Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte? (1998)
VorwortDaß
im Jahre 1989 ein Zeitschriftenartikel mit dem Titel »Das Ende der Geschichte
?« (**)
weltweites Aufsehen erregte, hing offenbar damit zusammen, daß nach allgemeinem
Empfinden mit der unverkennbaren Schwächung des kommunistischen Regimes in
der Sowjetunion und seinem möglicherweise bevorstehenden Ende sich eine historische
»Wende« vollzog, die an Bedeutung über frühere geschichtliche
Wandlungen weit hinausging und nicht mehr lediglich Epochen wie etwa das »Zeitalter
des Imperialismus« ablöste, sondern »die Geschichte« im
ganzen zur Vergangenheit machte und zur Disposition stellte (vgl. Schlußbetrachtung,
S. 669-684). (Ebd., 1998, S. 9).Bei allen
Differenzen der genaueren Bestimmung und zumal der - positiven oder negativen
- Wertsetzung dürfte eine Einsicht außer Frage stehen: Wenn »die
Geschichte« so oft mit distanzierendem Blick zum Thema gemacht worden ist,
wenn sie so häufig - wie längst schon der »Vorgeschichte«
- als ganze einer »Nachgeschichte« oder »Weltzivilisation«
entgegengestellt worden ist, dann ist die Frage nach den Merkmalen der »historischen
Existenz« jedenfalls legitim geworden, und sie würde ihre Legitimität
auch dann behalten, wenn am Ende des untersuchenden Nachdenkens eine schroffe
Trennung zwischen »Geschichte« und »Nachgeschichte« nicht
anerkannt werden würde. Daher ist der Untertitel des vorliegenden Buches
als Frage formuliert: »Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?«.
Es wird also für möglich gehalten, daß bestimmte grundlegende
Kennzeichen - oder Kategorien oder »Existenzialien« - der historischen
Existenz tatsächlich nur für das sechstausendjährige »Zwischenspiel«
der »eigentlichen Geschichte« bestimmend waren und heute als solche
verschwinden oder bereits verschwunden sind, während andere weiterhin in
Geltung bleiben, obwohl auch sie einer tiefgreifenden Wandlung unterliegen. Die
Analyse solcher Existenzialien im Rahmen eines »Schemas der historischen
Existenz« ist das Hauptziel dieses Buches. (Ebd., 1998, S. 10).Es
wäre ein leichtes, in den großen Werken von Oswald Spengler
(**|**|**|**|**),
Arnold Toynbee
(**|**|**)
und Karl Jaspers
(**|**|**)
die Kategorein aufzufinden, welche zur Kennzeichnung der »Kultur«
oder der »bisherigen Geschichte« in ihrer Verschiedenheit von den
für die »Zivilisation« oder den »Weltstaat« bestimmenden
Kategorien verwendet werden. (**|**).
(Ebd., 1998, S. 11).So ist es wohl nicht bloß ein Zufall,
daß ein Buch mit dem Titel »Historische Existenz« meines Wissens
noch nicht publiziert worden ist. (Ebd., 1998, S. 11).»Revisionen«
und nicht lediglich bedeutungslose Korrekturen vorzunehmen ist ein Hauptmerkmal
der Geschichtswissenschaft, sobald es ihr nicht nur um Detailforschung geht; aber
deshalb werden Historiker nicht notwendigerweise zu »Revisionisten«,
und der Widerspruch, den Revisionismusversuche erfahren, gehört in das Gesamtbild
der richtig verstandenen Revisionen hinein. (Ebd., 1998, S. 11-12).ERSTER
TEIL
Einführung
1) Explikation der Frage: Was heißt historische Existenz?
Vielmehr
finden sich Erzählungen von dem »Goldenen Zeitalter« der Menschheit,
das dem »Eisernen Zeitalter« oder, in der Sprache des indischen Mythos,
dem »Kali-Zeitalter« der Gegenwart vorhergegangen sei, bei zahlreichen
Völkern und in der klassischen Antike zuerst bei Hesiod. (Ebd., 1998,
S. 18).Als »Vorgeschichte« wird der unvorstellbar lange
Zeitraum zwischen den ersten Spuren menschlicher oder mindestens menschenähnlicher
Wesen ... bis zur Ablösung des Zeitalters der Sammler und Jäger durch
den Übergang zur Seßhaftigkeit und zur Landwirtschaft in der »neolithischen
Revolution« oder auch erst durch das Aufkommen von Schrift und »Hochkultur«
verstanden. (Ebd., 1998, S. 18).Zu diesem Zeitalter gab es
im 19. Jahrhundert an ziemlich vielen Stellen der Erde und gibt es heute noch
in ganz versteckten Winkeln Analogien unter »Naturvölkern«, die
durchweg durch einen fundamentalen Konservativismus und durch die Ablehnung von
»Neuerungen«, zugleich aber durch ein in zivilisierten oder entwickelten
Zuständen längst verschwundenes Höchstmaß an »Sozialintegration«,
an Gemeinschaftlichkeit, gekennzeichnet sind. Eben
diese Geschlossenheit und eben dieses hartnäckige Festhalten an den überlieferten
Lebensformen unter Horden, Sippen und aktuellen Stämmen, welche die Wissenschaft
der Ethnologie vorfand und beschrieb, darf für die gesamte Vorgeschichte
der Menschheit angenommen werden, die ihrer Zeitdauer nach ebensoviel länger
währte, als die eigentliche Geschichte seit 6000 Jahren bewegter und dynamischer
ist. (**|**|**|**).
(Ebd., 1998, S. 18).Zur Veranschaulichung hat man das Bild eines
Serpentinenwegs gewählt, dessen unterstes und sichtbarstes Teilstück
25000 Jahre umfaßt, während die entsprechenden Abschnitte nach oben
zu immer kleiner erscheinen, bis sie an der Spitze kaum mehr als die Länge
von Millimetern aufweisen. (Ebd., 1998, S. 19).Aber auch
in der Geschichte und neben der Geschichte gab und gibt es »geschichtslose«
oder »ungeschichtliche« Zustände, die denen der »Vorgeschichte«
mehr oder weniger entsprechen. So ist der Ausdruck »Geschichtslosigkeit
der Fellachen« gebräuchlich, und damit ist jenes Herabsinken von einstigen
Höhen der Geschichte gemeint .... (Ebd., 1998, S. 19).Schließlich
soll Hegel das Wort haben. Er spricht, wie auch Ranke, von den »Völkern
eines ewigen Stillstands«, er kennzeichnet das Vordringen der Arier in Indien
als eine »dumpfe vorgeschichtliche Ausbreitung«, er nennt die von
Kämpfen und Völkerwanderungen bestimmte frühe Geschichte Mittelasiens
eine »ungeschichtliche Geschichte«, und er spricht sogar den Weltreichen
der Mongolen und Hunnen den geschichtlichen Charakter ab, weil sie in die Geschichte
als »Fortgang des Geistes« nicht hineingehören, sondern nur in
die Geschichte, »sofern sie natürliche Seiten, äußerliche
Notwendigkeiten, Impulse hat.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen
über die Philosophjie der Weltgeschichte, a.a.O., S. 342, 348 bzw. 234).
(Ebd., 1998, S. 20).Aber es wird nicht nur die Vorgeschichte oder
das Ungeschichtliche von der Geschichte geschieden, sondern auch eine »Nachgeschichte«,
welche die wesentlichen Kennzeichen der »bisherigen« Geschichte nicht
mehr aufweist. Es klingt zwar modisch, wenn von der »Posthistorie«
oder der »Postmoderne« die Rede ist, wenn Alfred Weber »Abschied
von der bisherigen Geschichte« nimmt oder wenn ein Historiker von dem »nachhistorischen
Zeitalter« spricht, in dem wir leben, aber auch diese Vorstellung wurzelt
in in uralten Zeiten. (Ebd., 1998, S. 20).1784 .... Um dieselbe
Zeit dachte Kant in seiner kleinen Schrift Idee zu einer kleinen allgemeinen
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht diese künftige Nachgeschichte
und eine sogar außermenschliche Vorgeschichte in einer Weise zusammen, die
für den Philosophen der menschlichen Freiheit und der Unerkennbarkeit des
»Dings an sich« höchst überraschend ist. Er schreibt nämlich:
»Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinctmässig,
wie Thiere, und doch auch nicht, wie vernünftige Weltbürger, nach einem
verabredeten Plane, im Ganzen verfahren; so scheint auch keine planmässige
Geschichte (wie etwa von Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein.«
Kant meint aber, daß eine »Naturabsicht« in diesem »widersinnigen
Gange menschlicher Dinge«, d.h. in der bisherigen Geschichte, zu entdecken
sei, die am Ende jenes planmäßige Zusammenwirken vernünftiger
Weltbürger nach der Analogie von Bienen und Bibern herrstellen könne.
So scheint er ein Konzept zu entwickeln, das man vereinfachend auf die Formel
bringen könnte: von der Harmonie der unbewußten Tierheit zur Harmonie
der bewußten Tierheit, die als Weltbürgertum das eigentlich Menschliche
wäre. Kant schränkt dieses Konzept zwar im weiteren Verlauf durch den
Begriff der »ungeselligen Geselligkeit«, die niemals zu einer »reinen«
Geselligkeit werden kann, und noch mehr durch das Bild vom »krummen Holz«
ein, aus dem der Mensch geschnitzt sei, aber er verwendet dann doch wieder die
Metapher vom »Automaten«, dem die »vollkommene bürgerliche
Verfassung« ähnlich sei, welche als »großer Völkerbund«
das schlimmste aller Übel, den Krieg, aus der Welt geschafft habe. (Vgl.
a.a.O., S. 293-309). (Ebd., 1998, S. 21-22).Das »dialektische«
Denken legtees dann allen Vertertern des »Deutschen Idealismus«, nicht
zuletzt Schiller, nahe, eine Nachgeschichte vorherzusehen, die »auf höherer
Stufe« die Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands der harmonie
sein würde, während die Gegenwart und die ganze nachgriechische Geschichte
eine Phase der zerrissenhaiet und Entfremdung darstellten. (Ebd., 1998,
S. 22).Notwendigerweise mußte sich das Denken der rationalistischen
Aufklärung mit ihrem Hinblick auf eine künftige »Welt der Vernunft«
nicht nur gegen die christlichen Kirchen den »Feudalismus« und allen
»Obskurantismus« richten, sondern auch gegen die Geschichte selbst,
mindestens gegen die »bisherige« Geschichte, die von Phänomenen
wie den bekämpften so stark bestimmt war. Nichts ist weniger verwunderlich,
als daß ihr von seiten der Angregriffenen ein starker Widerstand begegnete,
der keinseswegs in bloßer Apologie bestand. Er konnte vielmehr bald zum
Gegenangriff übergehen, denn insbesondere die französische Revolution
schien unter Beweis zu stellen, daß die Kosmopoliten zu fanantischen französischen
Nationalisten und die Prediger der Humanität zu blutgierigen Tyrannen wurden.
Letzten Endes wurde so »die Geschichte« zu derjenigen Realität,
auf die sich die Vorkämpfer der »christlich-germanischen« Staatsidee
beriefen, und ihre Hervorhebung des »Konkreten« war immerhin einleuchtend
genug, daß nicht wenige Anhänger des Rationalismus auf ihre Seite übergingen.
(Ebd., 1998, S. 23).Aber nicht immer war die bloße Verneinung
der Mäglichkeit einer »Nachgeschichte« ebensosehr Intention wie
Konsequenz. Alexis de Tocqueville erblickte in der (us-)amerikanischen
Demokratie ... die Lebensform der zukünftigen Menschheit. Er bejahte sie
in ihrer Verschiedenheit von der revolutionären Demokratie Frankreichs, und
doch sah er offenbar mit einer Mischung von geringschätzung und Schrecken
auf diese künftige Welt, in der die Lebenden ohne ein Verhältnis zu
den Toten sein würden und in der extremer Individualismus mit stärkster
Konformität Hand in Hand gehen würde. So wird die demokratische »Nachgeschichte«
zwar als solche akzeptiert, aber gleichwohl mit einem negativen Akzent versehen.
Der negative Akzent wird zum allesbeherrschenden Inhalt, wenn Nietzsche die »letzten
Menschen« charakterisiert: »Was ist Liebe? Was ist Schöpfung?
Was ist Selbstsucht? Was ist Stern? - so fragt der letzte Mensch und
blinzelt .... Wir haben das Glück erfunden - sagen die letzten
Menschen und blinzeln .... Ehemals war die Welt irre - sagen die Feinsten
und blinzeln ....« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra,
a.a.O.). (Ebd., 1998, S. 23-24).Ihre stärkste theoretische
Artikulation fand die Hervorhebung der Geschichte und damit die Verwerfung der
Nachgeschichte in den Schriften Wilhelm Diltheys und seines Freundes, des Grafen
Yorck (von Wartenburg; HB), für den der
Mensch des rationalistischen Planens mit seinem sich erfüllenden »Programm«
ein »von vornherein fertiggemachter Homunculus« war. (Vgl. deren Briefwechsel
1877-1897, a.a.O.). Aber diese Verwerfung schließt doch ein Ernstnehmen
der Möglichkeit in sich, und im 20. Jahrhundert wird oft die Unausweichlichkeit
zugestanden, während an der Stigmatisierung festgehalten wird, so von Arnold
Gehlen, wenn er über die »Posthistorie« schreibt, in der beginnenden
Welt-Industriekultur werde zunehmend die »echte Überlieferung der europäischen
Geschichte in der Vergangenheit verschwinden« (Arnold Gehlen, Anthropologische
Forschungen, 1961, S. 133f.). (Ebd., 1998, S. 24).Es
könnte so aussehen, als schrumpfe die Geschichte zu einer winzigen Zwischenphase
zwischen den Jahrhunderttausenden (bzw. Jahrmillionen; HB) der Vorgeschichte und jenen unabsehbaren Zeiträumen der Nachgeschichte
zusammen, welche die Menschheit zur Verfügung habe, um das große Werk
ihrer Konstituierung als Einheit, der Überwindung innerer Konflikte und vor
allem jenes Ausgreifens in den Weltraum zu bewältigen, das sie nun nicht
mehr bloß in schöner Metaphorik zur vollen Herrschaft über die
äußere und auch die innere Natur führe. (Ebd., 1998, S.
25).Ist es nicht sogar vorstellbar geworden, daß die Schrift,
deren Erfindung als der Beginn der »eigentlichen Geschichte« gilt
und deren Kenntnis die »Schriftvölker« als die geschichtlichen
Völker von den schriftlosen und damit vorgeschichtlichen Völkern schied,
zu einem Instrument von sekundärer Bedeutung absinkt, während die Bilder
und Zeichen auf den weltweit vernetzten Bildschirmen ganz in den Vordergrund treten
? Was soll da noch der »Wille zur geschichtlichen Existenz«,
von dem ein Historiker ... meint, er sei ein Hauptfaktor der Geschichtlichkeit
(vgl. Eberhard Otto, Saeculum-Weltgeschichte, Band 1, 1965, S. 382), da
dieser Wille immer Distanz, ja Feindschaft zu anderen Staaten und Völkern
in sich schloß? (Ebd., 1998, S. 25).Aber auch
dieser negative Blick auf die Geschichte erkennt ihre Eigenart und Unterschiedlichkeit
an, ganz wie das negative Urteil über die »Nachgeschichte« mindestens
deren Möglichkeit akzeptiert. (Ebd., 1998, S. 25).Es
ist also jedenfalls legitim, die Frage nach der »historischen Existenz«
aufzuwerfen. In der Frage als solcher ist noch keine Antwort vorweggenommen. Es
könnte sein, daß das Ergebnis lauten wird, die Trennung von Geschichte
und Vorgeschichte sei nicht angebracht, auch die Vorgeschichte sei Geschichte,
und sie sei von den _000 Jahren der als »eigentlich« bezeichneten
Geschichte nicht stärker verschieden als die künftige Nachgeschichte,
welche keineswegs so »ungeschichtlich« sein werde, wie sie von enthusiastischen
Freunden und von furchtsamen Gegnern hingestellt werde. (Ebd., 1998, S.
25).Es ist also jedenfalls legitim, die Frage nach der »historischen
Existenz« aufzuwerfen. In der Frage als solcher ist noch keine Antwort vorweggenommen.
Es könnte sein, daß das Ergebnis
lauten wird, die Trennung von Geschichte und Vorgeschichte sei nicht angebracht,
auch die Vorgeschichte sei Geschichte, und sie sei von den 6000 Jahren der als
»eigentlich« bezeichneten Geschichte (**|**|**|**)
nicht stärker verschieden als die künftige Nachgeschichte, welche keineswegs
so »ungeschichtlich« sein werde, wie sie von enthusiastischen Freunden
und von furchtsamen Gegnern hingestellt werde. Es könnte sein, daß
... die vollständige Andersartigkeit der wissenschaftlich-technischen Zukunft
der geeinten Menschheit anerkannt werden müßte, daß aber Würde
und Menschlichkeit ausschließlich dem Hingeschwundenen zugeschrieben wären.
(Ebd., 1998, S. 25-26).Gerade hier wären überrasschende
Denkmöglichkeiten vorstellbar; etwa in der Spur von Konrad Lorenz, der in
einer Nebenbemerkung die Menschlichkeit des Menschen gerade in demjenigen erblickt,
was den Menschen mit Tieren gemeinsam ist, also in dem emotionalen Bereich, den
Platon abwertend das »epithymetikón«, das Begierdehafte, nannte,
während die Intellektualisierung als extremes Hervortreten von Platons »logistikón«,
der Vernunft, zwar überaus leistungsfähige Instrumente hervorbringt,
aber den Menschen selbst entleert und zerstört. (Vgl. Konrad Lorenz, So
kam der Mensch auf den Hund, 1950, S. 102). (Ebd., 1998, S. 26).Die
Antwort kann indessen keine »These« sein, sondern ihr ist nur auf
einem langen Wege der darlegung, der Analyse und des Denkens, ja streckenweise
sogar der Erzählung, näherzukommen. (Ebd., 1998, S. 26).
2) Geschichtlichkeit und historische Anthropologie»Historische
Existenz« ist kein Thema der Geschichtswissenschaft allein. Es führt
ja offenbar schon in einen Randbezirk, welcher der Philosophie benachbart ist,
wenn der Begriff der »Geschichtlichkeit« gebildet wird, für den
»Historizität« ein gelehrt wirkendes Synonym ist. Auf ihn muß
der Historiker in dem Augenblick stoßen, wo er sich über die Grundlage
seines Tuns Rechenschaft gibt. Wenn der Mensch ein Wesen ist, das Geschichte hat,
sei es als »eigentliche« Geschichte oder auch als Vor- und Nachgeschichte,
dann muß er geschichtlich sein, und die Frage nach der eigentümlichen,
der kennzeichnenden Seinsweise des Menschen ist kein lediglich historische, sondern
eine philosophische Frage. (Ebd., 1998, S. 29).Allzu
philosophisch ist ... die Bestimmung von Geschichtlichkeit durch »Vergänglichkeit«
oder »Endlichkeit«. Vergänglich und endlich ist alles Seiende,
vom Wurm bis zur Milchstraße, ja vielleicht bis zum Universum selbst. Sofern
man der Endlichkeit des Menschen nicht eine spezifische Bedeutung zuschreibt,
ist die Bestimmung allzu allgemein, sie gehört in die Ontologie und nicht
in die Anthropologie. .... Erst Begriffe wie »Schöpfertum«, »Verantwortlichkeit«,
»Tradition«, »Zukunftsentwurf« gehören spezifisch
zum Menschen und bilden vermutlich, richtig gefaßt - z.B. als Traditionsbildung
oder Traditionalität - wesentliche Momente der Geschichtlichkeit des Menschen.
Eine kurze und brauchbare Bestimmung wäre wohl die folgende: Der Mensch ist
das Wesen, zu dessen Natur das »Unnatürliche«, d.h. das Künstliche,
Nicht-bloß-Biologische gehört, das Wesen, das sich bis zu einem gewissen
Grade selbst macht, indem es das von seinen Vorfahren an Fähigkeiten, Werken
und Einsichten Tradierte übernimmt und weiterentwickelt. Allzu eng wäre
dagegen die Definition, die Geschichtlichkeit des Menschen bestehe in seinem Selbstbewußtsein.
Selbstbewußtsein ist in der Tat das elementarste Kennzeichen des Menschen,
und ohne Selbstbewußtsein gibt es keine menschliche Geschichte, aber wie
das Beispiel der indischen Asketen oder der christlichen Säulenheiligen zeigt,
kann eine extreme Form des Selbstbewußtseins gerade den Ausstieg aus der
Geschichte implizieren. Fragen wie diese werden in der »historischen Anthropologie«
aufgeworfen, und man könnte vermuten, der Begriff »historische Existenz«
lasse sich durch denjenigen der »historischen Anthropologie« ersetzen.
Bevor der Unterschied geklärt werden kann, ist aber ein Blick auf das weit
ältere Fach der »philosophischen Anthropologie« zu werfen, und
als Repräsentanten dürfen Immanuel Kant und Arnold Gehlen gelten.
(Ebd., 1998, S. 30).Eben ... erst dem Menschen begegnet statt einer
»Umwelt« eine »Welt«, deren Dinge »objektiv«
erfaßt werden können, und zwar derart, daß sich »eine wirkliche
Welterweiterung über das aktuell Gegebene hinaus« vollzieht, und so
tun sich »Zeit und Raum, Zukunft und Ferne um ihn auf« (Arnold Gehlen,
Der Mensch, 1940, S,. 252). (Ebd., 1998, S. 34).
3) Naturgeschichte oder Vernunftgeschichte?Die
Geschichte der Natur von Carl Friedrich von Weizsäcker - eine Reihe von
Vorlesungen, die im Sommersemester 1946 in Göttingen gehalten wurden. Von
Weizsäcker geht von dem Eindruck der »Geschichtslosigkeit der Natur«
aus, der sich in der Tat dem Bauern bei der ständigen Wiederkehr der elementaren
Naturphänomene wie der Jahreszeiten ebenso aufdrängt wie dem Astronomen
der Zeit Newtons, der die stets gleichbleibenden und mathematisch berechenbaren
Bewegungen der Planeten beobachtet. Aber dieser Eindruck ist nach von Weizsäcker
eine »optische Täuschung«, denn es handelt sich um eine Frage
des Zeitmaßstabes: Für die Eintagsfliege würde der Mensch geschichtslos
sein. (Vgl. ebd., S. 10). In der Tat lösen sich fast alle Gestalten und alle
festen Grenzen auf, wenn man wie in einem Film 100000 Jahre in einer Viertelstunde
vor dem geistigen Auge ablaufen läßt: Die Alpen heben sich, wie ein
Tier sich morgens von seinem Lager erhebt; andere Gebirge sinken zu Ebenen herab;
Kontinente lösen sich voneinander und driften in unterschiedliche Richtungen;
die Meere dehnen sich aus und ziehen sich wieder zurück; Wälder treten
an die Stelle von Eiswüsten, Sandmassen rücken auf fruchtbares Land
vor; die Erde scheint ein- und auszuatmen wie ein Lebewesen. (Ebd., 1998,
S. 38).Den letzten Grund dafür, »daß
die Welt geschichtlich ist«, sieht von Weizsäcker in dem 2.
Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, daß »die Vorgänge
in der Welt einmalig, unumkehrbar und von endlicher Dauer sind« (ebd., S.
32), weil zwar die Gesamtmasse der Energie in der Welt nach dem Ersten Hauptsatz
unveränderlich ist, aber die verschiedenen Energieformen einem Wandlungsgesetz
unterworfen sind, welches es nicht zuläßt, daß Wärmeenergie
vollständig in kinetische Energie zurückverwandelt werden kann; der
Weltprozeß hat also die Richtung einer ständigen Vermehrung der nicht
mehr arbeitsfähigen Wärmeenergie - der »Entropie«
(**|**).
In genauerer Ausdrucksweise heißt das, daß innerhalb eines geschlossenen
Systems, und also auch innerhalb des Weltganzen, »geordnete Bewegung vollständig
in ungeordnete, ungeordnete Bewegung hingegen nicht vollständig in geordnete
Bewegung überführt werden kann« (ebd., S. 39). Das Weltall strebt
mithin einem Zustand des vollständigen Ausgleichs der Wärmedifferenzen
zu und muß daher im »Wärmetod« enden, d.h. in der Bewegungslosigkeit
und der Erstarrung aller Formen. (Ebd., 1998, S. 38).Zwischen
dem anfänglichen Chaos und der schließlichen Erstarrung liegt indessen
die uns unendlich scheinende Zeit der »Geschichte der Natur«, und
dazu gehört auch die »Geschichte des Lebens«, die als Aufsteigen
von einfachsten zu höchst differenzierten Formen dem Zweiten Hauptsatz zu
widersprechen scheint, aber durch die ständige Energiezufuhr von der Sonne
möglich gemacht wird. Hinsichtlich der Entstehung des Lebens ist die Annahme
einer »Urzeugung« nicht zu umgehen; die Vitalisten haben unrecht,
einen essentiellen Unterschied zwischen dem Anorganischen und dem Organischen
zu postulieren. So hebt von Weizsäcker mit besonderem Nachdruck hervor: »Das
Leben ist ein geschichtliches Phänomen« (ebd., S. 90): Aus dem Hauptstamm
der Bilateralia, die einen Leibeskanal aufweisen, gehen die Protostomia und am
Ende - vor 100 Millionen Jahren - die Termiten, Ameisen und Bienen hervor, während
die nah verwandten Deuterostomier ihre bisherige Endphase in den Primaten und
darunter den Menschen erreichen. Schon bei einzelnen Tierarten sind Intelligenz
und Lernfähigkeit zu finden, die im Menschen dann das Übergewicht über
die angeborenen Instinkte erlangen, ohne diese freilich völlig auszuschalten.
Eben dadurch gewinnt die menschliche Geschichte ihre Eigenart, denn »der
Natur widerfährt ihre Geschichte, aber sie erfährt sie nicht«
(ebd., S. 9f.). Mithin vollzieht der Mensch nicht etwa bloß dasjenige mit
Bewußtsein, was sich in der Natur ohne Bewußtsein abspielt - »den
Kampf ums Dasein« z.B. -, sondern er kann einen Zugang zu Gott als der Liebe
gewinnen und dadurch selbst zu einer »Haltung der Seele« gelangen,
»die sehend den Kampf ums Dasein aufhebt« (ebd., S. 124). (Ebd.,
1998, S. 38-39).So tritt für von Weizsäcker auf dem höchsten
Punkt der Naturgeschichte der christliche Gott in das menschliche Dasein ein,
den Kant noch als Schöpfer der Grundeigenschaften der Materie an den allerersten
Anfang der Naturgeschichte gestellt hatte, wenngleich schwerlich auf überzeugende
Weise. Der Geschichtsbegriff von Weizsäckers läßt also eine eigenartige
Doppelung erkennen: Einerseits stehen Geschichte des Kosmos, Geschichte des Lebens
und Geschichte des Menschen als grundsätzlich gleichartige Phänomene
nebeneinander; andererseits aber zeigt sich, daß die Unterscheidung, der
Natur widerfahre die Geschichte, der Mensch aber erfahre sie, nicht ausreicht,
denn im Menschen kommt keineswegs bloß zum Bewußtsein, was in der
Natur unbewußt vor sich geht. Vielmehr kann der Mensch im Aufschwung der
Liebe aus der Natur heraustreten und ihr oberstes Gesetz verneinen, das Gesetz
des Kampfes ums Dasein; es existiert also nicht nur eine spezifische - in der
»species« Mensch begründete - Differenz zwischen der Geschichte
der Lebewesen und der Geschichte der Menschen, sondern ein essentieller Unterschied,
eine Differenz toto coelo, welche die Verwendung desselben Begriffs - der
»Geschichte« - für so verschiedenartige Erscheinungen fragwürdig
macht. (Ebd., 1998, S. 39).Aber man muß die Meinung
von Weizsäckers wohl so verstehen, daß die naturüberlegene oder
auch »naturwidrige« Existenz des Menschen eine Forderung und nicht
etwa eine die Geschichte bestimmende Wirklichkeit ist, und insofern ist der Hauptertrag
seines Buches doch darin zu sehen, daß er einen viel umfassenderen Begriff
der Geschichte zu entwickeln sucht, als er bisher begegnet ist; und mit noch größerer
Entschiedenheit weisen jüngere Konzeptionen von Naturwissenschaftlern, wie
noch zu zeigen sein wird, in dieselbe Richtung. (Ebd., 1998, S. 40).In
den Geisteswissenschaften wiederum sind hier und da Begriffe der Geschichte entwickelt
worden, die sehr viel enger sind als die geläufige Vorstellung, daß
Geschichte in Gestalt der auf Kenntnis der Schrift beruhenden »Hochkulturen«
vor etwa 6000 Jahren (**|**|**|**)
an mehreren und weit voneinander entfernten Orten der Erde die »Vorgeschichte«
abgelöst habe und heute in einem Prozeß fundamentaler Wandlung begriffen
sei, welche die Verwendung des Begriffs »Nachgeschichte« nahelege.
(Ebd., 1998, S. 40).Aber bevor die lange Wanderung durch dieses
riesige Spektrum angetreten werden kann, sollen noch die Auffassungen von drei
Geschichtsdenkern des 20. Jahrhunderts, die einen besonders großen Einfluß
ausgeübt haben, in knappem Umriß vergegenwärtigt werden. Danach
sind einige Vorüberlegungen zur Methode anzustellen, und damit ist die Einleitung
an ein Ende gebracht. (Ebd., 1998, S. 44).
4) Spengler,
Toynbee,
Jaspers
und der Begriff der historischen ExistenzDie
Behauptung wäre wohl nicht abwegig, daß die berühmten Bücher
von Oswald Spengler, Arnold Toynbee und Karl Jaspers alle drei den Titel »Historische
Existenz« tragen könnten, obwohl der Terminus, wenn ich mich nicht
täusche, in keinem an hervorgehobener Stelle vorkommt. Zumindest Spenglers
Untergang des Abendlandes würde dadurch jedoch vermutlich ein Gutteil
seiner großen Wirkung eingebüßt haben, denn kaum je hat ein monumentaler
Titel besser in seine Zeit gepaßt, aber kaum je auch ist sein nächster
Sinn so sehr mißverstanden worden wie im Falle dieses Buches. Sein Erscheinen
fiel praktisch mit der Niederlage Deutschlands zusammen, die von vielen Hunderttausenden
als Untergang einer ganzen Kultur, einer Welt der Sicherheit und der Größe
empfunden wurde, und so fand die These des Autors weithin Glauben, daß er
mit diesem Buch die »Philosophie der Zeit« vorgelegt habe. Aber das
Vorwort datiert vom Dezember 1917, und es bringt in seinem letzten Satz den Wunsch
zum Ausdruck, das Buch möge neben den militärischen Leistungen Deutschlands
nicht ganz unwürdig dastehen. »Untergang« bedeutete für
Spengler eben keineswegs Niederlage oder Zusammenbruch, sondern den Übergang
in die Nachgeschichte der bloßen Zivilisation. (**).
(Ebd., 1998, S. 44).Das Neuartige bestand zunächst darin,
daß nach Spengler ebensoviele Nachgeschichten oder Spätzeiten existierten
wie Kulturen und daß diese Kulturen die wirklichen Subjekte der Geschichte
waren - es also eine lineare Weltgeschichte, die sich zu »der« Zivilisation
erhebe oder in »die« Dekadenz abstürze, gar nicht gebe. Mithin
müsse die Fortschrittsgeschichte der Comte, Spencer und auch Hegel durch
eine »Morphologie der Weltgeschichte« ersetzt werden. Geschichtlich
im eigentlichen Sinne sind die großen Kulturen wie die der Antike, der Ägypter,
der Araber, des Abendlandes, die »mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße
einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres
Daseins streng gebunden bleibt, aufblühen« (Oswald Spengler, Der
Untergang des Abendlandes, 1918, S, 29 **)
und die allesamt schließlich in das Stadium der »Zivilisation«
oder, wie Spengler häufig sagt, »der Weltstadt« übergehen
und darin ihren Untergang finden. (Ebd., 1998, S. 44-45).
Gegen die immer noch vorherrschende Konzeption
vom geschichtlichen Fortschritt, dessen Objekt und Subjekt »die
Menschheit« war, setzt Spengler also einen Kulturpluralismus und
-relativismus, die zugleich eine Dekadenzlehre sind. Deren Pessimismus
war es, der so gut zur Verzweiflung der Deutschen paßte, aber das
merkwürdige war, daß Spengler während der Niederschrift
des Buches zuversichtlich einen Sieg Deutschlands erwartete und den Deutschen
gerade Mut zur Übernahme einer nachgeschichtlichen Existenz machen
wollte, die in seinen Augen nichts Geringeres als die Herrschaft Deutschlands
über Europa bedeuten würde. Allerdings würde dieses Deutschland
auf einem »metaphysisch erschöpften Boden« (des Abendlandes!
Vgl. Oswald Spengler, ebd., S. 6 **)
stehen und nicht mehr im gleichen Sinne geschichtlich sein wie die Goethezeit,
das Zeitalter Ludwigs XIV. oder das Mittelalter, und insofern würde
es auch hinter dem frühen Islam und der chinesischen Shang-Zeit zurückstehen,
die bei aller chronologischen Differenz jeweils bestimmten Perioden der
abendländischen Geschichte »gleichzeitig« waren.
(Ebd., 1998, S. 45).
So
sieht Spengler es als seine »kopernikanische Tat« an, das eurozentrische
Schema überwunden und an dessen Stelle ein System gesetzt zu haben, »in
dem Antike und Abendland neben Indien, Babylonien, China, Ägypten, der arabischen
und mexikanischen Kultur ... eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen«.
( Oswald Spengler, ebd., S. 24 **).
Tatsächlich hat Spengler von einigen dieser Kulturen, nicht zuletzt der durch
den magischen Dualismus eines »Höhlengefühls« gekennzeichneten
arabischen, sehr eindringliche Lebensbilder gezeichnet, aber dennoch ist nicht
zu übersehen, daß er die abendländische, die »faustische«
Kultur mit weit größerer Teilnahme zum Gegenstand macht und in ihr
die eigentlich geschichtliche Kultur erblickt, während er etwa die antike
Kultur als ungeschichtlich bezeichnet, d.h. als vom Ursymbol des stofflichen Einzelkörpers
geprägt. Der abendländische Mensch dagegen, dessen Ursymbol der reine
unendliche Raum ist, hat »von den Tagen der Sachsenkaiser bis zur Gegenwart
Geschichte im allerbedeutendsten Sinne durchlebt, und zwar mit einer Bewußtheit,
die in keiner anderen Kultur ihresgleichen findet«. (Oswald Spengler, ebd.,
S. 953 **).
(Ebd., 1998, S. 45).Aber Spengler macht sich das Gesetz seiner
eigenen Konzeption nicht zu eigen, d.h. er akzeptiert die unvermeidlichen Kennzeichen
der heutigen Spätzeit nicht, die in allen anderen Spätzeiten die gleichen
waren, nämlich die Weltstadt, den Pazifismus und die Vorherrschaft der Intellektuellen,
und daher ist das ganze Buch von schärfster Polemik gegen »die geborenen
Weltbürger und Schwärmer für den Weltfrieden«, gegen »die
geistigen Führer des Fellachentums« (Oswald Spengler, ebd.,
S. 781 **),
gegen den »Sieg des bloßen Lebenwollens in wurzelloser Freiheit über
die großen bindenden Kultursysteme« erfüllt, nicht zuletzt auch
gegen die »Masse« und sogar gegen den sozialistischen Vierten Stand
als »Ausdruck der Geschichte, die ins Geschichtslose übergeht«.
(Ebd., 1998, S. 45-46).Oft genug drängt sich der Eindruck
auf, daß sogar die Interpretation von historischen Phänomenen außerhalb
Europas von einer polemischen und aktuellen Intention geleitet wird, so etwa die
Beschreibung der »magischen« Kultur, die als Einheit von Staat, Kirche
und Volk in den jüdischen Ghettos fortlebt und schließlich jene »Gehirnmenschen«
hervorbringt, die keine Beziehung zu der »Seele« der Kultur haben,
in deren Mitte sie leben. So wäre also in der abendländischen »Nachgeschichte«
eine Scheidung vorzunehmen, nämlich die Scheidung in die Tendenz zu Pazifismus
und Kosmopolitismus, welche durch den Einfluß jener »Literaten«
verstärkt wird, die letztlich einer anderen Kultur entstammen, und dem spezifisch
Abendländischen, das zwar auch Niedergang bedeutet, aber doch zugleich den
Willen zum Eintritt in das »Zeitalter der Riesenkämpfe, in dem wir
uns heute befinden« (Oswald Spengler, ebd., S. 1081 **)
.... (Ebd., 1998, S. 46).Scharf akzentuierte Unterscheidungen
hatte Spengler zuvor im Hinblick auf die »Vorgeschichte« getroffen,
wo er die »Vorkultur« als den Anfang jeder hohen Kultur scharf von
der völlig andersartigen primitiven Kultur abgrenzt, und auch im Hinblick
auf die Geschichte selbst, wo er dem Adel, der in einer Welt von Tatsachen lebt
und »der Mensch als Geschichte« ist, das Priestertum entgegensetzt,
das sich in einer »Welt von Wahrheiten« bewegt und »den Menschen
als Natur« repräsentiert. Es wäre daher keine allzu gewagte These,
daß für Oswald Spengler trotz allem, was er über die Gleichberechtigung
und prinzipielle Gleichartigkeit der großen Kulturen zu sagen weiß,
letzten Endes der abendländische Adlige der eigentlich geschichtliche Mensch
ist und daß er noch im Niedergang der Nachgeschichte Nachfolger findet,
zu denen Spengler später einen »Cäsar« wie Mussolini rechnete
- Nachfolger, die dasjenige verwirklichen, was Spengler 1917 den Deutschen ans
Herz gelegt hatte: den Willen zum Imperium, der ein Gegenzug zur drohenden Weltherrschaft
des Geldes und des Händlertums ist. So läßt sich jedenfalls die
Schlußwendung des erst 1922 erschienenen zweiten Bandes am ehesten verstehen,
die ganz und gar Mahnung und Appell ist und nichts mehr von verstehender Analyse
an sich hat: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: ... sie hat immer
die Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und die Menschen
und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten
und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht .... Wir haben nicht die Freiheit, dies
oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine
Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst,
mit dem einzelnen oder gegen ihn. Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.«
(Oswald Spengler, ebd., S. 1194-1195 **).
(Ebd., 1998, S. 46-47).Auch für Arnold
Toynbee gab es eine aktuelle Aufgabe, die gelöst werden mußte, aber
sie besteht in dem genauen Gegenteil dessen, was Spengler im Auge hatte. Es ist
für ihn an der Zeit, daß das Zeitalter der nebeneinander existierenden
Kulturen und Religionen durch eine »Weltgesellschaft«, ja durch einen
Weltstaat abgelöst wird, in dem die Menschen in einer Art Synthese der Lehren
des heiligen Franziskus von Assisi und des Mahayana-Buddhismus zueinander finden,
so daß sie die Bejahung des Leidens und der »Erbsünde«
bewahren können und mithin nicht in die negative Alternative eines oberflächlichen
und wohl auch wohlfahrtsstaatlichen Amerikanismus, d.h. in eine bloße »Nachgeschichte«,
absinken müssen. Aber im übrigen stimmt seine Geschichtskonzeption weitgehend
mit derjenigen Spenglers überein, denn auch für ihn sind der Aufstieg
und der Niedergang einzelner Kulturen der Hauptinhalt der Geschichte. Auch für
ihn ist der Aufstieg der Kulturen von einer »schöpferischen Minderheit«
abhängig, die jedoch in der Spätzeit zu einer »herrschenden Klasse«
entartet und dann den Massen als einem »inneren Proletariat« konfrontiert
ist. An solchen Kulturen zählt Toynbee 21 auf, von denen ein Drittel noch
lebendig ist, während die übrigen im Lauf der Geschichte untergegangen
sind oder wie die Juden und die Parsen als bloße Relikte fortexistieren.
(Ebd., 1998, S. 47).Alle diese Kulturen macht Toynbee in den von
1934 bis 1954 erschienenen neun Bänden seiner Study of History mit
stupender Gelehrsamkeit zum Thema, aber nicht so sehr in beschreibenden und analysierenden
Einzeldarstellungen, sondern in unablässigen Vergleichen unter bestimmten
Sachgesichtspunkten, mit denen er Gesetzen oder Regelmäßigkeiten ihrer
Entwicklung nachzuspüren sucht. Den Spenglerschen Organizismus vermeidet
er jedoch durch das grundlegende Begriffspaar »Herausforderung und Antwort«
(»challenge and response«), das der Welt nicht den Charakter einer
hervorbringend-bewahrenden »Landschaft«, sondern den eines »Anreizes«
zuschreibt, welcher wie bei den Eskimos zu stark und wie bei den Polynesiern zu
schwach für die Ausbildung von Kultur und damit von »Geschichte«
sein kann. Und während für Spengler zwischen Kulturen nur oberflächliche
Berührungen und äußerstenfalls »Pseudomorphosen« möglich
sind, spielen bei Toynbee die wechselseitigen Einflüsse der Kulturen aufeinander
eine große und positive Rolle. (Ebd., 1998, S. 47).Als
positiv werden von ihm auch die »äußeren Proletariate«
gesehen, mit anderen Worten die primitiven oder barbarischen Völker, deren
Ansturm zwar, zumal im Zusammenwirken mit einem »inneren Proletariat«,
Kulturen zerstören, aber auch neue Kulturen erzeugen kann - offenbar schwebt
Toynbee vornehmlich der Untergang des Römischen Reiches durch Germanen und
Christen sowie die daraus entstehende abendländische Kultur vor. Diese Kultur
nun, »die unsere«, hebt Toynbee ausdrücklich von allen anderen
Kulturen ab, aber gerade deshalb, weil sie sich zu jener Weltgesellschaft fortzuentwickeln
vermag, die mehr Ähnlichkeit mit den Universalkirchen als mit den Universalstaaten
der Vergangenheit haben wird. (Ebd., 1998, S. 47-48).So ist
der Unterschied zwischen geschichtlicher und nachgeschichtlicher Existenz hier
nicht so ausgeprägt wie für Spengler, aber an Appellen und aktuellen
Bezugnahmen fehlt es auch bei Toynbee nicht. In der Zeit nach 1945 galt er zunächst
als »Kalter Krieger«, ganz wie Spengler 20 Jahre früher vielen
als »Wegbereiter des Nationalsozialismus« gegolten hatte, aber dann
brachte er so viel Verständnis für den Bolschewismus als nationalistischen
und dem Westen gegenüber defensiven Sozialismus zum Ausdruck und griff Amerikas
»Verrat an der Revolution« so heftig an, daß er zum Vorkämpfer
des Antiokzidentalismus geworden zu sein schien. (Ebd., 1998, S. 48).Es
war ein im Vergleich mit den Werken Spenglers und Toynbees schmales Büchlein,
das Karl Jaspers, bis dahin vornehmlich als Mitbegründer der »Existenzphilosophie«
bekannt, 1949 unter dem Titel Vom Ursprung und Ziel der Geschichte publizierte.
Anders als Spengler und Toynbee zieht er zwei Schnitte durch die Geschichte, die
beide nicht eine Vorgeschichte von einer Nachgeschichte trennen. Der erste
Schnitt sondert nicht etwa die »Jahrhunderttausende lange Vorgeschichte«
von der Welt der Hochkulturen, vielmehr werden durch die »Achsenzeit«,
wie Jaspers den Zeitraum von 800 bis 200 vor Christus nennt, Vorgeschichte und
alte Hochkulturen auf die eine Seite und »die Geschichte« auf die
andere Seite gestellt. Der Umbruch vollzieht sich im wesentlichen durch das Aufkommen
der Philosophie und philosophischer Religionen, und zwar an drei Stellen der Erde:
dem aus Orient und Okzident bestehenden Abendland, in Indien und in China. Damit
tritt der Mensch in das Stadium der Reflexion über sich selbst und die Welt
ein, das ein neues und bis dahin unbekanntes Selbstbewußtsein bedeutet,
und die großen Geister, die den Weg bahnen, sind Männer wie Konfuzius
und Buddha, ... wie Sokrates und Platon, allesamt Angehörige der »Achsenvölker«
.... Der tiefe Graben des Sich-nicht-verstehen-Könnens, den Spengler um jede
einzelne Kultur zog, trennt »uns« nach Jaspers von den alten Ägyptern
und Babyloniern, aber nicht von Chinesen und Indern, die uns »unendlich
näher« sind als jene. (Ebd., 1998, S. 48).Die
Achsenzeit ist indessen nur ein Durchbruch zu geistiger Universalität und
insofern zwar »wie eine Einweihung des Menschseins«, aber sie bleibt
an begrenzte Regionen gebunden, und erst heute beginnt die »eigentliche
Weltgeschichte«, die planetarisch ist und in eine zweite, wenngleich vielleicht
»noch ferne« Achsenzeit der eigentlichen Menschwerdung führt.
Jaspers spitzt also jenes Condorcet-Marxsche Konzept von der bisherigen Geschichte
als bloßer Vorgeschichte noch zu, und seine Formulierung lautet: »Was
wir Geschichte nennen, und was im bisherigen Sinne nun zu Ende ist, das war der
Zwischenaugenblick von 500 Jahren zwischen der durch vorgeschichtliche Jahrhunderttausende
sich erstreckenden Besiedlung des Erdballs und dem heutigen Beginn der eigentlichen
Weltgeschichte.« (Karl Jaspesr, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
, 1949, S. 59, 61, 34ff.). Den entscheidenden Schritt vollzogen
jedoch nicht etwa die Achsenvölker gemeinsam, sondern es waren die germanisch-romanischen
Völker, die das schlechthin Neue und Zukünftige hervorbrachten, nämlich
Wissenschaft und Technik, zu deren Voraussetzungen die Idee der politischen Freiheit,
die Rationalität und der Wille zur Weltgestaltung zu zählen sind. Zwar
ist ein »Unheil des Abendlandes« nicht zu übersehen, nämlich
der Ausschließlichkeitsanspruch, aber das Konkurrenzverhältnis zwischen
Staat und Kirche bedeutete doch eine Mäßigung und damit die Erzeugung
einer »unaufhaltsam weiterfragenden Bewegung«, ohne die es Wissenschaft
und Technik nicht hätte geben können. (Vgl. ebd., 1949, S. 31, 70).
(Ebd., 1998, S. 49).Es könnte mithin so aussehen, als wäre
Jaspers ein bedingungsloser Lobredner der technischen Rationalität, und damit
hätte er sich von seinen eigenen Anfängen, nämlich der ausgeprägten
Zivilisationskritik in dem Büchlein Die geistige Situation der Zeit von
193:1 sehr weit entfernt. Aber in Wahrheit hat er diese Zivilisationskritik keineswegs
vollständig hinter sich gelassen, und nur sehr mühsam weist er die Denkmöglichkeit
zurück, »daß die Erde samt den Menschen nur Material einer einzigen
Riesenfabrik würde, das Ganze ein Ameisenhaufen, der alles in sich hineinverwandelt
hat und ... der Leerlauf eines gehaltlosen Geschehens bleibt«. Sein Urteil
über »die Masse«, die »bodenlos und leer« ist, und
über »die Simplifikationen der alles erklärenden Universaltheorien«
bleibt so hart, wie es 1931 gewesen war, und gegen einen »bodenlosen Vernunftglauben
führt er die »Kontinuität echter Freiheit in England, Amerika,
Holland und der Schweiz« ins Feld, so daß die französische Revolution
nicht minder als der deutsche Bismarckstaat auf die Gegenseite gerät. (Vgl.
ebd., 1949, S. 123, 125, 131, 134). (Ebd., 1998, S. 49).Lange
vor dem Club of Rome und der Partei der Grünen bringt Jaspers Gesichtspunkte
der Ökologie ins Gespräch, und über die beiden »Supermächte«
ist sein Urteil kaum minder absprechend als dasjenige Heideggers. Anders als Spengler
und Toynbee verwendet er den Begriff des »Totalitarismus«, der als
Weltimperium und als erzwungene Glaubenseinheit für ihn eine beängstigende
Möglichkeit der Zukunft bleibt, und seine letzte Perspektive ist die »grenzenlose
Kommunikation« innerhalb der »unorganisierten und unorganisierbaren
Gemeinschaft eigentlicher Menschen«, einer Art von »unsichtbarer Kirche«,
die sich schwerlich im vollen Einklang mit der »eigentlichen Geschichte«
befindet, wenn sie aus dem Grund der Einheit heraus, den Jaspers sonst das Umgreifende
oder die Transzendenz nennt, »in der Geschichte übergeschichtlich«
lebt. (Vgl. ebd., 1949, S. 220, 262). (Ebd., 1998, S. 49-50).Bei
dem Versuch, auf die Frage nach der »historischen Existenz « eine
Antwort zu geben, wird des öfteren auf diese drei Bücher Bezug zu nehmen
sein. Das bedeutet nicht, daß sie die einzigen Orientierungspunkte wären.
Alfred Weber ist bereits genannt worden; Eric Voegelin, Alexander Rüstow,
Hans Freyer, Raymond Aron und nicht wenige andere Denker wären hinzuzufügen,
die man allesamt dem Begriff »Geschichtsdenken« subsumieren könnte.
Als Geschichtsdenker sind sie keine Geschichtsphilosophen, die wie Hegel ein Gesamtbild
der menschlichen Geschichte von ihren Anfängen bis zu ihrer Vollendung zeichnen,
und zwar im Kontext einer Kosmologie oder auch Theologie. Ihnen allen fehlen die
Sicherheit und der feste Zugriff, aber auch der fundamentale Optimismus, der für
Hegel kennzeichnend war; sie sehen sich in erster Linie einer beängstigenden
und undurchsichtigen Gegenwart konfrontiert, und sie haben in der Regel keine
»Lösung« des »Rätsels der Geschichte« anzubieten
wie Marx. (Vgl. Ernst Nolte, Geschichtsdenken
im 20. Jahrhundert, 1991, S. 33-58). Sie alle machen implizit und manchmal
auch explizit die »historische Existenz« zu ihrem Thema, aber dabei
handelt es sich doch nur um einen Ausschnitt aus einem größeren Ganzen;
die Frage nach der »historischen Existenz« entspricht also nur einem
Segment des Geschichtsdenkens. Eine Abgrenzung gegenüber der philosophischen
Anthropologie ist bereits durch die Bezugnahme auf Kant und Gehlen vorgenommen
worden. (Ebd., 1998, S. 50).Das
vorliegende Buch mag am ehesten der schon genannten »historischen Anthropologie«
der Gegenwart zugerechnet werden, und als parallele Literatur wären etwa
Reinhart Kosellecks Aufsatzsammlung Vergangene Zukunft (1982) oder Thomas
Nipperdeys Studie Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft
(1976) zu nennen. In einem weiteren Sinne könnte als einschlägig ein
Aufsatz und ein daran anschließendes Buch angeführt werden, die großes
Aufsehen erregten und mehr oder weniger essayistisch sind: Francis Fukuyamas Das
Ende der Geschichte? (**).
Eher zur »Geschichtstheorie« gehören zahlreiche Publikationen,
die zu einem guten Teil von Autoren wie Alfred Heuß, Jörn Rüsen
und Karl-Georg Faber stammen. Die Historische Existenz weist allerdings
einen weit größeren Umfang auf als die in der Regel aus Aufsätzen
bestehende Literatur zur »historischen Anthropologie«, und über
weite Strecken scheint das Buch der Geschichtsschreibung näher zu sein als
der »Geschichtstheorie«. (Ebd., 1998, S. 50-51).Eine
weitere Abgrenzung ist gegenüber den Universalgeschichten erforderlich. Sie
haben heute durchweg die Form von Sammelwerken, denn von einigen Ausnahmen besonderer
Art abgesehen, unterfangen sich heute keine einzelnen mehr, auf wissenschaftliche
Weise ein so ungeheures Werk zu unternehmen, das selbst Ranke in seiner Spätzeit
wohl beginnen, aber nicht vollenden konnte. Wer wäre heute imstande, die
Geschichte Sumers ebensogut zu kennen wie die Geschichte der Omajjaden und die
der Taiping-Bewegung, d.h. aus dem Vertrautsein mit allen wichtigen Quellenwerken
und der gesamten Sekundärliteratur heraus? Wenn aber bloß die
Kenntnis der allerwichtigsten Quellen, oftmals nur in Gestalt von Übersetzungen,
und einer eng begrenzten Anzahl von Werken der Sekundärliteratur gegeben
ist, dann kann keine erzählende Universalgeschichte, sondern allenfalls eine
analysierende und vergleichende historische Anthropologie resultieren. Ein Dutzend
oder besser einige Dutzend Fachgelehrte sind aber durchaus in der Lage, die vorgeschichtliche
Hallstattkultur, die Herrscherdynastien Babylons und Ägyptens, die Geschichte
des römischen Weltreichs, den Untergang von Byzanz, die Voraussetzungen und
Ereignisse der französischen Revolution und die Frühgeschichte der Bundesrepublik
Deutschland zusammen mit vielen anderen Einzelgeschichten erzählend darzustellen
und unter Umständen auch einen nahezu erschöpfenden Überblick über
die Sekundärliteratur zu geben. In der Regel werden daraus vielbändige
Werke in Großformat entstehen. (Beispiele: Propyläen-Weltgeschichte,
Saeculum-Weltgeschichte, Historia Mundi, Fischer-Weltgeschichte, Historische Zeitschrift,
Past and Present, Annales u.v.a.). (Ebd., 1998, S. 51).Um
so bedrängender wird die wichtigste aller methodologischen Vorfragen: Muß
ein Versuch, wie er in dem vorliegenden Buch unternommen wird, nicht von einem
geradezu erschreckenden Dilettantismus geprägt sein, da Fachkenntnisse nicht
nur im Bereich der Vorgeschichte, sondern sogar in den meisten Feldern der »eigentlichen«
Geschichte fehlen - von Kosmologie und Evolutionstheorie zu schweigen - und lediglich
als eine Art »captatio benevolentiae« die Versicherung abgegeben werden
kann, daß überall in möglichst großem Umfang Werke von Fachleuten
herangezogen werden. Aber darauf ist eine einfache und entschiedene Antwort zu
geben: Die Frage nach der »historischen Existenz« kann nicht als fachwissenschaftliche
gestellt werden; äußerstenfalls läßt sich die historische
Anthropologie dadurch als ein Fachgebiet behandeln, daß sämtliche bisher
vorfindbaren Aussagen dazu, mögen sie von Historikern oder von Philosophen
stammen, nebeneinandergestellt und erörtert werden. Eine solche Fachwissenschaft
würde sich jedoch nicht auf genuine Quellen, sondern auf lauter nicht-fachwissenschaftliche
oder dilettantische Aussagen gründen und insofern ein Dilettantismus im Quadrat
sein. (Ebd., 1998, S. 51-52).Große Fragen wie die nach
der »historischen Existenz« können auch von recht jungen Menschen
schon aufgeworfen und beantwortet werden, und eben deshalb darf man, wie im Falle
von Oswald Spengler, von »genuinen Impulsen« sprechen, die in der
geduldigen und beharrlichen Arbeit der Fachwissenschaften normalerweise keine
Stätte haben. Wo ein solcher Ausnahmefall nicht gegeben ist, wird lediglich
die lange Bewährung in einer Fachwissenschaft zu verlangen sein, und dann
versteht es sich von selbst, daß bloße Wiedergaben durch die Perspektive,
in die sie gestellt werden, eine eigentümliche Färbung erhalten werden,
aus der häufig eine ungewohnte Gewichtsverteilung resultieren mag. Und es
zeigt sich dann rasch, daß der häufig so abschätzig gebrauchte
Begriff des »Dilettantismus« eine positive Bedeutung haben kann. Ein
Fachwissenschaftler wird möglicherweise seinem Gegenstand mit vollendeter
Gleichgültigkeit gegenüberstehen, weil die Spezialisierung so weit geht,
daß höchstens noch ein ganz pragmatisches »Interesse« vorhanden
sein kann. Wer nach »historischer Existenz« in ihrer Differenz zu
natürlichem, vorgeschichtlichem und möglicherweise nachgeschichtlichem
Dasein fragt, der fragt nach sich selbst - nach sich selbst nicht als einem Individuum,
aber auch nicht als bloßem »Gattungswesen«. (Ebd., 1998,
S. 52).Das ausdrückliche Bemühen um ein Selbstverständnis,
das sich gegen andere Arten von Selbstverständnis, Weltinterpretation und
Geschichtsbewußtsein zu behaupten sucht, ist offenbar ein Grundzug der historischen
Existenz überhaupt. Diesem Grundzug wird in erster Linie die Aufmerksamkeit
gelten müssen, und damit ist zugleich eine Vorentscheidung darüber getroffen,
wie die unumgängliche Selektion aus der Überfülle geschichtlicher
Ereignisse und Tatbestände vorgenommen werden muß. (Ebd., 1998,
S. 52).Vor allem muß zunächst die Religion das Thema
sein, weil sie die früheste und für lange Zeit grundlegende Gestalt
des »Weltbezuges« des Menschen ist: Ob er ein von Angst vor »Mächten«
oder »Göttern« oder Dämonen erfülltes Leben führt,
ob er in allem, was geschieht, das Walten der Vorsehung Gottes erkennt, ob er
sich in die Harmonie eines wohlgeordneten Kosmos eingefügt sieht oder ob
er die Welt im ganzen als ein entsetzliches Ungeheuer empfindet - das prägt
ihn offenbar bis in die einfachsten Vollzüge des Lebens hinein, und das ist
die Voraussetzung dafür, daß Philosophen über die Welt und das
menschliche Leben nachdenken können, daß noch in späten Zeiten
»Weltanschauungen« das Leben bestimmen und ideologische Kriege hervorzurufen
vermögen und daß schließlich die Naturwissenschaften objektive
Aussagen über den Anfang des Universums und über die entferntesten Sternsysteme
zu machen beanspruchen. (Ebd., 1998, S. 52-53).Das heißt
indessen nicht, daß nur von Religion, Philosophie, Ideologie und den Grundzügen
der wissenschaftlichen Welterklärung die Rede sein soll. Mit höchster
Wahrscheinlichkeit darf der Krieg - als aktueller und als potentieller Zustand
- ein wesentlicher Bestandteil historischer Existenz genannt werden, und eine
Hauptfrage muß dann darin bestehen, ob es den Krieg in der Vorgeschichte
und bei Tieren noch nicht gegeben hat und inwiefern es ihn in einer Nachgeschichte
vielleicht nicht mehr geben wird. Weit verbreitet ist heute die schon von Alfred
Weber und Alexander Rüstow vertretene Auffassung, daß Herrschaft und
Staat durch kriegerische Reitervölker in Erscheinung getreten sind und mit
dem Herrenbewußtsein von regierenden Aristokratien verschwinden müssen.
Auch Probleme wie diese gehören in die Frage nach der »historischen
Existenz« hinein, und schon dadurch wird deutlich, daß Analyse und
Interpretation zwar im Vordergrund stehen müssen, daß aber das Moment
der Erzählung nicht vollständig fehlen darf. (Ebd., 1998, S. 53).Wie
die Selektion sich im einzelnen vollzieht und in welches Verhältnis die einzelnen
Momente zueinander gebracht werden, hängt sicherlich weitgehend vom relativen
Zufall der Kenntnis oder Unkenntnis ab. Aber kein Philosoph hat es je als notwendig
betrachtet, alle Körper zu untersuchen, wenn er die Körperlichkeit als
»res extensa« definierte. Von dem vorliegenden Buch ist nur zu fordern,
daß gleichsam von jedem Einzelthema Strahlen ausgehen, die im Begriff der
»historischen Existenz« zusammentreffen. Das eigentliche Zentrum wird
sowohl im ersten wie im zweiten Teil das »Schema
der historischen Existenz« (**|**)
sein, wo im Anschluß an die eher erzählenden, aber ihrerseits auf dieses
»Schema« bezogenen Kapitel Grundbestimmungen der historischen Existenz
wie Religion, Herrschaft, Staat, Aristokratie, das Aufbegehren und die »Linke«,
Krieg und Frieden, Geschichtsschreibung, Ökonomie und Sexualität als
Ordnungen des Alltags herausgearbeitet werden. »Schema« bedeutet so
viel wie » Umriß « oder » Skizze «; es ist also
keine Abbildung, aber auch nicht ein bloßer »Idealtyp«.
(Ebd., 1998, S. 53).Der Anfang wird jedoch nicht mit der »Vorgeschichte«
gemacht, vielmehr soll die These Carl Friedrich von Weizsäckers von der Geschichtlichkeit
der Natur ernst genommen und einbezogen werden. Der Hauptgrund ist der, daß
in den letzten Jahrzehnten der Begriff der »Geschichtlichkeit« geradezu
ein Modewort in einigen Naturwissenschaften geworden ist, so daß Raum, Zeit
und Materie als »geschichtliche Phänomene« bezeichnet und »narrative
Elemente« in die Physik eingeführt wurden. So sagt Ilya Prigogine ausdrücklich,
die Natur werde insgesamt wegen aufeinanderfolgender Verzweigungen zu einem historischen
Objekt. (Vgl. I. Prigogine, Vom Sein zum Werden, S. 22). (Ebd., 1998,
S. 53-54).Dieser Auffassung wird, wie zu zeigen ist, durch die
Unterscheidung von »Geschehen« und »Geschichte« begegnet.
Aber zunächst muß im engen Anschluß an einige naturwissenschaftliche
Theorien im Umriß ein Bild jenes ungeheuren Geschehens umrissen werden,
von dem die menschliche Geschichte sich wahrscheinlich schon in der »Vorgeschichte«
unterscheidet und von dem sie doch sogar in einer »Nachgeschichte«
abhängig bleiben wird. (Ebd., 1998, S. 54).
A) Naturgeschehen - Vorgeschichte - die frühen Hochkulturen
5) Geschichte des Kosmos oder kosmische Vorbedingungen der Geschichte?
An
einer der meistzitierten Stellen seines Werkes schreibt Kant, zwei Dinge erfüllten
das Gemüt mit Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und einhellender sich
das Nachdenken damit beschäftige - »der bestirnte Himmel über
mir und das moralische Gesetz in mir«. (Immanuel Kant, Kritik der praktischen
Vernunft, 1788, a.a.O., Band IV, S. 288). (Ebd., 1998, S. 55).Der
Mensch ist also auf das engste mit den Sternen und daher mit dem Weltall verbunden,
weil er darin ein Ewiges anschaut, dem in seinem Innersten ein Vermögen entspricht,
das ebenso die Zeit und die Widersprüchlichkeit des täglichen Lebens
übergreift, wie die ewigen Naturgesetze die Bewegungen der Gestirne beherrschen,
welche in mathematisch berechenbarer Weise ihre nie veränderten Bahnen ziehen.
Darin findet der Mensch Stärkung und Trost, denn er weiß, daß
er als körperliches Wesen hinfällig ist und sterben muß, aber
in ihm lebt ein Ewiges, das ihm Anweisungen gibt und, christlich gefaßt,
seiner Seele Unsterblichkeit verheißt. (Ebd., 1998, S. 55).Aber
auch wo der christliche Glaube nicht mehr lebendig ist, empfängt der Mensch
durch die Majestät des gestirnten Himmels Orientierung, und daraus gewinnt
er die Gewißheit, nicht hilflos der Wechselhaftigkeit des gesellschaftlichen
Lebens ausgesetzt zu sein, sondern über »Naturrechte«, »Menschenrechte«
zu verfügen, die ebenso unveränderlich und festgegründet sind wie
die Gestirne. So bleibt das Vertrauen auf den ewigen und gerechten Gott im Newtonschen
und aufklärerischen Weltbild bewahrt, auch wenn der Schöpfer in weite
Ferne gerückt ist, seit er als Weltbaumeister tätig war, oder wenn die
aristotelische Vorstellung von der Ewigkeit der Welt das Denken bestimmt. Noch
wenn die Gegensätzlichkeit von Natur und Mensch hervorgehoben wird, bleibt
die Unveränderlichkeit der Natur ein tröstendes Gegenbild zur Beweglichkeit
des Menschen: »Nature revolves and man advances«, wie Edward Young
schreibt. (Ebd., 1998, S. 55).Im 20. Jahrhundert haben Astronomie
und Physik eine tiefgreifende Veränderung des Weltbilds hervorgebracht, die
man Dynamisierung oder auch Historisierung nennen könnte. Ein Anfang der
Welt rückt ins Zentrum der Betrachtung. Vor 17 oder 20 oder vielleicht auch
10 Milliarden Jahren erfolgte eine Urexplosion, ein »Urknall«, dem
»Nichts« vorherging und der einen Feuerball von unvorstellbar hoher
Temperatur und Dichte erzeugte - eine Billion »Kelvin«, d.h. Grade
über dem absoluten Nullpunkt. Dieser Feuerball war noch nicht »materiell«,
er bestand vielmehr aus Strahlung, in der die Urbestandteile der späteren
Materie, die erst jüngst entdeckten und heute aus ihren Verbindungen nicht
mehr lösbaren »Quarks«, eine freie Existenz innerhalb eines vergleichsweise
ganz kleinen Raumes hatten, welcher offenbar nicht dreidimensional und »absolut«,
sondern in sich zurücklaufend war, eine überwältigende Präfiguration
dessen, was Einstein später die gekrümmte Raumzeit nennen sollte.
(Ebd., 1998, S. 55-56).Erst nach Hunderttausenden von Jahren und
starker Abkühlung begann das »atomare Zeitalter«, d.h. die Bildung
der Atome, wie wir sie heute kennen, mit Protonen und Neutronen als Kern und Elektronen,
die den Kern schalenförmig umkreisen, und zwar in vergleichsweise riesigem
Abstand und meist in sehr kleinen Zahlen. Man könnte daher geneigt sein,
einen berühmten Satz Demokrits abzuwandeln und zu sagen, es gebe nicht »die
Atome und das Leere«, sondern vor allem die Leere in den Atomen: Ein Autor
zieht die St. Pauls-Kathedrale zum Vergleich heran und läßt auf der
Mitte ihres Fußbodens einen Stecknadelknopf als Atomkern existieren, der
in der Höhe der Kuppel von seinen Elektronen umkreist wird, welche an Gewicht
kaum mehr als ein Zweitausendstel dieses Stecknadelknopfes aufzuweisen haben.
(Vgl. John Gribbin, Auf der Suche nach Schrödingers Katze, 1987, S.
46). (Ebd., 1998, S. 56).Solche Atome schließen sich
nun an vielen Stellen zu Gaswolken zusammen, weil sie nicht gleichmäßig
auseinanderstreben, sondern weil Unregelmäßigkeiten gegeben sind, und
wer mit der antiken Atomistik vertraut ist, fühlt sich bei der Lektüre
der neuesten Kosmologien an einen Zentralbegriff Epikurs erinnert, den der »declinatio«,
jener Abweichung vom senkrechten Fall, welcher die Körper ihr Dasein verdanken.
Da die Abkühlung ebenso weitergeht wie das Auseinanderstreben, bilden sich
Konzentrationen von Gasen, die zu rotieren beginnen, und so dämmert im Verlauf
von Milliarden von Jahren das Zeitalter der Gestirne herauf, in denen das einfachste
der Elemente, der Wasserstoff, der nur ein Proton und ein Neutron aufweist, durch
Kernfusionen in eine Art Fortschrittsprozeß verwickelt wird, aus dem zunächst
das Heliumatom mit seinen zwei Protonen, zwei Neutronen und zwei Elektronen hervorgeht.
(Ebd., 1998, S. 56).Wasserstoff und Helium bilden noch heute 99%
der Materie des Weltalls, aber allmählich gelangen in den unterschiedlich
großen und unterschiedlich heißen Fixsternen auch andere Atome des
»Periodischen Systems der Elemente« zur Existenz, so daß nun
eine Anzahl von Atomarten von unterschiedlicher Kernladungszahl und unterschiedlichem
Atomgewicht entsteht, d.h. mit verschiedenen Anzahlen von Protonen bzw. von Protonen
und Neutronen. (Ebd., 1998, S. 56-57).Heute erkennt die Astronomie,
daß alle Gasnebel und alle Galaxien mit ihren Milliarden von Fixsternen
oder Sonnen immer weiter auseinanderstreben und sie sich in ganz unterschiedlichen
Zuständen befinden: Da gibt es »rote Riesen« und »weiße
Sterne«, von denen die einen jung und die anderen alt sind; da schließt
man auf Neutronensterne, die vielleicht nur einen Durchmesser von 10 Kilometern
haben und in denen die Materie so dicht zusammengepreßt ist, daß ein
Kubikzentimeter viele Hunderttausende von Tonnen wiegt, da lassen sich Aussagen
über »Schwarze Löcher« machen, die zwar eine gewaltige Anziehungskraft,
aber keine Masse haben, da leuchten »Novae« und »Supernovae«
auf und verlöschen wieder. (Ebd., 1998, S. 57).Im
ganzen ist diese Sternenwelt in rasend schneller Bewegung, die sich sogar der
Lichtgeschwindigkeit nähert, also der nach dem heutigen Erkenntnisstand in
der Tat »absoluten«, nicht überschreitbaren Geschwindigkeit der
»Photonen«, von denen man nicht weiß, ob sie besser als Korpuskeln
oder als Wellen aufgefaßt werden. Aber alle diese Bewegungen sind nicht
ungerichtet oder unendlich. Zwar bleibt die Gesamtsumme
der Energie im Weltall nach dem 1.
Hauptsatz Thermodynamik immer gleich, aber es gibt verschiedene Arten der
Energie, von denen die Wärmeenergie am meisten auf einer ungeordneten Bewegung
der Atome beruht. Nach dem 2.
Hauptsatz der Thermodynamik wächst die »Entropie«
(**|**)
unablässig, d.h. der Anteil jener ungeordneten Wärmebewegung, die nicht
in »Arbeit« oder kinetische Energie zurückverwandelt werden kann.
Ohne Energie- und also auch Wärmedifferenzen gibt es aber keine Bewegung,
und so strebt das Universum nach einer allerdings nicht ganz unbestrittenen Meinung
der Naturwissenschaftler auf einen »Wärmetod« hin, der manchmal
auch »Kältetod« genannt wird, auf einen Zustand, wo alle Energiedifferenzen
ausgeglichen sind und die Wärme - menschlich gesprochen die Kälte, nah
am absoluten Nullpunkt - sich überall ausgeglichen hat, so daß alle
Formen, die sich so langsam aus der Formlosigkeit des strahlenden Anfangs herausgebildet
hatten, erstarren und in die Zeitlosigkeit versinken. (Ebd., 1998, S. 57).Andere
Astronomen lassen einen »Gravitationskollaps« eintreten, so daß
das ganze Weltall zu einem einzigen »Schwarzen Loch « wird, aber auch
hier ist die Grundvorstellung die gleiche: Nicht nur die Materie, auch die Zeit
hat einen Anfang und ein Ende - nicht anders als ein Lebewesen wird das Universum
geboren und es stirbt; es ist, wie häufig gesagt wird, ein geschichtliches
Phänomen. Newtons ewige Kreis- und Ellipsenbewegungen haben als Letztaussage
hier ebenso ihre Gültigkeit verloren wie Kants und Schillers und noch Max
Schelers Vertrauen in das »Ewige im Menschen«. Niemand hat das auf
bewegendere Weise ausgedrückt als der junge Nietzsche, der in seiner Unzeitgemäßen
Betrachtung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«
von dem »Begriffsbeben der Wissenschaft« spricht, das »dem Menschen
das Fundament aller seiner Sicherheit und Ruhe, den Glauben an das Beharrliche
und Ewige, nimmt«. (Friedrich Nietzsche, 1874, a.a.O., S. 330). (Ebd.,
1998, S. 57-58).Dieser geschichtliche Kosmos ist in gewisser Weise
handhabbar geworden; man kann sein Alter in eine ganz einfache Zahl fassen, etwa
17 mal 109 Jahre, und die Astronomen vermessen sogar »Quasare«
und »Pulsare«, die Milliarden von Lichtjahren von uns entfernt sind,
beinahe so professionell, wie die Geographen die irdischen Kontinente nach Längenund
Breitengraden bestimmen. Diesen Kosmos könnte man in einem abendfüllenden
Film zur Anschauung bringen: Da blitzt es im Dunkel auf, da erweitert sich ein
Feuerball ganz wie ein Luftballon, da kreisen kleinste und gigantische Körper
mit großer Geschwindigkeit umeinander und um die eigene Achse, da durchfliegen
vielleicht Weltraumfahrzeuge vernünftiger, d.h. rechnender, Lebewesen fast
mit Lichtgeschwindigkeit die Weiten des Kosmos, und ihre Insassen altern nur wenig
oder gar nicht, weil Zeiterfahrung an die Nähe zu Materie gebunden ist und
im nahezu leeren Weltraum so gut wie keine Materie begegnet. Aber wenn sie nicht
in die Nähe eines Schwarzen Lochs geraten und mit unüberwindbarer Kraft
hineingesaugt und vernichtet werden, ohne eine Spur zu hinterlassen, wenn sie
am Ende vielleicht sogar zu ihrem Planeten zurückkehren und dort ihre fernen
Nachkommen antreffen, während sie selbst noch ohne Runzeln sind, so währt
es im Film nicht allzulange, bis nur noch Dunkelheit wahrzunehmen ist - Zeit,
Welt, Bewegung gibt es nicht mehr, das Universum hat seinen Zeitraum ausgeschritten,
ganz wie ein Tier und ein Mensch im Tode ihre Zeit erfüllt haben. (Ebd.,
1998, S. 58).So stimmen Mensch und Universum darin überein,
daß sie beide geschichtliche Wesen sind, wenngleich in unterschiedlichen
Größenordnungen; ein Hinaufblicken zum Ewigen, ein Trostsuchen im Unvergänglichen
ist nicht mehr möglich. Nur das Staunen würde als große Emotion
noch übrigbleiben, sobald man sich klargemacht hat, daß 17 mal 109
eine rasch hinzuschreibende Zahl ist, daß jedoch schon ein Zeitraum von
100 Millionen Jahren eine unvorstellbare Größe darstellt. Aber das
Staunen mündet am ehesten in ein Empfinden, das der französische Molekularbiologe
Jacques Monod in die Worte gekleidet hat, der Mensch müsse nun »aus
seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine
radikale Fremdheit erkennen«, denn er habe seinen Platz »wie ein Zigeuner
am Rande des Universums, das für seine Musik taub ist und gleichgültig
gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen«. Es hilft dem Menschen also
in keiner Weise, wenn er glaubt, das Universum als ein geschichtliches Wesen zu
sich selbst in Parallele setzen zu können: Mit dem Ewigen der Gestirne wird
auch das Ewige im Menschen hinfällig. (Ebd., 1998, S. 58-59).Es
ist hier nicht danach zu fragen, wie diese moderne und vielleicht auch modische
Auffassung von der Geschichtlichkeit des Weltalls, von seinem Entstehen und Vergehen,
begründet wird - da wäre an dasjenige zu erinnern, was im Physikunterricht
der Schulen über die Spektralanalyse und die »Rotlichtverschiebung«
oder die »kosmische Hintergrundstrahlung« gesagt wird. Zweifellos
handelt es sich nur um eine Hypothese oder sogar um mehrere Hypothesen, die allesamt
nicht völlig unbestritten geblieben sind. Es ist auch nicht darauf einzugehen,
wie manche Naturwissenschaftler dasjenige zu bewältigen versuchen, was an
diesen Lehren noch rätselhafter ist als in uralten Kosmogonien: z.B. die
Entstehung der Zeit, wo doch »Entstehung« die Zeit schon voraussetzt,
oder die Natur eines dem Sein vorgeordneten Nichts, das doch jetzt nicht mehr
als ein göttliches, sich selbst erschaffendes »ens a se« verstanden
werden kann. (Ebd., 1998, S. 59).Die Frage von Leibniz »Warum
ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts?« ist heute so
unbeantwortet wie um 1700, und manche naturwissenschaftliche Denker sehen in diesem
»geschichtlichen Kosmos« nur eine Welt unter zahllosen anderen, so
daß der durch den Gravitationskollaps entstandene Endzustand wieder zum
Ausgangspunkt für einen neuen »Urknall« werden könnte. Aber
hatte nicht schon Heraklit den Kosmos als eine Folge vieler Kosmen sehen wollen,
als »ewiglebendiges Feuer, das sich nach Maßen entzündet und
nach Maßen verlischt«? Und kommen wir nicht schließlich in der
modernen Kosmologie zu dem archaischen Mythos der Inder zurück, in dem die
Welt von einem weißen Elefanten getragen war, der seinerseits auf einer
Schildkröte stand, d.h. versuchen wir bei solchen »letzten Fragen«
nicht, durch Erzählungen dem »regressus in infinitum« zu entgehen?
(Ebd., 1998, S. 59).Es ist nicht wirklich ein Halt, wenn darauf
hingewiesen wird, daß es in diesem Kosmos sehr wohl »Absolutes«
und Feststehendes gebe: von der Lichtgeschwindigkeit bis zur Struktur der Elemente,
die jeweils immer die gleiche Zusammensetzung aus Protonen, Neutronen und Elektronen
haben, wo sie sich auch befinden mögen. Kein Elektron unterscheidet sich
als solches von einem anderen, und wo immer es das Element Natrium im Weltall
gibt, weist es die gleiche Zusammensetzung auf. Nur radioaktive Atome zerfallen,
etwa das Uranatom; auch heute kann man sagen, die seit längerem bekannten
Bausteine der Welt seien im wesentlichen stabil und unveränderlich.
(Ebd., 1998, S. 59-60).Aber die moderne Physik hat so etwas wie
Instabilität und Unsicherheit in das Innerste der Materie eingeführt:
Impuls und Ort eines Elektrons lassen sich nach der berühmten Unschärferelation
Werner Heisenbergs nicht gleichzeitig mit Genauigkeit messen; es hängt vom
Beobachter ab, was faßbar wird, und manche Physiker sind zu dem Schluß
gelangt, im Bereich der Planckschen Energiequanten und der Elektronenbewegungen
gebe es nicht nur Unbestimmtheit und Unvorhersagbarkeit, sondern geradezu »Freiheit«.
(Ebd., 1998, S. 60).Für den »Sprung« eines Elektrons
von einer Umlaufbahn in die andere läßt sich keine »Ursache«
mehr angeben, und das bedeutet nach der Auffassung einiger Physiker nichts anderes
als »das Ende für den Laplaceschen Traum von einem absolut deterministischen
Modell des Universums«. (Stephen W. Hawking, Eine kurze Geschichte der
Zeit, 1988, S. 77). Das heißt zugleich, daß man eine individuelle
Lebensgeschichte jedes Elektrons und jedes Atoms schreiben könnte, wenn man
sich nicht mit den statistischen Gesetzen begnügen müßte, die
aus dem Durchschnitt zahlloser Einzelbewegungen resultieren. Es bedeutet keine
Rückkehr zu dem früheren geistesgeschichtlichen Zustand, daß diese
Gesetze außerhalb des subatomaren Bereichs ebenso unverbrüchlich Geltung
haben wie zur Zeit von Newton und Laplace. (Ebd., 1998, S. 60).Schon
Einsteins Relativitätstheorie hatte dem Beobachter eine entscheidende Rolle
zugewiesen. Bei manchen Physikern führt dieses Beobachterprinzip zu Folgerungen,
die ganz extrem sind und dem reinsten »subjektiven Idealismus« zu
entsprechen scheinen. So erwägt John Gribbin als eine immerhin mögliche
These, daß nichts real sei, ehe wir es nicht betrachten, und daß die
Realität verschwinde, sobald wir nicht mehr hinschauten. Für ihn könnte
es sogar sein, »daß wir durch die Beobachtung der Photonen der kosmischen
Hintergrundstrahlung, die ein Echo des Urknalls sind, den Urknall und das Universum
erschaffen«. (John Gribbin, Auf der Suche nach Schrödingers Katze,
1987, S. 190. 229). (Ebd., 1998, S. 60).Aber auch wo von
einem solchen Idealismus nicht die Rede ist, führen moderne Physiker eine
Fülle von Begriffen und Vorstellungen ein, etwa die der Quarks und der Antiquarks,
die sich gegenseitig vernichten - Vorstellungen, die Newton in sprachloses Erstaunen
versetzt haben würden und die dem Laien wie eine Mysterienerzählung
erscheinen müssen, vor der die gnostischen Lehren von Weltentstehung und
Weltlauf sich als Musterbilder der Verstehbarkeit ausnehmen. Wie anders soll man
Erwägungen charakterisieren, welche mit der Vorstellung eines Rücklaufs
der Zeit operieren, so daß ein Wesen sterben könnte, bevor es geboren
wird?Und wie soll der normale Zeitgenosse, der auf der »festgegründeten
Erde« zu stehen meint, die Vorstellung von den »Neutrinos« nachvollziehen,
die den ganzen Erdball zu durchfliegen vermögen? (Ebd., 1998,
S. 60-61).Aber auch hier tritt oft auf sehr eigentümliche
Weise der Mensch wieder in den Mittelpunkt, wenngleich ganz anders als einst im
geozentrischen Weltbild oder heute bei Teilhard de Chardin, bei dem das sich »auswickelnde«
Universum auf den Menschen und über ihn hinaus auf den »Punkt Omega«
zielt. Nach Stephen Hawking entstanden beim Urknall, den er auf die Zeit vor 10
Milliarden Jahren ansetzt, Quarks und Antiquarks in nicht ganz gleicher Anzahl,
und nur infolgedessen können wir uns glücklich schätzen, denn wenn
die Zahlen nicht ungleich wären, »hätten sich im frühen Universum
alle Quarks und Antiquarks gegenseitig vernichtet und ein Universum voller Strahlung,
aber fast ohne Materie zurückgelassen. Dann hätte es keine Galaxien,
Sterne oder Planeten gegeben.« Und an anderer Stelle schreibt er: »Wäre
die Expansionsgeschwindigkeit eine Sekunde nach dem Urknall nur um ein Hunderttausendmillionstel
Millionstel kleiner gewesen, so wäre das Universum wieder in sich zusammengefallen,
bevor es seine gegenwärtige Größe erreicht hätte.«
(Stephen W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 1988, S. 103, 155).
(Ebd., 1998, S. 61).Hawking spricht deshalb von einem »anthropischen
Prinzip«: Die zufälligen Ausgangsbedingungen des Universums müssen
so genau aufeinander abgestimmt gewesen sein, daß schließlich der
Mensch entstehen konnte; unsere eigene schwache und hinfällige Existenz wird
so zum einzig Festen in einem Universum, das aus Zufall und Indeterminiertheit
hervorgegangen ist. Damit wird sogar die zwar nicht tröstliche, aber doch
erhellende Analogie zwischen der Geschichtlichkeit des Universums und der Geschichtlichkeit
des Menschen gleichsam überholt und in Klammern gesetzt durch die Vorstellung
von einem Universum, das nicht nur ebensogut, sondern mit einer milliardenfach
höheren Wahrscheinlichkeit nicht hätte sein können, so daß
die alte Ur-Zuversicht des Menschen, Ebenbild Gottes als des Weltschöpfers
oder Weltgrundes zu sein, durch eine Ur-Verwunderung darüber abgelöst
werden muß, daß es so etwas wie die Welt und so etwas wie den Menschen
überhaupt gibt. (Ebd., 1998, S. 61).Aber welche Entscheidung
auch immer zwischen den verschiedenen Denkmöglichkeiten getroffen werden
mag: zwischen dem Idealismus, der die Rolle des Beobachters für entscheidend
hält, oder dem Indeterminismus, der die Bestimmtheit aus der subatomaren
Unbestimmtheit hervorgehen läßt, zwischen dem verfeinerten Atomismus
der 27 Elementarteilchen oder dem Zufälligkeitsprinzip - die Vorstellung
von der Geschichtlichkeit des Universums, welcher die Geschichtlichkeit des Menschen
entspricht, ist zu verwerfen. Das Universum ist voll von Geschehen, und es mag
entstanden sein und einstmals vergehen, aber es ändert sich nicht dadurch,
daß es mit anderem in Wechselwirkung tritt, denn es gibt nichts außer
ihm, und wenn die begriffliche Unmöglichkeit real wäre, daß eine
Anzahl von Universen existierte, so bliebe unser Universum doch immer noch ein
geschlossenes System, das von außen keine Einwirkung erfährt und nach
außen keine Wirkung ausübt. (Ebd., 1998, S. 61-62).Geschichte
kann es nur in der Wechselwirkung von Mehrerem, das heißt innerhalb des
Universums, geben. Angenommen, ein Kind würde taubstumm, blind und ohne nennenswerte
intellektuelle Anlagen geboren, und es würde dennoch von seinen Eltern geliebt
und aufgezogen: Es würde wachsen, und sein Körper wäre voller Geschehen.
Aber es würde nicht einmal diejenige Art von Geschichte haben, die möglicherweise
schon Adlern und Pinguinen zugeschrieben werden kann, sofern sie Partner des anderen
Geschlechts finden, Nester bauen und Nachkommen erzeugen. Vielleicht könnte
sogar die Auffaltung von Gebirgen unter dem Druck entgegengesetzter Kräfte
oder die Ausbreitung von Meeren nach dem Wegdriften von Kontinenten als eine Geschichte
bezeichnet werden, die sich vom Geschehen in der Sonne oder im Andromeda-Nebel
wesentlich unterschiede. Wechselwirkung als Vollzug von Reaktionen dürfte
der elementarste, wenngleich schwerlich schon ausreichende Charakter von »Geschichte«
sein und der Menschengeschichte jedenfalls weit näher stehen als die »Veredlung«
niederer zu höheren, d.h. komplexeren, Elementen in den Kernfusionsprozessen
der Sonne und der anderen Fixsterne. So mag es zulässig sein, von der »Geschichte
der Erde« und der »Geschichte des Lebens« zu sprechen, aber
in beiden Fällen ist ein Fragezeichen zu setzen. (Ebd., 1998, S. 62).
6) Geschichte der Erde - Geschichte des Lebens?Wir
kennen Milliarden von Fixsternen, zumindest nach ihrer Lichtstärke und ihrer
Position im Weltall, aber wir kennen nur ein einziges Planetensystem, »das
unsere«, obwohl eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür sprechen mag, daß
um zahllose Sonnen Satelliten in unterschiedlichen Erstarrungszuständen ihre
Bahnen ziehen. Insofern ist nicht bloß die Erde, sondern das ganze Planetensystem
ein Sonderfall, wenn auch von der Art, daß er nur auf unserer Unwissenheit
beruhen mag. Die vier sonnennächsten, die »terrestrischen« Planeten
- Merkur, Venus, Erde und Mars -, bestehen indessen großenteils aus schweren
erstarrten Elementen wie Eisen, Nickel und Silikaten, und insofern nehmen sie
gegenüber allen Fixsternen und auch unserer Sonne eine bemerkenswerte Sonderstellung
ein, denn überall dort haben die leichten und einfachen Elemente Wasserstoff
und Helium den Vorrang. Die äußeren Planeten - Jupiter, Saturn, Uranus,
Neptun - sind Gasbälle, auf denen Oberfläche und Atmosphäre nicht
unterscheidbar sind. Sie sind weitaus größer als die terrestrischen
Planeten ... und ... viel weiter von der Sonne entfernt. Daß auf ihnen Leben
existieren könnte, ist nach allem menschlichen Ermesen ausgeschlossen, obgleich
der Phantasie von Science-fiction-Autoren natürlich keine Grenzen gesetzt
sind. (Ebd., 1998, S. 62-63).Aber auch auf Venus und Mars
dürfte es kein Leben geben, denn die Venus - wegen der nahezu übereinstimmenden
Größe oft der »Schwesterplanet« der Erde genannt - hat
zwar eine dichte Wolkenschicht aufzuweisen, aber die Atmosphäre besteht zu
96 % aus Kohlendioxid und zu 3,5% aus Stickstoff, und auf der Oberfläche
herrscht eine Temperatur von etwa 460 Grad. Deshalb gibt es dort so gut wie kein
Wasser, Ozeane haben sich nicht bilden können. Auf dem Mars wollten Astronomen
einst »Kanäle« entdeckt haben, und es gibt tatsächlich Vertiefungen,
die auf frühere Wirksamkeit von Wasser oder Eis hindeuten. Heute ist die
Atmosphäre aber jedenfalls so dünn, daß kein Wasser mehr fließen
und keine Sanddüne sich bewegen könnte. (Ebd., 1998, S. 63).Diese
Eigentümlichkeiten sind wohl nicht ausschließlich auf kosmologische
Grundtatsachen wie den unterschiedlichen Abstand von der Sonne zurückzuführen,
der eben nicht wesentlich differiert, sondern auf eine Wechselwirkung mehrerer
Gegebenheiten, die es erlaubt, auch diesen Planeten und dem Erdmond ein je eigentümliches
Geschehen zuzuschreiben, das häufig »Geschichte« genannt worden
ist und heute dort bereits an ein Ende gelangt ist etwa durch ein frühes
Erlahmen der tektonischen Spannungen, das jene Todesstarre nach sich ziehen kann,
welche der Menschheit seit der Mondlandung aus direkter Anschauung bekannt ist.
(Ebd., 1998, S. 63).Jedenfalls weist die Erde heute gegenüber
der Treibhaushitze der Venus und der Kälte des Mars eine gemäßigte
Temperatur auf, und auch darin hat sie eine Sonderstellung gegenüber den
anderen terrestrischen Planeten. Vor allem kommt nur auf ihr Wasser in größeren
Mengen vor, nur sie besitzt Ozeane. Wir sehen sie notwendigerweise unter dem Gesichtspunkt
der Möglichkeit der Entstehung von Leben, und wir kommen im Blick auf das
Planetensystem zu dem Ergebnis, daß nur dieser Himmelskörper die Voraussetzungen
für die Existenz von Leben bot. (Ebd., 1998, S. 63).Aber
auch der Schöpfungsmythos der Bibel läßt Pflanzen, Tiere und Menschen
nicht gleichzeitig mit den Lichtern des Himmels und mit dem Wasser entstehen.
(Ebd., 1998, S. 63).Über die Entstehung der Erde und der anderen
Planeten gibt es heute unterschiedliche Theorien, die sich indessen nicht allzuweit
von der Kantschen »Urnebelhypothese« entfernen und dasjenige »Akkretion«
nennen, was Kant als die Bildung von Klumpen bezeichnet hatte. Jedenfalls wird
das Alter der Erde fast einhellig auf 4,5 Milliarden Jahre geschätzt, und
es wird ein Differentiationsprozeß angenommen, in dem Erdkern, Erdmantel
und Erdkruste zur Unterscheidung gelangten. Die Erdkruste ist eine außerordentlich
dünne Haut, die an der tiefsten Stelle etwa 70 km in das Erdinnere hinunterreicht,
d.h. bis zu dem oberen Mantel, und von der wir nur 5-6 km durch Tiefenbohrungen
direkt kennen. Die Kontinente schwimmen gewissermaßen auf dem Mantel, und
sie haben ihre Positionen darauf wesentlich verändert: So existierte noch
vor etwa 250 Millionen Jahren ein beinahe geschlossener Festlandblock, Pangäa
genannt, aus dem sich die heutigen Kontinente bildeten, indem sie auseinanderdrifteten.
Wenn Nietzsche verlangte, die Menschen sollten, um der ertötenden Routine
zu entgehen, »gefährlich leben« und ihre »Städte an
den Vesuv« bauen, so muß man erwidern, daß die ganze Menschheit
sozusagen auf einem riesigen Vesuv wohnt. (Ebd., 1998, S. 63-64).Und
wenn Nietzsche an einer anderen Stelle den metaphysischen Hochmut des »Gottesgeschöpfes«
zu brechen versucht und die Menschheit mit einem Apfelhäutchen über
glühendem Chaos vergleicht, so hatte er insofern Unrecht, als hinsichtlich
des Lebens keine scharfe Trennung zwischen dem gewaltigen Erdkörper mit seinem
Radius von 6000 Kilometern und der winzigen, auf der dünnen Kruste aus kosmischer
Entfernung kaum wahrnehmbaren »Biomasse« gemacht werden kann, denn
die Atmosphäre, so dünn sie ihrerseits mit ihren 10 oder 18 Kilometern
der »Troposphäre« ist, muß zum Wesen des Planeten gezählt
werden, wie auch die Atmosphärelosigkeit aus keiner Kennzeichnung des Mars
fortgelassen werden darf. (Ebd., 1998, S. 64).Die Gashülle
der Erde entstand zwar letzten Endes durch den kosmischen Prozeß der Akkretion
von herausgeschleuderter, durch Zentripetal- und Zentrifugalkraft in der Bahn
gehaltener Sonnenmasse, aber die konkrete Atmosphäre, die die Erde seit etwa
350 Millionen Jahren (viel länger, denn schon eine
atembare Atmosphäre gab es schon vor etwa 1,8 Miliarden Jahren! HB)
umgibt, verdankt ihre Entstehung den Lebewesen, welche durch die Photosynthese
den Anteil von Sauerstoff so sehr vergrößerten, daß er aus einem
Spurenelement zu einem Hauptbestandteil von 20% wurde. (Ebd., 1998, S. 64).Damit
nimmt eine neue Geschehensart ihren Anfang, die man jedenfalls mit größerem
Recht Geschichte nennen könnte als jene Entstehung des Planetensystems, welche
noch dem astronomischen Geschehen zugerechnet werden kann, so singulär ihr
Ergebnis möglicherweise war. Wenn man von »Erdgeschichte« oder
»Erdzeitaltern« spricht, meint man in der Regel nicht die Vorgänge
in Erdkern und Erdmantel und nicht einmal die frühe Bombardierung der sich
festigenden Erdkruste durch Meteore oder Planetoiden, sondern man meint die verschiedenen
Zeitalter des Lebens auf der Erde in ihrem innigen Zusammenhang mit klimatischen
und tektonischen Veränderungen. (Ebd., 1998, S. 64-65).Diese
neue »Geschichte« lassen die Biologen und Geowissenschaftler in gewisser
Hinsicht bereits vor 3,5 Milliarden Jahren mit dem ersten Auftreten von sauerstoffproduzierenden
Organismen, den sogenannten Cyanobakterien, beginnen, die oft und etwas ungenau
Blaualgen genannt werden. Aber es dauerte noch weitere zwei Milliarden Jahre,
bis die ersten atmenden Organismen zur Existenz gelangten. Der Terminus »Archäozoikum«,
synonym mit »Archaikum«, läßt schon diese Ausrichtung am
»Leben« erkennen, das also drei Vierteln der gesamten Erdexistenz
die Namen gibt, obwohl die Zeitspanne bis zum Beginn des »Paläozoikums«
nahezu drei Milliarden Jahre beträgt. Einfacher ist es wohl, den gesamten
Zeitraum von der Entstehung der Erde bis zum Beginn des Paläozoikums als
»Präkambrium« zu bezeichnen und als dessen Hauptereignisse nur
das Auftreten der Photosynthese und der Lebewesen mit echten Zellkernen festzuhalten.
(Ebd., 1998, S. 65).Aber ob Lebewesen schon atmen oder noch »anaerob«
(ohne Sauerstoff) existieren, sind sie jedenfalls als »sich selbst replizierende
Eiweißkörper« zu bestimmen, und das heißt, daß sie
»Zellen« als Grundbestandteile aufweisen. Auch wenn diese Zellen noch
keinen Zellkern besitzen, wenn es sich also um sogenannte Prokaryonten handelt,
haben sie in ihrem Inneren ein ringförmiges Molekül aus Desoxyribonukleinsäure,
das die genetischen »Informationen« enthält und damit die Voraussetzung
für die Selbstreplikation ist. Mit den Eukaryonten beginnt die sexuelle Vermehrung,
d.h. die Mischung des Erbguts in den Nachkommen eines Elternpaares. Damit kommen
eine Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit auf, die es bei ungeschlechtlicher
Vermehrung noch nicht geben kann und die es rechtfertigt, daß die »Nukleinsäuren«,
welche die »Doppelhelix « der DNS bilden und die in einem komplizierten
Prozeß die Proteine, die Eiweißkörper der Organismen, zur Entstehung
bringen, als das Grundelement des Lebens bezeichnet werden. Der Biologe Rupert
Riedl nennt daher die DNS, die, populär ausgedrückt, hauptsächlich
aus Zuckermolekülen besteht und schon in niedrigen Lebewesen eine sehr komplizierte
und staunenswerte Struktur aufweist, das »ebenso universelle, sich verzweigende
und unsterbliche Molekulargedächtnis alles Lebendigen«. (Rupert Riedl,
Die Strategie der Genesis, 1976, S. 13). (Ebd., 1998, S. 65).Alle
einzelnen Zellen eines Lebewesens, beim Menschen etwa hundert Billionen, enthalten
diese »Information«, die man besser Bauanleitung oder auch Befehlszentrum
nennen sollte. Aber nur die Geschlechtszellen der Gameten dienen der Fortpflanzung,
indem sie einen halben Chromosomensatz enthalten, so daß sich durch die
Vereinigung mit den ebenfalls haploiden Gameten des anderen Elternteils die ursprüngliche
Diploidie in dem neuen Lebewesen wiederherstellt. Nach der heute kaum noch bestrittenen
Meinung der Biologen gibt es dagegen keine Rückwirkung von der Ebene der
Proteine auf die Ebene der Nukleinsäuren, d.h. vom Phänotyp auf den
Genotyp, mithin keine »Vererbung erworbener Eigenschaften«.
(Ebd., 1998, S. 65-66).Über die »Entstehung des Lebens«
existieren auch heute noch unter den Naturwissenschaftlern unterschiedliche Ansichten,
wenngleich die herrschende Meinung dahin geht, daß die ersten organischen
Verbindungen in der »Ursuppe« der frühesten irdischen Zeit unter
der Einwirkung von Blitzschlägen oder vulkanischen Eruptionen aus anorganischen
Molekülen entstanden sind. Wie immer es sich damit verhalten hat: Jedenfalls
war schon das frühe Leben von den anorganischen Elementen, aus denen es »bestehen«
mag, wesensmäßig verschieden - Konrad Lorenz hat für diese essentielle
Differenz innerhalb des grundsätzlich Gleichartigen den glücklichen
Ausdruck »Fulguration« verwendet. (Ebd., 1998, S. 66).Man
braucht nur einen Vergleich mit den Fixsternen und Planeten anzustellen: Kein
Himmelskörper repliziert und vervielfältigt sich von sich aus - er mag
explodieren oder unter dem übermächtigen Einfluß eines anderen
Körpers geteilt werden, aber das ist keine autonome Vervielfältigung;
kein Weltkörper gibt den Teilen, in die er zerfallen mag, »Erbgut«,
d.h. Anweisungen, mit, nach denen der Folgekörper sich gestaltet; kein Weltkörper
steht in »Stoffwechsel« mit seiner Umgebung, indem er durch rhythmische
Aufnahme und Abgabe von Stoffen sein Dasein erhält; kein Weltkörper
»wird geboren«, und kein Weltkörper »stirbt« -, wenn
diese Termini, wie es häufig geschieht, Verwendung finden, handelt es sich
um metaphorische Redeweisen. Leben ist ein Geschehen, wie auch die Expansion des
Weltalls oder die Strahlung der Fixsterne ein Geschehen ist, aber es ist ein Geschehen
von ganz anderer Art. Wenn man tatsächlich das Wort »Geschichtlichkeit«
verwenden darf, so ist diese Geschichtlichkeit des Lebens jedenfalls toto coelo
von der »Geschichtlichkeit« der kosmischen Nebelwolken und der Sternhaufen
verschieden. (Ebd., 1998, S. 66).Alle wesentlichen Kennzeichen
des Lebens waren schon im Präkambrium vorhanden, genauer gesagt: von dem
letzten Drittel der Zeit nach der Entstehung der Erde an. Die »Geschichte«
der Lebewesen, die damit ihren Anfang nimmt, gehört heute zum allgemeinen
Bildungsgut, und die Dinosaurier sind zu einem populären Filmstoff geworden.
Mindestens einige der »Erdzeitalter«, die durchweg 50-100 Millionen
Jahre umfassen, sind allgemein bekannt wie »Kreide« oder »Jura«,
und man kann sich leicht darüber unterrichten, daß im »Kambrium«
(590-500 Millionen Jahre vor der Gegenwart) alles Leben, meist noch in der Form
von Mollusken oder Algen, nur in den Meeren existierte, daß im »Silur«
Pflanzen und Tiere Süßwasser und Festland »eroberten«,
daß im »Karbon« (360-290 Millionen Jahre v.d.G.) der Sauerstoffgehalt
der Atmosphäre den heutigen Wert erreichte und sich schon eine Tier- und
Pflanzenwelt herausgebildet hatte, welche die Bezeichnung »üppig«
verdient. Das »Perm« ist das Zeitalter der Amphibien und Reptilien,
zu denen die ersten Dinosaurier gehören, in dem aber auch die Oberfläche
der Erde ganz anders aussieht als heute, da fast alle Landmassen der Erde in der
»Pangäa« vereinigt sind. Mit der »Trias« wird das
Großzeitalter des Paläozoikums durch das »Mesozoikum« abgelöst
(250-66 Millionen v. d. G.), und erstmals treten Säugetiere auf, die aber
nicht größer als Ratten sind. Das »Jura«, eine ausgeprägte
Warmzeit, ist die große Epoche der Dinosaurier, die dann am Ende der »Kreide«
aus bisher nicht geklärten Ursachen aussterben. Dagegen verbreiten und ändern
sich die Säugetiere, die einen ungemein wandlungsfähigen Bauplan aufweisen,
auf außerordentliche Weise, und die ersten »Primaten« (»Herrentiere«)
tauchen auf. (Ebd., 1998, S. 66-67).Mit dem Ende der Kreide
beginnt vor 66 Millionen Jahren die Erdneuzeit, das Känozoikum, und zwar
mit dem Tertiär als erstem Abschnitt. In dessen Anfangsabschnitt beginnen
die Alpen sich aufzufalten, während im mittleren Teil, dem Miozän (24-5
Millionen v. d. G.), erstmals Affen zur Existenz kommen, und mit dem Pliozän
(5-1,7 Millionen v. d. G.) tritt jenes »Tier-Mensch-Übergangsfeld«
in den Blick, so daß das entscheidende Problem der »Menschwerdung
« resultiert. (Ebd., 1998, S. 67).Im Quartär,
einer Folge von Eis- und Warmzeiten (Glazialen und Interglazialen), taucht um
100000 v. Chr. der »Neandertaler« auf, der unzweifelhaft als Mensch
zu gelten hat, und ihm folgt um 30000 der Cro-Magnon-Mensch, der nicht selten
der erste »moderne Mensch« genannt wird. Aber nach nahezu allgemeinem
Urteil lebte auch er in der »Vorgeschichte«, und zur Vorgeschichte
ist großenteils noch das »Holozän« zu zählen, das
um 10000 v. Chr. beginnt und möglicherweise nur eine Zwischenwarmzeit (eine
Warmzeit einer Eiszeit, denn Eiszeiten bestehen aus Kalt- und Warmzeiten; HB) ist, zu der noch die Gegenwart des beginnenden dritten Jahrtausends
n. Chr. gehört. (Ebd., 1998, S. 67).Diese »Geschichte«
der Erde und des Lebens kann sich jedermann in reichbebilderten Werken wie etwa
der Chronik der Erde leicht höchst anschaulich vor Augen führen,
und an dieser Stelle genügt ein bloßer Verweis darauf. (Ebd.,
1998, S. 67).Aber hat »Geschichte« nicht doch eine
ganz andere Bedeutung angenommen, und ist nicht allen Ereignissen der anderthalb
Milliarden Jahre seit dem Beginn des Archäozoikums ebenfalls, wie den Ereignissen
der Bildung des Sonnensystems, der Charakter des bloßen, wenngleich gewiß
andersartigen Geschehens zuzuschreiben, wenn man sich folgendes klarmacht? Ein
Jahrhundert, selbst ein Jahrtausend war noch während der letzten Eiszeit
und erst recht während der vielen Millionen Jahre der Kreidezeit überhaupt
als solches nicht unterscheidbar, während der Mensch des ausgehenden 20.
Jahrhunderts sich schon vom 19. Jahrhundert weit entfernt fühlt, ja sogar
von der Furcht erfüllt ist, die Geschichte sei nun in eine so rasende Gangart
eingetreten, daß bereits in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts
die Welt völlig verändert und alle Kontinuität mit der vorhergehenden
Zeit dahingeschwunden wäre. Eben damit könnte er in die »Nachgeschichte«
eingetreten sein, und die einst weitverbreitete Hoffnung hat ihre Kraft verloren,
aus der rasenden Bewegung werde mittels der Herrschaft der Vernunft eine neuartige
Ruhe entstehen. (Ebd., 1998, S. 67-68).Aber die »Erdgeschichte«
wird nach uralten Gesetzen weitergehen nicht über Tausende, nicht einmal
über Millionen, sondern über Milliarden von Jahren, und es ist nur allzu
wahrscheinlich, daß die Menschheit und möglicherweise alles Leben sich
schon in wenigen Jahrhunderten zugrunde gerichtet hat oder vor dem Ende auf ein
anderes Gestirn ausgewandert ist. Denn ein »Ende« wird die »Erdgeschichte«
mit Sicherheit haben, und es gibt keinen Grund, die Vorhersage eines Geologen
in Zweifel zu ziehen, der schreibt, heute stehe dieser Tendenz zum Ausgleich aller
Höhenniveaus noch »die endogene Dynamik der Erde entgegen. Doch wenn
einmal die Asthenosphäre erstarrt ist und die plattentektonischen Bewegungen
zum Stillstand kommen, ... dann wird sich die irdische Landfläche stetig
verkleinern, alle Kontinente werden bis auf das Meeresniveau abgetragen und kein
Berg, keine Insel wird mehr daraus hervorschauen. Dann ist die Erde geologisch
tot und zugleich für den Menschen unbewohnbar.« (Bernd Lammerer, Erdkruste
im Wandel, in: Friedrich Wilhelm [Hrsg.], Der Gang der Evolution, 1987,
S. 119-137, hier: S. 137). (Ebd., 1998, S. 68).
7) Evolution als Fundamentalgeschichte?Daß eine Fülle
höchst verschiedenartiger Lebewesen auf der Erde existiert, war von jeher
für alle Menschen ohne jede Reflexion selbstverständlich; daß
es in früheren Zeiten Arten gegeben habe, die in der Gegenwart nicht mehr
existieren, ließe sich jenen Mythen und Märchen entnehmen, die von
vorzeitlichen Ungeheuern wie Drachen und Seeteufeln zu berichten wußten.
Aber daß alle Wesen durch eine »Entwicklung« miteinander verknüpft
wären, die sich in unvorstellbar großen Zeiträumen vollzogen hätte,
war, von einigen Ansätzen in der Antike abgesehen, bis tief in das 19. Jahrhundert
hinein eine fremdartige Vorstellung. (Ebd., 1998, S. 68-69).Die
Verschiedenheit war schon früh in das Konzept vom »Stufenbau«
des Seienden gebracht worden, der, mit den Schnecken und anderen Weichtieren beginnend,
über Reptilien, Vögel und Säugetiere bis zum Menschen als »Krone
der Schöpfung« aufsteige. Diese große Kette des Seienden ließ
sich leicht mit platonischen Gedanken verbinden: Die Seinsformen entsprachen den
»Ideen«, jenen »Urbildern«, die jenseits der Realität
unveränderlich existieren und doch allem Seienden ihren Stempel aufprägen,
so daß es gestaltet und damit von der menschlichen Seele in der »Ideenschau«
erfaßbar sein könne. Wenn das Nebeneinander der Gestalten zugleich
als ein Nacheinander verstanden wurde, dann war diese Entwicklung, die besser
»Auswicklung« genannt werden würde, die Fundamentalgeschichte,
das Wirklichwerden dessen, was in seinen Maßen und Proportionen vor aller
Zeit schon ebenso im Geiste Gottes enthalten war wie die Grundverhältnisse
der Mathematik. (Ebd., 1998, S. 69).Mit christlicher Begrifflichkeit
konnte dieser Prozeß leicht als Schöpfungsgeschichte verstanden werden,
und der Mensch ging ebenso aus der Hand Gottes hervor wie alle anderen Geschöpfe,
wenngleich als ein fundamental andersartiges Wesen, als »zoon logon echon«,
um die Ausdrucksweise des Aristoteles zu verwenden, oder als »animal rationale«
in der Terminologie der Scholastik. Unvorstellbar war nur eines: daß die
Fundamentalgeschichte des Auftauchens der Gestalten und insbesondere der menschlichen
Gestalt kausal in dieser Entwicklung selbst enthalten war, daß also die
Gestalt von Weichtieren von sich aus die Gestalt der Wirbeltiere hervorbrachte
oder die Gestalt der Affen die Gestalt der Menschen. Alles Neue hatte vielmehr
einen direkten Bezug zur Ideenwelt, zum Urgrund oder zum Schöpfer, und das
galt am meisten für den Menschen, der doch als Ebenbild Gottes geschaffen
war. (Ebd., 1998, S. 69).Es mußte also eine Neuerung
sondergleichen und eine beispiellose Provokation sein, als in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts die These aufkam, »der Mensch stamme vom Affen ab«
und die Existenz des Affen gehe letzten Endes auf die Mollusken zurück. Eben
dies schien der Sinn der »Evolutionstheorie« und zugleich des »Darwinismus«
zu sein, durch die dasjenige erklärt und auseinander abgeleitet wurde, was
in der Lehre von der »Großen Kette des Seins« nur nacheinander
auftauchte. Konrad Lorenz sah nur noch eine »Schwäche« der menschlichen
Erkenntnis darin, daß sie immer »Typen« wahrnehmen wolle und
damit jener unendlichen Mannigfaltigkeit nicht gerecht werden könne, innerhalb
deren jede Pflanze und jedes Tier ein individuelles und eben dadurch geschichtliches
Wesen sei. (Vgl. Konrad Lorenz, Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal
des Menschen, in: Irenäus Eibl-Eibesfeldt [Hrsg.], Gesammelte Arbeiten,
1989, S, 56f.). (Ebd., 1998, S. 69).Aber zunächst ist
darauf hinzuweisen, daß Begriffe wie »Gestalt« oder (objektive)
»Idee« in der modernen Biologie keineswegs vollständig verworfen
worden sind, denn das Wort »Bauplan« spielt eine bedeutende Rolle.
Und ist die Wahrnehmung von »Konstanz« wirklich nur ein Ausfluß
menschlicher Schwäche?Abdrücke von Tintenfischen in 400 Millionen Jahren
alten Gesteinen sind von den heute lebenden Tintenfischen kaum zu unterscheiden,
und aus dem Olschiefer des Mittel-Eozäns in der Grube von Messel bei Darmstadt
liegen zahlreiche Skelette von Fledermäusen vor, die »in allen wesentlichen
Punkten dem Bauplan heutiger Fledermäuse vollständig entsprechen«.(Friedrich
Wilhelm, Der Gang der Evolution, 1987, S. 165). Jacques Monod, gewiß
ein unverdächtiger Autor, stellt fest, viel paradoxer als die Evolution selbst
sei die Tatsache, daß bestimmte Arten sich mit erstaunlicher Stabilität
ohne merkliche Veränderungen seit 100 Millionen Jahren reproduzierten; daher
erkennt er »ein platonisches Element« ausdrücklich an, und er
hebt hervor, in der unendlichen Vielheit der Erscheinungen könne die Wissenschaft
»nur die Invarianten« suchen. (Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit,
1991, S. 151). (Ebd., 1998, S. 70).Wenn
Entwicklung so viel wie Bewegung, Veränderlichkeit und damit Geschichte bedeutet,
vollzieht sie sich, so könnte es scheinen, im Rahmen des Unveränderlichen
und Konstanten; die Genera sind unvergleichlich mächtiger als die Individuen:
Farne und Algen sind heute im wesentlichen dasselbe, was Farne und Algen vor 500
oder vor 300 Millionen Jahren waren. Die Evolution ließe sich als Fundamentalgeschichte
dann so vorstellen, daß ein einziger großer Impetus des Lebens schon
den einfachsten Bauplan durchpulste und immer kompliziertere, insofern höhere
Baupläne hervorbrächte, bis im Menschen die bisher höchste aller
Gestalten erreicht sei. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen diesem
Impuls und der menschlichen Geschichte könne es nicht geben; diese sei nichts
anderes als die Fortsetzung der »schöpferischen Entwicklung«,
wie Henri Bergson sie genannt hat. (Ebd., 1998, S. 70).Man
muß sich die innere Stärke des »platonischen« Ansatzes
vor Augen halten, wenn man die ganze Andersartigkeit der eigentlichen Evolutionstheorie
verstehen will, die ihren Ursprung durchweg von Darwin herleitet. Paradoxerweise
geht auch sie von einer Invarianz aus, nämlich der Invarianz der genetischen
Ausstattung jedes Lebewesens. Wenn alle Genome sich fehlerfrei replizierten, würden
nur dadurch Änderungen eintreten, daß bestimmte Lebewesen infolge einschneidender
Wandlungen der Umweltbedingungen zugrunde gehen würden. Aber wenn bei dem
komplizierten Vorgang der Übersetzung des Genoms in die Aminosäuren
des Phänotyps den Molekülen der sogenannten Boten-RNS oder den Proteinen,
an die sie sich anlagern, ein »Ablesefehler« unterlief, dann war das
Genom des Folgewesens mit dem Genom der vorhergehenden Generation nicht mehr in
Übereinstimmung, etwas Neues war in die Welt getreten, eine »Mutation«.
(Ebd., 1998, S. 70-71).Der Grund des Neuen war also etwas rein
Negatives, wie man auf den ersten Blick sagen würde, nämlich ein zufälliger
Fehler, der keinerlei »Höherstreben« in sich schloß, ja
nicht einmal eine Richtung. In hunderttausend Fällen mochte der Fehler eine
Verschlechterung bedeuten, und die betreffenden Exemplare der Gattung gingen zugrunde.
In einem Fall aber war vielleicht eine Änderung zustande gekommen, die für
das betreffende Wesen eine bessere Anpassung an veränderte Umweltbedingungen
bedeutete. Durch eben diese Bedingungen wurde nun eine Selektion vorgenommen:
die zunächst noch weit zahlreicheren genetisch unveränderten Exemplare
würden weniger Nachkommen haben und in einer langen Generationenfolge, vielleicht
in Hunderttausenden von Jahren, zugrunde gehen, während das »mutierte«
Exemplar und dessen Nachkommen die Oberhand gewinnen würden. (Ebd.,
1998, S. 71).Nun liegt kein Gedanke näher, als daß in
dem Ringen um die Existenz, welches überall in der Natur wahrnehmbar ist,
die stärkeren Exemplare sich durchsetzen und daß dieser Lebenskampf
daher eine Verbesserung im Sinne von Kräftigung des Durchschnitts dieser
Lebewesen nach sich zieht. Das Kennzeichnende der Evolutionstheorie besteht erst
darin, daß die Mutationen, zufällig und richtungslos, wie sie sind,
an der Grenze der Arten nicht haltmachen und damit der Übergang in eine andere
Art möglich wird. Und dies kann offensichtlich nicht in einem Schritt geschehen,
denn ein ganzes Genom mutiert niemals, vielmehr häufen sich die Mutationen
in unvorstellbar langer Zeit und in zahllosen kleinen Schritten, so daß
ein Übergang, etwa von den Reptilien zu den Vögeln, möglich wird.
Aber eigentlich »entwickelt« sich nicht eine Anlage nach ihrem inneren
Gesetz, sondern eine blinde und ziellose Änderung wirkt sich positiv aus,
weil sie von den Bedingungen der Umwelt begünstigt wird, die für jedes
einzelne Lebewesen infolge ihrer Übermacht schlechthin fundamental sind.
(Ebd., 1998, S. 71).Mutation und Selektion sind also die großen
Kräfte der Änderung in der Welt des Lebens, und die eine dieser Kräfte
ist völlig blind, während die andere keinerlei Weisheit aufweist und
lediglich den kurzfristigen Vorteil des betreffenden Lebewesens im Blick hat.
So wird hier die außerordentliche Umkehrung jenes auf Platon gegründeten
und in der Polemik gegen die antiken Atomisten für nahezu 2000 Jahre siegreichen
Prinzips ganz deutlich, das Laktanz in seinen Göttlichen Unterweisungen
einst sagen ließ: »Etwas Planvolles kann nur eine planende Vernunft
zustande bringen«. (Ebd., 1998, S. 71).Demgegenüber
läßt die Evolutionstheorie den Sinn aus der Sinnlosigkeit und die Ordnung
aus dem Zufall hervorgehen: Nichts ist begreiflicher als die Empörung, die
sie auslöste, als sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Vorschein kam.
Konnte man diese Entwicklung noch eine Fundamentalgeschichte nennen, da die Geschichte
der Menschen als eine Fortsetzung des Prozesses aus Mutation und Selektion hätte
angesehen werden müssen? Ließ sich wirklich ernsthaft behaupten, das
römische Weltreich sei entstanden, weil eine Zufallsmutation die Gene von
Romulus und Remus verändert habe? Und was hatte es zu bedeuten, daß
eine so ausgesprägt a-theistische Lehre angesichts des unerschöpflichen
Reichtums und der überwältigenden Ordnung der Wirklichkeit »die
Evolution« oft genug in einer Weise charakterisierte, die sie geradezu als
ein Synonym für »Gott« erscheinen ließ? (Ebd.,
1998, S. 71-72).Bei Rupert Riedl ist zu lesen: »Obwohl uns
die biologische Theorie der Evolution nur einen blinden und einen kurzsichtigen
Konstrukteur mit der Wirrnis des ewigen Kampfes anzubieten hat, und die physikalische
sogar nur die unentrinnbare Drift ins Chaos, schafft die Evolution eine schier
unfaßliche Ordnung, wider jede Wahrscheinlichkeit und scheinbar aus dem
Nichts, und zu alledem sorgt sie noch dafür, sie widerspiegeln, sie erkennen
zu können.« (Rueprt Riedl, Die Strategie der Genesis, 1976,
S. 89). So taucht hier im Bereich der Biologie dasselbe auf, was auch bei einigen
Physikern zu beobachten war: jener Zufall, der schlechterdings nur als »göttlicher
Zufall« charakterisiert werden kann, weil er seinem Begriff nach natürlich
nicht den Menschen »planen« konnte, aber faktisch genau den Ablauf
hervorbrachte, der zwar kein »Ebenbild« Gottes mehr ist, wohl aber
»die höchste Entwicklungsstufe«. (Ebd., 1998, S. 72).Es
gibt in den Naturwissenschaften kaum eine andere Theorie oder Richtung, deren
Anhänger sich so sehr auf eine Gründerfigur beriefen wie die Vertreter
der Evolutionstheorie, nämlich auf Charles Darwin. Das ist in mancher Hinsicht
erstaunlich, denn schon im Geburtsjahr Darwins, 1809, hatte J. B. Lamarck seine
Zoologische Philosophie veröffentlicht, die eine ausgeprägte
Entwicklungsgeschichte ist, aber als Erklärungsgrund eine »Vererbung
erworbener Eigenschaften« zugrunde legt. Darwin selbst hat in der Einleitung
zu seinem Buch über den Ursprung der Arten von 1859 mehrere Vorgänger
aufgeführt, denen er sehr generös große Verdienste zuerkennt.
Seine erste einschlägige Publikation wurde 1858 durch einen Aufsatz von Alfred
Russel Wallace veranlaßt und erschien gleichzeitig mit dessen Publikation
im Jahrbuch der Linnäischen Gesellschaft (gemeint ist
wohl die Linnéische bzw. Linneische Gesellschaft; HB). Es ist
gut bezeugt, daß Darwin das dreibändige Handbuch einer Geschichte der
Natur des Heidelberger Paläontologen und Zoologen Heinrich Georg Bronn, das
von 1841 bis 1849 erschien, sorgfältig gelesen hat. Man könnte sagen,
die Zeit für eine »Historisierung« der Zoologie sei in der Mitte
des 19. Jahrhunderts reif und überreif gewesen. Aber Darwin legte das erste
umfangreiche Buch vor, das die Wendung »Entstehung der Arten« im Titel
führte, und er wurde sofort als einer der größten Revolutionäre
auf dem Gebiet der Naturwissenschaften weithin anerkannt. (Ebd., 1998, S.
72-73).Freilich fand er auch bald scharfen Widerspruch, der nicht
durchweg theologisch und anthropologisch begründet war, aber letztlich von
dort seine stärkste Leidenschaftlichkeit hernahm. Dabei hatte Darwin in bezug
auf den Ursprung der Menschheit nicht mehr gesagt, als daß von seinem Ansatz
her neues Licht darauf fallen werde, aber seine frühen Schüler, insbesondere
Thomas Huxley in England und Ernst Haeckel in Deutschland, artikulierten schon
bald die These von der »Affenabstammung des Menschen«, und keine These
konnte in einer Welt, die noch weitgehend vom christlichen Glauben geprägt
war, provokativer und empörender sein. Sie war allerdings konsequent, wenn
die Behauptung akzeptiert wurde, daß die Variationen der Arten, die unbestreitbare
Tatsachen sind und schon beim Blick auf eine Dogge und einen Dackel anschaulich
werden, so weit ausschlagen und sich so sehr verfestigen könnten, daß
eine neue Art entstände, die dann, wie es dem Begriff der Art entspricht,
mit der Ausgangsart keine Fortpflanzungsgemeinschaft mehr bilden würde. Darwin
sprach von der »natürlichen Zuchtwahl« und zeigte dadurch seine
Orientierung an den menschlichen Züchtern, die in der Tat durch kluge Auswahl
und Kumulierung der erwünschten Eigenschaften erstaunliche Änderungen
erzielen. (Ebd., 1998, S. 73).Aber vielleicht hätte
seine These tatsächlich nur Unglauben hervorgerufen, wenn sich Darwin nicht
gleichsam in einen älteren Strom der Empörung hineingestellt hätte.
Kaum jemand war in England allen humanistischen und humanitären Geistern
so verhaßt wie der »Pfarrer Malthus«, der gegen Ende des 18.
Jahrhunderts ein Buch (vgl. Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle
of Population, 1798) geschrieben hatte, das eine als geradezu teuflisch aufgefaßte
Gegenmeinung zum biblischen Gebot des »Seid fruchtbar und mehret euch«
darzustellen schien, weil es der biologischen Vermehrung der Menschen eine »geometrische«
Progression zuschrieb, während die künstliche Erzeugung der Nahrungsmittel
über eine arithmetische Progression nicht hinausgelangen könne.
(Ebd., 1998, S. 73).Diese Malthussche Konzeption vom Vorrang der
natürlichen Zeugungskraft vor der menschlich-technischen Produktionskraft,
welcher nur durch Anwendung der Vernunft keine katastrophalen Folgen haben würde,
weitete Darwin nun auf den gesamten Bereich des Lebens aus genauer gesagt, er
brachte sie dorthin zurück -, und da dieses biologische Leben keine subjektive
Vernunft kennt, konnte die richtige Proportion nur durch einen unablässigen
und gnadenlosen Kampf der Individuen und der Arten hergestellt werden, aus dem
das »survival of the fittest« resultierte, von dem Herbert Spencer
schon vor Darwin gesprochen hatte. So sagt Darwin ausdrücklich, die Lehre
von Malthus sei in verstärkter Kraft auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich
zu übertragen, und dann zeige sich die Natur als ein einziger großer
Kampf ums Überleben, in dem »die lebenskräftigen und gesündesten
Männchen, die damit auch die am vollkommensten angepaßten sind, allgemein
in ihren Kämpfen den Sieg« davontrügen. So ist der Aufruf konsequent:
»Was für ein Krieg zwischen Insekt und Insekt, zwischen Insekten, Schnecken
und anderen Tieren mit Vögeln und Raubtieren, welche alle sich zu vermehren
strebten.« (Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten oder:
Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kmapfe ums Dasein, 1859, S.
16, 93). (Ebd., 1998, S. 73-74).So könnte man den Darwinismus
einen Malthusianismus im Quadrat und eine wahre Kriegs- und Naturwissenschaft
nennen, die eine starke Tendenz hat, sich in den menschlichen Bereich auszudehnen,
wie es schon 1860 in einer der frühesten deutschen Rezensionen von Darwins
Werk formuliert wird, wo es heißt, in der Natur vollziehe sich dieselbe
Überwältigung des Schwächeren durch den Stärkeren, »wie
es die stärkeren den schwächeren Menschenracen tun«. (Ebd., 1859,
S. 590 [Rezension von Oskar Peschel in: Das Ausland, Jg. 1860). Man sollte
auch nicht übersehen, wie der vollständige Titel von Darwins Werk lautet,
nämlich Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl
oder: Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein. Es
ist daher sehr die Frage, ob die späteren »Neodarwinisten« oder
»Sozialdarwinisten« tatsächlich so weit von dem Meister entfernt
waren, wie es die Orthodoxen unter seinen Nachfolgern immer hingestellt haben.
(Ebd., 1998, S. 74).Darwin trennte sich seinerseits nicht von der
Atmosphäre des 19. Jahrhunderts, wenn er sagte, »aus dem Kampfe der
Natur, aus Hunger und Tod« gehe »unmittelbar die Lösung des höchsten
Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die Erzeugung immer höherer
und vollkommenerer Tiere«. (Ebd., 1859, S. 565). Darwin weitet also nicht
nur den Historismus dieses Jahrhunderts auf die organische Natur aus, indem er
schreibt, jedem organischen Naturerzeugnis sei »eine lange Geschichte zuzugestehen«
(ebd., 1859, S. 562), sondern er behält einen Platz unter den Vorkämpfern
der »Fortschrittsgeschichte« wie Comte und Spencer. Anders als Comte
und Spencer ist er indessen von Bedenken, ja von einem Empfinden der Trauer nicht
frei, wenn er schreibt: »Wenn wir über diesen Kampf ums Dasein nachdenken,
so mögen wir uns mit dem festen Glauben trösten, daß der Krieg
der Natur nicht ununterbrochen ist, daß keine Furcht gefühlt wird,
daß der Tod im allgemeinen schnell ist und daß der Kräftige,
der Gesunde und Glückliche überlebt.« (Ebd., 1859, S. 97).
(Ebd., 1998, S. 74).Aber um die folgenden Fragen läßt
sich schwerlich herumkommen: Wieso ist der Krieg der Natur »nicht ununterbrochen«,
wieso fühlen die Fluchttiere keine Furcht, die doch unablässig nach
Feinden Ausschau halten; ist den Lebewesen nicht um so mehr an Schmerz und Leid
beschieden, je »vollkommener« oder »höher entwickelt«
sie sind? Die merkwürdigste Paradoxie von Darwins Lehre liegt jedoch in folgendem:
Die »künstliche Zuchtwahl« bringt bessere und für bestimmte
Zwecke geeignetere Exemplare einer Art hervor, aber noch keinem Züchter ist
es gelungen, aus einer Hundevarietät eine Katzenvarietät oder -art entstehen
zu lassen, und der Krieg zwischen den Individuen und den Arten läßt
die kräftigsten Individuen und die bestangepaßten Varietäten überleben,
doch als solcher muß er keineswegs neue Arten hervorbringen. Darwin kannte
den Begriff der genetischen Mutation noch nicht, und zu seiner Zeit waren die
erstaunlichen Entdeckungen nicht gemacht, welche Übergänge zwischen
Arten, ja zwischen Familien und Stämmen anschaulich werden ließen wie
das Fossil des »Archaeopteryx« oder die zahlreichen Funde von urzeitlichen
Gebissen, die keine Affengebisse sind und sich doch noch deutlich von Menschengebissen
unterscheiden. (Ebd., 1998, S. 74-75).Wenn heute die darwinistische
Evolutionstheorie für die allermeisten Biologen als bewiesen gilt, so sind
die besten Beweise nicht auf die Gründerfigur zurückzuführen, sondern
zunächst auf die Paläontologen und ihre Fossilfunde, nicht zuletzt aber
auch auf die Genetiker, die das Urkennzeichen des Lebens, die Doppelhelix der
Desoxyribonukleinsäure und damit den Genotyp, entschlüsselten und schließlich
der artifiziellen Veränderung der Gentechnik unterwarfen, welche die natürliche
Veränderung durch Mutationen an Schnelligkeit und Wirksamkeit weit überholt.
(Ebd., 1998, S. 75).Dennoch wurden Zweifel und Bedenken gegenüber
dieser Theorie bis heute nicht vollständig aus der Welt geschafft. Einige
Biologen haben den Begriff der »Makroevolution« eingeführt, d.h.
einer Entwicklung, die sich nicht in zahllosen winzigen Schritten, sondern in
Sprüngen vollzieht, so daß »von heute auf morgen« neue
Strukturen auftreten können. Selbst ganz orthodoxe Forscher konstatieren
»Wesensunterschiede« etwa zwischen Vögeln und Reptilien, obwohl
sie die Lehre von den kleinen Schritten für richtig halten. Man kann beiden
Seiten dadurch Recht geben, daß man eine klare Unterscheidung von Phylogenetik
und Systematik trifft: die erste verfolgt die konkrete Entwicklung, die zweite
»ist auf die Existenz taxonomischer Bestimmungsschlüsselmerkmale angewiesen,
um die systematische Ordnung herstellen zu können«. (Rolf Siewing [Hrsg.],
Evolution - Bedingungen , Resultate, Konsequenzen, 1978, S. 198). So würden
das Geschichtliche und das Ungeschichtliche, das Fließen und die Konstanz,
einander nicht ausschließen, und Platon wäre gerechtfertigt, ohne daß
man ihm ein vollständiges Recht zuschreiben müßte. (Ebd.,
1998, S. 75).In der entsprechenden Abwandlung könnte die orthodox
verstandene Evolution vielleicht als Fundamentalgeschichte verstanden werden,
wenn sich bei den verschiedenen Gattungen und Arten der Tiere Unterschiede von
»Freiheit«, d.h. vom Menschen her gesehen, Unterschiede der Geschichtsfähigkeit
aufweisen ließen. Dieser Frage nachzugehen wird die nächste Aufgabe
sein. An dieser Stelle soll aber Rupert Riedl noch einmal das Wort erteilt werden,
der eines der geistreichsten Bücher über die Evolution geschrieben hat
und der, obwohl zu den Orthodoxen zählend, einen Vorbehalt gegenüber
der Theorie artikuliert, welcher, wie gezeigt worden ist, auch Darwin nicht ganz
fremd war und auf die Menschengeschichte ausgedehnt werden kann, weil der Evolutionstheorie
und der Geschichtsschreibung jedenfalls die Hervorhebung oder Konstatierung des
Kampfcharakters gemeinsam ist: »Über 500000 ihrer Gewächse (der
Gewächse der Natur) beweisen, daß mit Wasser, Salzen und Photonen allein
eine vornehme, stille Ordnung aufzubauen ist, die mit einer Bescheidung ihrer
Produktion das gegenseitige Vertilgen überhaupt hätte vermeiden lassen.«
(Rupert Riedl, Die Strategie der Genesis, 1976, S. 16). (Ebd., 1998,
S. 75-76).Der Zusammenstoß zwischen
Utopie (oder Alternativvorstellung) und Realität, dem wir im Hinblick auf
die Menschengeschichte immer wieder begegnen werden, kann also eine Art Präfiguration
in der Evolutionstheorie haben. Eine solche Präfiguration gibt es allerdings
in der Evolution selbst und auch bei den Tieren offensichtlich nicht, und wir
sind damit vermutlich schon auf ein Kennzeichen der »eigentlichen«
Geschichte gestoßen, das der angeblichen Fundamentalgeschichte, der Evolution,
jedenfalls abgeht. (Ebd., 1998, S. 76).
8) Stufen der Geschichtsfähigkeit bei Tieren?Daß
die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften auf das engste mit Tieren verbunden
war, bedarf keines Nachweises. Die Domestikation des Hundes war ein wichtiger
Schritt am Ausgang der Vorgeschichte, und ihr folgte bald die Domestikation von
Rindern, Pferden und Schafen. Landwirtschaft bedeutete bis gestern ständiges
Zusammenwirken und auch Zusammenleben von Menschen und Tieren; die deutsche Ostkolonisation
im Mittelalter und die Eroberung Amerikas durch europäische Einwanderer wären
ohne die ungeheure Arbeitsleistung von Rindern und Pferden nicht möglich
gewesen. Noch heute gibt es Stämme, die »Totemtiere« verehren;
Ägypten war bekanntlich voller Tiergötter, und Toth, der Gott der Schreiber,
hatte die Gestalt eines Pavians. Im Mittelalter wurden Tiere, die einen Menschen
getötet oder sonstigen Schaden angerichtet hatten, nicht selten vor ein Gericht
gestellt, verurteilt und manchmal sogar exkommuniziert; ihnen wurde also Personalität
zugeschrieben. Offenkundig gibt es ein »Verstehen« zwischen Mensch
und Tier; der Mensch versteht das Schweifwedeln des Hundes, und der Hund versteht
den zornigen Gesichtsausdruck seines Herrn; es scheint sogar lebenslange »Freundschaften«
zu geben wie etwa zwischen dem Kameltreiber und seinem Kamel oder zwischen dem
Elefantenführer und seinem Elefanten. (Ebd., 1998, S. 76-77).Aber
Tiere waren nicht nur Diener und Freunde des Menschen, sie wurden nicht nur als
Götter verehrt, als Dämonen gefürchtet und als Beute gejagt, sondern
sie griffen auch auf zerstörerische Weise in die menschliche Geschichte ein.
Ratten schleppten die Pest in manche Länder ein; Plasmodien von Stechmücken
übertrugen als Erzeuger der Malaria für unzählige Menschen den
Tod, Wanderheuschrecken vernichteten 1866 den größten Teil der Ernte
Algeriens und haben davor und danach immer wieder große Landstriche verwüstet.
(Ebd., 1998, S. 77).Bei all dem aber waren die Tiere in die menschliche
Geschichte einbezogen, oder ihre Aktionen richteten sich nach Art eines Wirbelsturms
gegen die Menschen; zwar mag jenes »Wechselverstehen « auf eine innere
Nähe eines Teils der Tiere zum Menschen hindeuten, aber dadurch wird die
Frage, ob die Tiere als solche oder mindestens bestimmte Tierarten so etwas wie
eine eigene Geschichte haben können, erst recht dringend. (Ebd., 1998,
S. 77).Die bloße Evolution haben wir als Geschichte und gar
als Fundamentalgeschichte bereits ausgeschlossen, so staunenswert gerade im Bereich
des Geschlechtslebens manche Entwicklungen sind, z.B. daß bei einigen Rankenfüßern
das Männchen zu einem bloßen Fortpflanzungsorgan geschrumpft ist, das
auf dem Weibchen parasitiert. Die vielen Einzelschritte bei der Entwicklung der
Reptilien zu den Vögeln dürfen allenfalls im übertragenen Sinne
geschichtlich genannt werden; aber auch die starke Vermehrung und Ausbreitung
von Heringsschwärmen infolge einer Veränderung in den Meeresströmen
hat mit Geschichte nichts zu tun. Heringsschwärme existieren in einem bloßen
Nebeneinander der einzelnen Tiere, die ausschließlich ihren seit Jahrmillionen
genetisch festgelegten Instinkten folgen; es fehlt jeder Ansatz zu Organisation
und zu Eigentätigkeit; beides oder doch mindestens das eine von beidem scheint
die elementarste Voraussetzung für eine Geschichte zu sein, die kein bloßes
Geschehen ist. (Ebd., 1998, S. 77).Aber
man wird auch dann nicht von Eigentätigkeit sprechen können, wenn Tiere
sich ganz unabhängig vom Menschen durch eigene Aktionen zugrunde richten,
wie z.B. die Ziegen, die von Seeleuten auf der Insel Fernando Póo ausgesetzt
wurden und dort so viel an schmackhaften Pflanzen und so wenig an natürlichen
Feinden vorfanden, daß sie sich rapide vermehrten, infolgedessen alle Pflanzen
abfraßen und schließlich allesamt starben. Es ist allerdings gut bezeugt,
daß Löwen in guten Jahren ihre Beutetiere keineswegs restlos schlagen
und sich selbst unbegrenzt vermehren, sondern sich so verhalten, als schätzten
sie die künftigen Notwendigkeiten richtig ein. Aber es handelt sich hierbei
doch lediglich um ein »als ob« und in Wirklichkeit um ein instinktives
Verhalten. (Ebd., 1998, S. 77-78).Wenn das genetische Programm
einem Tier zwingend vorschreibt, wie es sich verhalten soll, wenn also ein »Angeborener
Auslösender Mechanismus« (AAM) unmittelbar durch Schlüsselreize
in Tätigkeit tritt, dann kann nicht einmal von Anfängen einer »freien«,
d.h. von Instinkten nicht festgelegten, Verhaltensweise die Rede sein und damit
auch nicht von einem Anfang der Geschichte. Aber jedermann kann auch heute leicht
beobachten, daß ein Hund, der auf der Straße der Spur eines anderen
Hundes folgt, stutzt und zögert, wenn er den Ruf seiner Herrin hört
und in einen inneren Widerstreit gerät, ob er nun weiterlaufen oder zurückkehren
soll. Seine Instinkte geben ihm keine eindeutigen Befehle; es tut sich ein Spalt
auf zwischen dem Naturinstinkt und demjenigen, was er gelernt hat, nämlich
daß die Befehle des Herrn oder der Herrin zu befolgen sind. (Ebd.,
1998, S. 78).Daß Tiere »lernen« können,
steht außer Zweifel. Man lernt aber nicht, wenn man nicht behalten kann:
Schon Aristoteles schrieb Tieren ein Gedächtnis zu, und hin und wieder drängt
sich sogar die Frage auf, ob bestimmte Tiere nicht ein Verhältnis zur Zukunft
haben, das über die rein instinktive Brutpflege oder auch über jenes
»Ahnen« hinausgeht, das Gebirgstiere häufig beim ersten noch
fernen Donnergrollen ihre Höhlen aufsuchen läßt. (Ebd.,
1998, S. 78).Die Sammlung von Vorräten gehört allerdings
offensichtlich zur Erbausstattung von Eichhörnchen und Spechten, aber wenn
eine Graugans, wie Kenner versichern, eine schlechte Erfahrung nicht nur nie vergißt,
sondern sich auch sorgfältig hütet, je an den Ort dieser Erfahrung zurückzukehren,
so liegt wohl ein Analogon von »Einsicht« vor. Intelligenz legen auch
Ratten an den Tag, die im Experiment in ein kompliziertes System von Gängen
gesetzt werden und diese Umwelt rasch zu durchschauen lernen. (Ebd., 1998,
S. 78).Daß ein Tier bestimmte Erfahrungen machen kann und
daraus Folgerungen abzuleiten vermag, ist sicherlich durch ein »A priori«
der Art festgelegt; aber daraus ergibt sich noch nicht, welche Erfahrungen die
einzelnen Tiere machen und wie sie damit umgehen. Man wird daher von unterschiedlichen
Graden von »Freiheit«, d.h. Triebentbundenheit oder Erfahrungsoffenheit,
der einzelnen Tierarten sprechen dürfen, und »Geschichtsfähigkeit«
mag man denjenigen zuschreiben, die damit die Fähigkeit zum Gruppenhandeln,
d.h. zur Organisation, verbinden. Auch wenn man sich vor den naiven Anthropozentrismen
hütet, denen man in Brehms Tierleben auf Schritt und Tritt begegnet, wo Tiere
»liebenswürdig«, »gewitzt«, »opferbereit«
und »von adliger Gesinnung« sind, kann man denjenigen modernen Forschern
nicht von vornherein Unrecht geben, die bestimmten Tieren »einsichtiges
Verhalten«, »Neugierde«, »Überlegung« und sogar
»Denken« zuerkennen. (Ebd., 1998, S. 78-79).Aber
im ganzen gibt es doch nur relativ wenige Tierarten, bei denen schon der Volksmund
so etwas wie »Geschichtsähnlichkeit« konstatiert, weil er entweder
das Wort »Staat« gebraucht oder Termini wie »Sippe« verwendet.
(Ebd., 1998, S. 79).»Staaten« werden vornehmlich von
Bienen, Ameisen und Termiten gebildet. Über die Bienen kann man in knappster
Zusammenfassung sagen, daß es sich bei ihnen jeweils um eine auf nächste
Verwandtschaft gegründete, faktisch rein weibliche Gemeinschaft zahlreicher
Tiere handelt, in der die Arbeitsteilung einerseits infolge der Monopolisierung
der Geschlechtsfunktion durch die »Königin« einen extremen Grad
erreicht hat, andererseits jedoch auf bloße Altersunterschiede beschränkt
ist, so daß man doch wiederum nicht von »Kasten« reden kann.
Diese »Staaten«, von den Imkern bekanntlich häufig für menschliche
Zwecke nutzbar gemacht, aber nicht eigentlich »domestiziert«, haben
eine Anzahl von Feinden, z.B. kleine Schmetterlinge, die sich unter einer chemischen
Tarnkappe in den Bienenstock einschmuggeln und dort als Parasiten leben, oder
Milben, die Bienenseuchen hervorrufen und ganze Völker ruinieren können.
Dagegen haben die Bienen mancherlei Abwehrmaßnahmen entwickelt. Erst recht
erinnert das sogenannte Schwänzeln der Bienen an menschliche Verhaltensweisen,
d.h. die Übermittlung über nahegelegene Blütenbestände durch
Körperbewegungen der »Entdeckerinnen«. Aber selbst der begeistertste
Imker würde nicht geneigt und in der Lage sein, eine »Geschichte seines
Bienenstocks« zu schreiben, die sich in relevanter Weise von der Geschichte
zahlloser anderer Bienenstöcke unterschiede, genauer gesagt: die sich von
dem Geschehen in allen anderen Bienenstöcken unterschiede, und Karl von Frisch,
der bahnbrechende Bienenforscher und Nobelpreisträger, versichert, daß
die Handlungsweisen der Bienen, »So verwickelt sie uns erscheinen, erblich
festgelegte, nur wenig wandlungsfähige Instinkte« sind. (Vgl. Karl
von Frisch, Aus dem Leben der Bienen, 1927, S. 280). (Ebd., 1998,
S. 79).Bei Ameisenstaaten ist man indessen nicht selten versucht,
an menschliche Staaten zu denken, obwohl die Ameisen ebenso Hautflügler (Hymenopteren)
sind wie die Bienen und ebenfalls seit etwa 50 Millionen Jahren die Erde bevölkern.
Auch bei ihnen liegt die fundamentale Teilung in Geschlechtstiere und unfruchtbare
Arbeiterinnen vor, ihre Staaten haben nicht selten mehrere Millionen Mitglieder,
die Königin legt bis zu 30000 Eier am Tag, die Männchen werden zwar
nicht getötet wie bei den Bienen, aber sie sterben bald nach dem Hochzeitsflug
und der Begattung. Bei ihnen sind die Kasten jedoch sehr viel ausgeprägter
und fixierter, denn die »Soldaten« unterscheiden sich auch äußerlich
von den Arbeiterinnen, die ihrerseits von unterschiedlicher Größe sind,
da bei ihnen die Oberkiefer, die Mandibeln, zu mächtigen Waffen ausgestaltet
sind. (Ebd., 1998, S. 79-80).Vor allem aber sind ihre Staaten
sehr viel angriffslustiger und führen nicht selten regelrechte Kriege. Gewöhnlich
richten sich solche Kriegszüge gegen die Bauten anderer Ameisenarten; sie
werden durch Kundschafterinnen vorbereitet und durch Umzingelungen eingeleitet;
nicht selten handelt es sich um genuine Ausrottungskämpfe, doch werden die
Puppen des eroberten Nestes oft in den eigenen Bau transportiert und dort nicht
selten zu Sklaven gemacht. Es gibt Arten, bei denen die Sklaven fünfmal zahlreicher
sind als die Sklavenhalter. (Ebd., 1998, S. 80).Nicht ganz
selten resultiert daraus eine schwere Dekadenz der Sklavenhalter, die sich zunächst
zu einer Art Kriegerkaste spezialisieren und dann allmählich sogar diese
Funktion verlieren, so daß sie als reine Ausbeuter oder Schmarotzer weiterexistieren
und nur noch eine starke, nicht mehr auf das andere Geschlecht beschränkte
sexuelle Aktivität an den Tag legen, bis sie ihrerseits überwältigt
werden oder zugrunde gehen. (Ebd., 1998, S. 80).Aber auch
andere Tiere können Sklaven sein; und dann liegt häufig eine Wechselbeziehung
zu gegenseitigem Vorteil vor, in der die Ameisen eine Schutzfunktion ausüben.
So lebt die Art »Dolichoderus« vom »Honigtau«, den Exkrementen
von Wolläusen, und paßt sich deren Bewegungen an: »Genau wie
die menschlichen Wanderhirten lassen auch die Ameisen ihren Lebensrhythmus von
dem ihrer Herden bestimmen, und ebenso wie die menschlichen, so sind auch die
tierischen Nomaden vollständig von ihrem Vieh abhängig. (Vgl. Klaus
Dumpert, Das Sozialleben der Ameisen, 1978, S. 184, 167). (Ebd.,
1998, S. 80).Die Blattschneiderameisen ernähren sich von Pilzen,
»die sie in den riesigen Nestern auf zerkautem Pflanzenmaterial kultivieren«.
(Klaus Dumpert, Das Sozialleben der Ameisen, 1978, S. 184). Im Inneren
der Nester gibt es eine bewundernswerte Ordnung, die von den Notwendigkeiten der
Brutpflege beherrscht wird. Bei der Futterverteilung herrscht keine Gleichheit:
»Ammen«, »Domestiken«, Nahrungssucher, große und
kleine Arbeiterinnen, Soldaten erhalten unterschiedliche Anteile. Die Kastendetermination
erfolgt anscheinend meist durch Hemmstoffe der Königinnen, wie überhaupt
Pheromone (Duftstoffe) eine große Rolle spielen; nicht anders als bei den
Bienen gibt es einen Volks- oder Staatsgeruch, und wenn dieser irn Experiment
zum Verschwinden gebracht wird, kommt starke Feindschaft zwischen den Kasten auf,
so daß der Staat in einem »Bürgerkrieg« zugrunde geht.
(Ebd., 1998, S. 80).Normalerweise aber ist der Zusammenhalt sehr
stark; koloniefremde Tiere werden an ihrem Geruch erkannt und sofort angegriffen
und getötet. Durch Absonderung bestimmter Stoffe wird Gefahrenalarm oder
auch Beutealarm gegeben. Nach Klaus Dumpert werden von einigen Arten bei den Kriegen
bzw. der Unterdrückung von Sklaven Propagandastoffe eingesetzt, so daß
dieser Autor den Ausdruck »psychologische Kriegführung« verwendet.
(Ebd., 1998, S. 80-81).Termiten sind weitaus älter als Bienen
und Ameisen; sie existieren schon seit 200 Millionen Jahren und sind in Tausende
von Arten, Hunderte von Gattungen und mehrere Familien eingeteilt. Anders als
Bienen und Ameisen sind sie keine Hautflügler, sondern gehören zur Ordnung
der Schabenartigen. Auch sie sind in Kasten eingeteilt, die in manchen Fällen
sogar genetisch bestimmt zu sein scheinen; aber das männliche Geschlecht
wird in der Regel nicht ausgetilgt und stirbt auch nicht ab; neben der Königin
gibt es einen König, und die beiden Geschlechtstiere bleiben zusammen.
(Ebd., 1998, S. 81).Auch hier sind bei vielen Arten eigene Soldatenkasten
zu finden, auch von Termiten werden Kriege geführt, und eine Art trägt
sogar den Namen »Kriegertermite« (Bellicositermes goliath). Aber in
der Regel richten sich die starken Expansionstendenzen auf die Eroberung neuer
Lebensmöglichkeiten, insbesondere von Holz, welches das Hauptnahrungsmittel
ist. Die Menschen in den Tropen wissen von diesen Eroberungszügen ein Lied
zu singen. Die Bauten der Termiten sind wahre Kunstwerke und können eine
Höhe von mehreren Metern erreichen. (Ebd., 1998, S. 81).Die
Termiten haben aber auch viele Feinde; im zweiten Band von Grzimeks Tierleben
findet sich ein farbiges Bild vom Angriff einer Ameisenart auf einen Termitenbau
in der afrikanischen Steppe, das eine Anschauung vom systematischen, geradezu
»geplant« erscheinenden Charakter dieses Angriffskrieges und der guten
Organisation der Verteidigung gibt. Solche bestürzenden Ähnlichkeiten
mit menschlichen Verhältnissen haben immer wieder zu Vergleichen oder metaphorischen
Wendungen geführt, die in der Antike meist positiv den »Fleiß«
hervorhoben, während im 20. Jahrhundert dieWorte »Ameisenstaat«
und »Termitenstaat« zu schreckerfüllten Wendungen wurden, mit
denen konkrete Gefahren der Zukunft und auch die gegenwärtigen »Totalitarismen«
beschrieben wurden. (Ebd., 1998, S. 81).Freilich gibt es
zwischen Bienen, Ameisen, Termiten und Menschen nur die allgemeine Verwandtschaft
alles Lebens; auf anschauliche Weise aber ist der Mensch mit den Säugetieren
und insbesondere mit den Affen verwandt, und von hier aus gesehen, könnte
der Unterschied kaum größer sein. Keine Art der nicht menschlichen
Säugetiere lebt in Staaten; nirgendwo gibt es eine Einteilung in Geschlechtstiere
und die Überzahl unfruchtbarer Weibchen. Hier spielt im Gegenteil fast stets
das männliche Geschlecht die herrschende Rolle, und die Gruppen sind sehr
klein, meist sogar nur Großfamilien oder Sippen, deren Mitglieder sich untereinander
kennen. (Ebd., 1998, S. 81-82).So lebt zum Beispiel der Mantelpavian
(Hamadryas) in einer »extrem patriarchalen Gesellschaft«, die fest
im Biologischen begründet ist, denn es liegt ein ausgeprägter »Sexualdimorphismus«
vor: die Weibchen wiegen nur halb so viel wie die Männchen und sind daher
an Körperkraft weit unterlegen. (Vgl. Hans Kummer, Weiße Affen am
Roten Meer, 1992, S. 23). Männchen und Weibchen leben aber in festen
Paarbindungen, und selbst das in der Gruppe von etwa 20-30 Köpfen dominierende
»Alpha-Männchen« versucht in der Regel nicht, die »Ehefrauen«
anderer Männchen in Besitz zu nehmen. Für heranwachsende Männchen
ist es indessen meist schwierig, eine eigene Ehefrau zu erwerben, und sie müssen
oft bis tief ins Erwachsenenalter hinein, also etwa bis zum 10. Lebensjahr, unter
weitgehendem »Triebverzicht« leben. Zwischen verschiedenen Clans oder
Banden finden Kämpfe statt, meist um Weibchen, aber von »Kriegen«
kann man nicht sprechen. Auch im Inneren der Gruppe sind Spannungen vorhanden,
vor allem zwischen »ranghohen« und »rangniedrigen« Männchen,
meist allerdings erst dann, wenn das bisherige »Alpha-Männchen«,
das bis dahin seinen Vorrang streng aufrechterhalten und damit zugleich für
Frieden innerhalb der Gruppe gesorgt hatte, alt zu werden beginnt. Aber es gibt
auch »ranghohe« und »rangniedrige« Weibchen, und eine
sehr bemerkenswerte Tatsache ist, daß die Töchter ranghoher Weibchen
nach den Beobachtungen der Forscher die soziale Stellung ihrer Mütter in
der Regel bewahren und also, wie ein Autor schreibt, mit einem silbernen Löffel
im Munde geboren werden. (Vgl. Frans de Waal, Wilde Diplomaten, 1991, S.
95). (Ebd., 1998, S. 82).Daß das stärkere Männchen
sich nicht ohne weiteres das Weibchen eines schwächeren Männchen aneignet,
mag man als Respekt vor dem Besitz anderer Individuen interpretieren. Dagegen
gibt es keine Territorialansprüche der einzelnen Clans, und selbst die größte
Einheit, die Herde von ca. 750 Köpfen, versammelt sich nur während der
Nacht auf den Schlaffelsen, weist aber keinerlei Organisation auf und bricht des
Morgens in Gestalt der einzelnen Clans in alle Richtungen zur Futtersuche auf.
Sogar innerhalb der Clans werden keine »Befehle« erteilt, aber in
aller Regel gibt eins der älteren Männchen die Richtung an. Bei der
Nahrungssuche sind nach den Aussagen der Beobachter erstaunliche Intelligenzleistungen
zu verzeichnen; so kennen nach Hans Kummer die Hamadryas die Stellen, wo ein Felsriegel
das Grundwasser staut, sie graben dort Löcher und warten, bis das Wasser
sie gefüllt hat. Wenn der offene Tümpel von Schmieralgen überzogen
ist, graben sie daneben ein Loch, lassen es vollsickern und trinken gefiltertes
Wasser. (Vgl. Hans Kummer, Weiße Affen am Roten Meer, 1992, S. 326).
Eine Arbeitsteilung kennen sie jedoch nicht; stets zieht die ganze Gruppe aus,
und jeder nimmt die Nahrung, die er oder sie findet bzw. die am nächsten
liegt, von der Versorgung der kleinen Kinder durch die Mütter natürlich
abgesehen. (Ebd., 1998, S. 82-83).Interessant sind die Veränderungen
der Lebensweise, die eintreten, wenn Paviane, wie so häufig, in einem Zoo
leben müssen. Hier lauern nicht auf Schritt und Tritt die Gefahren, welche
jenes Nietzsche-Postulat vom »gefährlichen Leben« für Wildtiere
ganz selbstverständlich sein lassen, und die Nahrungsbeschaffung macht keine
Anstrengungen erforderlich. Die Folge ist ein »Luxurieren«, das Hans
Kummer nicht ausschließlich negativ beurteilt, da es eine Hochblüte
des Sozialen und die Chance der Erfindung von Neuem in sich schließe, aber
es bedeutet doch vor allem den Verlust von Adaptationsfähigkeit »in
entfremdeter Umwelt«, und dem Beobachter drängt sich der Vergleich
zwischen diesen »Heiminsassen, Zwangspensionierten, Berufslosen« und
»Calhouns Mäusen« auf, die »bei unbegrenztem Nahrungsangebot
auf begrenztem Raum gehalten wurden, bis sie schließlich infolge eines komplexen,
schrittweisen Zerfalls ihres Sozialverhaltens ausstarben, wohl genährt, aber
sozial unfähig«. (Hans Kummer, Weiße Affen am Roten Meer,
1992, S. 179, 183). (Ebd., 1998, S. 83).Als die intelligentesten
unter den Menschenaffen gelten durchweg die Schimpansen, und sie sind auch die
besterforschte Art. In den Zoologischen Gärten bieten sie sich der genauen
Beobachtung durch Forscher, die ihr Leben Minute für Minute verfolgen, geradezu
an, und Jane Goodall hat viele Jahre ihres Lebens im Nationalpark von Gombe verbracht,
um die freilebenden Schimpansen zu beobachten und in gewisser Weise deren Leben
zu teilen. Sie konnte sich auf die Ergebnisse vieler Forscher stützen, die
meist unter den Bedingungen der Zivilisation gearbeitet hatten, von Otto Köhler
angefangen, der in seinen berühmten Experimenten gezeigt hatte, daß
Schimpansen über eine Art technisches Verständnis verfügen und
einfache Werkzeuge wie Bambusstäbe nicht nur verwenden, sondern in gewisser
Weise sogar herstellen, indem sie z.B. solche Stäbe ineinanderstecken, um
an eine entfernte Frucht zu gelangen. Seitdem war eine Fülle von Versuchen
angestellt worden, und es war sogar gelungen, in ingeniösen Verfahrensweisen
Schimpansen Teile der Taubstummensprache und ein Verständnis für sprachliche
Kategorien wie »Alle -keiner« und »wenn -dann« beizubringen
(Ebd., 1998, S. 83).Jane Goodall entdeckte nun auch bei den freilebenden
Schimpansen Überlegung und Abstraktionsfähigkeit sowie »innovative
Akte«, und mit dem Blick auf den Menschen kommt sie zu dem Ergebnis: »Der
Mensch steht nicht in isoliertem Glanz da.« (Jane Goodall, Die Schimpansen
von Gombe, 1986, S. 40). In ihrer sozialen Struktur sind Schimpansengemeinschaften
hierarchisch, männlich dominiert und territorial ausgerichtet, nicht selten
also kriegerisch. (Ebd., 1998, S. 83-84).Mit großer
Sympathie wird von manchen Forschern die Gesellschaft der Bonobos oder Schimpansenpygmäen
betrachtet, deren Motto nach Frans de Waal lautet: »Make love, not war!« (Frans
de Waal, Wilde Diplomaten, 1991, S. 183). Bei ihnen vollzieht sich das
Geschlechtsleben weitgehend unabhängig von der Reproduktion, da die Weibchen
fast 75% der Zeit in dem sexuell attraktiven Zustand der Genitalschwellung sind.
Die wichtigste Funktion der Sexualität bei den Bonobos ist die Konfliktlösung;
die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ist groß, bisexuelle Kontakte
und Gruppensex sind häufig, werden aber nie erzwungen, und im ganzen bietet
sich den Beobachtern eine Gesellschaft dar, die durch »bemerkenswerte Freundlichkeit
und Sanftmut« (ebd., S. 221) zu charakterisieren ist: »Das klingt
nach einer utopischen Gesellschaft«, schreibt Jane Goodall, »und im
Vergleich damit sieht es so aus, daß die Schimpansen von Gombe noch einen
langen Weg vor sich haben«. (Jane Goodall, The Chimpanzees of Gombe,
1986, S. 484f.). (Ebd., 1998, S. 84).Offenbar
haben auch und gerade die Menschen nach der Meinung mancher Tierforscher noch
einen langen Weg vor sich, und vielleicht wäre es nicht allzu übertrieben,
wenn man als deren Maxime den Satz formulierte: »Wenn ihr nicht werdet wie
die Bonobos, könnt ihr in das irdische Paradies nicht eingehen.« Mithin
gäbe es bei einigen Tieren - anscheinend im Gegensatz zu dem, was am Ende
des letzten Kapitels (**)
dargelegt wurde - doch »Utopie«, aber nicht wie beim Menschen als
Vorstellung oder Ideal, sondern als Wirklichkeit. Darauf ist weiter unten zurückzukommen.
(Ebd., 1998, S. 84).
Zunächst aber ist die Frage zu stellen:
Müßten nicht auch Paviane, Schimpansen und Bonobos noch einen
weiten Weg zurücklegen - wenn es denn ein Weg ist -, bis sie zum
Menschen gelangen? Haben sie schon einen Anfang gemacht, obwohl sie doch
jedenfalls von der »Staatlichkeit«, welche Ameisen und Termiten
bereits zu besitzen scheinen, noch so außerordentlich weit entfernt
sind? Ihre Intelligenz allein würde keinen solchen Schritt bedeuten,
wenn sie seit 20 Millionen Jahren dieselbe geblieben wäre oder wenn
die Tiere dadurch nur in die Lage versetzt worden wären, eine zutreffende
Raumanschauung für das Leben auf den Bäumen und im Urwald zu
entwickeln. Selbst der Umstand, daß nicht selten kleine Stöckchen
verwendet werden, die sie in Termitenbauten stecken, um Termiten herauszuangeln,
oder der Gebrauch von Steinen, um harte Fruchtschalen zu zerschlagen,
wäre nur ein Beweis von Intelligenz, aber noch kein Schritt auf dem
Weg zum Menschen, d.h. zur Geschichte. (Ebd., 1998, S. 84).
Ein Gedankenexperiment
mag weiterführen: Es ist gut bezeugt, daß einige Menschenaffen von
sich aus gelernt oder eingesehen haben, wie man erdige Kartoffeln schmackhafter
machen kann: indem man sie nämlich in Wasser wäscht. (Vgl. Kindlers
Enzyklopädie - Der Mensch, Band I, S. 486 [Hans Zeier]). Kein Instinkt
kann diesen Affen befohlen haben, die Kartoffeln auf solche Weise zu behandeln,
denn viele andere Affen tun dergleichen nicht. Stellen wir uns nun vor, eine Schimpansensippe
gäbe dieses Verfahren an ihre Kinder weiter, und diese übermittelten
es ihrerseits an ihre Nachkommen. Dann würde es eine kartoffelwaschende Schimpansensippe
geben, die von den nicht-kartoffelwaschenden Schimpansensippen der Umgebung in
diesem Punkt wesentlich verschieden wäre. Vielleicht würde die vierte
Generation auf den Gedanken kommen, die gewaschenen Kartoffeln mit einem spitzen
Stein durchzuschneiden oder gar zu schälen. Diese Schimpansensippe würde
dann ein Leben führen, das weder aus ihren Instinkten noch auch aus ihrer
Intelligenz zureichend abzuleiten wäre, so gewiß Instinkte und Intelligenz
die Voraussetzung sein würden. Die Tradition müßte in jeder Generation
neu erworben und aktualisiert werden, und mancher einzelne Schimpanse könnte
sie eines Tages als Last empfinden, da es doch Mühe und eine Art von Verzicht
erfordert, die lockende, wenngleich schmutzige Kartoffel, nicht sofort in den
Mund zu stecken. (Ebd., 1998, S. 84-85).Haben wir nicht die
Geschichte und mindestens die Vorgeschichte des Menschen vor Augen, wenn wir uns
vorstellen, eine affenähnliche Art von Lebewesen schlüge diesen »unnatürlichen«,
nicht bloß instinkthaften Weg ein und setzte ihn fort, wenngleich vielleicht
mit äußerster Langsamkeit, indem sich über die bloße Bewahrung
und Weitergabe der Tradition hinaus nur in jeder tausendsten Generation ein »Fortschritt«
vollzöge? Stände am vorstellbaren Ende dieses Weges vielleicht keineswegs
»der nackte Affe«, wie es der Biologismus von Desmond Morris will
(vgl. ders., Der nackte Affe, 1968), sondern ganz im Gegenteil eine Verschmelzung
der Staatlichkeit der Ameisen und der Intelligenz der Affen, eine Figur, die man
den »Ameisenaffen« nennen könnte? (Ebd., 1998, S.
85).Aber auch mit diesem Begriff verharren wir in einem biologistischen
Denken. Für uns wird ständig ein Rückbezug auf die Tierwelt und
auch auf die Evolution nötig sein - deshalb haben wir sie, wenngleich in
äußerster Kürze, zum Thema gemacht, und niemand wird daran zweifeln,
daß »das Tierische« im Menschen mächtig bleibt und daß
die »Cerebralisation« als Vorgang der Evolution für ihn grundlegend
ist -, aber wir befinden uns nun unmittelbar vor der »eigentlichen Geschichte«,
die zwar noch nicht notwendigerweise mit der »Menschwerdung« beginnt,
aber diese doch zur elementarsten Voraussetzung hat. (Ebd., 1998, S. 85).
9) Probleme der MenschwerdungBevor man von den »Problemen
der Menschwerdung« spricht, sollte man sich daran erinnern, daß im
christlichen Kulturkreis anderthalb Jahrtausende lang immer wieder und in überaus
feierlicher, auch für einfache Menschen höchst einprägsamer Form
von »Menschwerdung« die Rede war - aber nicht von der Menschwerdung
eines Lebewesens, das Millionen von Jahren hindurch noch kein Mensch, sondern
ein Tier war, sondern von der Menschwerdung Gottes, genauer gesagt: des Gottessohnes
als der zweiten Person der Trinität, welcher Fleischesgestalt annahm, um
durch seine Lehre, seinen Tod am Kreuze und durch seine triumphale Auferstehung
das Menschengeschlecht zu erlösen. »Et incarnatus est de Spiritu Sancto
ex Maria virgine: Et homo factus est«, lautete ein zentraler Satz des katholischen,
aber in der Sache allen christlichen Konfessionen gemeinsamen Glaubensbekenntnisses.
Was mußten das für herausgehobene Wesen sein, um deretwillen Gott selbst
zur Erde hinabstieg; wie tief mußten diese Wesen sich aber in Irrtum und
Schuld verstrickt haben, daß ein solches Rettungs- und Erlösungswerk
notwendig war! (Ebd., 1998, S. 86).Gerade aus dieser
Perspektive wird das Entsetzen abermals verständlich, das keineswegs bloß
Kirchengläubige in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfaßte, als einige
Naturforscher behaupteten, der Mensch »stamme vom Affen ab« und es
sei unvergleichlich mehr Zeit erforderlich gewesen, daß er »zum Menschen
wurde«, als die 4000 Jahre, die nach fast allgemeiner Überzeugung seit
der Weltschöpfung vergangen waren: Hunderttausende, ja Millionen, vielleicht
sogar Milliarden von Jahren, denn auch die Affen existierten nicht seit dem Anbeginn
der Zeiten, sondern hatten sich wie die anderen Primaten aus Vorformen und letztlich
wohl gar aus einer Art Urschleim entwickelt! (Ebd., 1998, S. 86).Diese
Lehre von der »Menschwerdung« bedeutete also einen Sturz in den Abgrund:
die Vernichtung des Gottesgeschöpfes, des »Ebenbildes Gottes«,
des Gefäßes göttlicher Einwohnung, und an dessen Stelle wurde,
so schien es, ein Wesen sichtbar, das die Reißzähne und die Krallen
seiner Vorfahren zwar verloren hatte und ein Gesicht statt einer Schnauze besaß,
das aber immer noch von der Gier und der Kampfeslust seiner Herkunft erfüllt
war und nichts »Göttliches« oder »Gottähnliches«
an sich hatte. (Ebd., 1998, S. 86).Doch es sollte auch nicht
vergessen werden, daß der Mensch in der christlichen Tradition keineswegs
ein irdischer Gott und nicht einmal ein zeitweise in die Finsternis verbanntes
Geistwesen war, sondern daß er nach der Erzählung der Genesis am »sechsten
Tag« gleichzeitig mit den Kriechtieren und den Tieren des Feldes geschaffen
wurde, und es war schwerlich eine Strafverkündung, sondern eher eine ontologische
Aussage, als Gott nach der ersten und entscheidenden Sünde zu ihm sagte:
»Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück.« Die Herkunft
des Menschen aus der Natur - und sogar aus deren allerniedrigsten Schichten -
ist also im Christentum durchaus kein unvollziehbarer Gedanke, so schwierig es
auch zu sein scheint, ihn mit jenem ersten Gedanken der unvergleichlichen Würde
des Menschen zu vereinigen. (Ebd., 1998, S. 86-87).Im Jahre
1856 entdeckte der Naturforscher Johann Carl Fuhlrott in der Nähe von Düsseldorf
Bruchstücke eines Skeletts, das ihm der Überrest eines urzeitlichen
Menschen zu sein schien und über das er 1859, im Jahr des Erscheinens von
Darwins Buch, in den Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins der preußischen
Rheinlande und Westphalens einen Aufsatz mit dem Titel »Menschliche Überreste
aus einer Felsengrotte des Düsseltales« veröffentlichte. Dieses
Skelett wies viele befremdliche Kennzeichen auf: über den Augen sprangen
große Wülste hervor, die Stirn war flach, das Kinn fliehend, und das
Oberschenkelbein war leicht gebogen; im ganzen vermittelte es den Eindruck eines
sehr massigen und tierähnlichen Wesens. Schon bald tauchten Zeichnungen auf,
die das Fehlende ergänzten, und es erschien eine Kreatur, die in der Mitte
zwischen Gorilla und Mensch zu stehen schien, eine Kreatur, von der man sich gut
vorstellen konnte, daß sie zarte Frauen raubte und in die Tiefen der Wälder
verschleppte. (Ebd., 1998, S. 87).Daß es sich um einen
urzeitlichen Menschen handle, wurde durchaus nicht gleich allgemein anerkannt,
und kein Geringerer als Rudolf Virchow erklärte, es müsse sich um einen
rachitischen Idioten handeln, der vor einigen Jahrzehnten oder höchstens
Jahrhunderten verscharrt worden sei. So wurden schon hier die Schwierigkeiten,
vor denen die Paläoanthropologie steht, sehr deutlich: Fast stets wurden
bloß Bruchstücke gefunden, und manchmal waren sogar Fälschungen,
wie bei dem sogenannten Piltdown-Menschen (vgl. Kindlers Enzyklopädie
- Der Mensch, Band II, S. 100) nicht auszuschließen, und wie sollte
eine Zeitbestimmung vorgenommen werden, da doch alle schriftlichen Zeugnisse und
mithin auch jene Erwähnungen von Sonnen- oder Mondfinsternissen fehlten,
die für die ebenfalls ungemein schwierige »absolute Chronologie«
weit späterer Zeiten so hilfreich sind. (Ebd., 1998, S. 87).Kurz
nach Fuhlrotts Entdeckung wurden zahlreiche andere Fossilien von Menschen oder
menschenähnlichen Wesen gefunden, und man vermutete bald, daß sie in
noch weit ältere Zeiten gehörten als der Neandertaler, so etwa der »Homo
heidelbergensis « oder der »Homo pekinensis« oder am Ende der
»Australopithecus robustus afarensis« .... Die spezifischen Möglichkeiten
der Archäologie waren gering, denn es gibt zwar Kennzeichen des Gebisses,
die bei keinem Tier vorkommen, etwa das Fehlen der Eckzähne oder die Fünfhöckrigkeit
der Molaren, aber über das Alter und die Einordnung entbrannte häufig
Streit unter den Forschern. (Ebd., 1998, S. 87-88).Ein entscheidender
Schritt wurde erst getan, als die Naturwissenschaften, zumal die Physik und die
Chemie, zu Hilfe gerufen werden konnten, denn diese hatten Methoden der Altersmessung
entwickelt, welche sich ganz erheblich etwa von dem Abzählen der Jahresringe
alter Bäume unterschieden, das natürlich nur für relativ junge
Zeiten Ergebnisse brachte. Die Lösung resultierte aus der Erkenntnis des
Zerfalls eines radioaktiven Isotops des Kohlenstoffs, welches sich in allen organischen
Verbindungen mit einem hohen Maß an Sicherheit bestimmen läßt.
Bei nichtorganischen Materialien wie Gesteinen findet die Kalium-Argon-Methode
Anwendung, bei der die Halbwertzeit weitaus länger ist, so daß sich
ein Blick in Zeiten von vielen Hunderttausend und Millionen Jahren eröffnet.
Zwar sind Ungenauigkeiten nicht auszuschließen, aber im großen und
ganzen ist der Forschung durch diese naturwissenschaftlichen Methoden ein ausgezeichnetes
Mittel der absoluten Zeitbestimmung an die Hand gegeben. So wissen wir heute,
daß die Neandertaler, die inzwischen an vielen Stellen der Welt gefunden
wurden, in der Zeit von etwa 100000 (bzw. 500000 oder noch
früher! HB) bis 40000 (bzw. 30000 oder
25000! HB) v. Chr. lebten, und es liegen Rekonstruktionen bzw. Bilder
vor, die einen weitaus sympathischeren, dem Erscheinungsbild des heutigen Menschen
viel mehr benachbarten Eindruck vermitteln als jene ersten Schreckenszeichnungen.
(Ebd., 1998, S. 88).Aber es gibt in der Paläoanthropologie
auch heute noch genug Kontroversen, und das Schädelfragment oder das halbe
Gebiß, das für den einen Forscher von einem Menschen stammt, gehört
für einen anderen oft genug noch ins Tierreich. Das kann auch kaum anders
sein, da man sich weitgehend auf den Begriff »Tier-Mensch-Übergangsfeld«
geeinigt hat, in Analogie zum »abiotisch-biotischen Übergangsfeld«
an den Anfängen des Lebens, womit ein sehr viel komplexeres Bild der Entwicklung
gezeichnet wird, das eher einem Baum als einer Linie vergleichbar ist und auch
tote Äste und absterbende Seitenzweige aufweist. So gut wie allgemein anerkannt
ist, daß der Mensch nicht »vom Affen abstammt«, sondern daß
die heutigen Affen und Menschenaffen sowie der Mensch gemeinsame Vorfahren besitzen,
denen hier und da sogar eine größere Menschenähnlichkeit zugeschrieben
wird, als die heutigen »Pongidae« sie besitzen. So konnte sogar die
paradoxe These aufgestellt werden, der Affe stamme vom Menschen ab, d.h. die Affen
seien hoch spezialisierte und nicht weiter entwicklungsfähige Wesen, während
der Mensch im Hauptstrom der Entwicklung seinen Platz habe - man kann sich also
inmitten der modernen Forschung doch hin und wieder an Henri Bergsons »schöpferische
Entwicklung« erinnert fühlen. (**).
(Ebd., 1998, S. 88-89).Es soll jetzt nicht eine Aufzählung
der vielen Funde wie etwa des Homo steinbergensis und des Schädels
von Swanscombe und ihrer verdienstvollen Entdecker in der Nachfolge von Fuhlrott
wie Raymond Dart und Louis Leakey vorgenommen werden, sondern es genügt,
ohne Erörterung der Schwierigkeiten und Unvollkommenheiten die wichtigsten
Gattungen aufzuzählen, die dem »Tier-Mensch-Übergangsfeld«
vorausgehen bzw. ihm zugezählt werden. Da ist der »Ramapithecus«,
der vielleicht bis ins Miozän vor 15 Millionen Jahren zurückreicht und
vielfach schon zu der Überfamilie der Hominoidea, der Menschenähnlichen,
gezählt wird, da ist dessen Nachfahre, der »Australopithecus«,
also »Südaffe«, der möglicherweise schon vor 5 Millionen
Jahren lebte, und da ist schließlich der »Homo erectus«, der
vor etwa 1,3 Millionen Jahren (bzw. vor 1,9 Millionen Jahren!
HB) in Ostindien und Afrika auftaucht. Möglicherweise haben am
Rande der Serengetisteppe, wo Louis Leakey seine bahnbrechenden Entdeckungen machte,
tierische »Australopithecinae« und menschliche »Homines erecti«
für Hunderttausende von Jahren nebeneinander gelebt. Dem »Homo erectus
pekinensis« schreibt man den Gebrauch des Feuers zu, und um etwa die gleiche
Zeit, ... sind die an verschiedenen Stellen gefundenen Fossilien und Werkzeuge
so eindeutig nicht-tierisch, daß Stilbegriffe wie Abbévillien und
Acheuléen Verwendung finden. (Ebd., 1998, S. 89).Aber
selbst der Neandertaler gilt noch nicht als »Homo sapiens sapiens«,
vielmehr erscheint dieser nach der herrschenden Meinung erst um etwa 35000 v.
Chr. in der Gestalt des »Cro-Magnon-Menschen«. Von ihm stammen jene
Höhlenbilder in Nordspanien und Südfrankreich, die ein Künstler
der Gegenwart mit den damaligen technischen Mitteln schwerlich schöner und
eindrucksvoller herstellen könnte. Unzweifelhaft ist »der Mensch«
jetzt »da«, und ein unmittelbares Verständnis scheint den Menschen
des 20. Jahrhunderts mit ihm zu verbinden. Aber gleichwohl ist die Frage nicht
abzuweisen, ob dieser Mensch schon »Geschichte« hat oder ob er in
einer Existenzweise lebte, die man »vorgeschichtlich« nennen muß.
(Ebd., 1998, S. 89).Die Phasen oder Zeitalter der Vorgeschichte
werden im nächsten Kapitel (**)
zu behandeln sein; hier soll ... von einer genaueren Nachzeichnung der »Menschwerdung«,
wie die Paläoarchäologie sie darstellt, verzichtet und eine eher systematische
Aufstellung von »Momenten« vorgenommen werden, die insgesamt mindestens
zu einem wesentlichen Teil vorhanden sein müssen, wenn vom »Menschen«
gesprochen werden soll. (Ebd., 1998, S. 89).Die elementarste
der Voraussetzungen, die der Natur zu verdanken sind, ist die Hineingehörigkeit
in den übergreifenden Prozeß der »Cerebralisation« und
damit der Steigerung einer »Intelligenz«, die sich an den verschiedensten
Stellen des Tierreichs und nicht etwa ausschließlich bei Primaten beobachten
läßt. Aber sogar hier kommen triviale Naturfakten und auch möglicherweise
in gewissem Ausmaß tierisch-menschliche Aktionen ins Spiel. So besteht die
Wahrscheinlichkeit, daß am Ausgang des Tertiärs infolge klimatischer
Veränderungen große Teile des Waldes, in dem die Australopithekinen
oder Vormenschen bis dahin gelebt hatten, abstarben und sich in Steppengebiete
verwandelten; wenn der Vormensch in einer so tief veränderten Situation überleben
wollte, durfte er nicht mehr vierfüßig inmitten der Bäume leben,
sondern er mußte zum Zweifüßer werden, die »Bipedie«
entwickeln, um über das Steppengras hinaussehen und Beute sowie Feinde wahrnehmen
zu können. Dadurch konnten die Hände, da sie zur Fortbewegung nicht
mehr benötigt wurden, nun etwa zur Signalgebung benutzt werden. (Ebd.,
1998, S. 90).Die Annahme liegt nahe, daß mit der größeren
Gefährdung im offenen Felde eine Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit
und der Intelligenz Hand in Hand ging. Diese Anpassung mochte viele Tausende von
Generationen in Anspruch nehmen, und wahrscheinlich erhielt der Vorgang des Lehrens
und des Lernens darin größere Bedeutung, denn zweifellos war dieses
Wesen nicht »von Natur« aus biped, sondern die Jungen mußten
das lebensrettende Laufen und Rennen von den Eltern lernen. (Ebd., 1998,
S. 90).
Aber die Zweifüßigkeit allein macht
so wenig schon den Menschen aus wie die allmähliche Schärfung
der Intelligenz: Einige Dinosaurier waren zweifüßig, die Strauße
sind es bis heute, und auch Schimpansen können lernen, gefährliche
Plätze zu vermeiden. Es war weiterhin ausschließlich die Natur,
die den »aufrechtgehenden Affen« sein Haarkleid verlieren
ließ und ihn damit, um den Terminus von Desmond Morris zu verwenden,
zum »nackten Affen« machte. (Ebd., 1998, S. 90).
Aber der Konsequenzen dieser Nacktheit mußte
sich der Mensch selbst erwehren, denn ohne eine Reaktion wäre er in den Kaltzeiten
mindestens auf der nördlichen Halbkugel zugrunde gegangen. Hilfe gegen die
todbringende Kälte konnte nur Kleidung geben, selbst wenn sie bloß
aus einem Tierfell bestand; zwar mochten auch Höhlen Schutz bieten, aber
in ihnen ließ sich der Lebensunterhalt nicht erwerben. Auch wenn lediglich
Früchte und Wurzeln gesammelt wurden, war Bedeckung unentbehrlich: der »nackte
Affe« mußte zum »bekleideten Affen« werden, und damit
war ein weiteres Unterscheidungsmerkmal gegenüber den waldbewohnenden Vettern
gegeben, wenngleich kein absolutes, denn auch Schimpansen und Gorillas bauen sich
eine Art Hütten in den Kronen der Bäume und bedecken gelegentlich, möglicherweise
eher scherzhaft, einige Körperteile mit Blättern oder Zweigen.
(Ebd., 1998, S. 90-91).Auch das Leben in einer Gruppe und die Sorge
für die Nachkommen sind noch nicht spezifisch menschlich; abgestufte Verantwortlichkeiten,
»Hierarchien«, gibt es auch bei Pavianen, auch bei Schimpansen kennen
Mütter und Kinder einander, auch bei Pavianen werden Paarbeziehungen und
insofern Besitzverhältnisse weitgehend respektiert, auch bei Gorillas sind
die Jungen lange Zeit hilflos und bedürfen der Pflege und Achtsamkeit. Aber
der von Natur aus nackte Affe mußte die »Vorkultur« noch weiter
treiben, wenn er sich einigermaßen geschützt fühlen wollte: Schon
der im Geröll gefundene faustkeilartige Stein kann eine Waffe darstellen
und der Selbstverteidigung dienen, und von da ist der Weg nicht mehr weit bis
zur Jagd. Es ist unwahrscheinlich, daß die nackten und daher bekleideten,
in Verwandtschaftsgruppen lebenden, sich mit primitiven Waffen verteidigenden
»Affen« jemals bloße Sammler waren; vermutlich waren Stöcke
mit aufgesetzten Steinspitzen, »Speere«, die ersten Jagdund damit
Angriffswaffen. Nur solche Spitzen werden von den Paläoarchäologen entdeckt,
aber nicht Kleidungsstücke oder Holzspeere, und sie sind oftmals von naturgeformten
Spitzen nicht leicht unterscheidbar. (Ebd., 1998, S. 91).Es
besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß schon sehr früh, vielleicht
um das Jahr 500000 (m.E. bereits um 2 Mio.! HB),
die Männer einer Horde zur Jagd auf eßbare Tiere auszogen, und zwar
zur gemeinsamen Jagd, so daß eine Aufgabenteilung - etwa zwischen Treibern
und Speerwerfern - nahelag. Die Frauen und Kinder sowie die älteren Männer
blieben aber vermutlich am Lagerplatz zurück, anders als bei den Pavianen,
vielleicht für mehrere Tage; daher mußte jener Respekt vor dem »Besitz«
der Abwesenden sich noch stärker ausprägen als bei Pavianen, und es
ist so gut wie sicher, daß der erfolgreichste Jäger eine führende
Rolle in der Gruppe spielte, die Verteilung der Jagdbeute vornahm und gegebenenfalls
Sanktionen festlegte. (Ebd., 1998, S. 91).Aber selbst die
bewaffneten und jagenden Vormenschen unterschieden sich noch nicht wesentlich
von Affen und Menschenaffen. Das erste absolut kennzeichnende, nicht aus bloßer
Verstärkung und Intensivierung von Vorhergegangenem resultierende Merkmal
dürfte der Gebrauch des Feuers gewesen sein. Arnold Gehlen spricht von der
»unüberwindlichen, triebhaften Furcht eines jeden Tieres vor Feuer«
(Arnold Gehlen, Der Mensch, 1940, S. 125). Spuren von Feuer sind, wie erwähnt,
erstmals bei den Wohnstätten des »Homo pekinensis« gefunden worden.
Wie diese frühen Menschen zum Gebrauch des Feuers gelangten, wissen wir natürlich
nicht. Es ist so gut wie ausgeschlossen, daß sie es selbst entzündet
haben, und aus der Ethnologie ist bekannt, daß primitive Stämme noch
in der nahen Vergangenheit kleine Feuerstellen, die durch Blitzeinschlag entstanden
sein mochten, gleichsam auflasen und an ihren Lagerstätten sorgfältig
hüteten und nährten, ja daß sie die Wärmequelle sogar in
ausgehöhlten Stämmen bei Wanderzügen mitnahmen, um im Besitz eines
»ewigen Feuers« zu sein. (Ebd., 1998, S. 91-92).Der
nächste Schritt war dann das Kochen und der übernächste das Entzünden
von Feuer, etwa durch Bohrbewegungen von hartem in weichem Holz. Das bekleidete,
bewaffnete, jagende, gegebenenfalls auch seefahrende, mit dem Feuer vertraute
und fleischkochende Wesen unterschied sich in der Kombination all dieser Merkmale
nicht mehr bloß graduell, sondern essentiell von allen Tieren. Was bei einigen
Tieren aus gutem Grund als »Vorkultur« bezeichnet wird und was auch
dort nur durch Lehren und Lernen übermittelt werden kann, hat hier einen
Umfang angenommen, der es gerechtfertigt sein läßt, von »Kultur«
zu sprechen und diese Kultur von einer gegebenen »Natur« zu unterscheiden.
(Ebd., 1998, S. 92).Aber diese Kennzeichen - Bipedie, Kleidung,
Jagd, Feuer, Kochen, Bewaffnung, Familienverhältnisse - genügen offenbar
nicht, um den Frühmenschen zu beschreiben. Es fehlt noch die Sprache, und
diese kann sicherlich kein Merkmal sein, das zu den übrigen nachträglich
und als eine Art Krönung hinzukommt; sie durchdringt, ja ermöglicht,
wie es scheint, die anderen Merkmale, soweit sie nicht nur natürlich sind.
Als bloßes Medium von Kommunikation gibt es »Sprache« auch bei
Tieren. So stoßen z.B. die Grünen Meerkatzen etwa zehn verschiedenartige
Laute aus, die jeweils etwas Bestimmtes bedeuten wie das Auftauchen eines Raubvogels,
einer Schlange oder eines Menschen. Es handelt sich also um Ausdrücke der
Warnung vor unterschiedlichen Feinden bzw. Gefahren, die von allen Angehörigen
der Art sofort verstanden und durch bestimmte Reaktionen, vornehmlich die Flucht,
beantwortet werden. Den Jungen ist dieses Verständnis aber nicht in die Wiege
gelegt; sie müssen es erst lernen, und sie bezahlen das Nichtverstehen oft
mit ihrem Leben. (Ebd., 1998, S. 92).Alle Tiere sind in je
spezifische, d.h. zur Spezies gehörige, Kommunikationssysteme eingebunden,
und einige Naturwissenschaftler lassen »Erkenntnis« bis in die untersten
Bereiche des Lebens hinabreichen, etwa bis in das »Ablesen« der in
der DNS »kodierten Erbinformation« durch die Proteine des Phänotyps.
Aber die menschliche Sprache, die zwar auch Interjektionen, Ausdrücke des
Schmerzes oder Staunens und Anweisungen durch bloße Laute enthält,
ist vor allem Wortsprache und damit auch schon Satzsprache: Nicht Bedeutungshaftigkeit
als solche zeichnet sie aus, sondern das Fixieren und das In-Beziehung-Setzen
von Bedeutungen. Darin erfolgt eine »Objektivierung«; das Bezeichnete
- Dinge, Personen und auch Kategorien - wird von der jeweiligen und konkreten
Situation potentiell gelöst. Deshalb kann es der Erinnerung übergeben
und auf die Zukunft bezogen werden; um den Menschen herum tut sich eine Welt auf,
die aus Vergangenem kommt und in Zukünftiges vorausweist. So wird eine Erzählung
von den Vorfahren möglich und zugleich eine Projektierung der Zukunft. Die
aber stößt auf ein Unüberschreitbares, Allverbreitetes, das offenbar
nur einem einzigen unter allen Wesen bewußt ist, auf den Tod des sich erinnernden
und projektierenden Einzelnen. (Ebd., 1998, S. 92-93).Sprache
und Todesbewußtsein gehören zueinander. In eins damit ist dem sprechenden
Todgeweihten eine noch viel umfassendere Dimension erschlossen: Ein Weltbewußtsein
umgreift das Todesbewußtsein, so eng die konkrete Lebenswelt auch sein mag,
denn dieses Wesen weiß, was jedes andere Wesen nur »lebt«: daß
es nicht das Ganze ist und daß es diesem Ganzen konfrontiert ist. Daher
blickt der Mensch nicht bloß witternd in die Höhe und lauscht er nicht
nur mißtrauisch in die Ferne, sondern er benennt die Macht, von der sein
Geschick abhängt, er spricht sie als Gott oder als Götter an; er erfleht
von Gott oder den Göttern Gelingen, und er sucht durch Anrufung, vielleicht
schon durch die Darbietung von Opfern Gefahren abzuwenden; gerade indem er sich
vor einem Unverstandenen fürchtet, etwa vor dem geisterhaften Fortleben von
Verstorbenen, die er deshalb rituell begraben oder kultisch verehren mag, legt
er ein fundamentales Verständnis an den Tag. (Ebd., 1998, S. 93).Meist
hat man diese Haltung des Menschen Religion genannt, heute sprechen die Philosophen
häufig von »Weltoffenheit«. Weltoffenheit kann es ohne Sprache
ebensowenig geben wie Denken; Sprache und Religion bedingen einander; und wenn
der Mensch nicht ... Religion gehabt hätte, würde er heute keine Wissenschaft
in jenem Weltsinne treiben können, die man vielleicht die götterferne
und gottlose Religion des Menschen der Neuzeit nennen mag, denn auch diese Wissenschaft
stützt sich auf das Nachdenken der Philosophen über das Eine und das
Viele, das Ganze und seine Teile, das Wesen und die Erscheinungen. Man könnte
sagen: Wenn irgendwo Tiere sich zur Beerdigung einer Leiche versammelten und dabei
die Köpfe zur Sonne erhöben, um durch Gesten oder Laute Bitten zum Ausdruck
zu bringen, so wären sie nicht mehr Tiere, sondern Menschen. (Ebd.,
1998, S. 93).Sprache und Religion sind
- oder waren (? HB) - die Hauptkennzeichen
des Menschen, und wenn die Gruppen bewaffneter, jagender und kochender Vormenschen
ohne Sprache und Religion gewesen wären, so hätten sie die Grenze zum
Menschen noch nicht überschritten. In Wahrheit aber ist der Mensch diese
Überschreitung selbst, und er bleibt ein Überschreitender, der im Welt-
oder Gottes- oder Götterbewußtsein die Grenzen seiner jeweiligen Lebenswelt
immer schon überschritten hat und sie daher auch konkret immer weiter hinausschieben
kann. Mithin ist der Mensch durch »Transzendenz« zu bestimmen, d.h.
Transzendieren oder Überschreiten, und zwar durch eine doppelte Art von Transzendenz:
das Überschreiten der jeweiligen und vielleicht überaus engen Lebenswelt
auf einen »Welthorizont« hin, der sich als bloße, die Lebenswelt
anscheinend nur »spiegelnde« Götter- und Dämonenwelt darstellen
mag, und das praktische Vorschieben der Grenzen dieser Lebenswelt, das für
Hunderttausende von Jahren kaum wahrnehmbar sein kann. Der Welthorizont ist nicht
sichtbar oder berührbar, er existiert nur in der Abstraktion von der Konkretheit
der jeweiligen Lebenswelt und ist doch die Voraussetzung dafür, daß
es sich um eine menschliche Lebenswelt handelt, denn in dieser ist Abstraktion,
Nicht-Gegenwärtiges, immer schon gegenwärtig. Wenn man »Theorie«
als ein »Hinaus-« und »Vorausblicken« und nicht als wissenschaftliches
Erklärungssystem versteht, darf man die theoretische Transzendenz von der
praktischen unterscheiden und muß doch ihre innerste Zusammengehörigkeit
konstatieren. (Ebd., 1998, S. 93-94).Zu welchem Zeitpunkt
Sprache und Religion ihren Anfang genommen haben, ist in der Wissenschaft umstritten;
manche Gelehrte schreiben schon den Australopithekinen die Möglichkeit von
Sprache zu (m.E. war Homo erectus der erste »kompetente
Sprecher«! HB); andere bezweifeln aufgrund von präsumtiven
Gegebenheiten des Nasen- und Rachenraums, daß die Neandertaler Sprache besaßen.
Es ist jedoch schon längst der Nachweis erbracht, daß sie ihre Toten
begruben und Blumen und Speisen hinzugaben, daß sie mithin an irgendeine
Art von Fortexistenz glaubten. Diejenigen, die den Neandertalern keinen »vollmenschlichen«
Status zubilligen, schließen es aber in der Regel nicht aus, daß lange
vor diesen schon Menschen gelebt haben, welche Vorfahren der Cro-Magnon-Menschen
und also »höher entwickelt« waren. Es wird mithin vermutlich
richtig sein zu sagen: Weder die Sprache noch die Religion wurden zu einem bestimmten
Zeitpunkt erfunden; nur wenn sie als Hauptmomente mit jenen anderen Momenten der
Bipedie, der Kleidung, des Kochens, der Bewaffnung, der Jagd, der Familien- oder
Hordenhaftigkeit zusammenkommen, ist die Menschwerdung zum Abschluß gelangt
und das Menschsein erreicht. (Ebd., 1998, S. 94).Daher ist
der Ausgang aus dem »Tier-Mensch -Übergangsfeld« weder im Raum
zu lokalisieren noch in der Zeit zu fixieren; die Vermutung ist zulässig,
daß schon in frühen Formen des Homo erectus alle Momente vereinigt
waren, und die These ist nicht apodiktisch abzuweisen, daß selbst der feuerverwendende
Peking-Mensch noch nicht durch die Sprache auf die Welt hin geöffnet, d.h.
nicht religiös und mithin noch nicht im vollen Sinne ein Mensch, war. Aber
auch der Cro-Magnon-Mensch, dem niemand die Qualität des Vollmenschen aberkennt,
lebte nach nahezu allgemeiner Meinung noch in der »Vorgeschichte«.
Wenn wir uns nun deren »Zeitaltern« zuwenden, geben wir schon durch
die Wahl des Wortes zu erkennen, daß eine scharfe Grenze zwischen Vorgeschichte
und Geschichte vermutlich so wenig gezogen werden kann wie zwischen Tier und Mensch
und daß trotzdem »die Geschichte« von »der Vorgeschichte«
nicht weniger deutlich unterschieden ist als »der Mensch« von »dem
Tier«. (Ebd., 1998, S. 94-95).
10) Die Zeitalter der VorgeschichteDer Begriff »Zeitalter«
wird in der Regel im Sinne von »Zeitaltern der Geschichte« verstanden,
aber man spricht auch von Zeitaltern der Erdgeschichte wie Kreide, Jura und Trias.
Der Begriff »Erdzeitalter« wird jedoch ebenfalls häufig gebraucht,
und vielleicht sollte man in Analogie dazu von »Vorzeitaltern« reden,
wenn es um die menschliche Vorgeschichte geht. Diese Vorzeitalter stehen nämlich
noch in einer engen Verbindung mit den Erdzeitaltern, weil sie in ihren Anfängen
nur durch diese zu bestimmen sind und wie sie das Kennzeichen einer unvorstellbar
langen Dauer aufweisen. Das Quartär, oft Pleistozän genannt, also die
Zeit der letzten Million Jahre, wird auch als »Eiszeitalter« bezeichnet,
aber die vier großen Eiszeiten, die in Europa von südlichen Nebenflüssen
der Donau - Günz, Mindel, Riß und Würm -i hren Namen haben, setzen
erst um 600000 v. Chr. ein, und dem Anfang der Günz-Eiszeit wird noch keine
Klasse von Steinwerkzeugen zugeordnet, obwohl einzelne Funde von Skelettresten
und Werkzeugen möglicherweise sogar bis in das späte Tertiär zurückreichen.
(Ebd., 1998, S. 95).Wenn man der Meinung ist, daß Steinwerkzeuge,
die unverkennbare Spuren von Bearbeitung tragen und also keinesfalls auf natürlichem
Wege im Geröllschutt entstanden sein können, bereits sichere Beweise
für die Existenz von Wesen sind, welche das »Tier-Mensch-Übergangsfeld«
durchschritten haben und also im Vollsinn Menschen sind, mag man den einen oder
anderen Fund, der ins Pliozän zurückdatiert werden kann, auf Menschen
zurückführen, aber eine ganze Anzahl von untereinander ähnlichen
Faustkeilen (die ältesten der gefundenen Faustkeile
sind fast 2 Mio. Jahre alt; HB) ist erstmals auf jene erste »Warmzeit«
zu datieren, die 60000 Jahre dauerte (von 540000-480000) und von ihrer Position
zwischen zwei Eiszeiten den Namen Günz-Mindel-Warmzeit erhalten hat. Es handelt
sich um Steinwerkzeuge, die auf den ersten Blick erkennen lassen, daß sie
aus einem Rohstück -meist Feuerstein dadurch hergestellt und »handgerecht«
gemacht wurden, daß zahlreiche »Abschläge« vorgenommen
wurden, deren Resultate sicherlich zum Teil ihrerseits als Spitzen oder Kratzer
Verwendung fanden. Nach dem ersten Fundort wurde die Bezeichnung Abbévillien
gewählt, und damit beginnt das Vorzeitalter des »Altpaläolithikums«.
(Ebd., 1998, S. 95-96).Die entsprechenden Produkte der nächsten
Warmzeit, der »Mindel-Riß-Warmzeit«, die von 430000 bis 235000
v. Chr. währte, erhielten die Bezeichnung Acheuléen, und die scharfen
Augen der Fachleute entdeckten mancherlei Unterschiede, die es zu gebieten schienen,
ein »Früh-«, »Mittel-« und »Spät-Acheuléen«
sowie »Zweiseiter« und »Einseiter« zu unterscheiden und
für die Einseiter eigene Bezeichnungen einzuführen. Aber das Laienauge
vermag keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Faustkeilen des Abbévillien,
des Früh- und Spät-Acheuléen wahrzunehmen, und sogar ein Fachmann
spricht von einer Bevölkerung, »die über mehr als 400000 Jahre
ihre Werkzeugformen nicht wesentlich veränderte«. In der Tat wird auf
den Terminus »Abbévillien« nicht selten verzichtet, und dann
reicht von 540000 bis zu 120000 Jahren v. Chr. das unvorstellbar langwährende
und nur durch geringfügige Veränderungen gekennzeichnete Vorzeitalter
des Acheuléen, also über eine Zeitdauer, welche die
6000 Jahre der bekannten Geschichte (**|**|**|**)
um das Achtzigfache übertrifft und an nachweisbaren Veränderungen um
ein Vieltausendfaches hinter ihr zurückbleibt - sofern eine solche willkürliche,
aber anschauliche Quantifizierung als erlaubt gelten darf. (Ebd., 1998,
S. 96).Auch die Riß-Würm-Warmzeit (180000-120000) ist
noch durch Faustkeile vom Typ des Acheuléen gekennzeichnet, und ein neuer
Typus taucht erst nach dem Beginn der letzten, für uns interessantesten und
einigermaßen zugänglichen Eiszeit auf, der Würm-Eiszeit, die,
ebenfalls von mehreren Interstadialen höherer Temperatur unterbrochen, 110000
Jahre bis 10000 v. Chr. währte. Dies ist die Eiszeit, die wir meinen, wenn
wir davon sprechen, daß »einst« der größte Teil Nordeuropas
so von Gletschern bedeckt war, wie es heute nur noch die nördlichsten bzw.
südlichsten Gebiete der Erde sind, und von dieser Eiszeit glauben wir mit
einiger Wahrscheinlichkeit sagen zu können, daß zu ihrem Beginn etwa
100000 Menschen auf der ganzen Erde lebten, daß die Existenzbedingungen
für diese Menschen an den Rändern der Eiszonen außerordentlich
schwer waren und daß sie sich überwiegend von der Jagd auf Rentiere
und Mammute ernährten, was zweifellos einen hohen Grad von Kooperation innerhalb
der Gruppen und von tapferer Geschicklichkeit der Einzelnen voraussetzte.
(Ebd., 1998, S. 96).Bis zu welchem Grade auch Sammeltätigkeit
zum Lebensunterhalt beitrug, ist unklar; aus vergleichsweise sehr späten
Funden, welche die Untersuchung des Mageninhalts erlaubten, ergab sich, daß
unter noch durchaus vorzeitlichen Verhältnissen um 2000 v. Chr. die Nahrung
weitgehend aus einer Art Grütze bestand und bloß geringen Nährwert
hatte. Das mag aber in den besten Zeiten des eiszeitlichen Jägerdaseins ganz
anders gewesen sein, und es gibt ernstzunehmende Forscher, die der Meinung sind,
die Altsteinzeit sei ein »goldenes Zeitalter« gewesen; nie wieder
hätten sich später die Menschen mit so geringem Zeitaufwand so viel
und so gute Nahrung beschaffen können wie die eiszeitlichen Jäger. (Vgl.
Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften,
1985, S. 45). Anschaulichkeit ergibt sich für solche Thesen aber nicht aus
Funden, sondern aus den Feststellungen der Ethnologen über primitive Völker
der jüngsten Vergangenheit, etwa der Eskimos oder auch afrikanischer Stämme,
die durch die absolute Vorherrschaft der Tradition und die daraus resultierende
Veränderungslosigkeit gekennzeichnet waren und von denen ein moderner Forscher
sagen konnte: »Sie sind glücklich. Sie haben keine Geschichte.«
(Ebd., 1985, S. 242f.). (Ebd., 1998, S. 96-97).Damit ist
schon eines der merkwürdigsten Merkmale der »Vorgeschichte« gegeben:
Sie wird nur aus der Geschichte heraus zugänglich, da sie sich von sich aus
nicht als Unterschiedenes erfassen kann und von sich selbst und ihrem Glück
allenfalls ein mythisches Bewußtsein zu haben vermag. So erschien den Griechen
und Römern vieles hinter ihren Grenzen als graue Vorzeit, d.h. als Vorgeschichte,
was in Wirklichkeit nur wenige tausend oder gar einige hundert Jahre »hinter
ihnen zurück« war - die Germania des Tacitus ist dafür
ein Beispiel. Noch die Ethnologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts durften der
Überzeugung sein, daß ihnen am Kongo oder in Neuguinea eine lebendige
Vorgeschichte entgegentrete. Und diese anschaubare Gegenwart der Vergangenheit
zerfiel für ihre geübten Augen wiederum in Stufen: Der eine Stamm in
dieser Weltgegend mochte noch nicht über die Altsteinzeit hinausgelangt sein,
während der andere schon die Stufe des Neolithikums, der Jungsteinzeit, repräsentierte.
(Ebd., 1998, S. 97).Mit dem Ende des Altpaläolithikums vermehren
sich die Gegenstände der Vorgeschichtsforschung außerordentlich, und
allmählich gewinnt so etwas wie Erzählung und Schilderung neben der
bloßen Beschreibung von Fundstätten und Überresten einen Platz.
Nicht allzulange nach dem Beginn der Würm-Eiszeit nimmt etwa um 100000 v.
Chr. der Stil des Moustérien seinen Anfang, und ihm sind auch die Neandertaler
zuzuordnen, deren Zeit (Haupt-Zeit; HB) das
Mittel-Paläolithikum von 100000 bis 40000 ist. Von den Neandertalern ist
uns viel mehr überkommen als einige Steinwerkzeuge; Schädel sind nun
in Grabstätten zu finden, und Reste von Beigaben lassen sich identifizieren.
Dennoch bedeutet es eine qualitative Differenz, wenn neben Feuersteingeräten,
die sich für das Auge des Laien immer noch nicht deutlich von denen des Acheuléen
unterscheiden, in Fundstätten des Aurignacien, also des Jung-Paläolithikums,
Elfenbeinschnitzereien auftauchen, mit denen ganz unverkennbar Wildpferde, Mammute
und Höhlenlöwen dargestellt sind, und wenn eine Frauengestalt ins Blickfeld
tritt, deren Geschlechtsmerkmale so sehr, aber fern jeder Lüsternheit, betont
sind, daß es sich um eine mythische Figur handeln muß, vermutlich
um eine »Magna Mater«, eine »Urmutter« - das Symbol von
Fruchtbarkeit und schöpferischem Leben: die sogenannte Venus von Willendorf,
die etwa auf das Jahr 30000 zu datieren ist. (Ebd., 1998, S. 97-98).Nun
sind wir nicht mehr sehr weit von den ersten großen Kunstwerken der Menschheit
entfernt, jenen Höhlenmalereien des Aurignacien und des Magdalénien,
von denen heute mehr als 5000 entdeckt sind. Da treten dem Betrachter Wildpferde
und Bisons voller Farbigkeit und Lebendigkeit entgegen, da sind Unebenheiten des
Felsens ausgenützt, um reliefartige Figuren entstehen zu lassen, da tanzt
ein Mensch, offenbar ein Priester oder ein »Schamane«, mit einer Tiermaske
vor dem Gesicht und einem Gehörn auf dem Haupt. Aber es sind auch Darstellungen
der gemeinsamen Jagd von Bogenschützen auf Hirsche oder von Frauentänzen
vorhanden. Und das merkwürdigste ist: Alle diese Gemälde und Figuren
finden sich tief im Inneren großer Höhlen wie Altamira bei Santillana
del Mar in Spanien oder Lascaux in Frankreich, so daß sie offensichtlich
nicht als Kunstwerke für die Betrachtung und Bewunderung einer zahlreichen
Gemeinde vorgesehen waren. Sie dienten anscheinend vielmehr einem religiösen
oder magischen Zweck, der auch in der Verborgenheit erfüllt sein konnte.
(Ebd., 1998, S. 98).Selbst wenn es sich großenteils bloß
um einen »Jagdzauber« handelte, der Macht über die Tiere verschaffen
sollte, wird man sagen müssen, daß kein Schimpanse und kein Pavian
je auf den Gedanken gekommen ist, er könne seine Jagdbeute dadurch vermehren,
daß er sie an einem versteckten oder auch offenen Ort zur Darstellung bringe.
Hier steht der Mensch in der Fülle seiner Möglichkeiten vor uns - jenes
Wesen, das seit 100000 oder 200000 (oder 300000; HB)
Jahren an den Endpunkt seiner Cerebralisation angelangt war und das daher in Zukunft
nicht mehr von der Natur erhalten würde, was es an Lebensformen aus sich
heraus entwickelte, so gewiß es immer nicht nur an die Natur außer
ihm, sondern auch an die Natur in ihm gebunden blieb. (Ebd., 1998, S. 98).Aber
dieser künstlerische, schon deutlich von seiner unmittelbaren Lebenswelt
Abstand gewinnende, sie zum mindesten überhöhende Mensch des Jung-Paläolithikums
kannte noch keinen Getreideanbau und keine Haustiere. Erst nach dem Jahre 10000,
im »Mesolithikum«, finden sich erste Spuren von domestizierten Tieren
und von geerntetem Getreide - von Hunden und Schafen auf der einen Seite, von
Emmer und Weizen auf der anderen. Es scheint, daß dieser Übergang im
»Natufien« des alten Palästina erfolgte, und mit ihm kamen erstmals
Seßhaftigkeit, Arbeit und Vorratswirtschaft, ja vielleicht schon frühe
Formen des Austausches zwischen Gruppen in die Welt. Wenn es eine »neolithische
Revolution« gegeben hat, dann muß sie mit der Entstehung von Städten
zusammengesehen werden; der Übergang vom Jägertum zum Bauerntum dagegen
hat sich an vielen Stellen der Welt vollzogen, und er hing offensichtlich mit
dem Beginn einer neuen Warmzeit um 10000-8000 v. Chr. zusammen, wodurch dieser
Übergang sich gleichsam von selbst aufdrängte, so daß er als solcher
mit dem Übergang zum »höheren Jägertum« in der Eiszeit
auf eine Stufe gestellt werden kann. Daher muß noch in Kürze auf die
vorgeschichtlichen Kulturen des mittleren und nördlichen Europa eingegangen
werden, denn unser Blick wird in den nächsten Kapiteln ganz vorwiegend auf
das Gebiet des »Fruchtbaren Halbmonds« gerichtet sein, wo der Durchbruch
zur Geschichte stattfand. (Ebd., 1998, S. 98-99).Von »Kultur«
darf man jedenfalls auch in diesem Gebiet sprechen, und die Leistungen dieser
Vorzeitmenschen sind kaum weniger erstaunlich als die geschichtlichen Monumente
der Pyramiden Ägyptens und der Städte Mesopotamiens. Es ist bis heute
ungeklärt, wie diese Menschen es fertigbrachten, die ungeheuer schweren Steinblöcke
von Stonehenge aufeinanderzutürmen, die Steinmale von Carnak in der Bretagne
zusammenzubringen oder auch nur die Menhire und Dolmen aufzurichten, die in ganz
Nord- und Westeuropa verstreut sind und heute oft als »Hünengräber«
bezeichnet werden. Manches deutet darauf hin, daß Stonehenge eine astrale
Kultstätte und möglicherweise sogar so etwas wie ein astronomisches
Observatorium war, und manche Gelehrte vertreten die Auffassung, daß viele
der Megalithgräber zu große Arbeitsleistungen erforderten, als daß
es vorstellbar wäre, sie könnten von einigen dorfähnlichen Ansiedlungen
in Gemeinschaftsarbeit errichtet worden sein, um den Toten eine Stätte zu
geben; es müsse sich vielmehr um »Fürstengräber« handeln,
und dadurch werde bewiesen, daß es auch in diesen vorgeschichtlichen Gemeinschaften
große Differenzen zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Machtlosen
gegeben habe. (Ebd., 1998, S. 99).Die Werke der Keramik stehen
an Schönheit oft genug gegenüber der Keramik des Alten Orients und Ägyptens
kaum zurück, und ein Kunstwerk wie der Sonnenwagen von Trundholm mit der
von einem Pferd gezogenen goldenen Sonnenscheibe braucht sich vor keinem anderen
Erzeugnis der gleichzeitigen Völker der Geschichte zu verbergen. (Ebd.,
1998, S. 99).Aber es ist merkwürdig, daß die Vorgeschichtsforschung
In diesem Bereich bis tief in das erste Jahrtausend vor Christus hinab ihre Bezeichnungen
von Fundstätten oder Materialkennzeichen hernimmt, kaum anders als für
das Acheuléen, und daß sie daher von »Band-« und »Schnurkeramikern«,
von Glockenbecherleuten und der Trichterbecherkultur oder von dem »Streitaxt-Kreis«
spricht, aber keine Verbindung zu Menschengruppen oder Völkern herstellt,
die aus der antiken Geschichtsschreibung bekannt sind, etwa zu Germanen, Kelten
und Illyrern oder auch zu den Indogermanen. Sie hat Grund zur Vorsicht, denn anders
als das Acheuléen und auch die Neandertaler ist dieser Teil der Vorgeschichte
häufig nicht mit wissenschaftlicher Unparteilichkeit untersucht worden, sondern
mit nur allzu moderner und nationalistischer Zwecksetzung. (Ebd., 1998,
S. 99-100).Andererseits erwuchs aus solchen Impulsen oft genug
erst das lebendige Interesse für diese Wissenschaft, und in Deutschland ist
Gustav Kossinna ein gutes Beispiel, der den ersten Lehrstuhl für vorgeschichtliche
Archäologie in Berlin erhielt und dessen Hauptmotiv eingestandenermaßen
das Bemühen war, die Gleichwertigkeit der indogermanischen sowie der germanischen
Kultur mit den Kulturen des vorderen Orients unter Beweis zu stellen und im deutschen
Volk »die Liebe zu seinen Vorfahren zu erwecken«. (Ebd., 1998,
S. 100).Noch heute ist die Hypothese nicht als »widerlegt«
anzusehen, der indogermanischen Ursprache, deren Existenz so gut wie unbestritten
ist, habe ein indogermanisches Urvolk entsprochen und dieses Urvolk habe seinen
Sitz in einem Gebiet gehabt, das von Norddeutschland bis in die Steppengebiete
am Schwarzen Meer reichte. (Ebd., 1998, S. 100).Aber die
vorgeschichtliche Wissenschaft muß jede rasche Verknüpfung des Vorgeschichtlichen
und daher nur sehr bruchstückhaft Bekannten mit historischen Phänomenen
und zummal historischen Interessen zurückweisen. Und vorgeschichtlich war
die Bevölkerung West-, Nord-, Ost- und Mitteleuropas noch um 500 vor Christus,
obwohl schon viel Handel getrieben und Kupfer sowie Salz, ja sogar Eisen gefördert
wurde, denn diese Bevölkerung praktizierte zwar schon die Arbeitsteilung
und sogar eine gewisse Professionalisierung, aber sie besaß keine Städte,
und sie kannte keine Schrift. Die Bronzezeit gehört als solche nicht mehr
zu den »Vorzeitaltern«, aber in vielen Gebieten der Welt dauerte sie
noch lange fort, und das gleiche dürfte für das Neolithikum gelten,
soweit es mehr bedeutete als den Übergang von dem eiszeitlichen Jägertum
zum warmzeitlichen Bauerntum, der natürlich auf sehr ungleichmäßige
und keineswegs vollständige Weise vollzogen wurde. (Ebd., 1998, S.
100-101).Bevor nun die Frage erörtert werden kann, ob eine
»neolithische Revolution« oder der Gewinn der Schriftlichkeit den
Anfang der Geschichte gebildet haben, soll umrißhaft skizziert werden, was
einige bedeutende Autoren aus alter und neuerer Zeit zur »Vorgeschichte«
gesagt haben, und zwar auch deshalb, weil das beschreibende und vorsichtige, allen
»Spekulationen« abgeneigte Verfahren der Wissenschaft, das kaum irgendwo
in den Geisteswissenschaften so ausgeprägt ist wie in der Vorgeschichte,
allzuleicht die Folge hat, daß das Andersartige und Fremdartige der Vorgeschichte
nicht mehr empfunden wird, weil man zu sehr auf das Finden und Beschreiben von
Überresten fixiert ist. Wenn das Selbstverständnis der Moderne seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem wesentlichen Teil aus der Evolutionstheorie,
d.h. aus der Naturgeschichte, gespeist wurde, so gilt ähnliches, wenngleich
in beschränkterem Maße, für das Verhältnis zur Vorgeschichte.
Herausragende Beispiele sind Johann Jacob Bachofen, der zum Ausgangspunkt für
eine das Geschlechtsverhältnis herausstellende Interpretation wurde, und
Lewis H. Morgan, dem sich Marx und Engels eng verbunden fühlten. (Ebd.,
1998, S. 101).Ansätze zu einer solchen Deutung der Geschichte
von der Vorgeschichte her finden sich allerdings schon in der Antike, so bei Hesiod,
der das »Goldene Zeitalter« auf den Anfang der Welt verlegt und die
ganze Geschichte als einen Prozeß des Abstiegs schildert, während der
Aristoteles-Schüler Dikäarch aus Messene zwar auch das Hirtenleben und
anfänglichen Ackerbau als glücklichen Urzustand beschreibt, aber dann
doch zu einer Lehre vom allmählichen Fortschritt des Menschengeschlechts
gelangt. Für Tacitus wiederum war in seiner Germania die glückliche
Vorzeit des Dikäarch in einem Volk seiner Gegenwart verkörpert, in den
Germanen, die als ein einfaches, unvermischtes und sittenreines Volk das Gegenbild
zu der römischen Dekadenz und Sittenlosigkeit darstellten. Aber gerade von
diesen Kriegern berichtet Tacitus, daß nach ihrer Meinung die Nacht dem
Tag vorausgeht und daß einige ihrer Stämme »Nerthus, das heißt
die Mutter (der) Erde«, verehren. (Ebd., 1998, S. 101).So
hätte sich Johann Jacob Bachofen, der Schüler Savignys und Kollege Nietzsches
an der Universität Basel, auch auf die Germania berufen können,
als er seine Lehre vom »Mutterrecht« als dem Hauptkennzeichen der
vorgeschichtlichen Kultur entwickelte und einer Interpretation einen mächtigen
Anstoß gab, die erst heute in allen ihren Konsequenzen hervorgetreten ist,
nämlich dem Verständnis der Geschichte vom Gegensatz der Geschlechter
her. (Ebd., 1998, S. 101).Die »Gynaikokratie«
ist für Bachofen eine allgemeine Phase der Menschheitsentwicklung, und sie
ist charakterisiert durch »die kultliche Auszeichnung des Mondes vor der
Sonne, der empfangenden Erde vor dem befruchtenden Meere, der finsteren Todesseite
des Naturlebens vor der lichten des Werdens, der Verstorbenen vor den Lebenden,
der Trauer vor der Freude ....« (Johann Jakob Bachofen, Mutterrecht und
Urreligion, 1867, S. 10-99). Aber diese »demetrische« Erhebung
des Muttertums, die unter anderern die Bevorzugung der Töchter bei der Erbfolge
und die hervorstechende Rolle der mütterlichen Onkel für die Söhne
nach sich zieht, bedeutet schon eine Erhebung über die vorhergehende und
anfänglichste Stufe, »die volle, noch keinerlei Beschränkungen
unterworfene Natürlichkeit des reinen, sich selbst überlassenen Tellurismus«,
(ebd., S. 124), der mit dem »Hetärismus« identisch ist, der regellosen
sexuellen Vermischung, die dem Sumpfleben in der Natur entspricht und erst allmählich
zur ehelichen Strenge des landwirtschaftlichen Mutterrechts erhoben wird. Über
weite Strecken des Bachofenschen Werkes kann man den Eindruck haben, daß
er sich von dem romantischen Enthusiasmus für die »Nachtseite«
des Lebens und für den Vorrang des mütterlichen Schoßes leiten
läßt und der »inneren Größe der vorhellenischen Gesittung«
ein Preislied singen will, »welche in der demetrischen Religion, ihrem Mysterium
und ihrer zugleich kultlichen und zivilen Gynaikokratie einen von der späteren
Entwicklung zurückgedrängten, vielfach verkümmerten Keim der edelsten
Anlage besaß«. (Ebd., S. 110). (Ebd., 1998, S. 102).Aber
dieser Eindruck täuscht, sofern man daraus »feministische« Konsequenzen
ableiten will. Bachofen ist ein entschiedener Vertreter des »Paternitätsprinzips«
als der höchsten Stufe der geschichtlichen Entwicklung. Der kosmischen Kraft
der Sonne schreibt er den unbedingten Vorrang vor der Erde zu, jener Kraft, die
auf der Stufe des Apollinismus als »die wechsellose Quelle des Lichts«
verstanden wird, welche »alle Idee der Zeugung und Befruchtung, alle Sehnsucht
nach der Mischung mit dem weiblichen Stoffe unter sich zurückläßt«.
Und so kann Bachofen im Muttermord des Orest die mythische Verbildlichung des
Sieges »des Vatertums über das chthonische Mutterprinzip« sehen,
den Sieg des Tages über die Nacht, der rechten über die linke Seite,
und damit erhebt sich für ihn ein neues Weltalter auf den Trümmern des
alten - das apollinische. (Vgl. Johann Jakob Bachofen, Mutterrecht und Urreligion,
1867, S. 149). (Ebd., 1998, S. 102).So weit sich Nietzsche
später von Bachofen entfernt hat, bleibt er mit einem Faden seines Denkens
doch immer ebensosehr mit diesem Baseler Kollegen verbunden wie mit jenem anderen,
mit Jacob Burckhardt. Marx aber, den Nietzsche sicherlich als seinen eigentlichen
Widerpart bezeichnet hätte, wenn er ihm bekannt gewesen wäre, war seinerseits
ebenso wie Engels im Hinblick auf die Vorgeschichte eng mit einem Mann verbunden,
der auf ähnliche Weise wie Bachofen eine
ambivalente Einschätzung zu erkennen gab, mit Lewis H. Morgan. Dieser läßt
die Menschheit durch sieben Stufen hindurchgehen: drei der »Wildheit«,
drei der »Barbarei« und dann die Zivilisation. Er orientiert sich
dabei vornehmlich an den nordamerikanischen Indianern, zumal den Irokesen, die
er gründlich studiert hatte, und auch bei ihm kann man über weite Strecken
den Eindruck haben, daß er in deren Stammes- oder »Gentil«organisation
ein Ideal sieht, von dem die moderne Zeit abgefallen ist. (Ebd., 1998, S.
102-103).Eine Gens ist eine Gesamtheit von Blutsverwandten, die
von einem gemeinsamen Urahnen abstammt, und ihre Institutionen sind nicht herrschaftlich
oder aristokratisch, mithin überhaupt nicht »staatlich«, sondern
demokratisch, auf die Gleichberechtigung aller einschließlich der Frauen
gegründet und durch »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«
gekennzeichnet. Ursprünglich waren alle Mitglieder der gleichen Gens einander
auch in dem Sinn Brüder und Schwestern, daß jede Frau die Frau aller
ihrer Brüder und jeder Mann der Mann aller seiner Schwestern war, daß
man also in einem Zustand regellosen, wenngleich auf die Gens begrenzten, Geschlechtsverkehrs
lebte, den Bachofen »Hetärismus« nannte. (Ebd., 1998, S.
103).Allmählich entwickeln sich daraus die »Punalua-Familie«
als enge begrenzte Einheit und am Ende die monogamische Familie. Man könnte
annehmen, diese Entwicklung stelle für Morgan eine Dekadenz dar, denn er
kritisiert den zivilisierten Zustand der Alleinherrschaft des Geldes auf das schärfste.
Da die geschichtliche Entwicklung eine ständige Vergrößerung der
Ungleichheit bedeutet und das Hervortreten aristokratischer Klassen impliziert,
liegt auf ihr ein höchst negativer Akzent. Aber an vielen Stellen drückt
Morgan sich nicht viel anders aus als Auguste Comte: Die Menschheit hat sich »emporgearbeitet«,
und der Menschengeist bewegt sich für ihn von der Kindheit im Zustand der
Wildheit »bis zu seiner gegenwärtigen Höhe«. (Lewis H. Morgan,
Die Urgesellschaft, 1877). Einen Ausweg aus diesem Widerspruch bietet nur
der Gedanke, »daß die Demokratie, die einstmals in einer unentwickelten
Form eine allgemeine Einrichtung gewesen und die jetzt in vielen zivilisierten
Staaten unterdrückt ist, die Bestimmung hat, auf einer höheren Stufe
wieder allgemein zu werden«. (Ebd., S. 289). (Ebd., 1998, S. 103).Den
wichtigsten Ansatz dazu sieht Morgan in der Selbstverwaltung der us-amerikanischen
Gemeinden und »Grafschaften«, und auch in diesem Punkt hätten
Marx und Engels, die sich häufig auf ihn beriefen, ihm zustimmen können.
Man fragt sich allerdings, ob Morgan, der an seiner Hochschätzung der Monogamie
nicht den geringsten Zweifel läßt, auch die Punalua-Familie »auf
höherer Stufe« wiederhergestellt sehen möchte, und die Vorkämpfer
allgemein-menschlicher Egalität müssen an der Selbstverständlichkeit
schweren Anstoß nehmen, mit der Morgan von »höheren« und
»niederen« Rassen spricht und »die arische Völkergruppe«
den »Hauptstrom des menschlichen Fortschritts« repräsentieren
läßt, so daß sie mit vollem Recht »die Herrschaft über
die ganze Erde sich aneignete«. (Ebd., S. 475). (Ebd., 1998, S. 103-104).Die
Vorgeschichte war also nie und ist auch heute nicht die ausschließliche
Domäne der »wissenschaftlichen Vorgeschichtsforschung«, denn
man kann offenbar über »Geschichte« nur sprechen, wenn man auch
einen Begriff von »Vorgeschichte« hat. Aber für den Übergang
von der Vorgeschichte zur Geschichte haben auch Fachwissenschaftler einen sehr
modernen, lange Zeit modischen Begriff gebraucht, nämlich den der »Revolution«.
(Ebd., 1998, S. 104).
11) Der Anfang der Geschichte: Neolithische Revolution
oder Schriftlichkeit?Der Terminus »Neolithische
Revolution« stammt von dem englischen Prähistoriker V. Gordon Childe,
und er hat breite Zustimmung gewonnen, nicht zuletzt vermutlich wegen der (manchmal
negativen) Popularität des Begriffs »Revolution«. »Revolution«
meint vor allem einschneidende Änderung, aber normalerweise gehören
auch die Schnelligkeit und die Gewaltsamkeit hinzu, mit denen eine neue Lebensform
ins Dasein gelangt. Diese zweite, eher politische Bedeutung, die einen Terminus
wie »französische Revolution« wesentlich bestimmt, ist hier offenkundig
fernzuhalten, denn das Neolithikum umfaßte mehrere tausend Jahre, und es
gingen ihm ebenfalls Tausende von Jahren einer Vorbereitungszeit vorher.
(Ebd., 1998, S. 104 ).Wenn jedoch, grob gesprochen, der Übergang
von der Sammeltätigkeit und der Jagd zur Bebauung des Bodens und zur Domestizierung
von Tieren gemeint ist, dann hat es in der Tat kaum je eine so tiefgreifende Veränderung
des menschlichen Lebens gegeben, und die Parallelisierung mit der »Industriellen
Revolution« ist ungemein einleuchtend. Auch das »höhere Eiszeitjägertum«
bedeutete noch ein Leben »von der Hand in den Mund«, und die Situation
änderte sich erst auf grundlegende Weise, als die Sammler anfingen, das zu
Sammelnde zu fixieren und damit gewissermaßen ins Leben zu rufen, indem
sie Felder abgrenzten und besäten, um nach einigen Monaten des Wartens einen
sicheren Ernteertrag zu haben, und als die Jäger die Tiere nicht mehr nur
jagten, sondern auch pflegten und aufzogen, um sie nach geraumer Zeit - vielleicht
erst nach Jahren - schlachten und verzehren zu können. (Ebd., 1998,
S. 104).Hier wären zahllose Differenzierungen vorzunehmen,
wenn es uns darauf ankäme, über möglichst viele Ergebnisse der
prähistorischen Wissenschaft zu berichten, aber die Feststellung soll genügen,
daß die »Dorfgemeinschaft« eine der frühesten und dauerhaftesten
Realitäten des menschlichen Daseins ist. Oft genug werden Dorfgemeinschaften
gezwungen gewesen sein, sich gegen Angriffe zu verteidigen, und so war nahezu
jeder Bauer potentiell ein Krieger. Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß
gegen Ende des Neolithikums ganz Europa und Vorderasien lediglich ein Nebeneinander
gleichartiger Dörfer dargestellt hätten: Die Erträge des Landes
sind unterschiedlich nach Bodenqualität, Witterungsbedingungen und aufgewandter
Arbeit; manche Gebiete sind reicher und manche ärmer; die Dorfältesten
der reicheren und größeren Dörfer wurden vielleicht zu einer Art
»Fürsten«, welche imstande waren, die Arbeit von vielen zu organisieren,
etwa zum Zweck der Errichtung von »Megalithbauten«; es mochten sich
sogar ganze Fürstengruppen, »herrschende Schichten«, gebildet
haben, wenn es richtig ist, daß etwa die Träger der »Urnenfelderkultur«
die Träger der Trichterbecherkultur unterworfen und zur Leistung von Abgaben
gezwungen hatten. Nichts war »natürlicher« als eine solche »Ausbeutung«:
Das ausgesäte Korn trägt zehn- und zwanzigfache, möglicherweise
hundertfache Frucht, fast überall produziert jeder Bauer mehr, als er für
seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie benötigt; aus der Ethnologie
ist bekannt, daß solche Überschüsse in genossenschaftlich organisierten
Dörfern oder auch Stämmen den Häuptlingen als Geschenke dargebracht
und von diesen häufig als Zeichen des Prestiges auf eine für alle sichtbare
Weise dem Verrotten preisgegeben wurden. Aber diese Überschüsse mochten
auch in die Gräber der Toten investiert oder von einem »Fürsten«
als Abgabe eingezogen werden; jedenfalls besteht kein Zweifel, daß schon
die landwirtschaftliche Welt des Neolithikums von jener Egalität weit entfernt
war, die auch in Jäger- und Sammlergruppen nur auf eingeschränkte Weise
verwirklicht ist, kaum anders als in Schimpansen- oder Pavianhorden. (Ebd.,
1998, S. 105).Es läßt sich ferner nachweisen, daß
es im Neolithikum bereits Anfänge des Handels gegeben hat, und daraus kann
die großräumige Beeinflussung entstehen, auf welche der sogenannte
Diffusionismus sich stützt, jene der Spenglerschen
Vorstellung vom pflanzenhaft-autonomen Herauswachsen der Kulturen aus den jeweiligen
Landschaften (**)
schroff entgegengesetzte Lehre, die, um etwas vorzugreifen, darauf verweisen kann,
daß Bernsteinschmuck im Mittelmeerraum und minoische Spangen an der Nordseeküste
gefunden wurden. (Ebd., 1998, S. 105).Handel bringt stets
auch Rohstoff zu Kunstfertigkeit und die Produkte der Kunstfertigkeit zu den Rohstofflieferanten,
und Rohstoffe wie etwa Feuerstein gab es im Neolithikum ebenso wie erste Anfänge
der spezialisierung unter Handwerkern und Betreibern von Salzbergwerken. Man kann
also abkürzend sagen: Der Übergang zur Landwirtschaft im Neolithikum
bedeutete, bildlich gesprochen, eine solche Verstärkung des »Kartoffelwaschens«
(**), d.h. des schon bei Tieren feststellbaren
»Vorkulturellen«, daß die Frage geboten ist, ob »die Kultur«,
d.h. das Erworbene, Erlernte, von Generation zu Generation Weitergereichte und
allmählich Verbesserte, nicht jetzt schon für den Menschen wichtiger
war als die instinktmäßige Ausstattung, die ihn blitzschnell reagieren
ließ, wenn er von einem Tier angegriffen wurde oder in sumpfigem Boden zu
versinken drohte. (Ebd., 1998, S. 105-106).Gleichwohl ist
an dem Begriff der »Neolithischen Revolution« häufig Kritik geübt
worden. Prähistoriker haben darauf hingewiesen, daß die als konstitutiv
geltenden Grundzüge - der Steinschliff, die Kenntnis der Tonerde und damit
eine erste Keramik, die Domestikation von Tieren und der Anbau von Getreide -
sich bereits im Mesolithikum nachweisen lassen. (Vgl. Propyläen-Weltgeschichte,
1. Band [Vorgeschichte - Frühe Hochkulturen], 1961, S. 229ff.). Aber
wie immer es mit der zeitlichen Erstreckung bestellt sein mag, wichtiger ist,
daß sogar das vollentwickelte Neolithikum, soweit es durch Dörfer mit
Landwirtschaft geprägt ist, noch ganz dem »vorgeschichtlichen«
Bereich zugehört. (Ebd., 1998, S. 106).Wir haben schon
festgestellt, daß die prähistorische Forschung sogar für die Zeit
des zweiten Jahrtausends vor Christus in Mittel- und Nordeuropa keine (geschichtlichen)
»Ereignisse« aufzuweisen vermag, sondern sich in der Regel damit begnügen
muß, Funde zu charakterisieren und Fundstätten danach zu benennen.
Freilich können und müssen mancherlei Vermutungen angestellt werden.
Es ist ein naheliegender Gedanke, daß die Menschen der »-Streitaxt-Kultur«
die Bezeichnung »kriegerische Herrenvölker« verdienen und daß
sie bei ihrem Vordringen große Siedlungsräume der Bandkeramiker in
Besitz genommen haben. Daher wäre zu fragen, ob es sich dabei nicht »objektiv«
um ein großes geschichtliches Ereignis handelte, das nur deshalb den Prähistorikern
überlassen werden muß, weil uns die Möglichkeit fehlt, in die
Entschlußbildung jener »Aristokraten« hineinzuschauen, die aller
Vermutung nach die Zeichen zum Aufbruch und gegebenenfalls zum Angriff gaben,
oder gar eine Person wie später den »Arminius« namhaft zu machen,
der uns aus der römischen Geschichtsschreibung bekannt ist. Würde die
»Varus-Schlacht« weniger ein geschichtliches Ereignis sein, wenn keine
Nachricht nach Rom gedrungen wäre und wenn lediglich die Prähistoriker
eine Anzahl von Waffen und Geldmünzen ausgegraben hätten? Aber wenn
im Teutoburger Wald nur zwei Germanenstämme miteinander gekämpft hätten,
dann würden keine Geldmünzen gefunden worden sein, und kein Geschichtsschreiber
hätte die berühmten, wenngleich möglicherweise fiktiven Worte des
obersten Befehlshabers aufgeschrieben: »Vare, Vare, redde legiones!«
(Ebd., 1998, S. 106-107).Die Abwesenheit von Geschichtsschreibung
ist nicht bloß das zufällige Fehlen eines Berichterstatters, vielmehr
fehlt mit dem Geschichtsschreiber auch das Geld und fehlen die Städte, die
dessen Voraussetzungen sind. Landwirtschaft, Viehzucht, Dörfer und selbst
Bevölkerungsbewegungen oder Kriegszüge reichen nicht aus, um »Geschichte«
hervorzubringen, und sogar der Begriff des »Vollneolithikums« dürfte
nicht zu bilden sein, wenn man die Existenz der ersten Städte nicht einbezieht.
(Ebd., 1998, S. 107).Die älteste Stadt der Menschheit scheint
Jericho zu sein, und jedenfalls ist es die einzige Stadt der Vorgeschichte, die
heute noch existiert und gedeiht, ja abermals für die Geschichte bedeutsam
wurde. Das neolithische Jericho war eine Stadt mit nahezu 2000 Einwohnern, die
ihre Toten unter den Wohnräumen bestatteten und die Schädel mit Ton
übermodellierten sowie mit Muscheln schmückten, so daß auf einen
Ahnenkult geschlossen werden darf. (Vgl. Hans J. Nissen, Grundzüge einer
Geschichte der Frühzeit des Vorderen Orients, 1983, S. 38). Ferner wurden
Reste von starken Stadtmauern und von einem gewaltigen Wehrturm entdeckt. Nichts
ist wahrscheinlicher, als daß dieser so sehr hervorstechende Ort, der wegen
seiner ergiebigen Quelle auch heute noch eine blühende Oase inmitten von
kahler Wüste ist, zum Objekt der Begehrlichkeit von Nomaden geworden ist,
die erstmals einen Vergleich anstellen und sich als benachteiligt empfinden konnten.
In der Tat ist diese früheste Stadt Jericho anscheinend bald zerstört
und möglicherweise von denjenigen wiederaufgebaut worden, zu deren Abwehr
die Befestigungsanlagen errichtet worden waren. (Ebd., 1998, S. 107).Wie
in einer winzigen Nußschale dürfte sich hier zum erstenmal abgespielt
haben, was dann später zu einer Grundwirklichkeit der Geschichte werden sollte:
Die Stadt wurde zum ersten neiderregenden Gegenstand für größere
Mengen von Menschen, und sie war von Anfang an das Objekt des Abwehrwillens und
wohl auch des Stolzes der Einwohner. Es ist nicht auszuschließen, daß
es in Jericho schon Ansätze zu einer sozialen »Stratifikation«,
gab, d.h. zur Bildung von Schichten mit unterschiedlicher Lebenshaltung. Aber
wirklich Sicheres ist in dieser Hinsicht nicht eruiert worden. (Ebd., 1998,
S. 107).Sehr viel besser unterrichtet sind wir über eine andere
Stadt des Neolithikums, die für Jahrtausende völlig vergessen war und
dann hauptsächlich durch die Bemühungen eines einzigen Prähistorikers,
James Mellart, weitgehend freigelegt und erforscht wurde: Çatal Hüyük
im Südteil Anatoliens. Diese Stadt hatte keine Mauern, weil sie als ganze
ein Verteidigungssystem war: Man konnte in die dicht aneinander gebauten Häuser
nur von oben mittels Leitern hineinkommen. Im Inneren zeigte sich den staunenden
Ausgräbern eine Fülle von Kultgegenständen: Große Stierhörner
ragten aus den Innenwänden heraus, Nachbildungen weiblicher Brüste fanden
sich stilisiert an ihrer Seite, bemalte Reliefbilder von gefleckten Leoparden
fielen ins Auge, es wurde sogar eine Art Stadtplan mit einem Vulkan im Hintergrund
aufgedeckt, offensichtlich eine Abbildung von Çatal Hüyük selbst.
(Ebd., 1998, S. 107-108).Erbaut wurde diese Stadt wohl um 7000
v. Chr., und offensichtlich spielten in ihr Fruchtbarkeitskulte eine zentrale
Rolle. Es wurde sogar vermutet, daß es sich bei den ausgegrabenen und erst
einen Teil der Stadt ausmachenden Häusern um eine Art von Kapellen handelte,
um Kulträume, die von einer Priesterschicht bewohnt wurden. Eine symbolische
Bedeutung mußten auch die Wandgemälde haben, welche Menschen ohne Köpfe
und verfolgende Geier darstellten. Sehr auffallend waren die vielen Abbildungen
oder Schattenrisse von Händen. Die größte Überraschung war
eine kleine Plastik von noch nicht 20 cm Höhe, die eine gebärende Frau
in einem von zwei Tieren gebildeten Sessel darstellte. (Ebd., 1998, S. 108).Es
ließ sich nachweisen, daß die Bewohner die Viehzucht kannten und Schafe
sowie Rinder hielten; sie bauten drei Sorten von Weizen sowie Gerste, Erbsen und
Hülsenfrüchte an; gejagt wurden Hirsche, Wildesel, Wildschweine und
Leoparden, auch der Fischfang war geläufig. Aus Eicheln, Mandeln und Pistazien
wurde Öl gewonnen, und möglicherweise gab es auch schon Wein und Bier.
Viele Obsidianspitzen wurden gefunden, die vermutlich aus der vulkanischen Umgebung
stammen; mit hoher Wahrscheinlichkeit waren sie auch Gegenstände des Handels.
(Ebd., 1998, S. 108).Mellart sah es als besonders bemerkenswert
an, daß der offenkundige Zusammenhang von Landwirtschaft und Fruchtbarkeitskult
zwar Symbole des Geschlechtslebens wie Brüste und Stierhörner in den
Mittelpunkt stellte, aber an keiner Stelle Obszönität erkennen ließ.
Er schließt daraus, daß die Frauen die Hauptrolle in dieser Kultur
spielten, da die »Hervorhebung« von »Sex« immer auf männliche
Impulse und Begierden zurückgehe, und damit stimmt es gut zusammen, daß
in den Abbildungen von göttlichen Familien die Mutter stets die erste Stelle
einnimmt, während der Vater erst hinter der Tochter und dem Sohn seinen Platz
findet. (Vgl. James Mellart, Çatal Hüyük, 1967, S. 60).
Wenn Johann Jakob Bachofen bei den Ausgrabungen hätte anwesend sein können,
würde er seine Konzeption von der ursprünglichen Mutterreligion wohl
bestätigt gesehen haben. (Ebd., 1998, S. 108).Ob Mellart
recht hat, wenn er eine tiefe soziale Ungleichheit zwischen der von gewöhnlicher
Arbeit freigestellten Priesterklasse und der Masse des einfachen Volkes annimmt,
muß dahingestellt bleiben; sicher ist jedenfalls, daß zahlreiche Luxusgegenstände
wie z.B. Obsidianspiegel gefunden wurden, und jedenfalls scheint die Vermutung
begründet zu sein, daß »Luxus«, d.h. die Existenz von Gegenständen,
die zur Lebensfristung nicht erforderlich sind und den Zielen von Bequemlichkeit
und Schönheit, also der Sublimierung, dienen, mit in die Definition von »Stadt«
hineingenommen werden muß; schon die später so verbreitete, in Jericho
und Çatal Hüyük allerdings noch nicht vorhandene Institution
des »Stadtkönigtums« weist darauf hin. (Ebd., 1998, S.
108-109).Halten wir fest: Im frühen Neolithikum, in der Zeit
von ca. 8000 bis 6000 v. Chr., sind in Vorderasien bereits Städte oder stadtähnliche
Siedlungen, Gruppen- und vielleicht auch Völkerbewegungen, Ackerbau und Viehzucht,
Handel, dem Kult dienende Kunst und Luxusgegenstände zu finden, aber Jericho
und Çatal Hüyük sind winzige Punkte innerhalb eines riesig großen,
von Jägerclans und kleinen Dörfern bestimmten Gebietes. Diese ganze
Welt wird uns durch Funde von Überresten zugänglich, aber sie spricht
nicht zu uns, und wir erfahren nichts von Staaten, Reichen, Königen, persönlichen
Göttern und Geld, d h. einem anerkannten Tauschmittel. Ein völlig neuer
Zustand kann erst eintreten, wenn die Bevölkerung dichter wird, wenn die
Städte zahlreicher und größer sind, wenn zentrale Autoritäten
auftreten, etwa in Form des »Stadtkönigtums«, und wenn all diese
neue Komplexität erhalten und tradiert werden kann. (Ebd., 1998, S.
109).Eine solche Erhaltung und Tradierung ist aber schwerlich möglich
ohne die Schrift. Wir finden die Schrift, ein System von Städten, gut organisierten
Austausch, weitgehende Arbeitsteilung, kriegsbereite, aber auch Frieden stiftende
Staatsgebilde von etwa dem Jahr 3000 v. Chr. (schon eher!
HB) an in den Flußtälern des Euphrat, des Tigris und des
Nil sowie einige Zeit später an der Ostküste des Mittelmeers, und diesen
»Hochkulturen« werden die nächsten Kapitel gewidmet sein. Jetzt
ist vorgreifend danach zu fragen, wie die Schrift und ihre Möglichkeiten
zu charakterisieren sind. (Ebd., 1998, S. 109).Schrift ist
offenbar etwas anderes als bloße Nachricht. Auch der Warnruf einer Grünen
Meerkatze ist eine Nachricht, auch Feuerzeichen vermitteln Informationen; die
Sätze der menschlichen Sprache enthalten in der Regel Mitteilungen. Schrift
bedeutet Fixierung und weite Mitteilbarkeit; ihre einfachste Gestalt ist die Bilderschrift,
die ein Bild oder einen Umriß des gemeinten Gegenstandes einer neutralen
Grundlage einprägt, etwa einem Obelisken, einer Tontafel oder einer Papyrusrolle.
(**).
Ein König läßt sich z.B. durch einen Mann darstellen, der eine
Krone auf dem Haupt trägt, die Sonne durch einen Kreis mit einem Punkt in
der Mitte, ein Soldat durch einen Mann, der einen Bogen in der Hand hat. Wenn
man den Satz »Die Sonne - d.h. der Sonnengott - schützt den König
und seine Soldaten« festhalten und späteren Zeiten überliefern
will, so lassen sich die drei Substantive als Bildzeichen, als Piktogramme nebeneinander
reihen, und das Verb »schützen« läßt sich etwa durch
das Bild einer Mauer symbolisieren. (Ebd., 1998, S. 109-110).Schon
einfache Sätze kommen also ohne symbolische Zeichen, insbesondere für
abstrakte Handlungen oder Begriffe, schwerlich aus, aber im Prinzip hat eine solche
Bilderschrift den außerordentlichen Vorzug, allgemeinverständlich zu
sein und sozusagen den Zustand, der nach der biblischen Erzählung vor der
»babylonischen Sprachverwirrung« herrschte, wiederherzustellen: Wer
heute auf einem noch so entfernten Flughafen ankommt, erkennt an dem vereinfachten
Bild eines Autos sofort, wohin er sich begeben muß, um ein Taxi zu finden.
(Ebd., 1998, S. 110).Der ebenso außerordentliche Nachteil
ist, daß eine unermeßliche Fülle von Zeichen erforderlich wäre,
um die Unzahl von konkreten Gegenständen und zumal ihrer möglichen Beziehungen
untereinander wiederzugeben. Was aber in der Sprache immer wiederkehrt, sind bestimmte
Laute und auch schon einzelne Silben. Die Entwicklung ging historisch in der Weise
vor sich, daß die Piktogramme für kurze, zunächst einsilbige Wörter
für diese Silbe auch dann eintreten können, wenn nur eine lautliche
und keine sinnmäßige Identität vorliegt. (Ebd., 1998, S.
110).Durch Vereinfachung und Vervielfältigung der Piktogramme
und die reichliche Verwendung der Silbenzeichen kann eine solche Schrift sehr
rasch einen Charakter annehmen, der kaum noch Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen
und anschaulichen Zustand hat. Sowohl die Bilderschrift der ägyptischen Hieroglyphen
wie die Keilschrift der Sumerer und Akkader waren von jener Einfachheit des »Sonnen«-
oder »Taxi«zeichens weit entfernt, und sogar die ägyptische Schrift
schien auf dem Wege zu derjenigen Schriftart zu sein, die uns als die »natürliche«
erscheint, nämlich zur Buchstabenschrift, weil z.B. das Bild einer Vogelart
etwa die Buchstaben »rn« oder »r« zu vertreten scheint.
In Wirklichkeit handelte es sich für die Ägypter aber immer um kurze
Silben, und wenn ein ägyptischer Text von den Ägyptologen in unsere
Schrift umgesetzt wird, ergeben sich Lautreihen, die uns ganz fremdartig berühren,
wie etwa »jb ktl mnr«, denn es fehlen die Vokale. (Ebd., 1998,
S. 110).Der Weg zur Lautschrift führte über die Konsonantenschrift,
und er wurde vornehmlich von den semitischen Sprachen eingeschlagen, die aber
ebenso wie die ägyptische Schrift auch »Determinative« aufwiesen,
d.h. stumme Deutezeichen, mit denen z. B. Götter von gleichnamigen Menschen
unterschieden wurden. Was eine Konsonantenschrift ist und worin deren Schwierigkeit
besteht, ist jedem bekannt, der sich jemals mit dem Hebräischen beschäftigt
hat: Das Wort für »König« wird »mlk« geschrieben,
und wenn nicht später Vokalisierungszeichen eingeführt worden wären,
die aber in den offiziellen Ausgaben des Bibeltextes fehlen, würden wir nicht
wissen, daß die Aussprache »melek« war. (Ebd., 1998, S.
110-111).Kein Gedanke scheint also näherzuliegen als der,
diese Schwierigkeit auf die denkbar einfachste Weise zu beheben, nämlich
durch die Einführung von Vokalzeichen. Es dauerte indessen mehr als 2000
(noch länger! HB) Jahre, bis dieser Schritt
getan wurde, indem die Griechen das nur noch aus ca. 30 Konsonantenzeichen bestehende
»phönikische Alphabet« dadurch veränderten, daß sie
verschiedene in ihrer Sprache unnötige Zeichen wie etwa das »Aleph«
für die Vokale benutzten. Erst damit entstand die einleuchtendste und am
meisten »demokratische«, d.h. leicht zu erlernende, Form der Buchstabenschrift,
die heute mit der gravierenden Ausnahme des Chinesischen, das den Charakter der
Bilderschrift bewahrt hat, in der ganzen Welt vorherrscht. (Ebd., 1998,
S. 111).Damit ist nach der Konsonantenschrift die Stufe der eigentlichen
Lautschrift erreicht, welche alle Bedeutungen auf unmißverständliche
Weise wiederzugeben vermag, aber keinerlei Ähnlichkeit mit den gemeinten
Sachen mehr aufweist und daher an die jeweiligen Sprachen gebunden ist. So fragwürdig
der Satz »Ex oriente lux« sicherlich ist, so wenig läßt
sich die in etwa parallele Aussage bestreiten: »Ex oriente litterae.«
(Ebd., 1998, S. 111).Für die zahlreichen und oftmals sehr
interessanten Einzelheiten dieser Entwicklung und für die Fülle verschiedener
Schriftgestalten ist auf die Literatur zu verweisen (**)
abschließend ist aber zu fragen, worin das Eigentümliche der Schrift
als solcher in ihren wenigen Grundformen besteht. (Ebd., 1998, S. 111).Schon
das Wort verleiht der punktuellen Feststellung Dauer und macht sie »erinnerungswürdig«.
»Der König Agamemnon kämpft mit seinem Heer um diese Stadt«,
mochten die Bewohner der Umgebung von Troja konstatieren, und obwohl der artikulierte
Laut sofort verschwand, konnte die Bedeutung von Person zu Person und sogar von
Generation zu Generation weitergegeben werden. Vielleicht machten die Nachfahren
ein Heldenepos aus demjenigen, was die Zeitgenossen oder die Rückkehrer einander
bloß erzählt hatten, und ganze Jahrhunderte mochten solche Lieder tradiert,
verändert und neu zusammengefügt haben - auf diese Weise ist vermutlich
die Ilias entstanden. (Ebd., 1998, S. 111).Aber wenn es keine
Sänger mehr gab, starb das Epos, und es konnte nie wieder lebendig werden.
Die einfachen Bildzeichen jedoch, die den ägyptischen Pharao auf sechs Lotosblüten
sitzen lassen und stilisierte Schilfpflanzen vor ihn stellen, fixierten das Ereignis
der Gefangennahme von 6000 Feinden bei einem Feldzug gegen das Schilfland im Nildelta
grundsätzlich für immer: Es mochte vergessen werden, aber es war zu
rekonstruieren, wenn Geschichtsschreiber das unbekannte Archiv entdeckten, in
dem diese Schriftzeichen verwahrt worden waren. (Ebd., 1998, S. 111).Die
Schrift ist die objektivierte, damit aber auch dem lebendigen Leben potentiell
entzogene Erinnerung, sie bedeutet einen gewaltigen Schritt der Abstraktion von
dem konkreten Vorgang, aber eine Abstraktion, die zugleich Konservation und der
Möglichkeit nach eine endlose Addition ist. Das Festhalten von Absprachen
und Erinnerungen durch die Schrift, der gewaltige Schritt der bewahrenden und
auslesenden Abstraktion, der den entsprechenden Schritt der (gesprochenen)
Sprache weit überholt, war offenbar die Grundvoraussetzung dafür, daß
aus dem Geschehen Geschichte wurde, und wir haben uns nun den »Hochkulturen«
zuzuwenden, mit denen die »historische Existenz« ihren Anfang nimmt.
Das früheste Beispiel ist das »Zweistromland«, ist die Kultur
der Sumerer, die meist als die »Kultur von Sumer und Akkad« bezeichnet
wird und von der das Buch eines bekannten Sumerologen sagt: »Geschichte
beginnt mit Sumer.« (Samuel Noah Kramer, Geschichte beginnt mit Sumer
- Berichte von den ursprüngen der Kultur, 1959). (Ebd., 1998, S.
112).
B) Schema der historischen Existenz
21) Herrschaft - Schichtung - Staat
Es ist ein verfehltes Unternehmen,
nur den Staaten der europäischen Neuzeit den Staatscharakter zusprechen zu
wollen. Aber umstritten ist, ob auch in der Vorgeschichte bereits Herrschaft,
Schichtung und Staat zu finden sind, und es ist eine sowohl uralte wie moderne
These, daß es in der Nachgeschichte Herrschaft, Schichtung und Staat nicht
mehr geben wird. (Ebd., 1998, S. 197).Das stärkste und
allerdings auch fragwürdigste Gegenargument zu solchen Annahmen und Vermutungen
besteht darin, mindestens Herrschaft in der Natur begründet zu sehen. Die
»Klumpen« Kants oder die »Akkretionen« der modernen Naturwissenschaft
ordnen sich je nach Größe und Kraft: Verdichtungen kosmischen Staubes
ziehen kleinere Verdichtungen an sich heran und bilden schließlich Weltkörper;
die Planeten kreisen um die Sonne, weil sie von deren Schwerkraft gleichsam eingefangen
sind. Die größere Masse, die stärkere Kraft unterwirft sich die
kleinere Masse, die schwächere Kraft; im Verhältnis der Himmelskörper
untereinander gibt es keinerlei Unterscheidung zwischen Macht und Recht.
(Ebd., 1998, S. 197).Aber ein so umfassender Begriff von »Herrschaft«
ist sicherlich unzulässig; unzweifelhaft richtig ist nur so viel, daß
im Kosmos Weltkörper von ganz unterschiedlicher Größe und Stärke
existieren und daher verschiedene Grade von Abhängigkeiten zu konstatieren
sind. Es wäre indessen nichts als eine bloß metaphorische Ausdrucksweise,
wenn man das Sonnensystem als einen »Staat« bezeichnen wollte, der
um die Sonne herum gebaut sei. (Ebd., 1998, S. 197).Was von
den Himmelskörpern gilt, trifft - mutatis mutandis - auch auf die Eichen
des Waldes als Repräsentanten der Pflanzenwelt zu: Die stärkere oder
durch Zufall begünstigte überlebt und setzt sich durch, aber sie ist
vollständig von den Systemen abhängig, in die sie eingebettet ist: von
dem Wald, von den klimatischen Verhältnissen, von Erdbewegungen. (Ebd.,
1998, S. 197).Anders sieht es in der Tierwelt aus, und es ist hier
an all das zu erinnern, was in Kapitel 8 (**)
umrißhaft geschildert wurde: an die »Ameisenstaaten« mit ihren
»Kasten«, »Kriegen« und »Sklaven«; an die
»Sippen« und »Horden« der Affen und Menschenaffen mit
ihrem »Sexualdimorphismus«, ihren »Alpha-Männchen«
und »Prügelmädchen«, aber auch mit den ersten Unterschieden,
die nicht mehr durch Instinkt, sondern durch »Erfahrungen« begründet
sind. »Befehl« und »Gehorsam« jedoch scheint es bei den
Primaten nirgendwo zu geben. (Ebd., 1998, S. 197-198).Auch
die frühesten Menschen, die aus dem »Tier-Mensch-Übergangsfeld«
herausgetreten waren, lebten noch für Tausende von Generationen in Sippen
und Horden. Es ist in höchstem Grade wahrscheinlich, daß der tüchtigste
Jäger jeweils eine führende Rolle übernahm, aber »Befehle«
dürften auch hier kaum erteilt worden sein, und von »Erblichkeit«
darf auch dann schwerlich gesprochen werden, wenn hier und da ein Sohn an die
Stelle des Vaters trat. Eine »Schichtung« kann es nur nach Alter und
Geschlecht gegeben haben. Ob und auf welche Weise sich Jägergruppen zu größeren
Einheiten wie »Stämmen« zusammenschlossen sowie der Rückschluß
von »Naturvölkern« der Gegenwart auf vorgeschichtliche Zustände,
wie er im 19. Jahrhundert von Ethnologen häufig vorgenommen wurde, begegnet
heute vielen methodischen Bedenken. (Ebd., 1998, S. 198).Eine
grundlegende Veränderung vollzog sich erst durch den Übergang zur Landwirtschaft
im Neolithikum, erst dadurch entstanden Dörfer und die ersten Städte.
Auch die Welt der Sammler und Jäger war keine unterschiedslose Welt, denn
es gab wildarme und wildreiche, trockene und feuchte Gegenden, aber erst nach
der Kultivierung von Pflanzen und der Domestizierung von Tieren erwies sich, was
die größere oder geringere Fruchtbarkeit der Erde bedeuten konnte und
welche Differenzen der Zufall hervorbrachte. Von Anfang an existierten ärmere
und reichere Dörfer, und da sich das Vieh in aller Regel im Besitz einzelner
Familien befand, unterschieden sich bald die Besitzer großer Herden von
denen kleiner Herden - vielleicht nur deshalb, weil Tierkrankheiten die einen
dezimiert und die anderen verschont hatten. (Ebd., 1998, S. 198).Der
elementarste Tatbestand aber war, daß nun erstmals ein »Überschuß«
produziert und Vorratswirtschaft betrieben werden konnte. Auch in primitiven Verhältnissen
erzeugt eine Bauernfamilie mehr an Lebensmitteln, als sie selbst verbrauchen kann,
und daraus resultiert die Möglichkeit, daß dieser Überschuß
anderen Menschen zur Verfügung gestellt wird, die als Handwerker wichtige
Hilfsdienste verrichten oder als Händler Güter herbeibringen, welche
in der nächsten Umgebung nicht zu haben sind, oder als Zauberer und Priester
Unheil abzuwehren bemüht sind. (Ebd., 1998, S. 198).Die
Möglichkeit der Arbeitsteilung, ihrerseits gefördert durch die landwirtschaftliche
»Überschuß«- oder »Mehrwert«produktion war
offenbar die elementare Grundlage für eine »Differenzierung«
in verschiedene Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die es im Zustand der Sammler
und Jäger noch nicht hatte geben können, weil hier alle Menschen »von
der Hand in den Mund« lebten und sich gleichmäßig an der Sicherung
des lebensunterhalts beteiligen mußten. (Ebd., 1998, S. 199).»Kooperation«
gewann nun einen ganz enuen Sinn, denn ihre Effekte waren nicht mehr unmittelbar
sichtbar. Der Händler, den man mit Lebensmitteln und Obsidianstücken
ausgestattet hatte, damit er in fernen gegenden Elfenbein eintauschte, konnte
erst nach Monaten seine Gegenleistung erbringen oder vorzeigen. Und auf die Errichtung
von Megalithgräbern mochte so viel an Arbeit verwendet werden, wie für
die Bestellung aller Felder mehrerer Dörfer erforderlich war: Mußte
hier nicht von einzelnen Menschen zuvor lange geplant oder gerechnet werden, und
ist es wirklich ausgemacht, daß alle diese Dorfbwohner die zusätzliche
Arbeit freiwillig und gleichmäßig leisteten? Hatten nicht vielleicht
die reicheren Dörfer zu günstigeren Bedingungen gegenstände eintauschen
können, so daß sie im vergleich immer reicher wurden, und hatte nicht
vielleicht ein Dorfältester oder ein Stammeshäuptling so viele freiwillige
Gaben erhalten, daß er Hunderte von Helfern für den Bau des Megalithgrabes
gewinnen konnte, das von den Ausgräbern nicht selten als »Fürstengrab«
bezeichnet wird? (Ebd., 1998, S. 199).Anwendung von
Gewalt durch den Stärkeren ist eine Grundrealität im Dasein aller Lebewesen,
auch wenn oft genug die lautlose Drohung schon genügt; Macht ist fixierte,
d.h. über den Augenblick hinaus dauernde, Gewalt, und Macht in diesem Sinne
besitzt bereits das »Alpha-Männchen« einer Pavianhorde, aber
vermutlich auch das tüchtigste Mitglied einer Jägergruppe -in beiden
Fällen ist die innere Zustimmung der Machtunterworfenen wahrscheinlich; Herrschaft
ist legitimierte Macht, und sie kann daher ohne Religion, ohne aus Arbeitsteilung
hervorgehende Schichtung und ohne die Sanktionsbereitschaft eines Staates nicht
bestehen. Herrschaft ist geschichtliche Herrschaft, so gewiß sie in Differenzen,
d.h. »Ungleichheiten«, der Vorgeschichte und der Tierwelt präfiguriert
ist. (Ebd., 1998, S. 203).Daher kann es erstaunlich scheinen,
daß die Geschichte gleichwohl von Kritik an der Herrschaft erfüllt
ist, und zwar nicht nur von Kritik an Eigentümlichkeiten, etwa einer exzeptionellen
Brutalität bestimmter Einzelherrschaften oder Herrschaftsformen, sondern
von grundsätzlicher Kritik an der Herrschaft überhaupt. Es ist daran
zu erinnern, daß Montaigne in seinen Essais erzählt, brasilianische
Indianer hätten, als sie nach Europa gekommen seien, ihr Erstaunen darüber
zum Ausdruck gebracht, daß Männer einem Kind gehorchten und daß
die benachteiligte Hälfte des Volkes die andere nicht an der Gurgel packe.
(Ebd., 1998, S. 203).In der Tat ist es die Konsequenz der Legitimität
einer Herrschaft, daß die Regeln der Erbfolge vor dem Gesichtspunkt der
Tüchtigkeit den Vorrang gewinnen können, und das ist jedenfalls deshalb
sinnvoll, um die sonst mit höchster Wahrscheinlichkeit ausbrechenden Kämpfe
unter den gleichmäßig tüchtigen Prätendenten zu vermeiden.
Aber die Augen primitiver Menschen können darin gewiß nichts anderes
als Absurdität wahrnehmen, und das gleiche gilt für gesellschaftliche
Unterschiede prononcierter Art, zumal dann, wenn das Zahlenverhältnis noch
viel einseitiger ist als bei der Unterscheidung einer Hälfte von der anderen.
Daß sogar eine gewaltige Majorität nicht aktionsfähig ist, wenn
sie nicht übereinstimmende Gefühle artikulieren kann, und daß
sie eine solche Übereinstimmung auch nicht aufbringen will, wenn in ihrem
Inneren unterschiedliche Lebenslagen vorhanden sind, wird dabei übersehen.
Aber offenbar ist das Empfinden weit verbreitet, daß das Einfachere das
Bessere ist und Herrschaft, Schichtung und »Staat« nichts Einfaches
und daher etwas Unnatürliches sind. (Ebd., 1998, S. 203-204).Von
diesem Empfinden war Jean-Jacques Rousseau geleitet, als er 1754 seinen Essay
über den Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen schrieb.
Rousseau konnte sich indessen auf die uralte Lehre vom guten »Naturzustand«
stützen, dem der künstliche Zustand der zivilisierten Gesellschaft entgegenzusetzen
sei, und diese Lehre wurzelte ihrerseits in dem christlichen Glaubenssatz der
»Vertreibung aus dem Paradies« infolge der Sünde. (Ebd.,
1998, S. 204).Im zwanzigsten
Jahrhundert ist diese Auffassung mit wissenschaftlichem Anspruch von den Vertretern
der sogenannten Überlagerungstheorie
zugrunde gelegt und weiterentwickelt worden, zumal von Alexander Rüstow in
seinem dreibändigen Werk Ortsbestimmung der Gegenwart, dessen erster
Text den Titel Ursprung der Herrschaft trägt. (Ebd., 1998, S.
204).Rüstow beruft sich nicht auf Rousseau, und er nimmt für
seine Konzeption keine schlechthinnige Originalität in Anspruch. Er weiß,
daß ihr ein jahrhundertelanger und schon häufig theoretisch explizierter
Tatbestand zugrunde liegt: die Unterwerfung des römisch-keltischen Gallien
durch die germanischen Franken in der Völkerwanderungszeit und die Eroberung
des angelsächsischen Englands durch die Normannen nach der Schlacht von Hastings
im Jahre 1066. (Ebd., 1998, S. 204).In England und zu mal
in Frankreich wurde in der neuzeitlichen Auseinandersetzung zwischen Adel und
Bürgertum häufig auf diese Vorgänge Bezug genommen, positiv durch
den Grafen Boulainvilliers, der sich und seinesgleichen als Nachfahren der fränkischen
Sieger stolz der Masse der unterworfenen Kelten entgegensetzte; negativ von den
Brüdern Thierry und während der französischen Revolution bereits
von dem Abbe Sieyes, der den Adel wegen dessen Abstammung von fremden Eroberern
aus der »Nation« ausstieß. Auch in England war die weitverbreitete
Polemik von Liberalen gegen den »Norman Conquest« in der Sache eine
Kritik an dem gegenwärtigen Adel. (Ebd., 1998, S. 204-205).Rüstow
nimmt nun unter Berufung auf Ibn Chaldun (**)
eine außerordentliche Verallgemeinerung vor, indem er alle Hochkultur
aus der Überschichtung von Bauernvölkern durch kriegerische Nomaden,
durch semitische und indogermanische »Herrenvölker« hervorgehen
läßt, die weit überlegene Kriegsmittel, nämlich Streitwagen
und Pferde, besaßen. Erst durch die erstmalige Bildung von »Reichen«
wurde jene breite »soziologische Grundfläche« geschaffen, welche
Bevölkerungsverdichtung und damit die Entstehung von Städten möglich
machte. (Ebd., 1998, S. 205).Dies ist die positive, die geschichtsbegründende
Seite, aber ihr entspricht die negative, welche die Vertreibung der Menschen aus
dem »sozialen Paradies« der bäuerlichen und kleinräumigen
Gemeinschaften bedeutete, in denen es weder Herrschaft noch Schichtung, noch Staat
gegeben hatte, wohl aber ein gewisses Maß an Führung und an kleinen
Differenzen innerhalb der vielen Gemeinwesen. (Vgl. Alexander Rüstow, Ortsbestimmung
der Gegenwart, Band I [Urpsrung der Herrschaft], 1950, S. 109). Rüstow
schreckt nicht davor zurück, direkt an die Vorstellungen des Christentums
anzuknüpfen, die er im übrigen weitgehend zugunsten einer »natürlichen«,
nicht-asketischen und auch sexuell »normalen« Lebensführung verwirft,
und zu schreiben:Wir
alle, sämtlich und sonderlich, sind Mitschuldige dieser großen Schuld,
dieser wahren Erbsünde. (Vgl. ebd., S. 98). | Eine
der verhängnisvollen Folgen der Erbsünde der Eroberung und Überlagerung
(**)
ist z.B. die Idee der »auserwählten Völker«, ist ferner
der Imperialismus, ist die Konzentrierung alles wesentlichen Kapitals in den Händen
einer kleinen Minderheit und ist vornehmlich die Tatsache, daß die Nachfahren
der Eroberer noch immer von jenem »Mehrwert« leben, der zuerst den
besiegten Bauern durch abgezwungene Tribute geraubt worden war. Trotz aller modernen
Tendenzen in Richtung auf die Erringung von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«
ist das große Ziel der »Isonomie der restlosen Gleichberechtigung«
(ebd., S. 209), immer noch nicht erreicht, ist »das Gift des universalgeschichtlichen
Sündenfalls der Überlagerung« noch nicht aus dem Sozialkörper
ausgeschieden. (Vgl. ebd., S. 276). (Ebd., 1998, S. 205).Rüstow
bleibt allerdings weit davon entfernt, einem radikalen Egalitarismus das Wort
zu reden, und eine gewisse Übereinstimmung in den Grundideen hindert ihn
nicht, dem Bolschewismus in schroffer Feindschaft gegenüberzutreten; sein
Ziel ist eine Leistungsgesellschaft, in der keine »künstlichen«
Besitzeinkünfte die Unterschiede der natürlich begründeten Leistungseinkommen
zu verzerren vermögen, und diese Gesellschaft kann nach ihm nur in einem
»Weltstaat« verwirklicht werden, der echte Kleinräumigkeit und
damit den Wiedergewinn einer natürlichen und unverdorbenen Lebensführung
möglich macht. (Ebd., 1998, S. 205-206).Schon in der
Weimarer Republik hatte Franz Oppenheimer ähnliche Gedankengänge vertreten,
die an die Frühsozialisten anknüpften und das Heilmittel in der Aufhebung
der durch den Großgrundbesitz hervorgerufenen »Bodensperre«
erwarteten, so daß das ganze Land und im weiteren Verlauf die ganze Erde
sich mit wohlhabenden und relativ autonomen Gemeinwesen bedecken könnten.
Nach der Ablösung des bisher die ganze Geschichte bestimmenden oder mitbestimmenden
»politischen Mittels« würde die Alleinherrschaft des »ökonomischen
Mittels« gegeben sein: eine auf voller ökonomischer Freiheit der Individuen
beruhende und weltweite Wettbewerbsgesellschaft, die aber nur kleine Differenzen
der ökonomischen Lage und mithin weder Herrschaft noch Schichtung (d.h. Klassen),
noch Staaten hervorbringen werde. Wie später Rüstow scheut sich Oppenheimer
nicht, an religiöse Vorstellungen anzuknüpfen und den zweiten Band seines
Systems der Soziologie mit den Worten zu beschließen: »Das
ist der Leidens- und Erlösergang der Menschheit, ihr Golgatha und ihre Auferstehung
zum ewigen Reich: vom Krieg und Frieden, von der feindlichen Zersplitterung der
Horden zur friedlichen Einheit der Menschen, von der Tierheit zur Humanität,
vom Raubstaat zur Freibürgerschaft.« (Franz Oppenheimer, Der Staat,
1925, S. 811). Es ist sehr bemerkenswert, daß Oppenheimer trotz dieser »progressiven«
Orientierung eine große Hochschätzung der mittelalterlichen verhältnisse
an den tag legt und daß die Neuzeit daher immer wieder wie Dekadenz und
Absturz erscheint. Dazu paßt es, daß er »reaktionäre«
Autoren wie Konstantin Frantz häufig mit viel Respekt zitiert. Wenn man genau
hinsieht, findet sich bei Marx manches vergelichbare. Die Richtigkeit der Überlagerungstheorie
und damit das bevostehende »Ende der Herrschaft« nimmt auch Alfred
Weber in seinen verschiedenen Werken der Zeit nach 1945 an. Die klassische Studie
über die »orientalische Despotie« ist Karl August Wittfogels
gleichnamiges Buch (1962). (Ebd., 1998, S. 206).Die Überlagerungslehre
führt Herrschaft, Schichtung und Staat auf »exogene« Ursachen
zurück, vornehmlich auf die Eroberung; Platon dagegen macht endogene Faktoren
zur Ursache, insbesondere die Arbeitsteilung. Kritik zu üben ist nicht schwierig:
Die erste Hochkultur der Menschheit, die sumerische, beruhte weder auf der Unterwerfung
einer andersethnischen Unterschicht noch auf einer Reichsbildung; die als »Barbaren«
empfundenen Gutäer und Kassiten eroberten Babylon und bildeten zeitweise
eine Herrenschicht, aber sie assimilierten sich sehr rasch an die Unterworfenen,
und sie brachten den babylonischen Staat nebst Herrschaft und Schichtung keineswegs
hervor; der Begriff der »Eroberung« hat eine intensivere und von Rüstow
ebenso wie von Oppenheimer ganz vernachlässigte Erscheinungsform, nämlich
die Verdrängung oder Vernichtung der Besiegten. Aber es läßt sich
nicht übersehen, daß Oppenheimer und Rüstow und auch Alfred Weber
sich von einer sehr konkreten Erfahrung bestimmen ließen, der Erfahrung
der starken Rolle des Adels im wilhelminischen und sogar noch im Weimarer Deutschland.
(Ebd., 1998, S. 206).Heute gibt es bis auf unbedeutende Reste keinen
Adel mehr. Die These ist möglich, daß der Adel durch Jahrtausende hindurch
und zumal in den Anfängen der Geschichte die bedeutendste aller Schichten
gewesen sei, und es ist auffallend genug, daß auch Platon bei seiner Konstruktion
des Staates aus »endogenen« Ursachen den »Wächtern«
und ihrer Ausrichtung auf die Verteidigung des Staates eine besonders wichtige
Rolle zuschreibt. Es könnte sein, daß die Existenz eines Adels, mindestens
bisher, besonders charakteristisch für die »historische Existenz«
gewesen ist und daß, wenn er verschwinden konnte, vielleicht auch Herrschaft,
Schichtung und Staat an eine bloße Phase der menschlichen Existenz, an die
historische Phase, gebunden sind. (Ebd., 1998, S. 206-207).
23) Krieg und FriedenSoweit wir vom Menschen verläßliche
Kunde haben, war es immer ein Ausnahmefall, daß ein Mensch den anderen Menschen
um seines Menschseins willen schonte. Daraus ließe sich zwingend ableiten,
daß auch der Krieg den Menschen als Menschen kennzeichnet und daher niemals
»abgeschafft« werden kann, wie es der Pazifismus von jeher gefordert
hat. Aber die These ist nicht unbestritten geblieben, und man hat im Gegenteil
auch von »tiefen biologischen Wurzeln« des Krieges gesprochen.
(Ebd., 1998, S. 217).Ameisenstaaten führen Vernichtungskriege
gegen andere Ameisenstaaten, die eine Rattenart rottet die andere Rattenart vollständig
aus, und Schimpansensippen kämpfen gegen andere Schimpansensippen auf Leben
und Tod, obwohl sie im allgemeinen solchen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu
gehen versuchen. Nach Darwin ist das ganze Naturleben ein einziger Krieg, und
wer könnte bezweifeln, daß die Menschen von Urzeiten an einen großen
Krieg gegen die Tiere geführt haben? (Ebd., 1998, S. 217).Ist
es wahrscheinlich, daß ein so fundamentaler Charakterzug des Lebens aufhören
wird zu existieren, wenn der Mensch eine solche Überlegenheit gewonnen hat,
daß er die Tiere nicht mehr jagt, sondern nur noch schlachtet - wird sich
dann nicht weit eher der Kampfimpuls des Lebens selbst noch mehr als während
der früheren Zeiten in Kriegen von Menschen gegen Menschen entladen? Oder
sollte es tatsächlich so sein, daß der Mensch als solcher von Natur
aus friedlich ist und nur von bösen Herrschern um egoistischer Interessen
willen in den Kampf gegen seinesgleichen getrieben wurde? Dann wäre die Wurzel
des Krieges weder in einer Natur des Menschen noch im Wesen des Lebens zu suchen,
sondern er wäre ein kulturelles Phänomen, das wie andere kulturelle
Phänomene eines Tages verschwinden könnte, das also keineswegs übergeschichtlich,
sondern sogar im engsten Sinne »historisch« wäre. (Ebd.,
1998, S. 217).Was uns bisher an Kriegen bzw. an blutigen Auseinandersetzungen
begegnet ist, spricht nicht zwingend gegen eine exklusive Zusammenbindung von
Krieg und Geschichte und schließt auch den Kausalnexus von Herrschaft und
Krieg nicht von vornherein aus. Die kämpfenden Bogenschützen auf prähistorischen
Felsbildern lassen auch andere Interpretationen zu, und zu mehr als bloßen
Vermutungen geben sogar die Mauern und der gewaltige Turm des vorgeschichtlichen
Jericho keinen Anlaß, denn Sicheres wissen wir nicht. (Ebd., 1998,
S. 217).Es könnte sein, daß Höhe und Tiefe im menschlichen
Dasein aufs engste verknüpft sind, daß das eine ohne das andere nicht
zu haben ist und die Alternative nur Einebnung und Mittelmaß sein kann,
ja daß mit der Erfahrung des Krieges auch die Erfahrung des Friedens hinfällig
wird, weil das eine jeweils nur aus dem anderen seine innere Kraft gewinnt.
(Ebd., 1998, S. 223).
26) Geschichtsschreibung und SuperioritätsbewußtseinDaß
die Geschichtsschreibung mit dem Realen zu tun hat, wird in ihren ersten Anfängen
auf geradezu überwältigende Weise deutlich. Das früheste ihrer
Motive waren die Taten der Könige vornehmlich ihre Kriegszüge und daneben
ihre Bautätigkeit; meist sind die Berichte in der Ich-Form gehalten und fast
durchweg von einem Triumphalismus geprägt .... (Ebd., 1998, S. 234).Die
Geschichtsschreibung als ein Hauptelement der historischen Existenz setzt nicht
nur große Taten voraus, sondern auch das Vorhandensein von Städten
.... (Ebd., 1998, S. 244).
26) Stadt und LandOhne die Stadt gibt es keine Geschichtsschreibung
und vielleicht keine Geschichte, aber das Land ist weit älter als die Stadt
und deren unentbehrliche Voraussetzung. »Land« ist hier nicht als
Gebiet zu verstehen, das Wüste oder Urwald und unbesiedelt sein mag. »Land«
kommt vielmehr erst mit der Landwirtschaft zur Existenz: Nur wenn irgendwo Menschen
Felder abgrenzen und besäen, nur wenn sie Ernten erwarten und sich darauf
vorbereiten, darf von »Land« die Rede sein. Die Jäger und Sammler
leben in einem Gebiet, aus dessen natürlichen Erträgen sie ihren Unterhalt
gewinnen und innerhalb dessen sie bald hier, bald dort kampieren: Sie haben keine
»Wohnsitze« und sind deshalb keine »Landbewohner«.
(Ebd., 1998, S. 244).Erst mit dem Beginn des Neolithikums bilden
sich die ersten Dörfer: kleine Ansammlungen von Häusern, deren Bewohner
Felder bestellen und in geringem Ausmaß Viehzucht treiben, mögen sie
nun Felder und Tiere als gemeinsames Eigentum ansehen oder eine Aufteilung unter
die Klein- oder Großfamilien vorgenommen haben. In jedem Fall ist Nachbarschaft
und damit persönliche Kenntnis ein Hauptkennzeichen des Dorfes, und daraus
entsteht notwendigerweise eine »Dorfgemeinschaft«, innerhalb deren
alle anstehenden Fragen - etwa diejenigen des Beginns der Aussaat oder des Schutzes
gegen Bedrohungen durch wilde Tiere - besprochen werden. (Ebd., 1998, S.
244).Der Ernteüberschuß ist das spezifisch Landmäßige
für die Entstehung der von Herrschaft und von Städten; Gefahr und Ausweitung
sind die Voraussetzungen, deren eine aus der Situation aller Lebewesen und deren
andere aus der eigentümlichen Natur des Menschen resultiert; in eins gefaßt,
teriben sie das Land über sich selbst hinaus zur Stadt und die Dorfdemokratie
zur Gebietsherrschaft. (Ebd., 1998, S. 246).Aber die große
Anziehungskraft der Städte beruhte keineswegs bloß auf den Tempeln,
sondern bestand auch in ihrem bereits höchst vielfältigen Leben: den
Festen und Prozessionen, dem König und seinen Verwaltungsbeamten, den zunächst
noch staatlichen oder halbstaatlichen Kaufleuten, den Handwerkern, Jägern,
Fischern und Sklaven, nicht zuletzt den Dirnen, die ihrerseits in mehrere Klassen
geteilt waren. Auch über der frühen Stadt lag schon ein Hauch von Verderbtheit
und Korruption, denn dorthin strömte der gewaltige Überschuß des
Landes, und seine Verteilung konnte zu keinem Zeitpunkt so erfolgen, daß
strikte Reziprozität gegeben war; d.h. mit der Stadt entstand nicht nur die
Wirklichkeit einer großen Fülle von Luxusgütern, sondern auch
die Möglichkeit von parasitären Existenzen, deren klassisches und uraltes
Paradigma die Prostituierten sind. (Ebd., 1998, S. 249).Mit
der Stadt kommt ein anderer und engerer Begriff von »Kultur« auf.
»Kultur« im weiten anthropologischen Sinne ist die Agrikultur, der
Landbau, ist aber auch schon die Jagd mit Speeren und Bogen und ist sogar das
Sammeln von Früchten und Wurzeln - jene Fortsetzung und steigernde Verwandlung
der schon bei einigen Tieren feststellbaren »Vorkultur«; aber das
Stadtleben ist »kultiviert«, es impliziert Verfeinerung und das heißt
Luxus. Dieser Luxus und diese Verfeinerung sind nicht gleichmäßig verteilt;
wer daran Anteil hat, gehört zu der Oberschicht, oder besser: wer zu der
dirigierenden, administrierenden und den Götterdienst vollziehenden Oberschicht
gehört, der gewinnt auch Anteil an diesem Luxus und damit an dem für
die Lebensfristung Überflüssigen. Er mag über Badezimmer und Kühlräume
verfügen. Die Masse der Bevölkerung lebte dagegen ärmlich genug
und verfügte sicherlich häufig nur eben über das Lebensnotwendige,
aber offensichtlich war auch sie von der Kultur in diesem engeren Sinne nicht
völlig ausgeschlossen und sei es nur durch die Fülle von Sichten, die
sich ihr Tag für Tag von neuem boten, während draußen auf dem
Lande das Leben zweifellos höchst eintönig verlief. (Ebd., 1998,
S. 249).Die Stadt - Trägerin eines neuen Begriffs von Kultur,
Stadtstaat und Reichshauptstadt, Ackerbürgerstadt, Tempelstadt, Militärstadt,
Handelsstadt, Herrscherstadt - gehört seit den Anfängen aufs engste
zur Geschichte, aber immer in ihrem relativen Gegensatz zum »Land«
und in ihrer völligen Differenz zur »Steppe«; eine stadtfreie,
rein ländliche Geschichte hat es nie gegeben, und selbst die großen
Eroberungszüge der Kassiten, der Hyksos, der Kimbern und Teutonen und später
der Mongolen sind nur dadurch zu »Geschichte« geworden, daß
sie auf städtische Zivilisationen stießen, die sie zwar teilweise zerstörten,
denen sie sich aber später anpaßten, sofern sie nicht schwere Niederlagen
erlitten und vernichtet wurden. (Ebd., 1998, S. 251).Indessen
ist ein Charakter der Stadt noch ausgespart, weil ihm ein eigenes Kapitel gewidmet
werden soll: Die Stadt ist die Heimat der Schreiber, der Literaten, der Anfänge
der Wissenschaft. .... Überall fanden sich Ausbildungsstätten für
den Nachwuchs der Schreiber, und nicht ganz selten läßt sich die Behauptung
finden, durch die Bildung werde der Mensch erst wirklich zum Menschen. Menschsein,
hieß das mit anderen Worten, war keine natürliche Gegebenheit, sondern
nur eine Art von Rohstoff, der durch den Unterricht der Lehrer und Weisen so zum
»eigentlichen« Menschsein gebildet wurde, wie der Ton durch den Töpfer
zur Figur gemacht wurde. (Ebd., 1998, S. 251-252).
27) Schulbildung und WissenschaftenUnter »Bildung«
kann alles verstanden werden, was den Lebewesen nicht durch die Erbausstattung,
also als »Instinkt«, gegeben ist. In diesem Sinne ist Bildung nicht
spezifisch menschlich: Die Jungtiere der Grünen Meerkatzen kennen Raubvögel
und Schlangen nicht »von Natur« oder aus Instinkt, und sie sind gar
nicht von vornherein mit der Bedeutung der Warnrufe vertraut, mit denen die erwachsenen
Tiere die Gefahren kenntlich machen, die von Adlern, Schlangen oder Menschen drohen.
Sie müssen also »lernen«, und ihr ganzes junges Leben ist eine
Art Schule, bis ihnen das Verständnis für die verschiedenen Zeichen
»in Fleisch und Blut« übergegangen ist, so daß sie nichts
Neues mehr zu lernen brauchen. Abermals anders wäre das tierische Lernen
im Falle jener Schimpansensippe, welche die Vorteile des Abwaschens erdiger Kartoffeln
verstanden hätte und nun ihren Jungen gleichsam Unterricht erteilen müßte,
der schwerlich auf das bloße Beispielgeben beschränkt sein könnte.
(**). (Ebd., 1998, S. 252).Die
vorgeschichtliche Menschheit hat zweifellos außerordentliche Bildungsleistungen
vollbracht, denn zwischen dem Waschen von Kartoffeln und dem Anfertigen von Steinbeilen
oder der Hervorbringung von Höhlenbildern gibt es zwar keine absolute, wohl
aber eine qualitative Differenz. Schon die Jäger der Altsteinzeit mußten
ihre Knaben gewiß lange Zeit durch ständiges Üben unterrichten,
bis diese die Speere richtig anzufertigen und zu verwenden gelernt hatten, und
die jungen Frauen konnten erst allmählich lernen, mit dem Feuer richtig umzugehen.
Aber die ersten Dörfer wurden gebaut, und das erste Land wurde der Wüste
und den Sümpfen abgerungen, ohne daß »Schulen« vorhanden
gewesen wären. Das Lernen war ein ebenso selbstverständlicher und allgemeiner
Teil des Lebens der Jungen, wie das Unterrichten und Beispielgeben ein selbstverständlicher
und allgemeiner Teil des Lebens der Erwachsenen war. (Ebd., 1998, S. 252).Erst
die Schrift schuf eine weitere qualitative Differenz. Selbst die einfachste Bilderschrift
kann nicht schlicht ein »Abmalen« sein, wie Kinder es von sich aus
vornehmen, sondern sie unterliegt einer gewissen Schematisierung und macht sehr
bald auch symbolische Zeichen erforderlich, um Tätigkeitsbeziehungen oder
Zahlen auszudrücken. Die Schrift kann nur in der Schule gelehrt und gelernt
werden, und je größer die Zahl der Zeichen ist, um so länger dauert
die Ausbildung und um so professioneller werden die Lehrer, um so mehr wird der
Gang zur Schule für lange Jahre zum Hauptinhalt des Lebens der Schüler.
(Ebd., 1998, S. 253).In Mesopotamien vollzog sich die Bildung der
Schreibschüler, die nur eine kleine Minderheit der gesamten Jugend ausmachen
konnten, in dem sogenannten Tontafelhaus: Hier lernte man den Umgang mit dem Rohrgriffel,
hier wurde man mit den zunächst über 2000 Zeichen der Keilschrift vertraut
gemacht, hier mußte man Übungsstücke lesen und selbst wiedergeben.
Hier wurden aber auf den höheren Stufen auch Literaturwerke studiert und
interpretiert; das »Tontafelhaus« umfaßte alle Schularten von
der Grundschule bis zur »Universität«. Es gehörte häufig
weder zum Palast noch zum Tempel, sondern trug privaten Charakter, so daß
der »Meister« ein hohes Maß von Initiative und Verantwortung
aufbringen mußte, aber von seiten der Schüler häufig zum Gegenstand
großer Verehrung wurde. (Ebd., 1998, S. 253).An manchen
Orten waren die Schreiberschulen indessen auch Bestandteile des Palastes, und
in jedem Falle wurde ihnen von seiten der Könige viel Aufmerksamkeit zuteil,
denn diese selbst beherrschten (in aller Regel) das Schreiben nicht, und sie waren
für ihre Verwaltung und für ihre diplomatische Korrespondenz ständig
auf die Schreiber angewiesen. So wurden die Schreiber oder Schriftkundigen sowohl
in Mesopotamien als auch in Ägypten bald zu der ersten echten »Klasse«
von Menschen, d.h. zu einer Gruppe, die sich durch eindeutige Kennzeichen von
allen anderen Menschen unterschied und ein positives Selbstverständnis dieser
Unterschiedenheit entwickelte. (Ebd., 1998, S. 253).Allenfalls
bei Priestern und Offizieren war dieses Sich-Unterschiedenwissen ebenso ausgeprägt,
und mindestens von den Priestern zählte ein Teil zu den Schriftkundigen.
Besser spricht man allerdings von »Ständen«, denn die Zugehörigkeit
implizierte zugleich ein bestimmtes Maß von Ehre und Ansehen. Sie bedeutete
gleichzeitig ein Freisein von harter körperlicher Arbeit, und die Ausrichtung
auf ein leichteres und angenehmeres Dasein kommt in einer Reihe von Zeugnissen
auf erstaunlich unbefangene Weise zum Ausdruck. (Ebd., 1998, S. 253).Was
die Wissenschaft im engeren Sinne angeht - Medizin, Astronomie, Mathematik, angeordnet
nach ihrer Entfernung von unmittelbarer Praxis -, so könnte man wohl von
der »Geburt der Wissenschaft aus dem Geiste der Magie« sprechen, denn
nicht nur in den Anfängen, sondern viele Jahrhunderte hindurch waren sowohl
in Mesopotamien als auch in Ägypten alle Versuche, gegen die dem Leben drohenden
Gefahren anzugehen oder positive Wirkungen irgendwelcher Art hervorzurufen, aufs
engste mit der Abwehr von Dämonen oder der Ingangsetzung von Heilungsprozessen
durch Beschwörungen oder der Erkenntnis der Zukunft durch Vorzeichen verknüpft.
(Ebd., 1998, S. 255).Fast so wichtig wie Schamasch war für
die Babylonier die Dämonin lahasthu, und sie nahmen »die Hand des Nergal«
wahr, wenn die Pest ausbrach. Magisch oder theurgisch waren die Mittel der Helfer,
der »azu«, der Ärzte, aber sie waren von früh an mit genauer
Beobachtung verbunden und bahnten den Weg für eine empirische Medizin, in
der eine Fülle von »handwerklichem« Wissen überliefert wurde,
die aber nie ganz auf magische Mittel verzichtete oder dem Exorzisten weiterhin
einen Platz neben dem Arzt zuwies. So wird an einer Stelle vorgeschrieben: »
Er möge ihm einen Exorzisten und einen Arzt beistellen, und sie sollen zusammen
ihre Behandlung durchführen«. (Ebd., 1998, S. 255-256).Auch
Ärzte rezitierten wohl vor der praktischen Behandlung ein »Handerhebungsgebet«
über den Patienten. Der Exorzist amtierte im roten Ornat und umschritt vielleicht
das Bett des Patienten mit einem Räuchergerät und einer Kultfackel,
er beschwor die Dämonen mit Sprüchen wie »Fahre aus, böser
Dämon, komm herein, guter Dämon«, aber Worte allein genügten
nicht, sondern es wurden Mittel gegeben, denen man eine weit über das Natürliche
hinausgehende Wirkung zuschrieb. (Ebd., 1998, S. 256).Der
Schritt zu Medikamenten, denen auch heute noch heilende Kraft zuerkannt wird,
war jedoch nicht weit: So wurden Pflanzenharze und Öle, Nüsse in Honig
und Dattelkerne verschrieben, aber auch »das linke Horn eines Ziegenbocks«,
Mädchenhaar oder Exkremente vom Fuchs. Man kannte indessen ebenfalls Pillen,
Suppositorien, Salben, Wickel, Breiumschläge und Klistiere. Die Zuordnung
zu den Krankheiten beruhte auf genauer Beobachtung: Apoplexie, Epilepsie, Veitstanz,
Muskelkrämpfe wurden genau unterschieden, der Heileffekt von Schwitzkuren
war bekannt, und Hämorrhoiden wurden mit scharfen Messern behandelt.
(Ebd., 1998, S. 256).Ganz ohne Mithilfe der Magie mußten
die chirurgischen Eingriffe auskommen. Dazu gehörten erstaunliche Schädeltrepanationen,
von denen wir auch durch die Auffindung entsprechend behandelter Schädel
Kenntnis haben. Aber man wird nicht sagen können, daß die mesopotamische
und die ägyptische Medizin einen geraden Weg »vom Mythos zum Logos«,
d.h. von der Magie zur Wissenschaft oder doch zu hoher Kunstfertigkeit, durchlaufen
hätten; die Magie behielt immer einen anerkannten Platz, und mit einiger
Kühnheit könnte man sogar behaupten, im Alten Orient sei die empirische
Medizin auf vorbildliche Weise durch psychologische Mittel der inneren Stärkung
der Patienten unterstützt worden. Bis zu Analysen allgemeiner Art und zur
Hervorbringung von Lehrbüchern gelangte diese Medizin indessen nicht.
(Ebd., 1998, S. 256).Auch die Astronomie ist aus Wünschbarkeiten
des praktischen Lebens hervorgegangen, denn die Astrologie gehörte zu den
»Vorzeichenwissenschaften«, die etwa anhand der weitverbreiteten Leberomina
die Kenntnis einiger innerer Organe von Tieren außerordentlich förderten.
Ebenso diente die Beobachtung der Sterne der Vorhersage künftiger Geschicke
nicht so sehr von Einzelnen als von Fürstenhäusern, aber auch der Ernteaussichten.
Auch die Anfänge des Kalenderwesens gehen auf diese frühen Beobachtungen
des Mond- und des Sonnenlaufes zurück, und nach der Jahrtausendwende sind
regelrechte Sternwarten in den Städten Uruk, Nippur, Babylon, Assur, Ninive
und anderen bezeugt. Die Sternbilder der Ekliptik hatten schon früher Namen
erhalten, die Identität der Venus als Morgen- und Abendstern war kein Geheimnis.
Auch die anderen Planeten wurden genau beobachtet, und der Glaube an ihren Einfluß
auf das menschliche Leben, der auch heute noch in starken Resten vorhanden ist,
war allverbreitet, so galt z.B. der Mars allgemein als »böse«.
(Ebd., 1998, S. 256-257).Die Länge des Mondmonats von 29,5
Tagen war vermutlich schon in vorgeschichtlichen Zeiten bekannt, und die Zuschreibung
der einzelnen Tage zu einem Festkalender ist bereits aus der Zeit Gudeas überliefert:
So ging dem ersten Tage eine Neulichtfeier am Vorabend voraus, der dritte war
die Vigil für das Eschesch-Fest am vierten, wo die Zulassung von Laien zum
Tempel und damit die » Tempelbegrüßung« stattfand, der
siebte Tag war ein Unglückstag, der 15. war der Tag der Vollmondfeier, der
Ischtar heilig und zugleich der Tag der »Herzensberuhigung« der Götter;
am 25. fand in Babylon die Prozession der Ischtar statt, die ihr gewidmeten Opfer
wurden in Richtung des Großen Wagens dargebracht, der 30. war der Tag des
Jubels für die Mondgottheit Schin. (Ebd., 1998, S. 257).Kein
einziger Tag war ohne religiöse Bedeutung, und sei es nur die von drohendem
Unheil; die Menschen und der ganze Staat lebten ständig in der Bezogenheit
auf Himmelsvorgänge; sie waren »kosmotheoroi«, um einen Ausdruck
zu gebrauchen, den Kant in seinem Opus postumum für die Definition des Menschen
verwendete. Die einzelnen Monate erhielten ihre Namen teils von Götterfesten,
teils von den Perioden der Vegetation wie »Blütenmonat« oder
»Reifezeit«. Der Unterschied zwischen der Länge des Mondjahres
(zu 354 Tagen) und des Sonnenjahres (zu 365 Tagen) war früh geläufig,
und wieder wird die enge Verbindung von Astrologie, Astronomie und Kalenderwesen
anschaulich, wenn es in einem Omentext heißt: »Setze den Kalender
fest und vervollständige ihn mit einem Schaltmonat.« (Ebd., 1998,
S. 257).Eine Zählung der Jahre nach einem zentralen Ereignis
wie »vor oder nach Christi Geburt« gab es natürlich nicht, am
verbreitetsten war die Zählung nach den Regierungsjahren der Könige.
Daß Mondfinsternisse erklärt und sogar vorhergesagt werden konnten,
ist nicht vor das Jahr 600 v. Chr. zu datieren, und erst von diesem Zeitpunkt
an trennte sich die Astronomie endgültig von der Astrologie. (Ebd.,
1998, S. 257).Die altmesopotamische Mathematik beruhte auf einem
sexagesimalen, aber dezimal durchsetzten Zahlensystem, d.h. die Reihe der positiven
Zahlen war 1, 10, 60, 600, 3600 (602),603; offenbar beruhen die mythisch langen
Regierungszeiten in den sumerischen Königslisten auf solchen Zahlen. Obwohl
man Multiplikation und Division als eigenständige operationen nicht kannte,
sondern den Umweg über wiederholte Additionen bzw. Subtraktionen machte,
konnten mit Hilfe von Reziprokentabellen Rechnungen von erstaunlichem Umfang und
großer Genauigkeit durchgeführt werden; Quadrat- und Kubikwurzeltabellen
waren andere geläufige Hilfsmittel. Der pythagoräische Lehrsatz war
der Sache nach bekannt, aber er wurde nicht abgeleitet, und Formeln oder Beweise
euklidischer Art sind nicht zu finden. Mathematik und Rechnungswesen dienten eben,
sowohl in Mesopotamien wie in Ägypten, vorwiegend praktischen Zwecken: der
Feldvermessung, der Mengenberechnung bei Bauwerken, der Bestimmung von Zins und
Zinseszins. (Ebd., 1998, S. 257-258).Daher läßt
sich die These verfechten, der Alte Orient sei sowohl in der Medizin wie in der
Astronomie und der Mathematik nur bis an die Schwelle der Wissenschaft gelangt
und diese Schwelle sei erst von den Griechen überschritten worden. Aber der
Weg war so lang und so schwierig, und er führte so eindeutig in die Richtung
dieser Schwelle, daß Schulbildung und Wissenschaft als unentbehrliche Bestandteile
des Schemas der historischen Existenz betrachtet werden müssen. Was wäre
eine wichtigere Vorbedingung von Wissenschaft und Bildung als die Erfindung der
Schrift, und ist mit der Professionalisierung von Schreibkunst und Wissen nicht
eine unumkehrbare Entwicklung eingeleitet? Von einer auch nur tendenziellen »Verwissenschaftlichung«
des Lebens kann freilich keinesfalls die Rede sein, wohl aber war das gemeinschaftliche,
von der Religion im Sinne von Götterdienst und Aberglauben durchdrungene
Leben bereits sehr vielfältig geworden, und der Alltag bedurfte der Ordnungen,
insbesondere der Alltag der Sexualität und der Ökonomie. (Ebd.,
1998, S. 258).
28) Die Ordnungen des Alltags (Sexualität, Ökonomie)Als
vor Jahrmilliarden die Eukaryonten auftraten, vermehrten sie sich bereits sexuell,
d. h. dadurch, daß ein Elternpaar erforderlich war, um Nachkommen hervorzubringen,
in denen sich das Erbgut der Eltern auf die vielfältigste Weise mischte,
so daß keine Generation einfach ein Abbild der anderen war. Das »Fressen
und Gefressenwerden« ist bereits den Prokaryonten zuzuschreiben: Schon das
primitivste Lebewesen muß sich Nahrung zuführen, und diese Nahrung
kann auch aus anderen Lebewesen bestehen. (Ebd., 1998, S. 259).So
ist uns Sexualität bisher auch im vormenschlichen Bereich des öfteren
begegnet, während die Ökonomie erst als Handel vor die Augen kam: Bei
einigen Rankenfüßern ist das Männchen zu einem bloßen Fortpflanzungsorgan
geschrumpft, das auf dem Weibchen parasitiert, und bei den Mantelpavianen findet
sich ein ausgeprägter sexueller Dimorphismus, denn die Weibchen wiegen nur
die Hälfte der Männchen. Umgekehrt ist der Vorrang des weiblichen Geschlechts
bei Bienen und Ameisen überaus stark ausgeprägt; es handelt sich bei
allen Stöcken und Völkern um weibliche Gemeinschaften, innerhalb deren
aber nur ein einziges Geschlechtstier - die »Königin« - für
die Fortpflanzung sorgt, während alle Arbeiterinnen unfruchtbar und in ihren
mütterlichen Instinkten auf das Pflegen und Sammeln beschränkt sind;
das männliche Geschlecht - die Drohnen - hat nur die punktuelle Funktion
des Samenspendens und wird danach getötet; bei den Säugetieren dagegen
sind alle Weibchen fruchtbar, aber sie sind nur während begrenzter Zeiten
empfangsbereit, die z.B. bei Schimpansen und Pavianen durch Schwellung und Rötung
der Genitalien angezeigt wird, so daß das Geschlechtsleben in der freien
Wildbahn nur eine relativ geringe Rolle spielt und von den Notwendigkeiten des
Ringens um die bloße Existenz oft überdeckt wird. Bei den Bonobos dient
das Geschlechtsleben allerdings, wie Primatenforscher entdeckt haben, über
wiegend der Konfliktlösung, da die Weibchen die meiste Zeit sexuell zugänglich
sind, und so haben wir, nur halb scherzhaft, als Meinung mancher Forscher die
Maxime konstruieren können: »Wenn ihr nicht werdet wie die Bonobos,
so könnt ihr in das irdische Paradies, d.h. in die Verwirklichung der Utopie,
nicht eingehen.« (**).
(Ebd., 1998, S. 259-260).Aber während ihrer ganzen vorgeschichtlichen
und geschichtlichen Existenz waren die Menschen von dem konfliktfreien, harmonischen
und gleichheitlichen Leben der Bonobos weit entfernt, und gerade weil die Sexualität
und die Ökonomie alldurchdringende, zummal den Alltag bestimmende Wirklichkeiten
waren, mußte es dafür Ordnungen geben, deren Einhaltung streng überwacht
wurde, selbst wenn Bachofen mit seiner Lehre vom ursprünglichen Hetärismus
und Morgan mit seiner Vorstellung von der »Punalua-Ehe« recht gehabt
haben sollten (**|**),
d.h. wenn es in Urzeiten so etwas wie Eifersucht nicht gegeben hätte. Die
ersten Gesetzessammlungen jedenfalls, die uns aus historischen Zeiten überliefert
sind, sind voll von Bestimmungen, welche die Sexualität und die Ökonomie
regeln und Verstöße häufig mit sehr harten Strafen ahnden. Bevor
wir uns diesen Bestimmungen zuwenden, wollen wir einige Überlegungen anstellen,
und zwar zunächst hinsichtlich der Sexualität. (Ebd., 1998, S.
260).Die elementarste aller Tatsachen der menschlichen
Sexualität ist, daß der Drang des männlichen Geschlechts nach
sexueller Aktivität von überwältigender und drängender Stärke
ist, als Entlastungstrieb dem Hunger als einem Sättigungsverlangen entgegengesetzt
und ähnlich, während dem weiblichen Geschlecht der entsprechende Drang
aus physiologischen Gründen fehlt, so daß weibliche Wesen ihr ganzes
Leben hindurch »unerweckt« bleiben können. Gleichzeitig sind
die Männer im Durchschnitt physisch stärker als die Frauen, obgleich
der Sexualdimorphismus längst nicht so ausgeprägt ist wie bei den Pavianen.
Daraus resultiert die Möglichkeit, daß die Frauen den männlichen
Trieben als reine Lustobjekte dienen können. Etwas Derartiges verwirklicht
sich tendenziell immer dann, wenn Frauen zur Beute von Kriegern werden, und sie
zählen in der Tat zu den gesuchtesten Beutestücken .... (Ebd.,
1998, S. 260).Es ist wohl keine bloße Spekulation, wenn man
vermutet, archaischen Religionen und den frühesten Gesetzgebern habe als
entsetzenerregende äußerste Möglichkeit vorgeschwebt, daß
die im Vergleich zu allen Tieren von Naturfesseln nahezu freie Sexualität
der Menschen das Ungestüm des einen Geschlechts und die Unersättlichkeit
des anderen freisetzen könne und damit die Selbstzerstörung des Staates
und sogar der Menschheit herbeiführen müsse. Denn der letzte Sinn der
Ordnungen der Sexualität war nicht der negative der Mäßigung oder
Unterbindung, sondern der positive der Sicherung des Weiterlebens der Gemeinschaft.
Hier aber hatten die Schwächeren, die Frauen, die weit wichtigere Funktion,
welche zugleich die weit größeren Lasten in sich schloß: die
Lasten der Schwangerschaft, der Geburt, der Aufzucht der Kinder. (Ebd.,
1998, S. 261).Ungebändigtes Ungestüm und nicht-stigmatisierte
Unersättlichkeit mußten die auf längere Sicht unerläßlichste
aller Aufgaben aufs schwerste beeinträchtigen und vielleicht sogar verhindern;
keine Maßnahme konnte streng genug sein, um der für die Gruppe tödlichen
Konsequenz entgegenzuwirken, auf die der Naturdrang die Individuen so sehr hintrieb,
obwohl ein anderer Naturdrang den kulturellen Geboten gleichläufig war: der
Naturdrang der Brutpflege, jene Wurzel des »Altruismus« in der ganzen
Tierwelt, der in der Regel auch eine Lebenspartnerschaft im Ringen um das individuelle
Überleben mit sich bringt. Aber nur der Mensch konnte sich von diesem Naturdrang
emanzipieren, und deshalb bedurfte es der kulturellen Institutionen, um dasjenige
zu sichern, was man »den Willen der Natur« oder »die Absicht
Gottes« nennen mochte. So ergab sich jener Typus von Gesellschaft beinahe
von selbst, der die Fortdauer des menschlichen Lebens am besten garantierte: die
Gesellschaft, in der jeder Mann und jede Frau in unauflöslicher, auf die
Erzeugung und Aufzucht von Kindern ausgerichteter Ehe leben, welche von allen
anderen Männern und Frauen respektiert wird. (Ebd., 1998, S. 261-262).Eine
solche Gesellschaft mag man die »naturmoralische« nennen, und sie
weist als solche in der Geschichte nur geringe Varietäten auf. Aber in der
Realität haben mindestens an ihren Rändern Ungestüm und Unersättlichkeit
ihren Platz, und so sind faktisch Vergewaltigung, Ehebruch und Prostitution alltägliche
Tatbestände, die durch Ordnungen, d.h. Gesetze, Sanktionen und nicht zuletzt
die »öffentliche Meinung«, zurückgedrängt, jedoch nie
ganz unterbunden werden. (Ebd., 1998, S. 262).Zur historischen
Existenz gehört wesentlich dieses Ineinander von Gebot und Übertretung;
die Zeitalter unterscheiden sich nicht zuletzt dadurch, welchen Charakter die
Gebote und die Übertretungen haben und in welchem Verhältnis sie zueinander
stehen. (Ebd., 1998, S. 262).Die »Ökonomie«
einer Sippe von Sammlern und Jägern besteht darin, Tag für Tag die Nahrungsmittel
heranzuschaffen, die zum Leben erforderlich sind; wenn das Wild auch nur wenige
Wochen außer Reichweite ist, wenn die Wanderung in ein Gebiet geführt
hat, wo keine Knollen und Früchte zu finden sind, sterben die Individuen
der Sippe: Der Hunger ist drängender als die Liebe, um eine von Schillers
bekanntesten und trivialsten Aussagen abzuwandeln. (Ebd., 1998, S. 264).Aber
es ist die Frage, ob die Vorstellung von den autarken Sammler- und Jägersippen
richtig ist, die all das, was sie brauchen und was ihnen nicht von der Natur gegeben
wird, selbst herstellen, von den Hütten bis zu den Speeren und Pfeilen, und
es ist gerade die Sexualität, welche Beziehungen zu anderen Sippen herstellt,
denn die Exogamie ist eine der frühesten und mächtigsten Wirklichkeiten
der Vorgeschichte: der tief im Biologischen verwurzelte Drang, die Fortpflanzung
dem engen Kreis der nächsten Blutsverwandten zu entziehen und »neues
Blut« einzubeziehen, und sei es durch Frauenraub. Sobald sich eine Einheit
oberhalb der Sippen gebildet hat, vornehmlich der Stamm, wird die Exogamie, der
Blutaustausch, institutionalisiert, und die Männer der Sippe »Adler«
müssen beispielsweise ihre Frauen aus der Sippe »Schlange« nehmen.
(Ebd., 1998, S. 264-265).Der Tauschgemeinschaft von Personen zwischen
mehreren Sippen dürfte dann sehr bald eine Tauschgemeinschaft von Sachen
zwischen den Sippen oder den Stämmen folgen. Der Begriff »Handel«
ist hierbei noch nicht in der üblichen Bedeutung anzuwenden: Nicht »Waren«,
sondern »Geschenke« werden getauscht, und das Ziel ist nicht Äquivalenz,
sondern Erlangung von Prestige dadurch, daß das gegebene Geschenk größer
ist als das empfangene; die Ethnologen haben diesen Austausch unter den Namen
»Kula« und »Potlatsch« unter rezenten Naturvölkern
gründlich erforscht, und der französische Soziologe Marcel Mauss hat
in seinem Buch über den Gabentausch eine ganze Zivilisationskritik daraus
entwickelt. (Ebd., 1998, S. 265).Aber nach kürzerer
oder längerer Zeit dürfte daraus schon in der Vorgeschichte ein Handel
im heute gebräuchlichen Sinne geworden sein, d.h. ein Austausch nach dem
Kriterium der Äquivalenz, in dem nicht der Gewinn von Prestige, sondern die
Erlangung von Vorteilen das Hauptmotiv war und für den die unterschiedlichen
natürlichen Ressourcen grundlegend waren: Der Libanon hat reiche Waldbestände,
in Mesopotamien wächst viel Getreide, ein Austausch der Überschüsse
war von wechselseitigem Vorteil, selbst wenn vergleichsweise viel Getreide für
vergleichsweise wenig Zedernholz gegeben werden mußte. Die zweite Voraussetzung
aber war die Überschußproduktion, die in größerem Maßstab
erst mit dem Aufkommen der Landwirtschaft gegeben war; solange die Erzeugung nicht
nennenswert über den Eigenbedarf der Sippe oder des Dorfes hinausging, konnte
kein Handel getrieben werden. Die dritte Voraussetzung war eine faktische, nicht
schon mit dem Begriff des Handels gegebene, denn zum Austausch eigneten sich in
besonderem Maße leicht transportierbare Luxusgüter wie Bernsteinketten
oder Kupferspangen, und es mußte innerhalb der Dörfer oder Stämme
Differenzierungen zwischen reicheren und ärmeren Individuen bzw. Familien
geben, die den Reichen den Eintausch von Luxusgegenständen ermöglichten.
(Ebd., 1998, S. 265).Daß Kupfer nur auf der Sinai-Halbinsel
und in Anatolien gefunden, aber auch in Ägypten und Mesopotamien benötigt
wurde, ist als Differenz der Erdgegenden die erste Voraussetzung des Handels;
daß die Landwirtschaft beträchtliche Überschüsse erzeugte,
ist die zweite, und daß innersoziale Differenzen existierten, die einen
Bedarf an Luxusgütern schufen, ist die dritte Voraussetzung. Diese dritte
Voraussetzung ist ihrerseits wieder die Vorbedingung der zweiten, denn eine nennenswerte
Überschußproduktion kam sowohl in Ägypten wie in Mesopotamien
erst zustande, als die Verwaltungsstäbe der Könige und der Tempel die
Landgewinnung und den Schutz des Landes in großem Maßstab organisiert
hatten. (Ebd., 1998, S. 265-266).Damit sind wir schon mitten
in der Frühgeschichte und nehmen auf Tempel, Paläste und Städte
Bezug, und erst in der Geschichte kann die Ökonomie in der Gestalt des Handels
zur Lebensnotwendigkeit werden; erst jetzt können Städte entstehen,
die ... vom Handel leben, und erst jetzt wird es zu einer Hauptaufgabe der Könige,
durch den Abschluß von Verträgen mit anderen Staaten die Sicherheit
der Karawanen zu gewährleisten, mit denen die eigenen Kaufleute aus weit
entfernten Gegenden die Güter heranholten, ohne die man nicht mehr auskam
oder nicht mehr auskommen zu können glaubte. (Ebd., 1998, S. 266).Mit
Sicherheit konnten nicht alle Bewohner Uruks den Silberschmuck erwerben, den die
Kaufleute von den Bahrein-Inseln herbeibrachten, aber die Dirne, die Enkidu nach
Uruk führte, stand sicherlich in der Überzeugung nicht allein, daß
jedem Bewohner der Stadt ein besseres Los zuteilgeworden sei, als er es außerhalb
der Stadt und fern von dem durch die Organisation der Arbeit gewonnenen Fruchtland
haben konnte. Erst wenn die Differenzen als übermäßig empfunden
wurden und wenn die Lebenssituation der unteren Schichten unter diejenige der
einfachen Bauern herabsank, konnte verbreitete Unzufriedenheit aufkommen. Vor
allem und zunächst mußte aber die Gesetzgebung das Ineinandergreifen
der vielen arbeitsteiligen und vermögensmäßigen Funktionen sichern,
damit das bereits recht komplizierte Räderwerk den Gang gehen konnte, der
als solcher eine übergeordnete Gerechtigkeit darstellte. (Ebd., 1998,
S. 266).Abermals gibt das Gesetzeswerk Hammurabis ein anschauliches
Bild von den Ordnungen, denen diese Ökonomie der Arbeitsteilung, des Tausches
und des Eigentums unterlag. Sicherung des bereits weit ausgedehnten Eigentums
der Einzelnen war offenbar eine der obersten Maximen. Ein Einbrecher wird vor
dem Hause, in das er einzudringen versuchte, getötet und eingescharrt. Wer
einen Wertgegenstand kauft oder in Verwahrung nimmt, ohne einen Zeugen herbeizuziehen
oder einen Vertrag zu schließen, gilt als Dieb und wird getötet.
(Ebd., 1998, S. 266).Schulden können im Notfall dadurch abgegolten
werden, daß der Schuldner seine Gattin oder seine Kinder oder sich selbst
in die Schuldsklaverei verkauft, und damit ist eines der wichtigsten Prinzipien
einer internen »Klassenbildung« gegeben, aber Hammurabi bestimmt ausdrücklich,
daß die Betreffenden irn vierten Jahr freigelassen werden müssen; es
soll sich also nur um eine transitorische Klassenbildung handeln. (Ebd.,
1998, S. 266-267).Jedenfalls reicht der freie Tauschverkehr unter
den Bürgern einer Stadt oder eines Staates vollkommen aus, um eine Klassenbildung
aus internen Gründen hervorzubringen, die allerdings erst dadurch wirkliche
Konsistenz erhält, daß Standesbewußtsein und Ansprüche auf
»Ehre« vorhanden sind, die noch nicht aus bloß ökonomischen
Unterschieden resultieren, sondern aus dem Selbstgefühl einer Schreiber-
oder Kriegerschicht erwachsen. Eine ökonomische Differenzierung kann schon
innerhalb einer Kleinfamilie dadurch eintreten, daß eines der Kinder es
an Achtung für die Eltern fehlen läßt und deshalb enterbt wird;
aber auch dieser Fall ist im Kodex Hammurabi geregelt und damit der Willkür
entzogen: Einmal nämlich muß der Vater dem Kind verzeihen, und erst
im Wiederholungsfalle darf er die Enterbung vornehmen. Sogar der Lohn der Lohnarbeiter
darf zwischen den Parteien nicht frei ausgehandelt werden, sondern er wird gesetzlich
festgelegt: Vom Anfang des Jahres bis zum fünften Monat sind sechs Schekel
Silber pro Tag zu geben, vom sechsten Monat an bis zum Ende des Jahres fünf
Schekel - offenbar wegen des unterschiedlichen Arbeitsanfalls. (Vgl §§
21, 7, 25, 48, 64, 117, 169, 237). (Ebd., 1998, S. 267).So
tritt die Ökonomie in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends bereits
weitgehend ausgebildet vor unsere Augen: Es gibt Privateigentum von sehr verschiedener
Größe, Darlehen, Zins, Lohnarbeit, Schuldknechtschaft und Geld. Von
Banken und professionellen Geldverleihern ist allerdings noch nicht die Rede,
und der Handel ist gutenteils Außenhandel, d.h. er muß durch Staatsverträge
gesichert werden. Völlig frei und ungebunden ist diese Wirtschaft jedoch
nicht; es hat sicherlich seinen Grund, wenn Hammurabi sich im Schlußteil
seines Kodex rühmt, er habe die Menschen von Summer und Akkad in seiner Weisheit
geborgen, »damit der Starke nicht den Schwachen bedränge, Waise und
Witwe ihr Recht bekämen«, er habe dem Gebot Marduks Folge geleistet
und »Wohlbefinden für das Volk bereitet«. (Ebd., 1998,
S. 267).Die Ökonomie war nicht vom Glauben an die Götter
emanzipiert, und sie unterlag mannigfaltigen Gesetzesbestimmungen zum Schutz der
»Schwachen«, der Witwen und Waisen. Aber daß es Schwache und
Starke, Arme und Reiche, Machtlose und Mächtige gab, suchte Hammurabi nicht
zu verhindern, und auch in den Tempelstaaten des frühen Sumer waren mindestens
beträchtliche Ansätze dazu vorhanden. Diese Differenzen - marxistisch
gesprochen: die »Klassenbildung« - waren ein unentbehrliches Merkmal
der »Kultur«, der »Zivilisation« und in eins damit »der
Geschichte«. Nichts war für die Menschheit fruchtbringender, nichts
bedeutete eine größere Gerechtigkeit als das Aufkommen der Hochkulturen
mit allen ihren Ungleichheiten und insofern Ungerechtigkeiten. (Ebd., 1998,
S. 267-268).Aber konnte nicht die gesetzliche Sicherung von Eigentum
und Tauschverkehr eines Tages eine Analogie zu jener extremen Möglichkeit
der weiblichen Sexualität hervorbringen, der Unersättlichkeit, und wurde
ihr nicht der Weg durch ein Analogon des männlichen Ungestüms im Geschlechtsleben
bereitet, durch die Rücksichtslosigkeit eines unbändigen Mehr-Haben-Wollens?
(Ebd., 1998, S. 268).Aber vergleichbare Klagen waren schon in Lagasch
hörbar geworden, bevor Urukagina im 24. Jahrhundert v. Chr. der Unersättlichkeit
des Königs und der reichen Familien durch seine Reformen eine Grenze setzte.
War es andererseits nicht die relativ freie, auf die Vorteilssuche von Einzelnen
und Familien gegründete Ökonomie, die innerhalb der Staaten der frühen
Hochkulturen und indirekt auch außerhalb ihrer die größten Veränderungen
herbeiführte, die man insgesamt oder wenigstens zum Teil als »Fortschritte«
bezeichnen muß? Brachten diese Veränderungen oder Fortschritte die
»Emanzipation« bestimmter Schichten mit sich, etwa den Gewinn der
Gleichberechtigung der Händlerschichten mit der Bürokratie und den Schreibern?
Ist hier die Hauptkraft jener »Dynamik« zu sehen, die in der Geschichte
wirksam ist? Oder gibt es andere Faktoren, die noch mächtiger sind, etwa
die Bevölkerungsvermehrung und die Kriege? Und zieht die Emanzipation des
Bürgertums (wenn man diese Begriffe verwenden darf) vielleicht die Emanzipation
der Sklaven und zumal der Schuldsklaven nach sich? Oder drückte diese Emanzipation
die unteren Schichten ganz im Gegenteil immer tiefer in Armut und Abhängigkeit
hinab? Oder sind all diese Begriffe inadäquat? (Ebd., 1998, S. 268).
29) Dynamik, Fortschritt, EmanzipationAuguste Comte unterschied
in seiner Soziologie zwischen »sozialer Statik« und »sozialer
Dynamik«, und aus dieser Entgegensetzung erklärt der Begriff sich leicht.
Dynamik als Gegensatz zu Statik ist offensichtlich
im Begriff der »neolithischen Revolution« enthalten, und ... so könnte
man wohl behaupten, mit der neolithischen Revolution, der Entstehung der ersten
Städte und mit der Erfindung der Schrift werde die bisherige Statik durch
eine Dynamik der Entwicklung abgelöst, und das hieße, daß »Dynamik«
mit »Geschichte« gleichbedeutend wäre. Gleich im ersten Kapitel
wurde gesagt, die Vorgeschichte sei der Zeitdauer nach ebensoviel länger,
wie die eigentliche Geschichte seit 6000 Jahren bewegter und dynamischer sei.
(**|**|**|**).
(Ebd., 1998, S. 269).Es ist daran zu erinnern, daß Oswald
Spengler
der »faustischen« Kultur des Abendlandes eine Bewegtheit und Dynamik
von singulärer Art zuschrieb. (**|**|**|**|**).
Muß man indessen nicht doch unvergleichlich weiter zurückgehen und
feststellen, daß der »Urknall« die erste Quelle aller Dynamik
ist und daß das ganze Universum ein Gebilde von ungeheurer Dynamik darstellt,
in dem sämtliche Elementarteilchen ständig in rasender Bewegung sind
und in dem die großen Weltkörper mit unvorstellbar hoher Geschwindigkeit
auseinanderstreben? Es wäre indessen einzuwenden, daß alle diese Bewegungen
sich einer Art von Bewegungslosigkeit einordnen, der Bewegungslosigkeit jener
mathematisch formulierbaren Gesetze, nach denen etwa die Planeten für Jahrmilliarden,
wenngleich nicht für ewige Zeiten, um die Sonne kreisen, und der Bewegungslosigkeit
jener Formen des Lebens, die für Jahrmillionen alle Individuen einer Art
»im wesentlichen« gleich sein lassen, obwohl bei genauer Untersuchung
winzigste Unterschiede zwischen den Individuen zu eruieren sein würden. Es
wären also schon im urältesten Naturgeschehen die Dynamik der Verläufe
und die Statik der Gestalten zu unterscheiden. (Ebd., 1998, S. 269).Es
müßte also eine ganze Anzahl von Unterscheidungen getroffen werden,
und die eigenartigste Feststellung wäre, daß von einer spezifischen
Dynamik des Lebens nicht die Rede sein dürfte, sofern die Evolutionstheorie
in ihrer darwinistischen Ausformung richtig ist, denn sie läßt alle
Veränderung aus bloßen Fehlern, aus Mutationen, entstehen, die in sich
keinerlei Richtung haben, sondern deren zufällige Resultate nur nach ihrer
kurzfristigen Überlebensfähigkeit ausgelesen werden. Eine Dynamik im
Sinne einer »schöpferischen Entwicklung« würde es also gar
nicht geben, so sehr die Folge der Gestalten von den Infusorien bis hin zu den
Urmenschen einen Begriff wie »Höherentwicklung« herbeizuzwingen
scheint. Müßte man nicht mithin auch im Blick auf die Vorgeschichte
und die Geschichte der Menschen auf den Begriff »Dynamik« verzichten
und lediglich von geglückten oder mißglückten Anpassungen reden?
(Ebd., 1998, S. 269-270).Aber die pragmatische Brauchbarkeit des
Begriffs läßt sich keinesfalls in Abrede stellen. Im Acheuléen
mit seinen durch Hunderttausende von Jahren so gut wie gleichbleibenden Faustkeilen
ist eben offensichtlich dasjenige abwesend, was sich am Beginn der Geschichte
in klar erkennbaren Stufen aufbaut: die Vergemeinschaftung von Menschen verschiedener
Abkunft in Dörfern, der Zusammenschluß von Dörfern zu Regionen,
welche von Städten beherrscht werden, die Entstehung überregionaler
Gebilde unter Königen, das Ringen der Staaten um Hegemonie oder Alleinherrschaft
innerhalb riesiger Räume. (Ebd., 1998, S. 270).Schon
diese Beschreibung impliziert eine These: Geschichtliche Dynamik gibt es nicht
ohne Herrschaft, nicht ohne Unterordnung des Willens von vielen Individuen unter
den Willen eines einzigen oder einiger weniger, die in Ausnahmefällen die
gleichmäßige Ausrichtung des Willens aller Einzelnen auf ein gemeinsames
Ziel sein mag. (Ebd., 1998, S. 270).Ungleichmäßigkeit
der Vermehrung ist eine der wichtigsten Differenzen überhaupt, und sie führt
potentiell nivht mehr bloß zu Eroberungen, sondern zu Ausrottungskriegen.
(Ebd., 1998, S. 272).Inbesitznahme von Land durch ein neues Volk
unter Verdrängung, Unterwerfung oder Austilgung des alten ist keinesfalls
eine blutige Vergeblichkeit innerhalb eines ständigen Kreislaufs, sondern
der Anfang einer anderen Geschichte, die für die Eroberer einen Neubeginn
darstellt. Wanderung und Landgewinn von Stämmen und Völkern sind also
eine Urtatsache der Geschichte und eine Hauptquelle von Dynamik, und diese läßt
sich als solche nicht aus der Herrschaft ableiten, sondern sie akzeptiert und
verstärkt die Herrschaft, die vorher erst in Ansätzen vorhanden gewesen
sein mag. (Ebd., 1998, S. 273).Wanderungsbewegungen sind
aber mit hoher Wahrscheinlichkeit um so eher erfolgreich, je eindeutiger die Waffen
der Angreifer überlegen sind. Die Hethiter und die Mitanni konnten ihre Reiche
nur deshalb gründen, weil sie über das neuartige Kampfmittel der Streitwagen
verfügten, die unter den Feinden Furcht und Schrecken verbreiteten. Zwar
ist der Vorteil meist nur kurzfristig, und es dauerte nicht lange, bis auch die
Assyrer, ja sogar die phönikischen Städte über Kampfwagen verfügten,
aber als um 1200 von Norden her die »Seevölker« heranzogen, da
beruhte deren Unwiderstehlichkeit, die erst am Nildelta ein Ende fand, auf der
großen Zahl eiserner Waffen, denen die traditionellen Waffen aus Bronze
weit unterlegen waren. Änderungen der Kampftechnik und ihrer Materialien
können eine fast ebenso bedeutsame Quelle geschichtlicher Dynamik sein wie
der Bevölkerungsdruck; die Geschichte weiß nichts davon zu berichten,
daß Vorteile, die auf diese Weise erlangt wurden, keine Verwendung gefunden
hätten. (Ebd., 1998, S. 273).Hier
kann der »Fortschritt« ins Spiel gebracht werden, und es ist zunächst
daran zu erinnern, daß nach der Lehre der Naturwissenschaft zwar Fortschrittsprozesse
schon in der anorganischen Natur erkennbar sind, daß sie aber mit dem Anwachsen
von Entropie
(**|**)
Hand in Hand gehen und alle Prozesse in der Welt mit hoher Wahrscheinlichkeit
letzten Endes auf den »Kältetod« gerichtet sind. Im menschlichen
Felde aber bedeutet »Fortschritt« vor allem die Realität und
vielleicht den Begriff der »Verbesserung«. (Ebd., 1998, S. 273).Die
eisernen Waffen, mit deren Hilfe die »Seevölker« das Hethiterreich
erobert und Ugarit zerstört hatten, führten ein völlig neues Zeitalter
herauf: die Eisenzeit, welche die Bronzezeit ablöste. Das war ein Schritt,
der an Wichtigkeit der Erfindung der Bronze gleichkam, welche den Weg zu den frühen
Hochkulturen geebnet hatte. In modernen Augen handelte es sich um einen fundamentalen
Fortschritt. (Ebd., 1998, S. 274).Alle diese Fortschritte
beruhten auf dem größten aller Fortschritte, der »neolithischen
Revolution«, dem Übergang zur Landwirtschaft und weiterhin zu Städten,
Staaten und zur Schrift. Sie waren umgeben und gestützt von zahlreichen kleinen
Fortschritten: Die Masse der Zeichen der Bilderschrift wurde mehr und mehr reduziert,
und die Zeichen selbst wurden vereinfacht, bis der Übergang zur Silben- und
schließlich zur Buchstabenschrift möglich wurde; Kampfwagen, Bogen
und Doppeläxte waren viel wirkungsvollere Waffen als Schleudern und Keulen;
das Babylon der Chaldäerkönige war weit größer und besser
gebaut als das Ur der Dritten Dynastie; die Handwerker, die der König Hiram
von Tyrus dem Salomo zum Bau des Tempels zur Verfügung stellte, verfügten
sicherlich über ausgefeiltere Techniken als ihre Vorgänger, welche die
ersten und noch sehr kleinen Tempel des Sumererlandes erbaut hatten; Schädeltreparationen,
wie sie die babylonischen Ärzte mit ihren Skalpellen und Obsidianmessern
vornahmen, konnten tausend Jahre früher in Uruk noch nicht stattfinden; der
Tempel von Karnak hätte unter Menes noch nicht erbaut werden können.
Auch in den religiösen Vorstellungen mag man Fortschritte konstatieren: Der
Aton Echnatons kommt heutigen Vorstellungen sehr viel näher als die kuh-
und paviangestaltigen Götter der früheren Zeit; der Gott des Jona weist
weit ethischere und universalere Züge auf als der Gewittergott des Moses
vom Sinai. (Ebd., 1998, S. 274).ZWEITER
TEIL
A) Die Weltreligionen und die Weltgeschichte
30)
Einführung:
Die Spannweite der Religionen (S. 281-292) 31) Indien und der Buddhismus
(S. 293-304) 32) China. Konfuzianismus und Taoismus (S. 305-315) 33) Griechenland
und die Anfänge von Philosophie und Wissenschaft (S. 315-325) 34) Das
nachexilische Judentum (S. 326-339) 25) Das Christentum (S. 339-352) 36)
Der Islam(S. 353-363) |
30) Einführung: Die Spannweite der Religionen
Das Verhältnis
der Weltreligionen zu den Volks- oder Kulturreligionen läßt sich aber
auch auf andere Weise bestimmen: Alle Religionen, so kann man in stärkster
Verkürzung formulieren, sind von dem Empfinden getragen, daß der Mensch
vom »Übermächtigen« abhängig ist. Nur der Mensch hat
ein Empfinden für dajenige, was objektiv als ein ontologisches Gesetz gelten
darf, nämlich das alles Einzelne, selbst wenn es sich um Sonnensysteme oder
Sternennebel handelt, dem Ganzen oder All gegenüber von mikroskopischer Kleinheit
ist; dieses Empfinden, das sich bis zur Einsicht steigern kann, geht unmittelbar
aus der »Weltoffenheit« oder der Transzendenz des Menschen hervor
und ist der elementarste aller seiner Wesenszüge. (Ebd., 1998, S. 283).Was
die Einschätzung der Individualität angeht, so ist das Spektrum innerhalb
der Weltreligionen ebenfalls sehr breit. Der Buddhismus ist individualitätsfeindlich,
da er die Erlösung vom Leiden erstrebt, das für ihn von der Individualität
unabtrennbar ist. So leugnet er die Existenz eines »Ich« oder einer
»Seele«; alle Individuen sind weiter nichts als zufällige Zusammensetzungen
aus den fünf Daseinsfaktoren, und sie verschwinden wie die Wellen im Strom.
Allerdings »erlöschen« sie dadurch nicht, sondern setzen sich
in andere Existenzen hinein fort, weil jede individuelle Konfiguration bestimmte
Konfigurationen in der Welt der »samsara« nach sich zieht, so daß
ein schwaches Analogon zur Lehre von der Seelenwanderung erhalten bleibt. Zur
Erlösung aber bedarf es dervollständigen Abwendung von dieser Welt und
also des Auszugs in die »Unbehaustheit« der Askese. (Ebd., 1998,
S. 287).Das Christentum dagegen will die Individuen als solche
erlösen und damit unsterblich machen, einschließlich ihres Leibes,
der lediglich verklärt, d.h. von den Organen niederen Sinnlichkeit frei sein,
wird. Diese Erwartung ist schlechterdings nur in einem starken Glauben zu vollziehen,
aber auch für ein säkularisiertes Denken behält sie einen »rationalen
Kern« von höchster Bedeutung, nämlich die Überzeugung vom
unvergleichlichen Wert der Individualität. (Ebd., 1998, S. 287).So
ist unter diesem Gesichtspunkt abermals kaum ein größerer Gegensatz
vorstellbar als der zwischen Buddhismus und Christentum, und es ist außerordentlich
zweifelhaft, ob ein humanistischer Ökumenismus die beiden Pole des Spektrums
in eine Übereinstimmung zu bringen vermag. Man kann die Individualität
nicht zugleich verneinen und bejahen, aber es ist sicherlich weitaus schwieriger,
an die ewige Fortdauer des Gebrechlichen und Begrenzten zu glauben. Wie man allerdings
der Individualität noch einen »unendlichen Wert« zuschreiben
kann, wenn sie vom Begriff der »Menschenseele« gelöst wird, ist
nicht einzusehen; außer Zweifel steht jedoch, daß das Christentum,
anders als der Buddhismus und anders auch als der Islam, zum Ausgangspunkt eines
»Individualismus« werden kann, welcher diejenige Einstellung sein
dürfte, die von allen Gestalten der Religion am weitesten entfernt ist.
(Ebd., 1998, S. 287).
B) Schema der historischen Existenz
37) Herrschaft - Schichtung - Staat
Auch der »moderne Staat«
des Absolutismus war vermutlich nicht so sehr »Staat«, und der »Feudalstaat«
des Mittelalters war nicht so wenig »Staat«, wie viele Historiker
angenommen haben, sondern es müßte hier der Begriff des »Liberalen
Systems« eingeführt werden, der ein Gemeinsames der okzidentalen
Geschichte ins Wort faßt. Dieses Gemeinsame bedeutet eine gewisse Schwäche
des »Staates«, die schon mit der Existenz einer grundsätzlich
unabhängigen Kirche gegeben ist, und es bildet ein Unterscheidungsmerkmal
gegenüber allen nicht-okzidentalen Staatsformen. Aber dennoch läßt
sich nun auch eine Begriffsbestimmung vornehmen, die alle historischen Staaten
trotz aller Spannweiten der idealtypischen Pole betrifft: Staaten sind Gruppen
von Menschen, die in bedrohlicher Umwelt mittels einer zentralen Instanz, welche
gegenüber den einzelnen Mitgliedern das Recht über Leben und Tod besitzt,
zur unbedingten Verteidigung ihrer Existenz und ihres Besitzes entschlossen sind.
(Ebd., 1998, S. 379-380).Die weiteste aller möglichen Bedeutungen
liegt dann vor, wenn schon ein Sippenhaupt, das ein Mitglied der Sippe zum Tode
verurteilen oder ausstoßen kann, als »zentrale Instanz« gefaßt
wird; eine engere Bedeutung ist dann gegeben, wenn die zentrale Instanz ein erblicher
König oder eine perennierende Institution wie ein Parlament ist und wenn
Anordnungen und Befehle mindestens partiell auf schriftlichem Wege erfolgen. In
der weitesten Bedeutung ist der Staat in der Vorgeschichte ebensogut zu finden
wie in der Geschichte; in der engeren und »eigentlichen« Bedeutung
ist er auf die Geschichte begrenzt. (Ebd., 1998, S. 380).In
allen geschichtlichen Staaten aber bedurfte die Kommunikation zwischen der zentralen
Instanz und der Masse des Volkes oder auch der Unterworfenen der Vermittlung durch
Menschen, die dieser Instanz näher standen als die übrigen und die meist
sogar aus eigenem Recht bestimmte Befehle erteilen konnten. Seit dem Zeitalter
des Absolutismus ist diese zugleich vermittelnde und führende Schicht »der
Staatsapparat« oder die Bürokratie, aber während der längsten
Zeit der Geschichte wurde sie »Adel« oder »Aristokratie«
genannt. Fast immer hatte diese Schicht eine besondere Beziehung zum Elementarzweck
des Staates, der Verteidigung und gegebenfalls dem Angriff im Kriege. (Ebd.,
1998, S. 380).
38) Adel und SublimierungDie Verhältnisse
in dem einen Teil der Insel würden den Theorien von der endogenen Entstehung
des Staates und des Adels entsprechen, und die Verhältnisse in dem zuletzt
eroberten Teil jener »Überlagerungstheorie«,
die im Ersten Teil eines der Themen war (**).
Es ist allerdings wahrscheinlich, daß die beiden Adelsschichten wechselseitig
Einfluß aufeinander ausüben würden, wobei aller Vermutung nach
der Herrenadel für den Volksadel stärker zum Vorbild werden würde
als umgekehrt. (Ebd., 1998, S. 384).Eines der frühesten
und reinsten Beispiele für einen Herrenadel sind die arischen Eroberer Indiens,
welche sich selbst »die Edlen« nannten und die Unterworfenen schon
deshalb verachteten, weil sie eine andere Hautfarbe hatten und überdies »Phallosanbeter«
waren: Die Bezeichnung für »Klasse« oder »Stand«
heißt bekanntlich »Farbe« (»varna«), mithin war
ein biologisches oder rassisches Kriterium maßgebend, nicht anders als viel
später in ganz Amerika nach der Eroberung durch Engländer und Spanier,
wo Neger und Indios nicht bloß eine »Unterschicht«, sondern
eine verachtete Kaste waren. (Ebd., 1998, S. 384).Was wäre
Europa ohne die Dome und Kirchen seiner Bischofsstädte, ohne die Schlösser
seiner Könige, die Burgen seines Adels und die Stadtpaläste seiner Patriziat?
(Ebd., 1998, S. 393).
39) Krieg und FriedenStellen wir uns vor,
die Erde sei eine einzige große Ebene, ohne Meere, aber eingeteilt in fünfhundert
Quadrate, die durch gleichmäßig große Flußläufe gebildet
würden. Die Bewohnerzahl jedes Quadrates betrüge 100000 Menschen. Die
Ebene wäre gleichmäßig fruchtbar, und alle Familien könnten
durch Ackerbau auf ihren gleich großen Anwesen ohne übergroße
Mühe einen ausreichenden Lebensunterhalt gewinnen. Es gäbe daher nicht
den geringsten Grund, daß die Bewohner des einen Quadrats die Bewohner des
Nachbarquadrats mit Krieg überziehen sollten; es würde vielmehr in der
ganzen Welt jede Familie voller Zufriedenheit »unter ihrem Weinstock und
ihrem Feigenbaum« sitzen. (Ebd., 1998, S. 397-398).Damit
dieser Zustand dauerhaft bliebe, wäre allerdings noch eine wesentliche Bedingung
zu erfüllen: Die Zahl der Einwohner müßte nach 100 Jahren in allen
Quadraten noch die gleiche sein. Wenn es anders wäre, würden Nachteile
und Vorteile entstanden sein und damit der Wunsch, diese Ungleichheit wieder zu
beseitigen. Daß sich das Problem durch freundschaftliche Abmachungen zwischen
benachbarten Quadraten lösen lassen würde, ist so gut wie ausgeschlossen,
und es ist nur allzu wahrscheinlich, daß das bevölkerungsreichste Quadrat
mit Gewalt den Ausgleich herzustellen versuchen würde, dem das Nachbargebiet
aus sehr verständlichen Gründen widerstrebte. Damit wäre der Krieg
in diese friedliche Welt gekommen, weil Vorteile und Begehrlichkeiten entstanden
wären. (Ebd., 1998, S. 398).Nun ist die wirkliche
Erde, auf der die Menschheit lebt und von jeher gelebt hat, alles andere als eine
gleichmäßig fruchtbare Ebene: Berge grenzen an Flußtäler,
die eine Meeresküste ist für den Verkehr günstig, während
die andere felsig und abweisend ist; riesige Wüsten erstrecken sich über
Tausende von Kilometern, aber nicht weit von deren Grenzen sind Gebiete von konzentrierter
Fruchtbarkeit zu finden; unterschiedliche Klimazonen schaffen ganz unterschiedliche
Bedingungen für den Erwerb des Lebensunterhalts. Mit einfachen Worten: Die
Oberfläche der Erde ist vielfältig differenziert, ihre Regionen sind
untereinander ungleich, die Menschen leben unter ungleichen Bedingungen. Sie sind
daher ungleich, obwohl sie sich doch als Menschen für gleich halten dürfen,
und der Neid derer, die benachteiligt sind, gegenüber denjenigen, welche
einen Vorteil genießen, ist nichts Schlechtes oder Verwerfliches. Aber noch
nie in der ganzen Geschichte hat bloße Überredung einen grundlegenden
Ausgleich herbeigeführt. (Ebd., 1998, S. 398).Den Krieg
beseitigen zu wollen, bevor er sein Werk vollbracht hat, nämlich die Erzeugung
eines einheitlichen Bewußtseins und zugleich des Respekts vor den wachsenden
Differenzen, war - und ist möglicherweise - eine törichte Utopie und
die stärkste Kriegsursache für die Zukunft. (Ebd., 1998, S. 399).Die
Bereitschaft, mit dem Leben für Werte von übervitaler Art einzutreten
- sei es für die Selbstbehauptung des eigenen Staates, der eigenen Kultur
und der eigenen Religion oder für die »Ehre« oder für die
»Freiheit« -, ist ein Hauptcharakter aller Geschichte schlechthin,
der die innere Möglichkeit von Kriegen begründet und nicht dadurch seine
Legitimität verliert, daß vermutlich eine ganze Anzahl Von Zeitgenossen
bereit war, sich den Ansprüchen der Feinde zu unterwerfen, wenn ihnen nur
die physische Existenz gesichert würde. Und eben hieraus resultiert nach
Hegels berühmtem Kapitel in der Phänomenologie des Geistes der
Unterschied von »Herr und Knecht«, aber auch die Möglichkeit
von »Emanzipation« und »allgemeiner Freiheit«. (Ebd.,
1998, S. 400-401).Aber diese These ist für die ganze Geschichte
gültig, vermutlich auch für die Vorgeschichte, und man mag sogar »biologische
Wurzeln« entdecken. (Ebd., 1998, S. 401).
41) Städte und LandgebieteIm vergleich zu Rußland war
das ganze Gebiet des lateinischen Abendlandes schon während des Mittelalters
ein städtereiches Land. (Nach Fritz Rörig zählte Deutschland im
Mittelalter ca. 3000 Städte ... [vgl. Fritz Rörig, Die europäische
Stadt und die Kultur des Bürgertums im Mittelalter, 1952, S. 75]). Man
könnte sogar sagen, zumal in Italien und Deutschland seien die antiken Poleis
wiederentstanden. Florenz und Pisa, Venedig und Genua, Mailand und Lucca, Lübeck
und Dortmund, Soest und Goslar und viele andere waren jahrhundertelang de facto
und zum Teil auch de iure unabhängige Staaten, Stadtstaaten, wie es
Athen und Korinth gewesen waren. Der Unterschied gegenüber den Poleis war,
daß sowohl in Italien als auch in Deutschland über- und nebengeordnete
Staaten vorhanden waren (also ein sehr großer, bedeutender
Unterschied; HB), gegen die sich die Städt behaupten mußten,
teilweise in regelrechten Kriegen. (Ebd., 1998, S. 427).Nur
in Deutschland kam es zur Bildung der großen Städtebündnisse und
in erster Linie der Hanse, die in der Lage war, Königreichen wie Dänemark
den Krieg zu erklären. Im Inneren der Hansestädte spielten die Fernkaufleute
ebenso die führende Rolle wie in den italienischen Städten, aber auch
in Deutschland kämpften die Zünfte der kleinen Handwerker und Krämer
mit größerem oder geringerem Erfolg um mehr Mitspracherechte. Von den
Handwerkern, zumal den Webern, ging die negative Sicht der Fernkaufleute aus:
Diese erschienen häufig als bloß von Gewinnstreben erfüllte, den
Abhängigen gegenüber unbarmherzige Menschen, als Ausbeuter und »Kapitalisten«,
wie man sich schon hätte ausdrücken können. (Ebd., 1998,
S. 432).In den eigenen Augen der Großkaufleute und auch nach
dem Urteil späterer Historiker hing von ihrem Wagemut und von ihrer Organisationsgabe
das Geschick der ganzen Stadt ab; sie blühte, solange kühne Unternehmer
an ihrer Spitze standen; ihre Entwicklung stagnierte oder ging zurück, sobald
ein bequem lebendes Patriziat nur noch auf Erhaltung des schon Erreichten bedacht
war. (Ebd., 1998, S. 432).Die kennzeichnende Mentalität
der kleinen Handwerksmeister, welche die Konkurrenz untereinander ausschalten
und einem jeden seine »Nahrung« sichern wollten, setzte sich durchaus
nicht überall durch, und für die Mediävisten bildet das Städtewesen
des deutschen Mittelalters ein überaus buntes Bild. Aber das Gemeinsame ist
doch leicht zu erkennen: Es handelte sich durchweg um ... Gemeinwesen, die sich
durch Türme und Mauern von ihrer Umwelt abtrennten und doch in der Regel
durch einen ausgedehnten Handel mit einer weiten Umwelt eng verbunden waren, die
sich unter geringerer oder größerer Beteiligung des »Volkes«
selbst regierten und durchweg von starkem Gemeingeist erfüllt waren, welcher
in Kirchen und Rathäusern seinen dauerhaften Ausdruck fand. (Ebd.,
1998, S. 432).Obwohl das gesellschaftliche System erst durch die
Reformation eine entscheidende Weiterbildung erfuhr, darf doch schon die gesellschaftliche
Welt des Mittelalters im Abendland als »Liberales
System«, d.h. als mehrpoliges, »polygonales« Gebilde, bezeichnet
werden, das als solches weltgeschichtlich singulär war. Seine engverbundene
Staatenvielfalt und sein Adel sind den Staaten und dem Adel anderer Weltregionen
nicht gleichzusetzen, und erst recht ist nirgendwo sonst ein selbstbewußtes
»Bürgertum« ausgebildet worden, das indessen auch deshalb etwas
anderes als eine reiche Händlerschicht war, weil es sich dem Adel nicht bloß
entgegenstellte, sondern dessen Vorbild zu nutzen bereit war. (Ebd., 1998,
S. 433).Deshalb war sogar in den Städten die führende
Schicht nicht einfach »bürgerlich«, sondern »bürgerlich-adlig«
oder patrizisch. Eine Revolution im Sinne der Vernichtung einer Klasse durch eine
andere fand daher nirgendwo statt, auch wenn eine solche Intention nicht ganz
selten artikuliert und einige Male an marginalen Stellen der Realität, wie
in der Agitation Thomas Müntzers und ansatzweise in der Wirklichkeit des
Wiedertäuferreichs zu Münster, aufweisbar ist. (Ebd., 1998, S.
433).Aber der Eindruck wäre falsch, daß das Liberale
System bloß ein deutsches und italienisches Phänomen gewesen wäre.
Auch in Frankreich bildeten sich »Kommunen«, auch in England entspannen
sich Kämpfe um die Freiheit von Städten und sogar von »Grafschaften«;
in Spanien wurden die »fueros«, die Privilegien von städten und
Landschaften, während des ganzen Mittelalters von den Monarchen feierlich
beschworen. (Ebd., 1998, S. 433).Unterschiede zwischen den
Staaten wurden selbst zu einem Merkmal der Gesellschaftsordnung des Liberalen
Systems des »Okzidents«, des (germanisch
dominierten!HB) romanisch-germanischen Abendlandes. (Ebd., 1998,
S. 434).
42) Geschichtsschreibung und GeschichtsbewußtseinMan kann
... sagen, daß der Wurzelboden der Geschichtsschreibung die Geschichte selbst
war, nämlich die fast durchweg kriegerische Geschichte von Königen und
Hochkulturen, und daß ihr unmittelbarere Ursprung ein Geschichtsbewußtsein
war, das aus dem Zusammenwirken geschichtlicher Erinnerungen mit der Erfahrung
bewegender Vorgänge in der Gegenwart erwuchs. (Ebd., 1998, S. 435).Polybios,
geboren um 200 v. Chr., war ein hochgebildeter Grieche aus Arkadien, der im Dritten
Makedonischen Krieg als Reiterführer des achäischen Bundes gegen Rom
gekämpft hatte und nach der Schlacht von Pydna als eine von tausend achaiischen
Geiseln nach Rom gebracht wurde. Dort fand er Eingang in das Haus des Siegers
von Pydna, des Aemilius Paullus, und wurde zum Erzieher und Freund von dessen
Adoptivsohn Scipio Aemilianus, an dessen Seite er bei der endgültigen Zerstörung
Karthagos anwesend war. Er ist mithin als früher Repräsentant jener
intellektuellen Begegnung zwischen Römern und Griechen zu betrachten, an
deren Anfang die Unterwerfung Makedoniens und Griechenlands durch die Römer
steht und deren Ende die mentale Hellenisierung Roms bildet. Als Geschichtsschreiber
erlangte er Ruhm durch seine 40 Bücher Historien, welche die Zeit
von 264 bis 144 umfassen und nur unvollständig erhalten sind. (Ebd.,
1998, S. 438).Sein Motiv gibt er gleich
zu Beginn des ersten Buches zu erkennen, und zwar in der Form einer Frage:»Denn
wer wäre so gleichgültig, so oberflächlich, daß er nicht
zu erfahren wünschte, wie und durch was für eine Art von Einrichtung
und Verfassung ihres Staates beinahe der ganze Erdkreis in nicht ganz 53 Jahren
unter die alleinige Herrschaft der Römer gefallen ist?« (Polybios,
Historien, I, 1). | Er will also nach den Ursachen
des Übergangs der Weltherrschaft von den hellenistischen Staaten der Nachfolger
Alexanders des Großen auf die Römer fragen, aber er läßt
von Anfang an keinen Zweifel daran, daß für ihn die Hauptursache jedenfalls
in der Verfassung des Staates zu suchen ist, und es wird sehr schnell deutlich,
daß er in der römischen Verfassung die beste aller Verfassungen sieht.
Die Frage nach den Ursachen ist also zugleich eine Aussage über das politisch
Gute, und daraus resultiert mit Notwendigkeit die innere Zustimmung des Besiegten
zu dem weltgeschichtlichen Triumph der Sieger, d.h. ein Geschichtsbewußtsein
von durchaus affirmativer Art, das aber als »eigenes« nur dann zu
bezeichnen wäre, wenn Polybios den eigentlichen Sieg jener römisch-hellenischen
Synthese zuschriebe, deren Anfänge er selbst verkörperte. (Ebd.,
1998, S. 438).Der Grundgedanke, der erst
im sechsten Buch entwickelt wird, ist einfach. Im Anschluß an Platon unterscheidet
Polybios drei reine Staatsformen: die Monarchie als den Anfang der Staatlichkeit,
die Aristokratie und die Demokratie. Jede trägt die Möglichkeit, ja
die Notwendigkeit der Entartung in sich: Wenn das Königtum zur Tyrannis geworden
ist, wird es von tüchtigen Männern gestürzt, die eine Aristokratie
errichten. Die aber entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer Oligarchie und
erregt ebensoviel Haß, wie ihn die Tyrannis erweckt hatte, und so wird sie
vom Volk gestürzt, das nun die Herrschaft als Demokratie in die eigenen Hände
nimmt; aber auch die entartet unter den Enkeln der Gründergeneration, nämlich
zur Pöbelherrschaft, so daß der Ruf nach dem starken Mann, der endlich
Ordnung schafft, übermächtig wird und am Ende wieder eine Monarchie
entstanden ist. (Ebd., 1998, S. 438-439).Dieser
Kreislauf - die »anakyklosis« - der Verfassungen würde immer
so weitergehen, wenn sich nicht weise Verfassungsgeber gefunden hätten, die
eine gemischte Verfassung einführten, welche die Vorzüge der reinen
Verfassungen vereinigt und ihre Nachteile vermeidet. Als erstes Beispiel führt
Polybios die Verfassung des Lykurgos an, also diejenige der Spartaner. Hier sind
die einzelnen Machtfaktoren - das Königtum, das Volk und der Rat der Alten
- »so gegeneinander ausgewogen, daß keiner das Übergewicht erhält«
und infolgedessen der Staat auf lange hin erhalten bleibt. Das großartigste
Beispiel einer solchen Verfassung ist aber die römische: Die Römer »besitzen
die beste Verfassung, die es heute gibt«. (Polybios,
Historien, VI, 10). (Ebd., 1998, S. 439).Aber
nach Polybios ist auch die Weltherrschaft der Römer, so gut begründet
und so berechtigt sie ist, zum schließlichen Untergang bestimmt. (Vgl. Polybios,
Historien, VI, 51; mit unzweideutigen, aber wegen des direkten Anschlusses
an die Erörterung der reinen Verfassungen nicht ganz einleuchtenden Worten
so bereits in VI, 9 formuliert). In gewisser Hinsicht identifiziert sich Polybios
also mit dem Geschichtsbewußtsein der Römer, in anderer Hinsicht jedoch
bleibt er dazu in Distanz. (Ebd., 1998, S. 439).Das christliche
Geschichtsbewußtsein ist seit den ersten Anfängen von dem antiken dadurch
fundamental verschieden, daß es nicht bloß den Verfall geschichtlicher
Realitäten, sondern ein Ende der Geschichte selbst erwartet: die Wiederkunft
Christi und das Jüngste Gericht, das die Guten für immer in den Himmel
Aufnahme finden läßt und die Bösen zur ewigen Höllenstrafe
verdammt. Die Naherwartung der ersten Zeiten war bald dahingeschwunden, aber die
Ausrichtung auf das »Ende der Welt« verlor sich nie, und die Geschichte
blieb eine zum Abbruch bestimmte Bühne, auf der sich der Kampf zwischen den
Guten und den Bösen vollzog. Die Bücher über den »Staat Gottes«
des Augustinus waren die einflußreichste Artikulation dieses christlichen
Geschichtsbewußtseins, doch wird man sie schwerlich der Geschichtsschreibung
zurechnen, die eher von seinem Nachfolger Orosius ins Werk gesetzt wurde
(Ebd., 1998, S. 439).Dem islamischen Bereich
zugehörig ist das Geschichtswerk von Ibn
Chaldun, das in seinem Hauptteil die Geschichte der arabischen und berberischen
Stämme des Maghreb mit so vielen Details schildert, daß es nur für
Spezialforscher lesbar ist. (Ebd., 1998, S. 441).Gleich
zu Beginn gibt sich Ibn Chaldun als ein kritischer Historiker zu erkennen ....
Kritisch ... scheint auch die Einstellung gegenüber seinem eigenen Volk zu
sein, denn es finden sich sehr negative Urteile über die Araber, ja diese
erscheinen geradezu als die nomadischen und barbarischen Kulturzerstörer
schlechthin. Sie sind »wegen ihrer wilden Natur Räuber und Zerstörer,
und sie haben die wenigsten Anlagen zur Kunstfertigkeit.« (Ibn Chaldun,
Ausgewählte Abschnitte aus der Muqaddima. Aus dem Arabischen von Annemarie
Schimmel, 1951, S. 65, 214). (Ebd., 1998, S. 441).Aber
Ibn Chaldun ist alles andere als ein bedingungsloser Lobredner der Kultur. Sein
Zentralbegriff ist vielmehr »aschabija«, und der ist am ehesten durch
»Gemeinschaftsgeist« wiederzugeben. Diese »aschabija«
ist auf dem Land, d.h. bei den Beduinen der Steppen und Wüsten, am stärksten,
und ihre feste Basis ist die Blutsverwandtschaft, also die Sippe. Nur aus der
»aschabija« erwachsen Staatlichkeit, Stadtleben und Kultur, aber eben
dadurch wird sie auch geschwächt und schließlich zerstört. Der
Luxus und das Wohlleben des Stadtlebens gewinnen die Oberhand über die Rauheit
und den Gemeinschaftsgeist des Landlebens, d.h. des Beduinenlebens, und so zerstört
die kultur ihren eigenen Ursprung. (Ebd., 1998, S. 441).Die
letzte Stufe der Kultur vor ihrem Untergang läßt sich als bloße
»Zivilisation« charakterisieren, und Ibn Chaldun nimmt sich so als
Vorläufer Spenglers
aus. (**|**|**|**).
Aber er ist doch nicht ein bloßer Dekadenztheoretiker, der sein eigenes
Volk lobt, indem er es scheinbar herabsetzt. (Daß »barbarische«
oder zurückgebliebene Völker »junge« und damit zukunftsvolle
Völker seien, wird später bekanntlich zumal in der russischen Literatur
des 19. Jahrhunderts zum Topos.). Die vielen Zitate aus dem Koran sind sicherlich
nicht bloße Verzierungen, und Ibn Chaldun schreibt dem Islam offenbar eine
Verwandlungskraft zu, die aus den wilden Stämmen der Zeit vor Muhammad (auch:
Mohammed; HB) Welteroberer und kulturschaffende Dynastien gemacht
hat. Ebensooft wie an Spengler mag man sich an Giambattista Vico
erinnert fühlen, genauer gesagt: Ibn Chaldun kann als ein Vorläufer
gerade dieser beiden Geschichtsdenker erscheinen. (Ebd., 1998, S. 441-442).Wenn
mit Recht von einer Singularität des Okzidents gesprochen wird, so war auch
das Werk von Las Casas einer ihrer Bestandteile. (Ebd., 1998, S. 444).Eine
»freie Regierungsweise« ist dann gegeben, wenn die drei Gewalten der
Legislative, der Exekutive und der Judikative voneinander getrennt sind, denn
»es gibt keine Freiheit, wenn in derselben Person oder in derselben Körperschaft
die Macht der Gesetzgebung mit der ausführenden Gewlt vereinigt ist«,
und das gleiche gilt für die richterliche Gewalt. Dieser Zustand existiert
für Montesquieu nur in England; aber er sollte und könnte auch in Frankreich
und Deutschland, ja in ganz Europa herrschen, denn seine Ursprünge sind bei
den germanischen Stämmen zu suchen, die in der Völkerwanderunsgzeit
den größten Teil Europas (das gesamte Abendland!
HB) eroberten: »Wenn man das bewunderungswürdige Buch des
Tacitus über die Sitten der Germanen liest, wird man sehen, daß die
Engländer von diesen ihre Idee ihrer Regierunsgform genommen haben. Diese
schöne System stammt aus den germanischen Wäldern.«
(Charles-Louis de Montesquieu, Ausgewählte Werke, S. 720ff., 730 [Buch
11. Kapitel VI]). (Ebd., 1998, S. 445).Montesquieu ... ist
... als einer der bedeutendsten Vorkämpfer nicht nur des Konstitutionalismus
oder der liberalen Demokratie zu betrachten, sondern auch des Vorrangs des aus
germanischen Wurzeln stammenden, durch das System der Freiheit ausgezeichneten
Okzidents. (Ebd., 1998, S. 445).
43) Ökonomie und SexualitätSo ließe sich nicht
zuletzt am Beispiel der Sexualität, aber auch am Beispiel der Ökonomie,
für die der Hunger nur noch eine ferne Sage ist, ein Blick in die »Nachgeschichte«
tun. (Ebd., 1998, S. 459).
44) Bildung und WissenschaftZwischen den einzelnen Universitäten
des gesamten Abendlandes bestand eine Kommunikation von erstaunlicher Dichte,
nicht zuletzt infolge der »libertas docendi«, aber in erster Linie
aufgrund der Alleinherrschaft des Lateinischen, die so unangefochten war, daß
z.B. an den deutschen Universitäten den Studenten das »Teutonisieren«
verboten wurde, also die Benutzung der Muttersprache im Umgang miteineinander.
(Wenn man hier das »Lateinische« durch das »Englische«
und die »Universitäten« durch die »Wirtschaftsunternehmen«
austauscht, erhält man die heutige Situation des Globalismus! HB).
(Ebd., 1998, S. 464-465).Im Ganzen gesehen gab es um 1550 zu diesem
abendländischen System zahlreicher, in Fakultäten gegliederter und konfessionsverschiedener
Hochschulen nirgendwo in der Welt eine genuine Analogie. Dadurch wurde es nicht
ausgeschlossen, daß Universitäten ... im Verlauf des 17. Jahrhunderts
in den Ruf der Starrheit und des theologischen Dogmatismus gerieten und daß
sich die wichtigsten Entwicklungen der Philosophie und der Wissenschaft außerhalb
der Universität vollzogen. Weder Galilei noch Kepler, weder Descartes noch
Leibniz waren Universitätslehrer. Erst Christian Wolff und dann vor allem
Kant legten im 18. Jahrhundert den Grund für den Wiederaufstieg, der
im 19. Jahrhundert die deutschen Universitäten zu führenden Kraft
in der wissenschaftlichen Welt machen sollte. (Ebd., 1998, S. 465).
44) Dynamik, Fortschritte, Emanzipation, SäkularisierungBei
allen Verbesserungen ist in der alten Welt nirgendwo ein Fortschrittsbewußtsein
oder ein wille zum Fortschritt zu entdecken, und die extreme Möglichkeit
einer Emanzipation des Menschen von seiner Endlichkeit, auf das er »werde
wie Gott« taucht zwar auf, wird aber ... entsetzt zurückgewiesen.
(Ebd., 1998, S. 471).Es dürfte richtig sein, die Moderne nicht
aus dem Wirken von zwei dynamischen Professionen hervorgehen zu lassen, die sich
gegen die Hemmungskräfte ... sowie nicht zuletzt gegen den hartnäckigen
Konservativismus ... durchgesetzt hätten, sondern aus dem Wechselspiel relativ
unabhängiger, aber gleichwohl eng verbundener Kräfte, die ... in ihrem
Aufeinanderwirken Modernität hevorbrachten. Eben das wäre das »Liberale
System«, das nicht etwa erst ... als »Liberalismus«
ins Dasein trat, sondern seine Wurzeln im Mittelalter hat. Man darf ohne Bedenken
behaupten, daß ... darauf der Begriff der Singularität ... Anwendung
finden darf .... (Ebd., 1998, S. 475-476).Wenn das Christentum
so mysterienlos gewesen wäre wie der Islam, hätte sich diese Art von
Säkularisierung nicht vollziehen können, ja es ist die Frage, ob
eine Gesellschaft, in der Religiosngesetz und Statsgesetz identisch sind, ohne
daß die religiöse Lehre »übervernünftig« zu sein
beanspruchte, sich überhaupt von sich aus säkularisieren könnte.
Die Gesellschaft des Liberalen
Systems, so dürfen wir jetzt sagen, ist als die sich selbst säkularisiernde
Gesellschaft zu bestimmen. (Ebd., 1998, S. 483).Nur deshalb
konnte sie jenen »Fortschrittsglauben« entwickeln, desen Fehlen
wir für alle früheren Zeiten konstatiert haben und der in der christlichen
Vorstellung vom Gang der Geschichte zwischen Sündenfall und Endgericht bloß
partiell präfiguriert war. Nur deshalb, so ist zu vermuten, vermochte sie
diejenige Dynamik an den tag zu legen, die als durchdringende Tendenz noch in
der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht eindeutig an den Tag getreten war. Nur
deshlab schließlich konnten die Emanzipation der Philosophie von der Theologie
und die spätere Emanzipation der Wissenschaft von der Philosohie in Emanzipatiosnbewegungen
eine Fortsetzung finden, die das Punktuelle jenes vielfältigen »Aufbegeghrens«
hinter sich gelassen hatten. Und nur so konnte wohl auch die Idee einer Überwindung
der Geschichte durch Aktivität und Wissenschaft zustande kommen, die sich
von der Vorstellung einer Überwindung durch den Kampf für den einheitsstiftenden
Glauben, wie im Islam, und von dem Wunsch nach Auslöschung der Individualität
durch Askese im buddhistischen Nirwana so deutlich unterscheidet. (Ebd.,
1998, S. 483).
C) Modernität und praktische Transzendenz
46) Die Anfänge der modernen Wissenschaft und die Aufklärung
Die
moderne Wissenschaft mag als Grundlage allen Fortschritts oder als Anfang der
Natuverwüstung verstanden werden, und die Aufklärung mag als entscheidender
Schritt zur Befreiung aller Menschen von Armut und Aberglauben oder aber als Auflösung
aller gemeinschaftsbildenden Werte und Strukturen gelten: Zusammen mit den politischen
und ökonomischen Umwälzungen jener dreifachen Revolution bedeutet sie
vor allem den Überschritt von der bis dahin allein bekannten theoretischen
Transzendenz zur praktischen Transzendenz, d.h. zur Ergänzung oder zur Ablösung
des auf die Welt im ganzen gerichteten denkens durch ein Handeln, das ebenso auf
die Welt im ganzen gerichtet war; obwohl es der Meinung sein konnte, in der vorteilhaften
Einrichtung der irdischen Verhältnisse sein Genügen zu finden.
(Ebd., 1998, S. 497).
47) Die atlantischen Revolutionen als Eingangstor zur ModerneNoch
eine letzte Frage ist aufzuwerfen: Was bedeutete die französische Revolution
unter innenpolitischen Gesichtspunkten, Die geläufigste Antwort ist, es habe
sich um eine »bürgerliche Revolution« gehandelt, und das heißt,
um eine modernisierende, den kapitalistischen Verhältnissen freie Bahn schaffende
Revolution. Es grenzt indessen ans Groteske, wenn die Jakobiner für Vertreter
»des Bürgertums« erklärt werden, nur weil sie ihrer Herkunft
nach überwiegend Advokaten waren. Robespierre und Saint-Just haßten
die Bourgeoisie, und die meisten Jakobiner ließen sich von jenem egalitären
Volksenthusiasmus tragen, der in dem oben zitierten Vers seinen Ausdruck findet.
(Ebd., 1998, S. 510).Der eigentlichen »Massenbasis«
der Revolution, den Pariser »Sansculotten« haben selbst ihre Freunde
unter den Historikern bescheinigt, daß sie in ökonomischer Hinsicht
eine »reaktionäre« Einstellung hatten. Richtig ist allerdings,
daß es andere Advokaten waren, die Robespierre, Saint-Just und Couthon schließlich
stürzten und unter dem Direktorium der Handelsverkehr und der industriellen
Produktion wieder eine relativ freie Bahn schufen. Aber sie unterlagen ihrerseits
schon bald dem sieggekrönten General Napoleon Bonaparte, der sich zum »Kaiser«
machte und den ideologischen Bürgerkrieg gegen die »feudalen«
Mächte Europas weitgehend in einen Staaten- und Eroberungskrieg umwandelte,
dem unvergleichlich mehr Menschen zum Opfer fielen als dem Großen Terror
der Jakobiner. (Ebd., 1998, S. 510).Als der Korse, der Sohn
und Überwinder der Revolution, besiegt war, schrieb im Juli 1814 jener andere
große und doch in seiner Orientierung an der Landwirtschaft paradoxe Vorkämpfer
der Modernisierung, Thomas Jefferson:»Der
Attila des Zeitalters ist entthront, der rücksichtslose Vernichter von zehn
Millionen Menschen ..., der große Unterdrücker der Rechte und Freiheiten
der Welt ..., wie elend, wie schändlich hat er seine aufgeblasene Laufbahn
beendet ..., es ist mir leid um Frankreich, obwohl sich nicht leugnen läßt,
daß es wegen der Bedrängnisse, die es anderen Nationen unnötiger-
und verwerflicherweise schuf, harte Vergeltungsmaßnahmen verdient hat. ....
Nachdem er die Freiheiten seines Landes zerstört hatte, hat er dessen sämtliche
Hilfsmittel erschöpft, sowohl die physischen wie die moralischen, um seinen
eigenen wahnsinnigen Ehrgeiz, seinen tyrannischen und hochmütigen Geisteszustand
zu befriedigen. Seine Leiden können nicht zu groß sein.« (Thomas
Jefferson, zitiert in: Saul Padower, The Complete Jefferson, S. 919).
(Ebd., 1998, S. 510-511). |
So viel ist sicher,
daß Frankreich während des ganzen 19. Jahrhunderts gegenüber England
und Deutschland ein ökonomisch rückständiges und in der Hauptsache
landwirtschaftlich orientiertes Land blieb. (Ebd., 1998, S. 511).Wer
die »Anfänge der Moderne« in unvermischter Gestalt auffinden
möchte, der könnte versucht sein, »Land, Land!« zu
rufen, wenn er sich England zuwendet. Hier gab es keinen Absolutismus, sondern
der Adel hatte sich eine Monarchie nach seinen Vorstellungen geschaffen, indem
er die in England unbegüterten, für lange Jahrzehnte des Englischen
nicht mächtigen Kurfürsten von Hannover als Könige ins Land rief;
diesem Adel war die Betätigung in Handel und Industrie nicht verboten wie
dem französischen, und er war nicht vom Bluts-, sondern vom Besitzprinzip
geprägt, d. h. nicht alle Kinder erbten den Titel des Vaters, sondern nur
der älteste (oder u.U. der jüngste) Sohn, der den Besitz übernahm,
während alle anderen Kinder ohne Titel in die Schicht der »gentry«
übergingen. (Ebd., 1998, S. 511).In England waren Verbindungen
zwischen Gentry und dem Bürgertum an der Tagesordnung, und keine hochmütige
Verachtung traf den Mann, der sich an der Börse ein Vermögen verdiente.
Hier waren die Anhänger der abweichenden Glaubensbekenntnisse nicht wie die
Hugenotten in Frankreich vertrieben worden, sondern sie wurden als »Dissenters«
geduldet und entfalteten, wie die Juden, bedeutende Aktivitäten ökonomischer
Art, obwohl sie doch zu den Hauptträgern jener Revolution des 17. Jahrhunderts
gehört hatten, die lange vor den Franzosen einen König hingerichtet
hatte. Wo waren die Bedingungen für einen großen Aufschwung der Gewerbetätigkeit
und eine bedeutende Fortentwicklung der Technik besser als in diesem handeltreibenden
Land einer parlamentarischen Monarchie? (Ebd., 1998, S. 511-512).Wenn
der gewaltige Aufschwung, welcher England zwischen der Mitte des 18. und der Mitte
des 19. Jahrhunderts zu dem ersten industriellen Land der Welt machte, eine »Revolution«
genannt wird, so kann dafür nicht das Merkmal der Plötzlichkeit und
Turbulenz maßgebend sein, sondern allein das erstaunliche Ausmaß der
Umwandlung .... All das Zufällige, das über das Geschick einer politischen
Revolution entscheiden kann - die falsche Nachricht, die eine Volksmenge auf die
Straße treibt; der Ausgang einer Schlacht, der von dem kühnen Entschluß
eines einzigen Mannes abhängen mag -, fehlt hier allem Anschein nach; es
bietet sich vielmehr das Bild einer ebenso konsequenten wie zwangsläufigen
Entwicklung. (Ebd., 1998, S. 512).So zwangsläufig der
Prozeß erscheinen kann, so gewiß hatte er »Väter«
oder Urheber, und dazu zählten in erster Linie die Erfinder, die oft einfache
Handwerker, ja manchmal sogar Analphabeten waren, die aber nur dann in den Genuß
der Früchte ihres Werkes kamen, wenn sie mit Unternehmern und Wissenschaftlern
in Verbindung traten: Ein aufschlußreiches Beispiel ist James Watt, der
die Dampfmaschine nicht eigentlich erfand, aber doch auf entscheidende Weise verbesserte
und verwendbar machte. (Ebd., 1998, S. 512).Für die
»Söhne« der großen Industrie, d.h. für die einfachen
Arbeiter der Leitindustrie, der Textilfabrikation, die sich noch als »Spinner«
und »Weber« bezeichneten, als sie schon längst in Fabriken arbeiteten,
bedeutete der Prozeß vor allem eine Entfremdung gegenüber ihren Werkzeugen,
über die sie die Herren gewesen waren, solange sie sie mit der Kraft ihrer
Hände und Füße in Bewegung setzten und hielten. Aber als das Wasser
und dann der Dampf zur Antriebskraft wurden, konnten sie sich als bloßes
Zubehör einer Maschine empfinden. Und da diese Maschinen in Fabriken konzentriert
waren und daher dem Unternehmer gehörten, mußten sie das Gefühl
haben, zu Objekten eines umfassenden Enteignungsprozesses geworden zu sein. Und
was bedeutete die Verwendung der Dampfkraft anderes als eine Ent-Natürlichung,
da sie nicht altbekannt und anschaubar war wie die Kraft der Zugtiere oder auch
des wassers, sondern »hergestellt« werden mußte? Daß eine
tiefgreifende, alldurchdringende Verwandlung gerade der elementaren Lebensverhältnisse
stattfand, war für die Arbeiter früher und stärker erfahrbar als
für die Unternehmer, die sich im Verhältnis zu ihren Vorfahren vielleicht
nur eine intensivere Aktivität zuschreiben mochten. (Ebd., 1998, S.
512-513).So wurde der anscheinend unaufhaltsame Industrialisierungsprozeß
von menschlichen Lobpreisungen, Verdammungen, Agitationen und Bewegungen gleichsam
umspielt, die ihn zu fördern oder zu hemmen suchten. Die Begründung
des Wirtschaftsliberalismus durch Adam Smith gab den Unternehmern ein gutes Gewissen
und konnte sie doch auch wieder unsicher machen, da Smith ihren Profit für
einen Abzug vom Lohn der Arbeiter erklärte. Die Hauptvertreter der klassischen
Nationalökonomie, David Ricardo und Thomas Malthus, hoben vor allem die Gefahren
hervor, die für den Industrialisierungsprozeß aus der Bevölkerungsvermehrung
und der drohenden Erschöpfung der Ressourcen erwuchsen; einem Gegner der
»Verstädterung« wie Charles Hall erschien die Moderne als die
Zeit des schroffsten Antagonismus, der immer weiteren Ausdehnung der Manufakturen,
der Verelendung und der rücksichtslosen Ausbeutung; große Dichter,
die selbst dem Adel entstammten, wie Byron und Shelley, griffen die führende
Schicht mit scharfen Worten an; Robert Southeys Letters from England könnte
man ein »antiindustrielles Manifest« nennen. (Ebd., 1998, S.
513).Und die vielgerühmte Stabilität des gesellschaftlichen
Zustandes war oft genug gefährdet: durch den »Maschinensturm«
der Ludditen, durch die schweren Unruhen nach dem »Massaker von Peterloo«
im Jahre 1819 und vor allem durch die quasi-revolutionäre Unruhe, welche
die Reformgesetzgebung von 1832 vorantrieb. Aber den Agitatoren, die mit einer
verbalen Gewaltsamkeit ... zum Sturz der Aristokratie aufriefen, schwebte keineswegs
die Entfesselung des Industrialisierungsprozesses als Ziel vor, sondern eher dessen
Hemmung, ja Unterbindung, und eben durch diese Agitation sah sich der neue Premierminister
Lord Grey gezwungen, größere Schritte zu tun, als er eigentlich beabsichtigt
hatte. (Ebd., 1998, S. 513).Auch hier erwies sich die Richtigkeit
des Satzes, daß »Modernität« sich erst im Kampf unmoderner
Elemente allmählich herausbildete. Dennoch war das Neuartigste, was zu Wort
gebracht wurde, zweifellos die Hoffnung, daß durch die Industrialisierung
ein neuer, besserer und von der Vergangenheit ganz verschiedener Zustand heraufgeführt
werden würde. (Ebd., 1998, S. 513).Als im Jahre 1851
der Prinzgemahl Albert die erste Weltausstellung im Londoner Kristallpalast feierlich
eröffnete, schien angesichts der dort konzentrierten »Wunderwerke der
modernen Technik« etwas anderes als ein zuversichtlicher Blick in die technisch-industrielle
und wissenschaftliche Zukunft der Menschheit gar nicht mehr möglich zu sein.
(Ebd., 1998, S. 514).Daß alle diese Fortschritte und Verbesserungen
einen inneren und nicht bloß negativen Zusammenhang mit der Religion und
der Philosophie des Okzidents aufwiesen, wurde allenfalls in der Weise wahrgenommen,
daß die christliche Sittlichkeit die Grundlage des industriellen Aufschwungs
sei. Hegel indessen erblickte in seinen Vorlesungen der 1820er Jahre über
die »Philosophie der Geschichte« eine engere Beziehung zwischen der
christlichen Weltreligion und der Moderne, welche für ihn mit der Reformation
begann:»Die
Entwicklung und der Fortschritt des Geistes von der Reformation an besteht darin,
daß der Geist, wie er sich seiner Freiheit durch die Vermittlung, welche
zwischen dem Menschen und Gott vorgeht, jetzt bewußt ist in der Gewißheit
des objektiven Prozesses als des göttlichen Wesens selbst, diesen nun auch
ergreift und in der Weiterbildung des Weltlichen durchmacht.« (Georg Wilhelm
Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte,
S. 887-888). | Und die Schlußsätze der Vorlesung
lauten:»Daß
die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes
ist, unter dem wechselnden Schauspiel ihrer Geschichten, - dies ist die wahrhafte
Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. .... Nur die Einsicht
kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß
das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern
wesentlich das Werk seiner selbst ist.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, S. 938). | Mit
einfacheren Worten heißt das: Modernität ist die Realisierung der Transzendenz,
jenes »Wesens des Menschen«, das ihn von seinen ersten Anfängen
an ein Verhältnis zur Welt im ganzen haben ließ. Wir haben dieses Weltverhältnis,
wie es uns bisher begegnet ist, die »theoretische Transzendenz« genannt,
da sich das »Über-hinaus«, das Überschreiten der in der
Praxis gegebenen Grenzen, vornehmlich im Denken und im mythologischen Vorstellen
vollzog. Anscheinend will Hegel sagen, in der Moderne vollziehe sich diese Entgrenzung
nicht mehr bloß im Denken, sondern auch in der Praxis: Die Welt im ganzen,
d.h. die Erde, werde entdeckt und erschlossen und alle menschlichen Verhältnisse
würden entsprechend, d.h. gemäß der Vernunft, eingerichtet. In
unserer Terminologie ließe sich das folgendermaßen formulieren: Die
praktische Transzendenz löst als Weltbemächtigung und Welteinrichtung
die theoretische Transzendenz als eine bloß vorwegnehmende und nicht autonome
Gestalt ab. Tatsächlich hat Hegel die Religion und die Kunst für abgeschlossene
Formen der geistigen Entwicklung erklärt, und auch eine Weiterentwicklung
der Philosophie über die seine hinaus hat er allem Anschein nach nicht für
möglich gehalten. (Ebd., 1998, S. 514-515).Wir haben
gesehen, wie ambivalent die Modernität bei ihrem ersten Auftreten war, wie
unverhüllt sie aber gleichwohl die Überwindung der bisherigen Geschichte
postulierte. Wir sagen daher nicht: »Modernität ist Transzendenz«,
sondern »Modernität ist praktische Transzendenz«, und diese praktische
Transzendenz nimmt sich an der Schwelle des dritten Jahrtausends im Rückblick
sehr viel fragiler und im Vorblick weitaus mächtiger aus, als Hegel sich
vorstellen konnte. Aber eben deshalb gibt der Begriff der »Realisierung«
das Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Transzendenz auf allzu
vereinfachende Weise wieder. (Ebd., 1998, S. 515).
48) Die Kulturstaaten des 19. Jahrhunderts und die Weltherrschaft
des OkzidentsDieser Prozeß einer »Demokratisierung«,
welche sich in der Regel noch nicht als Verneinung der Monarchie verstand, ging
Hand in Hand mit einer Alphabetisierung der Bevölkerung, bei der Deutschland
bei weitem an der Spitze stand .... Die Zahl der Zeitungen und Zeitschriften verfielfachte
sich, die der Neuerscheinungen von Büchern stieg unablässig. Von den
verschiedenen Wissensgebieten schlug die Naturwissenschaft den sichersten und
kontinuierlichsten Gang ein. Ihre Entwicklung war im 19. Jahrhundert eine
einzige Erfolgsgeschichte, und sie ging autonom in eigenen Institutionen vor sich,
meist den Universitäten und nicht mehr, wie im 17. und 18. Jahrhundert, durch
Einzelne, die wie Descartes und Leibniz mit Fürsten, Königen und Höfen
in naher Verbindung standen. Von der Begründung der »Elektrodynamik«
durch Michael Faraday über die Entdeckung des Gesetzes von der Enthaltung
der Energie durch Julius Robert Mayer bis zur Einführung des Entropiebegriffs
(**|**|**)
durch Rudolf Clausius, von James Clerk Maxwells Abhandlung über die Elektrizität
bis zur Entdeckung des Wirkungsquantums durch max Planck und zur Begründung
der Relativitätstheorie durch Albert Einstein handelt es sich bei allen bahnbrechenden
Forschern so gut wie ausschließlich um Europäer (vor
allem um Deutsche!HB **).
(Ebd., 1998, S. 521).Das Zusammenwirken von Wissenschaft, Technik
und Industrie nahm gewiß in den verschiedenen Staaten Europas unterschiedliche
Formen an und wurde auch mit unterschiedlicher Stärke von den Staaten und
insbesondere den Armeen gefördert. Aber so sicher England das führende
Land war (als Seemacht! HB), so wenig barg es
es alle Arten des »Fortschritts« gleichmäßig in sich -
in der Volksbildung etwa bleib es weit hinter Preußen (wie
ganz Deutschland! HB **)
zurück, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts war nirgendwo die Verflechtung
von Wissenschaft und Industrie so weit entwicklet wie in der chemischen Industrie
Deutschlands. (**).
(Ebd., 1998, S. 522).Alle europäischen Kolonialgebiete bleiben
von einer Urbevölkerung bewohnt, die sich möglicherweise eines Tages
emanzipieren würde, aber die riesigen Räume des westlichen Nordamerika
und Sibirien wurden zu einfachen Teilen des Mutterlandes gemacht, und die Urbevölkerung
der Indianer und der Samojeden konnte, soweit sie überlebte, nie einen selbständigen
Schritt tun. (Ebd., 1998, S. 523).Wenn Emanzipation die Befreiung
von jener totalen Unsicherheit bedeutete, in welche die Arbeiter und ihre Familien
durch Arbeitslosigkeit und Krankheit gestürzt wurden, dann war die Sozialgesetzgebung
Bismarcks ein entscheidender Schritt zur sozialen Emanzipation. (Ebd., 1998,
S. 524).Die fundamentale Tatsache war, daß eben doch eine
sehr große Menge von Juden das Angebot der Emanzipation als Individuen annahm
und zumal in Deutschland der dritte große Prozeß der Assimilation
von Juden nach dem hellenistischen und dem spanischen einsetzte. (Ebd.,
1998, S. 526).Vermutlich ist »die deutsche Kultur«
von niemandem so sehr und bis zur vollständigen Serlbstidentifizierung geliebt
worden wie von den zahlreichen Juden, die sich als »jüdische Deutsche«
und nicht als »deutsche Juden« verstanden. Von Gabriel Riesser, einem
der tätigen Vorkämpfer der Assimilation stammt der Satz: »Wer
mir den Anspruch auf mein deutsches Vaterland bestreitet, der bestreitet mir das
Recht auf meine Gedanken und Gefühle, auf die Sprache, die ich rede, auf
die Luft, die ich atme, darum muß ich mich gegen ihn wehren, wie gegen einen
Mörder.« (Ebd., 1998, S. 526).Höchst selten
wurde die tiefe Ambivalenz wahrgenommen, daß Marx sich sowohl in den innen-
wie in den außenpolitischen Auseinandersetzungen auf die Seite der »fortschrittlichen
Bourgeoisie« ... stellte .... (Ebd., 1998, S. 531).Was
den Nachgeborenen als »rassistisch« ins Auge fällt, war nichts
anderes als die Wiederspiegelung der Tatsache, daß die germanischen Nationen
wie die Engländer, die Deutschen und die Nordamerikaner (bzw. die »weiße
Rasse«) einen schlechterdings unübersehbaren Vorrang an Macht und zivilisatorischen
lesitungen aufwiesen, so daß von ihrer »Weltherrschaft« die
Rede sein mußte. (Ebd., 1998, S. 533).Ein Empfinden
des Neuartigen und der daraus resultierenden Postulate lag der Auffassung zugrunde,
in einem System von »Kulturstaaten« zu leben oder Teil einer Zivilisation
zu sein, die den Übergang in einen andersartigen Zustand der Geschichte,
aber nicht in ein »Jenseits der Geschichte« darstelle. Die historische
Existenz würde also bewahrt werden. Das oberste aller Postulate mußte
darin bestehen, daß jeder der einzelnen Faktoren des Systems darauf verzichtete,
sich selbst unbedingt und ausschließlich durchzusetzen. Ein Krieg, und sogar
ein großer Krieg, konnte, wenn der Ausdruck erlaubt ist, noch in das System
integriert werden, sofern er nicht als Vernichtungskrieg geführt wurde.
(Ebd., 1998, S. 534).Aber von diesen Faktoren waren nur ein Staat
und eine Partei in der Lage, einen Vernichtungskrieg zu führen, und zugleich
in der Gefahr, im Gegenzug selbst vernichtet zu werden. Der Staat war Deutschland,
diejenige der Weltmächte, die ..., wie der Weltkrieg beweisen sollte, nach
militärischer Tüchtigkeit und industrieller Organisationskraft die weitaus
stärkste der europäischen Mächte war und der ein Sieg über
Rußland, Frankreich und England nicht nur »die Weltmacht« (gemeint
ist die alleinge [alleinige!] Weltmacht; HB), sondern die Weltherrschaft
(gemeint ist die alleinge [alleinige!] Weltherrschaft; HB) gebracht hätte, eine Weltherrschaft, der sich nur die USA hätten
entziehen können, wie ja auch die USA die faktische Entscheidung gegen Deutschland
herbeiführten. (Ebd., 1998, S. 534). Die Partei war
der Sozialismus, genauer gesagt die marxistische Arbeiterbewegung, die sich von
der Idee eines »ganz anderen Weltzustandes« leiten ließ, der
zugleich eine Zuspitzung und Verengung jenes »anderen Zustandes« war,
auf den das Liberale
System von sich aus unter mannigfaltigen Reibungen und Konflikten zuging.
»Deutschland« und »der Marxismus« verdienen daher das
größte Maß an Aufmerksamkeit, wenn wir uns dem Ersten Weltkrieg
und seinen Auswirkungen zuwenden. (Ebd., 1998, S. 534).
49) Der Erste Weltkrieg und der BolschewismusDie auftrumpfenden
und törichten Reden des Kaisers sollten nicht vergessen machen, daß
es keineswegs als lächerlich empfunden wurde, wenn Deutschland nicht selten
- und keineswegs allein von deutschen Lobrednern - wörtlich oder dem Sinne
nach »die führende Weltmacht« genannt wurde und nicht etwa »eine
der Weltmächte«. (Ebd., 1998, S. 535).Die USA
waren zwar längst ein Magnet für riesige Massen von Auswanderern, aber
noch nicht für intellektuelle Kapazität, und im Jahre 1912 konnte ein
bedeutender deutscher Historiker schreiben:.»Und
die anderen, die angelsächsischen Germanen; man braucht nur ihres unverleichlich
viel geringeren Anteils am geistigen Schaffen der Menschheit zu gedenken, um zu
erkennen, daß Deutschland höheren Anspruch auf Führeramt und Führersendung
innerhalb der Menschheit hat.« (Kurt Breysig, Von Gegenwart und Zukunft
des deutschen Menschen, 1912, S. 227). (Ebd., 1998, S. 535). |
Noch
weit weniger in Zweifel zu ziehen war die Behauptung, daß der Große
Generalstab des Deutschen Reiches die effizienteste militärische Institution
der Welt war und aufs sorgfältigste alle erforderlichen Dispositionen getroffen
hatte, die indessen durchweg von einer Verteidigungssituation ausgingen.
(Ebd., 1998, S. 535).Im ganzen stellte der Krieg in nahezu jeder
Hinsicht unter Beweis, daß Deutschland die bei weitem stärkste unter
den europäischen Mächten war und nur durch das Eingreifen der USA besiegt
werden konnte. (Mit anderen Worten: Für Rußland,
England, Frankreich und alle anderen Alliierten zusammen konnte es gegen Deutschland
nur eine Niederlage geben [das gilt für den 1. Weltkrieg wie für den
2. Weltkrieg], und nur mit den USA war für sie ein Sieg in möglicher
Reichweite, allerdings auch nur dann, wenn sie von Anfang von den USA massiv materiell
und finanziell und möglichst bald auch aktiv an allen Fronten unterstützt
würden, d.h.: für sie war nur mit den USA ein Sieg möglich, für
sie war mit den USA auch eine Niederlage möglich, doch für sie war ein
Unentschieden, ein Remis-Frieden, ein Verständigungsfrieden, eben nur ohne
die USA und keinesfalls mit den USA möglich. HB **).
(Ebd., 1998, S. 538).
50) Faschismus und NationalsozialismusHitlers Haß gegen die
russischen Bolschewiki war so ausgeprägt und genuin, daß er taktische
Überlegungen wie diese immer mit Heftigkeit zurückwies und sich weitgehend
mit den Gedanken und Empfindungen identifizierte, die in der Zeitschrift desjenigen
Mannes artikuliert wurden, den er als seinen verehrten Mentor betrachtete, ja
mit dem »Polarstern« verglich, des Dichters Dietrich Eckart. In der
heute kaum noch auffindbaren Zeitschrift Auf gut deutsch (Wochenschrift
für Ordnung und Recht, Hrsg.: Dietrich Eckart **)
erschien 1919 der erste Artikel Alfred Rosenbergs mit der Überschrift: »Die
russisch-jüdische Revolution«. Auch ein erst posthum im Jahre 1924
veröffentlichtes und sicherlich nicht bloß der dichterischen Phantasie
entsprungenes Gespräch zwischen Dietrich Eckart und Adolf Hitler ließ
schon im Titel die Überzeugung erkennen, daß zwischen den ältesten
Ursprüngen des Judentums und dem zeitgenössischen Bolschewismus nicht
bloß eine Affinität, sondern geradezu Identität bestehe: »
Der Bolschewismus von Moses bis Lenin«. (**)
(Ebd., 1998, S. 553-554).Was Hitler in seinen frühen Reden
wieder und wieder zu Wort brachte, kann nicht bloß ein geschickt gewähltes
Strategem zur Ablenkung von den eigentlichen Problemen gewesen sein, sondern entsprang
offenbar machtvollen Emotionen: in dem »russischen Leichenhaus« sei
die »nationale Intelligenz« ausgerottet worden; die »jüdische
Blutdiktatur« in Rußland bedeute das »Abschlachten der Geistigen«,
über 30Millionen Menschen seien von der »jüdischen Gottesgeißel«
langsam zu Tode gemartert worden, »zum Teil in wahren Schlachthäusern«;
und die Konsequenz ist die Entschlossenheit, Vergleichbares in Deutschland zu
verhindern: »Wir lassen uns nicht wehrlos vom Judentum die Gurgel durchschneiden.«
(**).
(Ebd., 1998, S. 554).Wendungen wie diese kommen in den frühen
Reden so häufig vor, daß ihre zentrale Bedeutung für Hitler schlechterdings
nicht zu bestreiten ist, und der augenfälligste Beweis dafür ist die
Tatsache, daß sie sich bis zum Tode Hitlers kontinuierlich, wenn auch in
ungleichmäßiger Dichte, wiederholen. Und es ist nichts anderes als
ein dürftiges Strategem, wenn man meint, alle derartigen Aussagen als »Wahnideen«
abtun zu dürfen. Ihnen lag nämlich eine unleugbare Realität zugrunde,
und erst wenn diese Realität wahrgenommen und nicht abgeleugnet oder »verharmlost«
ist, darf sich die Kritik der Verzerrung und der Obersteigerung zuwenden, die
ihr in Hitlers Aussagen zuteil wurde. (Ebd., 1998, S. 554).Der
starke Anteil von Juden, d.h. von Menschen jüdischer Abkunft, die in den
Augen ihrer orthodoxen Gegner »entjudete« Menschen waren, ließ
sich keineswegs abstreiten. Winston Churchill und Thomas Mann sahen diesen Tatbestand
nicht anders als Hitler und mit denselben negativen Akzent. (Ebd., 1998,
S. 554).Hitler ... behauptet mit großem Nachdruck: »2000
Jahre war die Weltgeschichte nur eine deutsche.« (**).
(Ebd., 1998, S. 557). In den Monologen im Führerhauptquartier
sagt Hitler, die Germanen hätten die Welt erobert, wenn sie Mohammedaner
geworden wären und sich dadurch eine kriegerische Religion zu eigen gemacht
hätten; nur das Christentum habe sie davon abgehalten. (**).
Das Christentum ist nämlich für Hitler nichts anderes als eine frühe
Form des Bolschewismus, die den Untergang Roms verschuldet habe, und diese Gleichsetzung,
die selbst er in öffentlichen Reden nicht hätte vornehmen können,
kehrt in den Monologen so häufig und nachdrücklich wieder, daß
sie einer tiefverwurzelten Überzeugung entspringen muß. (Ebd.,
1998, S. 557).Was er verneint, ist also gerade das Charakteristische
der okzidentalen Entwicklung, und das ist insofern konsequent, als jede Rassenlehre
die Tendenz hat, die Anfänge als das Unverfälschte und die daraus hervorgehende
Entwicklung als Degeneration zu betrachten, wie sich bei Arthur de Gobineau besonders
gut erkennen läßt. (Ebd., 1998, S. 557).Der »kausale
Nexus«, der zwischen dem »Gulag« und »Auschwitz«
besteht und den es ohne Hitler nach menschlichem Ermessen ebensowenig wie die
»Endlösung« selbst gegeben haben würde, schließt »Singularität«
im recht verstandenen Sinne nicht aus, wohl aber die These von der Unvergleichbarkeit,
die sogar dann falsch sein würde, wenn die beiden großen Totalitarismen
des 20. Jahrhunderts nur Parallelerscheinungen gewesen wären.
(Ebd., 1998, S. 561).Aber in Wahrheit waren sie in einen ideologischen
Krieg miteinander verwickelt, in dem sie sich einander weitgehend, jedoch nicht
vollständig anglichen, und ihrem ursprünglichen Selbstverständnis
nach führte der eine, der bolschewistische Totalitarismus, den Kampf für
die Nachgeschichte, während der andere, der faschistische und radikalfaschistische,
für die Fortexistenz der Strukturen der Geschichte zu kämpfen glaubte.
Schon im Verlauf eines Vierteljahrhunderts zeigte sich, daß der Bolschewismus
zu einer ausgeprägten Form der historischen Existenz wurde und der Radikalfaschismus
eine ausgesprochene Geschichtsfeindschaft an den Tag legte. Vermutlich ist daraus
zu schließen, daß »Nachgeschichte« oder »Weltstaat«
und »Geschichte« oder das »System miteinander ringender Staaten«
einander nicht so schroff und ausschließend gegenüberstehen, wie die
beiden extremen Ideologien angenommen haben. (Ebd., 1998, S. 562).
51) Das Judentum und der ZionismusMan kann man mit Recht behaupten,
die Zionisten hätten einen viel außerordentlicheren Anspruch erhoben
als die Faschisten und die Nationalsozialisten, nämlich den Anspruch auf
die Wiedergewinnung einer seit 2000 Jahren verlorenen Heimat. Und des Außerordentlichen
ist so bald kein Ende, wenn man auf das Geschick des Judentums als eines Ganzen
blickt, von dem die Zionisten bis 1945 nur ein kleiner Teil waren. (Ebd.,
1998, S. 563).Wenn man sich der jüdischen und zionistischen
Literatur zuwendet, ist es erstaunlich, wie weitgehend die Übereinstimmung
mit den »Antisemiten«, ja mit Hitler ist .... Moses Hess, in gewisser
Weise der erste und wegen seiner engen Verbindung mit Marx und Engels wohl der
bedeutendste aller Zionisten, schrieb 1862 in seinem Buch Rom und Jerusalem,
dessen Ausgangspunkt die italienische Einigung war, die Juden seien nicht nur
»Bekenner einer Religion«, sondern eine Stammesgenossenschaft, ein
Volk, ja eine »Rasse«, denn die krausen jüdischen Haare könnten
durch keine Taufe verändert werden und also bleibe auch ein getaufter Jude
ein Jude. Die Juden seien nichts anderes als das »mitten in der modernen
Welt fortexistierende jüdische Volk«, und daher könnten sie mit
den europäischen Kulturvölkern trotz eines zweitausendjährigen
Zusammenlebens und -strebens nicht organisch verwachsen. (Vgl. ebd., S. 12, 17).
(Ebd., 1998, S. 563-564).Als 20 Jahre später Leon Pinsker
sein Buch Autoemanzipation schrieb, das zu einem der direkten Ausgangspunkt
des Zionismus wurde, stellte er zu Beginn fest, die Juden seine »tatsächlich
ein heterogenes Element«, welches von keiner Nation gut vertragen werden
könne .... (Vgl. ebd., S. 22). (Ebd., 1998, S. 564).Die
in Europa und Amerika seit 1917 weitverbreitete Überzeugung, daß die
bolschewistische Revolution in der Hauptsache von Juden »gemacht«
worden sei, hatte trotz aller Übertreibung und bloßen Polemik eine
solide Basis in der Realität. (In der Periode des »Red Scare«
in den USA zwischen 1919 und 1921 wurden ganz offiziell Listen in Umlauf gesetzt,
aus denen hervorging, daß unter den dreißig wichtigsten Persönlichkeiten
der bolschewistischen Regierung lediglich Lenin ein Nichtjude sei. Vgl. Paul Johnson,
A History of the Jews, 1987, S. 459.). Keine These übte seit 1919
einen so großen Einfluß auf den jungen Hitler aus wie die vom »jüdischen
Bolschewismus«. Aber der berühmteste und mächtigste Jude unter
den Bolschewiki, Leo Trotzki, spürte schon bald antisemitische Tendenzen
und Widerstände in der Partei, und 1928 führte er seine Verbannung darauf
zurück. (Ebd., 1998, S. 567).Seit dem Ende der 1920er
Jahre drangen Nachrichten über den Antisemitismus in der Sowjetunion auch
in die Presse des Auslandes, und wenig später wurde es nicht nur vorstellbar,
sondern wahrscheinlich, daß das Judentum in Rußland nicht einen Sieg
errungen hatte, sondern am Rande einer Tragödie stand. Tatsächlich fielen,
wie man festgestellt hat, insgesamt mehr jüdische Intellektuelle den bloß
indirekt antisemitischen Verfolgungen durch Stalin zum Opfer als dem direkten
Antisemitismus Hitlers. (Vgl. Paul Johnson, A History of the Jews, 1987,
S. 482). (Ebd., 1998, S. 567).Aber längst nicht alle
Söhne des Judentums in Polen und Rußland waren Revolutionäre geworden;
viele Hunderttausende waren, vor allem infolge der Pogrome der ersten Revolutionsjahre
von 1904 bis 1906, zusammen mit ihren Familien nach Deutschland, England und vornehmlich
in die USA ausgewandert. Bereits im Jahre 1920 zählte New York mehr als anderthalb
Millionen Juden, und es war damit die weitaus größte jüdische
und auch jiddische Stadt der Welt. Fast durchweg handelte es sich bei den Einwanderern
um die Ärmsten der Armen, die in abgerissenem und nicht selten halbverhungerten
Zustand in Amerika ankamen und dort zu großen Teilen zunächst unter
entsetzlichen Bedingungen in den »sweat shops« der Textilwerkstätten
arbeiteten. (Ebd., 1998, S. 567-568).Der Zugang zu den WASPs
(Weiß-Angelsächsisch-Protestantisch) in den USA wurde den Juden
sehr schwer gemacht. (Ebd., 1998, S. 568).Ein Assimilationsprozeß
an eine als »höher« empfundene Kultur, der mit dem großen
Assimilationsprozessen der hellenistischen und der spanischen Zeit verglichen
werden konnte, fand dagegen in Deutschland statt. (Ebd., 1998, S. 568-569).Zwischen
Liberalismus und Judentum gab es eine ganz natürliche Affinität, denn
wenn die politische Emanzipation des Bürgertums eine der Hauptforderungen
des Liberalismus war, so mußte die nicht bloß politische, sondern
auch soziale Emanzipation der Juden ein Teil davon sein. In Deutschland entstand
jenes »Reformjudentum«, das den jüdischen Gottesdienst dem christlichen
ähnlich machte und mit Nachdruck die These vertrat, die Juden seien eine
Konfession wie Protestanten und Katholiken und besäßen keine eigene
Volkszugehörigkeit. (Ebd., 1998, S. 569).Vollständig
gaben freilich auch sie den Begriff des »auserwählten Volkes«
in der Regel nicht auf, und der Wiener Rabbiner Moritz Güdemann schrieb 1897,
schon in Auseinandersetzung mit den Zionisten, das Judentum als das anti-nationale
Volk Gottes weise auf das Reich Gottes voraus, nämlich auf die eine, erst
in der Bildung begriffene Menschenfamilie, und deshalb würde ein Nationaljudentum
für das Judentum Selbstmord bedeuten. (Vgl. Moritz Güdemann, Nationaljudentum,
1897, S. 33, 35). (Ebd., 1998, S. 569).Auf noch betontere
Weise suchte der bedeutende Begründer des Neukantianismus auf dem Lehrstuhl
für Philosophie in Marburg, Hermann Cohen, eine enge innere Verbindung zwischen
dem Geist des Deutschtums und dem des Judentums unter Beweis zu stellen, nämlich
durch die Aussage,daß
wir uns vorzugsweise im deutschen Geisteswesen in innerlichster Harmonie erkennen
mit unserer messianischen Religiosität. Der deutsche Geist ist der Geist
der klassischen Humanität und des wahrhaftigen Weltbürgertums. (Vgl.
Hermann Cohen, Jüdische Schriften, 2. Band: Zur jüdischen
Zeitgeschichte, 1924, S. 336) | Zwar gab es auch
in Deutschland Antisemitismus und Antisemitenparteien, und Eugen Dühring
formulierte sogar ausgesprochene Vernichtungsforderungen; Kaiser Wilhelm II. machte
nicht ganz selten antisemitische Bemerkungen, und er stand im Briefwechsel mit
Houston Stewart Chamberlain, dem englischen Vorkämpfer eines völkischen
Deutschtums. Aber viel wichtiger als einzelne Bemerkungen ist die Tatsache, daß
gerade die Antisemiten das deutsche Kaiserreich oft für ein »jüdisches
Reich« erklärten, daß zu des Kaisers engsten Beratern Juden wie
der Hamburger Großreeder Albert Ballin gehörten und daß auch
Chamberlain den »rein humanisierten« Juden Anerkennung und Respekt
bezeugte. Und kein Jude hatte im Deutschen Kaiserreich Angst vor Verfolgungen
oder Pogromen; Norbert Elias schreibt in seinen Erinnerungen, daß er und
seine Familie sich in der festen Ordnung des monarchischen Obrigkeitsstaates vollkommen
sicher fühlten. (Ebd., 1998, S. 569-570).Es war zweifellos
nicht zuletzt der in die Augen springende Kontrast zwischen Deutschland und dem
zaristischen Rußland, der die starke Anhänglichkeit so vieler Juden
an Deutschland erklärt. Aber noch wichtiger war die Tatsache, daß Deutschland
... für fast alle Juden »der führende Kulturstaat« war und
daß sie sich selbst eine besondere Affinität zu dieser Kultur zuschrieben.
So war das deutsche Judentum ein herausgehobener Teil des Judentums insgesamt
.... Der Vater von Isaac Deutscher bnrachte schwerlich nur seine individuelle
Meinung zum Ausdruck, als er sagte, Deutsch sei die Weltsprache, und das Jiddische
könne tatsächlich als ein deutscher Dialekt bezeichnet werden. (Vgl.
Rachel Salamander, Die jüdische Welt von gestern, 1990, S. 82).
(Ebd., 1998, S. 570).Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges stellte
sich rasch so etwas wie ein Bündnis zwischen den Juden in weiten Teilen der
Welt und Deutschland her, genauer gesagt: Die jüdischen Sympathien, nicht
zuletzt in Amerika, wandten sich Deutschland zu, denn nahezu alle Juden sahen
in dem russischen Zarismus ihren Hauptfeind, und allein Deutschland war in der
Lage, diesen Hauptfeind zu besiegen. Im November 1914 sagte eine führende
Persönlichkeit des deutschen Zionismus, Arthur Hantke, man könne diesen
Krieg beinahe den »jüdischen Krieg« nennen und die Zukunft der
Juden sei eng mit einem Siege Deutschlands und Österreichs verknüpft.
(Vgl. Jehua Reinharz [Hrsg.], Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus,
1981, S. 159). (Ebd., 1998, S. 570).Für
die Zionisten trat noch besonders der Umstand hinzu, daß Palästina
als türkischer Besitz im deutschen Einflußgebiet lag und man sich daher
von Deutschland die Mitwirkung an der Errichtung eines Staates oder einer Heimstätte
in der uralten Heimat erhoffte. (**)
(Ebd., 1998, S. 570).Das
informelle Weltkriegsbündnis zwischen Deutschland und dem »Weltjudentum«
kam an ein Ende, als die englische Regierung in der Absicht, die Sympathie der
us-amerikanischen Juden zu gewinnen, Anfang 1917 die »Balfour-Deklaration«
erließ, die den Juden die Errichtung einer »Heimstätte«
in Palästina, also im Lande des Kriegsgeners Türkei (und
im deutschen Einflußgebiet; HB **),
versprach. Und in denselben Tagen erfüllten die Bolschewiki zwar die Erwartungen,
welche Ludendorff in sie gesetzt hatte, aber da sie sehr bald mit der Klassenvernichtung
begannen, die in ihrem Programm postuliert war, konnte ein alter Verdacht zwar
nicht so sehr im Bürgertum insgesamt, wohl aber in den kleinbürgerlichen
randbezirken des Bürgertums neue Formen annehmen, nämlich der Verdacht,
»die Juden« seien gewillt, das deutsche Volk zu vernichten. So grotesk
dieser Verdacht, diese umstandslose Identifizierung einbes wirklichen und alten
Feindes, des marxistischen Kommunismus, mit dem Verbündeten von gestern war,
so ließ sich doch nicht leugnen, daß der us-amerikanische und der
russische Missionsgedanke der Herstellung der »Einen Welt« und der
Abschaffung von Klassen und Staaten den jüdischen Traditionen näher
stand als die Konzeption der »deutschen Kultur«, die keinesfalls ausschließlich
durch die Cohenschen Begriffe gefaßt werden konnte, sondern zu deren Bestimmung
die Denker der »Ideen von 1914«, nicht zuletzt Max Scheler und Werner
Sombart, ebenfalls herangezogen werden mußten. (Ebd., 1998, S. 571-572).So
zeichnete sich der merkwürdigste und folgenreichste Umschlag ab, den es in
der Epoche der Weltkriege (1914-1945; HB) gegeben
hat, der Umschlag von der deutsch-jüdischen Freundschaft und Symbiose zu
einer Feindschaft, an der während der Weimarer Epoche (1918-1933;
HB) kleine der Teile der Juden und immer größere Teile
des deutschen Volkes Anteil hatten. Aber nirgendwo wurde, außer im Kopfe
Hitlers und der radikalen Antisemiten unter seinen Anhängern, das deutsch-jüdische
Verhältnis zum Zentrum des Konflikts, sondern es wurde den handgreiflichen
Konflikten, demjenigen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und demjenigen
zwischen Wirtschaftsliberalen bzw. Konservativen und Sozialisten, nur als interpretatorisches
Schema übergestülpt: Hitler kam nicht als Antisemit zur Macht, sondern
als Kämpfer gegen Versailles (Diktat
von Versailles; HB) und als Antibolschewist. (Ebd., 1998, S.
571-572).Seinem offiziellen Programm nach war der Nationalsozialismus
im Hinblick auf die »jüdische Frage« nichts anderes als eine
Parallele zum Zionismus .... (Ebd., 1998, S. 573).Die Juden
in aller Welt hatten selbstverständlich ein Recht auf Feindschaft gegen die
antijüdische Partei, die in Deutschland aufkam und schließlich zur
Macht gelangte. Aber nicht wenige ihrer Wortführer brachten diese Feindschaft
schon gleich nach dem 30. Januar 1933 so sehr mit jener von Goldmann erwähnten
»ungeheuren Triebkraft und Zähigkeit« zu Wort und Tat, daß
es schlechterdings unerlaubt ist, den nationalsozialistischen Aktionen jeden Charakter
von »Reaktion« abzusprechen. (Ebd., 1998, S. 573).Das
Mitglied der zionistischen Exekutive Yitzchak Gruenenbaum erklärte schon
1933, es müsse gegen das nationalsozialistische Deutschland ein offener Krieg
geführt werden, ohne auf das Schicksal der deutschen Juden Rücksicht
zu nehmen, und schon beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stellte sich Chaim
Weizmann öffentlich auf die Seite Englands -dazu war er zwar nicht im strengen
völkerrechtlichen Sinne, wohl aber als Vorsitzender der Jewish Agency praktisch
sehr wohl befugt. (Shlomo Aronson stellt die interessante Frage, »ob nicht
die Panikrufe der jüdischen und zionistischen Führer seit Hitlers Machtergreifung
und ihre häufige Verwendung des Wortes »Holocaust« lange vor
der eigentlichen Judenvernichtung« zur Mitursache der späteren Gleichgültigkeit
in der westlichen Welt geworden seien.)- (Ebd., 1998, S. 573-574).So
augenfällig es ist, daß Hitler der Haupturheber der jüdischen
Feindschaft war, sollte man dennoch nicht in Abrede stellen, daß er spätestens
seit dem Kriegsausbruch schwerwiegende Gründe hatte, die Juden als ein »Feindvolk«
zu betrachten und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wie sie die Engländer
gegen die emigrierten Deutschen und die Amerikaner gegen ihre eigenen Staatsbürger
japanischer Abstammung ergriffen. (**).
Das wahrhaft Erstaunliche ist, daß nicht wenige der 1939 noch in Deutschland
verbliebenen und dann seit 1941 deportierten und umgebrachten Juden sich allem
Anschein nach die Entgegensetzung zwischen »Deutschen« und »Juden«
nicht zu eigen machten und als »deutsche Patrioten« in den Tod gingen,
die von einer feindlichen Partei im eigenen Vaterlande ausgegrenzt und verfolgt
worden waren. (Ebd., 1998, S. 574).Diese »entsprechenden
Maßnahmen« durften natürlich keine anderen sein als die von Engländern
und Amerikanern angewandten, nämlich die Internierung. Die Massenerschießungen
von vielen Hunderttausenden wehrloser Männer, Frauen und Kinder in Polen
und Rußland sind dagegen unter moralischen Gesichtspunkten und auch nach
den Buchstaben und dem Geist der Militärgesetze ebenso uneingeschränkt
zu verurteilen wie die davon nicht grundsätzlich verschiedene Vernichtung
von etwa ebenso vielen Menschen in Todeslagern wie Auschwitz und Treblinka. Der
entscheidende Gesichtspunkt ist indessen erst der folgende: So wenig die »Umstände«,
die man freilich nie einfach fortlassen darf, die Taten der Wiedertäufer
in Münster und der »Septembermänner« in Frankreich und des
»Roten Terrors« in Sowjetrußland allein zu erklären vermögen,
weil in allen diesen Fällen ein ideologisch-überschießendes Moment
hinzutrat, so wenig reichen die »Umstände« des radikalfaschistischen
»Judeozids« aus, um das Geschehen in die richtige Perspektive zu stellen.
Das Wesentliche war gerade hier das ideologisch-überschießende Moment,
das Hitler von der Vorstellung besessen sein ließ, »die Juden«
hätten mit der bolschewistischen Revolution ihren Mordanschlag auf das europäische
Bürgertum und die »arischen Völker« erstmals für jedermann
sichtbar gemacht. ( Nur so wird die unfaßbare Äußerung von
Heinrich Himmler verstehbar. »Wir hatten das moralische Recht, wir hatten
die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte,
umzubringen« (vgl. IMG, Band XXIX, S. 146). (Ebd., 1998,
S. 574).Letzten Endes aber ging diese Vorstellung aus der geschichtsmythologischen
Angstvorstellung hervor, die von den Juden erzeugte Intellektualisierung richte
die gesunde, die geschichtliche Welt der Tapferkeit, der Kampfbereitschaft und
auch der Kultur zugrunde, indem sie dem Kopf oder dem Intellekt im Verhältnis
zum Leib und damit zum Leben ein todbringendes Übergewicht gebe und diese
Todesgefahr noch als »Fortschritt« bezeichne. (Ebd., 1998, S.
574-575).Sowohl die seit 1917 fast ungehindert ins Land strömenden
Siedler wie die zionistische Weltorganisation waren mit außerordentlicher
Hartnäckigkeit und Entschlossenheit tätig, aber sie kamen nur relativ
langsam voran, und gegen Ende der 1920er Jahre war selbst Chaim Weizmann, der
Chef der halbstaatlichen »Jewish Agency«, von pessimistischen Anwandlungen
nicht frei. Eine wesentliche Änderung trat erst mit der Machtergreifung Hitlers
ein, die viele deutsche Juden und infolge des Haavara-Abkommens zwischen Zionisten
und Nationalsozialisten nicht wenig an Kapital ins Land brachte. Gleichzeitig
gewann die Aktivität der Zionisten einen anderen Charakter, weil eine neue
Richtung neben den bis dahin vorherrschenden »Arbeitersozialismus«
trat, nämlich die »revisionistische« Richtung ..., welche die
Errichtung eines »jüdischen Staates« und teilweise sogar die
Vertreibung der Palästinenser forderte. (Ebd., 1998, S. 577).Ben
Gurion, der Vorsitzende der größten Arbeiterpartei, zögerte nicht,
von »jüdischen Nazis« zu sprechen, aber er selbst näherte
sich dem Gedanken, einen »Staat« zu gründen, immer weiter an.
.... Teile der revisionistischen Bewegung verbargen ihre Sympathien für die
Struktur der faschistischen Regime nicht, und ein wichtiger Teil, die »Stern-Gruppe«,
machte dem Deutschen Reich 1940 ein regelrechtes Bündnisangebot für
den gemeinsamen Kampf gegen Hitlers Kriegsgegner. (Ebd., 1998, S. 577-578).
52) Der Kalte Krieg und das Ende des osteuropäischen KommunismusDer
sowjetische Kommunismus (der Bolschewismus also; HB),
der häufig schon »Stalinismus« (oder bolschewistischer
National-Sozialismus) genannt wurde, hatte die schwere Konfrontation mit
dem deutschen Nationalsozialismus gerade hinter sich, die er ohne die gewaltigen
Hilfslieferungen der Amerikaner nicht überstanden hätte, und er hatte
dadurch eine ideologische Wende vollzogen, daß er den »Antifaschismus«
ganz in den Vordergrund gestellt hatte. Darin glaubte er mit den Amerikanern übereinzustimmen,
denn das »demokratische Weltbündnis« der »Anti-Hitler-Koalition«
richtete sich auch gegen den italienischen Faschismus Mussolinis und den extremen
Militarismus des japanischen Tenno. (Ebd., 1998, S. 581).Von
dort her zeichnete sich die Grundmöglichkeit ab, daß die beiden ideologisch
verwandten Mächte, ganz anders als der Islam und Byzanz (eine
mögliche Analogie [!?!?]; HB), sich über der Leiche
des gemeinsamen Feindes in dem Willen zusammenfanden, jenen Frieden der einheitlichen
Welt zu realisieren, der sie gegen den Protagonisten des Kriegsprinzips, gegen
Hitler, zusammengeführt hatte. In diese Richtung drängte auch das elementare
Interesse der durch den Krieg verheerten Sowjetunion, die Fortdauer der amerikanischen
Hilfe sicherzustellen. (Ebd., 1998, S. 581).Fast unmittelbar
nach dem Ende des 2. Weltkrieges verbreitete sich unter us-amerikanische
Diplomaten und Offizieren die Überzeugung, daß die angebliche »Befreiung«
der Staaten Osteuropas und auch der Ostzone Deutschlands durch die Sowjetarmee
in Wahrheit einem »Barbareneinbruch« gleichzuachten sei, der den Polen
und Ungarn Bedrückung gebracht habe und der deutschen Bevölkerung in
Mittel- und Ostdeutschland sowie in Osteuropa einen riesigen Genozid in Form einer
ihrem Massencharakter präzendenzlosen und von Millionenverlusten gekennzeichneten
Vertreibung darstellte (obwohl: USA und England hatten gegen
Ende des 2. Weltkrieges der Sowjetunion doch Ostdeutschland versprochen [und
also auch die Vertreibung der Ostdeutschen billigend in Kauf genommen], und zwar
aus Furcht vor einem auch zu der Zeit immerhin ncoh möglichen Frieden
zwischen Stalin und Hitler! HB) (Ebd., 1998, S. 583).Israel
.... Schon die konzentrierten Landkäufe des jüdischen Bodenfonds waren
so etwas wie eine Eroberung gewesen, und in den Krieg ... gleich nach der Staatsgründung
eroberte Israel noch einmal halb so viel Land, wie ihm von den Vereointen Nationen
zugestanden worden war, vertrieb einen großen Teil der arabischen Bewohner
und konstituierte sich definitiv als »jüdischer Staat«, welcher
allen Juden der ganzen Welt einen Anspruch auf Einwanderung gewährte und
den einheimischen Palästinensern die Staatsbürgerrechte vorenthielt.
(Ebd., 1998, S. 587-588).Isreal hätte nicht überlebt,
wenn ihm nicht neben mancherlei Hilfe aus den USA die für die damaligen Vergältnisse
gigantische Summe der drei Milliarden Mark an Wiedergutmachungszahlungen der Bundesrepublik
Deutschland zugeflossen wären. (Die Bundesrepublik
Deutschland zahlte weiter, zahlt heute noch und wird auch wohl noch in Zukunft
zahlen, wobei obendrein noch die Summe mit jeder Zahlungen stieg, steigt und steigen
wird! HB). (Ebd., 1998, S. 589).Ein
us-amerikanischer Denker japanischer Abstammung, Francis Fukuyama, verkündete
(1989; HB) in einem viel beachteten Aufsatz
das »Ende der Geschichte« sei nun erreicht und die liberale Demokratie
werde sich in der ganzen Welt durchsetzen, der Modernität überall zum
Durchbruch verhelfen und den so oft beschworenen »Ewigen Frieden«
sichern. Der Aufsatz »The End of History?« wurde im Sommer 1989
in der Zeitschrift The National Interest publiziert. Das drei Jahre später
erschienen Buch (Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte - Wo stehen wir?,
1992) setzt die Akzente anders, und zwar durch eine scharfe Kritik an dem angelsächsischen
Bild vom Menschen, die den Autor sogar bis in die Nähe einer Kennzeichnung
der »Nachgeschichte« durch Nietzsches Begriff des »letzten Menschen«
führt. Vgl. die Rezension von Ernst Nolte in Jahrbuch Extremismus &
Demokratie, 5. Jahrgang, 1992, S. 273f..). (**).
(Ebd., 1998, S. 595).Ein anderer us-amerikanischer
Denker, Samuel P. Huntington (Der Kampf der Kulturen - Die Neugestaltung der
Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 1996), prophezeite, an die Stelle des Kampfes
der Ideologiestaaten werde der Kampf der Kulturen treten, insbesondere der Kampf
des zum Fundamentalismus zurückgewanderten Islam gegen die Überfremdung
und Bedrängung durch den scheinbar übermächtigen, aber in voller
Dekadenz befindlichen Westen. (**|**|**).
(Ebd., 1998, S. 595).Mit einer geringeren
Anstrengung ist jedenfalls die Frage, ob wir bereits in einer »Nachgeschichte«
leben oder uns mit derartigen Vermutungen lediglich auf illusionäre Weise
über unsere fortbestehende »Geschichtlichkeit« hinwegtäuschen,
nicht zu beantworten. Daß eine solche Antwort sogar im besten Falle nur
einen provisorischen Charakter haben kann, daß sie nur ein Denkversuch unter
anderen Denkversuchen zu sein vermag, bedarf der ausdrücklichen Unterstreichung
nicht. (Ebd., 1998, S. 595).
D) Die Gegenwart als Anfang der Nachgeschichte
?
53) Die Globalisierung als Triumph der wissenschaftlich-technischen
Konkurrenzökonomie
Wenn wir uns nun der Gegenwart zuwenden
- der Gegenwart als dem Anfang der Zukunft des 21. Jahrhunderts - und an das erste
Kapitel (**),
aber auch an zahlreiche verstreute Bezugnahmen denken, dann springt ins Auge,
daß der Begriff der »Nachgeschichte« keineswegs erst durch die
Werke des »Postmodernismus« oder gar erst durch den Aufsatz Fukuyamas
(**|**)
in die Welt gekommen ist. Tendenziell ist er schon in den mythologischen und religiösen
Vorstellungen vom »Ende der Welt« und vom »Anbruch des Reiches
Gottes« enthalten, und es ist gezeigt worden, wie sehr er dem Sinne nach
bereits bei Condorcet zu finden ist, wie er in den Träumen des Abbé
de Saint-Pierre und Emeric Crucés von einem »Friedensbund der Völker«
lebendig war, wie er sich in der Philosophie Hegels abzeichnete und wie sehr er
den Zukunftsentwurf von Marx und Engels bestimmte. (Ebd., 1998, S. 597).Für
Denker wie Alexis de Tocqueville und Friedrich Nietzsche dagegen war die Vorstellung
von einer Weltgesellschaft gleicher und angeblich freier Menschen ohne Klassen
und ohne Staaten ein sich in der Realität nur allzu deutlich abzeichnendes
Schreckbild, nämlich der nivellierende, wenngleich möglicherweise »sanfte«
Despotismus einer Massengesellschaft aus »letzten Menschen«, die weder
Aufschwünge noch Distanzen mehr kennen würden. Für
Oswald Spengler
(**|**|**|**)
ist die Nachgeschichte, die er »Zivilisation« nennt und allerdings
auf einzelne Kulturen begrenzt, mit negativem Akzent nicht minder ein Thema als
mit positiver Betonung für Arnold Toynbee
(**|**)
und Karl Jaspers
(**|**).
(Ebd., 1998, S. 597).Im Titel eines Buches taucht der Terminus
»nachgeschichtlich« 1950 auf, und zwar in Roderick Seidenbergs Posthistoric
Man, wo die Weltgeschichte zwischen den Polen Organismus, Instinkt, Religion
und Kultur auf der einen Seite und Organisation, Intelligenz, Wissenschaft und
Zivilisation auf der anderen angesiedelt ist. Mit Arnold Gehlen, der apodiktisch,
wenngleich mit abschätziger Wendung feststellte, »daß wir im
Posthistoire angekommen sind« (Arnold Gehlen, Über kulturelle Kristalliastion,
1961), ist der Bereich des Gegenwartsdenkens erreicht, und die Fülle von
Polemiken gegen Patriarchalismus, Sexismus und Unterdrückung aller Art, die
sich häufig mit der Zurückwendung zu einer Vorgeschichte ganz anderer
Art, der schroffen Verurteilung bestimmter geschichtlicher Phänomene sowie
der Rühmung nachgeschichtlicher Entwürfe wie desjenigen Thomas Müntzers
verbindet, ist in der Regel dem Begriff der Linken zu subsumieren. (Ebd.,
1998, S. 597-598).Wir erinner uns, daß Karl Jaspers
(**|**)
1950 das Spezifikum der okzidentalen Moderne in »Wissenschaft und Technik«
sah (**), und heute
ist ein Wort wie »Informationsgesellschaft« weit verbreitet. Beide
Termini werden der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft nicht ganz gerecht,
und auch deshlab findet der Begriff »Kapitalismus« immer noch häufig
Verwendung. Aber dieser Begriff wurde dem Sinne nach von Marx und Engels bereits
auf das Wirtschaftssystem der Mitte des 19. Jahrhunderts angewendet, er kann also
die heutige Bedeutung der auf Wissenschaft gegründeten Technik nicht genügend
zum Ausdruck bringen. (Vgl. hiezu Rolf Kreibich, Die Wissenssgesellschaft,
1986). Er will sagen, daß von den drei Produktionsfaktoren Natur, Arbeit
und Kapital der letztere in der Neuzeit einen Vorrang gewonnen hat, der für
die einzelnen Menschen und ihre Arbeitskraft, welche der wahre Ursprung des Kapitals
sei, eine große Gefahr geworden ist, weil er in seinem unersättlichen
Streben nach Selbstverwertung die Individuen ihrer Selbstbestimmung beraubt, sie
ausbeutet und ihrer Tätigkeit entfremdet. Erst die Aufhebung dieser »Selbstbewegung«
der Sachmittel, die darin begründet ist, daß diese sich im Privatbesitz
befinden, bringt die Menschen im Sozialismus zu ihrem unfragmentierten Wesen zurück,
indem sie die Entfremdung und Verdinglichung beseitigt, denen die Arbeiter in
der »kapitalistischen« Gesellschaft unterliegen. (Ebd., 1998,
S. 599).Der enge Zusammenhang dieser Doktrin mit der uralten Konzeption
der Linken von der Herrschaft der Gottlosigkeit in der Gegenwart und vom Kampf
für das zukünftige »Reich Gottes« läßt sich nicht
übersehen, und heute drängt sich die Einsicht geradezu auf, wie geringfügig
die Sachmittel oder »das Kapital« um die Mitte des 19. jahrhunderts
noch waren, wie wenig jenes »Selbstverwertungsstreben« die Gesellschaft
im ganzen beherrschte, die noch so stark von der religiösen Weltdeutung und
vom adligen Ethos geprägt war, und wie wenig die Wissenschaft schon zum Bestandteil
der Technik und des Gewinnprinzips geworden war. Überdies hat die historische
und die ethnologische Forschung längst klargemacht, daß es sogar in
den frühesten Epochen der Hochkulturen schon Privateigentum, Profit, Darlehen
und Zins, ja Zinseszins gab und iaß selbst in den Zeiten der Vorgeschichte
kein »Urkommunismus« als allgemeiner Gesellschaftszustand existiert
hat. (Ebd., 1998, S. 599-600).Richtig ist, daß planwirtschaftliche
Systeme wie die sumerischen Tempelstaaten oder das Reich der Inkas vorhanden waren,
wo privates Gewinnstreben zwar nicht völlig fehlte, aber doch nur eine marginale
Position einnahm. Wenn man sich diese Systeme auf die ganze Erde ausgedehnt denkt,
wäre in der Tat ein nicht-(privat)kapitalistisches System, nämlich ein
System der Weltplanwirtschaft, gegeben, aber nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts
kann niemand mehr ein solches System herbeiwünschen, denn es würde das
Regime eines zentralistischen Despotismus sein, das mit dem Prinzip der Preisbildung
aufgrund von unterschiedlicher Knappheit mittels Austarierung relativautonomer
Einzelkapitale auch die Effizienz und die Wirtschaftlichkeit verabschiedet haben
würde. (Ebd., 1998, S. 600).Eine »sozialistische«
Weltwirtschaft wiederum, die sich gemäß den Vorstellungen von Frühsozialisten
wie Fourier und Owen auf agrikulturell-industrielle und autonome Kommunen als
letzte Einheiten stützen würde, welche lediglich kleine Überschüsse
auf der Basis strikter Reziprozität miteinander tauschen, würde sich
nach allem menschlichen Ermessen ziemlich bald in eine »kapitalistische«
Weltwirtschaft mit Gewinn- und Verlustrechnung verwandeln, obwohl nicht Einzelne
oder Firmen, sondern Gemeinschaften gleicher Genossen die Besitzer der Sachmittel
wären. (Ebd., 1998, S. 600).Zur Kennzeichnung des gegenwärtigen
Systems muß also ein Begriff gewählt werden, der die so sehr vergrößerte
Bedeutung von Wissenschaft und Technik und das heißt auch der wissenschaftlichen
Ausbildung und des »Humankapitals« besser zu Wort bringt als der Terminus
»Kapitalismus«. »Informationsgesellschaft« wiederum erweckt
die Assoziation einer Gelehrtenschule und bringt die Dynamik nicht genügend
zum Ausdruck, die in der modernen Wirtschaft auch der Bewegung der materiellen
Güter innewohnt. »Marktwirtschaft« und ebenfalls »soziale
Marktwirtschaft« (ebenso: »ökosoziale Marktwirtschaft«;
HB) ist noch allgemeiner und unspezifischer als »Kapitalismus«.
(Ebd., 1998, S. 600).Wichtiger ist es, den Begriff »wissenschaftlich-technische
Konkurrenzökonomie« auch nach der anderen Seite abzugrenzen. Man darf
ihn nicht so verstehen, daß die Wissenschaft als solche und ausschließlich
auf Technik und dadurch auf die pragmatischen, sei es auch noch so weit gesteckten
Ziele der Wirtschaft ausgerichtet sei. (Ebd., 1998, S. 600-601).Heute
... sind aus nahezu allen Ländern, und sogar aus den USA, Klagen darüber
zu vernehmen, daß bedenklich viele Bsetandteile der heimischen Industrie
von Ausländern aufgekauft würden, und als nach dem Zusammenbruch der
DDR die beträchtliche, aber großenteils veraltete Industrie eines Staates,
der erst wenige Jahre zuvor noch den 10. Platz unter den Industrieländern
der Welt beansdprucht hatte, »saniert« oder für den Weltmarkt
wettbewerbsfähig gemacht werden mußte, da lief sozusagen die Treuhandanstalt
mit dem Hute in der Hand durch die ganze Welt, um »ausländische Investoren«
anzulocken. (Ebd., 1998, S. 602).Die globalisierte Welt der
allgemeinen Konkurrenz multinationaler Firmen und am rande auch kleiner Unternehmungen,
ja einzelner Kleinstunternehmer wäre ... eine äußerst konfliktreiche,
aber dennoch friedliche Welt. In ihren Spitzen würde sie das Unerhörte,
während aller Zeiten der Geschichte nicht Dagewesene erzeugen: den großen
Vorstoß in den Weltraum mit bemannten Weltraumschiffen. Das würde nicht
nur eine Brückenkopfbildung auf anderen Planeten, sondern sogar die Überwindung
der Grenzen des Sonnensystems ermöglciehn und damit zugleich die Überwindung
der Erdenzeit, denn im kosmischen Raum altert der Mensch sehr viel weniger als
in der materiellen Kompaktheit der Oberfläche der Erde und ihrer Atmosphäre;
damit könnte diesen Weltraumfahrern sogar so etwas wie Unsterblichkeit zuteil
werden. (Vgl. Friedrich Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt,
1960, S. 211ff. [u.a. Zitate des deutschen Raketenforschers Eugen Sänger]).
(Ebd., 1998, S. 604-605).Eine »Kolonisierung des Weltraums
durch das Leben«, wie sie sich der amerikanische Physiker Frank Tipler vorstellt
(nicht-[mehr-]menschliche Lebewesen erobern und besiedeln
das Universum; HB), bliebe allerdings auch dann außerhalb des
Realisierbaren: Zwar ist es vorstellbar, daß der Mensch seinen Verstand
in Gestalt hochintelligenter Computer aus sich heraussetzt und verselbständigt,
so daß sogar die Milchstraße erforschbar würde, aber es würden
nicht mehr »lebendige Menschen« sein, die diese Forschungen vornehmen
würden, und selbst die übermenschlichen Computer würden in das
Gefängnis der unüberschreitbaren Lichtgeschwindigkeit eingesperrt bleiben
und niemals die »Grenzen des Universums« erreichen. (Ebd., 1998,
S. 605).Die Menschen aber, die immerhin den Versuch des Ungeheuren
machen würden, ja selbst diejenigen, die den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen
Konkurrenzökonomie voll gewachsen wären, müßten Entwicklungstendenzen
in sich zur Vollendung gebracht haben, die im Zustand der bloßen Globalisierung
erst in der Bildung begriffen sind: Sie müßten sich von jeder Gebundenheit
an einen einzelnen Punkt des Erdkreises, an irgendeine Lokalität, aber auch
an jede konkrete und hinderliche Gemeinschaftlichkeit wie eine Familie oder ein
Vaterland frei gemacht haben, um jederzeit und an jedem Ort für die ständig
wechselnden Bedürfnisse ihrer Firma bereitzustehen, auch wenn es sich nicht
um eine Weltraumfirma handelte. Diese Individuen müßten universale
Menschen sein, damit sie sich auf das Universale - zunächst den irdischen
Globus und in einem weiteren Schritt auf das Planetensystem, ja am Ende vielleicht
auf den Weltraum selbst - ausrichten könnten. (Ebd., 1998, S. 605).Wir
brauchen die Skizzierung der zu ihrem logischen Ende gelangten Globalisierung
nicht fortzusetzen. Es ist schon jetzt evident, daß es sich nicht um ein
menschliches Phänomen im gewöhnlichen Sinne handelt, sondern daß
hier die höchste und letzte Stufe jener Selbstüberschreitung des Menschen
gegeben wäre, die wir die praktische Transzendenz genannt und deren ersten
Durchbruch wir in der Industriellen Revolution wahrgenommen haben. Wir hätten
es nicht mit einem »menschlichen«, sondern mit einem philosophischen
Phänomen zu tun. (Ebd., 1998, S. 605).Aber auch jene
Weltraumfahrer, jene universalen Menschen auf dem Wege zum Saturn, ja sogar jene
superintelligenten Computer, die die Grenzen des Sonnensystems hinter sich gelassen
hätten, müßten auf besondere Weise denken, wenn sie den Grenzen
und dem Grund des Universums nahekommen wollten, denn sie könnten weder das
eine noch das andere durch praktisches Tun erreichen. Sie müßten wieder
die theoretische Transzendenz zu Wort bringen, wie es in den Anfängen der
Geschichte die ... Denker ... getan hatten. Sie und ihre Vorfahren würden
zweifellos schon seit langem in einer »nachgeschichtlichen Welt« gelebt
haben, und doch würden sie auf dem höchsten Punkt der praktischen Transzendenz,
mithin der Nachgeschichte, wieder zu den Anfängen der Geschichte zurückgekommen
sein, nämlich zu der philosophischen Erfahrung der theoretischen Transzendenz.
(Ebd., 1998, S. 605-606).Gewiß ist dieses Bild nicht nur
idealtypisch konstruiert, sondern allzuviel des Wesentlichen ist dabei fortgelassen
worden. Wir haben nicht einmal das Einfachste erwähnt, nämlich daß
die Mitwirkenden in der wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie wie
alle Marktteilnehmer notwendigerweise Egoisten sein müssen - und zwar sowohl
als Einzelne wie als Mitglieder von Firmen -, die ihre Waren und auch ihre Arbeit
so teuer wie möglich verkaufen und die Entsprechungen so billig wie möglich
kaufen bzw. beschaffen müssen; wenn sie anders handelten, wenn sie sich von
Gefühlen des Mitleids oder der Hochherzigkeit leiten ließen, wäre
das Prinzip der Kalkulierbarkeit außer Kraft gesetzt, und unbeherrschbare
Turbulenzen könnten Platz greifen. (Ebd., 1998, S. 606).Aber
der Mensch hat Empfindungen des Mitleids und der Großherzigkeit, er empfindet
Angst, und er sucht Zuflucht, und er hat Institutionen ausgebildet, in denen solche
»außerökonomischen« Empfindungen und auch deren negative
Kehrseiten eine Stätte finden können, z.B. die Familie, die Heimatstadt
und das Vaterland. Wir haben alles außer acht gelassen, was nicht zu dem
Hochgefühl des Fortschritts und immer stärkerer Entgrenzung paßt,
und wir haben nur ganz am Rande den Terminus »Kakophonie« benutzt.
Wir haben die Nöte und Gefahren, die Besorgnisse und die Kämpfe nicht
berücksichtigt, die mindestens dem gegenwärtigen und für die nächste
Zukunft absehbaren Zustand einer noch anfänglichen »Globalisierung«
inhärent sind. Wir haben uns wie Lobredner und Enthusiasten geäußert.
Es ist nun an der Zeit, auch die Kritik zu berücksichtigen, die an dem Globalisierungsprozeß
und an der wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie, mit einem anderen
Terminus an der »Weltzivilisation«, geübt worden ist, und zwar
zu einem guten Teil nicht von einem »reaktionär« zu nennenden
Außen, sondern aus ihrer Mitte heraus. (Ebd., 1998, S. 606).
54) Zivilisationskritik und Ökologie Die Kritik an der Neuzeit
ist so alt wie diese selbst. Sie unterscheidet sich deutlich von der Polemik gegen
die Torheiten und Sünden der Zeitgenossen, die auch im Mittelalter, ja in
allen Stadien der Hochkulturen zu finden ist. Ihre Anfänge sind wohl im Kampf
der katholischen Kirche gegen die Reformation zu sehen, der ihr negativer und
zersetzender Charakter vorgehalten wurde; als Beispiel mag Bossuets Schrift über
die Variationen der protestantischen Kirchen angeführt werden, und bei Joseph
de Maistre tritt der kulturkritische, ja politische Charakter schon mehr hervor
als der theologische. Fichtes Schrift über Die Grundzüge des gegenwärtigen
Zeitalters (1800) ist voll von Kultur- oder Gegenwartskritik, und sogar bei
Comte lassen sich höchst kritische Bemerkungen über zeitgenössische
Tendenzen finden, und zwar keineswegs nur gegen »reaktionäre«
Richtungen. (Ebd., 1998, S. 607).Am ehesten bleiben die überlieferten
Kategorien dort anwendbar, wo man in der Kritik an Weltzivilisation und Moderne
»reaktionäre« Denk- und Empfindungsweisen ausmachen zu können
glaubt. Eine solche Präferenz für veraltete Zustände der Vergangenheit
scheint bei Arnold Gehlen handgreiflich hervorzutreten, wenn in seiner Aufsatzsammlung
Einblicke zu lesen ist:»Ist
es denn wirklich nur Zufall, daß ein großer Teil so ostentativer Zivilisation
- im Athen des Perikles ... und im Wien des Mozart - so eng verknüpft war
mit politischem Absolutismus, mit einem streng abgeschlossenen Kastensystem und
der umgebenden Präsenz einer unterjochten Bevölkerung?«
(Arnold Gehlen, Einblicke, 1975, S. 125f.). | Spricht
hier nicht ein Lobredner des Absolutismus und Verfechter antidemokratischer Unterdrückung,
gleichsam ein ostelbischer Junker im Gewande des Gelehrten? Aber wollen nicht
auch die entschiedensten Verfechter des Fortschrittsbegriffs Verehrer Mozarts
sein, wollen nicht auch kämpferische Demokraten den Palazzo della Signoria
in Florenz pflegen? Sind sie indessen konsequent, wenn sie die »gesellschaftlichen
Bedingungen«, die sie sonst so gern hervorheben, entweder vernachlässigen
oder sogar mit einem negativen Akzent versehen? Ist die Behauptung, daß
hohe Kultur (und nichts anderes wird hier unter »Zivilisation« verstanden)
in einem Gegensatz zu »bloßer Zivilisation« stehe, nicht doch
ernster Beachtung wert, weil sie in anschaulichen Realitäten gegründet
ist? Könnte hier nicht auch von »eigentlicher Geschichte« die
Rede sein, die heute von einer »Nachgeschichte« überwältigt
werde? (Ebd., 1998, S. 607-608).Gehlen merkt ausdrücklich
an, daß er mit diesen Sätzen nur eine Wendung von George Steiner paraphrasiert,
der im allgemeinen durchaus nicht als ein »Reaktionär« angesehen
wird. Sollte man sich nicht besser an der Sache selbst statt an politischen Schubfächern
orientieren, wenn man in Gehlens Buch Urmensch und Spätkultur liest:»Auch
die bei uns schon greifbaren Verfallssymptome gab es in dieser Art noch nie: Lust
und Lebensgewinn sind zum Rechtsanspruch geworden; der echt aristokratische und
echt proletarische Sinn für das Tragische wird verlacht, die geistige und
moralische Kraft reichen nicht mehr zum Abbau des Überflüssigen und
Ausformulierten, das nichtgelebte Leben entwickelt seine eigenen Formen der Diktatur
- alle Maßstäbe verkleinern sich.«(Arnold Gehlen, Urmensch
und Spätkultur, 1956, S. 106). (Ebd., 1998, S. 608). |
Könnte
es aber nicht doch der Fall sein, daß die Geisteswissenschaftler und Philosophen
sich in der so stark von den Naturwissenschaften bestimmten Gegenwart unbehaglich
fühlen und in die Vergangenheit, genauer gesagt: in ihre Vorstellungen von
bestimmten Vergangenheiten, zurückflüchten? Bei keinem Geringeren als
Martin Heidegger kann man eine Fülle von oftmals frappierenden Beispielen
finden, so wenn er in einem 1961 in Meßkirch gehaltenen Vortrag sagt:»Eins
unter ihnen (den mannigfaltigen Zeichen des Zukünftigen, das auf die Menschen
zukommt) sind z.B. die Fernseh- und Rundfunkempfänger, die wir bald reihenweise
auf den Dächern der Häuser in den Städten und Dörfern feststellen
können. .... Sie zeigen, daß die Menschen dort, wo sie von außen
gesehen »wohnen«, gerade nicht mehr zu Hause sind. Die Menschen werden
vielmehr täglich und stündlich fortgezogen in fremde, anlockende, aufreizende,
bisweilen auch unterhaltsame und belehrende Bezirke. Diese bieten freilich keinen
bleibenden, verläßlichen Aufenthalt; sie wechseln unausgesetzt vom
Neuen zum Neuesten. .... Wie können wir uns dem Andrängen des Unheimischen
gegenüber zur Wehr setzen? Nur so, daß wir die spendenden und heilenden
und bewahrenden Kräfte des Heimischen unablässig wecken, daß wir
die Kraftquellen des Heimischen immer wieder zum Fließen bringen und ihrem
Fluß und Einfluß die rechte Bahn verschaffen.« (Martin
Heidegger: »700 Jahre Meßkirch«, 1961, in: Martin Heidegger
zum 80. Geburtstag von seiner Heimatstadt Meßkirch, 1969, S. 36-45,
S. 38). | Wer sich weiteres Nachdenken erspart und keine
Kenntnis davon hat, daß Heidegger im Zentrum einer philosophischen Abhandlung
den Menschen als den »Platzhalter des Nichts« kennzeichnet, der mag
sich hier zufrieden in den Sessel der Fortschrittlichkeit zurücklehnen, zummal
Heidegger im folgenden »das Herkommen und die von alters her gepflegte Sitte«
sehr positiv hervorhebt und die entscheidende Aufgabe der Rettung des Menschlichen
»den ländlichen Bezirken und den kleinen Landstädten« zuweist.
(Ebd., 1998, S. 608-609).Neil Postman ... hat die vollentfaltete
Fernsehwelt der USA vor Augen. Die aber zerstört nach seiner Auffassung als
»das egalitäre Kommunikationsmittel schlechthin« die Verschiedenheit
von Kindheit und Erwachsenenalter, indem sie gerade den Oberflächenaspekt
aller Vorgänge sämtlichen Zuschauern gleichmäßig zugänglich
macht und damit auch die Idee des Schamgefühls verdünnt oder sogar beseitigt,
das ein Merkmal des Kindseins und allerdings auch der Erwachsenen sein sollte,
weil es ein Mittel ist, die stets drohende Barbarei einzudämmen. (Vgl. Neil
Postman, Das Verschwinden der Kindheit, 1982, S. 102). So werden die Kinder
zu kleinen Erwachsenen und die Erwachsenen zu großen Kindern; jene tiefgründigen
Unterschiedenheiten, auf denen einst Kultur und Geschichte beruhten, werden ausgetilgt.
Mit einem einzigen Begriff könnte man die Wirkung dieses Fernsehens so zusammenfassen:
Es leistet einen wesentlichen Beitrag zur »Entmenschung« des Menschen,
zur Zerstörung dessen, was ihn einst als Kulturwesen gekennzeichnet hat.
(Ebd., 1998, S. 609-610).Konrad Lorenz ist ... Naturwissenschaftler
und ... Nobelpreisträger. Aber auch für ihn ist der Zivilisationsmensch
der Gegenwart durch Entmenschung geprägt, durch eine Selbstdomestikation,
die wie bei Haustieren das Wohlleben und die geschlechtliche Betätigung überwuchern
und die Neigung zur Brutpflege sowie die höheren sozialen Impulse verkümmern
läßt. Dieser Mensch ist zu blutlos und blasiert, »um ein markantes
Laster zu entwickeln«, und als verstädterter Mensch befindet er sich
in einem kontinuierlichen Prozeß der Verweichlichung. (Vgl. Konrad Lorenz,
Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, S. 48). Nun
mag man Lorenz Biologismus und eine allzu starke Orientierung an seinen geliebten
Graugänsen vorwerfen, aber dieser Vorwurf läßt sich Rupert Riedl
schwerlich machen, und auch er spricht mit ganz negativem Akzent von den »Erfolgszivilisationen«,
die eines Tages »beim Wegwerfmenschen« enden müßten. (Vgl.
Rupert Riedl, Die Strategie der Genesis, 1976, S. 260). (Ebd., 1998,
S. 610).Irenäus Eibl-Eibesfeldt glaubt viele Anzeichen dafür
zu erkennen, »daß unsere kinderarme Gesellschaft zu einer unfreundlichen
Gesellschaft egozentrischer Rüpel wird« (Irenäus Eibl-Eibesfeldt,
Der Mensch, das riskierte Wesen, 1988, S. 140), und ein spezialisierter
Zoologe wie Hans Kummer, dem man keine philosophischen oder auch nur kulturkritischen
Intentionen nachsagen kann, hat gleichwohloffenkundig die menschliche Gegenwart
im Blick, wenn er auf »Calhouns Mäuse« zu sprechen kommt, die
bei unbegrenztem Nahrungsangebot auf begrenztem Raum gehalten wurden; sie starben
schließlich infolge eines komplexen, schrittweisen Zerfalls ihres Sozialverhaltens
aus: »wohlgenährt, aber sozial unfähig«. (Hans Kummer, Weiße
Affen am Roten Meer - Das soziale Leben derr Wüstenpaviane, 1992, S.
182). (Ebd., 1998, S. 610).Mit stärkster Betonung spricht
Erwin Chargaff von dem »unaufhaltsamen Entmenschungsprozeß«,
den die moderne Zeit darstelle. Zwar fehlt es gerade bei ihm nicht an kulturkritischen
Verzweiflungsausbrüchen, die ihn etwa sagen lassen, wir lebten und stürben
»auf einem gottverlassenen Misthaufen« und die » Verarmung der
Menschenseele« sei ebenso unübersehbar wie die »Entgottung der
Natur«. (Erwin Chargaff, Kritik der Zukunft, 1983, S. 11, 63). Aber
im Kern richtet sich die Kritik des Wissenschaftlers gegen die Wissenschaft selbst,
denn er verwirft die »überhitzte und sinnlos gewordene Forschungstätigkeit«
in den Naturwissenschaften und beklagt die »unselige Imprägnierung
unseres Lebens« durch eben diese Wissenschaften. (Vgl. ebd., S. 49, 58.
Hubert Markl hat in einem FAZ-Aufatz zu zeigen versucht, daß Naturforschung
aus Liebe zur Natur erwachse. In vielen Einzelfällen traf und trifft das
sicherlich zu. Aber das Foto, das den Artikel illustrieren soll, muß jedem
Betrachter sehr zu denken geben. Es zeigt nämlich einen in Vorbereitung eines
Weltraumflugs auf einem Sitz festgeschnallten Affen, und man könnte sagen,
in den weitgeöffneten Augen des Tieres, das den Sinne des Geschehens natürlich
nicht verstehen kann, komme »das ganze Leid der Menschheit«, d.h.
der »Animalität« im Gefängnis der großtechnik, zu
ergreifendem Ausdruck. Vgl. Hubert Markl: »Wer liebt, der forscht. Über
die sieben Veruchungen der Wissenschaft«, in: FAZ, 26. Juni 1993, S.
1). Letzten Endes vertritt er eine überaus radikale Anthropologie, indem
er den Menschen aus der Welt ausstreicht und so zu einer »herrlichen geschichtslosen
Welt« zu gelangen glaubt, einer Welt »ohne Vergangenheit und ohne
Zukunft ..., voller Buntheit und Vielfältigkeit, in der Tiere und Pflanzen,
Felsen und Erde und Luft in Gottes Ewigkeit hineinleben wie am fünften Tag«
(ebd., S. 130). (Ebd., 1998, S. 610).Erzeugte der
industrialisierte Teil der Menschheit nicht auch diesseits der Nukleartechnik
eine Unzahl von Giftstoffen, hatten die chemischen Mittel, mit denen man Schädlinge
bekämpfte und die Fruchtbarkeit steigerte, nicht eine beängstigende
Kehrseite, wuchsen die häuslichen Abfälle und der industrielle Müll
nicht ins Ungemessene, schwanden die Rohstoffvorräte der Welt nicht immer
weiter dahin? (Ebd., 1998, S. 613).Ganz allmählich wuchs
dieses »Umweltbewußtsein«, und dann erhielt es einen gewaltigen
Impuls durch den Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit vom Jahre
1972, der einen Epocheneinschnitt markierte, obwohl der »konservativen«
Grundeinstellung der Initiatoren auch viel Kritik begegnete. Aber gewann nicht
der Terminus »konservativ« einen ungewohnt positiven Sinn, wenn die
»Bewahrung der Existenz der Menschheit« zur Frage werden konnte? Jedenfalls
ist die »Umweltproblematik« seither nie wieder aus der Diskussion
verschwunden, und es kam nicht nur zu Beschwörungen von Initiativen auf höchster
Ebene, sondern es änderten sich durch das Auftauchen von »Umweltparteien«
sogar die politischen Konstellationen. (Ebd., 1998, S. 613).Doch
auch hier handelte es sich nicht um etwas schlechthin Neues, sondern in gewisser
Weise nur um die Wiederentdeckung der Einsicht, von der die »klassische
Nationalökonomie« seit Malthus und Ricardo ausgegangen war, nämlich
der Einsicht in die Endlichkeit der den Menschen zur Verfügung stehenden
Ressourcen und deren Gefährdung durch das Verhalten der Menschheit. Aus dem
Jahr 1913 stammt der erstaunliche Angriff von Ludwig Klages gegen das naturzerstörende
und menschheitsgefährdende Ausgreifen der industriellen, der westlichen Zivilisation
(vgl. Ludwig Klages, Mensch und Erde, 1913), und den Titel von Klages'
späterem Hauptwerk von 1927, Der Geist als Widersacher der Seele,
machte sich Konrad Lorenz 1973 ausdrücklich zu eigen. (Vgl. Konrad Lorenz,
Die Rückseite des Spiegels - Versuch einer Naturgeschichte menschlichen
Erkennens, 1973, S. 252). Lorenz, aber keineswegs nur er, verglich die Ausbreitung
der industriellen Zivilisation mit dem Wirken eines bösartigen Tumors, der
das Ende des befallenen Organismus nach sich ziehen würde. (Ebd., 1998,
S. 613-614).Der Bericht des Club of Rome hob
fünf »Grundgrößen oder Pegel« hervor: Bevölkerung,
Kapital, Nahrungsmittel, Rohstoffvorräte und Umweltverschmutzung, und er
enthielt die These, die beschleunigte Industrialisierung, das rapide Bevölkerungswachstum,
die weltweite Unterernährung, die Ausbeutung der Rohstoffreserven und die
Zerstörung des Lebensraums nähmen auf »exponentielle« Weise
zu ... und tendierten eindeutig dazu, die Wachstumsgrenzen zu überschreiten
und dann zusammenzubrechen. Von 1,6 Milliarden im Jahre 1900 sei die Erdbevölkerung
auf 3,5 Milliarden im Jahre 1970 angewachsen, und noch vor dem Jahre 2000 würden
7 Milliarden Menschen den Planeten bewohnen. Wichtige Rohstoffvorräte wie
etwa Öl und Aluminium würden schon in wenigen Jahrzehnten erschöpft
sein, der Abstand zwischen den reichen und den armen Teilen der Erdbevölkerung
werde größer werden, der Anfall von Müll werde die Produktion
von nutzbaren Gütern überflügeln. Aus all dem müsse entweder
ein baldiger Wachstumsstopp oder aber eine Katastrophe resultieren, denn ein exponentielles
Wachstum innerhalb eines begrenzten Systems sei auf Dauer unmöglich, und
deshalb müsse endlich eine »gemeinsame globale Strategie« entwickelt
werden, welche den bisherigen egozentrischen und zu Konflikten führenden
Verhaltensweisen der Erdbewohner ein Ende mache und dadurch die Fortexistenz der
Menschheit in einem neuen Gleichgewichtszustand sichere. (Vgl. Dennis Meadows,
Die Grenzen des Wachstums - Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit,
1972, S. 171). (Ebd., 1998, S. 614).Aber würde diese
Forderung sich auf andere Weise durchsetzen lassen als durch eine »ökologische
Weltdiktatur der vernünftigen Regierungen«, könnte Vernunft in
diesem Zusammenhang etwas anderes heißen als »Mäßigung
unter Verzicht auf wesentliche Änderungen der Macht- und Vermögensverhältnisse«,
und müßte die Demokratie nicht sogar unter diesen Voraussetzungen abgeschafft
werden, da doch jede Demokratie durch das Bemühen um den kurzfristigen Vorteil
des demokratischen Subjekts und seiner Teilsubjekte gekennzeichnet ist? Was würden
dann die Prämissen und etwaigen Folgen einer »ökologischen Diktatur«
der Egalitätsideologen sein, die sich auf den Willen der ärmeren Mehrheit
der Weltbevölkerung berufen und dem reichen Viertel (Fünftel!
HB) die Enteignung prophezeien würden? (Ebd., 1998,
S. 614-615).Ist es unverständlich und nicht sogar berechtigt,
daß »Vorteile« verteidigt werden, möglicherweise mit extremen
Mitteln, da doch Differenzen zum Wesen der Realität gehören? Darf das
Verlangen nach »weltweiter sozialer Gerechtigkeit« die Tatsache außer
acht lassen, daß der ärmere Teil der Weltbevölkerung zugleich
der weit überproportional wachsende Teil ist und daß die Bevölkerungszahl
der »entwickelten Industriestaaten« im Rückgang begriffen ist?
Liegt hier nicht der Wurzelgrund künftiger Politik und künftiger Konflikte,
die vielleicht mit der Politik und den Konflikten der »bisherigen Geschichte«
größere Ähnlichkeit haben werden als mit dem »herrschaftsfreien
Diskurs« in einer vorstellbaren Vollversammlung der Vereinten Nationen,
die sich vorgenommen hätte, gemäß den Empfehlungen des Club of
Rome und der Umweltpolitiker aller Länder dem Wachstum der Industrie und
- vor allem - dem Anwachsen der Bevölkerung ein Ende zu setzen? (Ebd.,
1998, S. 615).
55) Bevölkerungsexplosion und BevölkerungsschwundDie
»Bevölkerung« ist bisher noch nicht ausdrücklich unser Thema
gewesen, aber die Probleme, die aus der biologischen Grundtatsache der Vermehrung
und unter Umständen des Schrumpfens der Menschenzahlen im Rahmen ihrer jeweiligen
Organisation resultieren, sind uns doch wieder und wieder begegnet. Alle Zahlenangaben
sind bis zum Beginn des 19. Jahrhundert, d.h. bis zu den ersten neuzeitlichen
Volkszählungen und bis zur Errichtung statistischer Ämter, unzuverlässig,
aber schon im Hinblick auf die Vorgeschichte ist die Vermutung erlaubt, daß
die Cro-Magnon-Menschen sich schneller vermehrten als die Neandertaler und daß
diese entweder aufgesogen oder vernichtet wurden. (Ebd., 1998, S. 615).Das
Römische Reich erlag dem Ansturm der germanischen Stämme in der »Völkerwanderungszeit«o
Andererseits wurden in der griechischen und römischen Antike auch mancherlei
Klagen über den Rückgang der Bevölkerung und die um sich greifende
Abneigung gegen die Aufzucht von Kindern laut. (Ebd., 1998, S. 616).Eine
Bevölkerungswissenschaft (**)
entsteht erst in der Zeit der Aufklärung, nicht zuletzt durch das Werk von
Thomas Robert Malthus, dessen einfache Grundvorstellung als Impuls oder als Stein
des Anstoßes die ganze Entwicklung dieser Wissenschaft bestimmt hat: Die
durch menschliche Arbeit auf der Grundlage größerer oder geringerer
Fruchtbarkeit der Erde erzeugte Zunahme von Lebensmitteln gehe additiv oder »in
arithmetischer Progression« vor sich, die im Zeugungsvermögen wurzelnde
Vermehrung der Menschen aber multiplikativ oder »in geometrischer Progression«.
Die Bevölkerung habe also stets die Tendenz, über den jeweils gegebenen
und nur langsam erweiterbaren Nahrungsmittelspielraum hinauszuwachsen, und die
Natur nehme die erforderliche Begrenzung vor, indem sie durch ihre »checks«,
durch Hungersnöte, Seuchen und Kriege, die Bevölkerungszahl immer wieder
den Ressourcen anpasse. (Ebd., 1998, S. 616).Diese Konzeption
wurde von den Zeitgenossen als atheistisch empfunden, da sie dem Bibelgebot »Seid
fruchtbar und mehret euch« entgegengesetzt zu sein schien, und sie war sicherlich
insofern biologistisch, als sie ein biologisch Unendliches, die Fertilität,
einem von Natur aus Endlichen, den Nahrungsmitteln und letzten Endes der Oberfläche
der Erde, entgegensetzte. Der vorhersehbaren Katastrophe arbeiteten jedoch nach
Malthus nicht nur jene Naturmächte entgegen, die z.B. verhinderten, daß
die weitaus höhere Fertilitätsrate von Mäusen oder Bienen zur selbstzerstörerischen
Inbesitznahme der ganzen Erde durch diese Tierarten führte, sondern auch
ein Tun des Menschen, das er den »prudential check« nannte und als
freiwillige Enthaltsamkeit verstand, das aber von seinen Schülern - zu denen
John Stuart Mill zu zählen ist - als »Geburtenkontrolle« interpretiert
wurde, d.h. als Empfehlung schwangerschaftsverhütender Methoden. (Ebd.,
1998, S. 616).Was die Malthusianer klarer erkannten als Malthus
selbst, war die Tatsache, daß das biologische Gesetz der Multiplikation
nur in bezug auf den Menschen sich zu realisieren vermochte. Denn nur der Mensch
konnte einen Teil der Naturhindernisse aus dem Wege räumen, die bei allen
anderen Gattungen und Arten der Lebewesen ungehindert wirkten, indem nämlich
die wissenschaftliche Vernunft die hohe Säuglingssterblichkeit ganz bedeutend
senkte und den Tod im Kindbett für die jungen Frauen zur Ausnahme machte
- dieselbe wissenschaftliche Vernunft, welche »die Produktivkräfte«
und auch die Nahrungsmittelerzeugung ins Unbegrenzte steigern zu können schien.
(Ebd., 1998, S. 616-617).So kam es, daß das Malthussche Gesetz
sich erstmals in der Menschheitsgeschichte in großem Maßstab auswirkte,
als Malthus' schärfste Gegner, die Protagonisten der »Perfektionierung«,
d.h. des Vorrangs der intellektuellen vor den biologischen Kräften des Menschen,
zu triumphieren glaubten, nämlich im 19. Jahrhundert. Zwischen 1800 und 1900
wuchs die Bevölkerung Europas von mehr als 200 auf über 400 Millionen
an, sie verdoppelte sich also, und in Amerika vollzog sich die Verdoppelung auch
ohne die große Immigration aus Europa tatsächlich in jeder Generation.
(Ebd., 1998, S. 617).Damals hätte man also ebenfalls von einer
»Bevölkerungsexplosion« sprechen können, obwohl es sich
um ein schiefes Bild handelt, denn eine Explosion ist ein punktueller Vorgang
von überwältigender Kraft, der dann in sich selbst zusammenbricht. Insofern
wäre das Bild einer Lawine adäquater, doch auch dieses Bild ist nicht
wirklich angemessen. Aber da durch das Wort »Explosion« nur so viel
wie »ungewöhnliche Stärke« zum Ausdruck gebracht werden
soll, darf seine Verwendung doch als erlaubt gelten. Jedenfalls ging die explosions-
oder lawinenartige Vermehrung auch nach 1900 fort: Wenn es viele Jahrtausende
gedauert hatte, bis die Menschheit um 1800 die Zahl von einer Milliarde erreicht
hatte, so vergingen weniger als zwei Jahrhundte, bis um 1925 die zweite Milliarde
erreicht wurde, und schon 1974 war diese Zahl verdoppelt. Nach den Vorausberechnungen
der Statistiker wird die abermalige Verdoppelung auf acht Milliarden Menschen
um das Jahr 2025 herum stattgefunden haben, und es ist eine optimistische, bloß
auf Wahrscheinlichkeiten beruhende Annahme, daß die Zahl sich um 2100 bei
etwa zehn Milliarden einpendeln (oder bereits zurückgegangen
sein) wird. (Ebd., 1998, S. 617).Aber innerhalb der
Lawine kam es zu bedeutenden Verschiebungen. Seit etwa 1900 nahm die Bevölkerung
der »entwickelten Welt« oder »der reichen Völker«
oder »der weißen Rasse« nur noch wenig zu, während der
lawinenartige oder explosionsähnliche Verlauf sich ganz auf die sogenannten
Entwicklungsländer verlagerte, zu denen zwei der ältesten Kulturländer
gehörten, nämlich China und Indien. Während die »industriellen
Nationen« um 1900 noch ein Drittel der Weltbevölkerung stellten, war
ihr Anteil im Jahre 1950auf ein Fünftel gesunken, und im Jahre 2025 wird
er aller Voraussicht nach nur noch ein knappes Zehntel betragen.3 Zu diesem Zehntel
wird auch Japan gehören, so daß der Terminus »weiße Rasse«
nicht mehr anwendbar sein wird. (Ebd., 1998, S. 617-618).Zugleich
wird sich aber noch eine weitere Verschiebung vollzogen haben: Der Anteil der
Stadtbevölkerung wird auf mehr als 60% steigen, und zwar gerade in den unterentwickelten
Teilen der Welt. Dieses weit überproportionale Anwachsen sowohl der »Unterentwickelten«
wie der Städte folgt mithin dem ebenso überproportionalen Wachstum der
Entwickelten und ihrer Städte im 19. Jahrhundert, und es hat ganz ähnliche
Ursachen, nämlich die Verbesserung der Hygiene, die Senkung der Kindersterblichkeit
und die erfolgreiche Bekämpfung von Seuchen. Freilich mit dem Unterschied,
daß die medizinischen Fortschritte während des 19. Jahrhunderts innerhalb
des Bezirks der »Bevölkerungsexplosion« gemacht wurden, während
sie an die »Unterentwickelten« überwiegend von außen, nämlich
im Rahmen der Kolonisierung bzw. der europäisch-amerikanischen Expansion
herangetragen wurden und dadurch zur Mitursache der Vermehrung geworden sind.
(Ebd., 1998, S. 618).Aber es gibt natürlich auch endogene
Ursachen: In großen Teilen der Welt sind Kinder nach wie vor die einzige
Alterssicherung für die Eltern, und zumal in Afrika ist die Bevölkerung
davon überzeugt, daß Kinderlosigkeit nicht nur ein Unglück, sondern
ein Werk böser Geister ist. Doch nicht nur hier und teilweise sogar in einzelnen
Schichten der europäischen und der amerikanischen Bevölkerung lebt die
uralte und fundamentale Überzeugung fort, daß Kinder ein »Segen
Gottes« sind und ein Sich-Aufopfern der gegenwärtig Lebenden für
die in Zukunft Lebenden das elementarste Gebot der Ethik ist. Aber es wäre
töricht, nicht wahrhaben zu wollen, daß das Streben nach einem leichteren,
d.h. weniger mühseligen und arbeitsreichen Leben ein nahezu ebenso wirksames
Motiv ist, und daraus erklärt sich das außerordentliche Wachstum der
Städte gerade in den unterentwickelten Gebieten. (Ebd., 1998, S. 618).Jahr
für Jahr strömen Hunderttausende von mexikanischen Landbewohnern nach
Mexiko City, um den überaus dürftigen Lebensumständen auf den Dörfern
zu entgehen, und selbst die schlimmen und unhygienischen Verhältnisse in
den »shanty towns«, welche die Metropole wie Jahresringe umgeben,
sind für sie nicht Grund genug, um auf das Land zurückzukehren. So ist
Mexiko City mit 23 Millionen Einwohnern zur größten Stadt der Welt
geworden, und die Zahlen und Verhältnisse in Kairo, Bombay und Sao Paulo
sind nicht sehr verschieden. Immer wieder berichten »westliche« Reisende
mit tiefer Betroffenheit von dem, was sie in solchen Städten gesehen haben:
von der unfaßbaren Enge, die dazu führt, daß ganze Familien sich
einzelne Treppenstufen in Hotels mieten, auf denen sie hausen, oder von den zahlreichen
Menschen, die am frühen Morgen im Angesicht der Reisenden einfahrender Züge
an den Bahndämmen die Notdurft verrichten, welche in den zusammengezimmerten
Elendsquartieren ihrer Hütten nicht befriedigt werden kann. (Vgl. Gerhard
Schweizer, Zeitbombe Stadt, 1987, S. 83ff.), (Ebd., 1998, S. 618-619).Gewiß
sind die Berichte aus dem 19. Jahrhundert über die hygienischen Bedingungen
und die Wohnverhältnisse in den rasch wachsenden Millionenstädten London,
Paris und Berlin deprimierend genug, und die »Verstädterung«
war noch z.B. im Deutschland der Weimarer Republik ein passionierendes Thema,
von dem aus die Kulturkritiker sowohl der Linken wie der Rechten ihre jeweiligen
Vorschläge wie etwa die »Gartenstädte« oder die »Rassenhygiene«
(**)
entwickelten, aber hier gab es immerhin eine unübersehbare Kontinuität
zu den mittelalterlichen Städten mit ihrer Selbstverwaltung und ihrem selbstbewußten
Bürgertum, während man in der »Dritten Welt« heute nur von
einem »Wuchern der Urbanisierung« sprechen kann, dem in aller Regel
ein staatlicher Zentralismus vergeblich entgegenzuwirken sucht. (Ebd., 1998,
S. 619).Abermals ist indessen ein kulturelles Moment als mitursächlich
zu betrachten: Moderne Kommunikationsmittel wie das Kino und das Fernsehen erreichen
heute selbst die abgelegensten Dörfer in Indien oder in Äthiopien, und
sie schildern das Leben der Stadtbewohner fast durchweg als so attraktiv, daß
eine Magnetwirkung zustande kommt, welche mehr zu der großen »Landflucht«
beiträgt als die unbestimmte Hoffnung, in den Städten Arbeit zu finden.
Es scheint jedoch außer Zweifel zu stehen, daß die Enge und die ungesunden
Verhältnisse in den Elendsvierteln dieser ausufernden Agglomerationen eine
beträchtliche Senkung der Durchschnittskinderzahl verursachen, so daß
sich die Hoffnung auf das Erreichen eines stabilen Zustands gerade an das Wuchern
der Urbanisierung knüpft. (Ebd., 1998, S. 619).In Europa
und in den USA, also im Hauptteil der »entwickelten Welt«, ist das
Bevölkerungswachstum schon seit geraumer Zeit zum Stillstand gekommen, ja
rückläufig geworden, aber das war sicher nicht nur auf die städtische
Enge zurückzuführen. Frankreich war bekanntlich das erste Land, das
im 19. Jahrhundert zum »Zweikindersystem« überging, und dafür
war nicht zuletzt die aus der napoleonischen Zeit herrührende Gesetzgebung
verantwortlich, nach der das Erbe gleichmäßig unter die Kinder aufzuteilen
war, so daß die Bauern durch Einschränkung der Kinderzahl eine völlige
Zersplitterung des Besitzes zu vermeiden suchten. In den »Sozialstaaten
des 20. Jahrhunderts« wirkte sich das »Solidaritätsprinzip«
gerade zuungunsten der nicht-berufstätigen Mütter und der kinderreichen
Familien aus. (Vgl. Konrad Adam, »Die alternde Gesellschaft ist keine
Lustpratie - Jedes Kind ist dem Staat gleich viel wert - oder gleich wenig«,
in: FAZ, 03.06.1995). (Ebd., 1998, S. 619).Aber noch wichtiger
wurden in ganz Europa und in den USA die Fortschritte, die der Individualismus
machte, d.h. jene Emanzipation, die zuerst die Aufklärung auf ihre Fahnen
geschrieben hatte und die zunächst nur die Befreiung einzelner Schichten
wie des Bürgertums, und damit auch vieler Individuen, aus den überlieferten
Ordnungen und Schranken und hin zu neuen Wirklichkeiten der Anteilnahme am Gemeinwesen
wie etwa dem Wahlrecht bedeutete. Letzten Endes hatte sie jedoch die Wirkung,
daß die Individuen sich selbst nicht mehr als »Gattungswesen«
betrachteten, die sich den Zwecken der Gattung oder auch des Staates oder der
jeweiligen Gemeinschaft freiwillig oder unfreiwillig unterwarfen, sondern daß
sie sich als Selbstzweck aufzufassen lernten, so daß sie nach »Selbstverwirklichung«
streben konnten. (Ebd., 1998, S. 619-620).Dieser Individualismus
war zweifellos die eigenartigste und subtilste Frucht der Gesellschaftsordnung
des Liberalen
Systems, das von Anfang an durch die christliche Konzeption vom »unendlichen
Wert der Menschenseele« geprägt war und schon im Mittelalter, aber
vornehmlich in der Reformation und in der Renaissance Individuen hervorgebracht
hatte, die sich mit einem Selbstbewußtsein und einem Trotz den herrschenden
Normen und Geboten entgegenstellten, wie es in allen anderen Kulturen unvorstellbar
war, welche durchweg in weit höherem Maße gemeinschaftsorientiert waren
und die Ergebung in Gottes Willen - nichts anderes heißt »Islam«
- zur obersten Regel machten. (Ebd., 1998, S. 620).Diese
Ergebung, dieser »Gattungsgehorsam«, wie man sagen könnte, bestimmte
jedoch die Einzelnen und die Gruppen in ganz unterschiedlichem Maße, und
zwar in erster Linie die Frauen, die in den Augen der Männer, aber auch in
ihren eigenen, vor allem das Gattungsinteresse zu hüten und daher viele Kinder
zu gebären hatten, von denen oft mehr als die Hälfte schon im zartesten
Alter starb. Die Kaisertochter Agnes, die Mutter des Otto von Freising, gebar
in ihrem Leben 18 Kinder, aber deren Pflege wurde ihr doch weitgehend von Dienerinnen
und Dienern abgenommen, und mehr oder weniger galt für die meisten Frauen
des Hochadels ähnliches. Auch die Damen des Großbürgertums überließen
im 18. und 19. Jahrhunderts die Sorge für die Kinder weitgehend den Ammen
und den Gouvernanten. (Ebd., 1998, S. 620).Eine Beschränkung
der Kinderzahl erfolgte nicht nur durch den Tod in der Wiege oder im Kindbett,
sondern auch durch den Eintritt unverheirateter adliger Frauen in die Klöster
oder Stifte und auf seiten der Männer durch den zölibatären Kirchendienst.
Aber mit dem Vordringen des Malthusianismus und mit dem »Absinken des Kulturgutes«,
d.h. mit der Übernahme adliger Vorstellungen und einiger Aspekte entsprechender
Lebensweisen, wurde es möglich, daß immer größere Massen
von Menschen die Möglichkeit wahrnahmen, sich von den Lasten der wichtigsten
Gattungsaufgabe zu befreien und jene »Selbstverwirklichung« anzustreben,
die ihren frappierendsten Ausdruck in der Forderung nach der »sexuellen
Freiheit« der Frau fand, wie es sie bis dahin nur während der Dekadenzphasen
in einigen aristokratischen Gesellschaften gegeben hatte und wie sie zu Beginn
des 20. Jahrhunderts etwa von den Schwestern Else und Frieda von Richthofen vor-
und ausgelebt wurde. (Ebd., 1998, S. 620-621).Auf
diesen Emanzipationsprozeß, der schon nach dem Ersten und vor allem nach
dem Zweiten Weltkrieg einen massenhaften und explosionsartigen Charakter annahm,
ist im Rahmen der Frage nach der Linken zurückzukommen (**|**),
denn er verlief nicht isoliert, sondern inmitten analoger Vorgänge, die zunächst
vorwiegend die Männer betrafen. Hier ist lediglich festzustellen, daß
die Vorkämpferinnen ihre Emanzipation als Selbstbefreiung vom »Patriarchat«
betrachteten, daß diese aber vor allem ein Angriff auf die »naturmoralische
Gesellschaft« war, so daß vom Standpunkt aller Religionen und Ethiken
eine radikale Verurteilung erfolgen mußte, etwa im Sinne jener Prophezeiung
Buddhas, die zitiert worden ist: An jenem Tiefpunkt der zyklisch verlaufenden
Geschichte werde die Menschheit »zur Vermischung schreiten wie Ziegen und
Schafe, wie Hühner und Schweine, wie Hunde und Schakale«. (Ebd.,
1998, S. 621).Aber reicht es aus, dasjenige
als Rückfall in die Animalität zu charakterisieren, was doch offenbar
nur als Konsequenz des Individualismus, also der singulären Blüte einer
einzigartigen Kultur, nämlich der okzidentalenmöglich war? Stellt es
nicht vielmehr auch eine Form von praktischer Transzendenz dar, daß zahlreiche
Individuen sich vom Gattungszweck emanzipieren und nur darauf ausgerichtet sind,
»ihr eigenes Leben zu leben«? Es handelt sich indessen um eine Transzendenz
zum Untergang, denn nicht etwa nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern
auch in Italien, Frankreich und England ist die Fertilität auf 1,4, ja 1,3
Kinder pro Frau bzw. Paar gesunken; sie reicht also zur einfachen Reproduktion
längst nicht aus. Wenn die Entwicklung sich in dieser Weise fortsetzt, wird
es schon im 22. Jahrhundert Franzosen, Italiener, Deutsche und Engländer
in nennenswerter Zahl nicht mehr geben. Mindestens diese Nationen hätten
ihre biologische Existenz und deren Grundregeln so sehr überschritten, daß
sie sich aus dem Leben verabschiedet hätten. (Ebd., 1998, S. 621).Und
hier beginnt die Frage politisch und aktuell zu werden. Auch wenn man keine Extrapolation
in das 22. Jahrhundert vornehmen will, steht jedenfalls so viel fest, daß
die Bevölkerung der »Entwickelten Welt« gegenwärtig stagniert
(schrumpft! HB), während die »Dritte
Welt« in einer »Bevölkerungsexplosion« begriffen ist. Es
ist also eine historische Ursituation gegeben; die Analogie zu den frühen
Hochkulturen oder auch zu den vorisraelitischen Bewohnern Kanaans ist schlechterdings
nicht zu übersehen. (Ebd., 1998, S. 621).Aber in weitaus
höherem Maße als vergleichbare Regionen der Zeit vor drei Jahrtausenden
ist »der Okzident« mit seiner stagnierenden oder schrumpfenden Bevölkerung
nicht nur der reiche, sondern auch der militärisch weitaus stärkste
Teil der Welt. Eine kriegerische Austragung des Konflikts ist, abweichend von
allen geschichtlichen Präzedentien, so gut wie ausgeschlossen. Daß
der objektive Gegensatz durch eine altbewährte Methode nennenswert gemindert
würde, nämlich durch die Aufnahme ethnisch nahestehender und besonders
begabter Bevölkerungsteile nach Analogie der Aufnahme französischer
Hugenotten und salzburgischer Bauern in Preußen, ist nicht sehr wahrscheinlich.
(Ebd., 1998, S. 622).Am nächsten läge nach den Präzedentien
der Geschichte, die Bevölkerungsexplosion der »Dritten Welt«
als eine »demographische Aggression« anzuklagen und um das eigene
Gebiet Schutzwehren zu ziehen, so daß dieses in ausgeprägtem Maße
zum Staat einer riesigen Weltregion werden würde, der wie alle Staaten der
Geschichte entschlossen wäre, seine Existenz gegen eine schwerwiegende, wenngleich
nicht militärische Bedrohung zu verteidigen, möglicherweise durch die
ultimativ an die »Dritte Welt« gerichtete Forderung, nach dem Vorbild
der sozialistischen Volksrepublik China zwar nicht zum Einkinder-, wohl aber zum
Zweikindersystem überzugehen. Das Buch von Samuel
P. Huntington (**|**)
läuft faktisch auf das Postulat hinaus, daß der Westen den Universalismus
der Verkündung der Menschenrechte, der von allen nicht-westlichen Kulturen
als »Imperialismus« interpretiert und abgelehnt werde, aufgibt und
sich zu einer Verteidigungsgemeinschaft zusammenschließt. Verlangt wird
also, daß der Okzident sich in defensiver Intention als eine »Rechte«,
als »die neue Rechte der Welt« versteht oder daß innerhalb seiner
eine »okzidentale Rechte« sich konstituiert. (Ebd., 1998, S.
622).Aber würde der Westen dadurch nicht mit sich selbst in
Widerspruch geraten? Daß seine Botschaft sich an alle Völker richtet
und »Gerechtigkeit«, ja sogar »Gleichheit« predigt, ist
seit den Zeiten ... des christlichen Evangeliums für ihn charakteristisch.
Faktisch ist aufgrund alter Kolonialbeziehungen oder neuartiger Asylgesetzgebung
in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip eine ungeregelte Einwanderung längst
im Gange, und eine starke Richtung unter den politischen Kräften nicht nur
Deutschlands erhebt die Forderung, auf Grenzziehungen jeglicher Art zu verzichten
und durch die Aufnahme aller Verfolgten und Unterdrückten, ja sogar möglichst
sämtlicher Armen das uralte Unrecht des Okzidents gegenüber der einst
von ihm eroberten und immer noch ausgeplünderten »Dritten Welt«
wiedergutzumachen. (Ebd., 1998, S. 622).
56) Die Linke - Grundimpils, Vielfalt, ParadoxienNoch viel weniger
als die pazifistische Linke hat die antikapitalistische Linke in
der Gegenwart Grund zu vollständiger Zufriedenheit. Als Verbund der marxistischen
Arbeiterparteien schien sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts dicht vor dem entscheidenden
Siege zu stehen. Aber diese Siegeshoffnungen beruhten auf der Annahme, daß
der Gegensatz zwischen »Kapital« und »Arbeit« oder zwischen
Unternehmern und Fabrikarbeitern der schärfste und offenkundigste, daher
am meisten zu einer revolutionären Lösung hintreibende unter allen Gegensätzen
sei. In der Tat war es die nächstliegende Vorstellung, daß die Arbeiter
von »ihren« Kapitalisten ausgebeutet würden, d.h. daß ihnen
Teile ihres »Arbeitsertrags« entzogen und als »Profit«
in die »Taschen der Kapitalisten« gesteckt würden, aber sie entsprach
nur dem - objektiv unzutreffenden - Bild, das der erste Band von Marx' Kapital
zeichnete. (Ebd., 1998, S. 625-626).Nach der Sichtweise,
die im dritten Band entwickelt wird, saßen die Arbeiter der kapitalintensiven
Betriebe mit ihren Unternehmern in einem Boot, weil sie gemeinsam die Kapitalisten
und die Arbeiter der arbeitsintensiven Betriebe ausbeuteten, und diese ausgebeuteten
Betriebe befanden sich in zunehmender Anzahl nicht in Deutschland und nicht in
Europa, sondern in der »unterentwickelten«, der »Dritten«
Welt. So mochten die Unternehmer und die Arbeiter der meisten deutschen oder englischen
Betriebe zwar Konflikte um die Höhe der Löhne durchfechten, aber in
einer »Endrevolution« wäre der Ast durchgesägt worden, auf
dem sie beide saßen. Eben auf diese Tatsache gründete Lenin seine Theorie
vom »westlichen Imperialismus« und von dessen Arbeiteraristokratie,
und auf eben dieser Basis führte die Forderung Mussolinis und Hitlers nach
»Klassenkollaboration« statt nach bürgerkriegsmäßigem
Klassenkampf zum Erfolg. (Ebd., 1998, S. 626).Faschismus
und Nationalsozialismus waren aber nicht die alleinmögliche Konsequenz im
außerrussischen Europa, sondern die einst radikalantikapitalistischen »Proletarier«
konnten nun zu Mitwirkenden des »Liberalen
Systems« werden, dessen Mitglieder - ob Einzelne, Gruppierungen oder
Klassen - zwar in Konflikten stehen und Gegner haben, aber keine der Vernichtung
geweihten Feinde. Indessen gingen auch die sozialdemokratischen Parteien auf diesem
Wege nur sehr zögernd voran, weil es nicht leicht ist, auf das beflügelnde
Gefühl zu verzichten, an der Spitze einer großen Volksmehrheit einem
bösen Feind konfrontiert zu sein. Im Verein mit dem Sieg der eigenen radikalen
Fraktion in Rußland führte dieses Zögern die großen Niederlagen
»der Arbeiterbewegung« in Italien und Deutschland herbei, über
die bis heute viel geklagt, jedoch wenig nachgedacht wird. (Ebd., 1998,
S. 626).Aber nicht einmal nach 1945 hörten die sozialdemokratischen
Arbeiterparteien in Europa definitivauf, sich als »marxistisch« und
»antikapitalistisch« zu betrachten. Erst nach 1989 wurde es unübersehbar,
daß man einen neuen Weg einschlagen müsse, weil man in den Augen einer
»neuen Linken« nun selbst zu den Ausbeutern gehörte, und führende
Politiker beschworen ihre Parteigenossen, endlich ein positives Verhältnis
zur Marktwirtschaft (freilich zur »sozialen Marktwirtschaft«) und
zum Unternehmertum zu gewinnen. (Vgl. Peter Glotz, Die Linke nach dem Sieg
des Westens, 1992). (Ebd., 1998, S. 626-627).Die
»Neue Linke« ... ist die »Dritte Welt« selbst als Linke,
die jener Rechten der »Ersten Welt« Samuel Huntingtons entgegengesetzt
ist. (**|**).
(Ebd., 1998, S. 628).Als Selbstkritik ist der Antiokzidentalismus
ein unterscheidendes Merkmal des Okzidents selbst .... (Ebd., 1998, S. 629).Die
erste eindeutig antiokzidentale Linke (im
Okzident, wohlgemerkt! HB) entstand in den USA in Zusammenhang mit
dem Kalten Krieg und »Vietnam«, aber auch der »Civil-Rights«-Bewegung.
Die Aktivisten dieser Richtungen knüpften an die Selbstkritik von Männern
wie William Lloyd Garrison an und waren von tiefen Schuldgefühlen gegenüber
den Indianern und den Schwarzen erfüllt, die nach ihrer Überzeugung
ebenso Opfer des us-amerikanischen und westlichen Willens zu Herrschaft und Selbstdurchsetzung
geworden waren wie in der Gegenwart die Vietnamesen. (Ebd., 1998, S. 629-630).Für
Noam Chomsky sind die USA auch noch in den 1990er Jahren »Führer der
Attacke gegen Demokratie, Märkte und Menschenrechte«; durch ihre protektionistischen
Maßnahmen berauben sie die Armen und lassen durch einen »stillen Genozid«
jedes Jahr 11 Millionen Kinder sterben. Die zentralamerikanisch-karibische Region
ist eine der »schlimmsten Horrorzonen der Welt«, wo schreckliche Greueltaten
der Amerikaner und ihrer Klienten ganze Länder verwüsten. (Der Vorwurf
ist ... nicht ohne Hand und Fuß. Vgl. Noam Chomsky / Heinz Dieterich, Globalisierung
im Cyberspace - Globale Gesellschaft. Märkte, Demokratie und Erziehung,
1996, S. 28, 16.). Gleichsetzungen mit dem Nationalsozialismus werden in dieser
Literatur nicht selten vorgenommen, solche Wendungen fallen kaum besonders auf,
und eine bekannte weiße Schriftstellerin schreckte nicht davor zurück,
die weiße Rasse den »Krebs der menschlichen Geschichte« zu nennen.
(Vgl. Susan Sontag nach Andy Vogelsang, The Long Dark Night and the Soul,
1974, S. 175) (Ebd., 1998, S. 630).Seinen
Höhepunkt erreicht dieser Antiokzidentalismus in dem radikalen Flügel
des Feminismus, wo er mit dem Antipatriarchalismus zusammengebracht und bis zu
Vernichtungsforderungen vorangetrieben wird, wie sie etwa in den Sätzen von
Andrea Dworkin zum Ausdruck kommen:Wir
wollen die patriarchale Macht an ihrer Quelle zerstören, der Familie ...
und in ihrer häßlichsten Gestalt, dem Nationalstaat. Wir wollen die
Struktur der bisher bekannten Kultur zerstören. (Vgl. Paul Hollander,
Anti-Americanism, 1992, S.71. Daß der radikale Antifeminismus »antisemitisch«
sein würde, wenn er nicht - auf wenig überzeugende Weise - seine Solidarität
mit den »unterdrückten jüdischen Frauen« herausstellen könnte,
läßt sich gut an dem Buch von Gerda Weiler über das verborgene
Matriarchat im Alten Testament zeigen. Im Kern ist es eine einzige Anklageschrift
gegen den »menschenverachtenden Vernichtungswahn« des Deuteronomisten
gegen Andersgläubige und nicht weniger gegen »Jahwe, den Gott der Vertilgung«.
Daher ist es nicht überraschend, daß die Luther-Übersetzung von
II, Samuel 12, 31 - »und er verbrannte sie in Ziegelöfen«
- ohne Hinweis auf die andere Übersetzungsmöglichkeit übernommen
wird und daß von »platten Zuhältergeschichten« gesprochen
wird. [Vgl. Gerda Weiler, »Ich verwerfe im Lande die Kriege«,
1984, S.4, 331,38, 135].). | Die letzte Konsequenz des
proklamierten »Geschlechterkampfes«, der zugleich ein »Kulturkampf«
wäre, würde in der Tat die Vernichtung aller oder doch mindestens der
weißen Männer sein, und damit hätte ausgerechnet die feministische
Linke in ihrem radikalen Flügel den Vernichtungsimpuls der Linken zum Extrem
getrieben, denn was für mikroskopisch kleine Gruppen wären im Vergleich
dazu Müntzers »Gottlose« oder Lenins »Kapitalisten«
! (Ebd., 1998, S. 630).Wenn (wenn!
HB) ... die letzte Grundlage der Unterdrückung und Diskriminierung
der Frauen darin bestand, daß sie unter Schmerzen die Kinder gebären
mußten, während der Beitrag des Mannes zur Fortpflanzung mühelos,
ja bloß lustvoll war, dann mußte gerade diese unveränderlich
scheinende Ungleichheit beseitigt und nicht etwa nur dadurch gemildert werden,
daß die Männer weit mehr als bisher bei der Kinderpflege und der Hausarbeit
zu helfen hatten. Die Möglichkeit einer solchen Beseitigung schien sich aus
der Einsicht oder Behauptung zu ergeben, daß man nicht »als Frau geboren«,
sondern durch die jeweilige Kultur »zur Frau gemacht« werde und mithin
durch eine radikale Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch
aufhören könne, eine Frau zu sein .... (Ebd., 1998, S. 632).Aber
letzten Endes konnte die biologische, die »schicksalhafte« Ungleichheit
doch nur aufgehoben werden, wenn Schwangerschaft und Geburt von medizinischen
Geräten übernommen würden und also die Frauen ebenso frei wären
wie die Männer, »ihr eigenes leben zu leben«. (Ebd., 1998,
S. 632-633).Keine »Revolution« in der Weltgeschichte
würde sich dieser Veränderung auch nur entfernt an die Seite stellen
lassen, keine scheint aber auch so sehr bloß in einem gedanklichen Überschwang
zu bestehen und selbst von annähernder Verwirklichung so weit entfernt zu
sein. (Es ist in der Tat schwer zu verstehen, inwiefern das Geschlecht in den
»Rollen« begründet sein soll und nicht die Rollen im Geschlecht.
Ein noch größerer Hochmut der »Kultur« gegenüber der
»Natur« ist kaum vorstellbar; insofern ist der radikale Feminismus
paradoxerweise so »okzidentalistisch« wie nur möglich. In feministischen
Utopien erscheint »die menschliche Natur« häufig als etwas »Auferlegtes«
und daher zu Bekämpfendes. Daraus resultiert das Postulat der »Veränderung
der menschlichen Natur«, und so kommt es zu dem Bild einer Gemeinschaft
von Lebewesen, die keine feste Geschlechtszugehörigkeit haben und mithin
sowohl Mutter- wie Vaterschaft kennen. Daß solche »Eutopien«
im Kern ihrer Intention gleichwohl »rückwärtsgewandt« sind,
sticht ins Auge. Vgl. Cornelia Klinger, »Die Frau von morgen -aus der
Sicht von gestern und heute«, in: Peter Sloterdijk [Hrsg.], Vor der
Jahrtausendwende - Berichte zur Lage der Zukunft, 1990, 2. Band, S.365-418,
S. 393 ff.). Was sich in diesem Kampf der »Kultur« gegen die »Biologie«
realisieren läßt, wäre die gnadenlose Bekämpfung jedes »Sexismus«,
selbst wenn er bloß die Gestalt der Galanterie oder Koketterie aufwiese,
und das liefe paradoxerweise auf eine starke »Desexualisierung« der
Gesellschaft hinaus, in der die Geschlechtsdifferenzen zwar nicht verschwunden,
wohl aber irrelevant geworden wären. (Ebd., 1998, S. 633).Als
radikale Möglichkeit wäre eher noch diejenige zu verwirklichen, die
den »Geschlechterkampf« nach Analogie des marxistischen Klassenkampfes
mit der Vernichtung des Feindes enden lassen würde, so daß die menschliche
Gesellschaft wie diejenige der Ameisen und der Bienen nur noch aus weiblichen
Mitgliedern bestände, die auf künstlichem Wege wie eine Bienenkönigin
zu einem für die Erhaltung ausreichenden Samenvorrat gelangt wären.
(Ebd., 1998, S. 633).Eine radikale Feindschaft gegen das männliche
Geschlecht hatte schon im 19. Jahrhundert eine Schülerin Nietzsches, Helene
Druskowitz, zum Ausdruck gebracht, als sie schrieb, der Mann sei derFluch
der Welt, ein Zwischenglied zwischen Mensch und Tier, dem in seinen Genitalien
von der Natur ein Brandmal ohnegleichen aufgedrückt | sei.
(Vgl. Annette Kuhn, Die Chronik der Frauen, 1992, S. 389. Vermutlich ist
diese Wendung nicht ganz ernst gemeint, sondern als Gegenthese zu dem Titel eines
Buches von Paul Julius Möbius über den »physiologischen Schwachsinn
des Weibes« gedacht.). Indessen dürfte auch diese Möglichkeit
der Vernichtung der Männer nicht viel leichter zu realisieren sein als jene
andere, aber innerhalb des radikalen Feminismus ist insbesondere in den USA so
viel an Haß zu finden wie in kaum einer anderen Abwandlung der Linken, und
wenn dort der Haß der schwarzen Frauen am ehesten verständlich ist,
so bringt er doch zugleich die Patriarchalismusthese ins Wanken, denn die erste
Feststellung muß die sein, daß der »Sexismus« und »Machismus«
der eigenen schwarzen Männer eine jahrhundertelange Tradition besitzt und
keineswegs aus dem okzidentalen Patriarchalismus abzuleiten ist. (Ebd.,
1998, S. 633).Aber die radikalen Feministinnen sind offensichtlich
in einer schlechteren Lage, als die radikalen Vorkämpfer des marxistischen
»Klassenkampfes« es waren. Wenn diese zunächst noch voller Verachtung
auf die Klassenverräter und »Überläufer ins Lager der Bourgeoisie«
blicken konnten, dann müssen die Feministinnen ob der Überzahl der alltäglichen
»Geschlechtsverräterinnen« schier verzweifeln, und wenn sie jemals
solche Erfolge erringen sollten wie die Kommunisten nach 1917, dann würde
die radikale Gegenpartei, die sich aller vermutung nach bilden würde, von
vornherein noch viel mehr »frauliche Frauen« auf ihre Seiten ziehen,
als die radikal-antikommunistischen Parteien nichtrevolutionäre Arbeiter
gewonnen hatten. (Ebd., 1998, S. 633-634).Wie der nichtradikale
Hauptteil der Frauenbewegung, so kann auch die ökologische Linke das
Ziel haben, das bestehende System zu verbessern und zu mildern. Sie hat ihren
Anfang in der durchaus konservativen Naturschutz- und Umweltbewegung genommen,
und ... manche Anhänger betrachteten Martin Heidegger als ihren Philosophen.
(Ebd., 1998, S. 634).Wenn es ... der Linken noch einmal gelingen
sollte, die Grundlagen des Staates so sehr zu erschüttern, wie es 1977 nach
der Ermordung Hanns Martin Schleyers und während der »Landshut«-Entführung
der Fall war, dürften selbst die sehr wirksamen Parolen des Antisexismus
und des Antirassismus nicht mehr ausreichen, die Entstehung einer außerstaatlichen
und vernichtungswilligen Gegenbewegung zu verhindern. (Ebd., 1998, S. 636).
57) Entmachtete Staaten in der fragmentierten Welt War diese Erde
der »neuen Weltordnung« und der ökonomischen Globalisierung nicht
unfriedlicher und trotz der Vielzahl und Schwäche ihrer Staaten nicht auch
»staatlicher«, d.h. zur Anwendung von Waffengewalt geneigter, als
die Welt der europäischen »Kulturstaaten« und ihrer Kolonien
im 19. Jahrhundert, ja selbst das Römische Imperium und das persische Weltreich
vor mehr als zwei Jahrtausenden gewesen waren. (**).
(Ebd., 1998, S. 642-643).Sogar wenn wir unseren Blick nun auf Europa
und auf das vom Fernsehen gezeichnete Bild der »demokratischen« Führungsmacht
USA zurückwenden, sind Zweifel an der zunächst so einleuchtenden Schwächung
der »Staatlichkeit« kaum zu unterdrücken. (Ebd., 1998,
S. 643).Wieviel tiefer greifen diese »entmachteten«,
nicht mehr souveränen Staaten Europas in das Leben jedes einzelnen Bürgers
ein, indem sie ihn als Sozialstaat zwar von der Wiege bis zur bahre registrieren
und umsorgen, wenngleich auf sehr unpersönliche und bürokratische Weise,
und ihn andererseits als Steuerstaat mit Abgaben belasten, deren Prozentsätze
auch im Bismarckreich sogar in den Augen der Durchschnittsverdiener als konfidkatorisch
gegeolten hätten! (Ebd., 1998, S. 643).Und wieviele
Möglichkeiten haben diese Staaten, einzelnen Wirtschaftszweigen durch Steuernachlässe
oder Subventionen aller Art zur Hilfe kommen un dihnen gegenüber den befreundeten
Nachbarstaaten Vorteile zu verschaffen! (Ebd., 1998, S. 643).Es
ist nur allzu wahrscheinlich, daß die staatlichen Bezierke eines einheitlichen
europäischen Währungsfebietes heftiger und hinterhältiger um Vorteile
miteinander kämpfen werden, als es die souveränen Staaten der zwischenkriegszeit
getan hatten. (Ebd., 1998, S. 643-644).Es liegt auf der Hand,
daß der »freie Markt« immer wieder neue Differenzen schafft,
und es ist wahrscheinlicher, daß ein mühsamer Kampf gegen eine prononcierte
Ungleichheit der Einkommen zu führen ist, als daß ein zuversichtliches
Sich-Einfügen in den unaufhaötsamen Gang zur Gleichheit stattfindet
... - die ökonomische Ungleichheit zwischen »Erster« und »Dritter
Welt« nimmt nach allen statistischen Untersuchungen immer weiter zu, statt
zurückzugehen. (Ebd., 1998, S. 644).Bei aller Vorherrschaft
der »demokratischen« Wahlverfahren ist die Macht fast noch ungleicher
verteilt als das Geld und die Vermögen. (Ebd., 1998, S. 644).Herrschaft,
Schichtung und Staat sind in der Gegenwart keineswegs verschwunden und in einer
klassen- und staatenlosen Weltgesellschaft untergegangen. Die »Verhältnisse«
existieren weiter, aber sie sind wietaus komplexer und undurchsichtiger geworden.
(Ebd., 1998, S. 644).
58) Der Untergang des Adels und der Aufstieg industriell-politischer-intellektuelle
ElitenDie erste schwere Erschütterung der Adelsherrschaft
fand statt, als die französische Revolution - in ihren Anfängen auch
von Adligen gefördert, ja getragen - erstmals den Adel als solchen und nicht
mehr bloß die »Gottlosen« mit Vernichtung bedrohte und den Landbesitz
enteignete. (Ebd., 1998, S. 645).Anders las im islamischen
bereich haben die ursprünglich religiösen Parteien nicht die Kraft,
eine soziale Wandlung zu bewerkstelligen; sie könnte daher nur von einer
sozialistischen oder von einer nationalistischen Partei vollbracht werden.
(Ebd., 1998, S. 650).
59) Das Geschichtsbewußtsein: Schwächung - Renaissancen - Vernichtung
- BewahrungHegels Geschichtsphilosophie bezog die ganze
Weltgeschichte ein und fand dennoch in der Hervorhebung der Rolle der germanisch-protestantischen
Völker einen Höhepunkt .... (Ebd., 1998, S. 653).Es
war sehr wahrscheinlich, daß sogar der nationalsozialistische »Antisemitismus«
lediglich wie der Zionismus die Trennung zweier Völker postulierte, aber
keineswegs die Tötung wehrloser Männer, Frauen und Kinder zum Ziel hatte,
die nur durch zusätzliche Momente wie die Situation des mit starker Partisanentätigkeit
verknüpften großen Krieges und vor allem die radikalideologische, aber
sorgfältig versteckte Überzeugung Hitlers (**)
und seiner nächsten Gefolgsleute zustande kam. Wie hätte die große
Masse der deutschen Bevölkerung etwas von Auschwitz wissen können, da
dessen Existenz doch sogar den Alliierten noch im Frühjahr 1944 unbekannt
war, jenen Alliierten, die im Gegensatz zu der deutschen Bevölkerung über
erhebliche Möglichkeiten des Nachforschens und des Handelns verfügten!
(Ebd., 1998, S. 657).Im Jahre 1966 sahen die Dinge noch anders
aus. Wenn irgendein einflußreicher Deutscher für sich in Anspruch nehmen
konnte, eine kritische Überprüfung und insofern eine Schwächung
des überlieferten deutschen Nationalbewußtseins für unumgänglich
zu halten, dann war es Konrad Adenauer. Aber als er 1966 einen Besuch in Israel
machte und an einem von dem Ministerpräsidenten Eschkol zu seinen Ehren gegebenen
Empfang teilnahm, brachte Eschkol wie selbstverständlich und ohne feindselige
Absicht ganz Ähnliches zum Ausdruck, wie es der Denkmalplan und das Buch
von Daniel Jonah Goldhagen taten, denn er artikulierte am Ende die Überzeugung,
daß das deutsche Volk unter Adenauers weiser Führung den Weg zurück
in die Familie der Kulturnationen finden werde. Da erhob sich Adenauer und sagte:
»Ich fliege gleich zurück, Sie haben das Deutsche Volk beleidigt.«
Adenauer war offenbar der Meinung, daß das deutsche Volk auch unter dem
Nationalsozialismus und vermutlich sogar unter Einschluß zahlreicher Mitglieder
der NSDAP eine »Kulturnation« geblieben sei, obwohl Hitler und seine
nächsten Gefolgsleute im Schatten des Krieges, aber ohne jede Einwirkungsmöglichkeit
der großen Mehrheit des Volkes, ein ungeheuerliches Verbrechen begangen
hätten. Der erschrockene Eschkol entschuldigte sich, und die Angelegenheit
war bereinigt: Schwächung, kritische, ja schmerzliche Überprüfung
des überlieferten Geschichtsbewußtseins, aber nicht dessen Vernichtung
war nach Adenauers und dann wohl auch Eschkols Meinung das zu erstrebende, der
Sache adäquate Ziel. (Ebd., 1998, S. 658).Der
Kollaps des deutschen und die überwältigende Stärke des jüdisch-israelischen
Geschichtsbewußtseins sind (nicht zufällig! HB) Extreme .... Wenn ein in die Defensive geratener Okzident nicht bloß
materiell, sondern auch mental oder spirituell überleben will, dürfen
diese Extreme nicht ... erhalten bleiben. (Ebd., 1998, S. 660).
60) Das Hinschwinden der Religion und das Aufkommen der FundamentalismenAuch
»der Nihilismus« kann eine Version der religiösen Haltung sein,
denn das Nichts ist seinem Begriff nach kein Seiendes, das der Mensch wahrzunehmen
oder zu erkennen vermag: es ist nur jenseits und diesseits von allem Seienden
zu finden, nämlich im Denken, und zwar als »Gott der Philosophen«,
den Parmenides das Sein nannte und ebenso das Nichts hätte nenen können.
Für die Nicht-Philosophen kann dieses Nichts jedoch das Gleichgültige
sein, um das man sich nicht zu kümmern braucht, so daß man sich ausschließlich
den »Dingen dieser Welt« zuwenden mag. (Ebd., 1998, S. 662).So
ist es eine einleuchtende, wenngleich über einige Ansätze zu einer genuinen
Erneuerung christlicher Denk- und Verhaltensweisen allzu rasch hinweggehende Behauptung,
die westliche Zivilisation der Moderne sei eine ganz und gar irreligiöse,
säkularisierte Existenzweise - die erste Massenzivilisation dieser Art, die
es in der Weltgesellschaft gegeben habe, und eben deshalb bilde sie den Übergang
zur »Nachgeschichte« und zu einer »Weltzivilisation«.
(Ebd., 1998, S. 664).
Schlußbetrachtung: Die Nachgeschichte
- außerhalb oder innerhalb der Geschichte?
61) Die Nachgeschichte - außerhalb oder innerhalb der Geschichte?
Ich
skizziere ..., und zwar im Indikativ, das Bild einer nachgeschichtlichen Menschheit,
wie sie um das Jahr 2200 Wirklichkeit geworden sein könnte. (Ebd.,
1998, S. 669).Die medizinische Wissenschaft
hat so gut wie alls Krankheiten überwunden, da sie ein vollständiges
Bild vom menschlichen Genom gewonnen hat und alle Gene zu beseitigen vermag, die
krankheitsproduzierend oder krankheitsfördernd wirken; die Ärzte haben
es daher nur noch in geringem Maße mit akuten Leiden zu tun und sind ganz
überwiegend zu präventiven Zwecken tätig. Die Menschen erreichen
ein Durchschnittsalter von 200 Jahren, niemand kann Unfällen zum Opfer fallen,
da das archaische Verkehrsmittel der Automobile und Eisenbahnzüge durch weit
bessere und sicherere Kommunikationswege ersetzt ist. (Ebd., 1998, S. 669-670).Im
Fernverkehr sind raketengetriebene Flugkörper im Einsatz, welche ohne Piloten
mit unfehlbarer Sicherheit von Bodenstation zu Bodenstation bewegt werden und
die Bequemlichkeit der einstigen Zeppelinkabinen mit der Überschallgeschwindigkeit
verbinden. Dem Nahverkehr innerhalb der großen Städte und ihrer stadtartigen
Umgebungen dienen winzige, nur für einzelne Personen bestimmte Hubschrauber,
die keine Ähnlichkeit mit ihren massigen und lärmenden Vorläufern
haben und durch ingeniöse Vorrichtungen vor Zusammenstößen gesichert
sind. Nur mit tiefem Bedauern mag der von der Übermacht der Erdenschwere
nun auch als Einzelner erlöste Mensch beim Flug über dienur noch dem
Warenverkehr dienenden Straßen der Stadt jener früheren Zeiten gedenken,
da der Autoverkehr allein in Europa Jahr für Jahr an die 100000 Todesopfer
forderte - weit mehr als so mancher Krieg gekostet hatte. (Ebd., 1998, S.
670).Niemand leistet mehr schwere Arbeit mit seinen Händen,
alle Tätigkeiten sind in hohem Maße intellektualisiert. Längst
sind alle Menschen durch die Gentechnik nicht nur gesünder, sondern auch
widerstandsfähiger geworden, aber in Erinnerung an die nationalsozialistische
Eugenik (**)
hat die Menschheit beschlossen, die Möglichkeiten der Menschenzüchtung
nur in begrenztem Maße, etwa im Hinblick auf bestimmte Erfordernisse der
Weltraumfahrt, wahrzunehmen. Das Planetensystem ist längst bis in alle Einzelheiten
erforscht, und hochintelligente, sehr bewegliche Computer sorgen für den
regelmäßigen Transport neuentdeckter Rohstoffe von Mars und Venus zur
Erde. Nach festen Fahrplänen starten Weltraumfahrzeuge, die jedem Menschen
die Möglichkeit bieten, aus dem Abstand von Tausenden von Kilometern den
Planeten im ganzen in den Blick zu nehmen und voller Abneigung an jene »geschichtlich«
genannten Zustände zurückzudenken, wo winzige Fetzen der unter seinen
Augen liegenden Landmassen sich »Staaten« nannten und untereinander
blutige Gemetzel anrichteten. (Ebd., 1998, S. 670).Die Menschheit
der Kreuzfahrten im näher gelegenen Weltraum ist aber längst zu einer
Einheit geworden, die in allen Individuen nur noch »Menschen« sieht,
ob sich deren Vorfahren nun Japaner, Inder, Nigerianer oder Engländer genannt
haben mochten, und die Abgesandten aller Erdbewohner treffen sich nicht mehr,
wie einst, in der Hauptstadt eines der Mitgliedsländer. Vielmehr ist mitten
im Ozean ein Welttreffpunkt errichtet worden, wo nicht etwa eine »Weltregierung«
residiert, die »Befehle« gibt und dadurch Widerstände gegen ihre
Herrschaft hervorruft, sondern wo die Deputierten der Weltgegenden sich lediglich
zu freundschaftlichen und herrschaftsfreien Diskursen versammeln, aus denen ohne
Kampfabstimmungen Beschlüsse resultieren, die ihrerseits in zahllosen Versammlungen
der Regionaldemokratien vorbereitet sind. Ernste Interessengegensätze gibt
es nicht, denn die wissenschaftliche Technik hat jenes idealtypische Bild von
den gleichmäßigen Quadraten (**)
der Sache nach weitgehend verwirklicht, und die einstige Sahara bleibt an Fruchtbarkeit
und an Lebensqualität für die Einwohner nicht hinter dem ehemaligen
Frankreich zurück. (Ebd., 1998, S. 670-671).Jedes Individuum
hat ein Niederlassungsrecht überall auf der Erde, und daraus entstehen eine
Vielfalt und Lebendigkeit des Austausches, die nicht zuletzt in der freizügig
und eifersuchtslos ausgelebten Sexualität ihren Ausdruck finden und jenes
»Bonobo-Ideal« aus einer Utopie zu einer Wirklichkeit gemacht haben.
Alles, was an Negativem und Leidvollem oder gar Gewalttätigem mit der Sexualität
verknüpft war, ist verschwunden, nicht zuletzt die Ungleichheit zwischen
Männern und Frauen, denn Schwangerschaft und Geburt sind infolge der Fortschritte
der Medizin nicht mehr bloß, wie in der Vorzeit, vorgeblich »freudige«,
sondern wirklich lustvolle Ereignisse. Im übrigen sorgen die vielen Homosexuellen
beider Geschlechter dafür, daß der Restbezirk der naturhaften Fruchtbarkeit
sich nicht ausdehnt. (Ebd., 1998, S. 671).Die Kinder werden
nicht »erzogen«, d.h. gegängelt, denn sie werden ohne die antisozialen
Gene geboren, die das menschliche Leben einst zu einem widerwärtigen Kampf
machten, und die Freiheit ihres Aufwachsens gerät in keinen Gegensatz zu
der Gleichheit, die überall als die höchste und zugleich selbstverständlichste
Qualität des Menschen gilt. Da mithin die »Egoismen« verschwunden
sind, gibt es nur noch das Bestreben eines jeden, jedem anderen in der individuellen
Selbstverwirklichung förderlich zu sein. Da alle »Arbeit« im
überlieferten und »geschichtlichen« Sinne von Robotern geleistet
wird, können auch keine Interessendifferenzen oder gar Konflikte zwischen
den vielen 150jährigen und den relativ wenigen 30jährigen entstehen.
(Ebd., 1998, S. 671).Zwar müssen auch diese langlebigen Menschen
schließlich sterben, aber gerade das Ende wird zu einem lustvollen und selbstbestimmten
Fest gemacht, und es gibt einen Punkt, wo die Menschheit ihren höchsten Triumph
über die Natürlichkeit, nämlich über den Tod, feiert: Jahr
für Jahr werden einige große und höchst bequem eingerichtete Weltraumschiffe
mit einer hundertköpfigen Besatzung von Freiwilligen ausgesandt, die fast
mit Lichtgeschwindigkeit die Grenzen des Sonnensystems hinter sich lassen und
im genuinen Weltraum den Insassen die Alterslosigkeit und insofern die Unsterblichkeit
gewähren, welche ihre Vorfahren in geschichtlicher Zeit sich mit Gilgamesch
bloß erträumt oder in der christlichen Theologie auf den allmächtigen
Gott projiziert hatten. Vielleicht würde dann selbst die äußerste
Möglichkeit als realisierbar gelten: daß alle Menschen solche Weltraumfahrzeuge
bestiegen und nach dem Passieren der von ihren intelligenten Computern längst
vorher kolonisierten bzw. ausgebeuteten Planeten der Unsterblichkeit teilhaftig
würden. (**).
(Ebd., 1998, S. 671-672).Aber vermutlich würden unter diesen
Menschen, die keine »sprechenden Todgeweihten« (**)
mehr wären, einige nachdenkliche Individuen sein, und sie würden sich
möglicherweise die Frage vorlegen, ob nicht die Menschen der fernen, der
geschichtlichen Vergangenheit, die von Unsterblichkeit nur träumten oder
sie auf einen Gott projizierten, näher bei der Wahrheit des Seins waren als
sie selbst, die Menschen der »Nachgeschichte«, während der langen
Zeit, da sie kein anderes Ziel kannten, als sich den Aufenthalt auf der Erde so
langdauernd und so lustvoll wie möglich zu machen. Und der eine oder andere
würde vielleicht sagen, der gewaltige Impuls der praktischen Transzendenz,
der den Menschen aus der Enge einer mühsam ihr Leben fristenden Jägersippe
bis in die Unsterblichkeit der Weltraumfahrer geführt habe, sei nicht imstande
gewesen, das Denken der theoretischen Transzendenz überflüssig zu machen,
das einst die Geschichte so wesentlich bestimmt habe und das nun, auf dem höchsten
Punkt der Nachgeschichte, in eben dieser Reflexion wieder erfahrbar werde.
(Ebd., 1998, S. 672).Genug des Gedankenspiels, das reale Möglichkeiten
mit utopischen Gemeinplätzen verknüpft, aber trotzdem alles andere als
eine bloße Spielerei ist und jedenfalls so viel tatsächlich ins Licht
stellt, daß ein Zustand vorstellbar ist, der von der Geschichte und natürlich
erst recht von der Vorgeschichte weitgehend genug verschieden ist, um die Bildung
eines eigenen Begriffs schlechterdings unumgänglich zu machen. Und keine
der Linien, die wir gezogen haben, ist bloße Phantasie, sondern jede ist
eine Verlängerung von Ansätzen, die in der Gegenwart erkennbar sind.
Dieser Gegenwart wenden wir uns nun wieder zu und stellen die Frage, ob auch sie
von der vergangenen Geschichte, von deren Strukturen und Existenzialien, so sehr
verschieden ist, daß die Verwendung eines neuen Terminus gerechtfertigt
ist. Befinden wir Menschen des anhebenden dritten Jahrtausends uns bereits in
der »Nachgeschichte«, wie wir den Zustand in Ermangelung eines besseren
Terminus nennen wollen, oder doch mindestens im Übergang dazu?
(Ebd., 1998, S. 672).Gar nicht nachgeschichtlich
sind jedoch die Kriege und Bürgerkriege in der »Dritten Welt«
.... (Ebd., 1998, S. 674).Die besten unter den ... Politikern
der Gegenwart stellen im Vergleich zum besten Typus des Adligen der Vergangenheit
sehr dürftige Figuren dar. Nichts ist daher verständlicher, als daß
heute beim Blick auf die Geschichte so häufig die Vorstellungen von Dekadenz
und Niedergang auftauchen. (Ebd., 1998, S. 675).Die
Verwandlung der ganzen Erde in eine riesige Riesenstadt mit einigen dazwischenliegenden
parkartigen Landgebieten wird vorstellbar und liegt in der Richtung einer deutlich
erkennbaren Entwicklung. Wie eine solche Entwicklung sich ohne verheerende Katastrophen
vollziehen soll, ist allerdings völlig unklar. Mit Bestimmtheit läßt
sich sagen, daß die Erde diese gigantische Eine Menschenstadt nicht
zu tragen vermag .... (Ebd., 1998, S. 676).Innerhalb der
Realitäten der Gegenwart ist die gravierendste Differenz eine andere. Es
handelt sich um das Verhältnis des Okzidents zu der übrigen Welt. Einerseits
ist »der Westen« die angreifende Universalmacht, die dem ganzen Rest
der Welt die Wirtschaftsform der »freien Marktwirtschaft« mit all
ihrer Dynamik und allen ihren Ungleichgewichten auferlegt und vor allem ihre Konzeption
der »Menschenrechte« durchzusetzen sucht, welche im wesentlichen Rechte
der Individuen darstellen und allen religiösen und betont gemeinschaftsbezogenen
Gesellschaftsformen und Konzeptionen entgegengesetzt sind. (Ebd., 1998,
S. 677). Mit der Parole der »Emanzipation« ist der
Westen überall in der Welt die stärkste Kraft der Veränderung oder,
mit negativem Akzent, der Subversion, und nichts ist begreiflicher, als daß
er traditionellen Kräften geradezu als »der Teufel« erscheint.
Überall vermag seine Rede von der »Unterdrückung« an tatsächlich
vorhandene Wünsche anzuknüpfen, aber fast überall wird sie als
radikale Vereinfachung den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht.
(Ebd., 1998, S. 677).Der scheinbar übermächtige und angreifende
Westen ist selbst Gegenstand eines gefährlichen Angriffs. Er sieht sich,
wie am Beispiel der »Fundamentalismen« deutlich wurde, an vielen Stellen
der Welt in die Defensive gedrängt, in seinem eigenen Inneren stoßen
sein Ausgreifen und seine Lebensweise auf starke Kritik, und wenn im Zeitlupentempo
ein Bild der Bevölkerungsentwicklung abrollte, dann wüchse rings um
sein immer enger werdendes und immer dünner bevölkertes Gebiet lawinenartig
eine ganz andere Macht an, die ihn noch weiter zurückzudrängen, ja zu
verschlingen droht. (Ebd., 1998, S. 678).Als Angreifer versucht
der Okzident, die Welt nach seinem Bilde umzugestalten, und im Gefühl seines
Rechtes und seiner Überlegenheit merkt er noch nicht einmal durchweg, daß
er zugleich ein Angegriffener ist. In diesem Gegenangriff kommt vor allem zum
Vorschein, daß es andere Kulturen und Lebensweisen gibt, die ihre Identität
zu bewahren, ja auszudehnen suchen, obwohl sie offensichtlich dem Zwang unterliegen,
sich von sich aus zu ändern, wenn sie dem Einfluß des Okzidents widerstehen
wollen. Aber es ist sehr wohl möglich, daß die islamische, die hinduistische,
die buddhistische Kultur in ihrer religiösen Prägung sich als solche
behaupten, wenn sie sich mit »der Moderne« in Gleichklang gesetzt,
deren okzidentale Form aber zurückgewiesen haben. (Ebd., 1998, S. 678).Als
angegriffener, zu Opfern und Einbußen gezwungener Teil der Welt könnte
dem Westen wieder erfahrbar werden, was so lange nur der restlichen Welt zugewiesen
zu sein schien, nämlich Einschränkung und Bedrängnis. Eben dadurch
könnte er jedoch lernen, nicht nur hilflos die Kritik von innen und außen
über sich ergehen zu lassen, sondern seinerseits ein positives Selbstverständnis
zurückzugewinnen .... (Ebd., 1998, S. 678).Der Okzident
wäre im ganzen nur eine dieser Kulturen, weder der Herr der anderen noch
ihr Prügelknabe, sondern in neuer Bescheidenheit von neuern Selbstbewußtsein
und also auch vom Willen zur Selbstbehauptung erfüllt. Dieses Selbstbewußtsein
der partikularen Ganzheit, die einst den praktischen Universalismus in die Welt
gebracht hatte und ihn auch hinfort nicht zugunsten einer selbstgenügsamen
Abgeschlossenheit verleugnet, darf aber nicht ein völlig unterschiedliches
Geschichtsbewußtsein seiner Teile in sich schließen; die Extreme müssen
ausgeglichen werden, nicht um der Hochschätzung der Ausgeglichenheit ...,
sondern weil ihre Unwahrheit von der distanzierten Analyse enthüllt wird.
Eines Tages muß sich die Einsicht durchsetzen, daß die Individualitäten
der Kulturen nicht in folkloristischen Kuriositäten bestehen, sondern in
unterschiedlichen Erfahrungen der theoretischen Transzendenz begründet sind
und deshalb von dem fragwürdigsten aller »Monotheismen«, dem
Total- und Ausschließlichkeitsanspruch der praktischen Transzendenz, nicht
überwältigt werden dürfen. (Ebd., 1998, S. 679).Aber
ein Gedankengang wie dieser sieht sich scharfer Kritik ausgesetzt. Handelt es
sich dabei nicht bloß um einen vorsichtigen Rückzug, der das Wesentliche
und Ungerechte gerade festhalten will, nämlich die große ökonomische
Differenz zwischen dem ... Okzident und (von Teilen Ostasiens abgesehen) dem Rest
der Welt, die Differenz zwischen den »Reichen« und den »Armen«?
In der Tat nimmt der Abstand, wie häufig festgestellt worden ist und wie
auch wir hervorgehoben haben, ständig weiter zu, statt sich zu verringern.
Diese Differenz schließt jedoch eine Fülle von weiteren, sich ständig
verändernden Differenzen in sich; auch in der »Dritten Welt«
vermehrt sich der Reichtum einiger Individuen, die man dann als »Schicht«
bezeichnet, und vertieft sich die Armut von anderen, ohne daß an irgendeiner
Stelle Beständigkeit garantiert wäre. (Ebd., 1998, S. 679-680).Es
sind die Egalitätsideologen, die diesen Zustand grundsätzlich ändern
wollen, und zwar durch eine gleichmäßige Verteilung des Reichtums,
eine Verteilung, die in der Praxis nicht etwa nur von den wenigen Milliardären,
sondern von den großen Massen der »Ersten Welt« als Beraubung
verstanden werden würde und starke Abwehrkräfte hervorrufen müßte.
(Ebd., 1998, S. 680).Wir haben auch das Scheitern und die Tragödie
der Linken hervorgehoben: Jeder Erfolg, den sie errang, verkehrte sich in einen
Mißerfolg, denn es traten nur andersartige Ungleichhieten und Differenzen
an die Stelle der alten, und nichts war zwangsläufiger .... (Ebd.,
1998, S. 680).So haben wir der Linken und ihrer aktivistischen
Spitze, den Egalitätsideologen, die in früheren Zeiten als Prediger
der Errichtung des »Reiches Gottes« auf Erden auftraten, den Charakter
der »radikalen Reaktion« zugeschrieben .... (Ebd., 1998, S.
680).Sie (»die Linken«; HB) wären auch in der Gegenwart nur dann ohne Recht, wenn die geschichtliche
Realität von sich aus die Bewegungstendenz entwickelte, die »Fortschritt«
genannt wird. Keine gesellschaftliche Formation kommt dieser Selbstbewegung so
nahe wie das Liberale
System, ja auf der Stufe des liberistischen Individualismus scheint es ein
Synonym für Bewegung und Beweglichkeit schlechthin zu sein. .... Der okzidentale
Liberismus
der individuellen »Selbstverwirklichung« setzt den westlichen Reichtum
voraus und bewegt sich darin wie in seinem Element. Er wird sich der Forderung
der Egalitätsideologen nach dem Ausgleich der Reichtümer der Welt nicht
zu eigen machen .... (Ebd., 1998, S. 681).Der Okzident ist
bei allen Schwankungen der ökonomischen Situation reich genug, jedem der
zugehörigen Staatsbürger eine regelmäßige Grundsicherung
zu gewähren, die ihm eine Existenz auf bescheidenem Standard sichert. Alles,
was der Einzelne darüber hinaus zu haben wünscht und was in der Tat
auch die Grundsicherung erst möglich macht, muß er verdienen, indem
er sich den Gesetzen und möglicherweise den Launen des Marktes beugt. Damit
würde der rationale Kern des Kapitalismus, das effiziente und produktive
Wirtschaften, ebenso eine Erfüllung gefunden haben wie der rationale Kern
des Sozialismus, der Wille zur Befreiung aller Einzelnen von materieller Not und
der Macht individueller Unglücksfälle. (**).
(Ebd., 1998, S. 681).Aber eine solche Einrichtung würde nur
ein Symptom von kollektivem Egoismus sein, wenn sie den Rest der Welt aus den
Augen ließe und nicht einer großen Anstrengung fähig wäre,
um den Hunger so vieler Millionen von Menschen in der »Dritten Welt«
an ein Ende zu bringen, selbst wenn auch auf längere Frist keine adäquate
Gegenleistung erwartet werden könnte. (**).
(Ebd., 1998, S. 681).Es ist indessen unwahrscheinlich, daß
die Egalitätsideologen sich mit dieser Lösung zufriedengeben würden.
Und damit muß ich zu dem frühesten Ausgangspunkt meiner Studien zurückkehren.
Im Jahre 1917 machten die bolschewistischen Egalitätsideologen in Rußland
den Versuch, die kriegsgegnerische, staat- und klassenlose Gesellschaft der Nachgeschichte
gewaltsam herzustellen, obwohl schon damals kaum zu leugnen war, daß sogar
nach den eigenen Voraussetzungen die Verhältnisse nicht »reif«
waren. Daß ihrem Extremismus ein entgegengesetzter Extremismus in den Weg
trat, der aber viele Charakterzüge des Feindes übernommen hatte, war
in meinen Augen ein Grundfaktum der »Epoche des Faschismus«, so wenig
dem innenpolitischen Sieg Mussolinis und Hitlers »Notwendigkeit« zugeschrieben
werden konnte. (Ebd., 1998, S. 681-682).Es
ist mir sehr wahrscheinlich, daß Analoges eintreten wird, wenn neue Egalitätsideologen
jene Selbstbescheidung des Okzidents und die Neukonstituierung seines Selbst-
und Geschichtsbewußtseins als bloßes Strategem anklagen und einen
ernsthaften Versuch machen, ihre Konzeption von der einen und gleichartigen, nicht
mehr nach Kulturen und Individuen geschiedenen Menschheit mit verbaler oder physischer
Gewalt durchzusetzen. Der Epoche des Nationalfaschismus und des sowjetkommunistischen
Überstaates könnte eine Epoche des Kultur- bzw. Kontinentalfaschismus
folgen, der sich wohl auch und gerade im nicht-okzidentalen Teil der Welt durchsetzen
würde. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob der Erfolg oder das Scheitern
dieser neuartigen politischen Formation, die sicherlich auch einen neuen Namen
tragen würde, die schlimmere Katastrophe wäre. Die Menschheit würde
ganz in die Geschichte zurückkehren und sich von jener Grenzlinie wieder
entfernen, welche die »Nachgeschichte« von der »Geschichte«
trennt. (Ebd., 1998, S. 682).Aber damit
sind wir zu sehr in die Nähe einer politischen Wahrscheinlichkeitserwägung
oder gar Voraussage gelangt. Schon die Tatsache indessen, daß sie gemacht
werden kann, ist ein Hinweis darauf, daß sogar die Grenzlinie, jenseits
derer die Entwicklung zwangsläufig zu dem am Anfang dieses Buches skizzierten
Zustand zu führen scheint, noch längst nicht überschritten ist.
Alle historischen Existenzialien, die wir zum Thema gemacht haben und denen andere
an die Seite gestellt werden könnten, haben ... grundlegende Änderungen
erfahren, und einige, wie der Adel und der »große Krieg«, sind
nicht mehr wahrzunehmen. Aber selbst diese haben sich eher verwandelt, als daß
sie ganz verschwunden wären: Der große Krieg bleibt als dunkle Drohung
bestehen, und der Adel überlebt in gewisser Weise als Pluralität der
Eliten. (Ebd., 1998, S. 682).Der Umbruch ist indessen so
tief, daß ihm der gleiche Rang wie der »neolithischen Revolution«
zugeschrieben werden darf. In diesem engeren Sinne ist der Begriff »Nachgeschichte«
sinnvoll, um den am Ende des 20. Jahrhunderts anhebenden Zustand zu bezeichnen;
nicht anders, als der Begriff der »Vorgeschichte« sinnvoll ist, um
die Unterschiedlichkeit der Jahrhunderttausende vor der neolithischen Revolution
kenntlich zu machen. (Ebd., 1998, S. 682-683).Aber
andererseits geht diese »Nachgeschichte« aus einer Verdichtung und
Intensivierung der Geschichte hervor, die einige ihrer wichtigsten Charakterzüge
gerade deshalb abstreifen muß, um sich die Möglichkeit der Weiterentwicklung
nicht zu verbauen. In diesem Sinne bleibt die Nachgeschichte ein Teil der Geschichte,
ganz wie die Vorgeschichte nicht durch eine fundamentale Grenze von der Geschichte
abgetrennt war, da der qualitative Übergang vom Tier zum Menschen nach unserer
Begriffsbestimmung schon zu jenem ganz frühen Zeitpunkt eintrat, als irgendwo
Lebewesensich
zur Beerdigung der Leiche eines Sippenangehörigen versammelten und dabei
die Köpfe zur Sonne oder zum Mond erhoben, um in artikulierten Lauten oder
schweigenden Intentionen Bitten oder auch Dank zum Ausdruck zu bringen. (**|**|**). | Der
Mensch, so sagten wir, ist das zur Welt hin geöffnete, das transzendentale
Wesen. Als solches kann und muß er Geschichte haben, und in dieser, der
anthropologischen Geschichte, bleibt er, solange er existiert. Aber es ist zulässig,
einen engeren Begriff der Geschichte von diesem weitesten zu unterscheiden und
ihm sowohl Vor- wie Nachgeschichte entgegenzustellen, so daß es sinnvoll
ist, in dieser Bedeutung nach der historischen Existenz und deren Grundbestimmungen
zu fragen. (Ebd., 1998, S. 683).Im Umkreis
der Jahrtausendwende ist ein besonders günstiger Standort gegeben. Von hier
aus lassen sich im Rückblick die großen Kämpfe des 20. Jahrhunderts
besser und angemessener begreifen, wenn sie als die letzten Kämpfe der Geschichte
in dem engeren Sinne verstanden werden, und zwar als Kämpfe um die Geschichte,
die von den Protagonisten im Bewußtsein des Ungeheuerlichen des Umbruchs
gegen oder für »die historische Existenz« geführt wurden,
jedoch so, daß beide Seiten, jeweils mit ihrem Gegenteil behaftet, am Ende
scheiterten. (Ebd., 1998, S. 683).Im
Vorblick aber ist keinerlei Sicherheit zu gewinnen: Es mag sein, daß die
Menschheit, in Verfolgung der kurzfristigen Interessen der immer zahlreicheren
Individuen, am Ende nach Analogie von Naturvorgängen wie des Schicksals der
Ziegen auf der Insel Fernando Póo (**)
schließlich den Hungertod (besser den Erstickungstod) erleiden muß;
es mag sein, daß sie ganz im Gegenteil in weniger als einem Jahrtausend
buchstäblich ausstirbt, weil alle Individuen, nicht nur diejenigen des Okzidents,
die »Selbstverwirklichung« der Erfüllung von Gattungsaufgaben
vorzuziehen gelernt haben; es mag sein, daß die pragmatische Vernunft sich
als stark genug erweist, einer begrenzten Anzahl von Individuen und kulturellen
Identitäten ein freundschaftliches, wenngleich schwerlich konfliktfreies
Neben- und Miteinander unter strikter Ausschließung aller Vernichtungsforderungen
zu ermöglichen (**);
es mag sein, daß jene unterschiedslose Weltstadt aus puren Individuen Wirklichkeit
wird, die in Gestalt einiger Angehöriger oder sogar als ganze eines Tages
die Erde für die Dauer verläßt; ein Wissen von dieser Zukunft
ist uns verwehrt. (Ebd., 1998, S. 683-684).Aber wenn wir
einen noch weiteren Abstand zu gewinnen versuchen, läßt sich sagen:
Wie immer das letzte Schicksal der Menschheit aussehen mag - eines hat sie durch
ihre Geschichte unter Beweis gestellt: daß der Mensch ... um ein Unendliches
größer ist als der Mensch oder daß, mit Platonischen Begriffen,
der Geist weitaus mächtiger ist als der Körper und die Sinne, so viel
mächtiger, daß er sich als rechnender Verstand sogar in Apparaten vom
Körper unabhängig machen kann. (Ebd., 1998, S. 684).Gerade
deshalb besteht die höchste und wünschenswerteste Möglichkeit darin,
daß der Mensch eines Tages das Schicksal seiner Körperlichkeit und
damit seiner Endlichkeit und seines Todes bewußt und willentlich bejaht,
weil er nur dann im Vollzug seiner praktischen Transzendenz sich nicht zersprengen
muß - und sei es dadurch, daß er als leere und gleichgültige
Hülse auf der Erde zurückbliebe - und sich den ersten Anfang seiner
Geschichte von neuern anzueignen vermag, nämlich die theoretische Transzendenz,
die ihm die Selbstvergewisserung als Mensch ermöglicht und die über
alle Weltraumfahrzeuge und Sternnebel gerade deshalb hinausreicht, weil sie an
ein körperliches, hinfälliges und sterbliches Wesen gebunden ist. Wenn
er ... »wie Gott« geworden zu sein scheint, wird ihm am stärksten
bewußt, daß er nur ein um Gott ringendes oder ein vor dem Nichts verzweifelndes,
weil auf das Ganze der Welt geöffnetes und die Welt gerade nicht beherrschendes
Wesen zu sein vermag. (Ebd., 1998, S. 684). |