die Oberfläche der Erde ganz anders aussieht als heute, da fast alle Landmassen der Erde in der »Pangäa« vereinigt sind. Mit der »Trias« wird das Großzeitalter des Paläozoikums durch das »Mesozoikum« abgelöst (250-66 Millionen v. d. G.), und erstmals treten Säugetiere auf, die aber nicht größer als Ratten sind. Das »Jura«, eine ausgeprägte Warmzeit, ist die große Epoche der Dinosaurier, die dann am Ende der »Kreide« aus bisher nicht geklärten Ursachen aussterben. Dagegen verbreiten und ändern sich die Säugetiere, die einen ungemein wandlungsfähigen Bauplan aufweisen, auf außerordentliche Weise, und die ersten »Primaten« (»Herrentiere«) tauchen auf.“ (Ebd., 1998, S. 66-67).

„Mit dem Ende der Kreide beginnt vor 66 Millionen Jahren die Erdneuzeit, das Känozoikum, und zwar mit dem Tertiär als erstem Abschnitt. In dessen Anfangsabschnitt beginnen die Alpen sich aufzufalten, während im mittleren Teil, dem Miozän (24-5 Millionen v. d. G.), erstmals Affen zur Existenz kommen, und mit dem Pliozän (5-1,7 Millionen v. d. G.) tritt jenes »Tier-Mensch-Übergangsfeld« in den Blick, so daß das entscheidende Problem der »Menschwerdung « resultiert.“ (Ebd., 1998, S. 67).

„Im Quartär, einer Folge von Eis- und Warmzeiten (Glazialen und Interglazialen), taucht um 100000 v. Chr. der »Neandertaler« auf, der unzweifelhaft als Mensch zu gelten hat, und ihm folgt um 30000 der Cro-Magnon-Mensch, der nicht selten der erste »moderne Mensch« genannt wird. Aber nach nahezu allgemeinem Urteil lebte auch er in der »Vorgeschichte«, und zur Vorgeschichte ist großenteils noch das »Holozän« zu zählen, das um 10000 v. Chr. beginnt und möglicherweise nur eine Zwischenwarmzeit (eine Warmzeit einer Eiszeit, denn Eiszeiten bestehen aus Kalt- und Warmzeiten; HB) ist, zu der noch die Gegenwart des beginnenden dritten Jahrtausends n. Chr. gehört.“ (Ebd., 1998, S. 67).

„Diese »Geschichte« der Erde und des Lebens kann sich jedermann in reichbebilderten Werken wie etwa der Chronik der Erde leicht höchst anschaulich vor Augen führen, und an dieser Stelle genügt ein bloßer Verweis darauf.“ (Ebd., 1998, S. 67).

„Aber hat »Geschichte« nicht doch eine ganz andere Bedeutung angenommen, und ist nicht allen Ereignissen der anderthalb Milliarden Jahre seit dem Beginn des Archäozoikums ebenfalls, wie den Ereignissen der Bildung des Sonnensystems, der Charakter des bloßen, wenngleich gewiß andersartigen Geschehens zuzuschreiben, wenn man sich folgendes klarmacht? Ein Jahrhundert, selbst ein Jahrtausend war noch während der letzten Eiszeit und erst recht während der vielen Millionen Jahre der Kreidezeit überhaupt als solches nicht unterscheidbar, während der Mensch des ausgehenden 20. Jahrhunderts sich schon vom 19. Jahrhundert weit entfernt fühlt, ja sogar von der Furcht erfüllt ist, die Geschichte sei nun in eine so rasende Gangart eingetreten, daß bereits in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts die Welt völlig verändert und alle Kontinuität mit der vorhergehenden Zeit dahingeschwunden wäre. Eben damit könnte er in die »Nachgeschichte« eingetreten sein, und die einst weitverbreitete Hoffnung hat ihre Kraft verloren, aus der rasenden Bewegung werde mittels der Herrschaft der Vernunft eine neuartige Ruhe entstehen.“ (Ebd., 1998, S. 67-68).

„Aber die »Erdgeschichte« wird nach uralten Gesetzen weitergehen nicht über Tausende, nicht einmal über Millionen, sondern über Milliarden von Jahren, und es ist nur allzu wahrscheinlich, daß die Menschheit und möglicherweise alles Leben sich schon in wenigen Jahrhunderten zugrunde gerichtet hat oder vor dem Ende auf ein anderes Gestirn ausgewandert ist. Denn ein »Ende« wird die »Erdgeschichte« mit Sicherheit haben, und es gibt keinen Grund, die Vorhersage eines Geologen in Zweifel zu ziehen, der schreibt, heute stehe dieser Tendenz zum Ausgleich aller Höhenniveaus noch »die endogene Dynamik der Erde entgegen. Doch wenn einmal die Asthenosphäre erstarrt ist und die plattentektonischen Bewegungen zum Stillstand kommen, ... dann wird sich die irdische Landfläche stetig verkleinern, alle Kontinente werden bis auf das Meeresniveau abgetragen und kein Berg, keine Insel wird mehr daraus hervorschauen. Dann ist die Erde geologisch tot und zugleich für den Menschen unbewohnbar.« (Bernd Lammerer, Erdkruste im Wandel, in: Friedrich Wilhelm [Hrsg.], Der Gang der Evolution, 1987, S. 119-137, hier: S. 137).“ (Ebd., 1998, S. 68).

7) Evolution als Fundamentalgeschichte?

„Daß eine Fülle höchst verschiedenartiger Lebewesen auf der Erde existiert, war von jeher für alle Menschen ohne jede Reflexion selbstverständlich; daß es in früheren Zeiten Arten gegeben habe, die in der Gegenwart nicht mehr existieren, ließe sich jenen Mythen und Märchen entnehmen, die von vorzeitlichen Ungeheuern wie Drachen und Seeteufeln zu berichten wußten. Aber daß alle Wesen durch eine »Entwicklung« miteinander verknüpft wären, die sich in unvorstellbar großen Zeiträumen vollzogen hätte, war, von einigen Ansätzen in der Antike abgesehen, bis tief in das 19. Jahrhundert hinein eine fremdartige Vorstellung.“ (Ebd., 1998, S. 68-69).

„Die Verschiedenheit war schon früh in das Konzept vom »Stufenbau« des Seienden gebracht worden, der, mit den Schnecken und anderen Weichtieren beginnend, über Reptilien, Vögel und Säugetiere bis zum Menschen als »Krone der Schöpfung« aufsteige. Diese große Kette des Seienden ließ sich leicht mit platonischen Gedanken verbinden: Die Seinsformen entsprachen den »Ideen«, jenen »Urbildern«, die jenseits der Realität unveränderlich existieren und doch allem Seienden ihren Stempel aufprägen, so daß es gestaltet und damit von der menschlichen Seele in der »Ideenschau« erfaßbar sein könne. Wenn das Nebeneinander der Gestalten zugleich als ein Nacheinander verstanden wurde, dann war diese Entwicklung, die besser »Auswicklung« genannt werden würde, die Fundamentalgeschichte, das Wirklichwerden dessen, was in seinen Maßen und Proportionen vor aller Zeit schon ebenso im Geiste Gottes enthalten war wie die Grundverhältnisse der Mathematik.“ (Ebd., 1998, S. 69).

„Mit christlicher Begrifflichkeit konnte dieser Prozeß leicht als Schöpfungsgeschichte verstanden werden, und der Mensch ging ebenso aus der Hand Gottes hervor wie alle anderen Geschöpfe, wenngleich als ein fundamental andersartiges Wesen, als »zoon logon echon«, um die Ausdrucksweise des Aristoteles zu verwenden, oder als »animal rationale« in der Terminologie der Scholastik. Unvorstellbar war nur eines: daß die Fundamentalgeschichte des Auftauchens der Gestalten und insbesondere der menschlichen Gestalt kausal in dieser Entwicklung selbst enthalten war, daß also die Gestalt von Weichtieren von sich aus die Gestalt der Wirbeltiere hervorbrachte oder die Gestalt der Affen die Gestalt der Menschen. Alles Neue hatte vielmehr einen direkten Bezug zur Ideenwelt, zum Urgrund oder zum Schöpfer, und das galt am meisten für den Menschen, der doch als Ebenbild Gottes geschaffen war.“ (Ebd., 1998, S. 69).

„Es mußte also eine Neuerung sondergleichen und eine beispiellose Provokation sein, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die These aufkam, »der Mensch stamme vom Affen ab« und die Existenz des Affen gehe letzten Endes auf die Mollusken zurück. Eben dies schien der Sinn der »Evolutionstheorie« und zugleich des »Darwinismus« zu sein, durch die dasjenige erklärt und auseinander abgeleitet wurde, was in der Lehre von der »Großen Kette des Seins« nur nacheinander auftauchte. Konrad Lorenz sah nur noch eine »Schwäche« der menschlichen Erkenntnis darin, daß sie immer »Typen« wahrnehmen wolle und damit jener unendlichen Mannigfaltigkeit nicht gerecht werden könne, innerhalb deren jede Pflanze und jedes Tier ein individuelles und eben dadurch geschichtliches Wesen sei. (Vgl. Konrad Lorenz, Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, in: Irenäus Eibl-Eibesfeldt [Hrsg.], Gesammelte Arbeiten, 1989, S, 56f.).“ (Ebd., 1998, S. 69).

„Aber zunächst ist darauf hinzuweisen, daß Begriffe wie »Gestalt« oder (objektive) »Idee« in der modernen Biologie keineswegs vollständig verworfen worden sind, denn das Wort »Bauplan« spielt eine bedeutende Rolle. Und ist die Wahrnehmung von »Konstanz« wirklich nur ein Ausfluß menschlicher Schwäche?Abdrücke von Tintenfischen in 400 Millionen Jahren alten Gesteinen sind von den heute lebenden Tintenfischen kaum zu unterscheiden, und aus dem Olschiefer des Mittel-Eozäns in der Grube von Messel bei Darmstadt liegen zahlreiche Skelette von Fledermäusen vor, die »in allen wesentlichen Punkten dem Bauplan heutiger Fledermäuse vollständig entsprechen«.(Friedrich Wilhelm, Der Gang der Evolution, 1987, S. 165). Jacques Monod, gewiß ein unverdächtiger Autor, stellt fest, viel paradoxer als die Evolution selbst sei die Tatsache, daß bestimmte Arten sich mit erstaunlicher Stabilität ohne merkliche Veränderungen seit 100 Millionen Jahren reproduzierten; daher erkennt er »ein platonisches Element« ausdrücklich an, und er hebt hervor, in der unendlichen Vielheit der Erscheinungen könne die Wissenschaft »nur die Invarianten« suchen. (Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit, 1991, S. 151).“ (Ebd., 1998, S. 70).

„Wenn Entwicklung so viel wie Bewegung, Veränderlichkeit und damit Geschichte bedeutet, vollzieht sie sich, so könnte es scheinen, im Rahmen des Unveränderlichen und Konstanten; die Genera sind unvergleichlich mächtiger als die Individuen: Farne und Algen sind heute im wesentlichen dasselbe, was Farne und Algen vor 500 oder vor 300 Millionen Jahren waren. Die Evolution ließe sich als Fundamentalgeschichte dann so vorstellen, daß ein einziger großer Impetus des Lebens schon den einfachsten Bauplan durchpulste und immer kompliziertere, insofern höhere Baupläne hervorbrächte, bis im Menschen die bisher höchste aller Gestalten erreicht sei. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen diesem Impuls und der menschlichen Geschichte könne es nicht geben; diese sei nichts anderes als die Fortsetzung der »schöpferischen Entwicklung«, wie Henri Bergson sie genannt hat.“ (Ebd., 1998, S. 70).

„Man muß sich die innere Stärke des »platonischen« Ansatzes vor Augen halten, wenn man die ganze Andersartigkeit der eigentlichen Evolutionstheorie verstehen will, die ihren Ursprung durchweg von Darwin herleitet. Paradoxerweise geht auch sie von einer Invarianz aus, nämlich der Invarianz der genetischen Ausstattung jedes Lebewesens. Wenn alle Genome sich fehlerfrei replizierten, würden nur dadurch Änderungen eintreten, daß bestimmte Lebewesen infolge einschneidender Wandlungen der Umweltbedingungen zugrunde gehen würden. Aber wenn bei dem komplizierten Vorgang der Übersetzung des Genoms in die Aminosäuren des Phänotyps den Molekülen der sogenannten Boten-RNS oder den Proteinen, an die sie sich anlagern, ein »Ablesefehler« unterlief, dann war das Genom des Folgewesens mit dem Genom der vorhergehenden Generation nicht mehr in Übereinstimmung, etwas Neues war in die Welt getreten, eine »Mutation«.“ (Ebd., 1998, S. 70-71).

„Der Grund des Neuen war also etwas rein Negatives, wie man auf den ersten Blick sagen würde, nämlich ein zufälliger Fehler, der keinerlei »Höherstreben« in sich schloß, ja nicht einmal eine Richtung. In hunderttausend Fällen mochte der Fehler eine Verschlechterung bedeuten, und die betreffenden Exemplare der Gattung gingen zugrunde. In einem Fall aber war vielleicht eine Änderung zustande gekommen, die für das betreffende Wesen eine bessere Anpassung an veränderte Umweltbedingungen bedeutete. Durch eben diese Bedingungen wurde nun eine Selektion vorgenommen: die zunächst noch weit zahlreicheren genetisch unveränderten Exemplare würden weniger Nachkommen haben und in einer langen Generationenfolge, vielleicht in Hunderttausenden von Jahren, zugrunde gehen, während das »mutierte« Exemplar und dessen Nachkommen die Oberhand gewinnen würden.“ (Ebd., 1998, S. 71).

„Nun liegt kein Gedanke näher, als daß in dem Ringen um die Existenz, welches überall in der Natur wahrnehmbar ist, die stärkeren Exemplare sich durchsetzen und daß dieser Lebenskampf daher eine Verbesserung im Sinne von Kräftigung des Durchschnitts dieser Lebewesen nach sich zieht. Das Kennzeichnende der Evolutionstheorie besteht erst darin, daß die Mutationen, zufällig und richtungslos, wie sie sind, an der Grenze der Arten nicht haltmachen und damit der Übergang in eine andere Art möglich wird. Und dies kann offensichtlich nicht in einem Schritt geschehen, denn ein ganzes Genom mutiert niemals, vielmehr häufen sich die Mutationen in unvorstellbar langer Zeit und in zahllosen kleinen Schritten, so daß ein Übergang, etwa von den Reptilien zu den Vögeln, möglich wird. Aber eigentlich »entwickelt« sich nicht eine Anlage nach ihrem inneren Gesetz, sondern eine blinde und ziellose Änderung wirkt sich positiv aus, weil sie von den Bedingungen der Umwelt begünstigt wird, die für jedes einzelne Lebewesen infolge ihrer Übermacht schlechthin fundamental sind.“ (Ebd., 1998, S. 71).

„Mutation und Selektion sind also die großen Kräfte der Änderung in der Welt des Lebens, und die eine dieser Kräfte ist völlig blind, während die andere keinerlei Weisheit aufweist und lediglich den kurzfristigen Vorteil des betreffenden Lebewesens im Blick hat. So wird hier die außerordentliche Umkehrung jenes auf Platon gegründeten und in der Polemik gegen die antiken Atomisten für nahezu 2000 Jahre siegreichen Prinzips ganz deutlich, das Laktanz in seinen Göttlichen Unterweisungen einst sagen ließ: »Etwas Planvolles kann nur eine planende Vernunft zustande bringen«.“ (Ebd., 1998, S. 71).

„Demgegenüber läßt die Evolutionstheorie den Sinn aus der Sinnlosigkeit und die Ordnung aus dem Zufall hervorgehen: Nichts ist begreiflicher als die Empörung, die sie auslöste, als sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Vorschein kam. Konnte man diese Entwicklung noch eine Fundamentalgeschichte nennen, da die Geschichte der Menschen als eine Fortsetzung des Prozesses aus Mutation und Selektion hätte angesehen werden müssen? Ließ sich wirklich ernsthaft behaupten, das römische Weltreich sei entstanden, weil eine Zufallsmutation die Gene von Romulus und Remus verändert habe? Und was hatte es zu bedeuten, daß eine so ausgesprägt a-theistische Lehre angesichts des unerschöpflichen Reichtums und der überwältigenden Ordnung der Wirklichkeit »die Evolution« oft genug in einer Weise charakterisierte, die sie geradezu als ein Synonym für »Gott« erscheinen ließ?“  (Ebd., 1998, S. 71-72).

„Bei Rupert Riedl ist zu lesen: »Obwohl uns die biologische Theorie der Evolution nur einen blinden und einen kurzsichtigen Konstrukteur mit der Wirrnis des ewigen Kampfes anzubieten hat, und die physikalische sogar nur die unentrinnbare Drift ins Chaos, schafft die Evolution eine schier unfaßliche Ordnung, wider jede Wahrscheinlichkeit und scheinbar aus dem Nichts, und zu alledem sorgt sie noch dafür, sie widerspiegeln, sie erkennen zu können.« (Rueprt Riedl, Die Strategie der Genesis, 1976, S. 89). So taucht hier im Bereich der Biologie dasselbe auf, was auch bei einigen Physikern zu beobachten war: jener Zufall, der schlechterdings nur als »göttlicher Zufall« charakterisiert werden kann, weil er seinem Begriff nach natürlich nicht den Menschen »planen« konnte, aber faktisch genau den Ablauf hervorbrachte, der zwar kein »Ebenbild« Gottes mehr ist, wohl aber »die höchste Entwicklungsstufe«.“ (Ebd., 1998, S. 72).

„Es gibt in den Naturwissenschaften kaum eine andere Theorie oder Richtung, deren Anhänger sich so sehr auf eine Gründerfigur beriefen wie die Vertreter der Evolutionstheorie, nämlich auf Charles Darwin. Das ist in mancher Hinsicht erstaunlich, denn schon im Geburtsjahr Darwins, 1809, hatte J. B. Lamarck seine Zoologische Philosophie veröffentlicht, die eine ausgeprägte Entwicklungsgeschichte ist, aber als Erklärungsgrund eine »Vererbung erworbener Eigenschaften« zugrunde legt. Darwin selbst hat in der Einleitung zu seinem Buch über den Ursprung der Arten von 1859 mehrere Vorgänger aufgeführt, denen er sehr generös große Verdienste zuerkennt. Seine erste einschlägige Publikation wurde 1858 durch einen Aufsatz von Alfred Russel Wallace veranlaßt und erschien gleichzeitig mit dessen Publikation im Jahrbuch der Linnäischen Gesellschaft (gemeint ist wohl die Linnéische bzw. Linneische Gesellschaft; HB). Es ist gut bezeugt, daß Darwin das dreibändige Handbuch einer Geschichte der Natur des Heidelberger Paläontologen und Zoologen Heinrich Georg Bronn, das von 1841 bis 1849 erschien, sorgfältig gelesen hat. Man könnte sagen, die Zeit für eine »Historisierung« der Zoologie sei in der Mitte des 19. Jahrhunderts reif und überreif gewesen. Aber Darwin legte das erste umfangreiche Buch vor, das die Wendung »Entstehung der Arten« im Titel führte, und er wurde sofort als einer der größten Revolutionäre auf dem Gebiet der Naturwissenschaften weithin anerkannt.“ (Ebd., 1998, S. 72-73).

„Freilich fand er auch bald scharfen Widerspruch, der nicht durchweg theologisch und anthropologisch begründet war, aber letztlich von dort seine stärkste Leidenschaftlichkeit hernahm. Dabei hatte Darwin in bezug auf den Ursprung der Menschheit nicht mehr gesagt, als daß von seinem Ansatz her neues Licht darauf fallen werde, aber seine frühen Schüler, insbesondere Thomas Huxley in England und Ernst Haeckel in Deutschland, artikulierten schon bald die These von der »Affenabstammung des Menschen«, und keine These konnte in einer Welt, die noch weitgehend vom christlichen Glauben geprägt war, provokativer und empörender sein. Sie war allerdings konsequent, wenn die Behauptung akzeptiert wurde, daß die Variationen der Arten, die unbestreitbare Tatsachen sind und schon beim Blick auf eine Dogge und einen Dackel anschaulich werden, so weit ausschlagen und sich so sehr verfestigen könnten, daß eine neue Art entstände, die dann, wie es dem Begriff der Art entspricht, mit der Ausgangsart keine Fortpflanzungsgemeinschaft mehr bilden würde. Darwin sprach von der »natürlichen Zuchtwahl« und zeigte dadurch seine Orientierung an den menschlichen Züchtern, die in der Tat durch kluge Auswahl und Kumulierung der erwünschten Eigenschaften erstaunliche Änderungen erzielen.“ (Ebd., 1998, S. 73).

„Aber vielleicht hätte seine These tatsächlich nur Unglauben hervorgerufen, wenn sich Darwin nicht gleichsam in einen älteren Strom der Empörung hineingestellt hätte. Kaum jemand war in England allen humanistischen und humanitären Geistern so verhaßt wie der »Pfarrer Malthus«, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Buch (vgl. Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle of Population, 1798) geschrieben hatte, das eine als geradezu teuflisch aufgefaßte Gegenmeinung zum biblischen Gebot des »Seid fruchtbar und mehret euch« darzustellen schien, weil es der biologischen Vermehrung der Menschen eine »geometrische« Progression zuschrieb, während die künstliche Erzeugung der Nahrungsmittel über eine arithmetische Progression nicht hinausgelangen könne.“ (Ebd., 1998, S. 73).

„Diese Malthussche Konzeption vom Vorrang der natürlichen Zeugungskraft vor der menschlich-technischen Produktionskraft, welcher nur durch Anwendung der Vernunft keine katastrophalen Folgen haben würde, weitete Darwin nun auf den gesamten Bereich des Lebens aus genauer gesagt, er brachte sie dorthin zurück -, und da dieses biologische Leben keine subjektive Vernunft kennt, konnte die richtige Proportion nur durch einen unablässigen und gnadenlosen Kampf der Individuen und der Arten hergestellt werden, aus dem das »survival of the fittest« resultierte, von dem Herbert Spencer schon vor Darwin gesprochen hatte. So sagt Darwin ausdrücklich, die Lehre von Malthus sei in verstärkter Kraft auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich zu übertragen, und dann zeige sich die Natur als ein einziger großer Kampf ums Überleben, in dem »die lebenskräftigen und gesündesten Männchen, die damit auch die am vollkommensten angepaßten sind, allgemein in ihren Kämpfen den Sieg« davontrügen. So ist der Aufruf konsequent: »Was für ein Krieg zwischen Insekt und Insekt, zwischen Insekten, Schnecken und anderen Tieren mit Vögeln und Raubtieren, welche alle sich zu vermehren strebten.« (Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten oder: Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kmapfe ums Dasein, 1859, S. 16, 93).“ (Ebd., 1998, S. 73-74).

„So könnte man den Darwinismus einen Malthusianismus im Quadrat und eine wahre Kriegs- und Naturwissenschaft nennen, die eine starke Tendenz hat, sich in den menschlichen Bereich auszudehnen, wie es schon 1860 in einer der frühesten deutschen Rezensionen von Darwins Werk formuliert wird, wo es heißt, in der Natur vollziehe sich dieselbe Überwältigung des Schwächeren durch den Stärkeren, »wie es die stärkeren den schwächeren Menschenracen tun«. (Ebd., 1859, S. 590 [Rezension von Oskar Peschel in: Das Ausland, Jg. 1860). Man sollte auch nicht übersehen, wie der vollständige Titel von Darwins Werk lautet, nämlich Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder: Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein. Es ist daher sehr die Frage, ob die späteren »Neodarwinisten« oder »Sozialdarwinisten« tatsächlich so weit von dem Meister entfernt waren, wie es die Orthodoxen unter seinen Nachfolgern immer hingestellt haben.“ (Ebd., 1998, S. 74).

„Darwin trennte sich seinerseits nicht von der Atmosphäre des 19. Jahrhunderts, wenn er sagte, »aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod« gehe »unmittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Tiere«. (Ebd., 1859, S. 565). Darwin weitet also nicht nur den Historismus dieses Jahrhunderts auf die organische Natur aus, indem er schreibt, jedem organischen Naturerzeugnis sei »eine lange Geschichte zuzugestehen« (ebd., 1859, S. 562), sondern er behält einen Platz unter den Vorkämpfern der »Fortschrittsgeschichte« wie Comte und Spencer. Anders als Comte und Spencer ist er indessen von Bedenken, ja von einem Empfinden der Trauer nicht frei, wenn er schreibt: »Wenn wir über diesen Kampf ums Dasein nachdenken, so mögen wir uns mit dem festen Glauben trösten, daß der Krieg der Natur nicht ununterbrochen ist, daß keine Furcht gefühlt wird, daß der Tod im allgemeinen schnell ist und daß der Kräftige, der Gesunde und Glückliche überlebt.« (Ebd., 1859, S. 97).“ (Ebd., 1998, S. 74).

„Aber um die folgenden Fragen läßt sich schwerlich herumkommen: Wieso ist der Krieg der Natur »nicht ununterbrochen«, wieso fühlen die Fluchttiere keine Furcht, die doch unablässig nach Feinden Ausschau halten; ist den Lebewesen nicht um so mehr an Schmerz und Leid beschieden, je »vollkommener« oder »höher entwickelt« sie sind? Die merkwürdigste Paradoxie von Darwins Lehre liegt jedoch in folgendem: Die »künstliche Zuchtwahl« bringt bessere und für bestimmte Zwecke geeignetere Exemplare einer Art hervor, aber noch keinem Züchter ist es gelungen, aus einer Hundevarietät eine Katzenvarietät oder -art entstehen zu lassen, und der Krieg zwischen den Individuen und den Arten läßt die kräftigsten Individuen und die bestangepaßten Varietäten überleben, doch als solcher muß er keineswegs neue Arten hervorbringen. Darwin kannte den Begriff der genetischen Mutation noch nicht, und zu seiner Zeit waren die erstaunlichen Entdeckungen nicht gemacht, welche Übergänge zwischen Arten, ja zwischen Familien und Stämmen anschaulich werden ließen wie das Fossil des »Archaeopteryx« oder die zahlreichen Funde von urzeitlichen Gebissen, die keine Affengebisse sind und sich doch noch deutlich von Menschengebissen unterscheiden.“ (Ebd., 1998, S. 74-75).

„Wenn heute die darwinistische Evolutionstheorie für die allermeisten Biologen als bewiesen gilt, so sind die besten Beweise nicht auf die Gründerfigur zurückzuführen, sondern zunächst auf die Paläontologen und ihre Fossilfunde, nicht zuletzt aber auch auf die Genetiker, die das Urkennzeichen des Lebens, die Doppelhelix der Desoxyribonukleinsäure und damit den Genotyp, entschlüsselten und schließlich der artifiziellen Veränderung der Gentechnik unterwarfen, welche die natürliche Veränderung durch Mutationen an Schnelligkeit und Wirksamkeit weit überholt.“ (Ebd., 1998, S. 75).

„Dennoch wurden Zweifel und Bedenken gegenüber dieser Theorie bis heute nicht vollständig aus der Welt geschafft. Einige Biologen haben den Begriff der »Makroevolution« eingeführt, d.h. einer Entwicklung, die sich nicht in zahllosen winzigen Schritten, sondern in Sprüngen vollzieht, so daß »von heute auf morgen« neue Strukturen auftreten können. Selbst ganz orthodoxe Forscher konstatieren »Wesensunterschiede« etwa zwischen Vögeln und Reptilien, obwohl sie die Lehre von den kleinen Schritten für richtig halten. Man kann beiden Seiten dadurch Recht geben, daß man eine klare Unterscheidung von Phylogenetik und Systematik trifft: die erste verfolgt die konkrete Entwicklung, die zweite »ist auf die Existenz taxonomischer Bestimmungsschlüsselmerkmale angewiesen, um die systematische Ordnung herstellen zu können«. (Rolf Siewing [Hrsg.], Evolution - Bedingungen , Resultate, Konsequenzen, 1978, S. 198). So würden das Geschichtliche und das Ungeschichtliche, das Fließen und die Konstanz, einander nicht ausschließen, und Platon wäre gerechtfertigt, ohne daß man ihm ein vollständiges Recht zuschreiben müßte.“ (Ebd., 1998, S. 75).

„In der entsprechenden Abwandlung könnte die orthodox verstandene Evolution vielleicht als Fundamentalgeschichte verstanden werden, wenn sich bei den verschiedenen Gattungen und Arten der Tiere Unterschiede von »Freiheit«, d.h. vom Menschen her gesehen, Unterschiede der Geschichtsfähigkeit aufweisen ließen. Dieser Frage nachzugehen wird die nächste Aufgabe sein. An dieser Stelle soll aber Rupert Riedl noch einmal das Wort erteilt werden, der eines der geistreichsten Bücher über die Evolution geschrieben hat und der, obwohl zu den Orthodoxen zählend, einen Vorbehalt gegenüber der Theorie artikuliert, welcher, wie gezeigt worden ist, auch Darwin nicht ganz fremd war und auf die Menschengeschichte ausgedehnt werden kann, weil der Evolutionstheorie und der Geschichtsschreibung jedenfalls die Hervorhebung oder Konstatierung des Kampfcharakters gemeinsam ist: »Über 500000 ihrer Gewächse (der Gewächse der Natur) beweisen, daß mit Wasser, Salzen und Photonen allein eine vornehme, stille Ordnung aufzubauen ist, die mit einer Bescheidung ihrer Produktion das gegenseitige Vertilgen überhaupt hätte vermeiden lassen.« (Rupert Riedl, Die Strategie der Genesis, 1976, S. 16).“ (Ebd., 1998, S. 75-76).

„Der Zusammenstoß zwischen Utopie (oder Alternativvorstellung) und Realität, dem wir im Hinblick auf die Menschengeschichte immer wieder begegnen werden, kann also eine Art Präfiguration in der Evolutionstheorie haben. Eine solche Präfiguration gibt es allerdings in der Evolution selbst und auch bei den Tieren offensichtlich nicht, und wir sind damit vermutlich schon auf ein Kennzeichen der »eigentlichen« Geschichte gestoßen, das der angeblichen Fundamentalgeschichte, der Evolution, jedenfalls abgeht.“ (Ebd., 1998, S. 76).

8) Stufen der „Geschichtsfähigkeit“ bei Tieren?

„Daß die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften auf das engste mit Tieren verbunden war, bedarf keines Nachweises. Die Domestikation des Hundes war ein wichtiger Schritt am Ausgang der Vorgeschichte, und ihr folgte bald die Domestikation von Rindern, Pferden und Schafen. Landwirtschaft bedeutete bis gestern ständiges Zusammenwirken und auch Zusammenleben von Menschen und Tieren; die deutsche Ostkolonisation im Mittelalter und die Eroberung Amerikas durch europäische Einwanderer wären ohne die ungeheure Arbeitsleistung von Rindern und Pferden nicht möglich gewesen. Noch heute gibt es Stämme, die »Totemtiere« verehren; Ägypten war bekanntlich voller Tiergötter, und Toth, der Gott der Schreiber, hatte die Gestalt eines Pavians. Im Mittelalter wurden Tiere, die einen Menschen getötet oder sonstigen Schaden angerichtet hatten, nicht selten vor ein Gericht gestellt, verurteilt und manchmal sogar exkommuniziert; ihnen wurde also Personalität zugeschrieben. Offenkundig gibt es ein »Verstehen« zwischen Mensch und Tier; der Mensch versteht das Schweifwedeln des Hundes, und der Hund versteht den zornigen Gesichtsausdruck seines Herrn; es scheint sogar lebenslange »Freundschaften« zu geben wie etwa zwischen dem Kameltreiber und seinem Kamel oder zwischen dem Elefantenführer und seinem Elefanten.“ (Ebd., 1998, S. 76-77).

„Aber Tiere waren nicht nur Diener und Freunde des Menschen, sie wurden nicht nur als Götter verehrt, als Dämonen gefürchtet und als Beute gejagt, sondern sie griffen auch auf zerstörerische Weise in die menschliche Geschichte ein. Ratten schleppten die Pest in manche Länder ein; Plasmodien von Stechmücken übertrugen als Erzeuger der Malaria für unzählige Menschen den Tod, Wanderheuschrecken vernichteten 1866 den größten Teil der Ernte Algeriens und haben davor und danach immer wieder große Landstriche verwüstet.“ (Ebd., 1998, S. 77).

„Bei all dem aber waren die Tiere in die menschliche Geschichte einbezogen, oder ihre Aktionen richteten sich nach Art eines Wirbelsturms gegen die Menschen; zwar mag jenes »Wechselverstehen « auf eine innere Nähe eines Teils der Tiere zum Menschen hindeuten, aber dadurch wird die Frage, ob die Tiere als solche oder mindestens bestimmte Tierarten so etwas wie eine eigene Geschichte haben können, erst recht dringend.“ (Ebd., 1998, S. 77).

„Die bloße Evolution haben wir als Geschichte und gar als Fundamentalgeschichte bereits ausgeschlossen, so staunenswert gerade im Bereich des Geschlechtslebens manche Entwicklungen sind, z.B. daß bei einigen Rankenfüßern das Männchen zu einem bloßen Fortpflanzungsorgan geschrumpft ist, das auf dem Weibchen parasitiert. Die vielen Einzelschritte bei der Entwicklung der Reptilien zu den Vögeln dürfen allenfalls im übertragenen Sinne geschichtlich genannt werden; aber auch die starke Vermehrung und Ausbreitung von Heringsschwärmen infolge einer Veränderung in den Meeresströmen hat mit Geschichte nichts zu tun. Heringsschwärme existieren in einem bloßen Nebeneinander der einzelnen Tiere, die ausschließlich ihren seit Jahrmillionen genetisch festgelegten Instinkten folgen; es fehlt jeder Ansatz zu Organisation und zu Eigentätigkeit; beides oder doch mindestens das eine von beidem scheint die elementarste Voraussetzung für eine Geschichte zu sein, die kein bloßes Geschehen ist.“ (Ebd., 1998, S. 77).

„Aber man wird auch dann nicht von Eigentätigkeit sprechen können, wenn Tiere sich ganz unabhängig vom Menschen durch eigene Aktionen zugrunde richten, wie z.B. die Ziegen, die von Seeleuten auf der Insel Fernando Póo ausgesetzt wurden und dort so viel an schmackhaften Pflanzen und so wenig an natürlichen Feinden vorfanden, daß sie sich rapide vermehrten, infolgedessen alle Pflanzen abfraßen und schließlich allesamt starben. Es ist allerdings gut bezeugt, daß Löwen in guten Jahren ihre Beutetiere keineswegs restlos schlagen und sich selbst unbegrenzt vermehren, sondern sich so verhalten, als schätzten sie die künftigen Notwendigkeiten richtig ein. Aber es handelt sich hierbei doch lediglich um ein »als ob« und in Wirklichkeit um ein instinktives Verhalten.“ (Ebd., 1998, S. 77-78).

„Wenn das genetische Programm einem Tier zwingend vorschreibt, wie es sich verhalten soll, wenn also ein »Angeborener Auslösender Mechanismus« (AAM) unmittelbar durch Schlüsselreize in Tätigkeit tritt, dann kann nicht einmal von Anfängen einer »freien«, d.h. von Instinkten nicht festgelegten, Verhaltensweise die Rede sein und damit auch nicht von einem Anfang der Geschichte. Aber jedermann kann auch heute leicht beobachten, daß ein Hund, der auf der Straße der Spur eines anderen Hundes folgt, stutzt und zögert, wenn er den Ruf seiner Herrin hört und in einen inneren Widerstreit gerät, ob er nun weiterlaufen oder zurückkehren soll. Seine Instinkte geben ihm keine eindeutigen Befehle; es tut sich ein Spalt auf zwischen dem Naturinstinkt und demjenigen, was er gelernt hat, nämlich daß die Befehle des Herrn oder der Herrin zu befolgen sind.“ (Ebd., 1998, S. 78).

„Daß Tiere »lernen« können, steht außer Zweifel. Man lernt aber nicht, wenn man nicht behalten kann: Schon Aristoteles schrieb Tieren ein Gedächtnis zu, und hin und wieder drängt sich sogar die Frage auf, ob bestimmte Tiere nicht ein Verhältnis zur Zukunft haben, das über die rein instinktive Brutpflege oder auch über jenes »Ahnen« hinausgeht, das Gebirgstiere häufig beim ersten noch fernen Donnergrollen ihre Höhlen aufsuchen läßt.“ (Ebd., 1998, S. 78).

„Die Sammlung von Vorräten gehört allerdings offensichtlich zur Erbausstattung von Eichhörnchen und Spechten, aber wenn eine Graugans, wie Kenner versichern, eine schlechte Erfahrung nicht nur nie vergißt, sondern sich auch sorgfältig hütet, je an den Ort dieser Erfahrung zurückzukehren, so liegt wohl ein Analogon von »Einsicht« vor. Intelligenz legen auch Ratten an den Tag, die im Experiment in ein kompliziertes System von Gängen gesetzt werden und diese Umwelt rasch zu durchschauen lernen.“ (Ebd., 1998, S. 78).

„Daß ein Tier bestimmte Erfahrungen machen kann und daraus Folgerungen abzuleiten vermag, ist sicherlich durch ein »A priori« der Art festgelegt; aber daraus ergibt sich noch nicht, welche Erfahrungen die einzelnen Tiere machen und wie sie damit umgehen. Man wird daher von unterschiedlichen Graden von »Freiheit«, d.h. Triebentbundenheit oder Erfahrungsoffenheit, der einzelnen Tierarten sprechen dürfen, und »Geschichtsfähigkeit« mag man denjenigen zuschreiben, die damit die Fähigkeit zum Gruppenhandeln, d.h. zur Organisation, verbinden. Auch wenn man sich vor den naiven Anthropozentrismen hütet, denen man in Brehms Tierleben auf Schritt und Tritt begegnet, wo Tiere »liebenswürdig«, »gewitzt«, »opferbereit« und »von adliger Gesinnung« sind, kann man denjenigen modernen Forschern nicht von vornherein Unrecht geben, die bestimmten Tieren »einsichtiges Verhalten«, »Neugierde«, »Überlegung« und sogar »Denken« zuerkennen.“ (Ebd., 1998, S. 78-79).

„Aber im ganzen gibt es doch nur relativ wenige Tierarten, bei denen schon der Volksmund so etwas wie »Geschichtsähnlichkeit« konstatiert, weil er entweder das Wort »Staat« gebraucht oder Termini wie »Sippe« verwendet.“ (Ebd., 1998, S. 79).

„»Staaten« werden vornehmlich von Bienen, Ameisen und Termiten gebildet. Über die Bienen kann man in knappster Zusammenfassung sagen, daß es sich bei ihnen jeweils um eine auf nächste Verwandtschaft gegründete, faktisch rein weibliche Gemeinschaft zahlreicher Tiere handelt, in der die Arbeitsteilung einerseits infolge der Monopolisierung der Geschlechtsfunktion durch die »Königin« einen extremen Grad erreicht hat, andererseits jedoch auf bloße Altersunterschiede beschränkt ist, so daß man doch wiederum nicht von »Kasten« reden kann. Diese »Staaten«, von den Imkern bekanntlich häufig für menschliche Zwecke nutzbar gemacht, aber nicht eigentlich »domestiziert«, haben eine Anzahl von Feinden, z.B. kleine Schmetterlinge, die sich unter einer chemischen Tarnkappe in den Bienenstock einschmuggeln und dort als Parasiten leben, oder Milben, die Bienenseuchen hervorrufen und ganze Völker ruinieren können. Dagegen haben die Bienen mancherlei Abwehrmaßnahmen entwickelt. Erst recht erinnert das sogenannte Schwänzeln der Bienen an menschliche Verhaltensweisen, d.h. die Übermittlung über nahegelegene Blütenbestände durch Körperbewegungen der »Entdeckerinnen«. Aber selbst der begeistertste Imker würde nicht geneigt und in der Lage sein, eine »Geschichte seines Bienenstocks« zu schreiben, die sich in relevanter Weise von der Geschichte zahlloser anderer Bienenstöcke unterschiede, genauer gesagt: die sich von dem Geschehen in allen anderen Bienenstöcken unterschiede, und Karl von Frisch, der bahnbrechende Bienenforscher und Nobelpreisträger, versichert, daß die Handlungsweisen der Bienen, »So verwickelt sie uns erscheinen, erblich festgelegte, nur wenig wandlungsfähige Instinkte« sind. (Vgl. Karl von Frisch, Aus dem Leben der Bienen, 1927, S. 280).“ (Ebd., 1998, S. 79).

„Bei Ameisenstaaten ist man indessen nicht selten versucht, an menschliche Staaten zu denken, obwohl die Ameisen ebenso Hautflügler (Hymenopteren) sind wie die Bienen und ebenfalls seit etwa 50 Millionen Jahren die Erde bevölkern. Auch bei ihnen liegt die fundamentale Teilung in Geschlechtstiere und unfruchtbare Arbeiterinnen vor, ihre Staaten haben nicht selten mehrere Millionen Mitglieder, die Königin legt bis zu 30000 Eier am Tag, die Männchen werden zwar nicht getötet wie bei den Bienen, aber sie sterben bald nach dem Hochzeitsflug und der Begattung. Bei ihnen sind die Kasten jedoch sehr viel ausgeprägter und fixierter, denn die »Soldaten« unterscheiden sich auch äußerlich von den Arbeiterinnen, die ihrerseits von unterschiedlicher Größe sind, da bei ihnen die Oberkiefer, die Mandibeln, zu mächtigen Waffen ausgestaltet sind.“ (Ebd., 1998, S. 79-80).

„Vor allem aber sind ihre Staaten sehr viel angriffslustiger und führen nicht selten regelrechte Kriege. Gewöhnlich richten sich solche Kriegszüge gegen die Bauten anderer Ameisenarten; sie werden durch Kundschafterinnen vorbereitet und durch Umzingelungen eingeleitet; nicht selten handelt es sich um genuine Ausrottungskämpfe, doch werden die Puppen des eroberten Nestes oft in den eigenen Bau transportiert und dort nicht selten zu Sklaven gemacht. Es gibt Arten, bei denen die Sklaven fünfmal zahlreicher sind als die Sklavenhalter.“ (Ebd., 1998, S. 80).

„Nicht ganz selten resultiert daraus eine schwere Dekadenz der Sklavenhalter, die sich zunächst zu einer Art Kriegerkaste spezialisieren und dann allmählich sogar diese Funktion verlieren, so daß sie als reine Ausbeuter oder Schmarotzer weiterexistieren und nur noch eine starke, nicht mehr auf das andere Geschlecht beschränkte sexuelle Aktivität an den Tag legen, bis sie ihrerseits überwältigt werden oder zugrunde gehen.“ (Ebd., 1998, S. 80).

„Aber auch andere Tiere können Sklaven sein; und dann liegt häufig eine Wechselbeziehung zu gegenseitigem Vorteil vor, in der die Ameisen eine Schutzfunktion ausüben. So lebt die Art »Dolichoderus« vom »Honigtau«, den Exkrementen von Wolläusen, und paßt sich deren Bewegungen an: »Genau wie die menschlichen Wanderhirten lassen auch die Ameisen ihren Lebensrhythmus von dem ihrer Herden bestimmen, und ebenso wie die menschlichen, so sind auch die tierischen Nomaden vollständig von ihrem Vieh abhängig. (Vgl. Klaus Dumpert, Das Sozialleben der Ameisen, 1978, S. 184, 167).“ (Ebd., 1998, S. 80).

„Die Blattschneiderameisen ernähren sich von Pilzen, »die sie in den riesigen Nestern auf zerkautem Pflanzenmaterial kultivieren«. (Klaus Dumpert, Das Sozialleben der Ameisen, 1978, S. 184). Im Inneren der Nester gibt es eine bewundernswerte Ordnung, die von den Notwendigkeiten der Brutpflege beherrscht wird. Bei der Futterverteilung herrscht keine Gleichheit: »Ammen«, »Domestiken«, Nahrungssucher, große und kleine Arbeiterinnen, Soldaten erhalten unterschiedliche Anteile. Die Kastendetermination erfolgt anscheinend meist durch Hemmstoffe der Königinnen, wie überhaupt Pheromone (Duftstoffe) eine große Rolle spielen; nicht anders als bei den Bienen gibt es einen Volks- oder Staatsgeruch, und wenn dieser irn Experiment zum Verschwinden gebracht wird, kommt starke Feindschaft zwischen den Kasten auf, so daß der Staat in einem »Bürgerkrieg« zugrunde geht.“ (Ebd., 1998, S. 80).

„Normalerweise aber ist der Zusammenhalt sehr stark; koloniefremde Tiere werden an ihrem Geruch erkannt und sofort angegriffen und getötet. Durch Absonderung bestimmter Stoffe wird Gefahrenalarm oder auch Beutealarm gegeben. Nach Klaus Dumpert werden von einigen Arten bei den Kriegen bzw. der Unterdrückung von Sklaven Propagandastoffe eingesetzt, so daß dieser Autor den Ausdruck »psychologische Kriegführung« verwendet.“ (Ebd., 1998, S. 80-81).

„Termiten sind weitaus älter als Bienen und Ameisen; sie existieren schon seit 200 Millionen Jahren und sind in Tausende von Arten, Hunderte von Gattungen und mehrere Familien eingeteilt. Anders als Bienen und Ameisen sind sie keine Hautflügler, sondern gehören zur Ordnung der Schabenartigen. Auch sie sind in Kasten eingeteilt, die in manchen Fällen sogar genetisch bestimmt zu sein scheinen; aber das männliche Geschlecht wird in der Regel nicht ausgetilgt und stirbt auch nicht ab; neben der Königin gibt es einen König, und die beiden Geschlechtstiere bleiben zusammen.“ (Ebd., 1998, S. 81).

„Auch hier sind bei vielen Arten eigene Soldatenkasten zu finden, auch von Termiten werden Kriege geführt, und eine Art trägt sogar den Namen »Kriegertermite« (Bellicositermes goliath). Aber in der Regel richten sich die starken Expansionstendenzen auf die Eroberung neuer Lebensmöglichkeiten, insbesondere von Holz, welches das Hauptnahrungsmittel ist. Die Menschen in den Tropen wissen von diesen Eroberungszügen ein Lied zu singen. Die Bauten der Termiten sind wahre Kunstwerke und können eine Höhe von mehreren Metern erreichen.“ (Ebd., 1998, S. 81).

„Die Termiten haben aber auch viele Feinde; im zweiten Band von Grzimeks Tierleben findet sich ein farbiges Bild vom Angriff einer Ameisenart auf einen Termitenbau in der afrikanischen Steppe, das eine Anschauung vom systematischen, geradezu »geplant« erscheinenden Charakter dieses Angriffskrieges und der guten Organisation der Verteidigung gibt. Solche bestürzenden Ähnlichkeiten mit menschlichen Verhältnissen haben immer wieder zu Vergleichen oder metaphorischen Wendungen geführt, die in der Antike meist positiv den »Fleiß« hervorhoben, während im 20. Jahrhundert dieWorte »Ameisenstaat« und »Termitenstaat« zu schreckerfüllten Wendungen wurden, mit denen konkrete Gefahren der Zukunft und auch die gegenwärtigen »Totalitarismen« beschrieben wurden.“ (Ebd., 1998, S. 81).

„Freilich gibt es zwischen Bienen, Ameisen, Termiten und Menschen nur die allgemeine Verwandtschaft alles Lebens; auf anschauliche Weise aber ist der Mensch mit den Säugetieren und insbesondere mit den Affen verwandt, und von hier aus gesehen, könnte der Unterschied kaum größer sein. Keine Art der nicht menschlichen Säugetiere lebt in Staaten; nirgendwo gibt es eine Einteilung in Geschlechtstiere und die Überzahl unfruchtbarer Weibchen. Hier spielt im Gegenteil fast stets das männliche Geschlecht die herrschende Rolle, und die Gruppen sind sehr klein, meist sogar nur Großfamilien oder Sippen, deren Mitglieder sich untereinander kennen.“ (Ebd., 1998, S. 81-82).

„So lebt zum Beispiel der Mantelpavian (Hamadryas) in einer »extrem patriarchalen Gesellschaft«, die fest im Biologischen begründet ist, denn es liegt ein ausgeprägter »Sexualdimorphismus« vor: die Weibchen wiegen nur halb so viel wie die Männchen und sind daher an Körperkraft weit unterlegen. (Vgl. Hans Kummer, Weiße Affen am Roten Meer, 1992, S. 23). Männchen und Weibchen leben aber in festen Paarbindungen, und selbst das in der Gruppe von etwa 20-30 Köpfen dominierende »Alpha-Männchen« versucht in der Regel nicht, die »Ehefrauen« anderer Männchen in Besitz zu nehmen. Für heranwachsende Männchen ist es indessen meist schwierig, eine eigene Ehefrau zu erwerben, und sie müssen oft bis tief ins Erwachsenenalter hinein, also etwa bis zum 10. Lebensjahr, unter weitgehendem »Triebverzicht« leben. Zwischen verschiedenen Clans oder Banden finden Kämpfe statt, meist um Weibchen, aber von »Kriegen« kann man nicht sprechen. Auch im Inneren der Gruppe sind Spannungen vorhanden, vor allem zwischen »ranghohen« und »rangniedrigen« Männchen, meist allerdings erst dann, wenn das bisherige »Alpha-Männchen«, das bis dahin seinen Vorrang streng aufrechterhalten und damit zugleich für Frieden innerhalb der Gruppe gesorgt hatte, alt zu werden beginnt. Aber es gibt auch »ranghohe« und »rangniedrige« Weibchen, und eine sehr bemerkenswerte Tatsache ist, daß die Töchter ranghoher Weibchen nach den Beobachtungen der Forscher die soziale Stellung ihrer Mütter in der Regel bewahren und also, wie ein Autor schreibt, mit einem silbernen Löffel im Munde geboren werden. (Vgl. Frans de Waal, Wilde Diplomaten, 1991, S. 95).“ (Ebd., 1998, S. 82).

„Daß das stärkere Männchen sich nicht ohne weiteres das Weibchen eines schwächeren Männchen aneignet, mag man als Respekt vor dem Besitz anderer Individuen interpretieren. Dagegen gibt es keine Territorialansprüche der einzelnen Clans, und selbst die größte Einheit, die Herde von ca. 750 Köpfen, versammelt sich nur während der Nacht auf den Schlaffelsen, weist aber keinerlei Organisation auf und bricht des Morgens in Gestalt der einzelnen Clans in alle Richtungen zur Futtersuche auf. Sogar innerhalb der Clans werden keine »Befehle« erteilt, aber in aller Regel gibt eins der älteren Männchen die Richtung an. Bei der Nahrungssuche sind nach den Aussagen der Beobachter erstaunliche Intelligenzleistungen zu verzeichnen; so kennen nach Hans Kummer die Hamadryas die Stellen, wo ein Felsriegel das Grundwasser staut, sie graben dort Löcher und warten, bis das Wasser sie gefüllt hat. Wenn der offene Tümpel von Schmieralgen überzogen ist, graben sie daneben ein Loch, lassen es vollsickern und trinken gefiltertes Wasser. (Vgl. Hans Kummer, Weiße Affen am Roten Meer, 1992, S. 326). Eine Arbeitsteilung kennen sie jedoch nicht; stets zieht die ganze Gruppe aus, und jeder nimmt die Nahrung, die er oder sie findet bzw. die am nächsten liegt, von der Versorgung der kleinen Kinder durch die Mütter natürlich abgesehen.“ (Ebd., 1998, S. 82-83).

„Interessant sind die Veränderungen der Lebensweise, die eintreten, wenn Paviane, wie so häufig, in einem Zoo leben müssen. Hier lauern nicht auf Schritt und Tritt die Gefahren, welche jenes Nietzsche-Postulat vom »gefährlichen Leben« für Wildtiere ganz selbstverständlich sein lassen, und die Nahrungsbeschaffung macht keine Anstrengungen erforderlich. Die Folge ist ein »Luxurieren«, das Hans Kummer nicht ausschließlich negativ beurteilt, da es eine Hochblüte des Sozialen und die Chance der Erfindung von Neuem in sich schließe, aber es bedeutet doch vor allem den Verlust von Adaptationsfähigkeit »in entfremdeter Umwelt«, und dem Beobachter drängt sich der Vergleich zwischen diesen »Heiminsassen, Zwangspensionierten, Berufslosen« und »Calhouns Mäusen« auf, die »bei unbegrenztem Nahrungsangebot auf begrenztem Raum gehalten wurden, bis sie schließlich infolge eines komplexen, schrittweisen Zerfalls ihres Sozialverhaltens ausstarben, wohl genährt, aber sozial unfähig«. (Hans Kummer, Weiße Affen am Roten Meer, 1992, S. 179, 183).“ (Ebd., 1998, S. 83).

„Als die intelligentesten unter den Menschenaffen gelten durchweg die Schimpansen, und sie sind auch die besterforschte Art. In den Zoologischen Gärten bieten sie sich der genauen Beobachtung durch Forscher, die ihr Leben Minute für Minute verfolgen, geradezu an, und Jane Goodall hat viele Jahre ihres Lebens im Nationalpark von Gombe verbracht, um die freilebenden Schimpansen zu beobachten und in gewisser Weise deren Leben zu teilen. Sie konnte sich auf die Ergebnisse vieler Forscher stützen, die meist unter den Bedingungen der Zivilisation gearbeitet hatten, von Otto Köhler angefangen, der in seinen berühmten Experimenten gezeigt hatte, daß Schimpansen über eine Art technisches Verständnis verfügen und einfache Werkzeuge wie Bambusstäbe nicht nur verwenden, sondern in gewisser Weise sogar herstellen, indem sie z.B. solche Stäbe ineinanderstecken, um an eine entfernte Frucht zu gelangen. Seitdem war eine Fülle von Versuchen angestellt worden, und es war sogar gelungen, in ingeniösen Verfahrensweisen Schimpansen Teile der Taubstummensprache und ein Verständnis für sprachliche Kategorien wie »Alle -keiner« und »wenn -dann« beizubringen“ (Ebd., 1998, S. 83).

„Jane Goodall entdeckte nun auch bei den freilebenden Schimpansen Überlegung und Abstraktionsfähigkeit sowie »innovative Akte«, und mit dem Blick auf den Menschen kommt sie zu dem Ergebnis: »Der Mensch steht nicht in isoliertem Glanz da.« (Jane Goodall, Die Schimpansen von Gombe, 1986, S. 40). In ihrer sozialen Struktur sind Schimpansengemeinschaften hierarchisch, männlich dominiert und territorial ausgerichtet, nicht selten also kriegerisch.“ (Ebd., 1998, S. 83-84).

„Mit großer Sympathie wird von manchen Forschern die Gesellschaft der Bonobos oder Schimpansenpygmäen betrachtet, deren Motto nach Frans de Waal lautet: »Make love, not war!«  (Frans de Waal, Wilde Diplomaten, 1991, S. 183). Bei ihnen vollzieht sich das Geschlechtsleben weitgehend unabhängig von der Reproduktion, da die Weibchen fast 75% der Zeit in dem sexuell attraktiven Zustand der Genitalschwellung sind. Die wichtigste Funktion der Sexualität bei den Bonobos ist die Konfliktlösung; die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ist groß, bisexuelle Kontakte und Gruppensex sind häufig, werden aber nie erzwungen, und im ganzen bietet sich den Beobachtern eine Gesellschaft dar, die durch »bemerkenswerte Freundlichkeit und Sanftmut« (ebd., S. 221) zu charakterisieren ist: »Das klingt nach einer utopischen Gesellschaft«, schreibt Jane Goodall, »und im Vergleich damit sieht es so aus, daß die Schimpansen von Gombe noch einen langen Weg vor sich haben«. (Jane Goodall, The Chimpanzees of Gombe, 1986, S. 484f.).“ (Ebd., 1998, S. 84).

„Offenbar haben auch und gerade die Menschen nach der Meinung mancher Tierforscher noch einen langen Weg vor sich, und vielleicht wäre es nicht allzu übertrieben, wenn man als deren Maxime den Satz formulierte: »Wenn ihr nicht werdet wie die Bonobos, könnt ihr in das irdische Paradies nicht eingehen.« Mithin gäbe es bei einigen Tieren - anscheinend im Gegensatz zu dem, was am Ende des letzten Kapitels (**) dargelegt wurde - doch »Utopie«, aber nicht wie beim Menschen als Vorstellung oder Ideal, sondern als Wirklichkeit. Darauf ist weiter unten zurückzukommen.“ (Ebd., 1998, S. 84).

„Zunächst aber ist die Frage zu stellen: Müßten nicht auch Paviane, Schimpansen und Bonobos noch einen weiten Weg zurücklegen - wenn es denn ein Weg ist -, bis sie zum Menschen gelangen? Haben sie schon einen Anfang gemacht, obwohl sie doch jedenfalls von der »Staatlichkeit«, welche Ameisen und Termiten bereits zu besitzen scheinen, noch so außerordentlich weit entfernt sind? Ihre Intelligenz allein würde keinen solchen Schritt bedeuten, wenn sie seit 20 Millionen Jahren dieselbe geblieben wäre oder wenn die Tiere dadurch nur in die Lage versetzt worden wären, eine zutreffende Raumanschauung für das Leben auf den Bäumen und im Urwald zu entwickeln. Selbst der Umstand, daß nicht selten kleine Stöckchen verwendet werden, die sie in Termitenbauten stecken, um Termiten herauszuangeln, oder der Gebrauch von Steinen, um harte Fruchtschalen zu zerschlagen, wäre nur ein Beweis von Intelligenz, aber noch kein Schritt auf dem Weg zum Menschen, d.h. zur Geschichte.“ (Ebd., 1998, S. 84).

„Ein Gedankenexperiment mag weiterführen: Es ist gut bezeugt, daß einige Menschenaffen von sich aus gelernt oder eingesehen haben, wie man erdige Kartoffeln schmackhafter machen kann: indem man sie nämlich in Wasser wäscht. (Vgl. Kindlers Enzyklopädie - Der Mensch, Band I, S. 486 [Hans Zeier]). Kein Instinkt kann diesen Affen befohlen haben, die Kartoffeln auf solche Weise zu behandeln, denn viele andere Affen tun dergleichen nicht. Stellen wir uns nun vor, eine Schimpansensippe gäbe dieses Verfahren an ihre Kinder weiter, und diese übermittelten es ihrerseits an ihre Nachkommen. Dann würde es eine kartoffelwaschende Schimpansensippe geben, die von den nicht-kartoffelwaschenden Schimpansensippen der Umgebung in diesem Punkt wesentlich verschieden wäre. Vielleicht würde die vierte Generation auf den Gedanken kommen, die gewaschenen Kartoffeln mit einem spitzen Stein durchzuschneiden oder gar zu schälen. Diese Schimpansensippe würde dann ein Leben führen, das weder aus ihren Instinkten noch auch aus ihrer Intelligenz zureichend abzuleiten wäre, so gewiß Instinkte und Intelligenz die Voraussetzung sein würden. Die Tradition müßte in jeder Generation neu erworben und aktualisiert werden, und mancher einzelne Schimpanse könnte sie eines Tages als Last empfinden, da es doch Mühe und eine Art von Verzicht erfordert, die lockende, wenngleich schmutzige Kartoffel, nicht sofort in den Mund zu stecken.“ (Ebd., 1998, S. 84-85).

„Haben wir nicht die Geschichte und mindestens die Vorgeschichte des Menschen vor Augen, wenn wir uns vorstellen, eine affenähnliche Art von Lebewesen schlüge diesen »unnatürlichen«, nicht bloß instinkthaften Weg ein und setzte ihn fort, wenngleich vielleicht mit äußerster Langsamkeit, indem sich über die bloße Bewahrung und Weitergabe der Tradition hinaus nur in jeder tausendsten Generation ein »Fortschritt« vollzöge? Stände am vorstellbaren Ende dieses Weges vielleicht keineswegs »der nackte Affe«, wie es der Biologismus von Desmond Morris will (vgl. ders., Der nackte Affe, 1968), sondern ganz im Gegenteil eine Verschmelzung der Staatlichkeit der Ameisen und der Intelligenz der Affen, eine Figur, die man den »Ameisenaffen« nennen könnte?“  (Ebd., 1998, S. 85).

„Aber auch mit diesem Begriff verharren wir in einem biologistischen Denken. Für uns wird ständig ein Rückbezug auf die Tierwelt und auch auf die Evolution nötig sein - deshalb haben wir sie, wenngleich in äußerster Kürze, zum Thema gemacht, und niemand wird daran zweifeln, daß »das Tierische« im Menschen mächtig bleibt und daß die »Cerebralisation« als Vorgang der Evolution für ihn grundlegend ist -, aber wir befinden uns nun unmittelbar vor der »eigentlichen Geschichte«, die zwar noch nicht notwendigerweise mit der »Menschwerdung« beginnt, aber diese doch zur elementarsten Voraussetzung hat.“ (Ebd., 1998, S. 85).

9) Probleme der „Menschwerdung“

„Bevor man von den »Problemen der Menschwerdung« spricht, sollte man sich daran erinnern, daß im christlichen Kulturkreis anderthalb Jahrtausende lang immer wieder und in überaus feierlicher, auch für einfache Menschen höchst einprägsamer Form von »Menschwerdung« die Rede war - aber nicht von der Menschwerdung eines Lebewesens, das Millionen von Jahren hindurch noch kein Mensch, sondern ein Tier war, sondern von der Menschwerdung Gottes, genauer gesagt: des Gottessohnes als der zweiten Person der Trinität, welcher Fleischesgestalt annahm, um durch seine Lehre, seinen Tod am Kreuze und durch seine triumphale Auferstehung das Menschengeschlecht zu erlösen. »Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria virgine: Et homo factus est«, lautete ein zentraler Satz des katholischen, aber in der Sache allen christlichen Konfessionen gemeinsamen Glaubensbekenntnisses. Was mußten das für herausgehobene Wesen sein, um deretwillen Gott selbst zur Erde hinabstieg; wie tief mußten diese Wesen sich aber in Irrtum und Schuld verstrickt haben, daß ein solches Rettungs- und Erlösungswerk notwendig war!“  (Ebd., 1998, S. 86).

„Gerade aus dieser Perspektive wird das Entsetzen abermals verständlich, das keineswegs bloß Kirchengläubige in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfaßte, als einige Naturforscher behaupteten, der Mensch »stamme vom Affen ab« und es sei unvergleichlich mehr Zeit erforderlich gewesen, daß er »zum Menschen wurde«, als die 4000 Jahre, die nach fast allgemeiner Überzeugung seit der Weltschöpfung vergangen waren: Hunderttausende, ja Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Jahren, denn auch die Affen existierten nicht seit dem Anbeginn der Zeiten, sondern hatten sich wie die anderen Primaten aus Vorformen und letztlich wohl gar aus einer Art Urschleim entwickelt!“  (Ebd., 1998, S. 86).

„Diese Lehre von der »Menschwerdung« bedeutete also einen Sturz in den Abgrund: die Vernichtung des Gottesgeschöpfes, des »Ebenbildes Gottes«, des Gefäßes göttlicher Einwohnung, und an dessen Stelle wurde, so schien es, ein Wesen sichtbar, das die Reißzähne und die Krallen seiner Vorfahren zwar verloren hatte und ein Gesicht statt einer Schnauze besaß, das aber immer noch von der Gier und der Kampfeslust seiner Herkunft erfüllt war und nichts »Göttliches« oder »Gottähnliches« an sich hatte.“ (Ebd., 1998, S. 86).

„Doch es sollte auch nicht vergessen werden, daß der Mensch in der christlichen Tradition keineswegs ein irdischer Gott und nicht einmal ein zeitweise in die Finsternis verbanntes Geistwesen war, sondern daß er nach der Erzählung der Genesis am »sechsten Tag« gleichzeitig mit den Kriechtieren und den Tieren des Feldes geschaffen wurde, und es war schwerlich eine Strafverkündung, sondern eher eine ontologische Aussage, als Gott nach der ersten und entscheidenden Sünde zu ihm sagte: »Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück.« Die Herkunft des Menschen aus der Natur - und sogar aus deren allerniedrigsten Schichten - ist also im Christentum durchaus kein unvollziehbarer Gedanke, so schwierig es auch zu sein scheint, ihn mit jenem ersten Gedanken der unvergleichlichen Würde des Menschen zu vereinigen.“ (Ebd., 1998, S. 86-87).

„Im Jahre 1856 entdeckte der Naturforscher Johann Carl Fuhlrott in der Nähe von Düsseldorf Bruchstücke eines Skeletts, das ihm der Überrest eines urzeitlichen Menschen zu sein schien und über das er 1859, im Jahr des Erscheinens von Darwins Buch, in den Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlande und Westphalens einen Aufsatz mit dem Titel »Menschliche Überreste aus einer Felsengrotte des Düsseltales« veröffentlichte. Dieses Skelett wies viele befremdliche Kennzeichen auf: über den Augen sprangen große Wülste hervor, die Stirn war flach, das Kinn fliehend, und das Oberschenkelbein war leicht gebogen; im ganzen vermittelte es den Eindruck eines sehr massigen und tierähnlichen Wesens. Schon bald tauchten Zeichnungen auf, die das Fehlende ergänzten, und es erschien eine Kreatur, die in der Mitte zwischen Gorilla und Mensch zu stehen schien, eine Kreatur, von der man sich gut vorstellen konnte, daß sie zarte Frauen raubte und in die Tiefen der Wälder verschleppte.“ (Ebd., 1998, S. 87).

„Daß es sich um einen urzeitlichen Menschen handle, wurde durchaus nicht gleich allgemein anerkannt, und kein Geringerer als Rudolf Virchow erklärte, es müsse sich um einen rachitischen Idioten handeln, der vor einigen Jahrzehnten oder höchstens Jahrhunderten verscharrt worden sei. So wurden schon hier die Schwierigkeiten, vor denen die Paläoanthropologie steht, sehr deutlich: Fast stets wurden bloß Bruchstücke gefunden, und manchmal waren sogar Fälschungen, wie bei dem sogenannten Piltdown-Menschen (vgl. Kindlers Enzyklopädie - Der Mensch, Band II, S. 100) nicht auszuschließen, und wie sollte eine Zeitbestimmung vorgenommen werden, da doch alle schriftlichen Zeugnisse und mithin auch jene Erwähnungen von Sonnen- oder Mondfinsternissen fehlten, die für die ebenfalls ungemein schwierige »absolute Chronologie« weit späterer Zeiten so hilfreich sind.“ (Ebd., 1998, S. 87).

„Kurz nach Fuhlrotts Entdeckung wurden zahlreiche andere Fossilien von Menschen oder menschenähnlichen Wesen gefunden, und man vermutete bald, daß sie in noch weit ältere Zeiten gehörten als der Neandertaler, so etwa der »Homo heidelbergensis « oder der »Homo pekinensis« oder am Ende der »Australopithecus robustus afarensis« .... Die spezifischen Möglichkeiten der Archäologie waren gering, denn es gibt zwar Kennzeichen des Gebisses, die bei keinem Tier vorkommen, etwa das Fehlen der Eckzähne oder die Fünfhöckrigkeit der Molaren, aber über das Alter und die Einordnung entbrannte häufig Streit unter den Forschern.“ (Ebd., 1998, S. 87-88).

„Ein entscheidender Schritt wurde erst getan, als die Naturwissenschaften, zumal die Physik und die Chemie, zu Hilfe gerufen werden konnten, denn diese hatten Methoden der Altersmessung entwickelt, welche sich ganz erheblich etwa von dem Abzählen der Jahresringe alter Bäume unterschieden, das natürlich nur für relativ junge Zeiten Ergebnisse brachte. Die Lösung resultierte aus der Erkenntnis des Zerfalls eines radioaktiven Isotops des Kohlenstoffs, welches sich in allen organischen Verbindungen mit einem hohen Maß an Sicherheit bestimmen läßt. Bei nichtorganischen Materialien wie Gesteinen findet die Kalium-Argon-Methode Anwendung, bei der die Halbwertzeit weitaus länger ist, so daß sich ein Blick in Zeiten von vielen Hunderttausend und Millionen Jahren eröffnet. Zwar sind Ungenauigkeiten nicht auszuschließen, aber im großen und ganzen ist der Forschung durch diese naturwissenschaftlichen Methoden ein ausgezeichnetes Mittel der absoluten Zeitbestimmung an die Hand gegeben. So wissen wir heute, daß die Neandertaler, die inzwischen an vielen Stellen der Welt gefunden wurden, in der Zeit von etwa 100000 (bzw. 500000 oder noch früher! HB) bis 40000 (bzw. 30000 oder 25000! HB) v. Chr. lebten, und es liegen Rekonstruktionen bzw. Bilder vor, die einen weitaus sympathischeren, dem Erscheinungsbild des heutigen Menschen viel mehr benachbarten Eindruck vermitteln als jene ersten Schreckenszeichnungen.“ (Ebd., 1998, S. 88).

„Aber es gibt in der Paläoanthropologie auch heute noch genug Kontroversen, und das Schädelfragment oder das halbe Gebiß, das für den einen Forscher von einem Menschen stammt, gehört für einen anderen oft genug noch ins Tierreich. Das kann auch kaum anders sein, da man sich weitgehend auf den Begriff »Tier-Mensch-Übergangsfeld« geeinigt hat, in Analogie zum »abiotisch-biotischen Übergangsfeld« an den Anfängen des Lebens, womit ein sehr viel komplexeres Bild der Entwicklung gezeichnet wird, das eher einem Baum als einer Linie vergleichbar ist und auch tote Äste und absterbende Seitenzweige aufweist. So gut wie allgemein anerkannt ist, daß der Mensch nicht »vom Affen abstammt«, sondern daß die heutigen Affen und Menschenaffen sowie der Mensch gemeinsame Vorfahren besitzen, denen hier und da sogar eine größere Menschenähnlichkeit zugeschrieben wird, als die heutigen »Pongidae« sie besitzen. So konnte sogar die paradoxe These aufgestellt werden, der Affe stamme vom Menschen ab, d.h. die Affen seien hoch spezialisierte und nicht weiter entwicklungsfähige Wesen, während der Mensch im Hauptstrom der Entwicklung seinen Platz habe - man kann sich also inmitten der modernen Forschung doch hin und wieder an Henri Bergsons »schöpferische Entwicklung« erinnert fühlen. (**).“  (Ebd., 1998, S. 88-89).

„Es soll jetzt nicht eine Aufzählung der vielen Funde wie etwa des Homo steinbergensis und des Schädels von Swanscombe und ihrer verdienstvollen Entdecker in der Nachfolge von Fuhlrott wie Raymond Dart und Louis Leakey vorgenommen werden, sondern es genügt, ohne Erörterung der Schwierigkeiten und Unvollkommenheiten die wichtigsten Gattungen aufzuzählen, die dem »Tier-Mensch-Übergangsfeld« vorausgehen bzw. ihm zugezählt werden. Da ist der »Ramapithecus«, der vielleicht bis ins Miozän vor 15 Millionen Jahren zurückreicht und vielfach schon zu der Überfamilie der Hominoidea, der Menschenähnlichen, gezählt wird, da ist dessen Nachfahre, der »Australopithecus«, also »Südaffe«, der möglicherweise schon vor 5 Millionen Jahren lebte, und da ist schließlich der »Homo erectus«, der vor etwa 1,3 Millionen Jahren (bzw. vor 1,9 Millionen Jahren! HB) in Ostindien und Afrika auftaucht. Möglicherweise haben am Rande der Serengetisteppe, wo Louis Leakey seine bahnbrechenden Entdeckungen machte, tierische »Australopithecinae« und menschliche »Homines erecti« für Hunderttausende von Jahren nebeneinander gelebt. Dem »Homo erectus pekinensis« schreibt man den Gebrauch des Feuers zu, und um etwa die gleiche Zeit, ... sind die an verschiedenen Stellen gefundenen Fossilien und Werkzeuge so eindeutig nicht-tierisch, daß Stilbegriffe wie Abbévillien und Acheuléen Verwendung finden.“ (Ebd., 1998, S. 89).

„Aber selbst der Neandertaler gilt noch nicht als »Homo sapiens sapiens«, vielmehr erscheint dieser nach der herrschenden Meinung erst um etwa 35000 v. Chr. in der Gestalt des »Cro-Magnon-Menschen«. Von ihm stammen jene Höhlenbilder in Nordspanien und Südfrankreich, die ein Künstler der Gegenwart mit den damaligen technischen Mitteln schwerlich schöner und eindrucksvoller herstellen könnte. Unzweifelhaft ist »der Mensch« jetzt »da«, und ein unmittelbares Verständnis scheint den Menschen des 20. Jahrhunderts mit ihm zu verbinden. Aber gleichwohl ist die Frage nicht abzuweisen, ob dieser Mensch schon »Geschichte« hat oder ob er in einer Existenzweise lebte, die man »vorgeschichtlich« nennen muß.“ (Ebd., 1998, S. 89).

„Die Phasen oder Zeitalter der Vorgeschichte werden im nächsten Kapitel (**) zu behandeln sein; hier soll ... von einer genaueren Nachzeichnung der »Menschwerdung«, wie die Paläoarchäologie sie darstellt, verzichtet und eine eher systematische Aufstellung von »Momenten« vorgenommen werden, die insgesamt mindestens zu einem wesentlichen Teil vorhanden sein müssen, wenn vom »Menschen« gesprochen werden soll.“ (Ebd., 1998, S. 89).

„Die elementarste der Voraussetzungen, die der Natur zu verdanken sind, ist die Hineingehörigkeit in den übergreifenden Prozeß der »Cerebralisation« und damit der Steigerung einer »Intelligenz«, die sich an den verschiedensten Stellen des Tierreichs und nicht etwa ausschließlich bei Primaten beobachten läßt. Aber sogar hier kommen triviale Naturfakten und auch möglicherweise in gewissem Ausmaß tierisch-menschliche Aktionen ins Spiel. So besteht die Wahrscheinlichkeit, daß am Ausgang des Tertiärs infolge klimatischer Veränderungen große Teile des Waldes, in dem die Australopithekinen oder Vormenschen bis dahin gelebt hatten, abstarben und sich in Steppengebiete verwandelten; wenn der Vormensch in einer so tief veränderten Situation überleben wollte, durfte er nicht mehr vierfüßig inmitten der Bäume leben, sondern er mußte zum Zweifüßer werden, die »Bipedie« entwickeln, um über das Steppengras hinaussehen und Beute sowie Feinde wahrnehmen zu können. Dadurch konnten die Hände, da sie zur Fortbewegung nicht mehr benötigt wurden, nun etwa zur Signalgebung benutzt werden.“ (Ebd., 1998, S. 90).

„Die Annahme liegt nahe, daß mit der größeren Gefährdung im offenen Felde eine Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit und der Intelligenz Hand in Hand ging. Diese Anpassung mochte viele Tausende von Generationen in Anspruch nehmen, und wahrscheinlich erhielt der Vorgang des Lehrens und des Lernens darin größere Bedeutung, denn zweifellos war dieses Wesen nicht »von Natur« aus biped, sondern die Jungen mußten das lebensrettende Laufen und Rennen von den Eltern lernen.“ (Ebd., 1998, S. 90).

„Aber die Zweifüßigkeit allein macht so wenig schon den Menschen aus wie die allmähliche Schärfung der Intelligenz: Einige Dinosaurier waren zweifüßig, die Strauße sind es bis heute, und auch Schimpansen können lernen, gefährliche Plätze zu vermeiden. Es war weiterhin ausschließlich die Natur, die den »aufrechtgehenden Affen« sein Haarkleid verlieren ließ und ihn damit, um den Terminus von Desmond Morris zu verwenden, zum »nackten Affen« machte.“ (Ebd., 1998, S. 90).

„Aber der Konsequenzen dieser Nacktheit mußte sich der Mensch selbst erwehren, denn ohne eine Reaktion wäre er in den Kaltzeiten mindestens auf der nördlichen Halbkugel zugrunde gegangen. Hilfe gegen die todbringende Kälte konnte nur Kleidung geben, selbst wenn sie bloß aus einem Tierfell bestand; zwar mochten auch Höhlen Schutz bieten, aber in ihnen ließ sich der Lebensunterhalt nicht erwerben. Auch wenn lediglich Früchte und Wurzeln gesammelt wurden, war Bedeckung unentbehrlich: der »nackte Affe« mußte zum »bekleideten Affen« werden, und damit war ein weiteres Unterscheidungsmerkmal gegenüber den waldbewohnenden Vettern gegeben, wenngleich kein absolutes, denn auch Schimpansen und Gorillas bauen sich eine Art Hütten in den Kronen der Bäume und bedecken gelegentlich, möglicherweise eher scherzhaft, einige Körperteile mit Blättern oder Zweigen.“ (Ebd., 1998, S. 90-91).

„Auch das Leben in einer Gruppe und die Sorge für die Nachkommen sind noch nicht spezifisch menschlich; abgestufte Verantwortlichkeiten, »Hierarchien«, gibt es auch bei Pavianen, auch bei Schimpansen kennen Mütter und Kinder einander, auch bei Pavianen werden Paarbeziehungen und insofern Besitzverhältnisse weitgehend respektiert, auch bei Gorillas sind die Jungen lange Zeit hilflos und bedürfen der Pflege und Achtsamkeit. Aber der von Natur aus nackte Affe mußte die »Vorkultur« noch weiter treiben, wenn er sich einigermaßen geschützt fühlen wollte: Schon der im Geröll gefundene faustkeilartige Stein kann eine Waffe darstellen und der Selbstverteidigung dienen, und von da ist der Weg nicht mehr weit bis zur Jagd. Es ist unwahrscheinlich, daß die nackten und daher bekleideten, in Verwandtschaftsgruppen lebenden, sich mit primitiven Waffen verteidigenden »Affen« jemals bloße Sammler waren; vermutlich waren Stöcke mit aufgesetzten Steinspitzen, »Speere«, die ersten Jagdund damit Angriffswaffen. Nur solche Spitzen werden von den Paläoarchäologen entdeckt, aber nicht Kleidungsstücke oder Holzspeere, und sie sind oftmals von naturgeformten Spitzen nicht leicht unterscheidbar.“ (Ebd., 1998, S. 91).

„Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß schon sehr früh, vielleicht um das Jahr 500000 (m.E. bereits um 2 Mio.! HB), die Männer einer Horde zur Jagd auf eßbare Tiere auszogen, und zwar zur gemeinsamen Jagd, so daß eine Aufgabenteilung - etwa zwischen Treibern und Speerwerfern - nahelag. Die Frauen und Kinder sowie die älteren Männer blieben aber vermutlich am Lagerplatz zurück, anders als bei den Pavianen, vielleicht für mehrere Tage; daher mußte jener Respekt vor dem »Besitz« der Abwesenden sich noch stärker ausprägen als bei Pavianen, und es ist so gut wie sicher, daß der erfolgreichste Jäger eine führende Rolle in der Gruppe spielte, die Verteilung der Jagdbeute vornahm und gegebenenfalls Sanktionen festlegte.“ (Ebd., 1998, S. 91).

„Aber selbst die bewaffneten und jagenden Vormenschen unterschieden sich noch nicht wesentlich von Affen und Menschenaffen. Das erste absolut kennzeichnende, nicht aus bloßer Verstärkung und Intensivierung von Vorhergegangenem resultierende Merkmal dürfte der Gebrauch des Feuers gewesen sein. Arnold Gehlen spricht von der »unüberwindlichen, triebhaften Furcht eines jeden Tieres vor Feuer« (Arnold Gehlen, Der Mensch, 1940, S. 125). Spuren von Feuer sind, wie erwähnt, erstmals bei den Wohnstätten des »Homo pekinensis« gefunden worden. Wie diese frühen Menschen zum Gebrauch des Feuers gelangten, wissen wir natürlich nicht. Es ist so gut wie ausgeschlossen, daß sie es selbst entzündet haben, und aus der Ethnologie ist bekannt, daß primitive Stämme noch in der nahen Vergangenheit kleine Feuerstellen, die durch Blitzeinschlag entstanden sein mochten, gleichsam auflasen und an ihren Lagerstätten sorgfältig hüteten und nährten, ja daß sie die Wärmequelle sogar in ausgehöhlten Stämmen bei Wanderzügen mitnahmen, um im Besitz eines »ewigen Feuers« zu sein.“ (Ebd., 1998, S. 91-92).

„Der nächste Schritt war dann das Kochen und der übernächste das Entzünden von Feuer, etwa durch Bohrbewegungen von hartem in weichem Holz. Das bekleidete, bewaffnete, jagende, gegebenenfalls auch seefahrende, mit dem Feuer vertraute und fleischkochende Wesen unterschied sich in der Kombination all dieser Merkmale nicht mehr bloß graduell, sondern essentiell von allen Tieren. Was bei einigen Tieren aus gutem Grund als »Vorkultur« bezeichnet wird und was auch dort nur durch Lehren und Lernen übermittelt werden kann, hat hier einen Umfang angenommen, der es gerechtfertigt sein läßt, von »Kultur« zu sprechen und diese Kultur von einer gegebenen »Natur« zu unterscheiden.“ (Ebd., 1998, S. 92).

„Aber diese Kennzeichen - Bipedie, Kleidung, Jagd, Feuer, Kochen, Bewaffnung, Familienverhältnisse - genügen offenbar nicht, um den Frühmenschen zu beschreiben. Es fehlt noch die Sprache, und diese kann sicherlich kein Merkmal sein, das zu den übrigen nachträglich und als eine Art Krönung hinzukommt; sie durchdringt, ja ermöglicht, wie es scheint, die anderen Merkmale, soweit sie nicht nur natürlich sind. Als bloßes Medium von Kommunikation gibt es »Sprache« auch bei Tieren. So stoßen z.B. die Grünen Meerkatzen etwa zehn verschiedenartige Laute aus, die jeweils etwas Bestimmtes bedeuten wie das Auftauchen eines Raubvogels, einer Schlange oder eines Menschen. Es handelt sich also um Ausdrücke der Warnung vor unterschiedlichen Feinden bzw. Gefahren, die von allen Angehörigen der Art sofort verstanden und durch bestimmte Reaktionen, vornehmlich die Flucht, beantwortet werden. Den Jungen ist dieses Verständnis aber nicht in die Wiege gelegt; sie müssen es erst lernen, und sie bezahlen das Nichtverstehen oft mit ihrem Leben.“ (Ebd., 1998, S. 92).

„Alle Tiere sind in je spezifische, d.h. zur Spezies gehörige, Kommunikationssysteme eingebunden, und einige Naturwissenschaftler lassen »Erkenntnis« bis in die untersten Bereiche des Lebens hinabreichen, etwa bis in das »Ablesen« der in der DNS »kodierten Erbinformation« durch die Proteine des Phänotyps. Aber die menschliche Sprache, die zwar auch Interjektionen, Ausdrücke des Schmerzes oder Staunens und Anweisungen durch bloße Laute enthält, ist vor allem Wortsprache und damit auch schon Satzsprache: Nicht Bedeutungshaftigkeit als solche zeichnet sie aus, sondern das Fixieren und das In-Beziehung-Setzen von Bedeutungen. Darin erfolgt eine »Objektivierung«; das Bezeichnete - Dinge, Personen und auch Kategorien - wird von der jeweiligen und konkreten Situation potentiell gelöst. Deshalb kann es der Erinnerung übergeben und auf die Zukunft bezogen werden; um den Menschen herum tut sich eine Welt auf, die aus Vergangenem kommt und in Zukünftiges vorausweist. So wird eine Erzählung von den Vorfahren möglich und zugleich eine Projektierung der Zukunft. Die aber stößt auf ein Unüberschreitbares, Allverbreitetes, das offenbar nur einem einzigen unter allen Wesen bewußt ist, auf den Tod des sich erinnernden und projektierenden Einzelnen.“ (Ebd., 1998, S. 92-93).

„Sprache und Todesbewußtsein gehören zueinander. In eins damit ist dem sprechenden Todgeweihten eine noch viel umfassendere Dimension erschlossen: Ein Weltbewußtsein umgreift das Todesbewußtsein, so eng die konkrete Lebenswelt auch sein mag, denn dieses Wesen weiß, was jedes andere Wesen nur »lebt«: daß es nicht das Ganze ist und daß es diesem Ganzen konfrontiert ist. Daher blickt der Mensch nicht bloß witternd in die Höhe und lauscht er nicht nur mißtrauisch in die Ferne, sondern er benennt die Macht, von der sein Geschick abhängt, er spricht sie als Gott oder als Götter an; er erfleht von Gott oder den Göttern Gelingen, und er sucht durch Anrufung, vielleicht schon durch die Darbietung von Opfern Gefahren abzuwenden; gerade indem er sich vor einem Unverstandenen fürchtet, etwa vor dem geisterhaften Fortleben von Verstorbenen, die er deshalb rituell begraben oder kultisch verehren mag, legt er ein fundamentales Verständnis an den Tag.“ (Ebd., 1998, S. 93).

„Meist hat man diese Haltung des Menschen Religion genannt, heute sprechen die Philosophen häufig von »Weltoffenheit«. Weltoffenheit kann es ohne Sprache ebensowenig geben wie Denken; Sprache und Religion bedingen einander; und wenn der Mensch nicht ... Religion gehabt hätte, würde er heute keine Wissenschaft in jenem Weltsinne treiben können, die man vielleicht die götterferne und gottlose Religion des Menschen der Neuzeit nennen mag, denn auch diese Wissenschaft stützt sich auf das Nachdenken der Philosophen über das Eine und das Viele, das Ganze und seine Teile, das Wesen und die Erscheinungen. Man könnte sagen: Wenn irgendwo Tiere sich zur Beerdigung einer Leiche versammelten und dabei die Köpfe zur Sonne erhöben, um durch Gesten oder Laute Bitten zum Ausdruck zu bringen, so wären sie nicht mehr Tiere, sondern Menschen.“ (Ebd., 1998, S. 93).

„Sprache und Religion sind - oder waren (?  HB) - die Hauptkennzeichen des Menschen, und wenn die Gruppen bewaffneter, jagender und kochender Vormenschen ohne Sprache und Religion gewesen wären, so hätten sie die Grenze zum Menschen noch nicht überschritten. In Wahrheit aber ist der Mensch diese Überschreitung selbst, und er bleibt ein Überschreitender, der im Welt- oder Gottes- oder Götterbewußtsein die Grenzen seiner jeweiligen Lebenswelt immer schon überschritten hat und sie daher auch konkret immer weiter hinausschieben kann. Mithin ist der Mensch durch »Transzendenz« zu bestimmen, d.h. Transzendieren oder Überschreiten, und zwar durch eine doppelte Art von Transzendenz: das Überschreiten der jeweiligen und vielleicht überaus engen Lebenswelt auf einen »Welthorizont« hin, der sich als bloße, die Lebenswelt anscheinend nur »spiegelnde« Götter- und Dämonenwelt darstellen mag, und das praktische Vorschieben der Grenzen dieser Lebenswelt, das für Hunderttausende von Jahren kaum wahrnehmbar sein kann. Der Welthorizont ist nicht sichtbar oder berührbar, er existiert nur in der Abstraktion von der Konkretheit der jeweiligen Lebenswelt und ist doch die Voraussetzung dafür, daß es sich um eine menschliche Lebenswelt handelt, denn in dieser ist Abstraktion, Nicht-Gegenwärtiges, immer schon gegenwärtig. Wenn man »Theorie« als ein »Hinaus-« und »Vorausblicken« und nicht als wissenschaftliches Erklärungssystem versteht, darf man die theoretische Transzendenz von der praktischen unterscheiden und muß doch ihre innerste Zusammengehörigkeit konstatieren.“ (Ebd., 1998, S. 93-94).

„Zu welchem Zeitpunkt Sprache und Religion ihren Anfang genommen haben, ist in der Wissenschaft umstritten; manche Gelehrte schreiben schon den Australopithekinen die Möglichkeit von Sprache zu (m.E. war Homo erectus der erste »kompetente Sprecher«! HB); andere bezweifeln aufgrund von präsumtiven Gegebenheiten des Nasen- und Rachenraums, daß die Neandertaler Sprache besaßen. Es ist jedoch schon längst der Nachweis erbracht, daß sie ihre Toten begruben und Blumen und Speisen hinzugaben, daß sie mithin an irgendeine Art von Fortexistenz glaubten. Diejenigen, die den Neandertalern keinen »vollmenschlichen« Status zubilligen, schließen es aber in der Regel nicht aus, daß lange vor diesen schon Menschen gelebt haben, welche Vorfahren der Cro-Magnon-Menschen und also »höher entwickelt« waren. Es wird mithin vermutlich richtig sein zu sagen: Weder die Sprache noch die Religion wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt erfunden; nur wenn sie als Hauptmomente mit jenen anderen Momenten der Bipedie, der Kleidung, des Kochens, der Bewaffnung, der Jagd, der Familien- oder Hordenhaftigkeit zusammenkommen, ist die Menschwerdung zum Abschluß gelangt und das Menschsein erreicht.“ (Ebd., 1998, S. 94).

„Daher ist der Ausgang aus dem »Tier-Mensch -Übergangsfeld« weder im Raum zu lokalisieren noch in der Zeit zu fixieren; die Vermutung ist zulässig, daß schon in frühen Formen des Homo erectus alle Momente vereinigt waren, und die These ist nicht apodiktisch abzuweisen, daß selbst der feuerverwendende Peking-Mensch noch nicht durch die Sprache auf die Welt hin geöffnet, d.h. nicht religiös und mithin noch nicht im vollen Sinne ein Mensch, war. Aber auch der Cro-Magnon-Mensch, dem niemand die Qualität des Vollmenschen aberkennt, lebte nach nahezu allgemeiner Meinung noch in der »Vorgeschichte«. Wenn wir uns nun deren »Zeitaltern« zuwenden, geben wir schon durch die Wahl des Wortes zu erkennen, daß eine scharfe Grenze zwischen Vorgeschichte und Geschichte vermutlich so wenig gezogen werden kann wie zwischen Tier und Mensch und daß trotzdem »die Geschichte« von »der Vorgeschichte« nicht weniger deutlich unterschieden ist als »der Mensch« von »dem Tier«.“ (Ebd., 1998, S. 94-95).

10) Die Zeitalter der Vorgeschichte

„Der Begriff »Zeitalter« wird in der Regel im Sinne von »Zeitaltern der Geschichte« verstanden, aber man spricht auch von Zeitaltern der Erdgeschichte wie Kreide, Jura und Trias. Der Begriff »Erdzeitalter« wird jedoch ebenfalls häufig gebraucht, und vielleicht sollte man in Analogie dazu von »Vorzeitaltern« reden, wenn es um die menschliche Vorgeschichte geht. Diese Vorzeitalter stehen nämlich noch in einer engen Verbindung mit den Erdzeitaltern, weil sie in ihren Anfängen nur durch diese zu bestimmen sind und wie sie das Kennzeichen einer unvorstellbar langen Dauer aufweisen. Das Quartär, oft Pleistozän genannt, also die Zeit der letzten Million Jahre, wird auch als »Eiszeitalter« bezeichnet, aber die vier großen Eiszeiten, die in Europa von südlichen Nebenflüssen der Donau - Günz, Mindel, Riß und Würm -i hren Namen haben, setzen erst um 600000 v. Chr. ein, und dem Anfang der Günz-Eiszeit wird noch keine Klasse von Steinwerkzeugen zugeordnet, obwohl einzelne Funde von Skelettresten und Werkzeugen möglicherweise sogar bis in das späte Tertiär zurückreichen.“ (Ebd., 1998, S. 95).

„Wenn man der Meinung ist, daß Steinwerkzeuge, die unverkennbare Spuren von Bearbeitung tragen und also keinesfalls auf natürlichem Wege im Geröllschutt entstanden sein können, bereits sichere Beweise für die Existenz von Wesen sind, welche das »Tier-Mensch-Übergangsfeld« durchschritten haben und also im Vollsinn Menschen sind, mag man den einen oder anderen Fund, der ins Pliozän zurückdatiert werden kann, auf Menschen zurückführen, aber eine ganze Anzahl von untereinander ähnlichen Faustkeilen (die ältesten der gefundenen Faustkeile sind fast 2 Mio. Jahre alt; HB) ist erstmals auf jene erste »Warmzeit« zu datieren, die 60000 Jahre dauerte (von 540000-480000) und von ihrer Position zwischen zwei Eiszeiten den Namen Günz-Mindel-Warmzeit erhalten hat. Es handelt sich um Steinwerkzeuge, die auf den ersten Blick erkennen lassen, daß sie aus einem Rohstück -meist Feuerstein dadurch hergestellt und »handgerecht« gemacht wurden, daß zahlreiche »Abschläge« vorgenommen wurden, deren Resultate sicherlich zum Teil ihrerseits als Spitzen oder Kratzer Verwendung fanden. Nach dem ersten Fundort wurde die Bezeichnung Abbévillien gewählt, und damit beginnt das Vorzeitalter des »Altpaläolithikums«.“ (Ebd., 1998, S. 95-96).

„Die entsprechenden Produkte der nächsten Warmzeit, der »Mindel-Riß-Warmzeit«, die von 430000 bis 235000 v. Chr. währte, erhielten die Bezeichnung Acheuléen, und die scharfen Augen der Fachleute entdeckten mancherlei Unterschiede, die es zu gebieten schienen, ein »Früh-«, »Mittel-« und »Spät-Acheuléen« sowie »Zweiseiter« und »Einseiter« zu unterscheiden und für die Einseiter eigene Bezeichnungen einzuführen. Aber das Laienauge vermag keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Faustkeilen des Abbévillien, des Früh- und Spät-Acheuléen wahrzunehmen, und sogar ein Fachmann spricht von einer Bevölkerung, »die über mehr als 400000 Jahre ihre Werkzeugformen nicht wesentlich veränderte«. In der Tat wird auf den Terminus »Abbévillien« nicht selten verzichtet, und dann reicht von 540000 bis zu 120000 Jahren v. Chr. das unvorstellbar langwährende und nur durch geringfügige Veränderungen gekennzeichnete Vorzeitalter des Acheuléen, also über eine Zeitdauer, welche die 6000 Jahre der bekannten Geschichte (**|**|**|**) um das Achtzigfache übertrifft und an nachweisbaren Veränderungen um ein Vieltausendfaches hinter ihr zurückbleibt - sofern eine solche willkürliche, aber anschauliche Quantifizierung als erlaubt gelten darf.“ (Ebd., 1998, S. 96).

„Auch die Riß-Würm-Warmzeit (180000-120000) ist noch durch Faustkeile vom Typ des Acheuléen gekennzeichnet, und ein neuer Typus taucht erst nach dem Beginn der letzten, für uns interessantesten und einigermaßen zugänglichen Eiszeit auf, der Würm-Eiszeit, die, ebenfalls von mehreren Interstadialen höherer Temperatur unterbrochen, 110000 Jahre bis 10000 v. Chr. währte. Dies ist die Eiszeit, die wir meinen, wenn wir davon sprechen, daß »einst« der größte Teil Nordeuropas so von Gletschern bedeckt war, wie es heute nur noch die nördlichsten bzw. südlichsten Gebiete der Erde sind, und von dieser Eiszeit glauben wir mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen zu können, daß zu ihrem Beginn etwa 100000 Menschen auf der ganzen Erde lebten, daß die Existenzbedingungen für diese Menschen an den Rändern der Eiszonen außerordentlich schwer waren und daß sie sich überwiegend von der Jagd auf Rentiere und Mammute ernährten, was zweifellos einen hohen Grad von Kooperation innerhalb der Gruppen und von tapferer Geschicklichkeit der Einzelnen voraussetzte.“ (Ebd., 1998, S. 96).

„Bis zu welchem Grade auch Sammeltätigkeit zum Lebensunterhalt beitrug, ist unklar; aus vergleichsweise sehr späten Funden, welche die Untersuchung des Mageninhalts erlaubten, ergab sich, daß unter noch durchaus vorzeitlichen Verhältnissen um 2000 v. Chr. die Nahrung weitgehend aus einer Art Grütze bestand und bloß geringen Nährwert hatte. Das mag aber in den besten Zeiten des eiszeitlichen Jägerdaseins ganz anders gewesen sein, und es gibt ernstzunehmende Forscher, die der Meinung sind, die Altsteinzeit sei ein »goldenes Zeitalter« gewesen; nie wieder hätten sich später die Menschen mit so geringem Zeitaufwand so viel und so gute Nahrung beschaffen können wie die eiszeitlichen Jäger. (Vgl. Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, 1985, S. 45). Anschaulichkeit ergibt sich für solche Thesen aber nicht aus Funden, sondern aus den Feststellungen der Ethnologen über primitive Völker der jüngsten Vergangenheit, etwa der Eskimos oder auch afrikanischer Stämme, die durch die absolute Vorherrschaft der Tradition und die daraus resultierende Veränderungslosigkeit gekennzeichnet waren und von denen ein moderner Forscher sagen konnte: »Sie sind glücklich. Sie haben keine Geschichte.« (Ebd., 1985, S. 242f.).“ (Ebd., 1998, S. 96-97).

„Damit ist schon eines der merkwürdigsten Merkmale der »Vorgeschichte« gegeben: Sie wird nur aus der Geschichte heraus zugänglich, da sie sich von sich aus nicht als Unterschiedenes erfassen kann und von sich selbst und ihrem Glück allenfalls ein mythisches Bewußtsein zu haben vermag. So erschien den Griechen und Römern vieles hinter ihren Grenzen als graue Vorzeit, d.h. als Vorgeschichte, was in Wirklichkeit nur wenige tausend oder gar einige hundert Jahre »hinter ihnen zurück« war - die Germania des Tacitus ist dafür ein Beispiel. Noch die Ethnologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts durften der Überzeugung sein, daß ihnen am Kongo oder in Neuguinea eine lebendige Vorgeschichte entgegentrete. Und diese anschaubare Gegenwart der Vergangenheit zerfiel für ihre geübten Augen wiederum in Stufen: Der eine Stamm in dieser Weltgegend mochte noch nicht über die Altsteinzeit hinausgelangt sein, während der andere schon die Stufe des Neolithikums, der Jungsteinzeit, repräsentierte.“ (Ebd., 1998, S. 97).

„Mit dem Ende des Altpaläolithikums vermehren sich die Gegenstände der Vorgeschichtsforschung außerordentlich, und allmählich gewinnt so etwas wie Erzählung und Schilderung neben der bloßen Beschreibung von Fundstätten und Überresten einen Platz. Nicht allzulange nach dem Beginn der Würm-Eiszeit nimmt etwa um 100000 v. Chr. der Stil des Moustérien seinen Anfang, und ihm sind auch die Neandertaler zuzuordnen, deren Zeit (Haupt-Zeit; HB) das Mittel-Paläolithikum von 100000 bis 40000 ist. Von den Neandertalern ist uns viel mehr überkommen als einige Steinwerkzeuge; Schädel sind nun in Grabstätten zu finden, und Reste von Beigaben lassen sich identifizieren. Dennoch bedeutet es eine qualitative Differenz, wenn neben Feuersteingeräten, die sich für das Auge des Laien immer noch nicht deutlich von denen des Acheuléen unterscheiden, in Fundstätten des Aurignacien, also des Jung-Paläolithikums, Elfenbeinschnitzereien auftauchen, mit denen ganz unverkennbar Wildpferde, Mammute und Höhlenlöwen dargestellt sind, und wenn eine Frauengestalt ins Blickfeld tritt, deren Geschlechtsmerkmale so sehr, aber fern jeder Lüsternheit, betont sind, daß es sich um eine mythische Figur handeln muß, vermutlich um eine »Magna Mater«, eine »Urmutter« - das Symbol von Fruchtbarkeit und schöpferischem Leben: die sogenannte Venus von Willendorf, die etwa auf das Jahr 30000 zu datieren ist.“ (Ebd., 1998, S. 97-98).

„Nun sind wir nicht mehr sehr weit von den ersten großen Kunstwerken der Menschheit entfernt, jenen Höhlenmalereien des Aurignacien und des Magdalénien, von denen heute mehr als 5000 entdeckt sind. Da treten dem Betrachter Wildpferde und Bisons voller Farbigkeit und Lebendigkeit entgegen, da sind Unebenheiten des Felsens ausgenützt, um reliefartige Figuren entstehen zu lassen, da tanzt ein Mensch, offenbar ein Priester oder ein »Schamane«, mit einer Tiermaske vor dem Gesicht und einem Gehörn auf dem Haupt. Aber es sind auch Darstellungen der gemeinsamen Jagd von Bogenschützen auf Hirsche oder von Frauentänzen vorhanden. Und das merkwürdigste ist: Alle diese Gemälde und Figuren finden sich tief im Inneren großer Höhlen wie Altamira bei Santillana del Mar in Spanien oder Lascaux in Frankreich, so daß sie offensichtlich nicht als Kunstwerke für die Betrachtung und Bewunderung einer zahlreichen Gemeinde vorgesehen waren. Sie dienten anscheinend vielmehr einem religiösen oder magischen Zweck, der auch in der Verborgenheit erfüllt sein konnte.“ (Ebd., 1998, S. 98).

„Selbst wenn es sich großenteils bloß um einen »Jagdzauber« handelte, der Macht über die Tiere verschaffen sollte, wird man sagen müssen, daß kein Schimpanse und kein Pavian je auf den Gedanken gekommen ist, er könne seine Jagdbeute dadurch vermehren, daß er sie an einem versteckten oder auch offenen Ort zur Darstellung bringe. Hier steht der Mensch in der Fülle seiner Möglichkeiten vor uns - jenes Wesen, das seit 100000 oder 200000 (oder 300000; HB) Jahren an den Endpunkt seiner Cerebralisation angelangt war und das daher in Zukunft nicht mehr von der Natur erhalten würde, was es an Lebensformen aus sich heraus entwickelte, so gewiß es immer nicht nur an die Natur außer ihm, sondern auch an die Natur in ihm gebunden blieb.“ (Ebd., 1998, S. 98).

„Aber dieser künstlerische, schon deutlich von seiner unmittelbaren Lebenswelt Abstand gewinnende, sie zum mindesten überhöhende Mensch des Jung-Paläolithikums kannte noch keinen Getreideanbau und keine Haustiere. Erst nach dem Jahre 10000, im »Mesolithikum«, finden sich erste Spuren von domestizierten Tieren und von geerntetem Getreide - von Hunden und Schafen auf der einen Seite, von Emmer und Weizen auf der anderen. Es scheint, daß dieser Übergang im »Natufien« des alten Palästina erfolgte, und mit ihm kamen erstmals Seßhaftigkeit, Arbeit und Vorratswirtschaft, ja vielleicht schon frühe Formen des Austausches zwischen Gruppen in die Welt. Wenn es eine »neolithische Revolution« gegeben hat, dann muß sie mit der Entstehung von Städten zusammengesehen werden; der Übergang vom Jägertum zum Bauerntum dagegen hat sich an vielen Stellen der Welt vollzogen, und er hing offensichtlich mit dem Beginn einer neuen Warmzeit um 10000-8000 v. Chr. zusammen, wodurch dieser Übergang sich gleichsam von selbst aufdrängte, so daß er als solcher mit dem Übergang zum »höheren Jägertum« in der Eiszeit auf eine Stufe gestellt werden kann. Daher muß noch in Kürze auf die vorgeschichtlichen Kulturen des mittleren und nördlichen Europa eingegangen werden, denn unser Blick wird in den nächsten Kapiteln ganz vorwiegend auf das Gebiet des »Fruchtbaren Halbmonds« gerichtet sein, wo der Durchbruch zur Geschichte stattfand.“ (Ebd., 1998, S. 98-99).

„Von »Kultur« darf man jedenfalls auch in diesem Gebiet sprechen, und die Leistungen dieser Vorzeitmenschen sind kaum weniger erstaunlich als die geschichtlichen Monumente der Pyramiden Ägyptens und der Städte Mesopotamiens. Es ist bis heute ungeklärt, wie diese Menschen es fertigbrachten, die ungeheuer schweren Steinblöcke von Stonehenge aufeinanderzutürmen, die Steinmale von Carnak in der Bretagne zusammenzubringen oder auch nur die Menhire und Dolmen aufzurichten, die in ganz Nord- und Westeuropa verstreut sind und heute oft als »Hünengräber« bezeichnet werden. Manches deutet darauf hin, daß Stonehenge eine astrale Kultstätte und möglicherweise sogar so etwas wie ein astronomisches Observatorium war, und manche Gelehrte vertreten die Auffassung, daß viele der Megalithgräber zu große Arbeitsleistungen erforderten, als daß es vorstellbar wäre, sie könnten von einigen dorfähnlichen Ansiedlungen in Gemeinschaftsarbeit errichtet worden sein, um den Toten eine Stätte zu geben; es müsse sich vielmehr um »Fürstengräber« handeln, und dadurch werde bewiesen, daß es auch in diesen vorgeschichtlichen Gemeinschaften große Differenzen zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Machtlosen gegeben habe.“ (Ebd., 1998, S. 99).

„Die Werke der Keramik stehen an Schönheit oft genug gegenüber der Keramik des Alten Orients und Ägyptens kaum zurück, und ein Kunstwerk wie der Sonnenwagen von Trundholm mit der von einem Pferd gezogenen goldenen Sonnenscheibe braucht sich vor keinem anderen Erzeugnis der gleichzeitigen Völker der Geschichte zu verbergen.“ (Ebd., 1998, S. 99).

„Aber es ist merkwürdig, daß die Vorgeschichtsforschung In diesem Bereich bis tief in das erste Jahrtausend vor Christus hinab ihre Bezeichnungen von Fundstätten oder Materialkennzeichen hernimmt, kaum anders als für das Acheuléen, und daß sie daher von »Band-« und »Schnurkeramikern«, von Glockenbecherleuten und der Trichterbecherkultur oder von dem »Streitaxt-Kreis« spricht, aber keine Verbindung zu Menschengruppen oder Völkern herstellt, die aus der antiken Geschichtsschreibung bekannt sind, etwa zu Germanen, Kelten und Illyrern oder auch zu den Indogermanen. Sie hat Grund zur Vorsicht, denn anders als das Acheuléen und auch die Neandertaler ist dieser Teil der Vorgeschichte häufig nicht mit wissenschaftlicher Unparteilichkeit untersucht worden, sondern mit nur allzu moderner und nationalistischer Zwecksetzung.“ (Ebd., 1998, S. 99-100).

„Andererseits erwuchs aus solchen Impulsen oft genug erst das lebendige Interesse für diese Wissenschaft, und in Deutschland ist Gustav Kossinna ein gutes Beispiel, der den ersten Lehrstuhl für vorgeschichtliche Archäologie in Berlin erhielt und dessen Hauptmotiv eingestandenermaßen das Bemühen war, die Gleichwertigkeit der indogermanischen sowie der germanischen Kultur mit den Kulturen des vorderen Orients unter Beweis zu stellen und im deutschen Volk »die Liebe zu seinen Vorfahren zu erwecken«.“ (Ebd., 1998, S. 100).

„Noch heute ist die Hypothese nicht als »widerlegt« anzusehen, der indogermanischen Ursprache, deren Existenz so gut wie unbestritten ist, habe ein indogermanisches Urvolk entsprochen und dieses Urvolk habe seinen Sitz in einem Gebiet gehabt, das von Norddeutschland bis in die Steppengebiete am Schwarzen Meer reichte.“ (Ebd., 1998, S. 100).

„Aber die vorgeschichtliche Wissenschaft muß jede rasche Verknüpfung des Vorgeschichtlichen und daher nur sehr bruchstückhaft Bekannten mit historischen Phänomenen und zummal historischen Interessen zurückweisen. Und vorgeschichtlich war die Bevölkerung West-, Nord-, Ost- und Mitteleuropas noch um 500 vor Christus, obwohl schon viel Handel getrieben und Kupfer sowie Salz, ja sogar Eisen gefördert wurde, denn diese Bevölkerung praktizierte zwar schon die Arbeitsteilung und sogar eine gewisse Professionalisierung, aber sie besaß keine Städte, und sie kannte keine Schrift. Die Bronzezeit gehört als solche nicht mehr zu den »Vorzeitaltern«, aber in vielen Gebieten der Welt dauerte sie noch lange fort, und das gleiche dürfte für das Neolithikum gelten, soweit es mehr bedeutete als den Übergang von dem eiszeitlichen Jägertum zum warmzeitlichen Bauerntum, der natürlich auf sehr ungleichmäßige und keineswegs vollständige Weise vollzogen wurde.“ (Ebd., 1998, S. 100-101).

„Bevor nun die Frage erörtert werden kann, ob eine »neolithische Revolution« oder der Gewinn der Schriftlichkeit den Anfang der Geschichte gebildet haben, soll umrißhaft skizziert werden, was einige bedeutende Autoren aus alter und neuerer Zeit zur »Vorgeschichte« gesagt haben, und zwar auch deshalb, weil das beschreibende und vorsichtige, allen »Spekulationen« abgeneigte Verfahren der Wissenschaft, das kaum irgendwo in den Geisteswissenschaften so ausgeprägt ist wie in der Vorgeschichte, allzuleicht die Folge hat, daß das Andersartige und Fremdartige der Vorgeschichte nicht mehr empfunden wird, weil man zu sehr auf das Finden und Beschreiben von Überresten fixiert ist. Wenn das Selbstverständnis der Moderne seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem wesentlichen Teil aus der Evolutionstheorie, d.h. aus der Naturgeschichte, gespeist wurde, so gilt ähnliches, wenngleich in beschränkterem Maße, für das Verhältnis zur Vorgeschichte. Herausragende Beispiele sind Johann Jacob Bachofen, der zum Ausgangspunkt für eine das Geschlechtsverhältnis herausstellende Interpretation wurde, und Lewis H. Morgan, dem sich Marx und Engels eng verbunden fühlten.“ (Ebd., 1998, S. 101).

„Ansätze zu einer solchen Deutung der Geschichte von der Vorgeschichte her finden sich allerdings schon in der Antike, so bei Hesiod, der das »Goldene Zeitalter« auf den Anfang der Welt verlegt und die ganze Geschichte als einen Prozeß des Abstiegs schildert, während der Aristoteles-Schüler Dikäarch aus Messene zwar auch das Hirtenleben und anfänglichen Ackerbau als glücklichen Urzustand beschreibt, aber dann doch zu einer Lehre vom allmählichen Fortschritt des Menschengeschlechts gelangt. Für Tacitus wiederum war in seiner Germania die glückliche Vorzeit des Dikäarch in einem Volk seiner Gegenwart verkörpert, in den Germanen, die als ein einfaches, unvermischtes und sittenreines Volk das Gegenbild zu der römischen Dekadenz und Sittenlosigkeit darstellten. Aber gerade von diesen Kriegern berichtet Tacitus, daß nach ihrer Meinung die Nacht dem Tag vorausgeht und daß einige ihrer Stämme »Nerthus, das heißt die Mutter (der) Erde«, verehren.“ (Ebd., 1998, S. 101).

„So hätte sich Johann Jacob Bachofen, der Schüler Savignys und Kollege Nietzsches an der Universität Basel, auch auf die Germania berufen können, als er seine Lehre vom »Mutterrecht« als dem Hauptkennzeichen der vorgeschichtlichen Kultur entwickelte und einer Interpretation einen mächtigen Anstoß gab, die erst heute in allen ihren Konsequenzen hervorgetreten ist, nämlich dem Verständnis der Geschichte vom Gegensatz der Geschlechter her.“ (Ebd., 1998, S. 101).

„Die »Gynaikokratie« ist für Bachofen eine allgemeine Phase der Menschheitsentwicklung, und sie ist charakterisiert durch »die kultliche Auszeichnung des Mondes vor der Sonne, der empfangenden Erde vor dem befruchtenden Meere, der finsteren Todesseite des Naturlebens vor der lichten des Werdens, der Verstorbenen vor den Lebenden, der Trauer vor der Freude ....« (Johann Jakob Bachofen, Mutterrecht und Urreligion, 1867, S. 10-99). Aber diese »demetrische« Erhebung des Muttertums, die unter anderern die Bevorzugung der Töchter bei der Erbfolge und die hervorstechende Rolle der mütterlichen Onkel für die Söhne nach sich zieht, bedeutet schon eine Erhebung über die vorhergehende und anfänglichste Stufe, »die volle, noch keinerlei Beschränkungen unterworfene Natürlichkeit des reinen, sich selbst überlassenen Tellurismus«, (ebd., S. 124), der mit dem »Hetärismus« identisch ist, der regellosen sexuellen Vermischung, die dem Sumpfleben in der Natur entspricht und erst allmählich zur ehelichen Strenge des landwirtschaftlichen Mutterrechts erhoben wird. Über weite Strecken des Bachofenschen Werkes kann man den Eindruck haben, daß er sich von dem romantischen Enthusiasmus für die »Nachtseite« des Lebens und für den Vorrang des mütterlichen Schoßes leiten läßt und der »inneren Größe der vorhellenischen Gesittung« ein Preislied singen will, »welche in der demetrischen Religion, ihrem Mysterium und ihrer zugleich kultlichen und zivilen Gynaikokratie einen von der späteren Entwicklung zurückgedrängten, vielfach verkümmerten Keim der edelsten Anlage besaß«. (Ebd., S. 110).“ (Ebd., 1998, S. 102).

„Aber dieser Eindruck täuscht, sofern man daraus »feministische« Konsequenzen ableiten will. Bachofen ist ein entschiedener Vertreter des »Paternitätsprinzips« als der höchsten Stufe der geschichtlichen Entwicklung. Der kosmischen Kraft der Sonne schreibt er den unbedingten Vorrang vor der Erde zu, jener Kraft, die auf der Stufe des Apollinismus als »die wechsellose Quelle des Lichts« verstanden wird, welche »alle Idee der Zeugung und Befruchtung, alle Sehnsucht nach der Mischung mit dem weiblichen Stoffe unter sich zurückläßt«. Und so kann Bachofen im Muttermord des Orest die mythische Verbildlichung des Sieges »des Vatertums über das chthonische Mutterprinzip« sehen, den Sieg des Tages über die Nacht, der rechten über die linke Seite, und damit erhebt sich für ihn ein neues Weltalter auf den Trümmern des alten - das apollinische. (Vgl. Johann Jakob Bachofen, Mutterrecht und Urreligion, 1867, S. 149).“ (Ebd., 1998, S. 102).

„So weit sich Nietzsche später von Bachofen entfernt hat, bleibt er mit einem Faden seines Denkens doch immer ebensosehr mit diesem Baseler Kollegen verbunden wie mit jenem anderen, mit Jacob Burckhardt. Marx aber, den Nietzsche sicherlich als seinen eigentlichen Widerpart bezeichnet hätte, wenn er ihm bekannt gewesen wäre, war seinerseits ebenso wie Engels im Hinblick auf die Vorgeschichte eng mit einem Mann verbunden, der auf ähnliche Weise wie Bachofen eine ambivalente Einschätzung zu erkennen gab, mit Lewis H. Morgan. Dieser läßt die Menschheit durch sieben Stufen hindurchgehen: drei der »Wildheit«, drei der »Barbarei« und dann die Zivilisation. Er orientiert sich dabei vornehmlich an den nordamerikanischen Indianern, zumal den Irokesen, die er gründlich studiert hatte, und auch bei ihm kann man über weite Strecken den Eindruck haben, daß er in deren Stammes- oder »Gentil«organisation ein Ideal sieht, von dem die moderne Zeit abgefallen ist.“ (Ebd., 1998, S. 102-103).

„Eine Gens ist eine Gesamtheit von Blutsverwandten, die von einem gemeinsamen Urahnen abstammt, und ihre Institutionen sind nicht herrschaftlich oder aristokratisch, mithin überhaupt nicht »staatlich«, sondern demokratisch, auf die Gleichberechtigung aller einschließlich der Frauen gegründet und durch »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« gekennzeichnet. Ursprünglich waren alle Mitglieder der gleichen Gens einander auch in dem Sinn Brüder und Schwestern, daß jede Frau die Frau aller ihrer Brüder und jeder Mann der Mann aller seiner Schwestern war, daß man also in einem Zustand regellosen, wenngleich auf die Gens begrenzten, Geschlechtsverkehrs lebte, den Bachofen »Hetärismus« nannte.“ (Ebd., 1998, S. 103).

„Allmählich entwickeln sich daraus die »Punalua-Familie« als enge begrenzte Einheit und am Ende die monogamische Familie. Man könnte annehmen, diese Entwicklung stelle für Morgan eine Dekadenz dar, denn er kritisiert den zivilisierten Zustand der Alleinherrschaft des Geldes auf das schärfste. Da die geschichtliche Entwicklung eine ständige Vergrößerung der Ungleichheit bedeutet und das Hervortreten aristokratischer Klassen impliziert, liegt auf ihr ein höchst negativer Akzent. Aber an vielen Stellen drückt Morgan sich nicht viel anders aus als Auguste Comte: Die Menschheit hat sich »emporgearbeitet«, und der Menschengeist bewegt sich für ihn von der Kindheit im Zustand der Wildheit »bis zu seiner gegenwärtigen Höhe«. (Lewis H. Morgan, Die Urgesellschaft, 1877). Einen Ausweg aus diesem Widerspruch bietet nur der Gedanke, »daß die Demokratie, die einstmals in einer unentwickelten Form eine allgemeine Einrichtung gewesen und die jetzt in vielen zivilisierten Staaten unterdrückt ist, die Bestimmung hat, auf einer höheren Stufe wieder allgemein zu werden«. (Ebd., S. 289).“ (Ebd., 1998, S. 103).

„Den wichtigsten Ansatz dazu sieht Morgan in der Selbstverwaltung der us-amerikanischen Gemeinden und »Grafschaften«, und auch in diesem Punkt hätten Marx und Engels, die sich häufig auf ihn beriefen, ihm zustimmen können. Man fragt sich allerdings, ob Morgan, der an seiner Hochschätzung der Monogamie nicht den geringsten Zweifel läßt, auch die Punalua-Familie »auf höherer Stufe« wiederhergestellt sehen möchte, und die Vorkämpfer allgemein-menschlicher Egalität müssen an der Selbstverständlichkeit schweren Anstoß nehmen, mit der Morgan von »höheren« und »niederen« Rassen spricht und »die arische Völkergruppe« den »Hauptstrom des menschlichen Fortschritts« repräsentieren läßt, so daß sie mit vollem Recht »die Herrschaft über die ganze Erde sich aneignete«. (Ebd., S. 475).“ (Ebd., 1998, S. 103-104).

„“Die Vorgeschichte war also nie und ist auch heute nicht die ausschließliche Domäne der »wissenschaftlichen Vorgeschichtsforschung«, denn man kann offenbar über »Geschichte« nur sprechen, wenn man auch einen Begriff von »Vorgeschichte« hat. Aber für den Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte haben auch Fachwissenschaftler einen sehr modernen, lange Zeit modischen Begriff gebraucht, nämlich den der »Revolution«. (Ebd., 1998, S. 104).

11) Der Anfang der „Geschichte“: „Neolithische Revolution“ oder „Schriftlichkeit“?

„Der Terminus »Neolithische Revolution« stammt von dem englischen Prähistoriker V. Gordon Childe, und er hat breite Zustimmung gewonnen, nicht zuletzt vermutlich wegen der (manchmal negativen) Popularität des Begriffs »Revolution«. »Revolution« meint vor allem einschneidende Änderung, aber normalerweise gehören auch die Schnelligkeit und die Gewaltsamkeit hinzu, mit denen eine neue Lebensform ins Dasein gelangt. Diese zweite, eher politische Bedeutung, die einen Terminus wie »französische Revolution« wesentlich bestimmt, ist hier offenkundig fernzuhalten, denn das Neolithikum umfaßte mehrere tausend Jahre, und es gingen ihm ebenfalls Tausende von Jahren einer Vorbereitungszeit vorher.“ (Ebd., 1998, S. 104 ).

„Wenn jedoch, grob gesprochen, der Übergang von der Sammeltätigkeit und der Jagd zur Bebauung des Bodens und zur Domestizierung von Tieren gemeint ist, dann hat es in der Tat kaum je eine so tiefgreifende Veränderung des menschlichen Lebens gegeben, und die Parallelisierung mit der »Industriellen Revolution« ist ungemein einleuchtend. Auch das »höhere Eiszeitjägertum« bedeutete noch ein Leben »von der Hand in den Mund«, und die Situation änderte sich erst auf grundlegende Weise, als die Sammler anfingen, das zu Sammelnde zu fixieren und damit gewissermaßen ins Leben zu rufen, indem sie Felder abgrenzten und besäten, um nach einigen Monaten des Wartens einen sicheren Ernteertrag zu haben, und als die Jäger die Tiere nicht mehr nur jagten, sondern auch pflegten und aufzogen, um sie nach geraumer Zeit - vielleicht erst nach Jahren - schlachten und verzehren zu können.“ (Ebd., 1998, S. 104).

„Hier wären zahllose Differenzierungen vorzunehmen, wenn es uns darauf ankäme, über möglichst viele Ergebnisse der prähistorischen Wissenschaft zu berichten, aber die Feststellung soll genügen, daß die »Dorfgemeinschaft« eine der frühesten und dauerhaftesten Realitäten des menschlichen Daseins ist. Oft genug werden Dorfgemeinschaften gezwungen gewesen sein, sich gegen Angriffe zu verteidigen, und so war nahezu jeder Bauer potentiell ein Krieger. Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß gegen Ende des Neolithikums ganz Europa und Vorderasien lediglich ein Nebeneinander gleichartiger Dörfer dargestellt hätten: Die Erträge des Landes sind unterschiedlich nach Bodenqualität, Witterungsbedingungen und aufgewandter Arbeit; manche Gebiete sind reicher und manche ärmer; die Dorfältesten der reicheren und größeren Dörfer wurden vielleicht zu einer Art »Fürsten«, welche imstande waren, die Arbeit von vielen zu organisieren, etwa zum Zweck der Errichtung von »Megalithbauten«; es mochten sich sogar ganze Fürstengruppen, »herrschende Schichten«, gebildet haben, wenn es richtig ist, daß etwa die Träger der »Urnenfelderkultur« die Träger der Trichterbecherkultur unterworfen und zur Leistung von Abgaben gezwungen hatten. Nichts war »natürlicher« als eine solche »Ausbeutung«: Das ausgesäte Korn trägt zehn- und zwanzigfache, möglicherweise hundertfache Frucht, fast überall produziert jeder Bauer mehr, als er für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie benötigt; aus der Ethnologie ist bekannt, daß solche Überschüsse in genossenschaftlich organisierten Dörfern oder auch Stämmen den Häuptlingen als Geschenke dargebracht und von diesen häufig als Zeichen des Prestiges auf eine für alle sichtbare Weise dem Verrotten preisgegeben wurden. Aber diese Überschüsse mochten auch in die Gräber der Toten investiert oder von einem »Fürsten« als Abgabe eingezogen werden; jedenfalls besteht kein Zweifel, daß schon die landwirtschaftliche Welt des Neolithikums von jener Egalität weit entfernt war, die auch in Jäger- und Sammlergruppen nur auf eingeschränkte Weise verwirklicht ist, kaum anders als in Schimpansen- oder Pavianhorden.“ (Ebd., 1998, S. 105).

„Es läßt sich ferner nachweisen, daß es im Neolithikum bereits Anfänge des Handels gegeben hat, und daraus kann die großräumige Beeinflussung entstehen, auf welche der sogenannte Diffusionismus sich stützt, jene der Spenglerschen Vorstellung vom pflanzenhaft-autonomen Herauswachsen der Kulturen aus den jeweiligen Landschaften (**) schroff entgegengesetzte Lehre, die, um etwas vorzugreifen, darauf verweisen kann, daß Bernsteinschmuck im Mittelmeerraum und minoische Spangen an der Nordseeküste gefunden wurden.“ (Ebd., 1998, S. 105).

„Handel bringt stets auch Rohstoff zu Kunstfertigkeit und die Produkte der Kunstfertigkeit zu den Rohstofflieferanten, und Rohstoffe wie etwa Feuerstein gab es im Neolithikum ebenso wie erste Anfänge der spezialisierung unter Handwerkern und Betreibern von Salzbergwerken. Man kann also abkürzend sagen: Der Übergang zur Landwirtschaft im Neolithikum bedeutete, bildlich gesprochen, eine solche Verstärkung des »Kartoffelwaschens« (**), d.h. des schon bei Tieren feststellbaren »Vorkulturellen«, daß die Frage geboten ist, ob »die Kultur«, d.h. das Erworbene, Erlernte, von Generation zu Generation Weitergereichte und allmählich Verbesserte, nicht jetzt schon für den Menschen wichtiger war als die instinktmäßige Ausstattung, die ihn blitzschnell reagieren ließ, wenn er von einem Tier angegriffen wurde oder in sumpfigem Boden zu versinken drohte.“ (Ebd., 1998, S. 105-106).

„Gleichwohl ist an dem Begriff der »Neolithischen Revolution« häufig Kritik geübt worden. Prähistoriker haben darauf hingewiesen, daß die als konstitutiv geltenden Grundzüge - der Steinschliff, die Kenntnis der Tonerde und damit eine erste Keramik, die Domestikation von Tieren und der Anbau von Getreide - sich bereits im Mesolithikum nachweisen lassen. (Vgl. Propyläen-Weltgeschichte, 1. Band [Vorgeschichte - Frühe Hochkulturen], 1961, S. 229ff.). Aber wie immer es mit der zeitlichen Erstreckung bestellt sein mag, wichtiger ist, daß sogar das vollentwickelte Neolithikum, soweit es durch Dörfer mit Landwirtschaft geprägt ist, noch ganz dem »vorgeschichtlichen« Bereich zugehört.“ (Ebd., 1998, S. 106).

„Wir haben schon festgestellt, daß die prähistorische Forschung sogar für die Zeit des zweiten Jahrtausends vor Christus in Mittel- und Nordeuropa keine (geschichtlichen) »Ereignisse« aufzuweisen vermag, sondern sich in der Regel damit begnügen muß, Funde zu charakterisieren und Fundstätten danach zu benennen. Freilich können und müssen mancherlei Vermutungen angestellt werden. Es ist ein naheliegender Gedanke, daß die Menschen der »-Streitaxt-Kultur« die Bezeichnung »kriegerische Herrenvölker« verdienen und daß sie bei ihrem Vordringen große Siedlungsräume der Bandkeramiker in Besitz genommen haben. Daher wäre zu fragen, ob es sich dabei nicht »objektiv« um ein großes geschichtliches Ereignis handelte, das nur deshalb den Prähistorikern überlassen werden muß, weil uns die Möglichkeit fehlt, in die Entschlußbildung jener »Aristokraten« hineinzuschauen, die aller Vermutung nach die Zeichen zum Aufbruch und gegebenenfalls zum Angriff gaben, oder gar eine Person wie später den »Arminius« namhaft zu machen, der uns aus der römischen Geschichtsschreibung bekannt ist. Würde die »Varus-Schlacht« weniger ein geschichtliches Ereignis sein, wenn keine Nachricht nach Rom gedrungen wäre und wenn lediglich die Prähistoriker eine Anzahl von Waffen und Geldmünzen ausgegraben hätten? Aber wenn im Teutoburger Wald nur zwei Germanenstämme miteinander gekämpft hätten, dann würden keine Geldmünzen gefunden worden sein, und kein Geschichtsschreiber hätte die berühmten, wenngleich möglicherweise fiktiven Worte des obersten Befehlshabers aufgeschrieben: »Vare, Vare, redde legiones!«“  (Ebd., 1998, S. 106-107).

„Die Abwesenheit von Geschichtsschreibung ist nicht bloß das zufällige Fehlen eines Berichterstatters, vielmehr fehlt mit dem Geschichtsschreiber auch das Geld und fehlen die Städte, die dessen Voraussetzungen sind. Landwirtschaft, Viehzucht, Dörfer und selbst Bevölkerungsbewegungen oder Kriegszüge reichen nicht aus, um »Geschichte« hervorzubringen, und sogar der Begriff des »Vollneolithikums« dürfte nicht zu bilden sein, wenn man die Existenz der ersten Städte nicht einbezieht.“ (Ebd., 1998, S. 107).

„Die älteste Stadt der Menschheit scheint Jericho zu sein, und jedenfalls ist es die einzige Stadt der Vorgeschichte, die heute noch existiert und gedeiht, ja abermals für die Geschichte bedeutsam wurde. Das neolithische Jericho war eine Stadt mit nahezu 2000 Einwohnern, die ihre Toten unter den Wohnräumen bestatteten und die Schädel mit Ton übermodellierten sowie mit Muscheln schmückten, so daß auf einen Ahnenkult geschlossen werden darf. (Vgl. Hans J. Nissen, Grundzüge einer Geschichte der Frühzeit des Vorderen Orients, 1983, S. 38). Ferner wurden Reste von starken Stadtmauern und von einem gewaltigen Wehrturm entdeckt. Nichts ist wahrscheinlicher, als daß dieser so sehr hervorstechende Ort, der wegen seiner ergiebigen Quelle auch heute noch eine blühende Oase inmitten von kahler Wüste ist, zum Objekt der Begehrlichkeit von Nomaden geworden ist, die erstmals einen Vergleich anstellen und sich als benachteiligt empfinden konnten. In der Tat ist diese früheste Stadt Jericho anscheinend bald zerstört und möglicherweise von denjenigen wiederaufgebaut worden, zu deren Abwehr die Befestigungsanlagen errichtet worden waren.“ (Ebd., 1998, S. 107).

„Wie in einer winzigen Nußschale dürfte sich hier zum erstenmal abgespielt haben, was dann später zu einer Grundwirklichkeit der Geschichte werden sollte: Die Stadt wurde zum ersten neiderregenden Gegenstand für größere Mengen von Menschen, und sie war von Anfang an das Objekt des Abwehrwillens und wohl auch des Stolzes der Einwohner. Es ist nicht auszuschließen, daß es in Jericho schon Ansätze zu einer sozialen »Stratifikation«, gab, d.h. zur Bildung von Schichten mit unterschiedlicher Lebenshaltung. Aber wirklich Sicheres ist in dieser Hinsicht nicht eruiert worden.“ (Ebd., 1998, S. 107).

„Sehr viel besser unterrichtet sind wir über eine andere Stadt des Neolithikums, die für Jahrtausende völlig vergessen war und dann hauptsächlich durch die Bemühungen eines einzigen Prähistorikers, James Mellart, weitgehend freigelegt und erforscht wurde: Çatal Hüyük im Südteil Anatoliens. Diese Stadt hatte keine Mauern, weil sie als ganze ein Verteidigungssystem war: Man konnte in die dicht aneinander gebauten Häuser nur von oben mittels Leitern hineinkommen. Im Inneren zeigte sich den staunenden Ausgräbern eine Fülle von Kultgegenständen: Große Stierhörner ragten aus den Innenwänden heraus, Nachbildungen weiblicher Brüste fanden sich stilisiert an ihrer Seite, bemalte Reliefbilder von gefleckten Leoparden fielen ins Auge, es wurde sogar eine Art Stadtplan mit einem Vulkan im Hintergrund aufgedeckt, offensichtlich eine Abbildung von Çatal Hüyük selbst.“ (Ebd., 1998, S. 107-108).

„Erbaut wurde diese Stadt wohl um 7000 v. Chr., und offensichtlich spielten in ihr Fruchtbarkeitskulte eine zentrale Rolle. Es wurde sogar vermutet, daß es sich bei den ausgegrabenen und erst einen Teil der Stadt ausmachenden Häusern um eine Art von Kapellen handelte, um Kulträume, die von einer Priesterschicht bewohnt wurden. Eine symbolische Bedeutung mußten auch die Wandgemälde haben, welche Menschen ohne Köpfe und verfolgende Geier darstellten. Sehr auffallend waren die vielen Abbildungen oder Schattenrisse von Händen. Die größte Überraschung war eine kleine Plastik von noch nicht 20 cm Höhe, die eine gebärende Frau in einem von zwei Tieren gebildeten Sessel darstellte.“ (Ebd., 1998, S. 108).

„Es ließ sich nachweisen, daß die Bewohner die Viehzucht kannten und Schafe sowie Rinder hielten; sie bauten drei Sorten von Weizen sowie Gerste, Erbsen und Hülsenfrüchte an; gejagt wurden Hirsche, Wildesel, Wildschweine und Leoparden, auch der Fischfang war geläufig. Aus Eicheln, Mandeln und Pistazien wurde Öl gewonnen, und möglicherweise gab es auch schon Wein und Bier. Viele Obsidianspitzen wurden gefunden, die vermutlich aus der vulkanischen Umgebung stammen; mit hoher Wahrscheinlichkeit waren sie auch Gegenstände des Handels.“ (Ebd., 1998, S. 108).

„Mellart sah es als besonders bemerkenswert an, daß der offenkundige Zusammenhang von Landwirtschaft und Fruchtbarkeitskult zwar Symbole des Geschlechtslebens wie Brüste und Stierhörner in den Mittelpunkt stellte, aber an keiner Stelle Obszönität erkennen ließ. Er schließt daraus, daß die Frauen die Hauptrolle in dieser Kultur spielten, da die »Hervorhebung« von »Sex« immer auf männliche Impulse und Begierden zurückgehe, und damit stimmt es gut zusammen, daß in den Abbildungen von göttlichen Familien die Mutter stets die erste Stelle einnimmt, während der Vater erst hinter der Tochter und dem Sohn seinen Platz findet. (Vgl. James Mellart, Çatal Hüyük, 1967, S. 60). Wenn Johann Jakob Bachofen bei den Ausgrabungen hätte anwesend sein können, würde er seine Konzeption von der ursprünglichen Mutterreligion wohl bestätigt gesehen haben.“ (Ebd., 1998, S. 108).

„Ob Mellart recht hat, wenn er eine tiefe soziale Ungleichheit zwischen der von gewöhnlicher Arbeit freigestellten Priesterklasse und der Masse des einfachen Volkes annimmt, muß dahingestellt bleiben; sicher ist jedenfalls, daß zahlreiche Luxusgegenstände wie z.B. Obsidianspiegel gefunden wurden, und jedenfalls scheint die Vermutung begründet zu sein, daß »Luxus«, d.h. die Existenz von Gegenständen, die zur Lebensfristung nicht erforderlich sind und den Zielen von Bequemlichkeit und Schönheit, also der Sublimierung, dienen, mit in die Definition von »Stadt« hineingenommen werden muß; schon die später so verbreitete, in Jericho und Çatal Hüyük allerdings noch nicht vorhandene Institution des »Stadtkönigtums« weist darauf hin.“ (Ebd., 1998, S. 108-109).

„Halten wir fest: Im frühen Neolithikum, in der Zeit von ca. 8000 bis 6000 v. Chr., sind in Vorderasien bereits Städte oder stadtähnliche Siedlungen, Gruppen- und vielleicht auch Völkerbewegungen, Ackerbau und Viehzucht, Handel, dem Kult dienende Kunst und Luxusgegenstände zu finden, aber Jericho und Çatal Hüyük sind winzige Punkte innerhalb eines riesig großen, von Jägerclans und kleinen Dörfern bestimmten Gebietes. Diese ganze Welt wird uns durch Funde von Überresten zugänglich, aber sie spricht nicht zu uns, und wir erfahren nichts von Staaten, Reichen, Königen, persönlichen Göttern und Geld, d h. einem anerkannten Tauschmittel. Ein völlig neuer Zustand kann erst eintreten, wenn die Bevölkerung dichter wird, wenn die Städte zahlreicher und größer sind, wenn zentrale Autoritäten auftreten, etwa in Form des »Stadtkönigtums«, und wenn all diese neue Komplexität erhalten und tradiert werden kann.“ (Ebd., 1998, S. 109).

„Eine solche Erhaltung und Tradierung ist aber schwerlich möglich ohne die Schrift. Wir finden die Schrift, ein System von Städten, gut organisierten Austausch, weitgehende Arbeitsteilung, kriegsbereite, aber auch Frieden stiftende Staatsgebilde von etwa dem Jahr 3000 v. Chr. (schon eher! HB) an in den Flußtälern des Euphrat, des Tigris und des Nil sowie einige Zeit später an der Ostküste des Mittelmeers, und diesen »Hochkulturen« werden die nächsten Kapitel gewidmet sein. Jetzt ist vorgreifend danach zu fragen, wie die Schrift und ihre Möglichkeiten zu charakterisieren sind.“ (Ebd., 1998, S. 109).

„Schrift ist offenbar etwas anderes als bloße Nachricht. Auch der Warnruf einer Grünen Meerkatze ist eine Nachricht, auch Feuerzeichen vermitteln Informationen; die Sätze der menschlichen Sprache enthalten in der Regel Mitteilungen. Schrift bedeutet Fixierung und weite Mitteilbarkeit; ihre einfachste Gestalt ist die Bilderschrift, die ein Bild oder einen Umriß des gemeinten Gegenstandes einer neutralen Grundlage einprägt, etwa einem Obelisken, einer Tontafel oder einer Papyrusrolle. (**). Ein König läßt sich z.B. durch einen Mann darstellen, der eine Krone auf dem Haupt trägt, die Sonne durch einen Kreis mit einem Punkt in der Mitte, ein Soldat durch einen Mann, der einen Bogen in der Hand hat. Wenn man den Satz »Die Sonne - d.h. der Sonnengott - schützt den König und seine Soldaten« festhalten und späteren Zeiten überliefern will, so lassen sich die drei Substantive als Bildzeichen, als Piktogramme nebeneinander reihen, und das Verb »schützen« läßt sich etwa durch das Bild einer Mauer symbolisieren.“ (Ebd., 1998, S. 109-110).

„Schon einfache Sätze kommen also ohne symbolische Zeichen, insbesondere für abstrakte Handlungen oder Begriffe, schwerlich aus, aber im Prinzip hat eine solche Bilderschrift den außerordentlichen Vorzug, allgemeinverständlich zu sein und sozusagen den Zustand, der nach der biblischen Erzählung vor der »babylonischen Sprachverwirrung« herrschte, wiederherzustellen: Wer heute auf einem noch so entfernten Flughafen ankommt, erkennt an dem vereinfachten Bild eines Autos sofort, wohin er sich begeben muß, um ein Taxi zu finden.“ (Ebd., 1998, S. 110).

„Der ebenso außerordentliche Nachteil ist, daß eine unermeßliche Fülle von Zeichen erforderlich wäre, um die Unzahl von konkreten Gegenständen und zumal ihrer möglichen Beziehungen untereinander wiederzugeben. Was aber in der Sprache immer wiederkehrt, sind bestimmte Laute und auch schon einzelne Silben. Die Entwicklung ging historisch in der Weise vor sich, daß die Piktogramme für kurze, zunächst einsilbige Wörter für diese Silbe auch dann eintreten können, wenn nur eine lautliche und keine sinnmäßige Identität vorliegt.“ (Ebd., 1998, S. 110).

„Durch Vereinfachung und Vervielfältigung der Piktogramme und die reichliche Verwendung der Silbenzeichen kann eine solche Schrift sehr rasch einen Charakter annehmen, der kaum noch Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen und anschaulichen Zustand hat. Sowohl die Bilderschrift der ägyptischen Hieroglyphen wie die Keilschrift der Sumerer und Akkader waren von jener Einfachheit des »Sonnen«- oder »Taxi«zeichens weit entfernt, und sogar die ägyptische Schrift schien auf dem Wege zu derjenigen Schriftart zu sein, die uns als die »natürliche« erscheint, nämlich zur Buchstabenschrift, weil z.B. das Bild einer Vogelart etwa die Buchstaben »rn« oder »r« zu vertreten scheint. In Wirklichkeit handelte es sich für die Ägypter aber immer um kurze Silben, und wenn ein ägyptischer Text von den Ägyptologen in unsere Schrift umgesetzt wird, ergeben sich Lautreihen, die uns ganz fremdartig berühren, wie etwa »jb ktl mnr«, denn es fehlen die Vokale.“ (Ebd., 1998, S. 110).

„Der Weg zur Lautschrift führte über die Konsonantenschrift, und er wurde vornehmlich von den semitischen Sprachen eingeschlagen, die aber ebenso wie die ägyptische Schrift auch »Determinative« aufwiesen, d.h. stumme Deutezeichen, mit denen z. B. Götter von gleichnamigen Menschen unterschieden wurden. Was eine Konsonantenschrift ist und worin deren Schwierigkeit besteht, ist jedem bekannt, der sich jemals mit dem Hebräischen beschäftigt hat: Das Wort für »König« wird »mlk« geschrieben, und wenn nicht später Vokalisierungszeichen eingeführt worden wären, die aber in den offiziellen Ausgaben des Bibeltextes fehlen, würden wir nicht wissen, daß die Aussprache »melek« war.“ (Ebd., 1998, S. 110-111).

„Kein Gedanke scheint also näherzuliegen als der, diese Schwierigkeit auf die denkbar einfachste Weise zu beheben, nämlich durch die Einführung von Vokalzeichen. Es dauerte indessen mehr als 2000 (noch länger! HB) Jahre, bis dieser Schritt getan wurde, indem die Griechen das nur noch aus ca. 30 Konsonantenzeichen bestehende »phönikische Alphabet« dadurch veränderten, daß sie verschiedene in ihrer Sprache unnötige Zeichen wie etwa das »Aleph« für die Vokale benutzten. Erst damit entstand die einleuchtendste und am meisten »demokratische«, d.h. leicht zu erlernende, Form der Buchstabenschrift, die heute mit der gravierenden Ausnahme des Chinesischen, das den Charakter der Bilderschrift bewahrt hat, in der ganzen Welt vorherrscht.“ (Ebd., 1998, S. 111).

„Damit ist nach der Konsonantenschrift die Stufe der eigentlichen Lautschrift erreicht, welche alle Bedeutungen auf unmißverständliche Weise wiederzugeben vermag, aber keinerlei Ähnlichkeit mit den gemeinten Sachen mehr aufweist und daher an die jeweiligen Sprachen gebunden ist. So fragwürdig der Satz »Ex oriente lux« sicherlich ist, so wenig läßt sich die in etwa parallele Aussage bestreiten: »Ex oriente litterae.«“ (Ebd., 1998, S. 111).

„Für die zahlreichen und oftmals sehr interessanten Einzelheiten dieser Entwicklung und für die Fülle verschiedener Schriftgestalten ist auf die Literatur zu verweisen (**) abschließend ist aber zu fragen, worin das Eigentümliche der Schrift als solcher in ihren wenigen Grundformen besteht.“ (Ebd., 1998, S. 111).

„Schon das Wort verleiht der punktuellen Feststellung Dauer und macht sie »erinnerungswürdig«. »Der König Agamemnon kämpft mit seinem Heer um diese Stadt«, mochten die Bewohner der Umgebung von Troja konstatieren, und obwohl der artikulierte Laut sofort verschwand, konnte die Bedeutung von Person zu Person und sogar von Generation zu Generation weitergegeben werden. Vielleicht machten die Nachfahren ein Heldenepos aus demjenigen, was die Zeitgenossen oder die Rückkehrer einander bloß erzählt hatten, und ganze Jahrhunderte mochten solche Lieder tradiert, verändert und neu zusammengefügt haben - auf diese Weise ist vermutlich die Ilias entstanden.“ (Ebd., 1998, S. 111).

„Aber wenn es keine Sänger mehr gab, starb das Epos, und es konnte nie wieder lebendig werden. Die einfachen Bildzeichen jedoch, die den ägyptischen Pharao auf sechs Lotosblüten sitzen lassen und stilisierte Schilfpflanzen vor ihn stellen, fixierten das Ereignis der Gefangennahme von 6000 Feinden bei einem Feldzug gegen das Schilfland im Nildelta grundsätzlich für immer: Es mochte vergessen werden, aber es war zu rekonstruieren, wenn Geschichtsschreiber das unbekannte Archiv entdeckten, in dem diese Schriftzeichen verwahrt worden waren.“ (Ebd., 1998, S. 111).

„Die Schrift ist die objektivierte, damit aber auch dem lebendigen Leben potentiell entzogene Erinnerung, sie bedeutet einen gewaltigen Schritt der Abstraktion von dem konkreten Vorgang, aber eine Abstraktion, die zugleich Konservation und der Möglichkeit nach eine endlose Addition ist. Das Festhalten von Absprachen und Erinnerungen durch die Schrift, der gewaltige Schritt der bewahrenden und auslesenden Abstraktion, der den entsprechenden Schritt der (gesprochenen) Sprache weit überholt, war offenbar die Grundvoraussetzung dafür, daß aus dem Geschehen Geschichte wurde, und wir haben uns nun den »Hochkulturen« zuzuwenden, mit denen die »historische Existenz« ihren Anfang nimmt. Das früheste Beispiel ist das »Zweistromland«, ist die Kultur der Sumerer, die meist als die »Kultur von Sumer und Akkad« bezeichnet wird und von der das Buch eines bekannten Sumerologen sagt: »Geschichte beginnt mit Sumer.« (Samuel Noah Kramer, Geschichte beginnt mit Sumer - Berichte von den ursprüngen der Kultur, 1959).“ (Ebd., 1998, S. 112).

B) Schema der „historischen Existenz“

19) Die Religion: A. Die Götter (S. 181-188)
20) Die Religion: B. Der Gott (S. 189-196)
21) Herrschaft - Schichtung - Staat (S. 196-207)
22) Adel - Sublimierung - Staat (S. 207-215)
23) Krieg und Frieden (S. 215-224)
24) Das Aufbegehren und die Anfänge einer „Linken“ (S. 224-234)
25) Geschichtsschreibung und Superioritätsbewußtsein (S. 234-244)
26) Stadt und Land (S. 244-252)
27) Schulbilung und Wissenschaften (S. 252-258)
28) Die Ordnungen des Allatgs (Sexualität, Ökonomie) (S. 258-268)
29) Dynamik, Fortschritte, Emanzipation (S. 269-278)

21) Herrschaft - Schichtung - Staat

„Es ist ein verfehltes Unternehmen, nur den Staaten der europäischen Neuzeit den Staatscharakter zusprechen zu wollen. Aber umstritten ist, ob auch in der Vorgeschichte bereits Herrschaft, Schichtung und Staat zu finden sind, und es ist eine sowohl uralte wie moderne These, daß es in der Nachgeschichte Herrschaft, Schichtung und Staat nicht mehr geben wird.“ (Ebd., 1998, S. 197).

„Das stärkste und allerdings auch fragwürdigste Gegenargument zu solchen Annahmen und Vermutungen besteht darin, mindestens Herrschaft in der Natur begründet zu sehen. Die »Klumpen« Kants oder die »Akkretionen« der modernen Naturwissenschaft ordnen sich je nach Größe und Kraft: Verdichtungen kosmischen Staubes ziehen kleinere Verdichtungen an sich heran und bilden schließlich Weltkörper; die Planeten kreisen um die Sonne, weil sie von deren Schwerkraft gleichsam eingefangen sind. Die größere Masse, die stärkere Kraft unterwirft sich die kleinere Masse, die schwächere Kraft; im Verhältnis der Himmelskörper untereinander gibt es keinerlei Unterscheidung zwischen Macht und Recht.“ (Ebd., 1998, S. 197).

„Aber ein so umfassender Begriff von »Herrschaft« ist sicherlich unzulässig; unzweifelhaft richtig ist nur so viel, daß im Kosmos Weltkörper von ganz unterschiedlicher Größe und Stärke existieren und daher verschiedene Grade von Abhängigkeiten zu konstatieren sind. Es wäre indessen nichts als eine bloß metaphorische Ausdrucksweise, wenn man das Sonnensystem als einen »Staat« bezeichnen wollte, der um die Sonne herum gebaut sei.“ (Ebd., 1998, S. 197).

„Was von den Himmelskörpern gilt, trifft - mutatis mutandis - auch auf die Eichen des Waldes als Repräsentanten der Pflanzenwelt zu: Die stärkere oder durch Zufall begünstigte überlebt und setzt sich durch, aber sie ist vollständig von den Systemen abhängig, in die sie eingebettet ist: von dem Wald, von den klimatischen Verhältnissen, von Erdbewegungen.“ (Ebd., 1998, S. 197).

„Anders sieht es in der Tierwelt aus, und es ist hier an all das zu erinnern, was in Kapitel 8 (**) umrißhaft geschildert wurde: an die »Ameisenstaaten« mit ihren »Kasten«, »Kriegen« und »Sklaven«; an die »Sippen« und »Horden« der Affen und Menschenaffen mit ihrem »Sexualdimorphismus«, ihren »Alpha-Männchen« und »Prügelmädchen«, aber auch mit den ersten Unterschieden, die nicht mehr durch Instinkt, sondern durch »Erfahrungen« begründet sind. »Befehl« und »Gehorsam« jedoch scheint es bei den Primaten nirgendwo zu geben.“ (Ebd., 1998, S. 197-198).

„Auch die frühesten Menschen, die aus dem »Tier-Mensch-Übergangsfeld« herausgetreten waren, lebten noch für Tausende von Generationen in Sippen und Horden. Es ist in höchstem Grade wahrscheinlich, daß der tüchtigste Jäger jeweils eine führende Rolle übernahm, aber »Befehle« dürften auch hier kaum erteilt worden sein, und von »Erblichkeit« darf auch dann schwerlich gesprochen werden, wenn hier und da ein Sohn an die Stelle des Vaters trat. Eine »Schichtung« kann es nur nach Alter und Geschlecht gegeben haben. Ob und auf welche Weise sich Jägergruppen zu größeren Einheiten wie »Stämmen« zusammenschlossen sowie der Rückschluß von »Naturvölkern« der Gegenwart auf vorgeschichtliche Zustände, wie er im 19. Jahrhundert von Ethnologen häufig vorgenommen wurde, begegnet heute vielen methodischen Bedenken.“ (Ebd., 1998, S. 198).

„Eine grundlegende Veränderung vollzog sich erst durch den Übergang zur Landwirtschaft im Neolithikum, erst dadurch entstanden Dörfer und die ersten Städte. Auch die Welt der Sammler und Jäger war keine unterschiedslose Welt, denn es gab wildarme und wildreiche, trockene und feuchte Gegenden, aber erst nach der Kultivierung von Pflanzen und der Domestizierung von Tieren erwies sich, was die größere oder geringere Fruchtbarkeit der Erde bedeuten konnte und welche Differenzen der Zufall hervorbrachte. Von Anfang an existierten ärmere und reichere Dörfer, und da sich das Vieh in aller Regel im Besitz einzelner Familien befand, unterschieden sich bald die Besitzer großer Herden von denen kleiner Herden - vielleicht nur deshalb, weil Tierkrankheiten die einen dezimiert und die anderen verschont hatten.“ (Ebd., 1998, S. 198).

„Der elementarste Tatbestand aber war, daß nun erstmals ein »Überschuß« produziert und Vorratswirtschaft betrieben werden konnte. Auch in primitiven Verhältnissen erzeugt eine Bauernfamilie mehr an Lebensmitteln, als sie selbst verbrauchen kann, und daraus resultiert die Möglichkeit, daß dieser Überschuß anderen Menschen zur Verfügung gestellt wird, die als Handwerker wichtige Hilfsdienste verrichten oder als Händler Güter herbeibringen, welche in der nächsten Umgebung nicht zu haben sind, oder als Zauberer und Priester Unheil abzuwehren bemüht sind.“ (Ebd., 1998, S. 198).

„Die Möglichkeit der Arbeitsteilung, ihrerseits gefördert durch die landwirtschaftliche »Überschuß«- oder »Mehrwert«produktion war offenbar die elementare Grundlage für eine »Differenzierung« in verschiedene Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die es im Zustand der Sammler und Jäger noch nicht hatte geben können, weil hier alle Menschen »von der Hand in den Mund« lebten und sich gleichmäßig an der Sicherung des lebensunterhalts beteiligen mußten.“ (Ebd., 1998, S. 199).

„»Kooperation« gewann nun einen ganz enuen Sinn, denn ihre Effekte waren nicht mehr unmittelbar sichtbar. Der Händler, den man mit Lebensmitteln und Obsidianstücken ausgestattet hatte, damit er in fernen gegenden Elfenbein eintauschte, konnte erst nach Monaten seine Gegenleistung erbringen oder vorzeigen. Und auf die Errichtung von Megalithgräbern mochte so viel an Arbeit verwendet werden, wie für die Bestellung aller Felder mehrerer Dörfer erforderlich war: Mußte hier nicht von einzelnen Menschen zuvor lange geplant oder gerechnet werden, und ist es wirklich ausgemacht, daß alle diese Dorfbwohner die zusätzliche Arbeit freiwillig und gleichmäßig leisteten? Hatten nicht vielleicht die reicheren Dörfer zu günstigeren Bedingungen gegenstände eintauschen können, so daß sie im vergleich immer reicher wurden, und hatte nicht vielleicht ein Dorfältester oder ein Stammeshäuptling so viele freiwillige Gaben erhalten, daß er Hunderte von Helfern für den Bau des Megalithgrabes gewinnen konnte, das von den Ausgräbern nicht selten als »Fürstengrab« bezeichnet wird?“  (Ebd., 1998, S. 199).

„Anwendung von Gewalt durch den Stärkeren ist eine Grundrealität im Dasein aller Lebewesen, auch wenn oft genug die lautlose Drohung schon genügt; Macht ist fixierte, d.h. über den Augenblick hinaus dauernde, Gewalt, und Macht in diesem Sinne besitzt bereits das »Alpha-Männchen« einer Pavianhorde, aber vermutlich auch das tüchtigste Mitglied einer Jägergruppe -in beiden Fällen ist die innere Zustimmung der Machtunterworfenen wahrscheinlich; Herrschaft ist legitimierte Macht, und sie kann daher ohne Religion, ohne aus Arbeitsteilung hervorgehende Schichtung und ohne die Sanktionsbereitschaft eines Staates nicht bestehen. Herrschaft ist geschichtliche Herrschaft, so gewiß sie in Differenzen, d.h. »Ungleichheiten«, der Vorgeschichte und der Tierwelt präfiguriert ist.“ (Ebd., 1998, S. 203).

„Daher kann es erstaunlich scheinen, daß die Geschichte gleichwohl von Kritik an der Herrschaft erfüllt ist, und zwar nicht nur von Kritik an Eigentümlichkeiten, etwa einer exzeptionellen Brutalität bestimmter Einzelherrschaften oder Herrschaftsformen, sondern von grundsätzlicher Kritik an der Herrschaft überhaupt. Es ist daran zu erinnern, daß Montaigne in seinen Essais erzählt, brasilianische Indianer hätten, als sie nach Europa gekommen seien, ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck gebracht, daß Männer einem Kind gehorchten und daß die benachteiligte Hälfte des Volkes die andere nicht an der Gurgel packe.“ (Ebd., 1998, S. 203).

„In der Tat ist es die Konsequenz der Legitimität einer Herrschaft, daß die Regeln der Erbfolge vor dem Gesichtspunkt der Tüchtigkeit den Vorrang gewinnen können, und das ist jedenfalls deshalb sinnvoll, um die sonst mit höchster Wahrscheinlichkeit ausbrechenden Kämpfe unter den gleichmäßig tüchtigen Prätendenten zu vermeiden. Aber die Augen primitiver Menschen können darin gewiß nichts anderes als Absurdität wahrnehmen, und das gleiche gilt für gesellschaftliche Unterschiede prononcierter Art, zumal dann, wenn das Zahlenverhältnis noch viel einseitiger ist als bei der Unterscheidung einer Hälfte von der anderen. Daß sogar eine gewaltige Majorität nicht aktionsfähig ist, wenn sie nicht übereinstimmende Gefühle artikulieren kann, und daß sie eine solche Übereinstimmung auch nicht aufbringen will, wenn in ihrem Inneren unterschiedliche Lebenslagen vorhanden sind, wird dabei übersehen. Aber offenbar ist das Empfinden weit verbreitet, daß das Einfachere das Bessere ist und Herrschaft, Schichtung und »Staat« nichts Einfaches und daher etwas Unnatürliches sind.“ (Ebd., 1998, S. 203-204).

„Von diesem Empfinden war Jean-Jacques Rousseau geleitet, als er 1754 seinen Essay über den Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen schrieb. Rousseau konnte sich indessen auf die uralte Lehre vom guten »Naturzustand« stützen, dem der künstliche Zustand der zivilisierten Gesellschaft entgegenzusetzen sei, und diese Lehre wurzelte ihrerseits in dem christlichen Glaubenssatz der »Vertreibung aus dem Paradies« infolge der Sünde.“ (Ebd., 1998, S. 204).

„Im zwanzigsten Jahrhundert ist diese Auffassung mit wissenschaftlichem Anspruch von den Vertretern der sogenannten Überlagerungstheorie zugrunde gelegt und weiterentwickelt worden, zumal von Alexander Rüstow in seinem dreibändigen Werk Ortsbestimmung der Gegenwart, dessen erster Text den Titel Ursprung der Herrschaft trägt.“ (Ebd., 1998, S. 204).

„Rüstow beruft sich nicht auf Rousseau, und er nimmt für seine Konzeption keine schlechthinnige Originalität in Anspruch. Er weiß, daß ihr ein jahrhundertelanger und schon häufig theoretisch explizierter Tatbestand zugrunde liegt: die Unterwerfung des römisch-keltischen Gallien durch die germanischen Franken in der Völkerwanderungszeit und die Eroberung des angelsächsischen Englands durch die Normannen nach der Schlacht von Hastings im Jahre 1066.“ (Ebd., 1998, S. 204).

„In England und zu mal in Frankreich wurde in der neuzeitlichen Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum häufig auf diese Vorgänge Bezug genommen, positiv durch den Grafen Boulainvilliers, der sich und seinesgleichen als Nachfahren der fränkischen Sieger stolz der Masse der unterworfenen Kelten entgegensetzte; negativ von den Brüdern Thierry und während der französischen Revolution bereits von dem Abbe Sieyes, der den Adel wegen dessen Abstammung von fremden Eroberern aus der »Nation« ausstieß. Auch in England war die weitverbreitete Polemik von Liberalen gegen den »Norman Conquest« in der Sache eine Kritik an dem gegenwärtigen Adel.“ (Ebd., 1998, S. 204-205).

„Rüstow nimmt nun unter Berufung auf Ibn Chaldun (**) eine außerordentliche Verallgemeinerung vor, indem er alle Hochkultur aus der Überschichtung von Bauernvölkern durch kriegerische Nomaden, durch semitische und indogermanische »Herrenvölker« hervorgehen läßt, die weit überlegene Kriegsmittel, nämlich Streitwagen und Pferde, besaßen. Erst durch die erstmalige Bildung von »Reichen« wurde jene breite »soziologische Grundfläche« geschaffen, welche Bevölkerungsverdichtung und damit die Entstehung von Städten möglich machte.“ (Ebd., 1998, S. 205).

„Dies ist die positive, die geschichtsbegründende Seite, aber ihr entspricht die negative, welche die Vertreibung der Menschen aus dem »sozialen Paradies« der bäuerlichen und kleinräumigen Gemeinschaften bedeutete, in denen es weder Herrschaft noch Schichtung, noch Staat gegeben hatte, wohl aber ein gewisses Maß an Führung und an kleinen Differenzen innerhalb der vielen Gemeinwesen. (Vgl. Alexander Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, Band I [Urpsrung der Herrschaft], 1950, S. 109). Rüstow schreckt nicht davor zurück, direkt an die Vorstellungen des Christentums anzuknüpfen, die er im übrigen weitgehend zugunsten einer »natürlichen«, nicht-asketischen und auch sexuell »normalen« Lebensführung verwirft, und zu schreiben:
Wir alle, sämtlich und sonderlich, sind Mitschuldige dieser großen Schuld, dieser wahren Erbsünde. (Vgl. ebd., S. 98).
Eine der verhängnisvollen Folgen der Erbsünde der Eroberung und Überlagerung (**) ist z.B. die Idee der »auserwählten Völker«, ist ferner der Imperialismus, ist die Konzentrierung alles wesentlichen Kapitals in den Händen einer kleinen Minderheit und ist vornehmlich die Tatsache, daß die Nachfahren der Eroberer noch immer von jenem »Mehrwert« leben, der zuerst den besiegten Bauern durch abgezwungene Tribute geraubt worden war. Trotz aller modernen Tendenzen in Richtung auf die Erringung von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« ist das große Ziel der »Isonomie der restlosen Gleichberechtigung« (ebd., S. 209), immer noch nicht erreicht, ist »das Gift des universalgeschichtlichen Sündenfalls der Überlagerung« noch nicht aus dem Sozialkörper ausgeschieden. (Vgl. ebd., S. 276).“ (Ebd., 1998, S. 205).

„Rüstow bleibt allerdings weit davon entfernt, einem radikalen Egalitarismus das Wort zu reden, und eine gewisse Übereinstimmung in den Grundideen hindert ihn nicht, dem Bolschewismus in schroffer Feindschaft gegenüberzutreten; sein Ziel ist eine Leistungsgesellschaft, in der keine »künstlichen« Besitzeinkünfte die Unterschiede der natürlich begründeten Leistungseinkommen zu verzerren vermögen, und diese Gesellschaft kann nach ihm nur in einem »Weltstaat« verwirklicht werden, der echte Kleinräumigkeit und damit den Wiedergewinn einer natürlichen und unverdorbenen Lebensführung möglich macht.“ (Ebd., 1998, S. 205-206).

„Schon in der Weimarer Republik hatte Franz Oppenheimer ähnliche Gedankengänge vertreten, die an die Frühsozialisten anknüpften und das Heilmittel in der Aufhebung der durch den Großgrundbesitz hervorgerufenen »Bodensperre« erwarteten, so daß das ganze Land und im weiteren Verlauf die ganze Erde sich mit wohlhabenden und relativ autonomen Gemeinwesen bedecken könnten. Nach der Ablösung des bisher die ganze Geschichte bestimmenden oder mitbestimmenden »politischen Mittels« würde die Alleinherrschaft des »ökonomischen Mittels« gegeben sein: eine auf voller ökonomischer Freiheit der Individuen beruhende und weltweite Wettbewerbsgesellschaft, die aber nur kleine Differenzen der ökonomischen Lage und mithin weder Herrschaft noch Schichtung (d.h. Klassen), noch Staaten hervorbringen werde. Wie später Rüstow scheut sich Oppenheimer nicht, an religiöse Vorstellungen anzuknüpfen und den zweiten Band seines Systems der Soziologie mit den Worten zu beschließen: »Das ist der Leidens- und Erlösergang der Menschheit, ihr Golgatha und ihre Auferstehung zum ewigen Reich: vom Krieg und Frieden, von der feindlichen Zersplitterung der Horden zur friedlichen Einheit der Menschen, von der Tierheit zur Humanität, vom Raubstaat zur Freibürgerschaft.« (Franz Oppenheimer, Der Staat, 1925, S. 811). Es ist sehr bemerkenswert, daß Oppenheimer trotz dieser »progressiven« Orientierung eine große Hochschätzung der mittelalterlichen verhältnisse an den tag legt und daß die Neuzeit daher immer wieder wie Dekadenz und Absturz erscheint. Dazu paßt es, daß er »reaktionäre« Autoren wie Konstantin Frantz häufig mit viel Respekt zitiert. Wenn man genau hinsieht, findet sich bei Marx manches vergelichbare. Die Richtigkeit der Überlagerungstheorie und damit das bevostehende »Ende der Herrschaft« nimmt auch Alfred Weber in seinen verschiedenen Werken der Zeit nach 1945 an. Die klassische Studie über die »orientalische Despotie« ist Karl August Wittfogels gleichnamiges Buch (1962).“ (Ebd., 1998, S. 206).

„Die Überlagerungslehre führt Herrschaft, Schichtung und Staat auf »exogene« Ursachen zurück, vornehmlich auf die Eroberung; Platon dagegen macht endogene Faktoren zur Ursache, insbesondere die Arbeitsteilung. Kritik zu üben ist nicht schwierig: Die erste Hochkultur der Menschheit, die sumerische, beruhte weder auf der Unterwerfung einer andersethnischen Unterschicht noch auf einer Reichsbildung; die als »Barbaren« empfundenen Gutäer und Kassiten eroberten Babylon und bildeten zeitweise eine Herrenschicht, aber sie assimilierten sich sehr rasch an die Unterworfenen, und sie brachten den babylonischen Staat nebst Herrschaft und Schichtung keineswegs hervor; der Begriff der »Eroberung« hat eine intensivere und von Rüstow ebenso wie von Oppenheimer ganz vernachlässigte Erscheinungsform, nämlich die Verdrängung oder Vernichtung der Besiegten. Aber es läßt sich nicht übersehen, daß Oppenheimer und Rüstow und auch Alfred Weber sich von einer sehr konkreten Erfahrung bestimmen ließen, der Erfahrung der starken Rolle des Adels im wilhelminischen und sogar noch im Weimarer Deutschland.“ (Ebd., 1998, S. 206).

„Heute gibt es bis auf unbedeutende Reste keinen Adel mehr. Die These ist möglich, daß der Adel durch Jahrtausende hindurch und zumal in den Anfängen der Geschichte die bedeutendste aller Schichten gewesen sei, und es ist auffallend genug, daß auch Platon bei seiner Konstruktion des Staates aus »endogenen« Ursachen den »Wächtern« und ihrer Ausrichtung auf die Verteidigung des Staates eine besonders wichtige Rolle zuschreibt. Es könnte sein, daß die Existenz eines Adels, mindestens bisher, besonders charakteristisch für die »historische Existenz« gewesen ist und daß, wenn er verschwinden konnte, vielleicht auch Herrschaft, Schichtung und Staat an eine bloße Phase der menschlichen Existenz, an die historische Phase, gebunden sind.“ (Ebd., 1998, S. 206-207).

23) Krieg und Frieden

„Soweit wir vom Menschen verläßliche Kunde haben, war es immer ein Ausnahmefall, daß ein Mensch den anderen Menschen um seines Menschseins willen schonte. Daraus ließe sich zwingend ableiten, daß auch der Krieg den Menschen als Menschen kennzeichnet und daher niemals »abgeschafft« werden kann, wie es der Pazifismus von jeher gefordert hat. Aber die These ist nicht unbestritten geblieben, und man hat im Gegenteil auch von »tiefen biologischen Wurzeln« des Krieges gesprochen.“ (Ebd., 1998, S. 217).

„Ameisenstaaten führen Vernichtungskriege gegen andere Ameisenstaaten, die eine Rattenart rottet die andere Rattenart vollständig aus, und Schimpansensippen kämpfen gegen andere Schimpansensippen auf Leben und Tod, obwohl sie im allgemeinen solchen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen versuchen. Nach Darwin ist das ganze Naturleben ein einziger Krieg, und wer könnte bezweifeln, daß die Menschen von Urzeiten an einen großen Krieg gegen die Tiere geführt haben?“  (Ebd., 1998, S. 217).

„Ist es wahrscheinlich, daß ein so fundamentaler Charakterzug des Lebens aufhören wird zu existieren, wenn der Mensch eine solche Überlegenheit gewonnen hat, daß er die Tiere nicht mehr jagt, sondern nur noch schlachtet - wird sich dann nicht weit eher der Kampfimpuls des Lebens selbst noch mehr als während der früheren Zeiten in Kriegen von Menschen gegen Menschen entladen? Oder sollte es tatsächlich so sein, daß der Mensch als solcher von Natur aus friedlich ist und nur von bösen Herrschern um egoistischer Interessen willen in den Kampf gegen seinesgleichen getrieben wurde? Dann wäre die Wurzel des Krieges weder in einer Natur des Menschen noch im Wesen des Lebens zu suchen, sondern er wäre ein kulturelles Phänomen, das wie andere kulturelle Phänomene eines Tages verschwinden könnte, das also keineswegs übergeschichtlich, sondern sogar im engsten Sinne »historisch« wäre.“ (Ebd., 1998, S. 217).

„Was uns bisher an Kriegen bzw. an blutigen Auseinandersetzungen begegnet ist, spricht nicht zwingend gegen eine exklusive Zusammenbindung von Krieg und Geschichte und schließt auch den Kausalnexus von Herrschaft und Krieg nicht von vornherein aus. Die kämpfenden Bogenschützen auf prähistorischen Felsbildern lassen auch andere Interpretationen zu, und zu mehr als bloßen Vermutungen geben sogar die Mauern und der gewaltige Turm des vorgeschichtlichen Jericho keinen Anlaß, denn Sicheres wissen wir nicht.“ (Ebd., 1998, S. 217).

„Es könnte sein, daß Höhe und Tiefe im menschlichen Dasein aufs engste verknüpft sind, daß das eine ohne das andere nicht zu haben ist und die Alternative nur Einebnung und Mittelmaß sein kann, ja daß mit der Erfahrung des Krieges auch die Erfahrung des Friedens hinfällig wird, weil das eine jeweils nur aus dem anderen seine innere Kraft gewinnt.“ (Ebd., 1998, S. 223).

26) Geschichtsschreibung und Superioritätsbewußtsein

„Daß die Geschichtsschreibung mit dem Realen zu tun hat, wird in ihren ersten Anfängen auf geradezu überwältigende Weise deutlich. Das früheste ihrer Motive waren die Taten der Könige vornehmlich ihre Kriegszüge und daneben ihre Bautätigkeit; meist sind die Berichte in der Ich-Form gehalten und fast durchweg von einem Triumphalismus geprägt ....“ (Ebd., 1998, S. 234).

„Die Geschichtsschreibung als ein Hauptelement der historischen Existenz setzt nicht nur große Taten voraus, sondern auch das Vorhandensein von Städten ....“ (Ebd., 1998, S. 244).

26) Stadt und Land

„Ohne die Stadt gibt es keine Geschichtsschreibung und vielleicht keine Geschichte, aber das Land ist weit älter als die Stadt und deren unentbehrliche Voraussetzung. »Land« ist hier nicht als Gebiet zu verstehen, das Wüste oder Urwald und unbesiedelt sein mag. »Land« kommt vielmehr erst mit der Landwirtschaft zur Existenz: Nur wenn irgendwo Menschen Felder abgrenzen und besäen, nur wenn sie Ernten erwarten und sich darauf vorbereiten, darf von »Land« die Rede sein. Die Jäger und Sammler leben in einem Gebiet, aus dessen natürlichen Erträgen sie ihren Unterhalt gewinnen und innerhalb dessen sie bald hier, bald dort kampieren: Sie haben keine »Wohnsitze« und sind deshalb keine »Landbewohner«.“ (Ebd., 1998, S. 244).

„Erst mit dem Beginn des Neolithikums bilden sich die ersten Dörfer: kleine Ansammlungen von Häusern, deren Bewohner Felder bestellen und in geringem Ausmaß Viehzucht treiben, mögen sie nun Felder und Tiere als gemeinsames Eigentum ansehen oder eine Aufteilung unter die Klein- oder Großfamilien vorgenommen haben. In jedem Fall ist Nachbarschaft und damit persönliche Kenntnis ein Hauptkennzeichen des Dorfes, und daraus entsteht notwendigerweise eine »Dorfgemeinschaft«, innerhalb deren alle anstehenden Fragen - etwa diejenigen des Beginns der Aussaat oder des Schutzes gegen Bedrohungen durch wilde Tiere - besprochen werden.“ (Ebd., 1998, S. 244).

„Der Ernteüberschuß ist das spezifisch Landmäßige für die Entstehung der von Herrschaft und von Städten; Gefahr und Ausweitung sind die Voraussetzungen, deren eine aus der Situation aller Lebewesen und deren andere aus der eigentümlichen Natur des Menschen resultiert; in eins gefaßt, teriben sie das Land über sich selbst hinaus zur Stadt und die Dorfdemokratie zur Gebietsherrschaft.“ (Ebd., 1998, S. 246).

„Aber die große Anziehungskraft der Städte beruhte keineswegs bloß auf den Tempeln, sondern bestand auch in ihrem bereits höchst vielfältigen Leben: den Festen und Prozessionen, dem König und seinen Verwaltungsbeamten, den zunächst noch staatlichen oder halbstaatlichen Kaufleuten, den Handwerkern, Jägern, Fischern und Sklaven, nicht zuletzt den Dirnen, die ihrerseits in mehrere Klassen geteilt waren. Auch über der frühen Stadt lag schon ein Hauch von Verderbtheit und Korruption, denn dorthin strömte der gewaltige Überschuß des Landes, und seine Verteilung konnte zu keinem Zeitpunkt so erfolgen, daß strikte Reziprozität gegeben war; d.h. mit der Stadt entstand nicht nur die Wirklichkeit einer großen Fülle von Luxusgütern, sondern auch die Möglichkeit von parasitären Existenzen, deren klassisches und uraltes Paradigma die Prostituierten sind.“ (Ebd., 1998, S. 249).

„Mit der Stadt kommt ein anderer und engerer Begriff von »Kultur« auf. »Kultur« im weiten anthropologischen Sinne ist die Agrikultur, der Landbau, ist aber auch schon die Jagd mit Speeren und Bogen und ist sogar das Sammeln von Früchten und Wurzeln - jene Fortsetzung und steigernde Verwandlung der schon bei einigen Tieren feststellbaren »Vorkultur«; aber das Stadtleben ist »kultiviert«, es impliziert Verfeinerung und das heißt Luxus. Dieser Luxus und diese Verfeinerung sind nicht gleichmäßig verteilt; wer daran Anteil hat, gehört zu der Oberschicht, oder besser: wer zu der dirigierenden, administrierenden und den Götterdienst vollziehenden Oberschicht gehört, der gewinnt auch Anteil an diesem Luxus und damit an dem für die Lebensfristung Überflüssigen. Er mag über Badezimmer und Kühlräume verfügen. Die Masse der Bevölkerung lebte dagegen ärmlich genug und verfügte sicherlich häufig nur eben über das Lebensnotwendige, aber offensichtlich war auch sie von der Kultur in diesem engeren Sinne nicht völlig ausgeschlossen und sei es nur durch die Fülle von Sichten, die sich ihr Tag für Tag von neuem boten, während draußen auf dem Lande das Leben zweifellos höchst eintönig verlief.“ (Ebd., 1998, S. 249).

„Die Stadt - Trägerin eines neuen Begriffs von Kultur, Stadtstaat und Reichshauptstadt, Ackerbürgerstadt, Tempelstadt, Militärstadt, Handelsstadt, Herrscherstadt - gehört seit den Anfängen aufs engste zur Geschichte, aber immer in ihrem relativen Gegensatz zum »Land« und in ihrer völligen Differenz zur »Steppe«; eine stadtfreie, rein ländliche Geschichte hat es nie gegeben, und selbst die großen Eroberungszüge der Kassiten, der Hyksos, der Kimbern und Teutonen und später der Mongolen sind nur dadurch zu »Geschichte« geworden, daß sie auf städtische Zivilisationen stießen, die sie zwar teilweise zerstörten, denen sie sich aber später anpaßten, sofern sie nicht schwere Niederlagen erlitten und vernichtet wurden.“ (Ebd., 1998, S. 251).

„Indessen ist ein Charakter der Stadt noch ausgespart, weil ihm ein eigenes Kapitel gewidmet werden soll: Die Stadt ist die Heimat der Schreiber, der Literaten, der Anfänge der Wissenschaft. .... Überall fanden sich Ausbildungsstätten für den Nachwuchs der Schreiber, und nicht ganz selten läßt sich die Behauptung finden, durch die Bildung werde der Mensch erst wirklich zum Menschen. Menschsein, hieß das mit anderen Worten, war keine natürliche Gegebenheit, sondern nur eine Art von Rohstoff, der durch den Unterricht der Lehrer und Weisen so zum »eigentlichen« Menschsein gebildet wurde, wie der Ton durch den Töpfer zur Figur gemacht wurde.“ (Ebd., 1998, S. 251-252).

27) Schulbildung und Wissenschaften

„Unter »Bildung« kann alles verstanden werden, was den Lebewesen nicht durch die Erbausstattung, also als »Instinkt«, gegeben ist. In diesem Sinne ist Bildung nicht spezifisch menschlich: Die Jungtiere der Grünen Meerkatzen kennen Raubvögel und Schlangen nicht »von Natur« oder aus Instinkt, und sie sind gar nicht von vornherein mit der Bedeutung der Warnrufe vertraut, mit denen die erwachsenen Tiere die Gefahren kenntlich machen, die von Adlern, Schlangen oder Menschen drohen. Sie müssen also »lernen«, und ihr ganzes junges Leben ist eine Art Schule, bis ihnen das Verständnis für die verschiedenen Zeichen »in Fleisch und Blut« übergegangen ist, so daß sie nichts Neues mehr zu lernen brauchen. Abermals anders wäre das tierische Lernen im Falle jener Schimpansensippe, welche die Vorteile des Abwaschens erdiger Kartoffeln verstanden hätte und nun ihren Jungen gleichsam Unterricht erteilen müßte, der schwerlich auf das bloße Beispielgeben beschränkt sein könnte. (**).“ (Ebd., 1998, S. 252).

„Die vorgeschichtliche Menschheit hat zweifellos außerordentliche Bildungsleistungen vollbracht, denn zwischen dem Waschen von Kartoffeln und dem Anfertigen von Steinbeilen oder der Hervorbringung von Höhlenbildern gibt es zwar keine absolute, wohl aber eine qualitative Differenz. Schon die Jäger der Altsteinzeit mußten ihre Knaben gewiß lange Zeit durch ständiges Üben unterrichten, bis diese die Speere richtig anzufertigen und zu verwenden gelernt hatten, und die jungen Frauen konnten erst allmählich lernen, mit dem Feuer richtig umzugehen. Aber die ersten Dörfer wurden gebaut, und das erste Land wurde der Wüste und den Sümpfen abgerungen, ohne daß »Schulen« vorhanden gewesen wären. Das Lernen war ein ebenso selbstverständlicher und allgemeiner Teil des Lebens der Jungen, wie das Unterrichten und Beispielgeben ein selbstverständlicher und allgemeiner Teil des Lebens der Erwachsenen war.“ (Ebd., 1998, S. 252).

„Erst die Schrift schuf eine weitere qualitative Differenz. Selbst die einfachste Bilderschrift kann nicht schlicht ein »Abmalen« sein, wie Kinder es von sich aus vornehmen, sondern sie unterliegt einer gewissen Schematisierung und macht sehr bald auch symbolische Zeichen erforderlich, um Tätigkeitsbeziehungen oder Zahlen auszudrücken. Die Schrift kann nur in der Schule gelehrt und gelernt werden, und je größer die Zahl der Zeichen ist, um so länger dauert die Ausbildung und um so professioneller werden die Lehrer, um so mehr wird der Gang zur Schule für lange Jahre zum Hauptinhalt des Lebens der Schüler.“ (Ebd., 1998, S. 253).

„In Mesopotamien vollzog sich die Bildung der Schreibschüler, die nur eine kleine Minderheit der gesamten Jugend ausmachen konnten, in dem sogenannten Tontafelhaus: Hier lernte man den Umgang mit dem Rohrgriffel, hier wurde man mit den zunächst über 2000 Zeichen der Keilschrift vertraut gemacht, hier mußte man Übungsstücke lesen und selbst wiedergeben. Hier wurden aber auf den höheren Stufen auch Literaturwerke studiert und interpretiert; das »Tontafelhaus« umfaßte alle Schularten von der Grundschule bis zur »Universität«. Es gehörte häufig weder zum Palast noch zum Tempel, sondern trug privaten Charakter, so daß der »Meister« ein hohes Maß von Initiative und Verantwortung aufbringen mußte, aber von seiten der Schüler häufig zum Gegenstand großer Verehrung wurde.“ (Ebd., 1998, S. 253).

„An manchen Orten waren die Schreiberschulen indessen auch Bestandteile des Palastes, und in jedem Falle wurde ihnen von seiten der Könige viel Aufmerksamkeit zuteil, denn diese selbst beherrschten (in aller Regel) das Schreiben nicht, und sie waren für ihre Verwaltung und für ihre diplomatische Korrespondenz ständig auf die Schreiber angewiesen. So wurden die Schreiber oder Schriftkundigen sowohl in Mesopotamien als auch in Ägypten bald zu der ersten echten »Klasse« von Menschen, d.h. zu einer Gruppe, die sich durch eindeutige Kennzeichen von allen anderen Menschen unterschied und ein positives Selbstverständnis dieser Unterschiedenheit entwickelte.“ (Ebd., 1998, S. 253).

„Allenfalls bei Priestern und Offizieren war dieses Sich-Unterschiedenwissen ebenso ausgeprägt, und mindestens von den Priestern zählte ein Teil zu den Schriftkundigen. Besser spricht man allerdings von »Ständen«, denn die Zugehörigkeit implizierte zugleich ein bestimmtes Maß von Ehre und Ansehen. Sie bedeutete gleichzeitig ein Freisein von harter körperlicher Arbeit, und die Ausrichtung auf ein leichteres und angenehmeres Dasein kommt in einer Reihe von Zeugnissen auf erstaunlich unbefangene Weise zum Ausdruck.“ (Ebd., 1998, S. 253).

„Was die Wissenschaft im engeren Sinne angeht - Medizin, Astronomie, Mathematik, angeordnet nach ihrer Entfernung von unmittelbarer Praxis -, so könnte man wohl von der »Geburt der Wissenschaft aus dem Geiste der Magie« sprechen, denn nicht nur in den Anfängen, sondern viele Jahrhunderte hindurch waren sowohl in Mesopotamien als auch in Ägypten alle Versuche, gegen die dem Leben drohenden Gefahren anzugehen oder positive Wirkungen irgendwelcher Art hervorzurufen, aufs engste mit der Abwehr von Dämonen oder der Ingangsetzung von Heilungsprozessen durch Beschwörungen oder der Erkenntnis der Zukunft durch Vorzeichen verknüpft.“ (Ebd., 1998, S. 255).

„Fast so wichtig wie Schamasch war für die Babylonier die Dämonin lahasthu, und sie nahmen »die Hand des Nergal« wahr, wenn die Pest ausbrach. Magisch oder theurgisch waren die Mittel der Helfer, der »azu«, der Ärzte, aber sie waren von früh an mit genauer Beobachtung verbunden und bahnten den Weg für eine empirische Medizin, in der eine Fülle von »handwerklichem« Wissen überliefert wurde, die aber nie ganz auf magische Mittel verzichtete oder dem Exorzisten weiterhin einen Platz neben dem Arzt zuwies. So wird an einer Stelle vorgeschrieben: » Er möge ihm einen Exorzisten und einen Arzt beistellen, und sie sollen zusammen ihre Behandlung durchführen«.“ (Ebd., 1998, S. 255-256).

„Auch Ärzte rezitierten wohl vor der praktischen Behandlung ein »Handerhebungsgebet« über den Patienten. Der Exorzist amtierte im roten Ornat und umschritt vielleicht das Bett des Patienten mit einem Räuchergerät und einer Kultfackel, er beschwor die Dämonen mit Sprüchen wie »Fahre aus, böser Dämon, komm herein, guter Dämon«, aber Worte allein genügten nicht, sondern es wurden Mittel gegeben, denen man eine weit über das Natürliche hinausgehende Wirkung zuschrieb.“ (Ebd., 1998, S. 256).

„Der Schritt zu Medikamenten, denen auch heute noch heilende Kraft zuerkannt wird, war jedoch nicht weit: So wurden Pflanzenharze und Öle, Nüsse in Honig und Dattelkerne verschrieben, aber auch »das linke Horn eines Ziegenbocks«, Mädchenhaar oder Exkremente vom Fuchs. Man kannte indessen ebenfalls Pillen, Suppositorien, Salben, Wickel, Breiumschläge und Klistiere. Die Zuordnung zu den Krankheiten beruhte auf genauer Beobachtung: Apoplexie, Epilepsie, Veitstanz, Muskelkrämpfe wurden genau unterschieden, der Heileffekt von Schwitzkuren war bekannt, und Hämorrhoiden wurden mit scharfen Messern behandelt.“ (Ebd., 1998, S. 256).

„Ganz ohne Mithilfe der Magie mußten die chirurgischen Eingriffe auskommen. Dazu gehörten erstaunliche Schädeltrepanationen, von denen wir auch durch die Auffindung entsprechend behandelter Schädel Kenntnis haben. Aber man wird nicht sagen können, daß die mesopotamische und die ägyptische Medizin einen geraden Weg »vom Mythos zum Logos«, d.h. von der Magie zur Wissenschaft oder doch zu hoher Kunstfertigkeit, durchlaufen hätten; die Magie behielt immer einen anerkannten Platz, und mit einiger Kühnheit könnte man sogar behaupten, im Alten Orient sei die empirische Medizin auf vorbildliche Weise durch psychologische Mittel der inneren Stärkung der Patienten unterstützt worden. Bis zu Analysen allgemeiner Art und zur Hervorbringung von Lehrbüchern gelangte diese Medizin indessen nicht.“ (Ebd., 1998, S. 256).

„Auch die Astronomie ist aus Wünschbarkeiten des praktischen Lebens hervorgegangen, denn die Astrologie gehörte zu den »Vorzeichenwissenschaften«, die etwa anhand der weitverbreiteten Leberomina die Kenntnis einiger innerer Organe von Tieren außerordentlich förderten. Ebenso diente die Beobachtung der Sterne der Vorhersage künftiger Geschicke nicht so sehr von Einzelnen als von Fürstenhäusern, aber auch der Ernteaussichten. Auch die Anfänge des Kalenderwesens gehen auf diese frühen Beobachtungen des Mond- und des Sonnenlaufes zurück, und nach der Jahrtausendwende sind regelrechte Sternwarten in den Städten Uruk, Nippur, Babylon, Assur, Ninive und anderen bezeugt. Die Sternbilder der Ekliptik hatten schon früher Namen erhalten, die Identität der Venus als Morgen- und Abendstern war kein Geheimnis. Auch die anderen Planeten wurden genau beobachtet, und der Glaube an ihren Einfluß auf das menschliche Leben, der auch heute noch in starken Resten vorhanden ist, war allverbreitet, so galt z.B. der Mars allgemein als »böse«.“ (Ebd., 1998, S. 256-257).

„Die Länge des Mondmonats von 29,5 Tagen war vermutlich schon in vorgeschichtlichen Zeiten bekannt, und die Zuschreibung der einzelnen Tage zu einem Festkalender ist bereits aus der Zeit Gudeas überliefert: So ging dem ersten Tage eine Neulichtfeier am Vorabend voraus, der dritte war die Vigil für das Eschesch-Fest am vierten, wo die Zulassung von Laien zum Tempel und damit die » Tempelbegrüßung« stattfand, der siebte Tag war ein Unglückstag, der 15. war der Tag der Vollmondfeier, der Ischtar heilig und zugleich der Tag der »Herzensberuhigung« der Götter; am 25. fand in Babylon die Prozession der Ischtar statt, die ihr gewidmeten Opfer wurden in Richtung des Großen Wagens dargebracht, der 30. war der Tag des Jubels für die Mondgottheit Schin.“ (Ebd., 1998, S. 257).

„Kein einziger Tag war ohne religiöse Bedeutung, und sei es nur die von drohendem Unheil; die Menschen und der ganze Staat lebten ständig in der Bezogenheit auf Himmelsvorgänge; sie waren »kosmotheoroi«, um einen Ausdruck zu gebrauchen, den Kant in seinem Opus postumum für die Definition des Menschen verwendete. Die einzelnen Monate erhielten ihre Namen teils von Götterfesten, teils von den Perioden der Vegetation wie »Blütenmonat« oder »Reifezeit«. Der Unterschied zwischen der Länge des Mondjahres (zu 354 Tagen) und des Sonnenjahres (zu 365 Tagen) war früh geläufig, und wieder wird die enge Verbindung von Astrologie, Astronomie und Kalenderwesen anschaulich, wenn es in einem Omentext heißt: »Setze den Kalender fest und vervollständige ihn mit einem Schaltmonat.«“ (Ebd., 1998, S. 257).

„Eine Zählung der Jahre nach einem zentralen Ereignis wie »vor oder nach Christi Geburt« gab es natürlich nicht, am verbreitetsten war die Zählung nach den Regierungsjahren der Könige. Daß Mondfinsternisse erklärt und sogar vorhergesagt werden konnten, ist nicht vor das Jahr 600 v. Chr. zu datieren, und erst von diesem Zeitpunkt an trennte sich die Astronomie endgültig von der Astrologie.“ (Ebd., 1998, S. 257).

„Die altmesopotamische Mathematik beruhte auf einem sexagesimalen, aber dezimal durchsetzten Zahlensystem, d.h. die Reihe der positiven Zahlen war 1, 10, 60, 600, 3600 (602),603; offenbar beruhen die mythisch langen Regierungszeiten in den sumerischen Königslisten auf solchen Zahlen. Obwohl man Multiplikation und Division als eigenständige operationen nicht kannte, sondern den Umweg über wiederholte Additionen bzw. Subtraktionen machte, konnten mit Hilfe von Reziprokentabellen Rechnungen von erstaunlichem Umfang und großer Genauigkeit durchgeführt werden; Quadrat- und Kubikwurzeltabellen waren andere geläufige Hilfsmittel. Der pythagoräische Lehrsatz war der Sache nach bekannt, aber er wurde nicht abgeleitet, und Formeln oder Beweise euklidischer Art sind nicht zu finden. Mathematik und Rechnungswesen dienten eben, sowohl in Mesopotamien wie in Ägypten, vorwiegend praktischen Zwecken: der Feldvermessung, der Mengenberechnung bei Bauwerken, der Bestimmung von Zins und Zinseszins.“ (Ebd., 1998, S. 257-258).

„Daher läßt sich die These verfechten, der Alte Orient sei sowohl in der Medizin wie in der Astronomie und der Mathematik nur bis an die Schwelle der Wissenschaft gelangt und diese Schwelle sei erst von den Griechen überschritten worden. Aber der Weg war so lang und so schwierig, und er führte so eindeutig in die Richtung dieser Schwelle, daß Schulbildung und Wissenschaft als unentbehrliche Bestandteile des Schemas der historischen Existenz betrachtet werden müssen. Was wäre eine wichtigere Vorbedingung von Wissenschaft und Bildung als die Erfindung der Schrift, und ist mit der Professionalisierung von Schreibkunst und Wissen nicht eine unumkehrbare Entwicklung eingeleitet? Von einer auch nur tendenziellen »Verwissenschaftlichung« des Lebens kann freilich keinesfalls die Rede sein, wohl aber war das gemeinschaftliche, von der Religion im Sinne von Götterdienst und Aberglauben durchdrungene Leben bereits sehr vielfältig geworden, und der Alltag bedurfte der Ordnungen, insbesondere der Alltag der Sexualität und der Ökonomie.“ (Ebd., 1998, S. 258).

28) Die Ordnungen des Alltags (Sexualität, Ökonomie)

„Als vor Jahrmilliarden die Eukaryonten auftraten, vermehrten sie sich bereits sexuell, d. h. dadurch, daß ein Elternpaar erforderlich war, um Nachkommen hervorzubringen, in denen sich das Erbgut der Eltern auf die vielfältigste Weise mischte, so daß keine Generation einfach ein Abbild der anderen war. Das »Fressen und Gefressenwerden« ist bereits den Prokaryonten zuzuschreiben: Schon das primitivste Lebewesen muß sich Nahrung zuführen, und diese Nahrung kann auch aus anderen Lebewesen bestehen.“ (Ebd., 1998, S. 259).

„So ist uns Sexualität bisher auch im vormenschlichen Bereich des öfteren begegnet, während die Ökonomie erst als Handel vor die Augen kam: Bei einigen Rankenfüßern ist das Männchen zu einem bloßen Fortpflanzungsorgan geschrumpft, das auf dem Weibchen parasitiert, und bei den Mantelpavianen findet sich ein ausgeprägter sexueller Dimorphismus, denn die Weibchen wiegen nur die Hälfte der Männchen. Umgekehrt ist der Vorrang des weiblichen Geschlechts bei Bienen und Ameisen überaus stark ausgeprägt; es handelt sich bei allen Stöcken und Völkern um weibliche Gemeinschaften, innerhalb deren aber nur ein einziges Geschlechtstier - die »Königin« - für die Fortpflanzung sorgt, während alle Arbeiterinnen unfruchtbar und in ihren mütterlichen Instinkten auf das Pflegen und Sammeln beschränkt sind; das männliche Geschlecht - die Drohnen - hat nur die punktuelle Funktion des Samenspendens und wird danach getötet; bei den Säugetieren dagegen sind alle Weibchen fruchtbar, aber sie sind nur während begrenzter Zeiten empfangsbereit, die z.B. bei Schimpansen und Pavianen durch Schwellung und Rötung der Genitalien angezeigt wird, so daß das Geschlechtsleben in der freien Wildbahn nur eine relativ geringe Rolle spielt und von den Notwendigkeiten des Ringens um die bloße Existenz oft überdeckt wird. Bei den Bonobos dient das Geschlechtsleben allerdings, wie Primatenforscher entdeckt haben, über wiegend der Konfliktlösung, da die Weibchen die meiste Zeit sexuell zugänglich sind, und so haben wir, nur halb scherzhaft, als Meinung mancher Forscher die Maxime konstruieren können: »Wenn ihr nicht werdet wie die Bonobos, so könnt ihr in das irdische Paradies, d.h. in die Verwirklichung der Utopie, nicht eingehen.« (**).“ (Ebd., 1998, S. 259-260).

„Aber während ihrer ganzen vorgeschichtlichen und geschichtlichen Existenz waren die Menschen von dem konfliktfreien, harmonischen und gleichheitlichen Leben der Bonobos weit entfernt, und gerade weil die Sexualität und die Ökonomie alldurchdringende, zummal den Alltag bestimmende Wirklichkeiten waren, mußte es dafür Ordnungen geben, deren Einhaltung streng überwacht wurde, selbst wenn Bachofen mit seiner Lehre vom ursprünglichen Hetärismus und Morgan mit seiner Vorstellung von der »Punalua-Ehe« recht gehabt haben sollten (**|**), d.h. wenn es in Urzeiten so etwas wie Eifersucht nicht gegeben hätte. Die ersten Gesetzessammlungen jedenfalls, die uns aus historischen Zeiten überliefert sind, sind voll von Bestimmungen, welche die Sexualität und die Ökonomie regeln und Verstöße häufig mit sehr harten Strafen ahnden. Bevor wir uns diesen Bestimmungen zuwenden, wollen wir einige Überlegungen anstellen, und zwar zunächst hinsichtlich der Sexualität.“ (Ebd., 1998, S. 260).

„Die elementarste aller Tatsachen der menschlichen Sexualität ist, daß der Drang des männlichen Geschlechts nach sexueller Aktivität von überwältigender und drängender Stärke ist, als Entlastungstrieb dem Hunger als einem Sättigungsverlangen entgegengesetzt und ähnlich, während dem weiblichen Geschlecht der entsprechende Drang aus physiologischen Gründen fehlt, so daß weibliche Wesen ihr ganzes Leben hindurch »unerweckt« bleiben können. Gleichzeitig sind die Männer im Durchschnitt physisch stärker als die Frauen, obgleich der Sexualdimorphismus längst nicht so ausgeprägt ist wie bei den Pavianen. Daraus resultiert die Möglichkeit, daß die Frauen den männlichen Trieben als reine Lustobjekte dienen können. Etwas Derartiges verwirklicht sich tendenziell immer dann, wenn Frauen zur Beute von Kriegern werden, und sie zählen in der Tat zu den gesuchtesten Beutestücken ....“ (Ebd., 1998, S. 260).

„Es ist wohl keine bloße Spekulation, wenn man vermutet, archaischen Religionen und den frühesten Gesetzgebern habe als entsetzenerregende äußerste Möglichkeit vorgeschwebt, daß die im Vergleich zu allen Tieren von Naturfesseln nahezu freie Sexualität der Menschen das Ungestüm des einen Geschlechts und die Unersättlichkeit des anderen freisetzen könne und damit die Selbstzerstörung des Staates und sogar der Menschheit herbeiführen müsse. Denn der letzte Sinn der Ordnungen der Sexualität war nicht der negative der Mäßigung oder Unterbindung, sondern der positive der Sicherung des Weiterlebens der Gemeinschaft. Hier aber hatten die Schwächeren, die Frauen, die weit wichtigere Funktion, welche zugleich die weit größeren Lasten in sich schloß: die Lasten der Schwangerschaft, der Geburt, der Aufzucht der Kinder.“ (Ebd., 1998, S. 261).

„Ungebändigtes Ungestüm und nicht-stigmatisierte Unersättlichkeit mußten die auf längere Sicht unerläßlichste aller Aufgaben aufs schwerste beeinträchtigen und vielleicht sogar verhindern; keine Maßnahme konnte streng genug sein, um der für die Gruppe tödlichen Konsequenz entgegenzuwirken, auf die der Naturdrang die Individuen so sehr hintrieb, obwohl ein anderer Naturdrang den kulturellen Geboten gleichläufig war: der Naturdrang der Brutpflege, jene Wurzel des »Altruismus« in der ganzen Tierwelt, der in der Regel auch eine Lebenspartnerschaft im Ringen um das individuelle Überleben mit sich bringt. Aber nur der Mensch konnte sich von diesem Naturdrang emanzipieren, und deshalb bedurfte es der kulturellen Institutionen, um dasjenige zu sichern, was man »den Willen der Natur« oder »die Absicht Gottes« nennen mochte. So ergab sich jener Typus von Gesellschaft beinahe von selbst, der die Fortdauer des menschlichen Lebens am besten garantierte: die Gesellschaft, in der jeder Mann und jede Frau in unauflöslicher, auf die Erzeugung und Aufzucht von Kindern ausgerichteter Ehe leben, welche von allen anderen Männern und Frauen respektiert wird.“ (Ebd., 1998, S. 261-262).

„Eine solche Gesellschaft mag man die »naturmoralische« nennen, und sie weist als solche in der Geschichte nur geringe Varietäten auf. Aber in der Realität haben mindestens an ihren Rändern Ungestüm und Unersättlichkeit ihren Platz, und so sind faktisch Vergewaltigung, Ehebruch und Prostitution alltägliche Tatbestände, die durch Ordnungen, d.h. Gesetze, Sanktionen und nicht zuletzt die »öffentliche Meinung«, zurückgedrängt, jedoch nie ganz unterbunden werden.“ (Ebd., 1998, S. 262).

„Zur historischen Existenz gehört wesentlich dieses Ineinander von Gebot und Übertretung; die Zeitalter unterscheiden sich nicht zuletzt dadurch, welchen Charakter die Gebote und die Übertretungen haben und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.“ (Ebd., 1998, S. 262).

„Die »Ökonomie« einer Sippe von Sammlern und Jägern besteht darin, Tag für Tag die Nahrungsmittel heranzuschaffen, die zum Leben erforderlich sind; wenn das Wild auch nur wenige Wochen außer Reichweite ist, wenn die Wanderung in ein Gebiet geführt hat, wo keine Knollen und Früchte zu finden sind, sterben die Individuen der Sippe: Der Hunger ist drängender als die Liebe, um eine von Schillers bekanntesten und trivialsten Aussagen abzuwandeln.“ (Ebd., 1998, S. 264).

„Aber es ist die Frage, ob die Vorstellung von den autarken Sammler- und Jägersippen richtig ist, die all das, was sie brauchen und was ihnen nicht von der Natur gegeben wird, selbst herstellen, von den Hütten bis zu den Speeren und Pfeilen, und es ist gerade die Sexualität, welche Beziehungen zu anderen Sippen herstellt, denn die Exogamie ist eine der frühesten und mächtigsten Wirklichkeiten der Vorgeschichte: der tief im Biologischen verwurzelte Drang, die Fortpflanzung dem engen Kreis der nächsten Blutsverwandten zu entziehen und »neues Blut« einzubeziehen, und sei es durch Frauenraub. Sobald sich eine Einheit oberhalb der Sippen gebildet hat, vornehmlich der Stamm, wird die Exogamie, der Blutaustausch, institutionalisiert, und die Männer der Sippe »Adler« müssen beispielsweise ihre Frauen aus der Sippe »Schlange« nehmen.“ (Ebd., 1998, S. 264-265).

„Der Tauschgemeinschaft von Personen zwischen mehreren Sippen dürfte dann sehr bald eine Tauschgemeinschaft von Sachen zwischen den Sippen oder den Stämmen folgen. Der Begriff »Handel« ist hierbei noch nicht in der üblichen Bedeutung anzuwenden: Nicht »Waren«, sondern »Geschenke« werden getauscht, und das Ziel ist nicht Äquivalenz, sondern Erlangung von Prestige dadurch, daß das gegebene Geschenk größer ist als das empfangene; die Ethnologen haben diesen Austausch unter den Namen »Kula« und »Potlatsch« unter rezenten Naturvölkern gründlich erforscht, und der französische Soziologe Marcel Mauss hat in seinem Buch über den Gabentausch eine ganze Zivilisationskritik daraus entwickelt.“ (Ebd., 1998, S. 265).

„Aber nach kürzerer oder längerer Zeit dürfte daraus schon in der Vorgeschichte ein Handel im heute gebräuchlichen Sinne geworden sein, d.h. ein Austausch nach dem Kriterium der Äquivalenz, in dem nicht der Gewinn von Prestige, sondern die Erlangung von Vorteilen das Hauptmotiv war und für den die unterschiedlichen natürlichen Ressourcen grundlegend waren: Der Libanon hat reiche Waldbestände, in Mesopotamien wächst viel Getreide, ein Austausch der Überschüsse war von wechselseitigem Vorteil, selbst wenn vergleichsweise viel Getreide für vergleichsweise wenig Zedernholz gegeben werden mußte. Die zweite Voraussetzung aber war die Überschußproduktion, die in größerem Maßstab erst mit dem Aufkommen der Landwirtschaft gegeben war; solange die Erzeugung nicht nennenswert über den Eigenbedarf der Sippe oder des Dorfes hinausging, konnte kein Handel getrieben werden. Die dritte Voraussetzung war eine faktische, nicht schon mit dem Begriff des Handels gegebene, denn zum Austausch eigneten sich in besonderem Maße leicht transportierbare Luxusgüter wie Bernsteinketten oder Kupferspangen, und es mußte innerhalb der Dörfer oder Stämme Differenzierungen zwischen reicheren und ärmeren Individuen bzw. Familien geben, die den Reichen den Eintausch von Luxusgegenständen ermöglichten.“ (Ebd., 1998, S. 265).

„Daß Kupfer nur auf der Sinai-Halbinsel und in Anatolien gefunden, aber auch in Ägypten und Mesopotamien benötigt wurde, ist als Differenz der Erdgegenden die erste Voraussetzung des Handels; daß die Landwirtschaft beträchtliche Überschüsse erzeugte, ist die zweite, und daß innersoziale Differenzen existierten, die einen Bedarf an Luxusgütern schufen, ist die dritte Voraussetzung. Diese dritte Voraussetzung ist ihrerseits wieder die Vorbedingung der zweiten, denn eine nennenswerte Überschußproduktion kam sowohl in Ägypten wie in Mesopotamien erst zustande, als die Verwaltungsstäbe der Könige und der Tempel die Landgewinnung und den Schutz des Landes in großem Maßstab organisiert hatten.“ (Ebd., 1998, S. 265-266).

„Damit sind wir schon mitten in der Frühgeschichte und nehmen auf Tempel, Paläste und Städte Bezug, und erst in der Geschichte kann die Ökonomie in der Gestalt des Handels zur Lebensnotwendigkeit werden; erst jetzt können Städte entstehen, die ... vom Handel leben, und erst jetzt wird es zu einer Hauptaufgabe der Könige, durch den Abschluß von Verträgen mit anderen Staaten die Sicherheit der Karawanen zu gewährleisten, mit denen die eigenen Kaufleute aus weit entfernten Gegenden die Güter heranholten, ohne die man nicht mehr auskam oder nicht mehr auskommen zu können glaubte.“ (Ebd., 1998, S. 266).

„Mit Sicherheit konnten nicht alle Bewohner Uruks den Silberschmuck erwerben, den die Kaufleute von den Bahrein-Inseln herbeibrachten, aber die Dirne, die Enkidu nach Uruk führte, stand sicherlich in der Überzeugung nicht allein, daß jedem Bewohner der Stadt ein besseres Los zuteilgeworden sei, als er es außerhalb der Stadt und fern von dem durch die Organisation der Arbeit gewonnenen Fruchtland haben konnte. Erst wenn die Differenzen als übermäßig empfunden wurden und wenn die Lebenssituation der unteren Schichten unter diejenige der einfachen Bauern herabsank, konnte verbreitete Unzufriedenheit aufkommen. Vor allem und zunächst mußte aber die Gesetzgebung das Ineinandergreifen der vielen arbeitsteiligen und vermögensmäßigen Funktionen sichern, damit das bereits recht komplizierte Räderwerk den Gang gehen konnte, der als solcher eine übergeordnete Gerechtigkeit darstellte.“ (Ebd., 1998, S. 266).

„Abermals gibt das Gesetzeswerk Hammurabis ein anschauliches Bild von den Ordnungen, denen diese Ökonomie der Arbeitsteilung, des Tausches und des Eigentums unterlag. Sicherung des bereits weit ausgedehnten Eigentums der Einzelnen war offenbar eine der obersten Maximen. Ein Einbrecher wird vor dem Hause, in das er einzudringen versuchte, getötet und eingescharrt. Wer einen Wertgegenstand kauft oder in Verwahrung nimmt, ohne einen Zeugen herbeizuziehen oder einen Vertrag zu schließen, gilt als Dieb und wird getötet.“ (Ebd., 1998, S. 266).

„Schulden können im Notfall dadurch abgegolten werden, daß der Schuldner seine Gattin oder seine Kinder oder sich selbst in die Schuldsklaverei verkauft, und damit ist eines der wichtigsten Prinzipien einer internen »Klassenbildung« gegeben, aber Hammurabi bestimmt ausdrücklich, daß die Betreffenden irn vierten Jahr freigelassen werden müssen; es soll sich also nur um eine transitorische Klassenbildung handeln.“ (Ebd., 1998, S. 266-267).

„Jedenfalls reicht der freie Tauschverkehr unter den Bürgern einer Stadt oder eines Staates vollkommen aus, um eine Klassenbildung aus internen Gründen hervorzubringen, die allerdings erst dadurch wirkliche Konsistenz erhält, daß Standesbewußtsein und Ansprüche auf »Ehre« vorhanden sind, die noch nicht aus bloß ökonomischen Unterschieden resultieren, sondern aus dem Selbstgefühl einer Schreiber- oder Kriegerschicht erwachsen. Eine ökonomische Differenzierung kann schon innerhalb einer Kleinfamilie dadurch eintreten, daß eines der Kinder es an Achtung für die Eltern fehlen läßt und deshalb enterbt wird; aber auch dieser Fall ist im Kodex Hammurabi geregelt und damit der Willkür entzogen: Einmal nämlich muß der Vater dem Kind verzeihen, und erst im Wiederholungsfalle darf er die Enterbung vornehmen. Sogar der Lohn der Lohnarbeiter darf zwischen den Parteien nicht frei ausgehandelt werden, sondern er wird gesetzlich festgelegt: Vom Anfang des Jahres bis zum fünften Monat sind sechs Schekel Silber pro Tag zu geben, vom sechsten Monat an bis zum Ende des Jahres fünf Schekel - offenbar wegen des unterschiedlichen Arbeitsanfalls. (Vgl §§ 21, 7, 25, 48, 64, 117, 169, 237).“ (Ebd., 1998, S. 267).

„So tritt die Ökonomie in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends bereits weitgehend ausgebildet vor unsere Augen: Es gibt Privateigentum von sehr verschiedener Größe, Darlehen, Zins, Lohnarbeit, Schuldknechtschaft und Geld. Von Banken und professionellen Geldverleihern ist allerdings noch nicht die Rede, und der Handel ist gutenteils Außenhandel, d.h. er muß durch Staatsverträge gesichert werden. Völlig frei und ungebunden ist diese Wirtschaft jedoch nicht; es hat sicherlich seinen Grund, wenn Hammurabi sich im Schlußteil seines Kodex rühmt, er habe die Menschen von Summer und Akkad in seiner Weisheit geborgen, »damit der Starke nicht den Schwachen bedränge, Waise und Witwe ihr Recht bekämen«, er habe dem Gebot Marduks Folge geleistet und »Wohlbefinden für das Volk bereitet«.“ (Ebd., 1998, S. 267).

„Die Ökonomie war nicht vom Glauben an die Götter emanzipiert, und sie unterlag mannigfaltigen Gesetzesbestimmungen zum Schutz der »Schwachen«, der Witwen und Waisen. Aber daß es Schwache und Starke, Arme und Reiche, Machtlose und Mächtige gab, suchte Hammurabi nicht zu verhindern, und auch in den Tempelstaaten des frühen Sumer waren mindestens beträchtliche Ansätze dazu vorhanden. Diese Differenzen - marxistisch gesprochen: die »Klassenbildung« - waren ein unentbehrliches Merkmal der »Kultur«, der »Zivilisation« und in eins damit »der Geschichte«. Nichts war für die Menschheit fruchtbringender, nichts bedeutete eine größere Gerechtigkeit als das Aufkommen der Hochkulturen mit allen ihren Ungleichheiten und insofern Ungerechtigkeiten.“ (Ebd., 1998, S. 267-268).

„Aber konnte nicht die gesetzliche Sicherung von Eigentum und Tauschverkehr eines Tages eine Analogie zu jener extremen Möglichkeit der weiblichen Sexualität hervorbringen, der Unersättlichkeit, und wurde ihr nicht der Weg durch ein Analogon des männlichen Ungestüms im Geschlechtsleben bereitet, durch die Rücksichtslosigkeit eines unbändigen Mehr-Haben-Wollens?“  (Ebd., 1998, S. 268).

„Aber vergleichbare Klagen waren schon in Lagasch hörbar geworden, bevor Urukagina im 24. Jahrhundert v. Chr. der Unersättlichkeit des Königs und der reichen Familien durch seine Reformen eine Grenze setzte. War es andererseits nicht die relativ freie, auf die Vorteilssuche von Einzelnen und Familien gegründete Ökonomie, die innerhalb der Staaten der frühen Hochkulturen und indirekt auch außerhalb ihrer die größten Veränderungen herbeiführte, die man insgesamt oder wenigstens zum Teil als »Fortschritte« bezeichnen muß? Brachten diese Veränderungen oder Fortschritte die »Emanzipation« bestimmter Schichten mit sich, etwa den Gewinn der Gleichberechtigung der Händlerschichten mit der Bürokratie und den Schreibern? Ist hier die Hauptkraft jener »Dynamik« zu sehen, die in der Geschichte wirksam ist? Oder gibt es andere Faktoren, die noch mächtiger sind, etwa die Bevölkerungsvermehrung und die Kriege? Und zieht die Emanzipation des Bürgertums (wenn man diese Begriffe verwenden darf) vielleicht die Emanzipation der Sklaven und zumal der Schuldsklaven nach sich? Oder drückte diese Emanzipation die unteren Schichten ganz im Gegenteil immer tiefer in Armut und Abhängigkeit hinab? Oder sind all diese Begriffe inadäquat?“ (Ebd., 1998, S. 268).

29) Dynamik, Fortschritt, Emanzipation

„Auguste Comte unterschied in seiner Soziologie zwischen »sozialer Statik« und »sozialer Dynamik«, und aus dieser Entgegensetzung erklärt der Begriff sich leicht. Dynamik als Gegensatz zu Statik ist offensichtlich im Begriff der »neolithischen Revolution« enthalten, und ... so könnte man wohl behaupten, mit der neolithischen Revolution, der Entstehung der ersten Städte und mit der Erfindung der Schrift werde die bisherige Statik durch eine Dynamik der Entwicklung abgelöst, und das hieße, daß »Dynamik« mit »Geschichte« gleichbedeutend wäre. Gleich im ersten Kapitel wurde gesagt, die Vorgeschichte sei der Zeitdauer nach ebensoviel länger, wie die eigentliche Geschichte seit 6000 Jahren bewegter und dynamischer sei. (**|**|**|**).“ (Ebd., 1998, S. 269).

„Es ist daran zu erinnern, daß Oswald Spengler der »faustischen« Kultur des Abendlandes eine Bewegtheit und Dynamik von singulärer Art zuschrieb. (**|**|**|**|**). Muß man indessen nicht doch unvergleichlich weiter zurückgehen und feststellen, daß der »Urknall« die erste Quelle aller Dynamik ist und daß das ganze Universum ein Gebilde von ungeheurer Dynamik darstellt, in dem sämtliche Elementarteilchen ständig in rasender Bewegung sind und in dem die großen Weltkörper mit unvorstellbar hoher Geschwindigkeit auseinanderstreben? Es wäre indessen einzuwenden, daß alle diese Bewegungen sich einer Art von Bewegungslosigkeit einordnen, der Bewegungslosigkeit jener mathematisch formulierbaren Gesetze, nach denen etwa die Planeten für Jahrmilliarden, wenngleich nicht für ewige Zeiten, um die Sonne kreisen, und der Bewegungslosigkeit jener Formen des Lebens, die für Jahrmillionen alle Individuen einer Art »im wesentlichen« gleich sein lassen, obwohl bei genauer Untersuchung winzigste Unterschiede zwischen den Individuen zu eruieren sein würden. Es wären also schon im urältesten Naturgeschehen die Dynamik der Verläufe und die Statik der Gestalten zu unterscheiden.“ (Ebd., 1998, S. 269).

„Es müßte also eine ganze Anzahl von Unterscheidungen getroffen werden, und die eigenartigste Feststellung wäre, daß von einer spezifischen Dynamik des Lebens nicht die Rede sein dürfte, sofern die Evolutionstheorie in ihrer darwinistischen Ausformung richtig ist, denn sie läßt alle Veränderung aus bloßen Fehlern, aus Mutationen, entstehen, die in sich keinerlei Richtung haben, sondern deren zufällige Resultate nur nach ihrer kurzfristigen Überlebensfähigkeit ausgelesen werden. Eine Dynamik im Sinne einer »schöpferischen Entwicklung« würde es also gar nicht geben, so sehr die Folge der Gestalten von den Infusorien bis hin zu den Urmenschen einen Begriff wie »Höherentwicklung« herbeizuzwingen scheint. Müßte man nicht mithin auch im Blick auf die Vorgeschichte und die Geschichte der Menschen auf den Begriff »Dynamik« verzichten und lediglich von geglückten oder mißglückten Anpassungen reden?“ (Ebd., 1998, S. 269-270).

„Aber die pragmatische Brauchbarkeit des Begriffs läßt sich keinesfalls in Abrede stellen. Im Acheuléen mit seinen durch Hunderttausende von Jahren so gut wie gleichbleibenden Faustkeilen ist eben offensichtlich dasjenige abwesend, was sich am Beginn der Geschichte in klar erkennbaren Stufen aufbaut: die Vergemeinschaftung von Menschen verschiedener Abkunft in Dörfern, der Zusammenschluß von Dörfern zu Regionen, welche von Städten beherrscht werden, die Entstehung überregionaler Gebilde unter Königen, das Ringen der Staaten um Hegemonie oder Alleinherrschaft innerhalb riesiger Räume.“ (Ebd., 1998, S. 270).

„Schon diese Beschreibung impliziert eine These: Geschichtliche Dynamik gibt es nicht ohne Herrschaft, nicht ohne Unterordnung des Willens von vielen Individuen unter den Willen eines einzigen oder einiger weniger, die in Ausnahmefällen die gleichmäßige Ausrichtung des Willens aller Einzelnen auf ein gemeinsames Ziel sein mag.“ (Ebd., 1998, S. 270).

„Ungleichmäßigkeit der Vermehrung ist eine der wichtigsten Differenzen überhaupt, und sie führt potentiell nivht mehr bloß zu Eroberungen, sondern zu Ausrottungskriegen.“ (Ebd., 1998, S. 272).

„Inbesitznahme von Land durch ein neues Volk unter Verdrängung, Unterwerfung oder Austilgung des alten ist keinesfalls eine blutige Vergeblichkeit innerhalb eines ständigen Kreislaufs, sondern der Anfang einer anderen Geschichte, die für die Eroberer einen Neubeginn darstellt. Wanderung und Landgewinn von Stämmen und Völkern sind also eine Urtatsache der Geschichte und eine Hauptquelle von Dynamik, und diese läßt sich als solche nicht aus der Herrschaft ableiten, sondern sie akzeptiert und verstärkt die Herrschaft, die vorher erst in Ansätzen vorhanden gewesen sein mag.“ (Ebd., 1998, S. 273).

„Wanderungsbewegungen sind aber mit hoher Wahrscheinlichkeit um so eher erfolgreich, je eindeutiger die Waffen der Angreifer überlegen sind. Die Hethiter und die Mitanni konnten ihre Reiche nur deshalb gründen, weil sie über das neuartige Kampfmittel der Streitwagen verfügten, die unter den Feinden Furcht und Schrecken verbreiteten. Zwar ist der Vorteil meist nur kurzfristig, und es dauerte nicht lange, bis auch die Assyrer, ja sogar die phönikischen Städte über Kampfwagen verfügten, aber als um 1200 von Norden her die »Seevölker« heranzogen, da beruhte deren Unwiderstehlichkeit, die erst am Nildelta ein Ende fand, auf der großen Zahl eiserner Waffen, denen die traditionellen Waffen aus Bronze weit unterlegen waren. Änderungen der Kampftechnik und ihrer Materialien können eine fast ebenso bedeutsame Quelle geschichtlicher Dynamik sein wie der Bevölkerungsdruck; die Geschichte weiß nichts davon zu berichten, daß Vorteile, die auf diese Weise erlangt wurden, keine Verwendung gefunden hätten.“ (Ebd., 1998, S. 273).

„Hier kann der »Fortschritt« ins Spiel gebracht werden, und es ist zunächst daran zu erinnern, daß nach der Lehre der Naturwissenschaft zwar Fortschrittsprozesse schon in der anorganischen Natur erkennbar sind, daß sie aber mit dem Anwachsen von Entropie (**|**) Hand in Hand gehen und alle Prozesse in der Welt mit hoher Wahrscheinlichkeit letzten Endes auf den »Kältetod« gerichtet sind. Im menschlichen Felde aber bedeutet »Fortschritt« vor allem die Realität und vielleicht den Begriff der »Verbesserung«.“ (Ebd., 1998, S. 273).

„Die eisernen Waffen, mit deren Hilfe die »Seevölker« das Hethiterreich erobert und Ugarit zerstört hatten, führten ein völlig neues Zeitalter herauf: die Eisenzeit, welche die Bronzezeit ablöste. Das war ein Schritt, der an Wichtigkeit der Erfindung der Bronze gleichkam, welche den Weg zu den frühen Hochkulturen geebnet hatte. In modernen Augen handelte es sich um einen fundamentalen Fortschritt.“ (Ebd., 1998, S. 274).

„Alle diese Fortschritte beruhten auf dem größten aller Fortschritte, der »neolithischen Revolution«, dem Übergang zur Landwirtschaft und weiterhin zu Städten, Staaten und zur Schrift. Sie waren umgeben und gestützt von zahlreichen kleinen Fortschritten: Die Masse der Zeichen der Bilderschrift wurde mehr und mehr reduziert, und die Zeichen selbst wurden vereinfacht, bis der Übergang zur Silben- und schließlich zur Buchstabenschrift möglich wurde; Kampfwagen, Bogen und Doppeläxte waren viel wirkungsvollere Waffen als Schleudern und Keulen; das Babylon der Chaldäerkönige war weit größer und besser gebaut als das Ur der Dritten Dynastie; die Handwerker, die der König Hiram von Tyrus dem Salomo zum Bau des Tempels zur Verfügung stellte, verfügten sicherlich über ausgefeiltere Techniken als ihre Vorgänger, welche die ersten und noch sehr kleinen Tempel des Sumererlandes erbaut hatten; Schädeltreparationen, wie sie die babylonischen Ärzte mit ihren Skalpellen und Obsidianmessern vornahmen, konnten tausend Jahre früher in Uruk noch nicht stattfinden; der Tempel von Karnak hätte unter Menes noch nicht erbaut werden können. Auch in den religiösen Vorstellungen mag man Fortschritte konstatieren: Der Aton Echnatons kommt heutigen Vorstellungen sehr viel näher als die kuh- und paviangestaltigen Götter der früheren Zeit; der Gott des Jona weist weit ethischere und universalere Züge auf als der Gewittergott des Moses vom Sinai.“ (Ebd., 1998, S. 274).

ZWEITER TEIL

A) Die Weltreligionen und die Weltgeschichte

30) Einführung: Die Spannweite der Religionen (S. 281-292)
31) Indien und der Buddhismus (S. 293-304)
32) China. Konfuzianismus und Taoismus (S. 305-315)
33) Griechenland und die Anfänge von Philosophie und Wissenschaft (S. 315-325)
34) Das nachexilische Judentum (S. 326-339)
25) Das Christentum (S. 339-352)
36) Der Islam(S. 353-363)

30) Einführung: Die Spannweite der Religionen

„Das Verhältnis der Weltreligionen zu den Volks- oder Kulturreligionen läßt sich aber auch auf andere Weise bestimmen: Alle Religionen, so kann man in stärkster Verkürzung formulieren, sind von dem Empfinden getragen, daß der Mensch vom »Übermächtigen« abhängig ist. Nur der Mensch hat ein Empfinden für dajenige, was objektiv als ein ontologisches Gesetz gelten darf, nämlich das alles Einzelne, selbst wenn es sich um Sonnensysteme oder Sternennebel handelt, dem Ganzen oder All gegenüber von mikroskopischer Kleinheit ist; dieses Empfinden, das sich bis zur Einsicht steigern kann, geht unmittelbar aus der »Weltoffenheit« oder der Transzendenz des Menschen hervor und ist der elementarste aller seiner Wesenszüge.“ (Ebd., 1998, S. 283).

„Was die Einschätzung der Individualität angeht, so ist das Spektrum innerhalb der Weltreligionen ebenfalls sehr breit. Der Buddhismus ist individualitätsfeindlich, da er die Erlösung vom Leiden erstrebt, das für ihn von der Individualität unabtrennbar ist. So leugnet er die Existenz eines »Ich« oder einer »Seele«; alle Individuen sind weiter nichts als zufällige Zusammensetzungen aus den fünf Daseinsfaktoren, und sie verschwinden wie die Wellen im Strom. Allerdings »erlöschen« sie dadurch nicht, sondern setzen sich in andere Existenzen hinein fort, weil jede individuelle Konfiguration bestimmte Konfigurationen in der Welt der »samsara« nach sich zieht, so daß ein schwaches Analogon zur Lehre von der Seelenwanderung erhalten bleibt. Zur Erlösung aber bedarf es dervollständigen Abwendung von dieser Welt und also des Auszugs in die »Unbehaustheit« der Askese.“ (Ebd., 1998, S. 287).

„Das Christentum dagegen will die Individuen als solche erlösen und damit unsterblich machen, einschließlich ihres Leibes, der lediglich verklärt, d.h. von den Organen niederen Sinnlichkeit frei sein, wird. Diese Erwartung ist schlechterdings nur in einem starken Glauben zu vollziehen, aber auch für ein säkularisiertes Denken behält sie einen »rationalen Kern« von höchster Bedeutung, nämlich die Überzeugung vom unvergleichlichen Wert der Individualität.“ (Ebd., 1998, S. 287).

„So ist unter diesem Gesichtspunkt abermals kaum ein größerer Gegensatz vorstellbar als der zwischen Buddhismus und Christentum, und es ist außerordentlich zweifelhaft, ob ein humanistischer Ökumenismus die beiden Pole des Spektrums in eine Übereinstimmung zu bringen vermag. Man kann die Individualität nicht zugleich verneinen und bejahen, aber es ist sicherlich weitaus schwieriger, an die ewige Fortdauer des Gebrechlichen und Begrenzten zu glauben. Wie man allerdings der Individualität noch einen »unendlichen Wert« zuschreiben kann, wenn sie vom Begriff der »Menschenseele« gelöst wird, ist nicht einzusehen; außer Zweifel steht jedoch, daß das Christentum, anders als der Buddhismus und anders auch als der Islam, zum Ausgangspunkt eines »Individualismus« werden kann, welcher diejenige Einstellung sein dürfte, die von allen Gestalten der Religion am weitesten entfernt ist.“ (Ebd., 1998, S. 287).

B) Schema der historischen Existenz

37) Herrschaft, Schichtung, Staat (S. 365-380)
38) Adel und Sublimierung (S. 380-394)
39) Krieg und Frieden (S. 394-407)
40) Das Aufbegehren und „die Linke“ (S. 407-423)
41) Städte und Landgebiete (S. 424-434)
42) Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein (S. 434-448)
43) Ökonomie und Sexualität (S. 448-459)
44) Bildung und Wissenschaft (S. 459-470)
45) Dynamik, Fortschritte, Emanzipationen, „Säkularisierung“ (S. 470-484)

37) Herrschaft - Schichtung - Staat

„Auch der »moderne Staat« des Absolutismus war vermutlich nicht so sehr »Staat«, und der »Feudalstaat« des Mittelalters war nicht so wenig »Staat«, wie viele Historiker angenommen haben, sondern es müßte hier der Begriff des »Liberalen Systems« eingeführt werden, der ein Gemeinsames der okzidentalen Geschichte ins Wort faßt. Dieses Gemeinsame bedeutet eine gewisse Schwäche des »Staates«, die schon mit der Existenz einer grundsätzlich unabhängigen Kirche gegeben ist, und es bildet ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber allen nicht-okzidentalen Staatsformen. Aber dennoch läßt sich nun auch eine Begriffsbestimmung vornehmen, die alle historischen Staaten trotz aller Spannweiten der idealtypischen Pole betrifft: Staaten sind Gruppen von Menschen, die in bedrohlicher Umwelt mittels einer zentralen Instanz, welche gegenüber den einzelnen Mitgliedern das Recht über Leben und Tod besitzt, zur unbedingten Verteidigung ihrer Existenz und ihres Besitzes entschlossen sind.“ (Ebd., 1998, S. 379-380).

„Die weiteste aller möglichen Bedeutungen liegt dann vor, wenn schon ein Sippenhaupt, das ein Mitglied der Sippe zum Tode verurteilen oder ausstoßen kann, als »zentrale Instanz« gefaßt wird; eine engere Bedeutung ist dann gegeben, wenn die zentrale Instanz ein erblicher König oder eine perennierende Institution wie ein Parlament ist und wenn Anordnungen und Befehle mindestens partiell auf schriftlichem Wege erfolgen. In der weitesten Bedeutung ist der Staat in der Vorgeschichte ebensogut zu finden wie in der Geschichte; in der engeren und »eigentlichen« Bedeutung ist er auf die Geschichte begrenzt.“ (Ebd., 1998, S. 380).

„In allen geschichtlichen Staaten aber bedurfte die Kommunikation zwischen der zentralen Instanz und der Masse des Volkes oder auch der Unterworfenen der Vermittlung durch Menschen, die dieser Instanz näher standen als die übrigen und die meist sogar aus eigenem Recht bestimmte Befehle erteilen konnten. Seit dem Zeitalter des Absolutismus ist diese zugleich vermittelnde und führende Schicht »der Staatsapparat« oder die Bürokratie, aber während der längsten Zeit der Geschichte wurde sie »Adel« oder »Aristokratie« genannt. Fast immer hatte diese Schicht eine besondere Beziehung zum Elementarzweck des Staates, der Verteidigung und gegebenfalls dem Angriff im Kriege.“ (Ebd., 1998, S. 380).

38) Adel und Sublimierung

Die Verhältnisse in dem einen Teil der Insel würden den Theorien von der endogenen Entstehung des Staates und des Adels entsprechen, und die Verhältnisse in dem zuletzt eroberten Teil jener »Überlagerungstheorie«, die im Ersten Teil eines der Themen war (**). Es ist allerdings wahrscheinlich, daß die beiden Adelsschichten wechselseitig Einfluß aufeinander ausüben würden, wobei aller Vermutung nach der Herrenadel für den Volksadel stärker zum Vorbild werden würde als umgekehrt.“ (Ebd., 1998, S. 384).

„Eines der frühesten und reinsten Beispiele für einen Herrenadel sind die arischen Eroberer Indiens, welche sich selbst »die Edlen« nannten und die Unterworfenen schon deshalb verachteten, weil sie eine andere Hautfarbe hatten und überdies »Phallosanbeter« waren: Die Bezeichnung für »Klasse« oder »Stand« heißt bekanntlich »Farbe« (»varna«), mithin war ein biologisches oder rassisches Kriterium maßgebend, nicht anders als viel später in ganz Amerika nach der Eroberung durch Engländer und Spanier, wo Neger und Indios nicht bloß eine »Unterschicht«, sondern eine verachtete Kaste waren.“ (Ebd., 1998, S. 384).

„Was wäre Europa ohne die Dome und Kirchen seiner Bischofsstädte, ohne die Schlösser seiner Könige, die Burgen seines Adels und die Stadtpaläste seiner Patriziat?“  (Ebd., 1998, S. 393).

39) Krieg und Frieden

„Stellen wir uns vor, die Erde sei eine einzige große Ebene, ohne Meere, aber eingeteilt in fünfhundert Quadrate, die durch gleichmäßig große Flußläufe gebildet würden. Die Bewohnerzahl jedes Quadrates betrüge 100000 Menschen. Die Ebene wäre gleichmäßig fruchtbar, und alle Familien könnten durch Ackerbau auf ihren gleich großen Anwesen ohne übergroße Mühe einen ausreichenden Lebensunterhalt gewinnen. Es gäbe daher nicht den geringsten Grund, daß die Bewohner des einen Quadrats die Bewohner des Nachbarquadrats mit Krieg überziehen sollten; es würde vielmehr in der ganzen Welt jede Familie voller Zufriedenheit »unter ihrem Weinstock und ihrem Feigenbaum« sitzen.“ (Ebd., 1998, S. 397-398).

„Damit dieser Zustand dauerhaft bliebe, wäre allerdings noch eine wesentliche Bedingung zu erfüllen: Die Zahl der Einwohner müßte nach 100 Jahren in allen Quadraten noch die gleiche sein. Wenn es anders wäre, würden Nachteile und Vorteile entstanden sein und damit der Wunsch, diese Ungleichheit wieder zu beseitigen. Daß sich das Problem durch freundschaftliche Abmachungen zwischen benachbarten Quadraten lösen lassen würde, ist so gut wie ausgeschlossen, und es ist nur allzu wahrscheinlich, daß das bevölkerungsreichste Quadrat mit Gewalt den Ausgleich herzustellen versuchen würde, dem das Nachbargebiet aus sehr verständlichen Gründen widerstrebte. Damit wäre der Krieg in diese friedliche Welt gekommen, weil Vorteile und Begehrlichkeiten entstanden wären.“ (Ebd., 1998, S. 398).

„Nun ist die wirkliche Erde, auf der die Menschheit lebt und von jeher gelebt hat, alles andere als eine gleichmäßig fruchtbare Ebene: Berge grenzen an Flußtäler, die eine Meeresküste ist für den Verkehr günstig, während die andere felsig und abweisend ist; riesige Wüsten erstrecken sich über Tausende von Kilometern, aber nicht weit von deren Grenzen sind Gebiete von konzentrierter Fruchtbarkeit zu finden; unterschiedliche Klimazonen schaffen ganz unterschiedliche Bedingungen für den Erwerb des Lebensunterhalts. Mit einfachen Worten: Die Oberfläche der Erde ist vielfältig differenziert, ihre Regionen sind untereinander ungleich, die Menschen leben unter ungleichen Bedingungen. Sie sind daher ungleich, obwohl sie sich doch als Menschen für gleich halten dürfen, und der Neid derer, die benachteiligt sind, gegenüber denjenigen, welche einen Vorteil genießen, ist nichts Schlechtes oder Verwerfliches. Aber noch nie in der ganzen Geschichte hat bloße Überredung einen grundlegenden Ausgleich herbeigeführt.“ (Ebd., 1998, S. 398).

„Den Krieg beseitigen zu wollen, bevor er sein Werk vollbracht hat, nämlich die Erzeugung eines einheitlichen Bewußtseins und zugleich des Respekts vor den wachsenden Differenzen, war - und ist möglicherweise - eine törichte Utopie und die stärkste Kriegsursache für die Zukunft.“ (Ebd., 1998, S. 399).

„Die Bereitschaft, mit dem Leben für Werte von übervitaler Art einzutreten - sei es für die Selbstbehauptung des eigenen Staates, der eigenen Kultur und der eigenen Religion oder für die »Ehre« oder für die »Freiheit« -, ist ein Hauptcharakter aller Geschichte schlechthin, der die innere Möglichkeit von Kriegen begründet und nicht dadurch seine Legitimität verliert, daß vermutlich eine ganze Anzahl Von Zeitgenossen bereit war, sich den Ansprüchen der Feinde zu unterwerfen, wenn ihnen nur die physische Existenz gesichert würde. Und eben hieraus resultiert nach Hegels berühmtem Kapitel in der Phänomenologie des Geistes der Unterschied von »Herr und Knecht«, aber auch die Möglichkeit von »Emanzipation« und »allgemeiner Freiheit«.“ (Ebd., 1998, S. 400-401).

„Aber diese These ist für die ganze Geschichte gültig, vermutlich auch für die Vorgeschichte, und man mag sogar »biologische Wurzeln« entdecken.“ (Ebd., 1998, S. 401).

41) Städte und Landgebiete

„Im vergleich zu Rußland war das ganze Gebiet des lateinischen Abendlandes schon während des Mittelalters ein städtereiches Land. (Nach Fritz Rörig zählte Deutschland im Mittelalter ca. 3000 Städte ... [vgl. Fritz Rörig, Die europäische Stadt und die Kultur des Bürgertums im Mittelalter, 1952, S. 75]). Man könnte sogar sagen, zumal in Italien und Deutschland seien die antiken Poleis wiederentstanden. Florenz und Pisa, Venedig und Genua, Mailand und Lucca, Lübeck und Dortmund, Soest und Goslar und viele andere waren jahrhundertelang de facto und zum Teil auch de iure unabhängige Staaten, Stadtstaaten, wie es Athen und Korinth gewesen waren. Der Unterschied gegenüber den Poleis war, daß sowohl in Italien als auch in Deutschland über- und nebengeordnete Staaten vorhanden waren (also ein sehr großer, bedeutender Unterschied; HB), gegen die sich die Städt behaupten mußten, teilweise in regelrechten Kriegen.“ (Ebd., 1998, S. 427).

„Nur in Deutschland kam es zur Bildung der großen Städtebündnisse und in erster Linie der Hanse, die in der Lage war, Königreichen wie Dänemark den Krieg zu erklären. Im Inneren der Hansestädte spielten die Fernkaufleute ebenso die führende Rolle wie in den italienischen Städten, aber auch in Deutschland kämpften die Zünfte der kleinen Handwerker und Krämer mit größerem oder geringerem Erfolg um mehr Mitspracherechte. Von den Handwerkern, zumal den Webern, ging die negative Sicht der Fernkaufleute aus: Diese erschienen häufig als bloß von Gewinnstreben erfüllte, den Abhängigen gegenüber unbarmherzige Menschen, als Ausbeuter und »Kapitalisten«, wie man sich schon hätte ausdrücken können.“ (Ebd., 1998, S. 432).

„In den eigenen Augen der Großkaufleute und auch nach dem Urteil späterer Historiker hing von ihrem Wagemut und von ihrer Organisationsgabe das Geschick der ganzen Stadt ab; sie blühte, solange kühne Unternehmer an ihrer Spitze standen; ihre Entwicklung stagnierte oder ging zurück, sobald ein bequem lebendes Patriziat nur noch auf Erhaltung des schon Erreichten bedacht war.“ (Ebd., 1998, S. 432).

„Die kennzeichnende Mentalität der kleinen Handwerksmeister, welche die Konkurrenz untereinander ausschalten und einem jeden seine »Nahrung« sichern wollten, setzte sich durchaus nicht überall durch, und für die Mediävisten bildet das Städtewesen des deutschen Mittelalters ein überaus buntes Bild. Aber das Gemeinsame ist doch leicht zu erkennen: Es handelte sich durchweg um ... Gemeinwesen, die sich durch Türme und Mauern von ihrer Umwelt abtrennten und doch in der Regel durch einen ausgedehnten Handel mit einer weiten Umwelt eng verbunden waren, die sich unter geringerer oder größerer Beteiligung des »Volkes« selbst regierten und durchweg von starkem Gemeingeist erfüllt waren, welcher in Kirchen und Rathäusern seinen dauerhaften Ausdruck fand.“ (Ebd., 1998, S. 432).

„Obwohl das gesellschaftliche System erst durch die Reformation eine entscheidende Weiterbildung erfuhr, darf doch schon die gesellschaftliche Welt des Mittelalters im Abendland als »Liberales System«, d.h. als mehrpoliges, »polygonales« Gebilde, bezeichnet werden, das als solches weltgeschichtlich singulär war. Seine engverbundene Staatenvielfalt und sein Adel sind den Staaten und dem Adel anderer Weltregionen nicht gleichzusetzen, und erst recht ist nirgendwo sonst ein selbstbewußtes »Bürgertum« ausgebildet worden, das indessen auch deshalb etwas anderes als eine reiche Händlerschicht war, weil es sich dem Adel nicht bloß entgegenstellte, sondern dessen Vorbild zu nutzen bereit war.“ (Ebd., 1998, S. 433).

„Deshalb war sogar in den Städten die führende Schicht nicht einfach »bürgerlich«, sondern »bürgerlich-adlig« oder patrizisch. Eine Revolution im Sinne der Vernichtung einer Klasse durch eine andere fand daher nirgendwo statt, auch wenn eine solche Intention nicht ganz selten artikuliert und einige Male an marginalen Stellen der Realität, wie in der Agitation Thomas Müntzers und ansatzweise in der Wirklichkeit des Wiedertäuferreichs zu Münster, aufweisbar ist.“ (Ebd., 1998, S. 433).

„Aber der Eindruck wäre falsch, daß das Liberale System bloß ein deutsches und italienisches Phänomen gewesen wäre. Auch in Frankreich bildeten sich »Kommunen«, auch in England entspannen sich Kämpfe um die Freiheit von Städten und sogar von »Grafschaften«; in Spanien wurden die »fueros«, die Privilegien von städten und Landschaften, während des ganzen Mittelalters von den Monarchen feierlich beschworen.“ (Ebd., 1998, S. 433).

„Unterschiede zwischen den Staaten wurden selbst zu einem Merkmal der Gesellschaftsordnung des Liberalen Systems des »Okzidents«, des (germanisch dominierten!HB) romanisch-germanischen Abendlandes.“ (Ebd., 1998, S. 434).

42) Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein

„Man kann ... sagen, daß der Wurzelboden der Geschichtsschreibung die Geschichte selbst war, nämlich die fast durchweg kriegerische Geschichte von Königen und Hochkulturen, und daß ihr unmittelbarere Ursprung ein Geschichtsbewußtsein war, das aus dem Zusammenwirken geschichtlicher Erinnerungen mit der Erfahrung bewegender Vorgänge in der Gegenwart erwuchs.“ (Ebd., 1998, S. 435).

Polybios, geboren um 200 v. Chr., war ein hochgebildeter Grieche aus Arkadien, der im Dritten Makedonischen Krieg als Reiterführer des achäischen Bundes gegen Rom gekämpft hatte und nach der Schlacht von Pydna als eine von tausend achaiischen Geiseln nach Rom gebracht wurde. Dort fand er Eingang in das Haus des Siegers von Pydna, des Aemilius Paullus, und wurde zum Erzieher und Freund von dessen Adoptivsohn Scipio Aemilianus, an dessen Seite er bei der endgültigen Zerstörung Karthagos anwesend war. Er ist mithin als früher Repräsentant jener intellektuellen Begegnung zwischen Römern und Griechen zu betrachten, an deren Anfang die Unterwerfung Makedoniens und Griechenlands durch die Römer steht und deren Ende die mentale Hellenisierung Roms bildet. Als Geschichtsschreiber erlangte er Ruhm durch seine 40 Bücher Historien, welche die Zeit von 264 bis 144 umfassen und nur unvollständig erhalten sind.“ (Ebd., 1998, S. 438).

„Sein Motiv gibt er gleich zu Beginn des ersten Buches zu erkennen, und zwar in der Form einer Frage:
»Denn wer wäre so gleichgültig, so oberflächlich, daß er nicht zu erfahren wünschte, wie und durch was für eine Art von Einrichtung und Verfassung ihres Staates beinahe der ganze Erdkreis in nicht ganz 53 Jahren unter die alleinige Herrschaft der Römer gefallen ist?«  (Polybios, Historien, I, 1).
Er will also nach den Ursachen des Übergangs der Weltherrschaft von den hellenistischen Staaten der Nachfolger Alexanders des Großen auf die Römer fragen, aber er läßt von Anfang an keinen Zweifel daran, daß für ihn die Hauptursache jedenfalls in der Verfassung des Staates zu suchen ist, und es wird sehr schnell deutlich, daß er in der römischen Verfassung die beste aller Verfassungen sieht. Die Frage nach den Ursachen ist also zugleich eine Aussage über das politisch Gute, und daraus resultiert mit Notwendigkeit die innere Zustimmung des Besiegten zu dem weltgeschichtlichen Triumph der Sieger, d.h. ein Geschichtsbewußtsein von durchaus affirmativer Art, das aber als »eigenes« nur dann zu bezeichnen wäre, wenn Polybios den eigentlichen Sieg jener römisch-hellenischen Synthese zuschriebe, deren Anfänge er selbst verkörperte.“ (Ebd., 1998, S. 438).

„Der Grundgedanke, der erst im sechsten Buch entwickelt wird, ist einfach. Im Anschluß an Platon unterscheidet Polybios drei reine Staatsformen: die Monarchie als den Anfang der Staatlichkeit, die Aristokratie und die Demokratie. Jede trägt die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit der Entartung in sich: Wenn das Königtum zur Tyrannis geworden ist, wird es von tüchtigen Männern gestürzt, die eine Aristokratie errichten. Die aber entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer Oligarchie und erregt ebensoviel Haß, wie ihn die Tyrannis erweckt hatte, und so wird sie vom Volk gestürzt, das nun die Herrschaft als Demokratie in die eigenen Hände nimmt; aber auch die entartet unter den Enkeln der Gründergeneration, nämlich zur Pöbelherrschaft, so daß der Ruf nach dem starken Mann, der endlich Ordnung schafft, übermächtig wird und am Ende wieder eine Monarchie entstanden ist.“ (Ebd., 1998, S. 438-439).

„Dieser Kreislauf - die »anakyklosis« - der Verfassungen würde immer so weitergehen, wenn sich nicht weise Verfassungsgeber gefunden hätten, die eine gemischte Verfassung einführten, welche die Vorzüge der reinen Verfassungen vereinigt und ihre Nachteile vermeidet. Als erstes Beispiel führt Polybios die Verfassung des Lykurgos an, also diejenige der Spartaner. Hier sind die einzelnen Machtfaktoren - das Königtum, das Volk und der Rat der Alten - »so gegeneinander ausgewogen, daß keiner das Übergewicht erhält« und infolgedessen der Staat auf lange hin erhalten bleibt. Das großartigste Beispiel einer solchen Verfassung ist aber die römische: Die Römer »besitzen die beste Verfassung, die es heute gibt«. (Polybios, Historien, VI, 10).“ (Ebd., 1998, S. 439).

„Aber nach Polybios ist auch die Weltherrschaft der Römer, so gut begründet und so berechtigt sie ist, zum schließlichen Untergang bestimmt. (Vgl. Polybios, Historien, VI, 51; mit unzweideutigen, aber wegen des direkten Anschlusses an die Erörterung der reinen Verfassungen nicht ganz einleuchtenden Worten so bereits in VI, 9 formuliert). In gewisser Hinsicht identifiziert sich Polybios also mit dem Geschichtsbewußtsein der Römer, in anderer Hinsicht jedoch bleibt er dazu in Distanz.“ (Ebd., 1998, S. 439).

„Das christliche Geschichtsbewußtsein ist seit den ersten Anfängen von dem antiken dadurch fundamental verschieden, daß es nicht bloß den Verfall geschichtlicher Realitäten, sondern ein Ende der Geschichte selbst erwartet: die Wiederkunft Christi und das Jüngste Gericht, das die Guten für immer in den Himmel Aufnahme finden läßt und die Bösen zur ewigen Höllenstrafe verdammt. Die Naherwartung der ersten Zeiten war bald dahingeschwunden, aber die Ausrichtung auf das »Ende der Welt« verlor sich nie, und die Geschichte blieb eine zum Abbruch bestimmte Bühne, auf der sich der Kampf zwischen den Guten und den Bösen vollzog. Die Bücher über den »Staat Gottes« des Augustinus waren die einflußreichste Artikulation dieses christlichen Geschichtsbewußtseins, doch wird man sie schwerlich der Geschichtsschreibung zurechnen, die eher von seinem Nachfolger Orosius ins Werk gesetzt wurde“ (Ebd., 1998, S. 439).

„Dem islamischen Bereich zugehörig ist das Geschichtswerk von Ibn Chaldun, das in seinem Hauptteil die Geschichte der arabischen und berberischen Stämme des Maghreb mit so vielen Details schildert, daß es nur für Spezialforscher lesbar ist.“ (Ebd., 1998, S. 441).

„Gleich zu Beginn gibt sich Ibn Chaldun als ein kritischer Historiker zu erkennen .... Kritisch ... scheint auch die Einstellung gegenüber seinem eigenen Volk zu sein, denn es finden sich sehr negative Urteile über die Araber, ja diese erscheinen geradezu als die nomadischen und barbarischen Kulturzerstörer schlechthin. Sie sind »wegen ihrer wilden Natur Räuber und Zerstörer, und sie haben die wenigsten Anlagen zur Kunstfertigkeit.« (Ibn Chaldun, Ausgewählte Abschnitte aus der Muqaddima. Aus dem Arabischen von Annemarie Schimmel, 1951, S. 65, 214).“ (Ebd., 1998, S. 441).

„Aber Ibn Chaldun ist alles andere als ein bedingungsloser Lobredner der Kultur. Sein Zentralbegriff ist vielmehr »aschabija«, und der ist am ehesten durch »Gemeinschaftsgeist« wiederzugeben. Diese »aschabija« ist auf dem Land, d.h. bei den Beduinen der Steppen und Wüsten, am stärksten, und ihre feste Basis ist die Blutsverwandtschaft, also die Sippe. Nur aus der »aschabija« erwachsen Staatlichkeit, Stadtleben und Kultur, aber eben dadurch wird sie auch geschwächt und schließlich zerstört. Der Luxus und das Wohlleben des Stadtlebens gewinnen die Oberhand über die Rauheit und den Gemeinschaftsgeist des Landlebens, d.h. des Beduinenlebens, und so zerstört die kultur ihren eigenen Ursprung.“ (Ebd., 1998, S. 441).

„Die letzte Stufe der Kultur vor ihrem Untergang läßt sich als bloße »Zivilisation« charakterisieren, und Ibn Chaldun nimmt sich so als Vorläufer Spenglers aus. (**|**|**|**). Aber er ist doch nicht ein bloßer Dekadenztheoretiker, der sein eigenes Volk lobt, indem er es scheinbar herabsetzt. (Daß »barbarische« oder zurückgebliebene Völker »junge« und damit zukunftsvolle Völker seien, wird später bekanntlich zumal in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zum Topos.). Die vielen Zitate aus dem Koran sind sicherlich nicht bloße Verzierungen, und Ibn Chaldun schreibt dem Islam offenbar eine Verwandlungskraft zu, die aus den wilden Stämmen der Zeit vor Muhammad (auch: Mohammed; HB) Welteroberer und kulturschaffende Dynastien gemacht hat. Ebensooft wie an Spengler mag man sich an Giambattista Vico erinnert fühlen, genauer gesagt: Ibn Chaldun kann als ein Vorläufer gerade dieser beiden Geschichtsdenker erscheinen.“ (Ebd., 1998, S. 441-442).

„Wenn mit Recht von einer Singularität des Okzidents gesprochen wird, so war auch das Werk von Las Casas einer ihrer Bestandteile.“ (Ebd., 1998, S. 444).

„Eine »freie Regierungsweise« ist dann gegeben, wenn die drei Gewalten der Legislative, der Exekutive und der Judikative voneinander getrennt sind, denn »es gibt keine Freiheit, wenn in derselben Person oder in derselben Körperschaft die Macht der Gesetzgebung mit der ausführenden Gewlt vereinigt ist«, und das gleiche gilt für die richterliche Gewalt. Dieser Zustand existiert für Montesquieu nur in England; aber er sollte und könnte auch in Frankreich und Deutschland, ja in ganz Europa herrschen, denn seine Ursprünge sind bei den germanischen Stämmen zu suchen, die in der Völkerwanderunsgzeit den größten Teil Europas (das gesamte Abendland! HB) eroberten: »Wenn man das bewunderungswürdige Buch des Tacitus über die Sitten der Germanen liest, wird man sehen, daß die Engländer von diesen ihre Idee ihrer Regierunsgform genommen haben. Diese schöne System stammt aus den ›germanischen Wäldern‹.« (Charles-Louis de Montesquieu, Ausgewählte Werke, S. 720ff., 730 [Buch 11. Kapitel VI]).“ (Ebd., 1998, S. 445).

„Montesquieu ... ist ... als einer der bedeutendsten Vorkämpfer nicht nur des Konstitutionalismus oder der liberalen Demokratie zu betrachten, sondern auch des Vorrangs des aus germanischen Wurzeln stammenden, durch das System der Freiheit ausgezeichneten Okzidents.“ (Ebd., 1998, S. 445).

43) Ökonomie und Sexualität

„So ließe sich nicht zuletzt am Beispiel der Sexualität, aber auch am Beispiel der Ökonomie, für die der Hunger nur noch eine ferne Sage ist, ein Blick in die »Nachgeschichte« tun.“ (Ebd., 1998, S. 459).

44) Bildung und Wissenschaft

„Zwischen den einzelnen Universitäten des gesamten Abendlandes bestand eine Kommunikation von erstaunlicher Dichte, nicht zuletzt infolge der »libertas docendi«, aber in erster Linie aufgrund der Alleinherrschaft des Lateinischen, die so unangefochten war, daß z.B. an den deutschen Universitäten den Studenten das »Teutonisieren« verboten wurde, also die Benutzung der Muttersprache im Umgang miteineinander. (Wenn man hier das »Lateinische« durch das »Englische« und die »Universitäten« durch die »Wirtschaftsunternehmen« austauscht, erhält man die heutige Situation des Globalismus! HB).“ (Ebd., 1998, S. 464-465).

„Im Ganzen gesehen gab es um 1550 zu diesem abendländischen System zahlreicher, in Fakultäten gegliederter und konfessionsverschiedener Hochschulen nirgendwo in der Welt eine genuine Analogie. Dadurch wurde es nicht ausgeschlossen, daß Universitäten ... im Verlauf des 17. Jahrhunderts in den Ruf der Starrheit und des theologischen Dogmatismus gerieten und daß sich die wichtigsten Entwicklungen der Philosophie und der Wissenschaft außerhalb der Universität vollzogen. Weder Galilei noch Kepler, weder Descartes noch Leibniz waren Universitätslehrer. Erst Christian Wolff und dann vor allem Kant legten im 18. Jahrhundert den Grund für den Wiederaufstieg, der im 19. Jahrhundert die deutschen Universitäten zu führenden Kraft in der wissenschaftlichen Welt machen sollte.“ (Ebd., 1998, S. 465).

44) Dynamik, Fortschritte, Emanzipation, „Säkularisierung“

„Bei allen Verbesserungen ist in der alten Welt nirgendwo ein Fortschrittsbewußtsein oder ein wille zum Fortschritt zu entdecken, und die extreme Möglichkeit einer Emanzipation des Menschen von seiner Endlichkeit, auf das er »werde wie Gott« taucht zwar auf, wird aber ... entsetzt zurückgewiesen.“ (Ebd., 1998, S. 471).

„Es dürfte richtig sein, die Moderne nicht aus dem Wirken von zwei dynamischen Professionen hervorgehen zu lassen, die sich gegen die Hemmungskräfte ... sowie nicht zuletzt gegen den hartnäckigen Konservativismus ... durchgesetzt hätten, sondern aus dem Wechselspiel relativ unabhängiger, aber gleichwohl eng verbundener Kräfte, die ... in ihrem Aufeinanderwirken Modernität hevorbrachten. Eben das wäre das »Liberale System«, das nicht etwa erst ... als »Liberalismus« ins Dasein trat, sondern seine Wurzeln im Mittelalter hat. Man darf ohne Bedenken behaupten, daß ... darauf der Begriff der Singularität ... Anwendung finden darf ....“ (Ebd., 1998, S. 475-476).

„Wenn das Christentum so mysterienlos gewesen wäre wie der Islam, hätte sich diese Art von Säkularisierung nicht vollziehen können, ja es ist die Frage, ob eine Gesellschaft, in der Religiosngesetz und Statsgesetz identisch sind, ohne daß die religiöse Lehre »übervernünftig« zu sein beanspruchte, sich überhaupt von sich aus säkularisieren könnte. Die Gesellschaft des Liberalen Systems, so dürfen wir jetzt sagen, ist als die sich selbst säkularisiernde Gesellschaft zu bestimmen.“ (Ebd., 1998, S. 483).

„Nur deshalb konnte sie jenen »Fortschrittsglauben« entwickeln, desen Fehlen wir für alle früheren Zeiten konstatiert haben und der in der christlichen Vorstellung vom Gang der Geschichte zwischen Sündenfall und Endgericht bloß partiell präfiguriert war. Nur deshalb, so ist zu vermuten, vermochte sie diejenige Dynamik an den tag zu legen, die als durchdringende Tendenz noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht eindeutig an den Tag getreten war. Nur deshlab schließlich konnten die Emanzipation der Philosophie von der Theologie und die spätere Emanzipation der Wissenschaft von der Philosohie in Emanzipatiosnbewegungen eine Fortsetzung finden, die das Punktuelle jenes vielfältigen »Aufbegeghrens« hinter sich gelassen hatten. Und nur so konnte wohl auch die Idee einer Überwindung der Geschichte durch Aktivität und Wissenschaft zustande kommen, die sich von der Vorstellung einer Überwindung durch den Kampf für den einheitsstiftenden Glauben, wie im Islam, und von dem Wunsch nach Auslöschung der Individualität durch Askese im buddhistischen Nirwana so deutlich unterscheidet.“ (Ebd., 1998, S. 483).

C) Modernität und praktische Transzendenz

46) Die Anfänge der modernen Wissenschaft und die Aufklärung (S. 485-497)
47) Die atlantischen Revolutionen als Eingangstor zur Moderne (S. 497-515)
48) Die „Kulturstaaten“ des 19. Jahrhunderts und die Weltherrschaft des Okzidents (S. 515-534)
49) Der Erste Weltkrieg und der Bolschewismus (S. 535-548)
50) Faschismus und Nationalsozialismus (S. 548-562)
51) Das Judentum und der Zionismus (S. 562-580)
52) Der Kalte Krieg und das Ende des osteuropäischen Kommunismus (S. 580-596)

46) Die Anfänge der modernen Wissenschaft und die Aufklärung

„Die moderne Wissenschaft mag als Grundlage allen Fortschritts oder als Anfang der Natuverwüstung verstanden werden, und die Aufklärung mag als entscheidender Schritt zur Befreiung aller Menschen von Armut und Aberglauben oder aber als Auflösung aller gemeinschaftsbildenden Werte und Strukturen gelten: Zusammen mit den politischen und ökonomischen Umwälzungen jener dreifachen Revolution bedeutet sie vor allem den Überschritt von der bis dahin allein bekannten theoretischen Transzendenz zur praktischen Transzendenz, d.h. zur Ergänzung oder zur Ablösung des auf die Welt im ganzen gerichteten denkens durch ein Handeln, das ebenso auf die Welt im ganzen gerichtet war; obwohl es der Meinung sein konnte, in der vorteilhaften Einrichtung der irdischen Verhältnisse sein Genügen zu finden.“ (Ebd., 1998, S. 497).

47) Die atlantischen Revolutionen als Eingangstor zur Moderne

„Noch eine letzte Frage ist aufzuwerfen: Was bedeutete die französische Revolution unter innenpolitischen Gesichtspunkten, Die geläufigste Antwort ist, es habe sich um eine »bürgerliche Revolution« gehandelt, und das heißt, um eine modernisierende, den kapitalistischen Verhältnissen freie Bahn schaffende Revolution. Es grenzt indessen ans Groteske, wenn die Jakobiner für Vertreter »des Bürgertums« erklärt werden, nur weil sie ihrer Herkunft nach überwiegend Advokaten waren. Robespierre und Saint-Just haßten die Bourgeoisie, und die meisten Jakobiner ließen sich von jenem egalitären Volksenthusiasmus tragen, der in dem oben zitierten Vers seinen Ausdruck findet.“ (Ebd., 1998, S. 510).

„Der eigentlichen »Massenbasis« der Revolution, den Pariser »Sansculotten« haben selbst ihre Freunde unter den Historikern bescheinigt, daß sie in ökonomischer Hinsicht eine »reaktionäre« Einstellung hatten. Richtig ist allerdings, daß es andere Advokaten waren, die Robespierre, Saint-Just und Couthon schließlich stürzten und unter dem Direktorium der Handelsverkehr und der industriellen Produktion wieder eine relativ freie Bahn schufen. Aber sie unterlagen ihrerseits schon bald dem sieggekrönten General Napoleon Bonaparte, der sich zum »Kaiser« machte und den ideologischen Bürgerkrieg gegen die »feudalen« Mächte Europas weitgehend in einen Staaten- und Eroberungskrieg umwandelte, dem unvergleichlich mehr Menschen zum Opfer fielen als dem Großen Terror der Jakobiner.“ (Ebd., 1998, S. 510).

„Als der Korse, der Sohn und Überwinder der Revolution, besiegt war, schrieb im Juli 1814 jener andere große und doch in seiner Orientierung an der Landwirtschaft paradoxe Vorkämpfer der Modernisierung, Thomas Jefferson:
»Der Attila des Zeitalters ist entthront, der rücksichtslose Vernichter von zehn Millionen Menschen ..., der große Unterdrücker der Rechte und Freiheiten der Welt ..., wie elend, wie schändlich hat er seine aufgeblasene Laufbahn beendet ..., es ist mir leid um Frankreich, obwohl sich nicht leugnen läßt, daß es wegen der Bedrängnisse, die es anderen Nationen unnötiger- und verwerflicherweise schuf, harte Vergeltungsmaßnahmen verdient hat. .... Nachdem er die Freiheiten seines Landes zerstört hatte, hat er dessen sämtliche Hilfsmittel erschöpft, sowohl die physischen wie die moralischen, um seinen eigenen wahnsinnigen Ehrgeiz, seinen tyrannischen und hochmütigen Geisteszustand zu befriedigen. Seine Leiden können nicht zu groß sein.« (Thomas Jefferson, zitiert in: Saul Padower, The Complete Jefferson, S. 919).“ (Ebd., 1998, S. 510-511).

„So viel ist sicher, daß Frankreich während des ganzen 19. Jahrhunderts gegenüber England und Deutschland ein ökonomisch rückständiges und in der Hauptsache landwirtschaftlich orientiertes Land blieb.“ (Ebd., 1998, S. 511).

„Wer die »Anfänge der Moderne« in unvermischter Gestalt auffinden möchte, der könnte versucht sein, »Land, Land!«  zu rufen, wenn er sich England zuwendet. Hier gab es keinen Absolutismus, sondern der Adel hatte sich eine Monarchie nach seinen Vorstellungen geschaffen, indem er die in England unbegüterten, für lange Jahrzehnte des Englischen nicht mächtigen Kurfürsten von Hannover als Könige ins Land rief; diesem Adel war die Betätigung in Handel und Industrie nicht verboten wie dem französischen, und er war nicht vom Bluts-, sondern vom Besitzprinzip geprägt, d. h. nicht alle Kinder erbten den Titel des Vaters, sondern nur der älteste (oder u.U. der jüngste) Sohn, der den Besitz übernahm, während alle anderen Kinder ohne Titel in die Schicht der »gentry« übergingen.“ (Ebd., 1998, S. 511).

„In England waren Verbindungen zwischen Gentry und dem Bürgertum an der Tagesordnung, und keine hochmütige Verachtung traf den Mann, der sich an der Börse ein Vermögen verdiente. Hier waren die Anhänger der abweichenden Glaubensbekenntnisse nicht wie die Hugenotten in Frankreich vertrieben worden, sondern sie wurden als »Dissenters« geduldet und entfalteten, wie die Juden, bedeutende Aktivitäten ökonomischer Art, obwohl sie doch zu den Hauptträgern jener Revolution des 17. Jahrhunderts gehört hatten, die lange vor den Franzosen einen König hingerichtet hatte. Wo waren die Bedingungen für einen großen Aufschwung der Gewerbetätigkeit und eine bedeutende Fortentwicklung der Technik besser als in diesem handeltreibenden Land einer parlamentarischen Monarchie?“ (Ebd., 1998, S. 511-512).

„Wenn der gewaltige Aufschwung, welcher England zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts zu dem ersten industriellen Land der Welt machte, eine »Revolution« genannt wird, so kann dafür nicht das Merkmal der Plötzlichkeit und Turbulenz maßgebend sein, sondern allein das erstaunliche Ausmaß der Umwandlung .... All das Zufällige, das über das Geschick einer politischen Revolution entscheiden kann - die falsche Nachricht, die eine Volksmenge auf die Straße treibt; der Ausgang einer Schlacht, der von dem kühnen Entschluß eines einzigen Mannes abhängen mag -, fehlt hier allem Anschein nach; es bietet sich vielmehr das Bild einer ebenso konsequenten wie zwangsläufigen Entwicklung.“ (Ebd., 1998, S. 512).

„So zwangsläufig der Prozeß erscheinen kann, so gewiß hatte er »Väter« oder Urheber, und dazu zählten in erster Linie die Erfinder, die oft einfache Handwerker, ja manchmal sogar Analphabeten waren, die aber nur dann in den Genuß der Früchte ihres Werkes kamen, wenn sie mit Unternehmern und Wissenschaftlern in Verbindung traten: Ein aufschlußreiches Beispiel ist James Watt, der die Dampfmaschine nicht eigentlich erfand, aber doch auf entscheidende Weise verbesserte und verwendbar machte.“ (Ebd., 1998, S. 512).

„Für die »Söhne« der großen Industrie, d.h. für die einfachen Arbeiter der Leitindustrie, der Textilfabrikation, die sich noch als »Spinner« und »Weber« bezeichneten, als sie schon längst in Fabriken arbeiteten, bedeutete der Prozeß vor allem eine Entfremdung gegenüber ihren Werkzeugen, über die sie die Herren gewesen waren, solange sie sie mit der Kraft ihrer Hände und Füße in Bewegung setzten und hielten. Aber als das Wasser und dann der Dampf zur Antriebskraft wurden, konnten sie sich als bloßes Zubehör einer Maschine empfinden. Und da diese Maschinen in Fabriken konzentriert waren und daher dem Unternehmer gehörten, mußten sie das Gefühl haben, zu Objekten eines umfassenden Enteignungsprozesses geworden zu sein. Und was bedeutete die Verwendung der Dampfkraft anderes als eine Ent-Natürlichung, da sie nicht altbekannt und anschaubar war wie die Kraft der Zugtiere oder auch des wassers, sondern »hergestellt« werden mußte? Daß eine tiefgreifende, alldurchdringende Verwandlung gerade der elementaren Lebensverhältnisse stattfand, war für die Arbeiter früher und stärker erfahrbar als für die Unternehmer, die sich im Verhältnis zu ihren Vorfahren vielleicht nur eine intensivere Aktivität zuschreiben mochten.“ (Ebd., 1998, S. 512-513).

„So wurde der anscheinend unaufhaltsame Industrialisierungsprozeß von menschlichen Lobpreisungen, Verdammungen, Agitationen und Bewegungen gleichsam umspielt, die ihn zu fördern oder zu hemmen suchten. Die Begründung des Wirtschaftsliberalismus durch Adam Smith gab den Unternehmern ein gutes Gewissen und konnte sie doch auch wieder unsicher machen, da Smith ihren Profit für einen Abzug vom Lohn der Arbeiter erklärte. Die Hauptvertreter der klassischen Nationalökonomie, David Ricardo und Thomas Malthus, hoben vor allem die Gefahren hervor, die für den Industrialisierungsprozeß aus der Bevölkerungsvermehrung und der drohenden Erschöpfung der Ressourcen erwuchsen; einem Gegner der »Verstädterung« wie Charles Hall erschien die Moderne als die Zeit des schroffsten Antagonismus, der immer weiteren Ausdehnung der Manufakturen, der Verelendung und der rücksichtslosen Ausbeutung; große Dichter, die selbst dem Adel entstammten, wie Byron und Shelley, griffen die führende Schicht mit scharfen Worten an; Robert Southeys Letters from England könnte man ein »antiindustrielles Manifest« nennen.“ (Ebd., 1998, S. 513).

„Und die vielgerühmte Stabilität des gesellschaftlichen Zustandes war oft genug gefährdet: durch den »Maschinensturm« der Ludditen, durch die schweren Unruhen nach dem »Massaker von Peterloo« im Jahre 1819 und vor allem durch die quasi-revolutionäre Unruhe, welche die Reformgesetzgebung von 1832 vorantrieb. Aber den Agitatoren, die mit einer verbalen Gewaltsamkeit ... zum Sturz der Aristokratie aufriefen, schwebte keineswegs die Entfesselung des Industrialisierungsprozesses als Ziel vor, sondern eher dessen Hemmung, ja Unterbindung, und eben durch diese Agitation sah sich der neue Premierminister Lord Grey gezwungen, größere Schritte zu tun, als er eigentlich beabsichtigt hatte.“ (Ebd., 1998, S. 513).

„Auch hier erwies sich die Richtigkeit des Satzes, daß »Modernität« sich erst im Kampf unmoderner Elemente allmählich herausbildete. Dennoch war das Neuartigste, was zu Wort gebracht wurde, zweifellos die Hoffnung, daß durch die Industrialisierung ein neuer, besserer und von der Vergangenheit ganz verschiedener Zustand heraufgeführt werden würde.“ (Ebd., 1998, S. 513).

„Als im Jahre 1851 der Prinzgemahl Albert die erste Weltausstellung im Londoner Kristallpalast feierlich eröffnete, schien angesichts der dort konzentrierten »Wunderwerke der modernen Technik« etwas anderes als ein zuversichtlicher Blick in die technisch-industrielle und wissenschaftliche Zukunft der Menschheit gar nicht mehr möglich zu sein.“ (Ebd., 1998, S. 514).

„Daß alle diese Fortschritte und Verbesserungen einen inneren und nicht bloß negativen Zusammenhang mit der Religion und der Philosophie des Okzidents aufwiesen, wurde allenfalls in der Weise wahrgenommen, daß die christliche Sittlichkeit die Grundlage des industriellen Aufschwungs sei. Hegel indessen erblickte in seinen Vorlesungen der 1820er Jahre über die »Philosophie der Geschichte« eine engere Beziehung zwischen der christlichen Weltreligion und der Moderne, welche für ihn mit der Reformation begann:
»Die Entwicklung und der Fortschritt des Geistes von der Reformation an besteht darin, daß der Geist, wie er sich seiner Freiheit durch die Vermittlung, welche zwischen dem Menschen und Gott vorgeht, jetzt bewußt ist in der Gewißheit des objektiven Prozesses als des göttlichen Wesens selbst, diesen nun auch ergreift und in der Weiterbildung des Weltlichen durchmacht.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, S. 887-888).
Und die Schlußsätze der Vorlesung lauten:
»Daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiel ihrer Geschichten, - dies ist die wahrhafte Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. .... Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, S. 938).
Mit einfacheren Worten heißt das: Modernität ist die Realisierung der Transzendenz, jenes »Wesens des Menschen«, das ihn von seinen ersten Anfängen an ein Verhältnis zur Welt im ganzen haben ließ. Wir haben dieses Weltverhältnis, wie es uns bisher begegnet ist, die »theoretische Transzendenz« genannt, da sich das »Über-hinaus«, das Überschreiten der in der Praxis gegebenen Grenzen, vornehmlich im Denken und im mythologischen Vorstellen vollzog. Anscheinend will Hegel sagen, in der Moderne vollziehe sich diese Entgrenzung nicht mehr bloß im Denken, sondern auch in der Praxis: Die Welt im ganzen, d.h. die Erde, werde entdeckt und erschlossen und alle menschlichen Verhältnisse würden entsprechend, d.h. gemäß der Vernunft, eingerichtet. In unserer Terminologie ließe sich das folgendermaßen formulieren: Die praktische Transzendenz löst als Weltbemächtigung und Welteinrichtung die theoretische Transzendenz als eine bloß vorwegnehmende und nicht autonome Gestalt ab. Tatsächlich hat Hegel die Religion und die Kunst für abgeschlossene Formen der geistigen Entwicklung erklärt, und auch eine Weiterentwicklung der Philosophie über die seine hinaus hat er allem Anschein nach nicht für möglich gehalten.“ (Ebd., 1998, S. 514-515).

„Wir haben gesehen, wie ambivalent die Modernität bei ihrem ersten Auftreten war, wie unverhüllt sie aber gleichwohl die Überwindung der bisherigen Geschichte postulierte. Wir sagen daher nicht: »Modernität ist Transzendenz«, sondern »Modernität ist praktische Transzendenz«, und diese praktische Transzendenz nimmt sich an der Schwelle des dritten Jahrtausends im Rückblick sehr viel fragiler und im Vorblick weitaus mächtiger aus, als Hegel sich vorstellen konnte. Aber eben deshalb gibt der Begriff der »Realisierung« das Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Transzendenz auf allzu vereinfachende Weise wieder.“ (Ebd., 1998, S. 515).

48) Die „Kulturstaaten“ des 19. Jahrhunderts und die Weltherrschaft des Okzidents

„Dieser Prozeß einer »Demokratisierung«, welche sich in der Regel noch nicht als Verneinung der Monarchie verstand, ging Hand in Hand mit einer Alphabetisierung der Bevölkerung, bei der Deutschland bei weitem an der Spitze stand .... Die Zahl der Zeitungen und Zeitschriften verfielfachte sich, die der Neuerscheinungen von Büchern stieg unablässig. Von den verschiedenen Wissensgebieten schlug die Naturwissenschaft den sichersten und kontinuierlichsten Gang ein. Ihre Entwicklung war im 19. Jahrhundert eine einzige Erfolgsgeschichte, und sie ging autonom in eigenen Institutionen vor sich, meist den Universitäten und nicht mehr, wie im 17. und 18. Jahrhundert, durch Einzelne, die wie Descartes und Leibniz mit Fürsten, Königen und Höfen in naher Verbindung standen. Von der Begründung der »Elektrodynamik« durch Michael Faraday über die Entdeckung des Gesetzes von der Enthaltung der Energie durch Julius Robert Mayer bis zur Einführung des Entropiebegriffs (**|**|**) durch Rudolf Clausius, von James Clerk Maxwells Abhandlung über die Elektrizität bis zur Entdeckung des Wirkungsquantums durch max Planck und zur Begründung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein handelt es sich bei allen bahnbrechenden Forschern so gut wie ausschließlich um Europäer (vor allem um Deutsche!HB **).“ (Ebd., 1998, S. 521).

„Das Zusammenwirken von Wissenschaft, Technik und Industrie nahm gewiß in den verschiedenen Staaten Europas unterschiedliche Formen an und wurde auch mit unterschiedlicher Stärke von den Staaten und insbesondere den Armeen gefördert. Aber so sicher England das führende Land war (als Seemacht! HB), so wenig barg es es alle Arten des »Fortschritts« gleichmäßig in sich - in der Volksbildung etwa bleib es weit hinter Preußen (wie ganz Deutschland! HB **) zurück, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts war nirgendwo die Verflechtung von Wissenschaft und Industrie so weit entwicklet wie in der chemischen Industrie Deutschlands. (**).“ (Ebd., 1998, S. 522).

„Alle europäischen Kolonialgebiete bleiben von einer Urbevölkerung bewohnt, die sich möglicherweise eines Tages emanzipieren würde, aber die riesigen Räume des westlichen Nordamerika und Sibirien wurden zu einfachen Teilen des Mutterlandes gemacht, und die Urbevölkerung der Indianer und der Samojeden konnte, soweit sie überlebte, nie einen selbständigen Schritt tun.“ (Ebd., 1998, S. 523).

„Wenn Emanzipation die Befreiung von jener totalen Unsicherheit bedeutete, in welche die Arbeiter und ihre Familien durch Arbeitslosigkeit und Krankheit gestürzt wurden, dann war die Sozialgesetzgebung Bismarcks ein entscheidender Schritt zur sozialen Emanzipation.“ (Ebd., 1998, S. 524).

„Die fundamentale Tatsache war, daß eben doch eine sehr große Menge von Juden das Angebot der Emanzipation als Individuen annahm und zumal in Deutschland der dritte große Prozeß der Assimilation von Juden nach dem hellenistischen und dem spanischen einsetzte.“ (Ebd., 1998, S. 526).

„Vermutlich ist »die deutsche Kultur« von niemandem so sehr und bis zur vollständigen Serlbstidentifizierung geliebt worden wie von den zahlreichen Juden, die sich als »jüdische Deutsche« und nicht als »deutsche Juden« verstanden. Von Gabriel Riesser, einem der tätigen Vorkämpfer der Assimilation stammt der Satz: »Wer mir den Anspruch auf mein deutsches Vaterland bestreitet, der bestreitet mir das Recht auf meine Gedanken und Gefühle, auf die Sprache, die ich rede, auf die Luft, die ich atme, darum muß ich mich gegen ihn wehren, wie gegen einen Mörder.«“ (Ebd., 1998, S. 526).

„Höchst selten wurde die tiefe Ambivalenz wahrgenommen, daß Marx sich sowohl in den innen- wie in den außenpolitischen Auseinandersetzungen auf die Seite der »fortschrittlichen Bourgeoisie« ... stellte ....“ (Ebd., 1998, S. 531).

„Was den Nachgeborenen als »rassistisch« ins Auge fällt, war nichts anderes als die Wiederspiegelung der Tatsache, daß die germanischen Nationen wie die Engländer, die Deutschen und die Nordamerikaner (bzw. die »weiße Rasse«) einen schlechterdings unübersehbaren Vorrang an Macht und zivilisatorischen lesitungen aufwiesen, so daß von ihrer »Weltherrschaft« die Rede sein mußte.“ (Ebd., 1998, S. 533).

„Ein Empfinden des Neuartigen und der daraus resultierenden Postulate lag der Auffassung zugrunde, in einem System von »Kulturstaaten« zu leben oder Teil einer Zivilisation zu sein, die den Übergang in einen andersartigen Zustand der Geschichte, aber nicht in ein »Jenseits der Geschichte« darstelle. Die historische Existenz würde also bewahrt werden. Das oberste aller Postulate mußte darin bestehen, daß jeder der einzelnen Faktoren des Systems darauf verzichtete, sich selbst unbedingt und ausschließlich durchzusetzen. Ein Krieg, und sogar ein großer Krieg, konnte, wenn der Ausdruck erlaubt ist, noch in das System integriert werden, sofern er nicht als Vernichtungskrieg geführt wurde.“ (Ebd., 1998, S. 534).

„Aber von diesen Faktoren waren nur ein Staat und eine Partei in der Lage, einen Vernichtungskrieg zu führen, und zugleich in der Gefahr, im Gegenzug selbst vernichtet zu werden. Der Staat war Deutschland, diejenige der Weltmächte, die ..., wie der Weltkrieg beweisen sollte, nach militärischer Tüchtigkeit und industrieller Organisationskraft die weitaus stärkste der europäischen Mächte war und der ein Sieg über Rußland, Frankreich und England nicht nur »die Weltmacht« (gemeint ist die alleinge [alleinige!] Weltmacht; HB), sondern die Weltherrschaft (gemeint ist die alleinge [alleinige!] Weltherrschaft; HB) gebracht hätte, eine Weltherrschaft, der sich nur die USA hätten entziehen können, wie ja auch die USA die faktische Entscheidung gegen Deutschland herbeiführten.“ (Ebd., 1998, S. 534).

„Die Partei war der Sozialismus, genauer gesagt die marxistische Arbeiterbewegung, die sich von der Idee eines »ganz anderen Weltzustandes« leiten ließ, der zugleich eine Zuspitzung und Verengung jenes »anderen Zustandes« war, auf den das Liberale System von sich aus unter mannigfaltigen Reibungen und Konflikten zuging. »Deutschland« und »der Marxismus« verdienen daher das größte Maß an Aufmerksamkeit, wenn wir uns dem Ersten Weltkrieg und seinen Auswirkungen zuwenden.“ (Ebd., 1998, S. 534).

49) Der Erste Weltkrieg und der Bolschewismus

„Die auftrumpfenden und törichten Reden des Kaisers sollten nicht vergessen machen, daß es keineswegs als lächerlich empfunden wurde, wenn Deutschland nicht selten - und keineswegs allein von deutschen Lobrednern - wörtlich oder dem Sinne nach »die führende Weltmacht« genannt wurde und nicht etwa »eine der Weltmächte«.“ (Ebd., 1998, S. 535).

„Die USA waren zwar längst ein Magnet für riesige Massen von Auswanderern, aber noch nicht für intellektuelle Kapazität, und im Jahre 1912 konnte ein bedeutender deutscher Historiker schreiben:.
»Und die anderen, die angelsächsischen Germanen; man braucht nur ihres unverleichlich viel geringeren Anteils am geistigen Schaffen der Menschheit zu gedenken, um zu erkennen, daß Deutschland höheren Anspruch auf Führeramt und Führersendung innerhalb der Menschheit hat.« (Kurt Breysig, Von Gegenwart und Zukunft des deutschen Menschen, 1912, S. 227).“ (Ebd., 1998, S. 535).

„Noch weit weniger in Zweifel zu ziehen war die Behauptung, daß der Große Generalstab des Deutschen Reiches die effizienteste militärische Institution der Welt war und aufs sorgfältigste alle erforderlichen Dispositionen getroffen hatte, die indessen durchweg von einer Verteidigungssituation ausgingen.“ (Ebd., 1998, S. 535).

„Im ganzen stellte der Krieg in nahezu jeder Hinsicht unter Beweis, daß Deutschland die bei weitem stärkste unter den europäischen Mächten war und nur durch das Eingreifen der USA besiegt werden konnte. (Mit anderen Worten: Für Rußland, England, Frankreich und alle anderen Alliierten zusammen konnte es gegen Deutschland nur eine Niederlage geben [das gilt für den 1. Weltkrieg wie für den 2. Weltkrieg], und nur mit den USA war für sie ein Sieg in möglicher Reichweite, allerdings auch nur dann, wenn sie von Anfang von den USA massiv materiell und finanziell und möglichst bald auch aktiv an allen Fronten unterstützt würden, d.h.: für sie war nur mit den USA ein Sieg möglich, für sie war mit den USA auch eine Niederlage möglich, doch für sie war ein Unentschieden, ein Remis-Frieden, ein Verständigungsfrieden, eben nur ohne die USA und keinesfalls mit den USA möglich. HB **).“ (Ebd., 1998, S. 538).

50) Faschismus und Nationalsozialismus

„Hitlers Haß gegen die russischen Bolschewiki war so ausgeprägt und genuin, daß er taktische Überlegungen wie diese immer mit Heftigkeit zurückwies und sich weitgehend mit den Gedanken und Empfindungen identifizierte, die in der Zeitschrift desjenigen Mannes artikuliert wurden, den er als seinen verehrten Mentor betrachtete, ja mit dem »Polarstern« verglich, des Dichters Dietrich Eckart. In der heute kaum noch auffindbaren Zeitschrift Auf gut deutsch (Wochenschrift für Ordnung und Recht, Hrsg.: Dietrich Eckart **) erschien 1919 der erste Artikel Alfred Rosenbergs mit der Überschrift: »Die russisch-jüdische Revolution«. Auch ein erst posthum im Jahre 1924 veröffentlichtes und sicherlich nicht bloß der dichterischen Phantasie entsprungenes Gespräch zwischen Dietrich Eckart und Adolf Hitler ließ schon im Titel die Überzeugung erkennen, daß zwischen den ältesten Ursprüngen des Judentums und dem zeitgenössischen Bolschewismus nicht bloß eine Affinität, sondern geradezu Identität bestehe: » Der Bolschewismus von Moses bis Lenin«. (**)“ (Ebd., 1998, S. 553-554).

„Was Hitler in seinen frühen Reden wieder und wieder zu Wort brachte, kann nicht bloß ein geschickt gewähltes Strategem zur Ablenkung von den eigentlichen Problemen gewesen sein, sondern entsprang offenbar machtvollen Emotionen: in dem »russischen Leichenhaus« sei die »nationale Intelligenz« ausgerottet worden; die »jüdische Blutdiktatur« in Rußland bedeute das »Abschlachten der Geistigen«, über 30Millionen Menschen seien von der »jüdischen Gottesgeißel« langsam zu Tode gemartert worden, »zum Teil in wahren Schlachthäusern«; und die Konsequenz ist die Entschlossenheit, Vergleichbares in Deutschland zu verhindern: »Wir lassen uns nicht wehrlos vom Judentum die Gurgel durchschneiden.« (**).“ (Ebd., 1998, S. 554).

„Wendungen wie diese kommen in den frühen Reden so häufig vor, daß ihre zentrale Bedeutung für Hitler schlechterdings nicht zu bestreiten ist, und der augenfälligste Beweis dafür ist die Tatsache, daß sie sich bis zum Tode Hitlers kontinuierlich, wenn auch in ungleichmäßiger Dichte, wiederholen. Und es ist nichts anderes als ein dürftiges Strategem, wenn man meint, alle derartigen Aussagen als »Wahnideen« abtun zu dürfen. Ihnen lag nämlich eine unleugbare Realität zugrunde, und erst wenn diese Realität wahrgenommen und nicht abgeleugnet oder »verharmlost« ist, darf sich die Kritik der Verzerrung und der Obersteigerung zuwenden, die ihr in Hitlers Aussagen zuteil wurde.“ (Ebd., 1998, S. 554).

„Der starke Anteil von Juden, d.h. von Menschen jüdischer Abkunft, die in den Augen ihrer orthodoxen Gegner »entjudete« Menschen waren, ließ sich keineswegs abstreiten. Winston Churchill und Thomas Mann sahen diesen Tatbestand nicht anders als Hitler und mit denselben negativen Akzent.“ (Ebd., 1998, S. 554).

„Hitler ... behauptet mit großem Nachdruck: »2000 Jahre war die Weltgeschichte nur eine deutsche.« (**).“ (Ebd., 1998, S. 557).

„In den Monologen im Führerhauptquartier sagt Hitler, die Germanen hätten die Welt erobert, wenn sie Mohammedaner geworden wären und sich dadurch eine kriegerische Religion zu eigen gemacht hätten; nur das Christentum habe sie davon abgehalten. (**). Das Christentum ist nämlich für Hitler nichts anderes als eine frühe Form des Bolschewismus, die den Untergang Roms verschuldet habe, und diese Gleichsetzung, die selbst er in öffentlichen Reden nicht hätte vornehmen können, kehrt in den Monologen so häufig und nachdrücklich wieder, daß sie einer tiefverwurzelten Überzeugung entspringen muß.“ (Ebd., 1998, S. 557).

„Was er verneint, ist also gerade das Charakteristische der okzidentalen Entwicklung, und das ist insofern konsequent, als jede Rassenlehre die Tendenz hat, die Anfänge als das Unverfälschte und die daraus hervorgehende Entwicklung als Degeneration zu betrachten, wie sich bei Arthur de Gobineau besonders gut erkennen läßt.“ (Ebd., 1998, S. 557).

„Der »kausale Nexus«, der zwischen dem »Gulag« und »Auschwitz« besteht und den es ohne Hitler nach menschlichem Ermessen ebensowenig wie die »Endlösung« selbst gegeben haben würde, schließt »Singularität« im recht verstandenen Sinne nicht aus, wohl aber die These von der Unvergleichbarkeit, die sogar dann falsch sein würde, wenn die beiden großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts nur Parallelerscheinungen gewesen wären.“ (Ebd., 1998, S. 561).

„Aber in Wahrheit waren sie in einen ideologischen Krieg miteinander verwickelt, in dem sie sich einander weitgehend, jedoch nicht vollständig anglichen, und ihrem ursprünglichen Selbstverständnis nach führte der eine, der bolschewistische Totalitarismus, den Kampf für die Nachgeschichte, während der andere, der faschistische und radikalfaschistische, für die Fortexistenz der Strukturen der Geschichte zu kämpfen glaubte. Schon im Verlauf eines Vierteljahrhunderts zeigte sich, daß der Bolschewismus zu einer ausgeprägten Form der historischen Existenz wurde und der Radikalfaschismus eine ausgesprochene Geschichtsfeindschaft an den Tag legte. Vermutlich ist daraus zu schließen, daß »Nachgeschichte« oder »Weltstaat« und »Geschichte« oder das »System miteinander ringender Staaten« einander nicht so schroff und ausschließend gegenüberstehen, wie die beiden extremen Ideologien angenommen haben.“ (Ebd., 1998, S. 562).

51) Das Judentum und der Zionismus

„Man kann man mit Recht behaupten, die Zionisten hätten einen viel außerordentlicheren Anspruch erhoben als die Faschisten und die Nationalsozialisten, nämlich den Anspruch auf die Wiedergewinnung einer seit 2000 Jahren verlorenen Heimat. Und des Außerordentlichen ist so bald kein Ende, wenn man auf das Geschick des Judentums als eines Ganzen blickt, von dem die Zionisten bis 1945 nur ein kleiner Teil waren.“ (Ebd., 1998, S. 563).

„Wenn man sich der jüdischen und zionistischen Literatur zuwendet, ist es erstaunlich, wie weitgehend die Übereinstimmung mit den »Antisemiten«, ja mit Hitler ist .... Moses Hess, in gewisser Weise der erste und wegen seiner engen Verbindung mit Marx und Engels wohl der bedeutendste aller Zionisten, schrieb 1862 in seinem Buch Rom und Jerusalem, dessen Ausgangspunkt die italienische Einigung war, die Juden seien nicht nur »Bekenner einer Religion«, sondern eine Stammesgenossenschaft, ein Volk, ja eine »Rasse«, denn die krausen jüdischen Haare könnten durch keine Taufe verändert werden und also bleibe auch ein getaufter Jude ein Jude. Die Juden seien nichts anderes als das »mitten in der modernen Welt fortexistierende jüdische Volk«, und daher könnten sie mit den europäischen Kulturvölkern trotz eines zweitausendjährigen Zusammenlebens und -strebens nicht organisch verwachsen. (Vgl. ebd., S. 12, 17).“ (Ebd., 1998, S. 563-564).

„Als 20 Jahre später Leon Pinsker sein Buch Autoemanzipation schrieb, das zu einem der direkten Ausgangspunkt des Zionismus wurde, stellte er zu Beginn fest, die Juden seine »tatsächlich ein heterogenes Element«, welches von keiner Nation gut vertragen werden könne .... (Vgl. ebd., S. 22).“ (Ebd., 1998, S. 564).

„Die in Europa und Amerika seit 1917 weitverbreitete Überzeugung, daß die bolschewistische Revolution in der Hauptsache von Juden »gemacht« worden sei, hatte trotz aller Übertreibung und bloßen Polemik eine solide Basis in der Realität. (In der Periode des »Red Scare« in den USA zwischen 1919 und 1921 wurden ganz offiziell Listen in Umlauf gesetzt, aus denen hervorging, daß unter den dreißig wichtigsten Persönlichkeiten der bolschewistischen Regierung lediglich Lenin ein Nichtjude sei. Vgl. Paul Johnson, A History of the Jews, 1987, S. 459.). Keine These übte seit 1919 einen so großen Einfluß auf den jungen Hitler aus wie die vom »jüdischen Bolschewismus«. Aber der berühmteste und mächtigste Jude unter den Bolschewiki, Leo Trotzki, spürte schon bald antisemitische Tendenzen und Widerstände in der Partei, und 1928 führte er seine Verbannung darauf zurück.“ (Ebd., 1998, S. 567).

„Seit dem Ende der 1920er Jahre drangen Nachrichten über den Antisemitismus in der Sowjetunion auch in die Presse des Auslandes, und wenig später wurde es nicht nur vorstellbar, sondern wahrscheinlich, daß das Judentum in Rußland nicht einen Sieg errungen hatte, sondern am Rande einer Tragödie stand. Tatsächlich fielen, wie man festgestellt hat, insgesamt mehr jüdische Intellektuelle den bloß indirekt antisemitischen Verfolgungen durch Stalin zum Opfer als dem direkten Antisemitismus Hitlers. (Vgl. Paul Johnson, A History of the Jews, 1987, S. 482).“ (Ebd., 1998, S. 567).

„Aber längst nicht alle Söhne des Judentums in Polen und Rußland waren Revolutionäre geworden; viele Hunderttausende waren, vor allem infolge der Pogrome der ersten Revolutionsjahre von 1904 bis 1906, zusammen mit ihren Familien nach Deutschland, England und vornehmlich in die USA ausgewandert. Bereits im Jahre 1920 zählte New York mehr als anderthalb Millionen Juden, und es war damit die weitaus größte jüdische und auch jiddische Stadt der Welt. Fast durchweg handelte es sich bei den Einwanderern um die Ärmsten der Armen, die in abgerissenem und nicht selten halbverhungerten Zustand in Amerika ankamen und dort zu großen Teilen zunächst unter entsetzlichen Bedingungen in den »sweat shops« der Textilwerkstätten arbeiteten.“ (Ebd., 1998, S. 567-568).

„Der Zugang zu den WASPs (Weiß-Angelsächsisch-Protestantisch) in den USA wurde den Juden sehr schwer gemacht.“ (Ebd., 1998, S. 568).

„Ein Assimilationsprozeß an eine als »höher« empfundene Kultur, der mit dem großen Assimilationsprozessen der hellenistischen und der spanischen Zeit verglichen werden konnte, fand dagegen in Deutschland statt.“ (Ebd., 1998, S. 568-569).

„Zwischen Liberalismus und Judentum gab es eine ganz natürliche Affinität, denn wenn die politische Emanzipation des Bürgertums eine der Hauptforderungen des Liberalismus war, so mußte die nicht bloß politische, sondern auch soziale Emanzipation der Juden ein Teil davon sein. In Deutschland entstand jenes »Reformjudentum«, das den jüdischen Gottesdienst dem christlichen ähnlich machte und mit Nachdruck die These vertrat, die Juden seien eine Konfession wie Protestanten und Katholiken und besäßen keine eigene Volkszugehörigkeit.“ (Ebd., 1998, S. 569).

„Vollständig gaben freilich auch sie den Begriff des »auserwählten Volkes« in der Regel nicht auf, und der Wiener Rabbiner Moritz Güdemann schrieb 1897, schon in Auseinandersetzung mit den Zionisten, das Judentum als das anti-nationale Volk Gottes weise auf das Reich Gottes voraus, nämlich auf die eine, erst in der Bildung begriffene Menschenfamilie, und deshalb würde ein Nationaljudentum für das Judentum Selbstmord bedeuten. (Vgl. Moritz Güdemann, Nationaljudentum, 1897, S. 33, 35).“ (Ebd., 1998, S. 569).

„Auf noch betontere Weise suchte der bedeutende Begründer des Neukantianismus auf dem Lehrstuhl für Philosophie in Marburg, Hermann Cohen, eine enge innere Verbindung zwischen dem Geist des Deutschtums und dem des Judentums unter Beweis zu stellen, nämlich durch die Aussage,
daß wir uns vorzugsweise im deutschen Geisteswesen in innerlichster Harmonie erkennen mit unserer messianischen Religiosität. Der deutsche Geist ist der Geist der klassischen Humanität und des wahrhaftigen Weltbürgertums. (Vgl. Hermann Cohen, Jüdische Schriften, 2. Band: Zur jüdischen Zeitgeschichte, 1924, S. 336)
Zwar gab es auch in Deutschland Antisemitismus und Antisemitenparteien, und Eugen Dühring formulierte sogar ausgesprochene Vernichtungsforderungen; Kaiser Wilhelm II. machte nicht ganz selten antisemitische Bemerkungen, und er stand im Briefwechsel mit Houston Stewart Chamberlain, dem englischen Vorkämpfer eines völkischen Deutschtums. Aber viel wichtiger als einzelne Bemerkungen ist die Tatsache, daß gerade die Antisemiten das deutsche Kaiserreich oft für ein »jüdisches Reich« erklärten, daß zu des Kaisers engsten Beratern Juden wie der Hamburger Großreeder Albert Ballin gehörten und daß auch Chamberlain den »rein humanisierten« Juden Anerkennung und Respekt bezeugte. Und kein Jude hatte im Deutschen Kaiserreich Angst vor Verfolgungen oder Pogromen; Norbert Elias schreibt in seinen Erinnerungen, daß er und seine Familie sich in der festen Ordnung des monarchischen Obrigkeitsstaates vollkommen sicher fühlten.“ (Ebd., 1998, S. 569-570).

„Es war zweifellos nicht zuletzt der in die Augen springende Kontrast zwischen Deutschland und dem zaristischen Rußland, der die starke Anhänglichkeit so vieler Juden an Deutschland erklärt. Aber noch wichtiger war die Tatsache, daß Deutschland ... für fast alle Juden »der führende Kulturstaat« war und daß sie sich selbst eine besondere Affinität zu dieser Kultur zuschrieben. So war das deutsche Judentum ein herausgehobener Teil des Judentums insgesamt .... Der Vater von Isaac Deutscher bnrachte schwerlich nur seine individuelle Meinung zum Ausdruck, als er sagte, Deutsch sei die Weltsprache, und das Jiddische könne tatsächlich als ein deutscher Dialekt bezeichnet werden. (Vgl. Rachel Salamander, Die jüdische Welt von gestern, 1990, S. 82).“ (Ebd., 1998, S. 570).

„Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellte sich rasch so etwas wie ein Bündnis zwischen den Juden in weiten Teilen der Welt und Deutschland her, genauer gesagt: Die jüdischen Sympathien, nicht zuletzt in Amerika, wandten sich Deutschland zu, denn nahezu alle Juden sahen in dem russischen Zarismus ihren Hauptfeind, und allein Deutschland war in der Lage, diesen Hauptfeind zu besiegen. Im November 1914 sagte eine führende Persönlichkeit des deutschen Zionismus, Arthur Hantke, man könne diesen Krieg beinahe den »jüdischen Krieg« nennen und die Zukunft der Juden sei eng mit einem Siege Deutschlands und Österreichs verknüpft. (Vgl. Jehua Reinharz [Hrsg.], Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1981, S. 159).“ (Ebd., 1998, S. 570).

„Für die Zionisten trat noch besonders der Umstand hinzu, daß Palästina als türkischer Besitz im deutschen Einflußgebiet lag und man sich daher von Deutschland die Mitwirkung an der Errichtung eines Staates oder einer Heimstätte in der uralten Heimat erhoffte. (**) “ (Ebd., 1998, S. 570).

„Das informelle Weltkriegsbündnis zwischen Deutschland und dem »Weltjudentum« kam an ein Ende, als die englische Regierung in der Absicht, die Sympathie der us-amerikanischen Juden zu gewinnen, Anfang 1917 die »Balfour-Deklaration« erließ, die den Juden die Errichtung einer »Heimstätte« in Palästina, also im Lande des Kriegsgeners Türkei (und im deutschen Einflußgebiet; HB **), versprach. Und in denselben Tagen erfüllten die Bolschewiki zwar die Erwartungen, welche Ludendorff in sie gesetzt hatte, aber da sie sehr bald mit der Klassenvernichtung begannen, die in ihrem Programm postuliert war, konnte ein alter Verdacht zwar nicht so sehr im Bürgertum insgesamt, wohl aber in den kleinbürgerlichen randbezirken des Bürgertums neue Formen annehmen, nämlich der Verdacht, »die Juden« seien gewillt, das deutsche Volk zu vernichten. So grotesk dieser Verdacht, diese umstandslose Identifizierung einbes wirklichen und alten Feindes, des marxistischen Kommunismus, mit dem Verbündeten von gestern war, so ließ sich doch nicht leugnen, daß der us-amerikanische und der russische Missionsgedanke der Herstellung der »Einen Welt« und der Abschaffung von Klassen und Staaten den jüdischen Traditionen näher stand als die Konzeption der »deutschen Kultur«, die keinesfalls ausschließlich durch die Cohenschen Begriffe gefaßt werden konnte, sondern zu deren Bestimmung die Denker der »Ideen von 1914«, nicht zuletzt Max Scheler und Werner Sombart, ebenfalls herangezogen werden mußten.“ (Ebd., 1998, S. 571-572).

„So zeichnete sich der merkwürdigste und folgenreichste Umschlag ab, den es in der Epoche der Weltkriege (1914-1945; HB) gegeben hat, der Umschlag von der deutsch-jüdischen Freundschaft und Symbiose zu einer Feindschaft, an der während der Weimarer Epoche (1918-1933; HB) kleine der Teile der Juden und immer größere Teile des deutschen Volkes Anteil hatten. Aber nirgendwo wurde, außer im Kopfe Hitlers und der radikalen Antisemiten unter seinen Anhängern, das deutsch-jüdische Verhältnis zum Zentrum des Konflikts, sondern es wurde den handgreiflichen Konflikten, demjenigen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und demjenigen zwischen Wirtschaftsliberalen bzw. Konservativen und Sozialisten, nur als interpretatorisches Schema übergestülpt: Hitler kam nicht als Antisemit zur Macht, sondern als Kämpfer gegen Versailles (Diktat von Versailles; HB) und als Antibolschewist.“ (Ebd., 1998, S. 571-572).

„Seinem offiziellen Programm nach war der Nationalsozialismus im Hinblick auf die »jüdische Frage« nichts anderes als eine Parallele zum Zionismus ....“ (Ebd., 1998, S. 573).

„Die Juden in aller Welt hatten selbstverständlich ein Recht auf Feindschaft gegen die antijüdische Partei, die in Deutschland aufkam und schließlich zur Macht gelangte. Aber nicht wenige ihrer Wortführer brachten diese Feindschaft schon gleich nach dem 30. Januar 1933 so sehr mit jener von Goldmann erwähnten »ungeheuren Triebkraft und Zähigkeit« zu Wort und Tat, daß es schlechterdings unerlaubt ist, den nationalsozialistischen Aktionen jeden Charakter von »Reaktion« abzusprechen.“ (Ebd., 1998, S. 573).

„Das Mitglied der zionistischen Exekutive Yitzchak Gruenenbaum erklärte schon 1933, es müsse gegen das nationalsozialistische Deutschland ein offener Krieg geführt werden, ohne auf das Schicksal der deutschen Juden Rücksicht zu nehmen, und schon beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stellte sich Chaim Weizmann öffentlich auf die Seite Englands -dazu war er zwar nicht im strengen völkerrechtlichen Sinne, wohl aber als Vorsitzender der Jewish Agency praktisch sehr wohl befugt. (Shlomo Aronson stellt die interessante Frage, »ob nicht die Panikrufe der jüdischen und zionistischen Führer seit Hitlers Machtergreifung und ihre häufige Verwendung des Wortes »Holocaust« lange vor der eigentlichen Judenvernichtung« zur Mitursache der späteren Gleichgültigkeit in der westlichen Welt geworden seien.)-“ (Ebd., 1998, S. 573-574).

„So augenfällig es ist, daß Hitler der Haupturheber der jüdischen Feindschaft war, sollte man dennoch nicht in Abrede stellen, daß er spätestens seit dem Kriegsausbruch schwerwiegende Gründe hatte, die Juden als ein »Feindvolk« zu betrachten und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wie sie die Engländer gegen die emigrierten Deutschen und die Amerikaner gegen ihre eigenen Staatsbürger japanischer Abstammung ergriffen. (**). Das wahrhaft Erstaunliche ist, daß nicht wenige der 1939 noch in Deutschland verbliebenen und dann seit 1941 deportierten und umgebrachten Juden sich allem Anschein nach die Entgegensetzung zwischen »Deutschen« und »Juden« nicht zu eigen machten und als »deutsche Patrioten« in den Tod gingen, die von einer feindlichen Partei im eigenen Vaterlande ausgegrenzt und verfolgt worden waren.“ (Ebd., 1998, S. 574).

„Diese »entsprechenden Maßnahmen« durften natürlich keine anderen sein als die von Engländern und Amerikanern angewandten, nämlich die Internierung. Die Massenerschießungen von vielen Hunderttausenden wehrloser Männer, Frauen und Kinder in Polen und Rußland sind dagegen unter moralischen Gesichtspunkten und auch nach den Buchstaben und dem Geist der Militärgesetze ebenso uneingeschränkt zu verurteilen wie die davon nicht grundsätzlich verschiedene Vernichtung von etwa ebenso vielen Menschen in Todeslagern wie Auschwitz und Treblinka. Der entscheidende Gesichtspunkt ist indessen erst der folgende: So wenig die »Umstände«, die man freilich nie einfach fortlassen darf, die Taten der Wiedertäufer in Münster und der »Septembermänner« in Frankreich und des »Roten Terrors« in Sowjetrußland allein zu erklären vermögen, weil in allen diesen Fällen ein ideologisch-überschießendes Moment hinzutrat, so wenig reichen die »Umstände« des radikalfaschistischen »Judeozids« aus, um das Geschehen in die richtige Perspektive zu stellen. Das Wesentliche war gerade hier das ideologisch-überschießende Moment, das Hitler von der Vorstellung besessen sein ließ, »die Juden« hätten mit der bolschewistischen Revolution ihren Mordanschlag auf das europäische Bürgertum und die »arischen Völker« erstmals für jedermann sichtbar gemacht. ( Nur so wird die unfaßbare Äußerung von Heinrich Himmler verstehbar. »Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen« (vgl. IMG, Band XXIX, S. 146).“ (Ebd., 1998, S. 574).

„Letzten Endes aber ging diese Vorstellung aus der geschichtsmythologischen Angstvorstellung hervor, die von den Juden erzeugte Intellektualisierung richte die gesunde, die geschichtliche Welt der Tapferkeit, der Kampfbereitschaft und auch der Kultur zugrunde, indem sie dem Kopf oder dem Intellekt im Verhältnis zum Leib und damit zum Leben ein todbringendes Übergewicht gebe und diese Todesgefahr noch als »Fortschritt« bezeichne.“ (Ebd., 1998, S. 574-575).

„Sowohl die seit 1917 fast ungehindert ins Land strömenden Siedler wie die zionistische Weltorganisation waren mit außerordentlicher Hartnäckigkeit und Entschlossenheit tätig, aber sie kamen nur relativ langsam voran, und gegen Ende der 1920er Jahre war selbst Chaim Weizmann, der Chef der halbstaatlichen »Jewish Agency«, von pessimistischen Anwandlungen nicht frei. Eine wesentliche Änderung trat erst mit der Machtergreifung Hitlers ein, die viele deutsche Juden und infolge des Haavara-Abkommens zwischen Zionisten und Nationalsozialisten nicht wenig an Kapital ins Land brachte. Gleichzeitig gewann die Aktivität der Zionisten einen anderen Charakter, weil eine neue Richtung neben den bis dahin vorherrschenden »Arbeitersozialismus« trat, nämlich die »revisionistische« Richtung ..., welche die Errichtung eines »jüdischen Staates« und teilweise sogar die Vertreibung der Palästinenser forderte.“ (Ebd., 1998, S. 577).

„Ben Gurion, der Vorsitzende der größten Arbeiterpartei, zögerte nicht, von »jüdischen Nazis« zu sprechen, aber er selbst näherte sich dem Gedanken, einen »Staat« zu gründen, immer weiter an. .... Teile der revisionistischen Bewegung verbargen ihre Sympathien für die Struktur der faschistischen Regime nicht, und ein wichtiger Teil, die »Stern-Gruppe«, machte dem Deutschen Reich 1940 ein regelrechtes Bündnisangebot für den gemeinsamen Kampf gegen Hitlers Kriegsgegner.“ (Ebd., 1998, S. 577-578).

52) Der Kalte Krieg und das Ende des osteuropäischen Kommunismus

„Der sowjetische Kommunismus (der Bolschewismus also; HB), der häufig schon »Stalinismus« (oder bolschewistischer National-Sozialismus) genannt wurde, hatte die schwere Konfrontation mit dem deutschen Nationalsozialismus gerade hinter sich, die er ohne die gewaltigen Hilfslieferungen der Amerikaner nicht überstanden hätte, und er hatte dadurch eine ideologische Wende vollzogen, daß er den »Antifaschismus« ganz in den Vordergrund gestellt hatte. Darin glaubte er mit den Amerikanern übereinzustimmen, denn das »demokratische Weltbündnis« der »Anti-Hitler-Koalition« richtete sich auch gegen den italienischen Faschismus Mussolinis und den extremen Militarismus des japanischen Tenno.“ (Ebd., 1998, S. 581).

„Von dort her zeichnete sich die Grundmöglichkeit ab, daß die beiden ideologisch verwandten Mächte, ganz anders als der Islam und Byzanz (eine mögliche Analogie [!?!?]; HB), sich über der Leiche des gemeinsamen Feindes in dem Willen zusammenfanden, jenen Frieden der einheitlichen Welt zu realisieren, der sie gegen den Protagonisten des Kriegsprinzips, gegen Hitler, zusammengeführt hatte. In diese Richtung drängte auch das elementare Interesse der durch den Krieg verheerten Sowjetunion, die Fortdauer der amerikanischen Hilfe sicherzustellen.“ (Ebd., 1998, S. 581).

„Fast unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges verbreitete sich unter us-amerikanische Diplomaten und Offizieren die Überzeugung, daß die angebliche »Befreiung« der Staaten Osteuropas und auch der Ostzone Deutschlands durch die Sowjetarmee in Wahrheit einem »Barbareneinbruch« gleichzuachten sei, der den Polen und Ungarn Bedrückung gebracht habe und der deutschen Bevölkerung in Mittel- und Ostdeutschland sowie in Osteuropa einen riesigen Genozid in Form einer ihrem Massencharakter präzendenzlosen und von Millionenverlusten gekennzeichneten Vertreibung darstellte (obwohl: USA und England hatten gegen Ende des 2. Weltkrieges der Sowjetunion doch Ostdeutschland versprochen [und also auch die Vertreibung der Ostdeutschen billigend in Kauf genommen], und zwar aus Furcht vor einem auch zu der Zeit immerhin noch möglichen Frieden zwischen Stalin und Hitler! HB)“ (Ebd., 1998, S. 583).

„Israel .... Schon die konzentrierten Landkäufe des jüdischen Bodenfonds waren so etwas wie eine Eroberung gewesen, und in den Krieg ... gleich nach der Staatsgründung eroberte Israel noch einmal halb so viel Land, wie ihm von den Vereointen Nationen zugestanden worden war, vertrieb einen großen Teil der arabischen Bewohner und konstituierte sich definitiv als »jüdischer Staat«, welcher allen Juden der ganzen Welt einen Anspruch auf Einwanderung gewährte und den einheimischen Palästinensern die Staatsbürgerrechte vorenthielt.“ (Ebd., 1998, S. 587-588).

„Isreal hätte nicht überlebt, wenn ihm nicht neben mancherlei Hilfe aus den USA die für die damaligen Vergältnisse gigantische Summe der drei Milliarden Mark an Wiedergutmachungszahlungen der Bundesrepublik Deutschland zugeflossen wären. (Die Bundesrepublik Deutschland zahlte weiter, zahlt heute noch und wird auch wohl noch in Zukunft zahlen, wobei obendrein noch die Summe mit jeder Zahlungen stieg, steigt und steigen wird! HB).“ (Ebd., 1998, S. 589).

„Ein us-amerikanischer Denker japanischer Abstammung, Francis Fukuyama, verkündete (1989; HB) in einem viel beachteten Aufsatz das »Ende der Geschichte« sei nun erreicht und die liberale Demokratie werde sich in der ganzen Welt durchsetzen, der Modernität überall zum Durchbruch verhelfen und den so oft beschworenen »Ewigen Frieden« sichern. Der Aufsatz »The End of History?«  wurde im Sommer 1989 in der Zeitschrift The National Interest publiziert. Das drei Jahre später erschienen Buch (Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte - Wo stehen wir?,  1992) setzt die Akzente anders, und zwar durch eine scharfe Kritik an dem angelsächsischen Bild vom Menschen, die den Autor sogar bis in die Nähe einer Kennzeichnung der »Nachgeschichte« durch Nietzsches Begriff des »letzten Menschen« führt. Vgl. die Rezension von Ernst Nolte in Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 5. Jahrgang, 1992, S. 273f..). (**).“ (Ebd., 1998, S. 595).

„Ein anderer us-amerikanischer Denker, Samuel P. Huntington (Der Kampf der Kulturen - Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 1996), prophezeite, an die Stelle des Kampfes der Ideologiestaaten werde der Kampf der Kulturen treten, insbesondere der Kampf des zum Fundamentalismus zurückgewanderten Islam gegen die Überfremdung und Bedrängung durch den scheinbar übermächtigen, aber in voller Dekadenz befindlichen Westen. (**|**|**).“ (Ebd., 1998, S. 595).

„Mit einer geringeren Anstrengung ist jedenfalls die Frage, ob wir bereits in einer »Nachgeschichte« leben oder uns mit derartigen Vermutungen lediglich auf illusionäre Weise über unsere fortbestehende »Geschichtlichkeit« hinwegtäuschen, nicht zu beantworten. Daß eine solche Antwort sogar im besten Falle nur einen provisorischen Charakter haben kann, daß sie nur ein Denkversuch unter anderen Denkversuchen zu sein vermag, bedarf der ausdrücklichen Unterstreichung nicht.“ (Ebd., 1998, S. 595).

D) Die Gegenwart als Anfang der „Nachgeschichte“ ?

53) Die „Globalisierung“ als Triumph der wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie (S. 597-606)
54) Zivilisationskritik und Ökonomie (S. 607-615)
55) Bevölkerungsexplosion und Bevölkerungsschwund (S. 615-623)
56) Die Linke - Grundimpuls, Vielfalt, Paradoxien (S. 623-638)
57) Entmachtete Staaten in der fragmentierten Einen Welt?  (S. 638-645)
58) Der Unteragng des Adels und der Aufstieg industriell-politisch-intellektueller Eliten (S. 645-653)
59) Das Geschichtsbewußtsein: Schwächung - Renaissancen - Vernichtung - Bewahrung (S. 653-661)
60) Das Hinschwinden der Religionen und das Aufkommen der „Fundamentalismen“ (S. 661-668)

53) Die „Globalisierung“ als Triumph der wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie

„Wenn wir uns nun der Gegenwart zuwenden - der Gegenwart als dem Anfang der Zukunft des 21. Jahrhunderts - und an das erste Kapitel (**), aber auch an zahlreiche verstreute Bezugnahmen denken, dann springt ins Auge, daß der Begriff der »Nachgeschichte« keineswegs erst durch die Werke des »Postmodernismus« oder gar erst durch den Aufsatz Fukuyamas (**|**) in die Welt gekommen ist. Tendenziell ist er schon in den mythologischen und religiösen Vorstellungen vom »Ende der Welt« und vom »Anbruch des Reiches Gottes« enthalten, und es ist gezeigt worden, wie sehr er dem Sinne nach bereits bei Condorcet zu finden ist, wie er in den Träumen des Abbé de Saint-Pierre und Emeric Crucés von einem »Friedensbund der Völker« lebendig war, wie er sich in der Philosophie Hegels abzeichnete und wie sehr er den Zukunftsentwurf von Marx und Engels bestimmte.“ (Ebd., 1998, S. 597).

„Für Denker wie Alexis de Tocqueville und Friedrich Nietzsche dagegen war die Vorstellung von einer Weltgesellschaft gleicher und angeblich freier Menschen ohne Klassen und ohne Staaten ein sich in der Realität nur allzu deutlich abzeichnendes Schreckbild, nämlich der nivellierende, wenngleich möglicherweise »sanfte« Despotismus einer Massengesellschaft aus »letzten Menschen«, die weder Aufschwünge noch Distanzen mehr kennen würden. Für Oswald Spengler (**|**|**|**) ist die Nachgeschichte, die er »Zivilisation« nennt und allerdings auf einzelne Kulturen begrenzt, mit negativem Akzent nicht minder ein Thema als mit positiver Betonung für Arnold Toynbee (**|**) und Karl Jaspers (**|**).“ (Ebd., 1998, S. 597).

„Im Titel eines Buches taucht der Terminus »nachgeschichtlich« 1950 auf, und zwar in Roderick Seidenbergs Posthistoric Man, wo die Weltgeschichte zwischen den Polen Organismus, Instinkt, Religion und Kultur auf der einen Seite und Organisation, Intelligenz, Wissenschaft und Zivilisation auf der anderen angesiedelt ist. Mit Arnold Gehlen, der apodiktisch, wenngleich mit abschätziger Wendung feststellte, »daß wir im Posthistoire angekommen sind« (Arnold Gehlen, Über kulturelle Kristalliastion, 1961), ist der Bereich des Gegenwartsdenkens erreicht, und die Fülle von Polemiken gegen Patriarchalismus, Sexismus und Unterdrückung aller Art, die sich häufig mit der Zurückwendung zu einer Vorgeschichte ganz anderer Art, der schroffen Verurteilung bestimmter geschichtlicher Phänomene sowie der Rühmung nachgeschichtlicher Entwürfe wie desjenigen Thomas Müntzers verbindet, ist in der Regel dem Begriff der Linken zu subsumieren.“ (Ebd., 1998, S. 597-598).

„Wir erinner uns, daß Karl Jaspers (**|**) 1950 das Spezifikum der okzidentalen Moderne in »Wissenschaft und Technik« sah (**), und heute ist ein Wort wie »Informationsgesellschaft« weit verbreitet. Beide Termini werden der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft nicht ganz gerecht, und auch deshlab findet der Begriff »Kapitalismus« immer noch häufig Verwendung. Aber dieser Begriff wurde dem Sinne nach von Marx und Engels bereits auf das Wirtschaftssystem der Mitte des 19. Jahrhunderts angewendet, er kann also die heutige Bedeutung der auf Wissenschaft gegründeten Technik nicht genügend zum Ausdruck bringen. (Vgl. hiezu Rolf Kreibich, Die Wissenssgesellschaft, 1986). Er will sagen, daß von den drei Produktionsfaktoren Natur, Arbeit und Kapital der letztere in der Neuzeit einen Vorrang gewonnen hat, der für die einzelnen Menschen und ihre Arbeitskraft, welche der wahre Ursprung des Kapitals sei, eine große Gefahr geworden ist, weil er in seinem unersättlichen Streben nach Selbstverwertung die Individuen ihrer Selbstbestimmung beraubt, sie ausbeutet und ihrer Tätigkeit entfremdet. Erst die Aufhebung dieser »Selbstbewegung« der Sachmittel, die darin begründet ist, daß diese sich im Privatbesitz befinden, bringt die Menschen im Sozialismus zu ihrem unfragmentierten Wesen zurück, indem sie die Entfremdung und Verdinglichung beseitigt, denen die Arbeiter in der »kapitalistischen« Gesellschaft unterliegen.“ (Ebd., 1998, S. 599).

„Der enge Zusammenhang dieser Doktrin mit der uralten Konzeption der Linken von der Herrschaft der Gottlosigkeit in der Gegenwart und vom Kampf für das zukünftige »Reich Gottes« läßt sich nicht übersehen, und heute drängt sich die Einsicht geradezu auf, wie geringfügig die Sachmittel oder »das Kapital« um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch waren, wie wenig jenes »Selbstverwertungsstreben« die Gesellschaft im ganzen beherrschte, die noch so stark von der religiösen Weltdeutung und vom adligen Ethos geprägt war, und wie wenig die Wissenschaft schon zum Bestandteil der Technik und des Gewinnprinzips geworden war. Überdies hat die historische und die ethnologische Forschung längst klargemacht, daß es sogar in den frühesten Epochen der Hochkulturen schon Privateigentum, Profit, Darlehen und Zins, ja Zinseszins gab und iaß selbst in den Zeiten der Vorgeschichte kein »Urkommunismus« als allgemeiner Gesellschaftszustand existiert hat.“ (Ebd., 1998, S. 599-600).

„Richtig ist, daß planwirtschaftliche Systeme wie die sumerischen Tempelstaaten oder das Reich der Inkas vorhanden waren, wo privates Gewinnstreben zwar nicht völlig fehlte, aber doch nur eine marginale Position einnahm. Wenn man sich diese Systeme auf die ganze Erde ausgedehnt denkt, wäre in der Tat ein nicht-(privat)kapitalistisches System, nämlich ein System der Weltplanwirtschaft, gegeben, aber nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kann niemand mehr ein solches System herbeiwünschen, denn es würde das Regime eines zentralistischen Despotismus sein, das mit dem Prinzip der Preisbildung aufgrund von unterschiedlicher Knappheit mittels Austarierung relativautonomer Einzelkapitale auch die Effizienz und die Wirtschaftlichkeit verabschiedet haben würde.“ (Ebd., 1998, S. 600).

„Eine »sozialistische« Weltwirtschaft wiederum, die sich gemäß den Vorstellungen von Frühsozialisten wie Fourier und Owen auf agrikulturell-industrielle und autonome Kommunen als letzte Einheiten stützen würde, welche lediglich kleine Überschüsse auf der Basis strikter Reziprozität miteinander tauschen, würde sich nach allem menschlichen Ermessen ziemlich bald in eine »kapitalistische« Weltwirtschaft mit Gewinn- und Verlustrechnung verwandeln, obwohl nicht Einzelne oder Firmen, sondern Gemeinschaften gleicher Genossen die Besitzer der Sachmittel wären.“ (Ebd., 1998, S. 600).

„Zur Kennzeichnung des gegenwärtigen Systems muß also ein Begriff gewählt werden, der die so sehr vergrößerte Bedeutung von Wissenschaft und Technik und das heißt auch der wissenschaftlichen Ausbildung und des »Humankapitals« besser zu Wort bringt als der Terminus »Kapitalismus«. »Informationsgesellschaft« wiederum erweckt die Assoziation einer Gelehrtenschule und bringt die Dynamik nicht genügend zum Ausdruck, die in der modernen Wirtschaft auch der Bewegung der materiellen Güter innewohnt. »Marktwirtschaft« und ebenfalls »soziale Marktwirtschaft« (ebenso: »ökosoziale Marktwirtschaft«; HB) ist noch allgemeiner und unspezifischer als »Kapitalismus«.“ (Ebd., 1998, S. 600).

„Wichtiger ist es, den Begriff »wissenschaftlich-technische Konkurrenzökonomie« auch nach der anderen Seite abzugrenzen. Man darf ihn nicht so verstehen, daß die Wissenschaft als solche und ausschließlich auf Technik und dadurch auf die pragmatischen, sei es auch noch so weit gesteckten Ziele der Wirtschaft ausgerichtet sei.“ (Ebd., 1998, S. 600-601).

„Heute ... sind aus nahezu allen Ländern, und sogar aus den USA, Klagen darüber zu vernehmen, daß bedenklich viele Bsetandteile der heimischen Industrie von Ausländern aufgekauft würden, und als nach dem Zusammenbruch der DDR die beträchtliche, aber großenteils veraltete Industrie eines Staates, der erst wenige Jahre zuvor noch den 10. Platz unter den Industrieländern der Welt beansdprucht hatte, »saniert« oder für den Weltmarkt wettbewerbsfähig gemacht werden mußte, da lief sozusagen die Treuhandanstalt mit dem Hute in der Hand durch die ganze Welt, um »ausländische Investoren« anzulocken.“ (Ebd., 1998, S. 602).

„Die globalisierte Welt der allgemeinen Konkurrenz multinationaler Firmen und am rande auch kleiner Unternehmungen, ja einzelner Kleinstunternehmer wäre ... eine äußerst konfliktreiche, aber dennoch friedliche Welt. In ihren Spitzen würde sie das Unerhörte, während aller Zeiten der Geschichte nicht Dagewesene erzeugen: den großen Vorstoß in den Weltraum mit bemannten Weltraumschiffen. Das würde nicht nur eine Brückenkopfbildung auf anderen Planeten, sondern sogar die Überwindung der Grenzen des Sonnensystems ermöglciehn und damit zugleich die Überwindung der Erdenzeit, denn im kosmischen Raum altert der Mensch sehr viel weniger als in der materiellen Kompaktheit der Oberfläche der Erde und ihrer Atmosphäre; damit könnte diesen Weltraumfahrern sogar so etwas wie Unsterblichkeit zuteil werden. (Vgl. Friedrich Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt, 1960, S. 211ff. [u.a. Zitate des deutschen Raketenforschers Eugen Sänger]).“ (Ebd., 1998, S. 604-605).

„Eine »Kolonisierung des Weltraums durch das Leben«, wie sie sich der amerikanische Physiker Frank Tipler vorstellt (nicht-[mehr-]menschliche Lebewesen erobern und besiedeln das Universum; HB), bliebe allerdings auch dann außerhalb des Realisierbaren: Zwar ist es vorstellbar, daß der Mensch seinen Verstand in Gestalt hochintelligenter Computer aus sich heraussetzt und verselbständigt, so daß sogar die Milchstraße erforschbar würde, aber es würden nicht mehr »lebendige Menschen« sein, die diese Forschungen vornehmen würden, und selbst die übermenschlichen Computer würden in das Gefängnis der unüberschreitbaren Lichtgeschwindigkeit eingesperrt bleiben und niemals die »Grenzen des Universums« erreichen.“ (Ebd., 1998, S. 605).

„Die Menschen aber, die immerhin den Versuch des Ungeheuren machen würden, ja selbst diejenigen, die den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie voll gewachsen wären, müßten Entwicklungstendenzen in sich zur Vollendung gebracht haben, die im Zustand der bloßen Globalisierung erst in der Bildung begriffen sind: Sie müßten sich von jeder Gebundenheit an einen einzelnen Punkt des Erdkreises, an irgendeine Lokalität, aber auch an jede konkrete und hinderliche Gemeinschaftlichkeit wie eine Familie oder ein Vaterland frei gemacht haben, um jederzeit und an jedem Ort für die ständig wechselnden Bedürfnisse ihrer Firma bereitzustehen, auch wenn es sich nicht um eine Weltraumfirma handelte. Diese Individuen müßten universale Menschen sein, damit sie sich auf das Universale - zunächst den irdischen Globus und in einem weiteren Schritt auf das Planetensystem, ja am Ende vielleicht auf den Weltraum selbst - ausrichten könnten.“ (Ebd., 1998, S. 605).

„Wir brauchen die Skizzierung der zu ihrem logischen Ende gelangten Globalisierung nicht fortzusetzen. Es ist schon jetzt evident, daß es sich nicht um ein menschliches Phänomen im gewöhnlichen Sinne handelt, sondern daß hier die höchste und letzte Stufe jener Selbstüberschreitung des Menschen gegeben wäre, die wir die praktische Transzendenz genannt und deren ersten Durchbruch wir in der Industriellen Revolution wahrgenommen haben. Wir hätten es nicht mit einem »menschlichen«, sondern mit einem philosophischen Phänomen zu tun.“ (Ebd., 1998, S. 605).

„Aber auch jene Weltraumfahrer, jene universalen Menschen auf dem Wege zum Saturn, ja sogar jene superintelligenten Computer, die die Grenzen des Sonnensystems hinter sich gelassen hätten, müßten auf besondere Weise denken, wenn sie den Grenzen und dem Grund des Universums nahekommen wollten, denn sie könnten weder das eine noch das andere durch praktisches Tun erreichen. Sie müßten wieder die theoretische Transzendenz zu Wort bringen, wie es in den Anfängen der Geschichte die ... Denker ... getan hatten. Sie und ihre Vorfahren würden zweifellos schon seit langem in einer »nachgeschichtlichen Welt« gelebt haben, und doch würden sie auf dem höchsten Punkt der praktischen Transzendenz, mithin der Nachgeschichte, wieder zu den Anfängen der Geschichte zurückgekommen sein, nämlich zu der philosophischen Erfahrung der theoretischen Transzendenz.“ (Ebd., 1998, S. 605-606).

„Gewiß ist dieses Bild nicht nur idealtypisch konstruiert, sondern allzuviel des Wesentlichen ist dabei fortgelassen worden. Wir haben nicht einmal das Einfachste erwähnt, nämlich daß die Mitwirkenden in der wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie wie alle Marktteilnehmer notwendigerweise Egoisten sein müssen - und zwar sowohl als Einzelne wie als Mitglieder von Firmen -, die ihre Waren und auch ihre Arbeit so teuer wie möglich verkaufen und die Entsprechungen so billig wie möglich kaufen bzw. beschaffen müssen; wenn sie anders handelten, wenn sie sich von Gefühlen des Mitleids oder der Hochherzigkeit leiten ließen, wäre das Prinzip der Kalkulierbarkeit außer Kraft gesetzt, und unbeherrschbare Turbulenzen könnten Platz greifen.“ (Ebd., 1998, S. 606).

„Aber der Mensch hat Empfindungen des Mitleids und der Großherzigkeit, er empfindet Angst, und er sucht Zuflucht, und er hat Institutionen ausgebildet, in denen solche »außerökonomischen« Empfindungen und auch deren negative Kehrseiten eine Stätte finden können, z.B. die Familie, die Heimatstadt und das Vaterland. Wir haben alles außer acht gelassen, was nicht zu dem Hochgefühl des Fortschritts und immer stärkerer Entgrenzung paßt, und wir haben nur ganz am Rande den Terminus »Kakophonie« benutzt. Wir haben die Nöte und Gefahren, die Besorgnisse und die Kämpfe nicht berücksichtigt, die mindestens dem gegenwärtigen und für die nächste Zukunft absehbaren Zustand einer noch anfänglichen »Globalisierung« inhärent sind. Wir haben uns wie Lobredner und Enthusiasten geäußert. Es ist nun an der Zeit, auch die Kritik zu berücksichtigen, die an dem Globalisierungsprozeß und an der wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie, mit einem anderen Terminus an der »Weltzivilisation«, geübt worden ist, und zwar zu einem guten Teil nicht von einem »reaktionär« zu nennenden Außen, sondern aus ihrer Mitte heraus.“ (Ebd., 1998, S. 606).

54) Zivilisationskritik und Ökologie

„Die Kritik an der Neuzeit ist so alt wie diese selbst. Sie unterscheidet sich deutlich von der Polemik gegen die Torheiten und Sünden der Zeitgenossen, die auch im Mittelalter, ja in allen Stadien der Hochkulturen zu finden ist. Ihre Anfänge sind wohl im Kampf der katholischen Kirche gegen die Reformation zu sehen, der ihr negativer und zersetzender Charakter vorgehalten wurde; als Beispiel mag Bossuets Schrift über die Variationen der protestantischen Kirchen angeführt werden, und bei Joseph de Maistre tritt der kulturkritische, ja politische Charakter schon mehr hervor als der theologische. Fichtes Schrift über Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1800) ist voll von Kultur- oder Gegenwartskritik, und sogar bei Comte lassen sich höchst kritische Bemerkungen über zeitgenössische Tendenzen finden, und zwar keineswegs nur gegen »reaktionäre« Richtungen.“ (Ebd., 1998, S. 607).

„Am ehesten bleiben die überlieferten Kategorien dort anwendbar, wo man in der Kritik an Weltzivilisation und Moderne »reaktionäre« Denk- und Empfindungsweisen ausmachen zu können glaubt. Eine solche Präferenz für veraltete Zustände der Vergangenheit scheint bei Arnold Gehlen handgreiflich hervorzutreten, wenn in seiner Aufsatzsammlung Einblicke zu lesen ist:
»Ist es denn wirklich nur Zufall, daß ein großer Teil so ostentativer Zivilisation - im Athen des Perikles ... und im Wien des Mozart - so eng verknüpft war mit politischem Absolutismus, mit einem streng abgeschlossenen Kastensystem und der umgebenden Präsenz einer unterjochten Bevölkerung?«  (Arnold Gehlen, Einblicke, 1975, S. 125f.).
Spricht hier nicht ein Lobredner des Absolutismus und Verfechter antidemokratischer Unterdrückung, gleichsam ein ostelbischer Junker im Gewande des Gelehrten? Aber wollen nicht auch die entschiedensten Verfechter des Fortschrittsbegriffs Verehrer Mozarts sein, wollen nicht auch kämpferische Demokraten den Palazzo della Signoria in Florenz pflegen? Sind sie indessen konsequent, wenn sie die »gesellschaftlichen Bedingungen«, die sie sonst so gern hervorheben, entweder vernachlässigen oder sogar mit einem negativen Akzent versehen? Ist die Behauptung, daß hohe Kultur (und nichts anderes wird hier unter »Zivilisation« verstanden) in einem Gegensatz zu »bloßer Zivilisation« stehe, nicht doch ernster Beachtung wert, weil sie in anschaulichen Realitäten gegründet ist? Könnte hier nicht auch von »eigentlicher Geschichte« die Rede sein, die heute von einer »Nachgeschichte« überwältigt werde?“ (Ebd., 1998, S. 607-608).

„Gehlen merkt ausdrücklich an, daß er mit diesen Sätzen nur eine Wendung von George Steiner paraphrasiert, der im allgemeinen durchaus nicht als ein »Reaktionär« angesehen wird. Sollte man sich nicht besser an der Sache selbst statt an politischen Schubfächern orientieren, wenn man in Gehlens Buch Urmensch und Spätkultur liest:
»Auch die bei uns schon greifbaren Verfallssymptome gab es in dieser Art noch nie: Lust und Lebensgewinn sind zum Rechtsanspruch geworden; der echt aristokratische und echt proletarische Sinn für das Tragische wird verlacht, die geistige und moralische Kraft reichen nicht mehr zum Abbau des Überflüssigen und Ausformulierten, das nichtgelebte Leben entwickelt seine eigenen Formen der Diktatur - alle Maßstäbe verkleinern sich.«(Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1956, S. 106).“ (Ebd., 1998, S. 608).

„Könnte es aber nicht doch der Fall sein, daß die Geisteswissenschaftler und Philosophen sich in der so stark von den Naturwissenschaften bestimmten Gegenwart unbehaglich fühlen und in die Vergangenheit, genauer gesagt: in ihre Vorstellungen von bestimmten Vergangenheiten, zurückflüchten? Bei keinem Geringeren als Martin Heidegger kann man eine Fülle von oftmals frappierenden Beispielen finden, so wenn er in einem 1961 in Meßkirch gehaltenen Vortrag sagt:
»Eins unter ihnen (den mannigfaltigen Zeichen des Zukünftigen, das auf die Menschen zukommt) sind z.B. die Fernseh- und Rundfunkempfänger, die wir bald reihenweise auf den Dächern der Häuser in den Städten und Dörfern feststellen können. .... Sie zeigen, daß die Menschen dort, wo sie von außen gesehen »wohnen«, gerade nicht mehr zu Hause sind. Die Menschen werden vielmehr täglich und stündlich fortgezogen in fremde, anlockende, aufreizende, bisweilen auch unterhaltsame und belehrende Bezirke. Diese bieten freilich keinen bleibenden, verläßlichen Aufenthalt; sie wechseln unausgesetzt vom Neuen zum Neuesten. .... Wie können wir uns dem Andrängen des Unheimischen gegenüber zur Wehr setzen? Nur so, daß wir die spendenden und heilenden und bewahrenden Kräfte des Heimischen unablässig wecken, daß wir die Kraftquellen des Heimischen immer wieder zum Fließen bringen und ihrem Fluß und Einfluß die rechte Bahn verschaffen.«  (Martin Heidegger: »700 Jahre Meßkirch«, 1961, in: Martin Heidegger zum 80. Geburtstag von seiner Heimatstadt Meßkirch, 1969, S. 36-45, S. 38).
Wer sich weiteres Nachdenken erspart und keine Kenntnis davon hat, daß Heidegger im Zentrum einer philosophischen Abhandlung den Menschen als den »Platzhalter des Nichts« kennzeichnet, der mag sich hier zufrieden in den Sessel der Fortschrittlichkeit zurücklehnen, zummal Heidegger im folgenden »das Herkommen und die von alters her gepflegte Sitte« sehr positiv hervorhebt und die entscheidende Aufgabe der Rettung des Menschlichen »den ländlichen Bezirken und den kleinen Landstädten« zuweist.“ (Ebd., 1998, S. 608-609).

„Neil Postman ... hat die vollentfaltete Fernsehwelt der USA vor Augen. Die aber zerstört nach seiner Auffassung als »das egalitäre Kommunikationsmittel schlechthin« die Verschiedenheit von Kindheit und Erwachsenenalter, indem sie gerade den Oberflächenaspekt aller Vorgänge sämtlichen Zuschauern gleichmäßig zugänglich macht und damit auch die Idee des Schamgefühls verdünnt oder sogar beseitigt, das ein Merkmal des Kindseins und allerdings auch der Erwachsenen sein sollte, weil es ein Mittel ist, die stets drohende Barbarei einzudämmen. (Vgl. Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, 1982, S. 102). So werden die Kinder zu kleinen Erwachsenen und die Erwachsenen zu großen Kindern; jene tiefgründigen Unterschiedenheiten, auf denen einst Kultur und Geschichte beruhten, werden ausgetilgt. Mit einem einzigen Begriff könnte man die Wirkung dieses Fernsehens so zusammenfassen: Es leistet einen wesentlichen Beitrag zur »Entmenschung« des Menschen, zur Zerstörung dessen, was ihn einst als Kulturwesen gekennzeichnet hat.“ (Ebd., 1998, S. 609-610).

„Konrad Lorenz ist ... Naturwissenschaftler und ... Nobelpreisträger. Aber auch für ihn ist der Zivilisationsmensch der Gegenwart durch Entmenschung geprägt, durch eine Selbstdomestikation, die wie bei Haustieren das Wohlleben und die geschlechtliche Betätigung überwuchern und die Neigung zur Brutpflege sowie die höheren sozialen Impulse verkümmern läßt. Dieser Mensch ist zu blutlos und blasiert, »um ein markantes Laster zu entwickeln«, und als verstädterter Mensch befindet er sich in einem kontinuierlichen Prozeß der Verweichlichung. (Vgl. Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, S. 48). Nun mag man Lorenz Biologismus und eine allzu starke Orientierung an seinen geliebten Graugänsen vorwerfen, aber dieser Vorwurf läßt sich Rupert Riedl schwerlich machen, und auch er spricht mit ganz negativem Akzent von den »Erfolgszivilisationen«, die eines Tages »beim Wegwerfmenschen« enden müßten. (Vgl. Rupert Riedl, Die Strategie der Genesis, 1976, S. 260).“ (Ebd., 1998, S. 610).

„Irenäus Eibl-Eibesfeldt glaubt viele Anzeichen dafür zu erkennen, »daß unsere kinderarme Gesellschaft zu einer unfreundlichen Gesellschaft egozentrischer Rüpel wird« (Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch, das riskierte Wesen, 1988, S. 140), und ein spezialisierter Zoologe wie Hans Kummer, dem man keine philosophischen oder auch nur kulturkritischen Intentionen nachsagen kann, hat gleichwohloffenkundig die menschliche Gegenwart im Blick, wenn er auf »Calhouns Mäuse« zu sprechen kommt, die bei unbegrenztem Nahrungsangebot auf begrenztem Raum gehalten wurden; sie starben schließlich infolge eines komplexen, schrittweisen Zerfalls ihres Sozialverhaltens aus: »wohlgenährt, aber sozial unfähig«. (Hans Kummer, Weiße Affen am Roten Meer - Das soziale Leben derr Wüstenpaviane, 1992, S. 182).“ (Ebd., 1998, S. 610).

„Mit stärkster Betonung spricht Erwin Chargaff von dem »unaufhaltsamen Entmenschungsprozeß«, den die moderne Zeit darstelle. Zwar fehlt es gerade bei ihm nicht an kulturkritischen Verzweiflungsausbrüchen, die ihn etwa sagen lassen, wir lebten und stürben »auf einem gottverlassenen Misthaufen« und die » Verarmung der Menschenseele« sei ebenso unübersehbar wie die »Entgottung der Natur«. (Erwin Chargaff, Kritik der Zukunft, 1983, S. 11, 63). Aber im Kern richtet sich die Kritik des Wissenschaftlers gegen die Wissenschaft selbst, denn er verwirft die »überhitzte und sinnlos gewordene Forschungstätigkeit« in den Naturwissenschaften und beklagt die »unselige Imprägnierung unseres Lebens« durch eben diese Wissenschaften. (Vgl. ebd., S. 49, 58. Hubert Markl hat in einem FAZ-Aufatz zu zeigen versucht, daß Naturforschung aus Liebe zur Natur erwachse. In vielen Einzelfällen traf und trifft das sicherlich zu. Aber das Foto, das den Artikel illustrieren soll, muß jedem Betrachter sehr zu denken geben. Es zeigt nämlich einen in Vorbereitung eines Weltraumflugs auf einem Sitz festgeschnallten Affen, und man könnte sagen, in den weitgeöffneten Augen des Tieres, das den Sinne des Geschehens natürlich nicht verstehen kann, komme »das ganze Leid der Menschheit«, d.h. der »Animalität« im Gefängnis der großtechnik, zu ergreifendem Ausdruck. Vgl. Hubert Markl: »Wer liebt, der forscht. Über die sieben Veruchungen der Wissenschaft«, in: FAZ, 26. Juni 1993, S. 1). Letzten Endes vertritt er eine überaus radikale Anthropologie, indem er den Menschen aus der Welt ausstreicht und so zu einer »herrlichen geschichtslosen Welt« zu gelangen glaubt, einer Welt »ohne Vergangenheit und ohne Zukunft ..., voller Buntheit und Vielfältigkeit, in der Tiere und Pflanzen, Felsen und Erde und Luft in Gottes Ewigkeit hineinleben wie am fünften Tag« (ebd., S. 130).“ (Ebd., 1998, S. 610).

„Erzeugte der industrialisierte Teil der Menschheit nicht auch diesseits der Nukleartechnik eine Unzahl von Giftstoffen, hatten die chemischen Mittel, mit denen man Schädlinge bekämpfte und die Fruchtbarkeit steigerte, nicht eine beängstigende Kehrseite, wuchsen die häuslichen Abfälle und der industrielle Müll nicht ins Ungemessene, schwanden die Rohstoffvorräte der Welt nicht immer weiter dahin?“ (Ebd., 1998, S. 613).

„Ganz allmählich wuchs dieses »Umweltbewußtsein«, und dann erhielt es einen gewaltigen Impuls durch den Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit vom Jahre 1972, der einen Epocheneinschnitt markierte, obwohl der »konservativen« Grundeinstellung der Initiatoren auch viel Kritik begegnete. Aber gewann nicht der Terminus »konservativ« einen ungewohnt positiven Sinn, wenn die »Bewahrung der Existenz der Menschheit« zur Frage werden konnte? Jedenfalls ist die »Umweltproblematik« seither nie wieder aus der Diskussion verschwunden, und es kam nicht nur zu Beschwörungen von Initiativen auf höchster Ebene, sondern es änderten sich durch das Auftauchen von »Umweltparteien« sogar die politischen Konstellationen.“ (Ebd., 1998, S. 613).

„Doch auch hier handelte es sich nicht um etwas schlechthin Neues, sondern in gewisser Weise nur um die Wiederentdeckung der Einsicht, von der die »klassische Nationalökonomie« seit Malthus und Ricardo ausgegangen war, nämlich der Einsicht in die Endlichkeit der den Menschen zur Verfügung stehenden Ressourcen und deren Gefährdung durch das Verhalten der Menschheit. Aus dem Jahr 1913 stammt der erstaunliche Angriff von Ludwig Klages gegen das naturzerstörende und menschheitsgefährdende Ausgreifen der industriellen, der westlichen Zivilisation (vgl. Ludwig Klages, Mensch und Erde, 1913), und den Titel von Klages' späterem Hauptwerk von 1927, Der Geist als Widersacher der Seele, machte sich Konrad Lorenz 1973 ausdrücklich zu eigen. (Vgl. Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels - Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, 1973, S. 252). Lorenz, aber keineswegs nur er, verglich die Ausbreitung der industriellen Zivilisation mit dem Wirken eines bösartigen Tumors, der das Ende des befallenen Organismus nach sich ziehen würde.“ (Ebd., 1998, S. 613-614).

„Der Bericht des Club of Rome hob fünf »Grundgrößen oder Pegel« hervor: Bevölkerung, Kapital, Nahrungsmittel, Rohstoffvorräte und Umweltverschmutzung, und er enthielt die These, die beschleunigte Industrialisierung, das rapide Bevölkerungswachstum, die weltweite Unterernährung, die Ausbeutung der Rohstoffreserven und die Zerstörung des Lebensraums nähmen auf »exponentielle« Weise zu ... und tendierten eindeutig dazu, die Wachstumsgrenzen zu überschreiten und dann zusammenzubrechen. Von 1,6 Milliarden im Jahre 1900 sei die Erdbevölkerung auf 3,5 Milliarden im Jahre 1970 angewachsen, und noch vor dem Jahre 2000 würden 7 Milliarden Menschen den Planeten bewohnen. Wichtige Rohstoffvorräte wie etwa Öl und Aluminium würden schon in wenigen Jahrzehnten erschöpft sein, der Abstand zwischen den reichen und den armen Teilen der Erdbevölkerung werde größer werden, der Anfall von Müll werde die Produktion von nutzbaren Gütern überflügeln. Aus all dem müsse entweder ein baldiger Wachstumsstopp oder aber eine Katastrophe resultieren, denn ein exponentielles Wachstum innerhalb eines begrenzten Systems sei auf Dauer unmöglich, und deshalb müsse endlich eine »gemeinsame globale Strategie« entwickelt werden, welche den bisherigen egozentrischen und zu Konflikten führenden Verhaltensweisen der Erdbewohner ein Ende mache und dadurch die Fortexistenz der Menschheit in einem neuen Gleichgewichtszustand sichere. (Vgl. Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums - Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, 1972, S. 171).“ (Ebd., 1998, S. 614).

„Aber würde diese Forderung sich auf andere Weise durchsetzen lassen als durch eine »ökologische Weltdiktatur der vernünftigen Regierungen«, könnte Vernunft in diesem Zusammenhang etwas anderes heißen als »Mäßigung unter Verzicht auf wesentliche Änderungen der Macht- und Vermögensverhältnisse«, und müßte die Demokratie nicht sogar unter diesen Voraussetzungen abgeschafft werden, da doch jede Demokratie durch das Bemühen um den kurzfristigen Vorteil des demokratischen Subjekts und seiner Teilsubjekte gekennzeichnet ist? Was würden dann die Prämissen und etwaigen Folgen einer »ökologischen Diktatur« der Egalitätsideologen sein, die sich auf den Willen der ärmeren Mehrheit der Weltbevölkerung berufen und dem reichen Viertel (Fünftel! HB) die Enteignung prophezeien würden?“  (Ebd., 1998, S. 614-615).

„Ist es unverständlich und nicht sogar berechtigt, daß »Vorteile« verteidigt werden, möglicherweise mit extremen Mitteln, da doch Differenzen zum Wesen der Realität gehören? Darf das Verlangen nach »weltweiter sozialer Gerechtigkeit« die Tatsache außer acht lassen, daß der ärmere Teil der Weltbevölkerung zugleich der weit überproportional wachsende Teil ist und daß die Bevölkerungszahl der »entwickelten Industriestaaten« im Rückgang begriffen ist? Liegt hier nicht der Wurzelgrund künftiger Politik und künftiger Konflikte, die vielleicht mit der Politik und den Konflikten der »bisherigen Geschichte« größere Ähnlichkeit haben werden als mit dem »herrschaftsfreien Diskurs« in einer vorstellbaren Vollversammlung der Vereinten Nationen, die sich vorgenommen hätte, gemäß den Empfehlungen des Club of Rome und der Umweltpolitiker aller Länder dem Wachstum der Industrie und - vor allem - dem Anwachsen der Bevölkerung ein Ende zu setzen?“ (Ebd., 1998, S. 615).

55) Bevölkerungsexplosion und Bevölkerungsschwund

„Die »Bevölkerung« ist bisher noch nicht ausdrücklich unser Thema gewesen, aber die Probleme, die aus der biologischen Grundtatsache der Vermehrung und unter Umständen des Schrumpfens der Menschenzahlen im Rahmen ihrer jeweiligen Organisation resultieren, sind uns doch wieder und wieder begegnet. Alle Zahlenangaben sind bis zum Beginn des 19. Jahrhundert, d.h. bis zu den ersten neuzeitlichen Volkszählungen und bis zur Errichtung statistischer Ämter, unzuverlässig, aber schon im Hinblick auf die Vorgeschichte ist die Vermutung erlaubt, daß die Cro-Magnon-Menschen sich schneller vermehrten als die Neandertaler und daß diese entweder aufgesogen oder vernichtet wurden.“ (Ebd., 1998, S. 615).

„Das Römische Reich erlag dem Ansturm der germanischen Stämme in der »Völkerwanderungszeit«o Andererseits wurden in der griechischen und römischen Antike auch mancherlei Klagen über den Rückgang der Bevölkerung und die um sich greifende Abneigung gegen die Aufzucht von Kindern laut.“ (Ebd., 1998, S. 616).

„Eine Bevölkerungswissenschaft (**) entsteht erst in der Zeit der Aufklärung, nicht zuletzt durch das Werk von Thomas Robert Malthus, dessen einfache Grundvorstellung als Impuls oder als Stein des Anstoßes die ganze Entwicklung dieser Wissenschaft bestimmt hat: Die durch menschliche Arbeit auf der Grundlage größerer oder geringerer Fruchtbarkeit der Erde erzeugte Zunahme von Lebensmitteln gehe additiv oder »in arithmetischer Progression« vor sich, die im Zeugungsvermögen wurzelnde Vermehrung der Menschen aber multiplikativ oder »in geometrischer Progression«. Die Bevölkerung habe also stets die Tendenz, über den jeweils gegebenen und nur langsam erweiterbaren Nahrungsmittelspielraum hinauszuwachsen, und die Natur nehme die erforderliche Begrenzung vor, indem sie durch ihre »checks«, durch Hungersnöte, Seuchen und Kriege, die Bevölkerungszahl immer wieder den Ressourcen anpasse.“ (Ebd., 1998, S. 616).

„Diese Konzeption wurde von den Zeitgenossen als atheistisch empfunden, da sie dem Bibelgebot »Seid fruchtbar und mehret euch« entgegengesetzt zu sein schien, und sie war sicherlich insofern biologistisch, als sie ein biologisch Unendliches, die Fertilität, einem von Natur aus Endlichen, den Nahrungsmitteln und letzten Endes der Oberfläche der Erde, entgegensetzte. Der vorhersehbaren Katastrophe arbeiteten jedoch nach Malthus nicht nur jene Naturmächte entgegen, die z.B. verhinderten, daß die weitaus höhere Fertilitätsrate von Mäusen oder Bienen zur selbstzerstörerischen Inbesitznahme der ganzen Erde durch diese Tierarten führte, sondern auch ein Tun des Menschen, das er den »prudential check« nannte und als freiwillige Enthaltsamkeit verstand, das aber von seinen Schülern - zu denen John Stuart Mill zu zählen ist - als »Geburtenkontrolle« interpretiert wurde, d.h. als Empfehlung schwangerschaftsverhütender Methoden.“ (Ebd., 1998, S. 616).

„Was die Malthusianer klarer erkannten als Malthus selbst, war die Tatsache, daß das biologische Gesetz der Multiplikation nur in bezug auf den Menschen sich zu realisieren vermochte. Denn nur der Mensch konnte einen Teil der Naturhindernisse aus dem Wege räumen, die bei allen anderen Gattungen und Arten der Lebewesen ungehindert wirkten, indem nämlich die wissenschaftliche Vernunft die hohe Säuglingssterblichkeit ganz bedeutend senkte und den Tod im Kindbett für die jungen Frauen zur Ausnahme machte - dieselbe wissenschaftliche Vernunft, welche »die Produktivkräfte« und auch die Nahrungsmittelerzeugung ins Unbegrenzte steigern zu können schien.“ (Ebd., 1998, S. 616-617).

„So kam es, daß das Malthussche Gesetz sich erstmals in der Menschheitsgeschichte in großem Maßstab auswirkte, als Malthus' schärfste Gegner, die Protagonisten der »Perfektionierung«, d.h. des Vorrangs der intellektuellen vor den biologischen Kräften des Menschen, zu triumphieren glaubten, nämlich im 19. Jahrhundert. Zwischen 1800 und 1900 wuchs die Bevölkerung Europas von mehr als 200 auf über 400 Millionen an, sie verdoppelte sich also, und in Amerika vollzog sich die Verdoppelung auch ohne die große Immigration aus Europa tatsächlich in jeder Generation.“ (Ebd., 1998, S. 617).

„Damals hätte man also ebenfalls von einer »Bevölkerungsexplosion« sprechen können, obwohl es sich um ein schiefes Bild handelt, denn eine Explosion ist ein punktueller Vorgang von überwältigender Kraft, der dann in sich selbst zusammenbricht. Insofern wäre das Bild einer Lawine adäquater, doch auch dieses Bild ist nicht wirklich angemessen. Aber da durch das Wort »Explosion« nur so viel wie »ungewöhnliche Stärke« zum Ausdruck gebracht werden soll, darf seine Verwendung doch als erlaubt gelten. Jedenfalls ging die explosions- oder lawinenartige Vermehrung auch nach 1900 fort: Wenn es viele Jahrtausende gedauert hatte, bis die Menschheit um 1800 die Zahl von einer Milliarde erreicht hatte, so vergingen weniger als zwei Jahrhundte, bis um 1925 die zweite Milliarde erreicht wurde, und schon 1974 war diese Zahl verdoppelt. Nach den Vorausberechnungen der Statistiker wird die abermalige Verdoppelung auf acht Milliarden Menschen um das Jahr 2025 herum stattgefunden haben, und es ist eine optimistische, bloß auf Wahrscheinlichkeiten beruhende Annahme, daß die Zahl sich um 2100 bei etwa zehn Milliarden einpendeln (oder bereits zurückgegangen sein) wird.“ (Ebd., 1998, S. 617).

„Aber innerhalb der Lawine kam es zu bedeutenden Verschiebungen. Seit etwa 1900 nahm die Bevölkerung der »entwickelten Welt« oder »der reichen Völker« oder »der weißen Rasse« nur noch wenig zu, während der lawinenartige oder explosionsähnliche Verlauf sich ganz auf die sogenannten Entwicklungsländer verlagerte, zu denen zwei der ältesten Kulturländer gehörten, nämlich China und Indien. Während die »industriellen Nationen« um 1900 noch ein Drittel der Weltbevölkerung stellten, war ihr Anteil im Jahre 1950auf ein Fünftel gesunken, und im Jahre 2025 wird er aller Voraussicht nach nur noch ein knappes Zehntel betragen.3 Zu diesem Zehntel wird auch Japan gehören, so daß der Terminus »weiße Rasse« nicht mehr anwendbar sein wird.“ (Ebd., 1998, S. 617-618).

„Zugleich wird sich aber noch eine weitere Verschiebung vollzogen haben: Der Anteil der Stadtbevölkerung wird auf mehr als 60% steigen, und zwar gerade in den unterentwickelten Teilen der Welt. Dieses weit überproportionale Anwachsen sowohl der »Unterentwickelten« wie der Städte folgt mithin dem ebenso überproportionalen Wachstum der Entwickelten und ihrer Städte im 19. Jahrhundert, und es hat ganz ähnliche Ursachen, nämlich die Verbesserung der Hygiene, die Senkung der Kindersterblichkeit und die erfolgreiche Bekämpfung von Seuchen. Freilich mit dem Unterschied, daß die medizinischen Fortschritte während des 19. Jahrhunderts innerhalb des Bezirks der »Bevölkerungsexplosion« gemacht wurden, während sie an die »Unterentwickelten« überwiegend von außen, nämlich im Rahmen der Kolonisierung bzw. der europäisch-amerikanischen Expansion herangetragen wurden und dadurch zur Mitursache der Vermehrung geworden sind.“ (Ebd., 1998, S. 618).

„Aber es gibt natürlich auch endogene Ursachen: In großen Teilen der Welt sind Kinder nach wie vor die einzige Alterssicherung für die Eltern, und zumal in Afrika ist die Bevölkerung davon überzeugt, daß Kinderlosigkeit nicht nur ein Unglück, sondern ein Werk böser Geister ist. Doch nicht nur hier und teilweise sogar in einzelnen Schichten der europäischen und der amerikanischen Bevölkerung lebt die uralte und fundamentale Überzeugung fort, daß Kinder ein »Segen Gottes« sind und ein Sich-Aufopfern der gegenwärtig Lebenden für die in Zukunft Lebenden das elementarste Gebot der Ethik ist. Aber es wäre töricht, nicht wahrhaben zu wollen, daß das Streben nach einem leichteren, d.h. weniger mühseligen und arbeitsreichen Leben ein nahezu ebenso wirksames Motiv ist, und daraus erklärt sich das außerordentliche Wachstum der Städte gerade in den unterentwickelten Gebieten.“ (Ebd., 1998, S. 618).

„Jahr für Jahr strömen Hunderttausende von mexikanischen Landbewohnern nach Mexiko City, um den überaus dürftigen Lebensumständen auf den Dörfern zu entgehen, und selbst die schlimmen und unhygienischen Verhältnisse in den »shanty towns«, welche die Metropole wie Jahresringe umgeben, sind für sie nicht Grund genug, um auf das Land zurückzukehren. So ist Mexiko City mit 23 Millionen Einwohnern zur größten Stadt der Welt geworden, und die Zahlen und Verhältnisse in Kairo, Bombay und Sao Paulo sind nicht sehr verschieden. Immer wieder berichten »westliche« Reisende mit tiefer Betroffenheit von dem, was sie in solchen Städten gesehen haben: von der unfaßbaren Enge, die dazu führt, daß ganze Familien sich einzelne Treppenstufen in Hotels mieten, auf denen sie hausen, oder von den zahlreichen Menschen, die am frühen Morgen im Angesicht der Reisenden einfahrender Züge an den Bahndämmen die Notdurft verrichten, welche in den zusammengezimmerten Elendsquartieren ihrer Hütten nicht befriedigt werden kann. (Vgl. Gerhard Schweizer, Zeitbombe Stadt, 1987, S. 83ff.),“ (Ebd., 1998, S. 618-619).

„Gewiß sind die Berichte aus dem 19. Jahrhundert über die hygienischen Bedingungen und die Wohnverhältnisse in den rasch wachsenden Millionenstädten London, Paris und Berlin deprimierend genug, und die »Verstädterung« war noch z.B. im Deutschland der Weimarer Republik ein passionierendes Thema, von dem aus die Kulturkritiker sowohl der Linken wie der Rechten ihre jeweiligen Vorschläge wie etwa die »Gartenstädte« oder die »Rassenhygiene« (**) entwickelten, aber hier gab es immerhin eine unübersehbare Kontinuität zu den mittelalterlichen Städten mit ihrer Selbstverwaltung und ihrem selbstbewußten Bürgertum, während man in der »Dritten Welt« heute nur von einem »Wuchern der Urbanisierung« sprechen kann, dem in aller Regel ein staatlicher Zentralismus vergeblich entgegenzuwirken sucht.“ (Ebd., 1998, S. 619).

„Abermals ist indessen ein kulturelles Moment als mitursächlich zu betrachten: Moderne Kommunikationsmittel wie das Kino und das Fernsehen erreichen heute selbst die abgelegensten Dörfer in Indien oder in Äthiopien, und sie schildern das Leben der Stadtbewohner fast durchweg als so attraktiv, daß eine Magnetwirkung zustande kommt, welche mehr zu der großen »Landflucht« beiträgt als die unbestimmte Hoffnung, in den Städten Arbeit zu finden. Es scheint jedoch außer Zweifel zu stehen, daß die Enge und die ungesunden Verhältnisse in den Elendsvierteln dieser ausufernden Agglomerationen eine beträchtliche Senkung der Durchschnittskinderzahl verursachen, so daß sich die Hoffnung auf das Erreichen eines stabilen Zustands gerade an das Wuchern der Urbanisierung knüpft.“ (Ebd., 1998, S. 619).

„In Europa und in den USA, also im Hauptteil der »entwickelten Welt«, ist das Bevölkerungswachstum schon seit geraumer Zeit zum Stillstand gekommen, ja rückläufig geworden, aber das war sicher nicht nur auf die städtische Enge zurückzuführen. Frankreich war bekanntlich das erste Land, das im 19. Jahrhundert zum »Zweikindersystem« überging, und dafür war nicht zuletzt die aus der napoleonischen Zeit herrührende Gesetzgebung verantwortlich, nach der das Erbe gleichmäßig unter die Kinder aufzuteilen war, so daß die Bauern durch Einschränkung der Kinderzahl eine völlige Zersplitterung des Besitzes zu vermeiden suchten. In den »Sozialstaaten des 20. Jahrhunderts« wirkte sich das »Solidaritätsprinzip« gerade zuungunsten der nicht-berufstätigen Mütter und der kinderreichen Familien aus. (Vgl. Konrad Adam, »Die alternde Gesellschaft ist keine Lustpratie - Jedes Kind ist dem Staat gleich viel wert - oder gleich wenig«, in: FAZ, 03.06.1995).“ (Ebd., 1998, S. 619).

„Aber noch wichtiger wurden in ganz Europa und in den USA die Fortschritte, die der Individualismus machte, d.h. jene Emanzipation, die zuerst die Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben hatte und die zunächst nur die Befreiung einzelner Schichten wie des Bürgertums, und damit auch vieler Individuen, aus den überlieferten Ordnungen und Schranken und hin zu neuen Wirklichkeiten der Anteilnahme am Gemeinwesen wie etwa dem Wahlrecht bedeutete. Letzten Endes hatte sie jedoch die Wirkung, daß die Individuen sich selbst nicht mehr als »Gattungswesen« betrachteten, die sich den Zwecken der Gattung oder auch des Staates oder der jeweiligen Gemeinschaft freiwillig oder unfreiwillig unterwarfen, sondern daß sie sich als Selbstzweck aufzufassen lernten, so daß sie nach »Selbstverwirklichung« streben konnten.“ (Ebd., 1998, S. 619-620).

„Dieser Individualismus war zweifellos die eigenartigste und subtilste Frucht der Gesellschaftsordnung des Liberalen Systems, das von Anfang an durch die christliche Konzeption vom »unendlichen Wert der Menschenseele« geprägt war und schon im Mittelalter, aber vornehmlich in der Reformation und in der Renaissance Individuen hervorgebracht hatte, die sich mit einem Selbstbewußtsein und einem Trotz den herrschenden Normen und Geboten entgegenstellten, wie es in allen anderen Kulturen unvorstellbar war, welche durchweg in weit höherem Maße gemeinschaftsorientiert waren und die Ergebung in Gottes Willen - nichts anderes heißt »Islam« - zur obersten Regel machten.“ (Ebd., 1998, S. 620).

„Diese Ergebung, dieser »Gattungsgehorsam«, wie man sagen könnte, bestimmte jedoch die Einzelnen und die Gruppen in ganz unterschiedlichem Maße, und zwar in erster Linie die Frauen, die in den Augen der Männer, aber auch in ihren eigenen, vor allem das Gattungsinteresse zu hüten und daher viele Kinder zu gebären hatten, von denen oft mehr als die Hälfte schon im zartesten Alter starb. Die Kaisertochter Agnes, die Mutter des Otto von Freising, gebar in ihrem Leben 18 Kinder, aber deren Pflege wurde ihr doch weitgehend von Dienerinnen und Dienern abgenommen, und mehr oder weniger galt für die meisten Frauen des Hochadels ähnliches. Auch die Damen des Großbürgertums überließen im 18. und 19. Jahrhunderts die Sorge für die Kinder weitgehend den Ammen und den Gouvernanten.“ (Ebd., 1998, S. 620).

„Eine Beschränkung der Kinderzahl erfolgte nicht nur durch den Tod in der Wiege oder im Kindbett, sondern auch durch den Eintritt unverheirateter adliger Frauen in die Klöster oder Stifte und auf seiten der Männer durch den zölibatären Kirchendienst. Aber mit dem Vordringen des Malthusianismus und mit dem »Absinken des Kulturgutes«, d.h. mit der Übernahme adliger Vorstellungen und einiger Aspekte entsprechender Lebensweisen, wurde es möglich, daß immer größere Massen von Menschen die Möglichkeit wahrnahmen, sich von den Lasten der wichtigsten Gattungsaufgabe zu befreien und jene »Selbstverwirklichung« anzustreben, die ihren frappierendsten Ausdruck in der Forderung nach der »sexuellen Freiheit« der Frau fand, wie es sie bis dahin nur während der Dekadenzphasen in einigen aristokratischen Gesellschaften gegeben hatte und wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa von den Schwestern Else und Frieda von Richthofen vor- und ausgelebt wurde.“ (Ebd., 1998, S. 620-621).

„Auf diesen Emanzipationsprozeß, der schon nach dem Ersten und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg einen massenhaften und explosionsartigen Charakter annahm, ist im Rahmen der Frage nach der Linken zurückzukommen (**|**), denn er verlief nicht isoliert, sondern inmitten analoger Vorgänge, die zunächst vorwiegend die Männer betrafen. Hier ist lediglich festzustellen, daß die Vorkämpferinnen ihre Emanzipation als Selbstbefreiung vom »Patriarchat« betrachteten, daß diese aber vor allem ein Angriff auf die »naturmoralische Gesellschaft« war, so daß vom Standpunkt aller Religionen und Ethiken eine radikale Verurteilung erfolgen mußte, etwa im Sinne jener Prophezeiung Buddhas, die zitiert worden ist: An jenem Tiefpunkt der zyklisch verlaufenden Geschichte werde die Menschheit »zur Vermischung schreiten wie Ziegen und Schafe, wie Hühner und Schweine, wie Hunde und Schakale«.“ (Ebd., 1998, S. 621).

„Aber reicht es aus, dasjenige als Rückfall in die Animalität zu charakterisieren, was doch offenbar nur als Konsequenz des Individualismus, also der singulären Blüte einer einzigartigen Kultur, nämlich der okzidentalenmöglich war? Stellt es nicht vielmehr auch eine Form von praktischer Transzendenz dar, daß zahlreiche Individuen sich vom Gattungszweck emanzipieren und nur darauf ausgerichtet sind, »ihr eigenes Leben zu leben«? Es handelt sich indessen um eine Transzendenz zum Untergang, denn nicht etwa nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in Italien, Frankreich und England ist die Fertilität auf 1,4, ja 1,3 Kinder pro Frau bzw. Paar gesunken; sie reicht also zur einfachen Reproduktion längst nicht aus. Wenn die Entwicklung sich in dieser Weise fortsetzt, wird es schon im 22. Jahrhundert Franzosen, Italiener, Deutsche und Engländer in nennenswerter Zahl nicht mehr geben. Mindestens diese Nationen hätten ihre biologische Existenz und deren Grundregeln so sehr überschritten, daß sie sich aus dem Leben verabschiedet hätten.“ (Ebd., 1998, S. 621).

„Und hier beginnt die Frage politisch und aktuell zu werden. Auch wenn man keine Extrapolation in das 22. Jahrhundert vornehmen will, steht jedenfalls so viel fest, daß die Bevölkerung der »Entwickelten Welt« gegenwärtig stagniert (schrumpft! HB), während die »Dritte Welt« in einer »Bevölkerungsexplosion« begriffen ist. Es ist also eine historische Ursituation gegeben; die Analogie zu den frühen Hochkulturen oder auch zu den vorisraelitischen Bewohnern Kanaans ist schlechterdings nicht zu übersehen.“ (Ebd., 1998, S. 621).

„Aber in weitaus höherem Maße als vergleichbare Regionen der Zeit vor drei Jahrtausenden ist »der Okzident« mit seiner stagnierenden oder schrumpfenden Bevölkerung nicht nur der reiche, sondern auch der militärisch weitaus stärkste Teil der Welt. Eine kriegerische Austragung des Konflikts ist, abweichend von allen geschichtlichen Präzedentien, so gut wie ausgeschlossen. Daß der objektive Gegensatz durch eine altbewährte Methode nennenswert gemindert würde, nämlich durch die Aufnahme ethnisch nahestehender und besonders begabter Bevölkerungsteile nach Analogie der Aufnahme französischer Hugenotten und salzburgischer Bauern in Preußen, ist nicht sehr wahrscheinlich.“ (Ebd., 1998, S. 622).

„Am nächsten läge nach den Präzedentien der Geschichte, die Bevölkerungsexplosion der »Dritten Welt« als eine »demographische Aggression« anzuklagen und um das eigene Gebiet Schutzwehren zu ziehen, so daß dieses in ausgeprägtem Maße zum Staat einer riesigen Weltregion werden würde, der wie alle Staaten der Geschichte entschlossen wäre, seine Existenz gegen eine schwerwiegende, wenngleich nicht militärische Bedrohung zu verteidigen, möglicherweise durch die ultimativ an die »Dritte Welt« gerichtete Forderung, nach dem Vorbild der sozialistischen Volksrepublik China zwar nicht zum Einkinder-, wohl aber zum Zweikindersystem überzugehen. Das Buch von Samuel P. Huntington (**|**) läuft faktisch auf das Postulat hinaus, daß der Westen den Universalismus der Verkündung der Menschenrechte, der von allen nicht-westlichen Kulturen als »Imperialismus« interpretiert und abgelehnt werde, aufgibt und sich zu einer Verteidigungsgemeinschaft zusammenschließt. Verlangt wird also, daß der Okzident sich in defensiver Intention als eine »Rechte«, als »die neue Rechte der Welt« versteht oder daß innerhalb seiner eine »okzidentale Rechte« sich konstituiert.“ (Ebd., 1998, S. 622).

„Aber würde der Westen dadurch nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten? Daß seine Botschaft sich an alle Völker richtet und »Gerechtigkeit«, ja sogar »Gleichheit« predigt, ist seit den Zeiten ... des christlichen Evangeliums für ihn charakteristisch. Faktisch ist aufgrund alter Kolonialbeziehungen oder neuartiger Asylgesetzgebung in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip eine ungeregelte Einwanderung längst im Gange, und eine starke Richtung unter den politischen Kräften nicht nur Deutschlands erhebt die Forderung, auf Grenzziehungen jeglicher Art zu verzichten und durch die Aufnahme aller Verfolgten und Unterdrückten, ja sogar möglichst sämtlicher Armen das uralte Unrecht des Okzidents gegenüber der einst von ihm eroberten und immer noch ausgeplünderten »Dritten Welt« wiedergutzumachen.“ (Ebd., 1998, S. 622).

56) Die Linke - Grundimpils, Vielfalt, Paradoxien

„Noch viel weniger als die pazifistische Linke hat die antikapitalistische Linke in der Gegenwart Grund zu vollständiger Zufriedenheit. Als Verbund der marxistischen Arbeiterparteien schien sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts dicht vor dem entscheidenden Siege zu stehen. Aber diese Siegeshoffnungen beruhten auf der Annahme, daß der Gegensatz zwischen »Kapital« und »Arbeit« oder zwischen Unternehmern und Fabrikarbeitern der schärfste und offenkundigste, daher am meisten zu einer revolutionären Lösung hintreibende unter allen Gegensätzen sei. In der Tat war es die nächstliegende Vorstellung, daß die Arbeiter von »ihren« Kapitalisten ausgebeutet würden, d.h. daß ihnen Teile ihres »Arbeitsertrags« entzogen und als »Profit« in die »Taschen der Kapitalisten« gesteckt würden, aber sie entsprach nur dem - objektiv unzutreffenden - Bild, das der erste Band von Marx' Kapital zeichnete.“ (Ebd., 1998, S. 625-626).

„Nach der Sichtweise, die im dritten Band entwickelt wird, saßen die Arbeiter der kapitalintensiven Betriebe mit ihren Unternehmern in einem Boot, weil sie gemeinsam die Kapitalisten und die Arbeiter der arbeitsintensiven Betriebe ausbeuteten, und diese ausgebeuteten Betriebe befanden sich in zunehmender Anzahl nicht in Deutschland und nicht in Europa, sondern in der »unterentwickelten«, der »Dritten« Welt. So mochten die Unternehmer und die Arbeiter der meisten deutschen oder englischen Betriebe zwar Konflikte um die Höhe der Löhne durchfechten, aber in einer »Endrevolution« wäre der Ast durchgesägt worden, auf dem sie beide saßen. Eben auf diese Tatsache gründete Lenin seine Theorie vom »westlichen Imperialismus« und von dessen Arbeiteraristokratie, und auf eben dieser Basis führte die Forderung Mussolinis und Hitlers nach »Klassenkollaboration« statt nach bürgerkriegsmäßigem Klassenkampf zum Erfolg.“ (Ebd., 1998, S. 626).

„Faschismus und Nationalsozialismus waren aber nicht die alleinmögliche Konsequenz im außerrussischen Europa, sondern die einst radikalantikapitalistischen »Proletarier« konnten nun zu Mitwirkenden des »Liberalen Systems« werden, dessen Mitglieder - ob Einzelne, Gruppierungen oder Klassen - zwar in Konflikten stehen und Gegner haben, aber keine der Vernichtung geweihten Feinde. Indessen gingen auch die sozialdemokratischen Parteien auf diesem Wege nur sehr zögernd voran, weil es nicht leicht ist, auf das beflügelnde Gefühl zu verzichten, an der Spitze einer großen Volksmehrheit einem bösen Feind konfrontiert zu sein. Im Verein mit dem Sieg der eigenen radikalen Fraktion in Rußland führte dieses Zögern die großen Niederlagen »der Arbeiterbewegung« in Italien und Deutschland herbei, über die bis heute viel geklagt, jedoch wenig nachgedacht wird.“ (Ebd., 1998, S. 626).

„Aber nicht einmal nach 1945 hörten die sozialdemokratischen Arbeiterparteien in Europa definitivauf, sich als »marxistisch« und »antikapitalistisch« zu betrachten. Erst nach 1989 wurde es unübersehbar, daß man einen neuen Weg einschlagen müsse, weil man in den Augen einer »neuen Linken« nun selbst zu den Ausbeutern gehörte, und führende Politiker beschworen ihre Parteigenossen, endlich ein positives Verhältnis zur Marktwirtschaft (freilich zur »sozialen Marktwirtschaft«) und zum Unternehmertum zu gewinnen. (Vgl. Peter Glotz, Die Linke nach dem Sieg des Westens, 1992).“ (Ebd., 1998, S. 626-627).

„Die »Neue Linke« ... ist die »Dritte Welt« selbst als Linke, die jener Rechten der »Ersten Welt« Samuel Huntingtons entgegengesetzt ist. (**|**).“ (Ebd., 1998, S. 628).

„Als Selbstkritik ist der Antiokzidentalismus ein unterscheidendes Merkmal des Okzidents selbst ....“ (Ebd., 1998, S. 629).

„Die erste eindeutig antiokzidentale Linke (im Okzident, wohlgemerkt! HB) entstand in den USA in Zusammenhang mit dem Kalten Krieg und »Vietnam«, aber auch der »Civil-Rights«-Bewegung. Die Aktivisten dieser Richtungen knüpften an die Selbstkritik von Männern wie William Lloyd Garrison an und waren von tiefen Schuldgefühlen gegenüber den Indianern und den Schwarzen erfüllt, die nach ihrer Überzeugung ebenso Opfer des us-amerikanischen und westlichen Willens zu Herrschaft und Selbstdurchsetzung geworden waren wie in der Gegenwart die Vietnamesen.“ (Ebd., 1998, S. 629-630).

„Für Noam Chomsky sind die USA auch noch in den 1990er Jahren »Führer der Attacke gegen Demokratie, Märkte und Menschenrechte«; durch ihre protektionistischen Maßnahmen berauben sie die Armen und lassen durch einen »stillen Genozid« jedes Jahr 11 Millionen Kinder sterben. Die zentralamerikanisch-karibische Region ist eine der »schlimmsten Horrorzonen der Welt«, wo schreckliche Greueltaten der Amerikaner und ihrer Klienten ganze Länder verwüsten. (Der Vorwurf ist ... nicht ohne Hand und Fuß. Vgl. Noam Chomsky / Heinz Dieterich, Globalisierung im Cyberspace - Globale Gesellschaft. Märkte, Demokratie und Erziehung, 1996, S. 28, 16.). Gleichsetzungen mit dem Nationalsozialismus werden in dieser Literatur nicht selten vorgenommen, solche Wendungen fallen kaum besonders auf, und eine bekannte weiße Schriftstellerin schreckte nicht davor zurück, die weiße Rasse den »Krebs der menschlichen Geschichte« zu nennen. (Vgl. Susan Sontag nach Andy Vogelsang, The Long Dark Night and the Soul, 1974, S. 175)“ (Ebd., 1998, S. 630).

„Seinen Höhepunkt erreicht dieser Antiokzidentalismus in dem radikalen Flügel des Feminismus, wo er mit dem Antipatriarchalismus zusammengebracht und bis zu Vernichtungsforderungen vorangetrieben wird, wie sie etwa in den Sätzen von Andrea Dworkin zum Ausdruck kommen:
Wir wollen die patriarchale Macht an ihrer Quelle zerstören, der Familie ... und in ihrer häßlichsten Gestalt, dem Nationalstaat. Wir wollen die Struktur der bisher bekannten Kultur zerstören. (Vgl. Paul Hollander, Anti-Americanism, 1992, S.71. Daß der radikale Antifeminismus »antisemitisch« sein würde, wenn er nicht - auf wenig überzeugende Weise - seine Solidarität mit den »unterdrückten jüdischen Frauen« herausstellen könnte, läßt sich gut an dem Buch von Gerda Weiler über das verborgene Matriarchat im Alten Testament zeigen. Im Kern ist es eine einzige Anklageschrift gegen den »menschenverachtenden Vernichtungswahn« des Deuteronomisten gegen Andersgläubige und nicht weniger gegen »Jahwe, den Gott der Vertilgung«. Daher ist es nicht überraschend, daß die Luther-Übersetzung von II, Samuel 12, 31 - »und er verbrannte sie in Ziegelöfen« - ohne Hinweis auf die andere Übersetzungsmöglichkeit übernommen wird und daß von »platten Zuhältergeschichten« gesprochen wird. [Vgl. Gerda Weiler, »Ich verwerfe im Lande die Kriege«, 1984, S.4, 331,38, 135].).
Die letzte Konsequenz des proklamierten »Geschlechterkampfes«, der zugleich ein »Kulturkampf« wäre, würde in der Tat die Vernichtung aller oder doch mindestens der weißen Männer sein, und damit hätte ausgerechnet die feministische Linke in ihrem radikalen Flügel den Vernichtungsimpuls der Linken zum Extrem getrieben, denn was für mikroskopisch kleine Gruppen wären im Vergleich dazu Müntzers »Gottlose« oder Lenins »Kapitalisten« !“ (Ebd., 1998, S. 630).

„Wenn (wenn! HB) ... die letzte Grundlage der Unterdrückung und Diskriminierung der Frauen darin bestand, daß sie unter Schmerzen die Kinder gebären mußten, während der Beitrag des Mannes zur Fortpflanzung mühelos, ja bloß lustvoll war, dann mußte gerade diese unveränderlich scheinende Ungleichheit beseitigt und nicht etwa nur dadurch gemildert werden, daß die Männer weit mehr als bisher bei der Kinderpflege und der Hausarbeit zu helfen hatten. Die Möglichkeit einer solchen Beseitigung schien sich aus der Einsicht oder Behauptung zu ergeben, daß man nicht »als Frau geboren«, sondern durch die jeweilige Kultur »zur Frau gemacht« werde und mithin durch eine radikale Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch aufhören könne, eine Frau zu sein ....“ (Ebd., 1998, S. 632).

„Aber letzten Endes konnte die biologische, die »schicksalhafte« Ungleichheit doch nur aufgehoben werden, wenn Schwangerschaft und Geburt von medizinischen Geräten übernommen würden und also die Frauen ebenso frei wären wie die Männer, »ihr eigenes leben zu leben«.“ (Ebd., 1998, S. 632-633).

„Keine »Revolution« in der Weltgeschichte würde sich dieser Veränderung auch nur entfernt an die Seite stellen lassen, keine scheint aber auch so sehr bloß in einem gedanklichen Überschwang zu bestehen und selbst von annähernder Verwirklichung so weit entfernt zu sein. (Es ist in der Tat schwer zu verstehen, inwiefern das Geschlecht in den »Rollen« begründet sein soll und nicht die Rollen im Geschlecht. Ein noch größerer Hochmut der »Kultur« gegenüber der »Natur« ist kaum vorstellbar; insofern ist der radikale Feminismus paradoxerweise so »okzidentalistisch« wie nur möglich. In feministischen Utopien erscheint »die menschliche Natur« häufig als etwas »Auferlegtes« und daher zu Bekämpfendes. Daraus resultiert das Postulat der »Veränderung der menschlichen Natur«, und so kommt es zu dem Bild einer Gemeinschaft von Lebewesen, die keine feste Geschlechtszugehörigkeit haben und mithin sowohl Mutter- wie Vaterschaft kennen. Daß solche »Eutopien« im Kern ihrer Intention gleichwohl »rückwärtsgewandt« sind, sticht ins Auge. Vgl. Cornelia Klinger, »Die Frau von morgen -aus der Sicht von gestern und heute«, in: Peter Sloterdijk [Hrsg.], Vor der Jahrtausendwende - Berichte zur Lage der Zukunft, 1990, 2. Band, S.365-418, S. 393 ff.). Was sich in diesem Kampf der »Kultur« gegen die »Biologie« realisieren läßt, wäre die gnadenlose Bekämpfung jedes »Sexismus«, selbst wenn er bloß die Gestalt der Galanterie oder Koketterie aufwiese, und das liefe paradoxerweise auf eine starke »Desexualisierung« der Gesellschaft hinaus, in der die Geschlechtsdifferenzen zwar nicht verschwunden, wohl aber irrelevant geworden wären.“ (Ebd., 1998, S. 633).

„Als radikale Möglichkeit wäre eher noch diejenige zu verwirklichen, die den »Geschlechterkampf« nach Analogie des marxistischen Klassenkampfes mit der Vernichtung des Feindes enden lassen würde, so daß die menschliche Gesellschaft wie diejenige der Ameisen und der Bienen nur noch aus weiblichen Mitgliedern bestände, die auf künstlichem Wege wie eine Bienenkönigin zu einem für die Erhaltung ausreichenden Samenvorrat gelangt wären.“ (Ebd., 1998, S. 633).

„Eine radikale Feindschaft gegen das männliche Geschlecht hatte schon im 19. Jahrhundert eine Schülerin Nietzsches, Helene Druskowitz, zum Ausdruck gebracht, als sie schrieb, der Mann sei der
Fluch der Welt, ein Zwischenglied zwischen Mensch und Tier, dem in seinen Genitalien von der Natur ein Brandmal ohnegleichen aufgedrückt
sei. (Vgl. Annette Kuhn, Die Chronik der Frauen, 1992, S. 389. Vermutlich ist diese Wendung nicht ganz ernst gemeint, sondern als Gegenthese zu dem Titel eines Buches von Paul Julius Möbius über den »physiologischen Schwachsinn des Weibes« gedacht.). Indessen dürfte auch diese Möglichkeit der Vernichtung der Männer nicht viel leichter zu realisieren sein als jene andere, aber innerhalb des radikalen Feminismus ist insbesondere in den USA so viel an Haß zu finden wie in kaum einer anderen Abwandlung der Linken, und wenn dort der Haß der schwarzen Frauen am ehesten verständlich ist, so bringt er doch zugleich die Patriarchalismusthese ins Wanken, denn die erste Feststellung muß die sein, daß der »Sexismus« und »Machismus« der eigenen schwarzen Männer eine jahrhundertelange Tradition besitzt und keineswegs aus dem okzidentalen Patriarchalismus abzuleiten ist.“ (Ebd., 1998, S. 633).

„Aber die radikalen Feministinnen sind offensichtlich in einer schlechteren Lage, als die radikalen Vorkämpfer des marxistischen »Klassenkampfes« es waren. Wenn diese zunächst noch voller Verachtung auf die Klassenverräter und »Überläufer ins Lager der Bourgeoisie« blicken konnten, dann müssen die Feministinnen ob der Überzahl der alltäglichen »Geschlechtsverräterinnen« schier verzweifeln, und wenn sie jemals solche Erfolge erringen sollten wie die Kommunisten nach 1917, dann würde die radikale Gegenpartei, die sich aller vermutung nach bilden würde, von vornherein noch viel mehr »frauliche Frauen« auf ihre Seiten ziehen, als die radikal-antikommunistischen Parteien nichtrevolutionäre Arbeiter gewonnen hatten.“ (Ebd., 1998, S. 633-634).

„Wie der nichtradikale Hauptteil der Frauenbewegung, so kann auch die ökologische Linke das Ziel haben, das bestehende System zu verbessern und zu mildern. Sie hat ihren Anfang in der durchaus konservativen Naturschutz- und Umweltbewegung genommen, und ... manche Anhänger betrachteten Martin Heidegger als ihren Philosophen.“ (Ebd., 1998, S. 634).

„Wenn es ... der Linken noch einmal gelingen sollte, die Grundlagen des Staates so sehr zu erschüttern, wie es 1977 nach der Ermordung Hanns Martin Schleyers und während der »Landshut«-Entführung der Fall war, dürften selbst die sehr wirksamen Parolen des Antisexismus und des Antirassismus nicht mehr ausreichen, die Entstehung einer außerstaatlichen und vernichtungswilligen Gegenbewegung zu verhindern.“ (Ebd., 1998, S. 636).

57) Entmachtete Staaten in der fragmentierten Welt

„War diese Erde der »neuen Weltordnung« und der ökonomischen Globalisierung nicht unfriedlicher und trotz der Vielzahl und Schwäche ihrer Staaten nicht auch »staatlicher«, d.h. zur Anwendung von Waffengewalt geneigter, als die Welt der europäischen »Kulturstaaten« und ihrer Kolonien im 19. Jahrhundert, ja selbst das Römische Imperium und das persische Weltreich vor mehr als zwei Jahrtausenden gewesen waren. (**).“ (Ebd., 1998, S. 642-643).

„Sogar wenn wir unseren Blick nun auf Europa und auf das vom Fernsehen gezeichnete Bild der »demokratischen« Führungsmacht USA zurückwenden, sind Zweifel an der zunächst so einleuchtenden Schwächung der »Staatlichkeit« kaum zu unterdrücken.“ (Ebd., 1998, S. 643).

„Wieviel tiefer greifen diese »entmachteten«, nicht mehr souveränen Staaten Europas in das Leben jedes einzelnen Bürgers ein, indem sie ihn als Sozialstaat zwar von der Wiege bis zur bahre registrieren und umsorgen, wenngleich auf sehr unpersönliche und bürokratische Weise, und ihn andererseits als Steuerstaat mit Abgaben belasten, deren Prozentsätze auch im Bismarckreich sogar in den Augen der Durchschnittsverdiener als konfidkatorisch gegeolten hätten!“  (Ebd., 1998, S. 643).

„Und wieviele Möglichkeiten haben diese Staaten, einzelnen Wirtschaftszweigen durch Steuernachlässe oder Subventionen aller Art zur Hilfe kommen un dihnen gegenüber den befreundeten Nachbarstaaten Vorteile zu verschaffen!“  (Ebd., 1998, S. 643).

„Es ist nur allzu wahrscheinlich, daß die staatlichen Bezierke eines einheitlichen europäischen Währungsfebietes heftiger und hinterhältiger um Vorteile miteinander kämpfen werden, als es die souveränen Staaten der zwischenkriegszeit getan hatten.“ (Ebd., 1998, S. 643-644).

„Es liegt auf der Hand, daß der »freie Markt« immer wieder neue Differenzen schafft, und es ist wahrscheinlicher, daß ein mühsamer Kampf gegen eine prononcierte Ungleichheit der Einkommen zu führen ist, als daß ein zuversichtliches Sich-Einfügen in den unaufhaötsamen Gang zur Gleichheit stattfindet ... - die ökonomische Ungleichheit zwischen »Erster« und »Dritter Welt« nimmt nach allen statistischen Untersuchungen immer weiter zu, statt zurückzugehen.“ (Ebd., 1998, S. 644).

„Bei aller Vorherrschaft der »demokratischen« Wahlverfahren ist die Macht fast noch ungleicher verteilt als das Geld und die Vermögen.“ (Ebd., 1998, S. 644).

„Herrschaft, Schichtung und Staat sind in der Gegenwart keineswegs verschwunden und in einer klassen- und staatenlosen Weltgesellschaft untergegangen. Die »Verhältnisse« existieren weiter, aber sie sind wietaus komplexer und undurchsichtiger geworden.“ (Ebd., 1998, S. 644).

58) Der Untergang des Adels und der Aufstieg industriell-politischer-intellektuelle Eliten

„Die erste schwere Erschütterung der Adelsherrschaft fand statt, als die französische Revolution - in ihren Anfängen auch von Adligen gefördert, ja getragen - erstmals den Adel als solchen und nicht mehr bloß die »Gottlosen« mit Vernichtung bedrohte und den Landbesitz enteignete.“ (Ebd., 1998, S. 645).

„Anders las im islamischen bereich haben die ursprünglich religiösen Parteien nicht die Kraft, eine soziale Wandlung zu bewerkstelligen; sie könnte daher nur von einer sozialistischen oder von einer nationalistischen Partei vollbracht werden.“ (Ebd., 1998, S. 650).

59) Das Geschichtsbewußtsein: Schwächung - Renaissancen - Vernichtung - Bewahrung

„Hegels Geschichtsphilosophie bezog die ganze Weltgeschichte ein und fand dennoch in der Hervorhebung der Rolle der germanisch-protestantischen Völker einen Höhepunkt ....“ (Ebd., 1998, S. 653).

„Es war sehr wahrscheinlich, daß sogar der nationalsozialistische »Antisemitismus« lediglich wie der Zionismus die Trennung zweier Völker postulierte, aber keineswegs die Tötung wehrloser Männer, Frauen und Kinder zum Ziel hatte, die nur durch zusätzliche Momente wie die Situation des mit starker Partisanentätigkeit verknüpften großen Krieges und vor allem die radikalideologische, aber sorgfältig versteckte Überzeugung Hitlers (**) und seiner nächsten Gefolgsleute zustande kam. Wie hätte die große Masse der deutschen Bevölkerung etwas von Auschwitz wissen können, da dessen Existenz doch sogar den Alliierten noch im Frühjahr 1944 unbekannt war, jenen Alliierten, die im Gegensatz zu der deutschen Bevölkerung über erhebliche Möglichkeiten des Nachforschens und des Handelns verfügten!“  (Ebd., 1998, S. 657).

„Im Jahre 1966 sahen die Dinge noch anders aus. Wenn irgendein einflußreicher Deutscher für sich in Anspruch nehmen konnte, eine kritische Überprüfung und insofern eine Schwächung des überlieferten deutschen Nationalbewußtseins für unumgänglich zu halten, dann war es Konrad Adenauer. Aber als er 1966 einen Besuch in Israel machte und an einem von dem Ministerpräsidenten Eschkol zu seinen Ehren gegebenen Empfang teilnahm, brachte Eschkol wie selbstverständlich und ohne feindselige Absicht ganz Ähnliches zum Ausdruck, wie es der Denkmalplan und das Buch von Daniel Jonah Goldhagen taten, denn er artikulierte am Ende die Überzeugung, daß das deutsche Volk unter Adenauers weiser Führung den Weg zurück in die Familie der Kulturnationen finden werde. Da erhob sich Adenauer und sagte: »Ich fliege gleich zurück, Sie haben das Deutsche Volk beleidigt.« Adenauer war offenbar der Meinung, daß das deutsche Volk auch unter dem Nationalsozialismus und vermutlich sogar unter Einschluß zahlreicher Mitglieder der NSDAP eine »Kulturnation« geblieben sei, obwohl Hitler und seine nächsten Gefolgsleute im Schatten des Krieges, aber ohne jede Einwirkungsmöglichkeit der großen Mehrheit des Volkes, ein ungeheuerliches Verbrechen begangen hätten. Der erschrockene Eschkol entschuldigte sich, und die Angelegenheit war bereinigt: Schwächung, kritische, ja schmerzliche Überprüfung des überlieferten Geschichtsbewußtseins, aber nicht dessen Vernichtung war nach Adenauers und dann wohl auch Eschkols Meinung das zu erstrebende, der Sache adäquate Ziel.“ (Ebd., 1998, S. 658).

„Der Kollaps des deutschen und die überwältigende Stärke des jüdisch-israelischen Geschichtsbewußtseins sind (nicht zufällig! HB) Extreme .... Wenn ein in die Defensive geratener Okzident nicht bloß materiell, sondern auch mental oder spirituell überleben will, dürfen diese Extreme nicht ... erhalten bleiben.“ (Ebd., 1998, S. 660).

60) Das Hinschwinden der Religion und das Aufkommen der „Fundamentalismen“

„Auch »der Nihilismus« kann eine Version der religiösen Haltung sein, denn das Nichts ist seinem Begriff nach kein Seiendes, das der Mensch wahrzunehmen oder zu erkennen vermag: es ist nur jenseits und diesseits von allem Seienden zu finden, nämlich im Denken, und zwar als »Gott der Philosophen«, den Parmenides das Sein nannte und ebenso das Nichts hätte nenen können. Für die Nicht-Philosophen kann dieses Nichts jedoch das Gleichgültige sein, um das man sich nicht zu kümmern braucht, so daß man sich ausschließlich den »Dingen dieser Welt« zuwenden mag.“ (Ebd., 1998, S. 662).

„So ist es eine einleuchtende, wenngleich über einige Ansätze zu einer genuinen Erneuerung christlicher Denk- und Verhaltensweisen allzu rasch hinweggehende Behauptung, die westliche Zivilisation der Moderne sei eine ganz und gar irreligiöse, säkularisierte Existenzweise - die erste Massenzivilisation dieser Art, die es in der Weltgesellschaft gegeben habe, und eben deshalb bilde sie den Übergang zur »Nachgeschichte« und zu einer »Weltzivilisation«.“ (Ebd., 1998, S. 664).

Schlußbetrachtung: Die „Nachgeschichte“ - außerhalb oder innerhalb der Geschichte?

61) Die „Nachgeschichte“ - außerhalb oder innerhalb der Geschichte?  (S. 669-684)

61) Die „Nachgeschichte“ - außerhalb oder innerhalb der Geschichte?

„Ich skizziere ..., und zwar im Indikativ, das Bild einer nachgeschichtlichen Menschheit, wie sie um das Jahr 2200 Wirklichkeit geworden sein könnte.“ (Ebd., 1998, S. 669).

„Die medizinische Wissenschaft hat so gut wie alls Krankheiten überwunden, da sie ein vollständiges Bild vom menschlichen Genom gewonnen hat und alle Gene zu beseitigen vermag, die krankheitsproduzierend oder krankheitsfördernd wirken; die Ärzte haben es daher nur noch in geringem Maße mit akuten Leiden zu tun und sind ganz überwiegend zu präventiven Zwecken tätig. Die Menschen erreichen ein Durchschnittsalter von 200 Jahren, niemand kann Unfällen zum Opfer fallen, da das archaische Verkehrsmittel der Automobile und Eisenbahnzüge durch weit bessere und sicherere Kommunikationswege ersetzt ist.“ (Ebd., 1998, S. 669-670).

„Im Fernverkehr sind raketengetriebene Flugkörper im Einsatz, welche ohne Piloten mit unfehlbarer Sicherheit von Bodenstation zu Bodenstation bewegt werden und die Bequemlichkeit der einstigen Zeppelinkabinen mit der Überschallgeschwindigkeit verbinden. Dem Nahverkehr innerhalb der großen Städte und ihrer stadtartigen Umgebungen dienen winzige, nur für einzelne Personen bestimmte Hubschrauber, die keine Ähnlichkeit mit ihren massigen und lärmenden Vorläufern haben und durch ingeniöse Vorrichtungen vor Zusammenstößen gesichert sind. Nur mit tiefem Bedauern mag der von der Übermacht der Erdenschwere nun auch als Einzelner erlöste Mensch beim Flug über dienur noch dem Warenverkehr dienenden Straßen der Stadt jener früheren Zeiten gedenken, da der Autoverkehr allein in Europa Jahr für Jahr an die 100000 Todesopfer forderte - weit mehr als so mancher Krieg gekostet hatte.“ (Ebd., 1998, S. 670).

„Niemand leistet mehr schwere Arbeit mit seinen Händen, alle Tätigkeiten sind in hohem Maße intellektualisiert. Längst sind alle Menschen durch die Gentechnik nicht nur gesünder, sondern auch widerstandsfähiger geworden, aber in Erinnerung an die nationalsozialistische Eugenik (**) hat die Menschheit beschlossen, die Möglichkeiten der Menschenzüchtung nur in begrenztem Maße, etwa im Hinblick auf bestimmte Erfordernisse der Weltraumfahrt, wahrzunehmen. Das Planetensystem ist längst bis in alle Einzelheiten erforscht, und hochintelligente, sehr bewegliche Computer sorgen für den regelmäßigen Transport neuentdeckter Rohstoffe von Mars und Venus zur Erde. Nach festen Fahrplänen starten Weltraumfahrzeuge, die jedem Menschen die Möglichkeit bieten, aus dem Abstand von Tausenden von Kilometern den Planeten im ganzen in den Blick zu nehmen und voller Abneigung an jene »geschichtlich« genannten Zustände zurückzudenken, wo winzige Fetzen der unter seinen Augen liegenden Landmassen sich »Staaten« nannten und untereinander blutige Gemetzel anrichteten.“ (Ebd., 1998, S. 670).

„Die Menschheit der Kreuzfahrten im näher gelegenen Weltraum ist aber längst zu einer Einheit geworden, die in allen Individuen nur noch »Menschen« sieht, ob sich deren Vorfahren nun Japaner, Inder, Nigerianer oder Engländer genannt haben mochten, und die Abgesandten aller Erdbewohner treffen sich nicht mehr, wie einst, in der Hauptstadt eines der Mitgliedsländer. Vielmehr ist mitten im Ozean ein Welttreffpunkt errichtet worden, wo nicht etwa eine »Weltregierung« residiert, die »Befehle« gibt und dadurch Widerstände gegen ihre Herrschaft hervorruft, sondern wo die Deputierten der Weltgegenden sich lediglich zu freundschaftlichen und herrschaftsfreien Diskursen versammeln, aus denen ohne Kampfabstimmungen Beschlüsse resultieren, die ihrerseits in zahllosen Versammlungen der Regionaldemokratien vorbereitet sind. Ernste Interessengegensätze gibt es nicht, denn die wissenschaftliche Technik hat jenes idealtypische Bild von den gleichmäßigen Quadraten (**) der Sache nach weitgehend verwirklicht, und die einstige Sahara bleibt an Fruchtbarkeit und an Lebensqualität für die Einwohner nicht hinter dem ehemaligen Frankreich zurück.“ (Ebd., 1998, S. 670-671).

„Jedes Individuum hat ein Niederlassungsrecht überall auf der Erde, und daraus entstehen eine Vielfalt und Lebendigkeit des Austausches, die nicht zuletzt in der freizügig und eifersuchtslos ausgelebten Sexualität ihren Ausdruck finden und jenes »Bonobo-Ideal« aus einer Utopie zu einer Wirklichkeit gemacht haben. Alles, was an Negativem und Leidvollem oder gar Gewalttätigem mit der Sexualität verknüpft war, ist verschwunden, nicht zuletzt die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, denn Schwangerschaft und Geburt sind infolge der Fortschritte der Medizin nicht mehr bloß, wie in der Vorzeit, vorgeblich »freudige«, sondern wirklich lustvolle Ereignisse. Im übrigen sorgen die vielen Homosexuellen beider Geschlechter dafür, daß der Restbezirk der naturhaften Fruchtbarkeit sich nicht ausdehnt.“ (Ebd., 1998, S. 671).

„Die Kinder werden nicht »erzogen«, d.h. gegängelt, denn sie werden ohne die antisozialen Gene geboren, die das menschliche Leben einst zu einem widerwärtigen Kampf machten, und die Freiheit ihres Aufwachsens gerät in keinen Gegensatz zu der Gleichheit, die überall als die höchste und zugleich selbstverständlichste Qualität des Menschen gilt. Da mithin die »Egoismen« verschwunden sind, gibt es nur noch das Bestreben eines jeden, jedem anderen in der individuellen Selbstverwirklichung förderlich zu sein. Da alle »Arbeit« im überlieferten und »geschichtlichen« Sinne von Robotern geleistet wird, können auch keine Interessendifferenzen oder gar Konflikte zwischen den vielen 150jährigen und den relativ wenigen 30jährigen entstehen.“ (Ebd., 1998, S. 671).

„Zwar müssen auch diese langlebigen Menschen schließlich sterben, aber gerade das Ende wird zu einem lustvollen und selbstbestimmten Fest gemacht, und es gibt einen Punkt, wo die Menschheit ihren höchsten Triumph über die Natürlichkeit, nämlich über den Tod, feiert: Jahr für Jahr werden einige große und höchst bequem eingerichtete Weltraumschiffe mit einer hundertköpfigen Besatzung von Freiwilligen ausgesandt, die fast mit Lichtgeschwindigkeit die Grenzen des Sonnensystems hinter sich lassen und im genuinen Weltraum den Insassen die Alterslosigkeit und insofern die Unsterblichkeit gewähren, welche ihre Vorfahren in geschichtlicher Zeit sich mit Gilgamesch bloß erträumt oder in der christlichen Theologie auf den allmächtigen Gott projiziert hatten. Vielleicht würde dann selbst die äußerste Möglichkeit als realisierbar gelten: daß alle Menschen solche Weltraumfahrzeuge bestiegen und nach dem Passieren der von ihren intelligenten Computern längst vorher kolonisierten bzw. ausgebeuteten Planeten der Unsterblichkeit teilhaftig würden. (**).“ (Ebd., 1998, S. 671-672).

„Aber vermutlich würden unter diesen Menschen, die keine »sprechenden Todgeweihten« (**) mehr wären, einige nachdenkliche Individuen sein, und sie würden sich möglicherweise die Frage vorlegen, ob nicht die Menschen der fernen, der geschichtlichen Vergangenheit, die von Unsterblichkeit nur träumten oder sie auf einen Gott projizierten, näher bei der Wahrheit des Seins waren als sie selbst, die Menschen der »Nachgeschichte«, während der langen Zeit, da sie kein anderes Ziel kannten, als sich den Aufenthalt auf der Erde so langdauernd und so lustvoll wie möglich zu machen. Und der eine oder andere würde vielleicht sagen, der gewaltige Impuls der praktischen Transzendenz, der den Menschen aus der Enge einer mühsam ihr Leben fristenden Jägersippe bis in die Unsterblichkeit der Weltraumfahrer geführt habe, sei nicht imstande gewesen, das Denken der theoretischen Transzendenz überflüssig zu machen, das einst die Geschichte so wesentlich bestimmt habe und das nun, auf dem höchsten Punkt der Nachgeschichte, in eben dieser Reflexion wieder erfahrbar werde.“ (Ebd., 1998, S. 672).

„Genug des Gedankenspiels, das reale Möglichkeiten mit utopischen Gemeinplätzen verknüpft, aber trotzdem alles andere als eine bloße Spielerei ist und jedenfalls so viel tatsächlich ins Licht stellt, daß ein Zustand vorstellbar ist, der von der Geschichte und natürlich erst recht von der Vorgeschichte weitgehend genug verschieden ist, um die Bildung eines eigenen Begriffs schlechterdings unumgänglich zu machen. Und keine der Linien, die wir gezogen haben, ist bloße Phantasie, sondern jede ist eine Verlängerung von Ansätzen, die in der Gegenwart erkennbar sind. Dieser Gegenwart wenden wir uns nun wieder zu und stellen die Frage, ob auch sie von der vergangenen Geschichte, von deren Strukturen und Existenzialien, so sehr verschieden ist, daß die Verwendung eines neuen Terminus gerechtfertigt ist. Befinden wir Menschen des anhebenden dritten Jahrtausends uns bereits in der »Nachgeschichte«, wie wir den Zustand in Ermangelung eines besseren Terminus nennen wollen, oder doch mindestens im Übergang dazu?“  (Ebd., 1998, S. 672).

„Gar nicht nachgeschichtlich sind jedoch die Kriege und Bürgerkriege in der »Dritten Welt« ....“ (Ebd., 1998, S. 674).

„Die besten unter den ... Politikern der Gegenwart stellen im Vergleich zum besten Typus des Adligen der Vergangenheit sehr dürftige Figuren dar. Nichts ist daher verständlicher, als daß heute beim Blick auf die Geschichte so häufig die Vorstellungen von Dekadenz und Niedergang auftauchen.“ (Ebd., 1998, S. 675).

„Die Verwandlung der ganzen Erde in eine riesige Riesenstadt mit einigen dazwischenliegenden parkartigen Landgebieten wird vorstellbar und liegt in der Richtung einer deutlich erkennbaren Entwicklung. Wie eine solche Entwicklung sich ohne verheerende Katastrophen vollziehen soll, ist allerdings völlig unklar. Mit Bestimmtheit läßt sich sagen, daß die Erde diese gigantische Eine Menschenstadt nicht zu tragen vermag ....“ (Ebd., 1998, S. 676).

„Innerhalb der Realitäten der Gegenwart ist die gravierendste Differenz eine andere. Es handelt sich um das Verhältnis des Okzidents zu der übrigen Welt. Einerseits ist »der Westen« die angreifende Universalmacht, die dem ganzen Rest der Welt die Wirtschaftsform der »freien Marktwirtschaft« mit all ihrer Dynamik und allen ihren Ungleichgewichten auferlegt und vor allem ihre Konzeption der »Menschenrechte« durchzusetzen sucht, welche im wesentlichen Rechte der Individuen darstellen und allen religiösen und betont gemeinschaftsbezogenen Gesellschaftsformen und Konzeptionen entgegengesetzt sind.“ (Ebd., 1998, S. 677).

„Mit der Parole der »Emanzipation« ist der Westen überall in der Welt die stärkste Kraft der Veränderung oder, mit negativem Akzent, der Subversion, und nichts ist begreiflicher, als daß er traditionellen Kräften geradezu als »der Teufel« erscheint. Überall vermag seine Rede von der »Unterdrückung« an tatsächlich vorhandene Wünsche anzuknüpfen, aber fast überall wird sie als radikale Vereinfachung den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht.“ (Ebd., 1998, S. 677).

„Der scheinbar übermächtige und angreifende Westen ist selbst Gegenstand eines gefährlichen Angriffs. Er sieht sich, wie am Beispiel der »Fundamentalismen« deutlich wurde, an vielen Stellen der Welt in die Defensive gedrängt, in seinem eigenen Inneren stoßen sein Ausgreifen und seine Lebensweise auf starke Kritik, und wenn im Zeitlupentempo ein Bild der Bevölkerungsentwicklung abrollte, dann wüchse rings um sein immer enger werdendes und immer dünner bevölkertes Gebiet lawinenartig eine ganz andere Macht an, die ihn noch weiter zurückzudrängen, ja zu verschlingen droht.“ (Ebd., 1998, S. 678).

„Als Angreifer versucht der Okzident, die Welt nach seinem Bilde umzugestalten, und im Gefühl seines Rechtes und seiner Überlegenheit merkt er noch nicht einmal durchweg, daß er zugleich ein Angegriffener ist. In diesem Gegenangriff kommt vor allem zum Vorschein, daß es andere Kulturen und Lebensweisen gibt, die ihre Identität zu bewahren, ja auszudehnen suchen, obwohl sie offensichtlich dem Zwang unterliegen, sich von sich aus zu ändern, wenn sie dem Einfluß des Okzidents widerstehen wollen. Aber es ist sehr wohl möglich, daß die islamische, die hinduistische, die buddhistische Kultur in ihrer religiösen Prägung sich als solche behaupten, wenn sie sich mit »der Moderne« in Gleichklang gesetzt, deren okzidentale Form aber zurückgewiesen haben.“ (Ebd., 1998, S. 678).

„Als angegriffener, zu Opfern und Einbußen gezwungener Teil der Welt könnte dem Westen wieder erfahrbar werden, was so lange nur der restlichen Welt zugewiesen zu sein schien, nämlich Einschränkung und Bedrängnis. Eben dadurch könnte er jedoch lernen, nicht nur hilflos die Kritik von innen und außen über sich ergehen zu lassen, sondern seinerseits ein positives Selbstverständnis zurückzugewinnen ....“ (Ebd., 1998, S. 678).

„Der Okzident wäre im ganzen nur eine dieser Kulturen, weder der Herr der anderen noch ihr Prügelknabe, sondern in neuer Bescheidenheit von neuern Selbstbewußtsein und also auch vom Willen zur Selbstbehauptung erfüllt. Dieses Selbstbewußtsein der partikularen Ganzheit, die einst den praktischen Universalismus in die Welt gebracht hatte und ihn auch hinfort nicht zugunsten einer selbstgenügsamen Abgeschlossenheit verleugnet, darf aber nicht ein völlig unterschiedliches Geschichtsbewußtsein seiner Teile in sich schließen; die Extreme müssen ausgeglichen werden, nicht um der Hochschätzung der Ausgeglichenheit ..., sondern weil ihre Unwahrheit von der distanzierten Analyse enthüllt wird. Eines Tages muß sich die Einsicht durchsetzen, daß die Individualitäten der Kulturen nicht in folkloristischen Kuriositäten bestehen, sondern in unterschiedlichen Erfahrungen der theoretischen Transzendenz begründet sind und deshalb von dem fragwürdigsten aller »Monotheismen«, dem Total- und Ausschließlichkeitsanspruch der praktischen Transzendenz, nicht überwältigt werden dürfen.“ (Ebd., 1998, S. 679).

„Aber ein Gedankengang wie dieser sieht sich scharfer Kritik ausgesetzt. Handelt es sich dabei nicht bloß um einen vorsichtigen Rückzug, der das Wesentliche und Ungerechte gerade festhalten will, nämlich die große ökonomische Differenz zwischen dem ... Okzident und (von Teilen Ostasiens abgesehen) dem Rest der Welt, die Differenz zwischen den »Reichen« und den »Armen«? In der Tat nimmt der Abstand, wie häufig festgestellt worden ist und wie auch wir hervorgehoben haben, ständig weiter zu, statt sich zu verringern. Diese Differenz schließt jedoch eine Fülle von weiteren, sich ständig verändernden Differenzen in sich; auch in der »Dritten Welt« vermehrt sich der Reichtum einiger Individuen, die man dann als »Schicht« bezeichnet, und vertieft sich die Armut von anderen, ohne daß an irgendeiner Stelle Beständigkeit garantiert wäre.“ (Ebd., 1998, S. 679-680).

„Es sind die Egalitätsideologen, die diesen Zustand grundsätzlich ändern wollen, und zwar durch eine gleichmäßige Verteilung des Reichtums, eine Verteilung, die in der Praxis nicht etwa nur von den wenigen Milliardären, sondern von den großen Massen der »Ersten Welt« als Beraubung verstanden werden würde und starke Abwehrkräfte hervorrufen müßte.“ (Ebd., 1998, S. 680).

„Wir haben auch das Scheitern und die Tragödie der Linken hervorgehoben: Jeder Erfolg, den sie errang, verkehrte sich in einen Mißerfolg, denn es traten nur andersartige Ungleichhieten und Differenzen an die Stelle der alten, und nichts war zwangsläufiger ....“ (Ebd., 1998, S. 680).

„So haben wir der Linken und ihrer aktivistischen Spitze, den Egalitätsideologen, die in früheren Zeiten als Prediger der Errichtung des »Reiches Gottes« auf Erden auftraten, den Charakter der »radikalen Reaktion« zugeschrieben ....“ (Ebd., 1998, S. 680).

„Sie (»die Linken«; HB) wären auch in der Gegenwart nur dann ohne Recht, wenn die geschichtliche Realität von sich aus die Bewegungstendenz entwickelte, die »Fortschritt« genannt wird. Keine gesellschaftliche Formation kommt dieser Selbstbewegung so nahe wie das Liberale System, ja auf der Stufe des liberistischen Individualismus scheint es ein Synonym für Bewegung und Beweglichkeit schlechthin zu sein. .... Der okzidentale Liberismus der individuellen »Selbstverwirklichung« setzt den westlichen Reichtum voraus und bewegt sich darin wie in seinem Element. Er wird sich der Forderung der Egalitätsideologen nach dem Ausgleich der Reichtümer der Welt nicht zu eigen machen ....“ (Ebd., 1998, S. 681).

„Der Okzident ist bei allen Schwankungen der ökonomischen Situation reich genug, jedem der zugehörigen Staatsbürger eine regelmäßige Grundsicherung zu gewähren, die ihm eine Existenz auf bescheidenem Standard sichert. Alles, was der Einzelne darüber hinaus zu haben wünscht und was in der Tat auch die Grundsicherung erst möglich macht, muß er verdienen, indem er sich den Gesetzen und möglicherweise den Launen des Marktes beugt. Damit würde der rationale Kern des Kapitalismus, das effiziente und produktive Wirtschaften, ebenso eine Erfüllung gefunden haben wie der rationale Kern des Sozialismus, der Wille zur Befreiung aller Einzelnen von materieller Not und der Macht individueller Unglücksfälle. (**).“ (Ebd., 1998, S. 681).

„Aber eine solche Einrichtung würde nur ein Symptom von kollektivem Egoismus sein, wenn sie den Rest der Welt aus den Augen ließe und nicht einer großen Anstrengung fähig wäre, um den Hunger so vieler Millionen von Menschen in der »Dritten Welt« an ein Ende zu bringen, selbst wenn auch auf längere Frist keine adäquate Gegenleistung erwartet werden könnte. (**).“ (Ebd., 1998, S. 681).

„Es ist indessen unwahrscheinlich, daß die Egalitätsideologen sich mit dieser Lösung zufriedengeben würden. Und damit muß ich zu dem frühesten Ausgangspunkt meiner Studien zurückkehren. Im Jahre 1917 machten die bolschewistischen Egalitätsideologen in Rußland den Versuch, die kriegsgegnerische, staat- und klassenlose Gesellschaft der Nachgeschichte gewaltsam herzustellen, obwohl schon damals kaum zu leugnen war, daß sogar nach den eigenen Voraussetzungen die Verhältnisse nicht »reif« waren. Daß ihrem Extremismus ein entgegengesetzter Extremismus in den Weg trat, der aber viele Charakterzüge des Feindes übernommen hatte, war in meinen Augen ein Grundfaktum der »Epoche des Faschismus«, so wenig dem innenpolitischen Sieg Mussolinis und Hitlers »Notwendigkeit« zugeschrieben werden konnte.“ (Ebd., 1998, S. 681-682).

„Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß Analoges eintreten wird, wenn neue Egalitätsideologen jene Selbstbescheidung des Okzidents und die Neukonstituierung seines Selbst- und Geschichtsbewußtseins als bloßes Strategem anklagen und einen ernsthaften Versuch machen, ihre Konzeption von der einen und gleichartigen, nicht mehr nach Kulturen und Individuen geschiedenen Menschheit mit verbaler oder physischer Gewalt durchzusetzen. Der Epoche des Nationalfaschismus und des sowjetkommunistischen Überstaates könnte eine Epoche des Kultur- bzw. Kontinentalfaschismus folgen, der sich wohl auch und gerade im nicht-okzidentalen Teil der Welt durchsetzen würde. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob der Erfolg oder das Scheitern dieser neuartigen politischen Formation, die sicherlich auch einen neuen Namen tragen würde, die schlimmere Katastrophe wäre. Die Menschheit würde ganz in die Geschichte zurückkehren und sich von jener Grenzlinie wieder entfernen, welche die »Nachgeschichte« von der »Geschichte« trennt.“ (Ebd., 1998, S. 682).

„Aber damit sind wir zu sehr in die Nähe einer politischen Wahrscheinlichkeitserwägung oder gar Voraussage gelangt. Schon die Tatsache indessen, daß sie gemacht werden kann, ist ein Hinweis darauf, daß sogar die Grenzlinie, jenseits derer die Entwicklung zwangsläufig zu dem am Anfang dieses Buches skizzierten Zustand zu führen scheint, noch längst nicht überschritten ist. Alle historischen Existenzialien, die wir zum Thema gemacht haben und denen andere an die Seite gestellt werden könnten, haben ... grundlegende Änderungen erfahren, und einige, wie der Adel und der »große Krieg«, sind nicht mehr wahrzunehmen. Aber selbst diese haben sich eher verwandelt, als daß sie ganz verschwunden wären: Der große Krieg bleibt als dunkle Drohung bestehen, und der Adel überlebt in gewisser Weise als Pluralität der Eliten.“ (Ebd., 1998, S. 682).

„Der Umbruch ist indessen so tief, daß ihm der gleiche Rang wie der »neolithischen Revolution« zugeschrieben werden darf. In diesem engeren Sinne ist der Begriff »Nachgeschichte« sinnvoll, um den am Ende des 20. Jahrhunderts anhebenden Zustand zu bezeichnen; nicht anders, als der Begriff der »Vorgeschichte« sinnvoll ist, um die Unterschiedlichkeit der Jahrhunderttausende vor der neolithischen Revolution kenntlich zu machen.“ (Ebd., 1998, S. 682-683).

„Aber andererseits geht diese »Nachgeschichte« aus einer Verdichtung und Intensivierung der Geschichte hervor, die einige ihrer wichtigsten Charakterzüge gerade deshalb abstreifen muß, um sich die Möglichkeit der Weiterentwicklung nicht zu verbauen. In diesem Sinne bleibt die Nachgeschichte ein Teil der Geschichte, ganz wie die Vorgeschichte nicht durch eine fundamentale Grenze von der Geschichte abgetrennt war, da der qualitative Übergang vom Tier zum Menschen nach unserer Begriffsbestimmung schon zu jenem ganz frühen Zeitpunkt eintrat, als irgendwo Lebewesen
sich zur Beerdigung der Leiche eines Sippenangehörigen versammelten und dabei die Köpfe zur Sonne oder zum Mond erhoben, um in artikulierten Lauten oder schweigenden Intentionen Bitten oder auch Dank zum Ausdruck zu bringen. (**|**|**).
Der Mensch, so sagten wir, ist das zur Welt hin geöffnete, das transzendentale Wesen. Als solches kann und muß er Geschichte haben, und in dieser, der anthropologischen Geschichte, bleibt er, solange er existiert. Aber es ist zulässig, einen engeren Begriff der Geschichte von diesem weitesten zu unterscheiden und ihm sowohl Vor- wie Nachgeschichte entgegenzustellen, so daß es sinnvoll ist, in dieser Bedeutung nach der historischen Existenz und deren Grundbestimmungen zu fragen.“ (Ebd., 1998, S. 683).

„Im Umkreis der Jahrtausendwende ist ein besonders günstiger Standort gegeben. Von hier aus lassen sich im Rückblick die großen Kämpfe des 20. Jahrhunderts besser und angemessener begreifen, wenn sie als die letzten Kämpfe der Geschichte in dem engeren Sinne verstanden werden, und zwar als Kämpfe um die Geschichte, die von den Protagonisten im Bewußtsein des Ungeheuerlichen des Umbruchs gegen oder für »die historische Existenz« geführt wurden, jedoch so, daß beide Seiten, jeweils mit ihrem Gegenteil behaftet, am Ende scheiterten.“ (Ebd., 1998, S. 683).

„Im Vorblick aber ist keinerlei Sicherheit zu gewinnen: Es mag sein, daß die Menschheit, in Verfolgung der kurzfristigen Interessen der immer zahlreicheren Individuen, am Ende nach Analogie von Naturvorgängen wie des Schicksals der Ziegen auf der Insel Fernando Póo (**) schließlich den Hungertod (besser den Erstickungstod) erleiden muß; es mag sein, daß sie ganz im Gegenteil in weniger als einem Jahrtausend buchstäblich ausstirbt, weil alle Individuen, nicht nur diejenigen des Okzidents, die »Selbstverwirklichung« der Erfüllung von Gattungsaufgaben vorzuziehen gelernt haben; es mag sein, daß die pragmatische Vernunft sich als stark genug erweist, einer begrenzten Anzahl von Individuen und kulturellen Identitäten ein freundschaftliches, wenngleich schwerlich konfliktfreies Neben- und Miteinander unter strikter Ausschließung aller Vernichtungsforderungen zu ermöglichen (**); es mag sein, daß jene unterschiedslose Weltstadt aus puren Individuen Wirklichkeit wird, die in Gestalt einiger Angehöriger oder sogar als ganze eines Tages die Erde für die Dauer verläßt; ein Wissen von dieser Zukunft ist uns verwehrt.“ (Ebd., 1998, S. 683-684).

„Aber wenn wir einen noch weiteren Abstand zu gewinnen versuchen, läßt sich sagen: Wie immer das letzte Schicksal der Menschheit aussehen mag - eines hat sie durch ihre Geschichte unter Beweis gestellt: daß der Mensch ... um ein Unendliches größer ist als der Mensch oder daß, mit Platonischen Begriffen, der Geist weitaus mächtiger ist als der Körper und die Sinne, so viel mächtiger, daß er sich als rechnender Verstand sogar in Apparaten vom Körper unabhängig machen kann.“ (Ebd., 1998, S. 684).

„Gerade deshalb besteht die höchste und wünschenswerteste Möglichkeit darin, daß der Mensch eines Tages das Schicksal seiner Körperlichkeit und damit seiner Endlichkeit und seines Todes bewußt und willentlich bejaht, weil er nur dann im Vollzug seiner praktischen Transzendenz sich nicht zersprengen muß - und sei es dadurch, daß er als leere und gleichgültige Hülse auf der Erde zurückbliebe - und sich den ersten Anfang seiner Geschichte von neuern anzueignen vermag, nämlich die theoretische Transzendenz, die ihm die Selbstvergewisserung als Mensch ermöglicht und die über alle Weltraumfahrzeuge und Sternnebel gerade deshalb hinausreicht, weil sie an ein körperliches, hinfälliges und sterbliches Wesen gebunden ist. Wenn er ... »wie Gott« geworden zu sein scheint, wird ihm am stärksten bewußt, daß er nur ein um Gott ringendes oder ein vor dem Nichts verzweifelndes, weil auf das Ganze der Welt geöffnetes und die Welt gerade nicht beherrschendes Wesen zu sein vermag.“ (Ebd., 1998, S. 684).

Zitate: Hubert Brune, 2007 (zuletzt aktualisiert: 2009).

NACH OBEN oder WEITER (zu den Anmerkungen)

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