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Martin Heidegger
(1889-1976)

Lob, Kritik, Skepsis.

- Seiten -
„Brief über den Humanismus“ (Auszug aus: „Wegmarken“)
„Das alltägliche Selbstsein und das Man“ (Auszug aus: „Sein und Zeit“)
„Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille “ (Auszug aus: „Nietzsche II“)
„Hegel und die Griechen“ (Auszug aus: „Wegmarken“)
„Nietzsches Wort »Gott ist tot“ (Auszug aus: „Holzwege“)
Spengler, Heidegger, Jünger
Verweise
Verweise zu den bedeutendsten Zitaten u.a.
Werke-Verzeichnis
Zitate in Aphorismusform
Einleitung
Biographie (einschließlich Lebenslauf-Tabelle)
 
Erläuterung der Lebenslauf-Tabelle
Vier Generationen
Der letzte Brief an Elfride vom 10.04.1970 und die Zeit danach
Begriffsbestimmungen:
Das „Sein“
Das „In-der-Welt-Sein“
Zwei Denkwege im Rahmen der Seinsfrage:
Erster Denkweg im Rahmen der Seinsfrage
•  Zweiter Denkweg im Rahmen der Seinsfrage
Ausgewählte Bereiche:
Sprache (Sage, Rede, Gespräch, Zeige usw.)
Raum und Zeit
Geschichte und Historie
Phänomenologie und Hermeneutik
Anthropologie/Anthropologismus und Psychologie/Psychologismus
Wissenschaft und Technik
Humanismus
Auszüge aus Sloterdijks „Rede über Heideggers Denken in der Bewegung“:
„Absturz und Kehre“
Anmerkungen

 

NACH OBEN Einleitung.

Martin Heidegger gilt (neben Hermann F.-H. Schmitz [**]) als der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts, und das zu Recht. Zusätzlich ist er als der erste Chirotopologe der Menschheitsgeschichte und der erste Ökosoph der Menschheitsgeschichte zu bezeichnen, ja auszuzeichnen. Im Gegensatz zu allen heutigen Philosophen, Wissenschaftlern Theoretikern und Parktikern, die sich mit dem Thema Existenz bei allernächster, nächster und nicht mehr so naher Umwelt beschäftigen, war er der einzige, der es sehr gründlich und ernsthaft durchdachte und dabei ehrlich blieb. Heidegger hat sich nie vor den Karren der Ökobewegung spannen lassen (wenn man von der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei einmal absieht, denn die war ja auch eine Ökobewegung). „Ich habe ... schon früh in Heidegger den eigentlichen Begründer der »grünen« Bewegung gesehen, denn er war ja zumindest auch ein Philosoph des Umweltschutzes oder der Umweltbewahrung“ (**) , so der Heidegger-Schüler Ernst Nolte und auch Peter Sloterdijk, denn für ihn ist Heidegger als „der erste Chirotopologe“ (**) auch „der erste Ökologe“ (**) bzw. „der erste Ökosoph“ (**). Er hat explizit gemacht: „Weil die Menscheninsel (**) ein Chirotop ist, wo kluge Hände mit Zeug (**) zurechtkommen, sind die Insulaner manipulative Realisten und luxurierende Treibhausgeschöpfe zugleich.“ (**). Logisch: aktiv sind sie Belastende und Entlastende, passiv sind sie Belastete und Entlastete. „Auf der einen Seite bewähren sie sich als werkzeugbewehrte Überlebenskämpfer, erfolgsbewußte Kooperateure, listige Plänemacher; auf der anderen sind sie für immer entwaffnete Nestbewohner, zitternde Ekstatiker, erwachsene Föten, die in die Weltnacht horchen und Götterbesuch empfangen.“ (**). Sloterdijks 1. Chirotopologe und 1. Ökologe bzw. 1. Ökosoph Heidegger kann deswegen zugleich auch als „der größte Denker Alteuropas“ (**) gelten, weil er die Tradition, den Bruch und als Synthesis auch die Rettung so sehr in sein „riesenhaftes Werk“ (**) integrierte, daß nach ihm diesbezüglich fast nichts mehr zu sagen übrig bleibt. Man muß sich mit Heidegger auseinandersetzen - ob man will oder nicht, ist egal, denn man kommt an ihm nicht vorbei. Und: Eine Welt ohne Wohner wäre eine Welt ohne Schoner, eine Welt ohne Bauern und Techniker wäre wie eine Welt ohne Bodenbau und Überbau, ohne Leben und Überleben.

 

•   Biographisches   •

NACH OBEN Biographie.

Lebenslauf mit Tabelle dazu
Erläuterung der Lebenslauf-Tabelle
Vier Generationen
Der letzte Brief an Elfride vom 10.04.1970 und die Zeit danach

‹—  Martin Heidegger (1889-1976) Martin Heidegger Erläuterung  —›
1. Stadium („Winter“) 2. Stadium („Frühling“) 3. Stadium („Sommer“) 4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Heideggers
„Vor-/Urphilosophie“
Frühdenken: Heideggers
„Frühphilosophie“
Hochdenken: Heideggers
„Hochphilosophie“
Spätdenken: Heideggers
„Spätphilosophie“
(Dauer: 20 Jahre) (Dauer: 18 Jahre) (Dauer: 18 Jahre) (Dauer: 31 Jahre) *
1889 bis 1909 1909 bis 1927 1927 bis 1945 1945 bis 1976 *
Geburt
(26.09.)
„SEIN UND ZEIT“ Tod  
(26.05.)
Übergang
    Schule / Studium
| Verbindung
nach Frankreich
Frühe
Kindheit
Grund-
schule
Bürgeschule
und Gymnasium
1909
- 1913
1913
- 1919
1919
- 1927
1927
- 1933
1933
- 1939
1939
- 1945
1945
- 1949
1949
- 1951
1951
- 1976 *
Erläuterung Erläuterung
* 6 Jahre „Winter“ (1965-1976)
(5. Stadium)

Heideggers Geburtshaus
Martin Heidegger wurde am 26.09.1889 in Meßkirch geboren, war als Kind auch ein Läuterbub der dortigen katholischen Kirche, besuchte das Gymnasium in Konstanz, wo er im katholischen Internat (Konradihaus) wohnte, und in Freiburg, hier im erzbischöflichen Konvikt.
Martin Heidegger Martin Heidegger Martin Heidegger Martin Heidegger Martin Heidegger Martin Heidegger
1909 begann er mit dem Studium der Theologie und Philosophie in Freiburg, brach 1911 die Priesterausbildung ab, studierte weiterhin Philosophie sowie Geistes- und Naturwissenschaften in Freiburg. Heidegger promovierte 1913 mit der Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus (**) und habilitierte sich 1915 mit der Arbeit Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (**). Das Habilitationsverfahren endete am 27. Juli 1915 mit der Probevorlesung über den Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft (**). Von nun an war er Privatdozent (bis 1923). Im Dezember 1915 lernte er in seinem Seminar Prolegomena Elfride Petri (1893-1992) kennen, mit der er sich im März 1916 heimlich, im August 1916 (auf der Insel Reichenau) offiziell verlobte, im März 1917 vermählte (20. März: Kriegstrauung im Standesamt Freiburg; 21. März: Katholische Trauung in der Universitätskapelle im Freiburger Münster ohne Eltern; 25. März: Evangelische Trauung in Wiesbaden mit Hochzeitsfeier ohne Brautvater und ohne Bräutigameltern). Am 1. Januar 1919 wurde er Husserls Privatassistent. Während seiner in der Eigenschaft als Husserls Privatassistent ersten Vorlesung (Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem [**]) vollzog er den endgültigen Bruch mit dem Katholizismus. Schon am 9. Januar 1919 schrieb er seinem Freund aus katholischen Tagen, Engelbert Krebs, der inzwischen Professor für katholische Dogmatik in Freiburg geworden war:
„Die vergangenen zwei Jahre, in denen ich mich um prinzipielle Klärung meiner philosophischen Stellungnahme mühte ..., haben mich zu Resultaten geführt, für die ich, in einer außerphilosophischen Bindung stehend, nicht die Freiheit der Überzeugung und der Lehre gewährleistet haben könnte. Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie des geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht - nicht aber das Christentum und die Metaphysik, diese allerdings in einem neuen Sinne. Ich glaube zu stark ... empfunden zu haben, was das katholische Mittelalter an Werten in sich trägt. .... Meine religionsphänomenologischen Untersuchungen, die das Mittelalter stark heranziehen werden, sollen ... Zeugnis davon ablegen, daß ich mich durch eine Umbildung meiner prinzipiellen Standpunkte nicht habe dazu treiben lassen, das objektive vornehme Urteil und die Hochschätzung der katholischen Lebenswelt einer verärgerten und wüsten Apostatenpolemik hintanzusetzen. .... Es ist schwer zu leben als Philosoph - die innere Wahrhaftigkeit sich selber gegenüber und mit Bezug auf die, für die man Lehrer sein soll, verlangt Opfer und Verzichte und Kämpfe, die dem wissenschaftlichen Handwerker immer fremd bleiben. Ich glaube, den inneren Beruf zur Philosophie zu haben und durch seine Erfüllung in Forschung und Lehre für die ewige Bestimmung des inneren Menschen - und nur dafür das in meinen Kräften Stehende zu leisten und so mein Dasein und Wirken selbst vor Gott zu rechtfertigen.“
Martin und Elfride Heidegger
Am 21. Januar 1919 wurde Heideggers Sohn Jörg, am 20. August 1920 sein Stiefsohn Hermann geboren, ein Kind aus einer Beziehung von Elfride und dem Arzt Friedrich Caesar.
Hütte im Schwarzwald
Die Hütte nahe Todtnauberg im Schwarzwald wurde 1922 gebaut und bezogen. Im selben Jahr erregten Heideggers Aristoteles-Interpretationen (vgl. Heideggers Werk Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles, 1923) großes Aufsehen in Marburg. Seine 1923 vollzogene Hinwendung zu Kant und der sogenannte „Natorp-Bericht“, adressiert an den renommierten Marburger Neukantianer Paul Nartop, in dem Heidegger seine Frühphilosophie und die Klärung der „hermeneutischen Situation der Zeit“ in eine vorläufige Letztfassung brachte, waren es denn auch, die zu seiner Berufung nach Marburg und zu einem vielbeachteten Zeugnis seines Denkaufbuchs führten: Er wurde 1923 ordenlicher Professor ad personam auf dem außerordenlichen Lehrstuhl für Philosophie der Universität Marburg. Zu dieser Zeit begründete Heideggers Ontologie-Vorlesung seinen Ruf als „heimlicher König der Philosophie“. Am 2. Mai 1924 starb sein Vater, Heinrich Heidegger (1851-1924), am 3. Mai 1927 seine Mutter, Johanna Heidegger, geborene Kempf (1858-1927). Nachdem Nicolai Hartmann 1925 eine Berufung nach Köln angenommen hatte, dadurch sein ordentlicher Lehrstuhl für Philosophie in Marburg frei geworden war, Heidegger für die Nachfoge Hartmanns vorgeschlagen worden war, das Ministerium in Berlin diese aber abgelehnt hatte, weil für sie »große literarische Leistungen“ (Minister Becker) Heideggers noch ausgeblieben waren (**), der sich auf diesen ordentlichen Lehrstuhl Hoffnungen machende Heidegger also Grund hatte, sich zumindest in dieser Hinsicht unter Druck zu sehen (trotz seiner diesbezüglich eher entgegengesetzten Aussagen [**]), erschien im Frühjahr 1927 das Werk Sein und Zeit, das sich als Heideggers Hauptwerk herausstellen sollte, in dem von Husserl herausgegebenen Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung (Band VIII), wodurch das Ministerium in Berlin überzeugt wurde und der Noch-Außerordentliche Heidegger den ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie in Marburg erhielt. Und schon ein Jahr später, 1928, erfolgte die Berufung an den ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg sowie der Einzug (20. Oktober) in das nach sechs Monaten Bauzeit bezugsfertige eigene Haus in Freiburg-Zähringen (Rötebuckweg 47).
Haus in Freiburg
Während der Davoser Hochschulkurse im Frühling 1929, bei denen das Thema „Kant und das Problem der Metaphysik“ im Mittelpunkt stand, kam es zu einem Streitgespräch zwischen Heidegger und Ernst Cassirer, der kurz danach das Rektorat der Universität Hamburg übernahm (der erste Jude als Rektor einer deutschen Universität). Am 24. Juli 1929 hielt Heidegger seine Antrittsvorlesung in Freiburg unter dem Titel: „Was ist Metaphysik?“. Im Wintersemester 1929/’30 hielt er die bekannte Vorlesung über die „Grundbegriffe der Metaphysik“, die später von so manchem Interpreten als ein „zweites Hauptwerk“ (**) bezeichnet werden sollte.
Universität Freiburg
1930 lehnte Heidegger den Ruf nach Berlin ab (1. Ablehnung). Das Jahr 1930 sollte später von nicht wenigen Deutern als der Beginn von Heideggers Spätwerk angesehen werden, weil Heidegger in der 1930er Schrift „Vom Wesen der Wahrheit“ nicht mehr wie vorher das Dasein als konstituierenden Ort der Wahrheit betrachtete, sondern ein Seinsverständnis vertrat, außerdem die wachsende Heimatlosigkeit des moderenen Menschen in der Seinsvergessenheit zum Ausdruck brachte. Am 21. April 1933 wurde Heidegger zum Rektor der Universität Freiburg gewählt. Am 3. Mai 1933 trat er der NSDAP bei (rückdatiert auf den 1. Mai 1933), von der er den „Neubeginn des deutschen Schicksals“ erwartetete und am 27. Mai 1933 für seine Antrittsrede einen zu dieser Erwartung passenden Titel wählte: „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“. In dieser Rede zog er Parallelen zwischen dem Dienst des Gelehrten am Wissen, dem Dienst des Soldaten im Heer und dem Dienst des Arbeiters in der Produktionsstätte. Den zweiten Ruf nach Berlin lehnte er im Oktober 1933 ab (2. Ablehnung), kurz danach auch einen Ruf nach München. Im April 1934 erfolgte Heideggers Rücktritt vom Rektorat wegen der Differenzen mit den Regierungs- und Parteistellen und der Fakultät und nicht zuletzt deswegen eine erneute völlige Hinwendung zur Philosophie sowie die Ausarbeitung von Plänen für eine Dozentenakademie in Berlin. Der Kontakt zu Karl Jaspers, den Heidegger 1933 zum letzten Mal besucht hatte, wurde 1936 auch auf der Briefebene beendet. Seit 1936 setzte sich Heidegger in mehreren Nietzsche-Vorlesungen kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinander, was der Regierung nicht entgehen konnte, weshalb sie veranlaßte, ihn von der Gestapo überwachen zu lassen. 1936 begann auch seine Ausarbeitung der „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“, die 1938 abgeschlossen wurde; diese erst sehr viel später als Buch veröffentlichten „Beiträge“ sollten später oft als sein „zweites Hauptwerk“ (**) bezeichnet werden (vgl. dazu: die im Wintersemester 1929’30 gehaltene Vorlesung „Grundbegriffe der Metaphysik“, die auch sehr viel später als sein „zweites Hauptwerk“ bezeichnet werden sollte). Im November 1944 wurde Heidegger zum Volkssturm eingezogen.
„Mao Tse ist das Gestell von Lao Tse.“
(Fritz Heidegger [Martins Bruder]).
1945 erhielt er Lehrverbot. Es wurde nach vier Jahren, 1949, aufgehoben. 1950 erfolgte die Pensionierung, 1951 die Emeritierung, 1955 die erste Reise nach Frankreich, 1957 die Aufnahme in die Heidelberger Akademie der Wissenschaft und in die Berliner Akademie der Künste, 1959 die Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Meßkirch. Die Zusammenarbeit mit dem Psychiater Mesard Boss begann 1959 (vgl. die „Zollikoner Seminare“, 1959-1969). Seine seit einiger Zeit bereits geplante Reise nach Griechenland, die er bislang stets aufgeschoben hatte, erfüllte sich Heidegger erstmals 1962 (drei weitere Reisen sollten noch folgen: 1964, 1966, 1967). Am 26. Mai 1976 starb Martin Heidegger. Zwei Tage später wurde er in seinem Geburtsort Meßkirch beerdigt (**).

Heideggers Geburtshaus

In Heideggers philosophischem Werdegang sehen manche einen Weg von der „Entschlossenheit“ zur „Gelassenheit“, andere einen Weg von der Fundamentalontotogie bzw. Daseinsanalyse zur Seinsgeschichte, wieder andere in Heidegger selbst ein Getrennt(worden)-Sein in „Heidegger I“ und „Heidegger II“ - in all diesen Fällen wird darum oft auch eine persönliche „Kehre“ Heideggers angenommen, obwohl diese Kehre nach Heideggers eigenem Bekunden eher sachlich als persönlich zu verstehen ist (**). Ich jedenfalls deute Heideggers Hauptwerk als den Höhepunkt seiner Philosophie bzw. seines Denkens, und zwar trotz der Möglichkeit, daß es während dieser Entwicklung auch eine Kehre gegeben haben kann, z.B. ausgelöst durch entweder jene im Wintersemester 1929/’30 gehaltene Vorlesung „Grundbegriffe der Metaphysik“ (Heideggers „zweites Hauptwerk“? **) oder aber jene von 1936 bis 1938 enstandenen „Beiträge zur Philosophie“ (Heideggers „zweites Hauptwerk“? **). Es ist auch schwierig zu entscheiden, ob man sich bei der Beurteilung über diese Entwicklung mehr auf die Person als auf die Sache oder mehr auf die Sache als auf die Person beziehen soll, zumal man hierbei mit Kausalität oft gar nicht weiterkommt, denn die Person war ja schon da, als die Sache ihr begegnete, und die Sache war ja schon da, als die Person ihr begegnete. - Heideggerianisch war diese Aussage?

Zur Frage, ob das Hauptwerk (Sein und Zeit) aus einem Werk oder mehreren Werken besteht Zur Frage eines zweiten Hauptwerks
Nur ein Werk Zwei Werke Drei Werke Nur ein Hauptwerk Zwei Hauptwerke
Sein und Zeit *
1) Sein und Zeit
2) entweder (a) Kant und das Problem der Metaphysik
oder (b) Die Grundbegriffe der Metaphysik.
Welt - Endlichkeit - Einsamkeit
1) Sein und Zeit
2) Kant und das Problem der Metaphysik
3) Die Grundbegriffe der Metaphysik.
Welt - Endlichkeit - Einsamkeit
Sein und Zeit * 1) Sein und Zeit
2) Beiträge zur Philosophie
(Vom Ereignis)
* Ein Teil (Buch) - ursprünglich beabsichtigt waren zwei Teile (Bücher). Der 1.Teil (das bekannte 1. Buch, 1927) ist unabgeschlossen geblieben, weil der dritte Abschnitt fehlt,
jedoch können Grundzüge und Ansätze dazu aus anderen Veröffentlichungen ersehen werden (vgl. z.B. Die Grundprobleme der Phänomenologie, 1927, und Metaphysische
Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz
, 1928). Der 2. Teil (das 2. Buch) fehlt ganz, obwohl die Titel seiner drei Abschnitte im 1. Teil (1. Buch) angekündigt sind.
Was die Frage nach Heideggers Hauptwerk (Sein und Zeit) und der Möglichkeit eines zweiten Hauptwerkes angeht, so möchte ich anmerken, daß (a) das 1929 erschienene Kant-Buch (Kant und das Problem der Metaphysik) und die als Buch veröffentlichte Vorlesung vom Wintersemester 1929/’30 (Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit) das Hauptwerk ergänzen, dem ja sein zweiter Teil („die zweite Hälfte“, so Heidegger in der Vorbemerkung von Sein und Zeit) fehlt und eventuell auch ein dritter Teil hinzugefügt werden darf, und daß (b) das 1936 bis 1938 erstellte Beiträge-Buch (Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis)) durchaus als ein zweites Hauptwerk angesehen werden kann. Im Grunde genommmen ist es aber nicht besonders wichtig, eine derartige Zuordnung und Bewertung vorzunehmen. Auch die Frage nach einer persönlichen Kehre (**) oder nach dem Entschlossenheits-Heidegger und dem Gelassenheits-Heidegger oder gar nach „Heidegger I“ und „Heidegger II“ erachte ich als nicht besonders wichtig. Trotzdem bleibt festzuhalten: Sein und Zeit ist ein Fragment geblieben; als Buch präsentiert sich das Werk, im Anschluß an die Prolegomena der Einleitung, in zwei Abschnitten zu jeweils sechs Kapiteln; gemäß dem Aufriß der Abhandlung (§ 8) ist aber ein dritter Abschnitt vorgesehen: Zeit und Sein, der in die Version des zügig abzuschließenden Buches jedoch nicht einging; die Vermutung ist plausibel, daß in der im Sommersemester 1927 gehaltenen Vorlesung mit dem Titel Die Grundprobleme der Phänomenologie und in der letzten Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1928 mit dem Titel Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz Grundzüge dieses dritten Abschnitts und Ansätze zu dieser Fortsetzung entwickelt worden sind, dessen Ausarbeitung Heidegger aber wohl nicht als ausreichend erschienen ist, wie seine späteren Auseinandersetzungen mit dem eigenen Hauptwerk zeigen. Auch dem angekündigten zweiten Teil (zweiten Buch) von Sein und Zeit, der sich auch wieder dreifach (d.h. in drei Abschnitten) hätte gliedern sollen, ist vereinzelt in Vorlesungen und Abhandlungen mitgeteilt worden. In der Übersicht (**) hat Heidegger keine systematische Leitfrage genannt, sondern lediglich die denkgeschichtlichen Orte, um die sich dieser zweite Teil gruppieren soll:
1. Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufe einer Problematik der Temporalität.
2. Das ontologische Fundament des »cogito sum« Descartes’ und die Übernahme der mittelalterlichen Ontologie in die Problematik des »res cogitans«.
3. Die Abhandlung des Aristoteles über die Zeit als Diskrimen der phänomenalen Basis der Grenzen der antiken Ontologie.“ **
Weitere Spuren zum zweiten Teil, der als ein Buch leider nie erschienen ist, gibt es in Heideggers anderen Werken.


Biographie Erläuterung der Lebenslauf-Tabelle (**).

Es geht bei der Lebenslauf-Tabelle und ihrer Erläuterung auch um eine Bewertung, ja, aber bei dieser Bewertung geht es nicht in erster Linie, sondern nur in zweiter Linie um die Werke, denn in erster Linie geht es um Heideggers Biographie, besonders um dessen Denk-Biographie.

Denk-Biographie von Martin Heidegger (1889-1976 Martin Heidegger (1889-1976)):
1. „Stadium“ („Winter“ - 1889-1909) und seine 3 „Stufen“: Heideggers frühe Kindheit (1. Stufe); Grundschulzeit (2. Stufe); Bürgerschul- und Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang von der Schule zur Universität (1909).
2. „Stadium“ („Frühling“ - 1909-1927) und seine 3 „Stufen“: Heideggers Studienzeit von 1909 bis 1913 (4. Stufe); die Zeit von der Promotion bis zum Bruch mit dem Katholizismus, also die Zeit von 1913 bis 1919 (5. Stufe); die folgenden 8 Jahre bis zur Veröffentlichung seines Hauptwerkes Sein und Zeit, also die Zeit von 1919 bis 1927 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ - 1927-1945) und seine 3 „Stufen“: Heideggers veröffentlichtes Hauptwerk Sein und Zeit und die Folgen bis zum Beginn des Rektorats, also die Zeit von 1927 bis 1933 (7. Stufe); die Zeit vom Beginn des Rektorats bis zum Beginn des 2. Weltkriegs, also die Zeit von 1933 bis 1939 (8. Stufe); die Zeit des 2. Weltkriegs, also die Zeit von 1939 bis 1945 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ - 1945-1970 [1976]) und seine 3 „Stufen“: Heideggers Zeit zwischen dem Ende des 2. Weltkriegs und dem Ende seines Lehrverbot de jure, also die Zeit von 1945 bis 1949 (10. Stufe); die Zeit von dem Ende seines Lehrverbots de jure bis zum Ende seines Lehrverbots de facto (bei gleichzeitiger Emeritierung) und damit zur Wiederzulassung seiner Vorlesungstätigkeit an der Universität, also die Zeit von 1949 bis 1951 (11. Stufe); die Zeit von der Wiederzulassung seiner Vorlesungstätigkeit an der Universität bis zu seinem Schlaganfall in Augsburg (Martin Heideggers Schlaganfall in Augsburg im April 1970Martin Heideggers Schlaganfall in Augsburg im April 1970), es ist die Zeit, in der Heidegger noch einmal eine weitere große und letzte Karriere erlebte (schließlich wohl auch seine zweite Geburt, die man als seine denkerische Geburt, sein Zur-Welt-Kommen bezeichnen darf!), also die Zeit von 1951 bis 1970 bzw. 1976 (12. Stufe).
5. „Stadium“ („Winter“ - 1970-1976), wenn man es berücksichtigen will, betrifft die Zeit von 1970 bis 1976 (13. Stufe) - eine Zeit, die mit Heideggers Schlaganfall in Augsburg im April 1970 (Martin Heideggers Schlaganfall in Augsburg im April 1970Martin Heideggers Schlaganfall in Augsburg im April 1970) begann, der das von seiner Frau Elfride so lange herbeigesehnte Ende der von ihr oftmals - und wohl auch mit Recht (!) - empfundenen Trennungen bewirkte. Diese Zeit ist vielleicht die Zeit der dritten Geburt (die Zeit nach jener zweiten Geburt [seine Denkergeburt, sein Zur-Welt-Kommen] die Heidegger wohl tatsächlich auch erlebt hat), ist aber jedenfalls die Zeit, in der Martin und Elfride Heidegger wieder so zusammen waren, als wären sie wieder am 1915 erfolgten Anfang ihrer Beziehung. „Am 26. Mai wacht er morgens nicht mehr auf. In der darauffolgenden Nacht schläft Elfride ein letztes Mal im Ehebett an der Seite ihres toten Mannes.“ (Gertrud Heidegger, „Mein liebes Seelchen“ - Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 381Gertrud Heidegger, a.a.O.).

Philosophische Schwerpunkte und Wirkung Heideggers.

Heidegger

Heideggers Hinwendung zur Phänomenologie begann um 1913 oder gar spätestens 1913, als er mit seiner gegen den Psychologismus gerichteten Dissertation (**|**) promovierte, d.h. lange vor seiner Zeit als Husserls Privatassistent, der er zum 1. Januar 1919 wurde. Als Heidegger 1923 ordentlicher Professor ad personam auf dem außerordentlichen Lehrstuhl für Philosophie der Universität Marburg - seinerzeit eine Hochburg des Neukantianismus („Marburger Schule“) - wurde, begann er sich Kants Philosophie zuzuwenden, bezog diese dann in seine eigene Philosophie ein, die spätestens 1927 als Fundamentalontologie bekannt wurde, und widmete im unmittelbaren Anschluß an sein 1927 erschienenes Hauptwerk „Sein und Zeit“ der Kantischen Philosophie erneut große Aufmerksamkeit - an dem 1929 erschienen Kantbuch („Kant und das Problem der Metaphysik“) besonders deutlich erkennbar. 1930 begann Heidegger, wie zuerst an der Schrift „Vom Wesen der Wahrheit“ zu erkennen, seine Orientierung an der Seins- bzw. Seynsgeschichte. Dies bedeutete einen Wechsel des konstituierenden „Ortes“ der Wahrheit vom Dasein selbst zum metaphyischen Seinsverständnis mit der Hervorhebung der geschichtlichen Tatsache der wachsenden Heimatlosigkeit des modernen Menschen in der „Seinsvergessenheit«. - Die drei Schwerpunkte Phänomenologie, Fundamentalontologie (Daseinsanalyse), Seins- bzw. Seynsgeschichte haben Heideggers Philosophie bzw. Denken nie verlassen, sind also auch seinem vierten Schwerpunkt, den ich hier Spätdenken genannt habe, und folglich bis an Heideggers Lebensende treu geblieben - so wie er ihnen.


Biographie Vier Generationen.

1 Friedrich Heidegger
(1851-1924)
°° Johanna, geb. Kempf
(1858-1927)
1
2 Martin
(1889-1976)
°° Elfride, geb. Petri
(1893-1992)
Maria
(1891-1956)
°° Rudolf Oschwald
(1890-1957)
Fritz
(1894-1980)
°° Elisabeth, geb. Walter
(1890-1957)
2
3 Jörg
(1919-2019)
°° 1. Dorothee, geb. Kurrer
(1917-2003)
°° 2. Hedi, geb. Veidt
(1928-2020)
Hermann
(aus der Verbindung von Elfride und Friedrich Cesar)
(1920-2020)
°° Jutta, geb. Stölting
(1929-2020)
Erika, geb. Birle
(Pflegetochter seit 1935)
(1921-2005)
°° Wilhelm Deyhle
(1914-1991)
Clothild, geb. Oschwald
(* 1923)
°° Heinrich Rapp
(1923-1972)
Thomas
(1926-2013)
°° Gertrud, geb. Herre
(*1938)
Heinrich
(1928-2021)
Franz
(1929-1955)
3
4 Gertrud
(* 1955)
Friederike
(* 1956)
Burghard
(* 1959)
Imke
(* 1966)
Dorle
(* 1968)
Ulrike
(* 1955)
Almuth
(* 1957)
Detlev
(* 1960)
Dietrich
(* 1960)
Arnulf
(* 1968)
Martin
(* 1945)
Ursula
(* 1946)
Christoph
(* 1948)
Johannes
(* 1955)
Andreas
(* 1953)
Susanne
(* 1956)
Stephan
(* 1959)
3 Kinder 4


Biographie Der letzte Brief an Elfride vom 10.04.1970 und die Zeit danach.

Brief Martins vom 10.04.1970 an seine Frau Elfride: Erinnerungen:
Brief

„»München, 10.IV.70             

M. lb. S.

Alles ging gut, die Reise und der Aufenthalt in Rotsee
Nur ein heftiges Rheuma in Rotsee geschnappt - im
rechten Handgelenk. Aber es wird schon besser.
20 cm. Neuschnee am Morgen des 9. April.
Ich wohne in Pension Gräfin Harrach - ganz ruhig.
Heute Ruhetag. Morgen Heisenberg und Georgiades
Son[n]tag Weizsäcker, der gerade umzieht
Montag Meßkirch.
Das Gelenk sehr schmerzhaft
Rheumasan schon gekauft u. eingerieben.
Ina Seidel war auch da; u. sehr dankbar
Sonst geht es mir sehr gut.
Alles Liebe.
D w. M.
Preetorius schwer krank«

 

Von Elfride angefügt:
»letzter Brief (vor Augsburg)
der Zusammenbruch dort
brachte endgültig alles ans Licht  –
seitdem waren wir nicht mehr getrennt.«

Martin und Elfride HeideggerMartin und Elfride HeideggerMartin und Elfride Heidegger
Martin und Elfride HeideggerMartin und Elfride HeideggerMartin Heidegger
Elfride Heidegger, geb. PetriElfride Heidegger, geb. Petri

Heideggers Geburtshaus
In Augsburg, wo Martin ein Rendezvous hat, erleidet er einen Schlaganfall, dessen Folgen eine Halbseitenlähmung rechts und Sprachausfall sind. Mit dem Krankenwagen wird er nach Freiburg gebracht und von Elfride im Rötebuck-Haus gesund gepflegt. Er erholt sich vollständig; nur seine Handschrift bleibt verändert.
....
Anfang September 1971 beziehen Elfride und Martin den Alterswohnsitz im hinteren Garten des Rötebuck-Hauses. Bis zu Martins Tod sind sie nur noch selten und kurz getrennt. Es sind keine weiteren Briefe von Martin an Elfride vorhanden.
Im Frühjahr 1976 verschlechtert sich Martins Gesundheitszustand und er weiß um seinen bevorstehenden Tod. Am 26. Mai wacht er morgens nicht mehr auf. In der darauffolgenden Nacht schläft Elfride ein letztes Mal im Ehebett an der Seite ihres toten Mannes.
Am 28. Mai wird Martin in Meßkirch neben seinen Eltern und seiner Schwägerin Liesel beerdigt.
Elfride stirbt am 21. März 1992. Drei Tage später wird sie neben ihrem Mann in Meßkirch bestattet.“
(Gertrud Heidegger, „Mein liebes Seelchen“ - Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 379-381).

 

•   Begriffsbestimmungen  •

Das „Sein“. **

Heidegger ging es zeitlebens um die Frage nach dem Sein.

Das Sein, dem diese eine durchgehende Frage seines Denkens gilt, ist von Heidegger in unterschiedlichen Modifizierungen (oft als: „Als“-Modifizierungen) durchdacht und besprochen worden. Zunächst bezieht sich die Seinsfrage auf das altgriechische „on he on“, das „Sein als Sein“, das aus den verschiedenen Weisen, vom Sein zu sprechen, durch Auslegung herauszudifferenzieren ist. Diese Deutungsweise ist von Heidegger existenzial-ontologisch „als Herausarbeitung der Temporalität des Seins“ aufgefaßt worden. Hier geht es also um die Freilegung der Grundstrukturen des Seins des Daseins (d.h. des Menschen), do daß das „on he on“ auf dessen Seinsverständnis zielt. Die Grundzüge der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem sind schon im 1927 veröffentlichten Werk »Sein und Zeit“ deutlich herausgestellt worden. Daher ist die ontologische Differenz eine metaphysische Grundtatsache von den Anfängen des Seinsgeschehens her. Heidegger zufolge ist diesbezüglich die höchste und zum Grund aller Geschichte werdende Entscheidung die zwischen der „Vormacht des Seienden und der Herrschaft des Seins“. Gemäß unterschiedlicher hermeneutisch-ontologischer „Als“-Aussagen sind vor diesem Fragehorizont einzelne verkürzende Seinsauslegungen zur Abhebung zu bringen:
Sein als Anwesenheit (ousia, parousia) bezeichnet das nach Heideggers Verständnis grundlegende Seinsverständnis der griechischen Ontologie. Es verbindet so verschiedene Konzeptionen wie die platonische Ideenlehre und die aristotelische Substanzlehre. Sein als Geschaffenheit bezeichnet die mittelalterliche Ontologie und ihre Fixierung auf das „ens creatum“; wo, wie in der frühneuzeitlichen klassischen Ontologie, das Seinsverständnis auf das innerweltliche Seiende bezogen ist, dominiert die Konzeption des „res“. „Das Sein erhält den Sinn von Realität“ bis hin zum Inbegriff des höchsten Seienden als „Allheit der Realität“ (omnitudo realitatis). Dies wird in der epochenübergreifenden Diagnose noch verstärkt. Heidegger zufolge verstand die Ontologie bislang „das Sein primär im Sinne von Vorhandenheit“. Diese vereinfachende - z.B. der platonischen Ideenlehre nicht gerecht werdende Konzeption - zeigt an, daß Heidegger mit der Ontologie des Seins des Daseins eine Einsicht ans Licht hat heben wollen, die in der abendländischen Metaphysik (d.h. für Heidegger seit Platon) unthematisch geblieben ist.
Sein gehört wesentlich in den Sinnzusammenhang des Entbergens. Zugleich bleibt es aber in seinem Grund verborgen. Deshalb „liegt es am Wesen des Seins, das als das Sichentbergen sich so entbirgt, daß zu diesem Entbergen ein Sichverbergen und d.h. Sichentziehen gehört“. Damit verbindet sich die Grundeinsicht (oder doch nur Vermutung?), daß Sein nicht „ist“, sondern daß es Sein nur gibt, daß es sich selbst gibt. So ist aber auch eine sehr enge Verbindung zwischen Sein und Wahrheit geknüpft. „Das Sein als Sein, d.h. das Seyn als die Wahrheit des Seins des Seienden.“ „»Sein« ist stets »Sein des Seienden« (Seiendes im Sein).“ Das auf den Wegbahnen der überlieferten Metaphysik ungedachte „Sein“ ist bei Heidegger ab einem bestimmten Zeitpunkt seines Denkens durch die Schreibung „Seyn“ hervorgehoben. Die Schreibweise ist an einer älteren deutschen Rechtschreibung orientiert. Sie hebt das Seyn im einzigen Sinne des Wortes gegenüber dem Sein des Seienden hervor. Seyn erweist sich dabei als das Übergangene, das Verweigerte, das aber „die Einzigkeit für sich hat und die völlige Befremdlichkeit“. Auch hier wird die komplementäre Wechselseitigkeit von An- und Abwesenheit aufgewiesen. Denn das Seyn ist außerhalb seiner Verweigerung und seinem Sich-Entziehen nicht zu gewinnen. Es ist „die erste höchste Schenkung des Seyns, dessen anfängliche Wesung selbst“. Damit wird die Erwartung verbunden, daß das Seyn jäh aufgehe, sich zeige. Es wird deshalb als das „Ereignis“ gedeutet. Damit ist verbunden, daß das Ereignis durchgehend temporal verstanden wird. Es „lichtet das Sichverbergen“. Das Seyn kann „anfänglich“ gedacht und aus der Wahrheit heraus erfragt werden. Im Ereignis zeigt sich auch an, daß das Seyn gerade nicht immer „ist“, daß es nicht dem Grundzug der Parousia beständigen Anwesenheit folgt, sondern in der Spannung zwischen An- und Abwesenheit „west“. Diese Wesung wird verdeckt, wenn das Sein als „Wirklichkeit“ oder „absolutes Wissen“ aufgefaßt wird. Diese Klärungsversuche hat Heidegger insbesondere im Gegenüber zur ontologischen Logik Hegels unternommen. Das Seyn und das Nicht sind nicht, wie am Beginn der Hegelschen Logik, leere und darum unbestimmte Kategorien. Sie liegen in einem innigen Streit, der vorprädikativen Charakter hat. Hierbei hat Heidegger sich auf den Herakltischen Kampf („Polemos“) als die gegensätzliche Konstituierung des gesamten Seienden berufen. Die Strittigkeit des Seyns ist wahrscheinlich mit der Frage nach „dem letzten Gott“ verbunden. „Das Seyn ist die Erzitterung des Götterns (des Vorklanges der Götterentscheidung über ihren Gott)“.
„Sein und Seyn ist dasselbe und doch grundverschieden.“ Mit der Durchstreichung des Wortes Seyn - Seyn - wird auf das Geviert, d.h. die Entgegensetzung von Himmel und Erde, Unsterblichen und Sterblichen hingewiesen. Seyn wird damit auch als Anzeige der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden verwendet. „Seyn nennt die Wahrnis der Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Sein.“ „Das Seyn ist, sofern es allein »eigentlich« »ist« (istet), als Sein west, das Seiendste und deshalb gerade nie ein Seiendes.“ Damit ist das Seinsdenken einer Gegensatzstruktur angenähert. Zugleich ist dieses Seinsdenken einer tautologischen Wiederholung des Ereignisses angenähert: „Das Seyn ist. Dies ist die einzige Sage.“ „Es handelt sich beim Seyn um das Ereignis als das Ereignis.“

Mit dem Sinn von Sein ist der Richtungssinn von Sein, dem das Sein im Horizont seiner Zeitigung nachgeht, gemeint.Die Frage nach dem Sinn von Sein ist fundamentalontologisch die Seinsfrage, sofern sie „in die Verständlichkeit des Daseins hereinsteht“. So bedeutet dieser Sinn: „Das Woraufhin des primären Entwurfs des Verstehens von Sein“. Dieser Grundzug ist von Heideggers Zeit als Husserls Assistent (1919-1923 - vgl. z.B. die 1922 veröffentlichten Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles) an bis in seine späten Denkwege konstant geblieben. Die Bestimmung des Seinssinns kann sich immer nur im Horizont der Zeit vollziehen. Der Seinsinn wird als „der Entwurfsbereich“ charakterisiert, in dem sich die Verständlichkeit eines Seienden hält“. Die Sinnbestimmung des Daseins geht über eine Seblstreflexivität hinaus, auf den Sinn des Seins selbst. Die Frage nach dem Sinn von Sein geht auf die Selbstauslegung des Daseins und die Schickung des Seins.

Seinen Grund gewinnt das Dasein (d.h. der Mensch) aus dem Bezug zum Sein.

Als Gelassenheit bzw. „Sein-Lassen“ ist ein medialer, zwischen Aktivität und Pasivität die Schwebe haltender Daseinsvollzug zu verstehen - schon wesentlich bedeutend in Heideggers „Sein und Zeit“. Der Grundgedanke der Entschlossenheit wird als ein Sich-aufrufen-Lassen „aus der Verlorenheit des Man“ charakterisiert. Das Seinkönnen des Daseins ist ein Tun-Lassen in der Richtung auf die eigene Schuldigkeit. Der Vorrang des Möglichkeitsmodus verlangt, daß das Dasein seine eigensten Seinsmöglichkeiten sein und damit geschehen läßt. In der Philosophie der Kehre wird die Gelassenheit als Passivität zu einem immer zentraleren Topos des Seinsdenkens. Dabei spielt der mystische Topos der Gelassenheit des „Lese- und Lebensmeisters Eckhart“ eine entscheidende Rolle. Der andere Anfang (**) erfordert ein solches Sein-Lassen, ein Freiwerden im Absprung. Der Bezug zur Sprache, die sagt und zeigt, wird als Sich-sagen-Lassen ausfiguriert. Heidegger zufolge muß auch die Differenz zwischen dem ersten und dem anderen Anfang letzlich in ein Sein-Lassen, eine übergreifende Gelassenheit, überführt werden.


Das „In-der-Welt-Sein“. **

Durch den Begiff des In-der-Welt-Seins werden der Bewußtseinsbegriff und der Subjekt-Objekt-Gegensatz ausgeschaltet.

Das In-der-Welt-Sein (oder: Inderweltsein) ist die transzendentale Grundverfassung des Daseins. An ihm sind erkennbar: a) das In-Sein (**) als solches, was „wohnen bei“„vertraut sein mit“ bedeutet; b) die Welt als die Wirklichkeit des Daseins, insofern zum Sein des Daseins die Angewiesenheit auf eine begegnende Welt wesenhaft gehört; c) das Mitsein der Anderen. Das Dasein als Existenz, dem es um sein eigenes Seinkönnen geht, hat als In-der-Welt-Sein immer schon eine Welt entdeckt. Durch den Begriff des In-der-Welt-Seins werden der Bewußtseinsbegriff und der Subjekt-Objekt-Gegensatz ausgeschaltet.

Dasein ist Sorge - z.B. das „Besorgen“ (**) in der Beziehung zur Umwelt und die „Fürsorge“ in der Beziehung zu den Mitmenschen -, deren Wesen das Sich-vorweg-schon-Sein in der Welt ist. Die Sorge ist a priori, d.h. sie liegt immer schon in jedem tatsächlichen Verhalten vor. Zum Dasein gehört aber auch der Tod. Den Tod übernimmt das Dasein, sobald es ist. Das Geworfensein (**) in den Tod enthüllt sich in dem Phänomen der Angst - womit wir wieder am Anfang, d.h. vor dem Nichts stehen. Das Dasein ist ein Sein zum Tode, aber nicht ein Sein in der Zeit, sondern ein Sein als Zeit. (Vgl. Zeitlichkeit [**]). Später überholte Heidegger diesen Ansatz so, daß das Dasein als „Seinsverständnis“ nicht autonom, daß die Existenz als „Eksistenz“ (Ek-sistenz) zu begreifen sei. „Sein Wesen ist nicht Selbststand, sondern Ausstand, Eksistenz, mit der Aufgabe, dem Sein gegenüber gehorsam zu sein, um ihm eine beschränkte und ungenügende, aber geschichtlich notwendige und geforderte Stätte zu bereiten, die Ankunft des Seins geschehen zu lassen.“ (Max Müller, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, 1958). Es ist nicht mehr das Dasein selbst, das sich entwirft und das Sein schafft, sondern das Sein lichtet sich im Dasein. Es schickt dieses Dasein in die „Ek-sistenz“ (das Heraus-stehen). Umgeben von Wald steht es gleichsam in einer Lichtung oder Öffnung. (**). Heidegger sagte: „Das Denken bringt in seinem Sagen das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache.“ (Zur Sprache kommen [**]; vgl. „Unterwegs zur Sprache“ **). Dieses „wesentliche Denken“ ist ein „Ereignis des Seins“, es hält sich fern von jeder fertigen Logik, von jeder Kunst des Denkens, von der es nur dazu verführt wurde, über sich selbst nachzudenken anstatt seiner Bestimmung zu folgen: das anwesende Sein aus seiner Verborgenheit ans Licht zu bringen. Das Denken des späten Heidegger ist Danken; ein behutsames Entbergen im Unterschied zu einem rücksichtslosen Entbergen und Gebären, wie Heidegger das im seinsvergessenen technischen, auf Machbarkeit setzenden Denken sah, für das die Natur zum „Gestell“ wird. („Ge-stell“ [**|**]). Für Heideggers Denken ist sie ein Uterus. In seinem Buch „Das Ding“ (1954) ist der Prototyp des Dings ein Krug, ein himmlisch Umschließendes, also: Uterus, Höhle, gefaßte Leere, Lichtung.

Im Besorgen von Vorhandenem begegnet das In-der-Welt-Sein in einem impliziten, unthematischen Sinn. Es ist „etwas, »worin« das Dasein je schon war, worauf es in jedem irgendwie ausdrücklichen Hinkommen immer nur zurückkommen kann“. Dasein ist auf seine Welt angewiesen. Es bedarf, um zu sein, dieser Angewiesenheit. Erst dann, wenn sich das Dasein auf seine Welt hin entworfen hat, erschließt sich sein In-der-Welt-Sein. Das In-der-Welt-Sein hat ontologisch immer den Vorrang gegenüber dem Bezug auf einzelnes Seiendes, Vorhandenes und Zuhandenes. In seinem letzten und äußersten Horizont erschließt sich das In-der-Welt-Sein als Sein zum Tode. Eine der entscheidenden Inventionen von Heideggers Fundamentalontologie besagt, daß das Dasein immer schon verstehend in-der-Welt ist. Dies bestimmt per se das Existenzial des In-Seins: Das Dasein wohnt bei einer Welt, ist mit einer Welt vertraut. Dies bedeutet auch, daß eine Innensphäre bzw. ein innerliches Geschehen eines „Ego“ die Ontologie des Daseins nicht ausreichend zu erfasen vermag. Das Dasein ist immer schon „draußen“, in den Bezügen zu seiner Welt. Keineswegs vollzieht sich erst ein späterer expliziter Schritt von der Immanenz in die Transzendenz. Die cartesianische Differenz von „innen“ und „außen“, von „Subjekt“ und Welt, wird vielmehr selbst aufgegeben. Das Dasein ist als In-der-Welt-Sein auch im Draußen-Sein drinnen und bleibt auch im Bewahren und im Behalten draußen.

 

•   Zwei Denkwege im Rahmen der Seinsfrage  •

Erster Denkweg im Rahmen der Seinsfrage.

Heideggers Fragen und sein Suchen, sein Antworten und sein Finden waren zunächst auf die Analyse des Daseins als des Menschens bezogen, weil Heidegger zufolge das Sein nur über das Dasein erkannt bzw. dem Denken zugänglich gemacht werden kann. Seine Daseinsanalyse im Rahmen seiner Fundamentalontologie, die - wie gesagt - der Ausarbeitung der Seinsfrage dienen sollte, ist am eindrucksvollsen in seinem 1927 erschienenen Hauptwerk „Sein und Zeit“ beschrieben, auch in seinen späteren Werken, besonders in den bis 1930 erschienenen Büchern, genannt seien hier z.B. sein „Kant-Buch“, das unter dem Titel „Kant und das Problem der Metaphysik“ 1929 erschien, seine unter dem Titel „Was ist Metaphysik?“ gehaltene Antrittsvorlesung vom 24. Juli 1929 und seine im Wintersemester 1929/’30 gehaltene Vorlesung über die „Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit (urprünglich: Vereinzelung)“, die hin und wieder sogar als sein „zweites Hauptwerk“ (**) genannt worden ist.
Einzelwissenschaftliche Untersuchungen wie z.B. die von Biologie, Anthropologie und Psychologie, müssen den Daseinscharakter des Menschen grundsätzlich verfehlen.
Der Mensch, das Dasein also, ist immer schon verstehend in der Welt. Man könnte auch sagen, daß er durch das Exisenzial „In-Sein“ bestimmt ist. Er wohnt in bzw. bei einer Welt, ist mit einer jeweilgen Welt vertraut. Dies bedeutet auch, daß eine Innensphäre bzw. ein innerseelisches Geschehen eines „Ego“ die Ontologie des Daseins nicht ausreichend erfassen kann. Das Dasein ist immer schon „draußen“ in den Beziehungen zu seiner Welt. Keineswegs vollzieht sich erst ein späterer expliziter Schritt von der Immanenz in die Transzendenz. Die cartesianische Differenz von „innen“ und „außen“, von Subjekt und Welt, wird vielmehr selbst aufgegeben. Das Dasein ist als In-der-Welt-Sein (**) auch im Draußen-Sein drinnen und bleibt auch im Bewahren und im Behalten draußen.
Das Zusammenvorhandenensein von Physischen und Psychischen ist ontisch und ontologisch völlig verschieden vom Phänomen des In-der-Welt seins.“ (In: Sein und Zeit, S. 204. **)
„Den Unterschied und Zusammenhang des »in mir« und außer mir« setzt Kant - faktisch mit Recht, im Sinne einer Beweistendenz aber zu Unrecht - voraus. Desgleichen ist nicht erwiesen, daß das, was über das Zusammenvorhandensein von Wechselndem und Beharrlichem am Leitfaden der Zeit ausgemacht wird, auch für den Zusammenhang des »in mir« und »außer mir« zutrifft. Wäre aber das im Beweis vorausgesetzte Ganze des Unterschieds und Zusammenhangs des »Innen« und »Außen« gesehen, wäre ontologisch begriffen, was mit dieser Voraussetzung vorausgesetzt ist, dann fiele die Möglichkeit in sich zusammen, den Beweis für das »Dasein der Dinge außer mir« für noch ausstehend und notwendig zu halten.“ (In: Sein und Zeit, S. 204-205. **)
„Der »Skandal der Philosophie« besteht ... darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden. Dergleichen Erwartungen, Absichten und Forderungen erwachsen einer ontologisch unzureichenden Ansetzung dessen, davon unabhängig und »außerhalb« eine »Welt« als vorhandene bewiesen werden soll. .... Die Seinsart des beweisenden und beweisheischenden Seienden ist unterbestimmt. Daher kann der Schein entstehen, es sei mit dem Nachweis des notwendigen Zusammenvorhandenseins zweier Vorhandener über das Dasein als In-der-Welt-sein etwas erwiesen oder auch nur beweisbar. Das recht verstandene Dasein widersetzt sich solchen Beweisen, weil es in seinem Sein je schon ist, was nachkommende Beweise ihm erst anzudemonstrieren für notwendig halten.“ (In: Sein und Zeit, S. 205. **)
„Wollte man aus der Unmöglichkeit von Beweisen für das Vorhandensein der Dinge außer uns schließen, dieses sei daher »bloß auf Glauben anzunehmen«, dann wäre die Verkehrung des Problems nicht überwunden. Die Vormeinung bliebe bestehen, im Grunde und idealerweise müßte ein Beweis geführt werden können. Mit der Beschränkung auf einen »Glauben an die Realität der Außenwelt« ist der unangemessene Problemansatz auch dann bejaht, wenn diesem Glauben ausdrücklich sein eigenes »Recht« zurückgegeben wird. Man macht grundsätzlich die Forderung eines Beweises mit, wenngleich versucht wird, ihr auf anderem Wege als dem eines stringenten Beweises zu genügen.“ (In: Sein und Zeit, S. 205. **)
„Selbst wenn man sich darauf berufen wollte, das Subjekt müsse voraussetzen und setze bewußt auch schon immer voraus, daß die »Außenwelt« vorhanden sei, bliebe die konstruktive Ansetzung eines isolierten Subjekts doch noch im Spiel. Das Phänomen des In-der-Welt-seins wäre damit ebensowenig getroffen wie mit dem Nachweis eines Zusammenvorhandenseins von Physischem und Psychischem. Das Dasein kommt mit dergleichen Voraussetzungen immer schon »zu spät«, weil es, sofern es als Seiendes diese Voraussetzung vollzieht - und anders ist sie nicht möglich -, als Seiendes je schon in einer Welt ist. »Früher« als jede daseinsmäßige Voraussetzung und Verhaltung ist das »Apriori« der Seinsverfassung in der Seinsart der Sorge.“ (In: Sein und Zeit, S. 206. **)
Das „In-der-Welt-sein“ schaltet den Begriff „Bewußtsein“ und den Gegensatz von „Subjekt“ und „Objekt“ aus.
Außerdem ist für Heidegger das Subjekt nicht der Ausgangspunkt des In-der-Welt-Seins. Dies richtet sich in erster Linie gegen einen cartesianischen Subjekt-Objekt-Dualismus. Der Ansatz eines zunächst gegebenen Subjekts verfehlt Heidegger zufolge das Sein des Dasein von Grund aus. In Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit - wie überhaupt in Heideggers Philosophie - wird nicht die Selbstheit als Ich charakterisiert, sondern die Selbigkeit und Beständigkeit eines immer schon Vorhandenen. Die enge Beziehung zwischen dem Subjektbegriff und dem Substanzbegriff ist bei Heidegger im Rückgriff auf das „Hyopkeimenon“ (upokeimenon) thematisiert. Dieses Wort nennt das Vor-Liegende, das als Grund alles auf sich sammelt. „Sammlung“ ist übrigens auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Logos“ (logoV). Kantisch, d.h. an der Transzendentalphilosophie orientiert, ist Heideggers Subjektivitätsbegriff „nur“ insofern, als sich aus der Subjektivität des In-der-Welt-Seins erst die Gegebenheit der Gegenstände der Erfahrung ergeben soll. Wie in seinem Kant-Buch deutlich ausgeführt, ist es die Temporalität der transzendentalen Einbildungskraft und nicht die Argumentationsgestalt der „transzendentalen Deduktion“, auf die diese Grundlegung des Daseins in der Subjektivität zurückzufürhen ist. Vor diesem Hintergrund, aber nur vor diesem Hintergrund, erweist sich der Weltbegriff der Hermeneutik des Daseins in seinem Ursprung als „subjektiv“. Heideggers Anspruch zufolge legt erst die existenziale Analytik des Daseins den Seincharakter des Subjektes in sachlich angemessener Weise frei. Erst mit der Fragerichtung auf die Existenz des Daseins wird Hegels Anspruch eingelöst, daß sich die Substanz zum Subjekt erheben müsse. Aus dieser Problemanzeige stammt Heideggers grundsätzliche Kritik an der Substanzontologie. Sie beruht darauf, daß der Seinscharakter eines Seienden nicht in den Blick genommen wird und dadurch „der kategoriale Bestand der traditionellen Ontologie mit entsprechenden Formalisierungen und lediglich negativen Einschränkungen“ auf die ausgezeichneten Seinsbezirke des Subjektes (Daseins) umstandslos übertragen wird. Subjektivität wird bei Heidegger zunehmend kritisch als die Selbstsicherung des Daseins gedeutet, mit der sich die Seinsverlassenheit vollziehe.
Der Ort der Transzendenz ist das Dasein, das über sich als Seiendes auf das Sein selbst hinausgeht. Sein aber ist die Transzendenz schlechthin. Eben weil das Dasein auf Sein bezogen ist, verweist es auf eine transzendente Wahrheit. Im Kant-Buch wird die Transzendenzbewegung, die - wie gesagt - in der Spantaneität der transzendentalen Einbildungskraft zu erkennen ist, als Grundvermögem einer entgegenstehenden „Zuwendung zu ...“ verstanden, in dem sich das endliche Dasein den Spielraum vorhält und in den hinein es sich entwerfen kann.
Die Erschlossenheit als Welt- und Selbstbezug des Daseins ist immer schon temporal. Die drei Ekstasen - Zukunft, Gegenwart, Gewesenheit - werden aufgrund der Zeitlichkeit zu einer Einheit verbunden. Die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur. Daher ist zu erkennen, daß Zeitlichkeit nicht als Seiendes verstanden werden darf. Zeit ist nicht, sondern zeitigt sich. Als Zeitlichkeit wird darum das originäre Wesen der Zeit benannt. Heidegger hat nachdrücklich und durchgehend betont, daß die Zeitlichkeit das Ekstatikon schlechthin ist. Der vulgäre Zeitbegriff verneint dies zwar und reduziert Zeit auf ein Nacheinander von raumartig gedachten Punkten. In diesem vulgären Zeitsinn „vergeht“ Zeit. Dagegen erweist sich die ekstatische Verschränkung der Zeit darin, daß Zukunft den Charakter der „Auf-sich-zu“, Gewesenheit den des „Zurück-auf“, Gegenwart den des „Begegnenlassens von“ zeitigt. Der ekstatische Charakter konstituiert die Temporalität. Ek-statik bedeutet zudem, daß das Dasein sich selbst in eine Transzendenz auf Welt hin überschreitet. Darum ist das Dasein in seinem Weltbezug immer schon außer sich. Sein Selbstverhältnis ist ein Welt- und damit indirekt ein Seinsverhältnis. Im Sein- und Selbstverständnis des Daseins kommt übrigens der Zukunft als dem „Sich-vorweg-Sein“ die primäre Bedeutung zu.
Das Dasein ist seiner grundsätzlichen Struktur nach in sein ekstatisches, exzentrisches Da geworfen. Über die Situation seines In-der-Welt-Seins ist es selbst nicht Herr. Deshalb kommt der Existenz dem „Daß es ist“ in seiner Kontingenz und Notwendigkeit ein Vorrang zu. Die Faktizität ist als eine vor- und nichtbewußte Überantwortung expliziert. In seinem „Woher“ oder „Wohin“ ist sich das Dasein gerade nicht transparent. Solange es ist, ist das Dasein ein geworfenes. Es ist die Faktizität der Existenz: „Daß es ist. Diese hat Heidegger mit der Geworfenheit verbunden. Das In-der-Welt-Sein ist darum immer der „Faktizität der Überantwortung“ überlassen. In „Sein und Zeit“ wird der Grundzug der Geworfenheit mit der Endlichkeit des Daseins in einen engen Zusammenhang gebracht. Stimmungen wie die Angst oder die Endlichkeit und Sterblichkeit sind es, in der sich die Geworfenheit weiter konkretisiert. Ihre komplementäre Entsprechung hat die Geworfenheit im Entwurf bzw. Entwurfscharakter des Daseins. Im Entwerfen-Können liegt die Freiheit des Daseins. Der Entwurf ist ein „verstehend sich entwerfender Entschluß“, wobei der Entwurf immer in seiner Endlichkeit, als geworfener Entwurf, bestehen bleibt.
Mit der Fundamentalontolgie ist die ontologische Frage nach dem Dasein in seinem Seinsverständnis beschrieben, die alle ontischen Bestimmungen des Seins des Seienden mehr oder weniger explizit voraussetzt und aus der auch alle Regionalontologien erst entspringen. Das Ziel ist deshalb die Seinsfrage (Fundamentalfrage), weil sie nicht mehr auf dem Weg einer spezifischen Ontologie angegangen werden kann. In Heideggers Kant-Buch ist die Fundamentalontologie als eine „Metaphysik der Metaphysik“ gekennzeichnet, da sie die zur Ermöglichung der Metaphysik notwendig geforderte Metaphysik des menschlichen Daseins sei und darin von aller Anthropologie, auch der philosophischen, grundsätzlich unterschieden bleibe.
Man kann im Horizont von Heideggers Kant-Buch davon ausgehen, daß die Existenzialien eine ontologische Grundschicht bezeichnen, die den Kategorien unzugänglich bleiben. Mithin sind Kategorien im Horizont der Existenzialien deutbar, aber nicht umgekehrt.


Zweiter Denkweg im Rahmen der Seinsfrage.

Eintracht Einfluß auf Martin Heidegger

Heideggers zweiter Denkweg ist ein Weg der Geschichte und wird allgemein als sein „seinsgeschichtlicher Denkweg“ bezeichnet. Heidegger ging hier von der Geschichte des Seins insofern aus, als er darunter die Geschichte der abendländischen Metaphysik, die er auch die Geschichte der Seinsvergessenheit nannte, verstand, womit ausgedrückt ist, daß das Sein immer mehr vergessen, zum Schluß hin sogar verlassen wurde, also seitdem auch Geschichte der Seinsverlassenheit genannt werden kann. Zwar hatte Heidegger die Seinsvergessenheit selbstverständlich auch in seinem ersten Denkweg thematisiert; doch während seines zweiten Denkweges drang Heidegger in das Geschichtliche viel tiefer ein, als er es während seines ersten Denkweges getan hatte. Der ursprüngliche Anfang war noch vor der Unterscheidung zwischen Daß-Sein und Was-Sein, zwischen Existenz und Essenz.
Eintracht Einfluß auf Peter Sloterdijk
Darum bedeutete schon diese Unterscheidung zwischen Daß-Sein (Existenz) und Was-Sein (Essenz) den Verlust der Dimension des Seins selbst. Die Geschichte der Seinsvergessenheit begann mit Platon, der aber immerhin noch die ursprüngliche Bestimmung von „Sein“ (beständige Anwesenheit bzw. ousia) kannte, sie aber in die Richtung seiner idea drehte und damit das Übersinnliche zum „wahren Sein“ machte. Angefangen hat diese Geschichte also mit der Unterjochung der anfänglichen „Alethia“, des Wahrheitsgeschehens, unter die platonische Idee. Platons Idee wurde zur ersten Bestimmung des Was-seins, des Wesens des Seins - in Erscheinung als das ekfanestaton: das Leuchtendste. So wurde mit dem Vorrang des Was-seins der Seinscharakter der Dinge auf ihr Erscheinen festgelegt. Das, was Platon mit seiner Ideenlehre, auch „Dialektik“ genannt, durchsetzte, setzte nach ihm Aristoteles mit seiner „Analytik“ genannten Lehre von entelexeia und energeia durch. Beide - Platon und Aristoteles - kannten aber noch die ursprüngliche Bestimmung von „Sein“ aus der Zeit der frühen Griechen, d.h. der Vorplatoniker. Mit dem Hellenismus und vor allem seit dem Christentum geriet die urspüngliche Bestimmung des Seins immer mehr in Vergessenheit. Die Seinsvergessenheit begann aber - wie gesagt - schon mit Platon. Um eine Seinsvergessenheit zu sein, muß die urspüngliche Bestimmung des Seins nicht notwendigerweise schon vergessen sein, sondern die Seinsvergessenheit zeichnet sich eben durch den Prozeß, das Geschehen des Vergessens, nämlich des Seinsvergessens, aus, anders gesagt: die Seinsvergessenheit ist die Geschichte des allmählichen Seinsvergessens, das anfangs noch sehr langsam vor sich ging, durch das Christentum einen enormen Schub bekam und seit der Neuzeit durch den sogenannten „Subjektivismus“ sogar immer mehr in Richtung des „Gestells“ als der technischen Machenschaft und der Seinsverlassenheit geschoben wird. Heidegger zufolge reicht es, wenn man nur die großen Philosophen aufzählt (die man allerdings auch verstanden haben muß!); für die Neuzeit sind das in chronologischer Reihenfolge: Descartes, Leibniz, Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Nietzsche.
Heidegger zufolge ist die Geschichte der Seinsvergessenheit identisch mit der Geschichte der abendländischen Metaphysik, die wiederum identisch mit dem abendländischen Nihilismus ist und mit Platon begann. Die spezifischen Bestimmungen der Metaphysik beruhen auf der Prämisse, daß nach dem ursprünglichen Wissen des Seins nicht gefragt werden darf. Daher findet der „erste Anfang“ zu den verschiedenen Bestimmungen des Seins des Seienden im Ganzen seit Platons Ideen seinen Ausdruck. Daß die Seinsfrage selbst verboten bleibt, ist gemäß Heidegger kein Mangel des ersten Anfangs. Er ist mit dessen Struktur mitgegeben.
Um zu dem „anderen Anfang“ zu gelangen muß das sogenannte „Zuspiel“ des ersten Anfangs aufgenommen und er selbst in seinen verschiedenen Grundstellungen wiederholt werden. Dies ist der eine Weg des ersten Anfangs. Der andere Weg ist der sogenannte „Sprung“, der die Wege dieses Anfangs hinter sich läßt und sich der Jähe der Seinserfahrung aussetzt. „»Sein und Zeit« ist der Übergang zum Sprung (Fragen der Grundfrage [**|**]).“ (In: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), S. 234 **).
Als Zugang zum anderen Anfang ist Heidegger zufolge das seinsgeschichtliche Denken zu verstehen. Der andere Anfang greift auf die Spuren einer ursprünglicheren Seins- und Wahrheitserfahrung zurück, die in der Metaphysik weitgehend verdeckt worden ist. Der Anspruch, auf einen Ursprung zurückzugreifen, berührt sich dabei durchaus mit der Tendenz der Phänomenologie, die ursprüngliche Quelle von Phänomenen zu erfassen.
Johann Christian Friedrich Hölderlin
Stefan A. George
Rainer Maria Rilke
Georg Trakl
Der andere Anfang bedeutet auch eine Verschiebung des Denkens zu einem Fragen nach dem Wesen des Seins, das sich weiterer ontologischer Bestimmungen enthält. Er soll ausdrücklich weder zu weiteren metaphysischen Bestimmungen führen noch sich im Bezirk des Mythos aufhalten. Anzunähern ist der andere Anfang von den Lücken und Bruchstellen im ersten Anfang her. In der Überlieferung vorgezeichnet ist er primär durch die Denkform der „Lanthanonten“ besonders der Dichter wie Hölderlin, George, Rilke, Trakl, die von ihm Ahnung hatten, und der frühgriechischen, d.h. vorplatonischen Philosophen. Heidegger sagte aber auch, es ginge dabei keineswegs um das Projekt einer Wiederholung oder Wiederherstellung dieses ersten Anfangs.
Der erste Anfang fragt zwar nach dem „Sein des Seienden“ und nach bestimmten „Seienden“ in seine kategorialen Ordnung, doch die Geschichte der Metaphysik - man mag auch sagen: Geschichte des Nihlismus - läßt die Seinserfahrung nur negativ, verschwiegen, erkennen. Der andere Anfang setzt daher das zugleich dekonstruierende und bewahrende „Fußfassen“ im ersten Anfang voraus.
In verschiedener Form fließen Heideggers Bestimmungen der Grundstellungen der Geschichte der Metaphysik ein, die er in seinen Vorlesungen entfaltet hat. Besonderes Augenmerk hat er einerseits auf die platonische Idee und ihre Umkehrung durch Nietzsche („umgekehrter Platonismus“) gelegt, wobei seiner Auslegung nach Nietzsches Umkehrung des Platonismus der Seinsvergessenheit der Metaphysik folgt.

 

•   Ausgewählte Bereiche  •

Sprache (Sage, Rede, Gespräch, Zeige usw.).

Schon in „Sein und Zeit“ ist die Sprache verstanden als „das ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Da“. Im Zusammenhang mit Heideggers Hölderlin-Auslegungen ist die Bindung der Eröffnung von Welt an Sprache betont. „Nur wo Sprache ist, da ist Welt“ (**). Eine enge Verbindung wird ebenfalls im Hölderlin-Zusammenhang zwischen Sprache und Gespräch exponiert. Das Gespräch „ist jedoch nicht nur eine Weise, wie Sprache sich vollzieht, sondern als Gespräch nur ist Sprache wesentlich“ (**). In „Sein und Zeit“ hat die Sprache ihren systematischen Ort im Zusammenhang mit der existenzialen Konstitution des Da. Sie ist das „Hinausgesprochensein“ der Rede, und die Rede wiederum ist der fundamentalontologische Grund der Aus sage (des Logos). Neben den verschiedenen Seinsweisen des Redens und Sich-Aussprechens ist hier auch der Existenzialsinn des Hören-Könnens hematisiert. Das Hören-Können seinerseits ist eine bloße Möglichkeit, die sich wieder in zweifacher Weise entfaltet, als Schweigen und aufmerksames Horchen. Die Schlußsequenz in den „Beiträgen zur Philosophie“ gilt dem Schweigen. Im Schweigen gründe die Sprache, so Heidegger. Es sei das „verborgenste Maßhalten“, und setze die Maßstäbe für das Ereignis. Sprache ist dabei sowohl im Modus des aktiven Sprechens als auch des Schweigens auf das Seinsgeschehen bezogen.

In „Unterwegs zur Sprache“ hat Heidegger der Sprache einen eigenen Resonanzraum gegeben. Sprechen schöpft aus den Worten und Sinnbildern der Dichtung (Hölderlin, Trakt, George, Rilke). Indem sie die Welt benennen, setzen sie den wesentlichen Unterschied zwischen dem eminent Seienden, den Dingen, und der Welt im Ganzen. Sprache, vor allem dort, wo sie dichterisch geformt und zum eminenten Sagen gebildet ist, ist Aufenthalt und Bewahrung des Seins. Dies verdeutlicht Heideggers Evokation von der Sprache als „Haus des Seins“; im Sprachdenken kommt auch die Kraft des Schweigens zu Wort: Sprache ist „das Geläut der Stille“.

Seins- und Spracherfahrung sind bei Heidegger so eng miteinander verbunden, daß er die Umkehrgleichung formuliert hat „Das Wesen der Sprache: - Die Sprache des Wesens“ (**). Es ist offensichtlich, daß diese Sprachkonzeption sich ausdrücklich von der Reduktion der Sprache auf ein Kommunikationsmittel, bzw. ihre Funktion als Information abgrenzt.
NACH OBEN
Annäherungen an das Sprachdenken des anderen Anfangs (**) hat Heidegger wahrscheinlich aus Novalis’ Wort, daß die Sprache ein Selbstverhältnis und eigentlich nur mit sich selbst spricht, gewonnen, oder aus Wilhelm von Humboldts Lehre über die Weltansichten, die aus Sprache hergestellt werden. Sprache ist Heidegger zufolge, wie schon lange vorher Humboldt zufolge, nicht Werk (Ergon), sondern Energeia (im Vollzug-Sein). Die eigentliche Quelle des Sprachdenkens sei allerdings die Dichtung, so Heidegger, gerade dort, wo sie poetologisch über die Nennkraft der Sprache, die Übersetzung, z.B. des Griechischen und des Nordens oder das Gedächtnis im Seinsgeschehen selbst ins Wort bringt. Deshalb eröffnet Friedrich Hölderlins Dichtung für Heidegger den eminentesten Zugang zum Wesen der Sprache.

Das Grundverhältnis der Sprache ist Heidegger zufolge „als die Sage des Weltgeviertes nicht mehr nur solches, wozu wir, die sprechenden Menschen, ein Verhältnis haben, im Sinne einer Beziehung, die zwischen Mensch und Sprache besteht“ (**). Die bedeutet eben, daß eigentlich die Sprache spreche und nicht der Mensch.

Die klassisch-metaphysische Definition, der Mensch sei das Wesen, das den Logos (die Sprache) hat, hat Heidegger umgekehrt: Es ist die Sprache, die den Menschen umgibt und aus der heraus er seinen sprachlichen Weltzugang hat. Insofern hat sie ihn. Daß die Sprache spricht, ist nicht im Sinne von Selbstreflexivität gedeutet, so daß die Sprache nicht zur Welt führen würde: Sie spricht, indem sie zeigt. Dadurch übernimmt das Sprachdenken wesentliche Züge der Phänomenologie. Sie zeigt durch das Sagen. Damit verbindet sich die Kunst des Schweigens (Sigetik): „Die Sprache spricht, indem sie sagt, d.h. zeigt“ (**). Eng verbindet sich damit der Zusammenhang von Sprache und Schweigen, bzw. Hören: „Das Sprechen ist von sich aus ein Hören“ (**).

Anders als in der Spätphilosophie ist in „Sein und Zeit“ die Rede als Fundament der Sprache vorgeordnet. Die Rede ist in „Sein und Zeit“ bereits als „existenziale Verfassung der Erschlossenheit des Daseins“ aufgefaßt. Mit Befindlichkeit und Verstehen sei die Rede gleichursprünglich. Als existenzialer Modus des Daseins ist die Rede auch selbst zeitlich bestimmt, „sofern alles Reden über ..., von ... und zu ... in der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gründet“. Der Rede kommt der fundamentale, Wirklichkeit erschließende Grundzug zu, der später der „Sage“ vorbehalten bleibt. Rede ist dabei einerseits „die Artikulation der Verständlichkeit“; andererseits ist sie aber auch phänomenales Sich-selbst-Offenbaren des menschlichen Daseins. Der Mensch gibt sich im Reden selbst zu verstehen. Der Logos gilt bei Heidegger als der Ursinn von Rede. Im Redezusammenhang wird das In-der-Welt-Sein artikuliert und kategorial ausgelegt. Rede ist mit-konstitutiv für den Entdeckungszusammenhang, in dem das Dasein zu sich selbst und zur Welt steht. Bemerkenswert ist, daß bei Heidegger die hörende Dimension der Rede als ihre Abschattung und Modifikation begriffen ist. Das Hören sei für das Reden sogar konstitutiv. Eine enge Verbindung besteht zwischen Rede und Logos. Die Rede erschließt das Seiende. Sie läßt sehen. Im Logos-Charakter der Rede wird deshalb der delotische Charakter von Wahrheit als Entdeckung vollzogen. Dieser Logos-Charakter erschließt die Phänomene erst in ihrem Sein. Die Rede erschließt die Bedeutung in der Gestaltung des Wortes. „Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu.“ Insofern ist die Rede ein Kulminationspunkt der Hermeneutik der Faktizität.

In den späteren seinsgeschichtlichen Zusammenhängen betont Heidegger insbesondere den Zusammenhang von Sprache, Gespräch und Rede. „Sprache »ist« im Sprechen. Sprechen geschieht als Rede. Die Rede ist Geschichte als Gespräch. Das Gespräch ist Da-sein, inständiges Er-hören“.


Raum und Zeit.

Heidegger sieht den Raum, bzw. die Räumlichkeit eindeutig als der Zeit nachgeordnet an. Nur von einem existenzialen Verständnis von Welt her ist der Raum zu entdecken. Das Dasein ist aufgrund seiner ekstatischen Temporalität „räumlich“. Es nimmt aufgrund der existenzialen Deutung seines In-der-Welt-Seins einen Spielraum ein. Dieses existenziale Raumverhältnis des Daseins unterscheidet sich grundsätzlich von der räumlichen Realität der „res extensa“, der ausgedehnten Körperdinge. Nur auf dem Grund von Welt ist auch der Raum konstituiert. Doch auch umgekehrt konstituiert der Raum die Welt und ist insofern unabhängig von der Zeitlichkeit. Deshalb kann formuliert werden, daß sich die Zeitlichkeit des In-der-Welt Seins als „Fundament der spezifischen Räumlichkeit des Daseins“ erweist (vgl. „Sein und Zeit“, § 70). Unterschieden werden dabei verschiedene Formen von Räumlichkeit. Das „innerweltlich Zuhandene“, um das es im umsichtigen Besorgen geht, bestimmt den Raum des Zeugs nach den Gegenden, in die es gehört. Solche Gegenden zeigen nicht nur eine Richtung an, sondern den „Umkreis von etwas“. Das Zuhandene konstituiert sich an Plätzen und Örtern, die beim Zeug durch „unauffällige Vertrautheit“ charakterisiert sind. Dieses Ent-fernen ist zugleich ein Raum-geben, bzw. Einräumen, was für die Seinsart des Daseins konstitutiv ist. Heidegger zufolge ist das Wesen des Raumes selbst nichts Räumliches. Deshalb ist die Bestimmung der „Ausgedehntheit“ unzureichend. Dagegen ist die Räumlichkeit des Daseins durch existenziale Dynamiken konstituiert. Gemäß Heidegger sind dabei zwei Seinscharaktere zu unterscheiden: Die Ent-fernung und die Aus-richtung. Die Ent-fernung ist dynamisch als Tendenz verstanden, Seiendes in die Nähe zu bringen. Das Dasein richtet sich auf dieses Seiende aus, und bringt es in die Nähe seiner Welt. Beim Zeug ist die Nähe im wesentlichen durch Unauffälligkeit im Gebrauch bestimmt. Orientierung ist „Ausgerichtetheit in eine je schon zuhandene Welt“. Diese Welt also ist vorgängig. Heidegger hat dabei Bezug genommen auf den Status der Richtungen im Raum, orientiert an Kants Abhandlung „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“

Die Raum-Kategorie wird von Heidegger auf die Vollzugsweise von „Räumen“, „Einräumen“ hin interpretiert. Das Einräumen lasse „Offenes walten, das unter anderem das Erscheinen anwesender Dinge zuläßt, an die menschliches Wohnen sich verwiesen sieht. Zum anderen bereitet das Einräumen den Dingen die Möglich keit, an ihr jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören“. Die Raumkategorie kann also kategorial nur aus der Lichtung heraus existieren. Deshalb ist der Raum immer schon leer und Leere stiftend. „Räumen besagt leer machen, aufgeben, verlassen“ (**). Menschliches Dasein verhält sich also in spezifischer Weise zum Raum: Es läßt diese Leere zu und ermöglicht so, daß im Raum Welt begegnet, die Dinge ihm begegnen und eingeräumt werden. Kennzeichnend ist eine spezifische „existenziale Räumlichkeit des Daseins“ (**). Sie ist nur vor dem Hintergrund des In-Seins in Weltzusammenhängen möglich. In den „Beiträgen zur Philosophie“ wird die Frage nach dem Raum in den breiteren Rahmen der Zeiträumlichkeit eingetragen. Raum soll dabei aber „ursprünglich als Räumung begriffen“ werden, „wie sich diese in der Räumlichkeit des Da-Seins anzeigen, aber nicht vollursprünglich begreifen läßt“ (**) . Im Zusammenhang der Seinsgeschichte wird das Ende der Philosophie zum Problem. „Das Ende der Philosophie ist der Ort, dasjenige, worin sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt“ (**). Einerseits ist dieses Ende dann durch die maßlose Technik und ihre Fraglosigkeit bestimmt. Andererseits fordert das „Zu-Denkende“, das als das bislang Ungedachte erfahren wird, einen Anspruch an das Denken, der über die Philosophie hinausgeht. „Dann muß das Denken die »Philosophie« verlassen. Das aber sagt: Das Denken muß denkender werden“.

Der Komplementarität von Raum und Zeit und zugleich ihrer Asymmetrie ist Heidegger in „Sein und Zeit“ bereits nachgekommen; später, in den „Beiträgen zur Philosophie“ hat er versucht, die Einheit in „Zerklüftung“ des Zeit-Raums zu exponieren.

Zeit ist Heidegger zufolge keine reine Anschauungsfonn. Er hat die Zeit als den Horizont konzipier, vor dem das Dasein auf Sein bezogen ist. Das Dasein ist selbst durchgehend temporal bestimmt. Zeit ist insofern der Horizont des Seinsverständnisses des Daseins. Der vulgäre Zeitbegriff verstellt das Wesen der Zeit. Er beginnt mit der Bestimmung des Sinnes von Sein in der griechischen Ontologie als „parousia“. Das Sein des Seienden sei damit an der Gegenwart abgelesen. Dieser vulgäre Zeitbegriff ordnet die Glieder der Zeit in eine Nacheinanderfolge verschiedener Jetzt-Punkte ein. Sowohl die Datierbarkeit als auch die Bedeutsamkeit von Zeit werde dadurch nivelliert: „Die Jetzt sind um diese Bezüge beschnitten und reihen sich als so beschnittene aneinander lediglich an, um das Nacheinander auszumachen“. Davon wird der Zeitmodus der Gegenwart im eigentlichen Sinn“ unterschieden: Sie ist auf den Augenblick bezogen, die Situation mit den in ihr angelegen Möglichkeiten. Eigentliche Zukunft erschließt sich als Vorlaufen in die Möglichkeiten des Verstehens. Die Erschlossenheit als Welt- und Selbstbezug des Daseins ist daher immer schon temporal.

Die Zeitlichkeit wird von der Zeit nochmals unterschieden. Zeitlichkeit ist in einem eminenten Sinn „der Sinn desjenigen Seins, das wir Dasein nennen“. Die Zeitlichkeit enthüllt sich daher als „der Sinn der eigenflicben Sorge“. Die drei Ekstasen (Gewesenheit, Gegenwart, Zukunft,) werden aufgrund der Zeitlichkeit zu einer Einheit verbunden und zusammengeführt. „Die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur“. Daher ist zu erkennen, daß die Zeitlichkeit nicht als Seiendes verstanden werden darf. „Sie ist nicht, sondern zeitigt sich“. Als Zeitlichkeit wird deshalb das originäre Wesen der Zeit benannt.

Auch in seinem späteren Seinsdenken akzentuiert Heidegger die Zeitlichkeit. Sie meine „die entrückende Lichtung“ bzw. sei „der Vorname für die Wahrheit des Seyns, das als Ereignis die Wesung der »Geschichte« ist“. Im ersten Anfang (**) von „Sein und Zeit“ ist Zeit und Raum noch in einer klaren Asymmetrie verstanden. Dem Raum kommt gegenüber der Zeit Nachrangigkeit zu. Erst aufgrund der Zeitlichkeit kommt das Seiende auf den Raum (die Räumlichkeit) seines In-der-Welt-Seins zu. In den „Beiträgen zur Philosophie“ und anderen Ausarbeitungen des anderen Anfangs (**) ist demgegenüber die Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit betont, wobei beide in der Dynamik des Einräumens und der Zeitigung verstanden werden. „Der Zeit-Raum als die Einheit der ursprünglichen Zeitigung und Räumung ist ursprünglich selbst die Augenblicks-Stätte, diese die ab-gründige wesenhafte Zeit Räumlichkeit der Offenheit der Verbergung, d.h. des Da“. Interessant ist die Hinzufügung, Raum und Zeit seien dem „Zeit-Raum“ entsprungen; dieser bilde gleichsam ihren Ursprung und gehe ihrer „rechenhaft vorgestellten Verbindung“ voraus. Diese Vorgängigkeit ist wohl, wenn man Heideggers apokryph-dunkle Formulierungen zusammennimmt, auf das Seinsereignis selbst zurückgeführt worden. Es sei die „Gründung des Zeit-Raumes“, also gleichsam der „metaphysische Ort“ „für jedes Wo und Wann“. Aus dem Zeit-Raum als Verschränkung von Raum und Zeit gewinnt schließlich das Verhältnis zwischen Lichtung und Verbergung sein inneres Maß. Heidegger hat die Zeit-Raum-Konstellation auch als einen Spielraum, in dem das Sein des Daseins allererst situiert werden kann, aufgefaßt. Damit ist die Verschränkung des Seinsdenkens ganz in der Spur von „Sein und Zeit“, wo die Einnahme des Spielraums des Daseins von der Zeitlichkeit abhängig gemacht ist.

Eine weitere Korrelation könnte sich aus der „Raumzeitlichkeit“ der Quantenmechanik ergeben, mit der Heidegger sich gut ausgekannt und mit dessen Begründer, Werner Heisenberg, er intensive Kontakte gepflegt hat.


Geschichte und Historie.

Geschichte transzendiert gemäß Heidegger grundsätzlich den Bereich des Historischen. Daher ist Geschichte das „sich begebende spezifische Geschehen des existierenden Daseins, so zwar, daß das im Miteinandersein »vergangene« und zugleich »überlieferte« und fortwirkende Geschehen im betonten Sinne als Geschichte gilt“ (**). Bei Heidegger ist deshalb „Geschichte“ von „Historie“ mehr unterschieden als bei Wortkundlern, Lexikologen, Philologen und anderen Sprachwissenschaftlern, auch mehr als bei Geschichtswissenschaftlern, Historikern). Besonders einprägsam ist Heideggers Aussage in „Sein und Zeit“, Geschichte sei „als Wiederkehr des Möglichen“ zu verstehen. Deshalb zeige sie auch an, wie das Dasein für eine solche Wiederkehr offen und bereit sein müsse. Dabei hängt Geschichte bzw. Geschichtlichkeit mit der Verschränkung der Zeitekstasen eng zusammen: „Auf-sich-zu“ (Zukunft), „Zurück-auf“ (Gewesenheit), „Begegnenlassen“ (Gegenwart). Sie setzt ein Wahrheitsgeschehen und die Lichtung des Seins voraus. Vor diesem Hintergrund erfordert der seinsgeschichtliche Geschichtsbegriff lediglich eine Vertiefung dieses fundamentalontologischen Geschichtsverständnisses. „Die Geschichte ist Geschichte des Seyns und deshalb Geschichte der Wahrheit des Seyns und deshalb Geschichte der Gründung der Wahrheit und deshalb Geschichte als Da-sein“ (**). In solchen Bestimmungen wird die Zusammengehörigkeit des ersten und des anderen Anfangs besonders deutlich formuliert (**). Aus diesem Grunde ist die Seinsgeschichte bei Heidegger als Wesen der Geschichte verstanden.

Daß die Fundamentalfrage nach dem Sinn von Sein selbst geschichtlich orientiert ist, ist bereits in „Sein und Zeit“ festgeschrieben. Die Ausarbeitung der Seinsfrage muß aus dem eigensten Seinssinn des Fragens selbst, als eines geschichtlichen, die Anweisung vernehmen, seiner eigenen Geschichte nachzufragen. Auf dem Weg des anderen Anfangs ist dieses Vorhaben bei Heidegger weitgehend im Sinn einer destruierenden Geschichte der Metaphysik realisiert. Diese erweist sich als geschichtlicher Nihilismus, nämlich als Geschichte von Grundstellungen des Seins des Seienden, in dem diese anfängliche Bedeutung des Sinns von Sein übersprungen und nicht befragt wird. Die Seinsfrage führt also zu unterschiedlichen Epochen (mit Husserl: Formen der Epoché: des Aufbehaltenseins), in denen es mit dem Sein nichts ist und das Sein in der Verborgenheit bleibt. Nur in dieser Grundform von Nichthaftigkeit, als die Geschichte, in der es mit der Frage nach Sein nichts ist, ist die Seinsgeschichte faßbar. Den Wegstrecken dieser Geschichte ist Heidegger in einer geschichtlichen und systematischen Linienführung nachgegangen: einerseits in der Rekonstruktion der metaphysischen Grundstellungen zwischen Platon und Nietzsche, andererseits in der Kontrastierung zwischen metaphysischem ersten und anderem Anfang (vgl. die Kapitel bzw. Fugen „Anklang“, „Zuspiel“ in dem Buch Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)).

Bei Heidegger sind nicht nur Geschichte und Historie, sondern auch und noch mehr Geschichtlichkeit und Historizität deutlich unterschieden. Historizität kann dem vulgären Zeitbegriff und seiner Nacheinanderordnung von Jetztpunkten folgen; Geschichtlichkeit aber setzt die Zeitlichkeit als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus (vgl. „Sein und Zeit“, § 72 ff.). Indem das Dasein dem Sinn von Sein nachgeht, erweist es sich selbst als geschichtlich. Dessen Geschichtlichkeit konstituiert sich aus der Sorgestruktur des Daseins. Geschichtlichkeit wird mithin als „Seinsverfassung“ des Daseins verstanden. Dieses ist, indem es sich versteht und in seinem Verstehen zugleich entwirft, in eine Geschehensstruktur einbezogen, die als „schicksalhaftes Geschick“ charakterisiert und besonders prägnant durch die Situation und die Generation bezeichnet wird, der ein Dasein angehört. Auch hier wird die gängige Unterscheidung zwischen der „eigentlichen“ und der „uneigentlichen“ Geschichtlichkeit aufgenommen. Die eigentliche Geschichtlichkeit konstituiert sich im Vorlauf zum Tode, zu der eigentlichen Existenz vor dem Horizont ihres Nicht-mehr-Seins. Uneigentliche Geschichtlichkeit dagegen orientiert sich nicht auf die temporal ekstatische Struktur, sondern auf ein Nacheinander von Zeitpunkten. In ihr werden die Möglichkeiten abgeblendet und sie bleibt in der Insistenz des Seienden. Damit geht dem Verhältnis zur Geschichte der Möglichkeitssinn, einschließlich seiner Modifikationen, verloren. Es bleibt auf eine blinde punktuelle Gegenwärtigkeit begrenzt.

Welt-Geschichte bedeutet im Sinn von „Sein und Zeit“ nicht eine global verstandene Ereignisgeschichte, sondern die jeweilige, jemeinige „Geschichtlichkeit des In-der Welt-seins“ eines Daseins (vgl. Sein und Zeit, § 75: Die Geschichtlichkit des Daseins und die Welt-Geschichte). Die verschiedenen Modifizierungen dieses In-der-Welt-Seins, z.B. seine Beziehung auf Vorhandenes und Zuhandenes, sind in diesen geschichtlichen Weltbegriff einbezogen. Auf dem Weg der Kehre bzw. des anderen Anfangs wird dieses Verständnis von Geschichtlichkeit in die Ausprägungen der Seinsgeschichte einbezogen.

Da sich das Dasein in seine Geschichtlichkeit überliefert, an sie hingibt, begründet sich aus dem Mit-Sein, der Situativität und der Geworfenheit in die eigene Geschichte, ein Geschick (Seinsgeschick). „Das schicksalhafte Geschick kann in der Wiederholung ausdrücklich erschlossen werden hinsichtlich seiner Verhaftung an das überkommene Erbe.“ Es ist offensichtlich, daß Freiheit und der Entwurfscharakter des Daseins im Gegenüber zu diesem Geschick zu verstehen und damit auf einen bestimmten Spielraum eingegrenzt sind (vgl. Sein und Zeit, § 74). Der Charakterzug des Geschicks ist beim „späten“ Heidegger weiter verstärkt worden. Die Seinsgeschichte in den Epochen eines je unterschiedlichen Sich-Zeigens und Sich-Entziehens des Seins wird als Geschick aufgefaßt. Auch die Lichtung der Aletheia ist Teil eines Geschicks. Das andenkende Denken bewegt sich also innerhalb der Lichtungen, die durch das Sein geschickt sind. Dies bestimmt auch den Ort der verschiedenen philosophischen, metaphysischen Grundstellungen. Sie sind not-wendig aufgrund des Geschicks. Dabei kommt auch dem Moira-Verständ nis des frühgriechischen Denkens eine Schlüsselbedeutung zu.

„Seinsgeschichte heißt Geschick von Sein, in welchem Schicken sowohl das Schicken als auch das Es, das schickt, an sich halten mit der Bekundung ihrer selbst“ (**). Mit der Konzeption der Seinsgeschichte verbindet sich diejenige des Seinsgeschicks. „Wenn wir das Wort »Geschick« vom Sein sagen, dann meinen wir, daß Sein sich uns zuspricht und sich lichtet und lichtend den Zeit-Raum einräumt, worin Seiendes erscheinen kann“ (**). Die Epochen der Seinsgeschichte sind deshalb immer ebenso durch das Mitgeteilte und das Vorenthaltene charakterisiert. Epoche bedeutet deshalb zugleich Epoché: Vorbehaltensein.

Heideggers Begriff der Historie und die Absetzung der Historie von Geschichte sowie die der Historizität von Geschichtlichkeit sind im wesentlichen als eine Reaktion auf die Debatten des Historismus zu deuten, die Heidegger unter anderem in Auseinandersetzung mit Dilthey, Troeltsch und den Positionen der Neukantianer rezipiert hat. Historie gründet in der Geschichte; sie ist der Zeitlichkeit und damit den Grundvollzügen des Daseins verwurzelt. „Die jeweilige Art der Historie ist immer erst und nur die Folge einer schon gesetzten Wesensbestimmung der Geschichte“ (**). Deshalb ist die Historie immer ein abkünftiger Modus von Geschichte und Geschichtlichkeit. Im Kontext der Nietzsche-Vorlesungen ist dies kritisch zugespitzt worden: „Mit der Vollendung der Neuzeit liefert sich die Geschichte an die Historie aus, die mit der Technik desselben Wesens ist“ (**). Historie als geschriebene und reflektierte Geschichte ist daher von einem Seinsgeschick, einer Lichtung des Seins abhängig. Historie ist eine partielle Realisierung dieser Geschichtlichkeit im Bereich des Vorstellens, wobei sie zugleich wieder verdeckt wird. Alles Historische, alles in der Weise der Historie Vor- und Festgestellte ist geschichtlich, d.h. auf das Geschick im Geschehen gegründet. Aber die Geschichte ist niemals notwendig historisch.

Der Historismus ist Heidegger zufolge ein Indiz dafür, daß „die Historie das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu entfremden trachtet“. Hier wird man auch Resonanzen auf Nietzsches Zweite Unzeitgemäße Betrachtung in Rechnung stellen müssen. Nietzsches „monumentalische Historie“, die die „plastische Kraft“ des Einzelnen und einer Kultur ins Zentrum rückt, berührt diese Dimension des Daseins, anders als der Historismus, wieder.

„Historismus ist die völlige Herrschaft der Historie als Verrechnung des Vergangenen auf Gegenwärtiges mit dem Anspruch, dadurch das Wesen des Menschen als eines historischen - nicht geschichtlichen - Wesens endgültig festzumachen“ (**). Geschichtlichkeit erweist sich vor diesem Hintergrund nicht nur als Grund der Historie. Vielmehr kann Heidegger zufolge der Historismus einzig durch Geschichtlichkeit, „eine neue Entscheidung und erstmalige Erfragung der Wahrheit des Seyns überwunden“ werden.


Phänomenologie und Hermeneutik.

Die Methode von „Sein und Zeit“ ist von Heidegger ausdrücklich als Phänomenologie und ebenso als Hermeneutik verstanden worden. Es gibt mehrere ausdrückliche Verweise auf Husserls Begründung der Phänomenologie in desse „Logischen Untersuchungen“. Sowohl Husserl als auch Heidegger zufolge, ist die Phänomenologie als Methodenbegriff und nicht als eine Richtung neben anderen innerhalb der Philosophie zu verstehen. Die Phänomenologie drückt „eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: »zu den Sachen selbst«“. Damit ist der Bezug auf Husserl offensichtlich. Die Phänomenologie ist im einzelnen als Methodenbegriff ausgewiesen, in dem es nicht in erster Linie um das „sachhaltige Was der Gegenstände“ geht, sondern um deren „Wie“-Sein. Nicht als „philosophische Richtung“, sondern als ein „Ergreifen einer Möglichkeit“ fungiert die Phänomenologie, so Heidegger. Entscheidend dabei ist, daß Phänomenologie und Ontologie eng miteinander verschränkt sind. Sie unterscheiden sich nur „nach Gegenstand und Behandlungsart“. Dabei nimmt die Phänomenologie ihren Ausgangspunkt bei der Hermeneutik des faktischen Daseins. Einerseits ist die Ontologie nur als Phänomenologie möglich, andererseits ist die Ontologie die Thematik der Phänomenologie. „Phänomenologie ist Zugangsart zu dem und die ausweisende Bestimmungsart dessen, was Thema der Ontologie werden soll.“ (**). Methodisch grundsätzlich ist diese Verfahrensweise schon mit dem altgriechischen Terminus als „apophainesthai ta phainomena“ charakterisiert: „Das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.“ Dabei spielt der Methodenschritt der Destruktion eine maßgebliche Rolle. Freilegendes Sehenlassen vollzieht sich „im Sinne des methodisch geleiteten Abbauens der Verdeckungen“. Mit der Erscheinung ist immer zugleich ihre Verdeckung zu untersuchen. Darum ist eine dreifache Schrittfolge der Phänomenologie gefordert: Der Ausgang der Analyse, bei der Faktizität des Daseins, deren Zugang zum Phänomen und der Durchgang zu dem ontologischen Kern.

Phänomenologie ist zugleich Hermeneutik. Phänomenologisches „Sehen“ ist gerade nicht unmittelbar möglich, sondern immer schon durch das Verstehen bzw. die Logik als den Logos angeleitet.

Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer, 1923
Hans-Georg Gadamer und Martin Heidegger bei der Arbeit mit zuhandenem Zeug neben der Hütte im Schwarzwald.

Methodisch hat Heidegger seine Fundamentalontologie (vgl. z.B. in „Sein und Zeit“) gleichursprünglich zu ihrem Wesenszug als Phänomenologie auch als Hermeneutik verstanden. Die Auffassung der Hermeneutik ist die elementare, auf Aristoteles (vgl. „Peri Hermeneias“ - latinisiert: „De interpretatione“) zurückgehende Form als Lehre von Rede (also: Sprache) und Verstehen (also: Sprache). Es ist hier also nicht in erster Linie die Hermeneutik im Sinne von Schleiermacher und Dilthey gemeint. Heideggers Hermeneutik-Begriff ist ungleich weiter angelegt und durch den Terminus „Hermeneutik der Faktizität“ schon sehr früh präzisiert. Deshalb ist es auch nur folgerichtig, wenn der „späte“ Heidegger in seinem sprachphilosophischen Denken die Hermeneutik als Proprium Gadamers auszeichnet. Schon der „frühe“ Heidegger hatte den Titel „Hermeneutik der Faktizität“ als sachgemäßere Bezeichnung an die Stelle von Ontologie gesetzt. Gegenüber der „überlieferten und heutigen Ontologie“ gibt es demnach ein zweifaches Ungenügen: (1) Die Ontologie ist auf das Sein von Gegenständen fixiert. (2) Damit versperrt sie sich den Zugang des faktischen Daseins in seinem Weltbezug. (Vgl. Heideggers Vorlesung aus dem Sommersemester 1923: „Hermeneutik der Faktizität“, veröffentlicht als Band 63 der „Werke [GA]“.) Die Hermeneutik der Faktizität wird daher als eine Vorform der Fundamentalontologie aufgefaßt. Sie fragt, im Sinne des „hermeneutischen und phänomenologischen Als“ nach der Weise, als was bzw. wie das Dasein gesehen wird. Dazu gehört dem „frühen“ Heidegger zufolge die Aufklärung der hermeneutischen Situation. Sie ist nicht nur gegenüber der philosophischen Problemlage, sondern auch gegenüber der geistigen Situation der Zeit zu klären. Dabei wird die Phänomenologie als das „Wie der Forschung“ eingeführt. Sie fragt nach den Phänomenen, so wie diese sich zeigen. Die Berücksichtigung der hermeneutischen Situation positioniert die Phänomenologie in zeitlichen Horizonten. Die Erwartung einer atemporalen „Ersten Philosophie“ ist insofern zurückzuweisen. Im Zusammenhang mit dieser frühen Selbstverständigung spielt daher die Positionierung der Phänomenologie zwischen positiver Wissenschaft und Weltanschauung eine entscheidende Rolle. Schon im Zusammenhang der Hermeneutik der Faktizität werden wesentliche Momente des später in „Sein und Zeit“ ausgearbeiteten In-der-Welt-Seins des Daseins expliziert. Welt begegnet im „Wie des Besorgtseins“, so daß neben der Vertrautheit des Man auch die Auffälligkeiten und Störungen, der Kontingenz- und „Begegnischarakter“ der Welt auftreten. Erstmals werden in der Hermeneutik der Faktizität Kategorien der Existenz, die Existenzialien, benannt. Hervorgehoben wird insbesondere die „Ruinanz“: Ein Hineingehaltensein in den Fortgang der Zeit, welcher das Ethos, die Aufenthaltsdeutung in der Welt, entgegengesetzt wird. Die Abriegelung und Selbstverfehlung des Daseins wird unter die Rubrik der „Reluzenz“ gefaßt. Sorge wird als Grundphänomen des Daseins aufgewiesen. Besonders markant ist dabei, daß im Selbst- und Weltverstehen des Daseins „Die Sorge“ als das Primäre erwiesen wird.

Heideggers Phänomen-Begriff geht in ontologischer Hinsicht grundlegend über denjenigen Husserls hinaus. Husserl zog in seinen „Prinzipien der Prinzipien“ die Grenzen, in denen sich die Erscheinung gibt, doch wurden diese Grenzen bei ihm nicht thematisch. In „Sein und Zeit“ ist der Phänomen-Begriff von den altgriechischen Wörtern „phaonmenon“ und „phainestai“ her eingeführt. Das Phänomen ist das „Sich-an-ihm-selbst-Zeigende, das Offenbare“. Das Sein des Seienden muß aber in ausgezeichnetem Sinne Phänomen genannt werden, obwohl es sich selbst nicht zeigt. Schon in seiner im Wintersemester 1925/’26 gehaltenen Marburger Logik-Vorlesung hatte Heidegger festgehalten: „Der Titel Phänomen bedeutet also gewissermaßen immer eine Aufgabe“ (in: Band 21 der „Werke [GA]“, S. 33 [**]). Heidegger hat gerade dieses „Verborgene“, das ontologisch „Sinn und Grund“ des sich zeigenden Seienden ausmacht, thematisiert; weil ihm zugfolge dieses Verborgene gerade das „Sein des Seienden“ ist, das „aus seinem eigensten Sachgehalt“ fordert, als Phänomen zu erscheinen.


Anthropologie/Anthropologismus und Psychologie/Psychologismus.

Seit seinen philosophischen Anfängen hat sich Heidegger gegen eine Anthropologisierung der Philosophie stark gemacht. Die fundamentalontologische Frage nach dem Dasein und dessen Bezogenheit auf das Sein ist nicht mit Anthropologie zu verwechseln. Auch hat Heideggers Kritik an der Anthropologie Husserls Einwände gegen Psychologie und Psychologismus fortgesetzt. Heidegger zufolge ist darin zudem eine biologistische Verkürzung zu sehen, wie er insbesondere in seinen Nietzsche-Vorlesungen verdeutlicht hat. Die Struktur des Einwandes geht allerdings auf Heideggers phänomenologische Vorlesungen seiner frühen Zeit als Dozent zurück. Auch Heideggers grundsätzliche Einwände gegenüber einer Subjektivierung des Grundverhältnisses des Menschen zur Welt haben zu einem kritischen Verhältnis zur Anthropologie geführt. Auf dem Weg der Kehre wird zwar vom Menschen her auf das Seinsgeschehen geblickt, dies bedeutet aber keineswegs einen anthropologischen Blick (vgl. z.B.: „Über den Anfang“, 1940, S. 133; „Das Ereignis“, 1941: S. 174 f.).

Heidegger hat sich immer wieder in den Auseinandersetzungen ausdrücklich gegen ein psychologistisches Mißverständnis der Exposition von Grundbegriffen der Phänomenologie und Ontologie des faktischen Daseins gewehrt. Von seinen Anfängen an ist Heidegger einer Kritik am Psychologismus verpflichtet gewesen, wie sie am Anfang von Husserls phänomenologischem Programm stand. Die Psychologie ist auf einer ähnlichen Ebene zu sehen wie die Anthropologie: als Verkürzung.

„Und ich bin mir ziemlich sicher, daß dieser eigenartige subtile Mechanismus auch dafpür sorgen wird, daß Heidegger immer eine Stelle besetzt halten wird, auf die man ständig zurückkommt, wenn man in eine ganz bestimmte Tiefendimension des Nachdenkens über das Leben eintaucht.“ (Rüdiger Safranski, Heidegger, Film, 2001 ).
„Medard Boss hatte sich Heidegger schriftlich zugewandt und suchte im Denken Heideggers die Möglichkeit einer gewandelten Grundlegung ....“ (Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heidegger, Film, 2001 ).
„Im wesentlichen beginnt der Brückenschlag zwischen dem therapeutischen Philosophieren und dem Idealismus schon im Frühwerk Fichtes, bei dem man übrigens eine sehr schöne, hier einschlägige polemische Bemerkung findet. In einer Fußnote zur Grundlegung der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 schreibt er einmal ..., die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Larva im Monde, als für ein Ich zu halten (**).“ (Peter Sloterdijk, Heidegger, Film, 2001 ).
„Nur wenn das geschieht, was in diesem Funkenschlag zwischen Boss und Heidegger einerseits und Heidegger und Lacan andererseits sich schon einmal abgezeichnet hatte - nämlich, daß die Medizin (Medizin? HB) aus ihrem dogmatischen naturalistischen Schlummer erwacht und einen existierenden Menschen als Patienten vor sich sieht, einen Menschen, dessen Patiens mit seiner ontologischen Ekstase in der Tiefe verbunden ist -, erst dann würde diese philosophische Therapeutik, die sich in Heideggers Werk abzeichnet oder andeutet, auf einer breiteren Ebene Früchte tragen. Und ich bin überzeugt davon, daß es in der nächsten Generation viele Schritte in der zeitgenössischen Philosophie geben wird, die diese Kräfte verdeutlichen.“ (Peter Sloterdijk, Heidegger, Film, 2001 ).

Die Psychiater/Psychoanalytiker Ludwig Binswanger und Medard Boss waren an Heideggers Daseisnanalyse sehr interessiert (sie benannten ihre psychiatrische und psychoanalytische Richtung nach Heideggers „Daseinsanalyse“). Genauer gesagt: Ludwig Binswanger hatte Heideggers Daseinsanalyse, die als wissenschaftliche Fundierung der Psychiatrie gedacht war, für den therapeutischen Kontext fruchtbar gemacht, und Medard Boss gelang es später, nämlich ab 1959, Heidegger für seinen eigenen Ansatz innerhalb der Psychiatrie/Psychoanalyse mit ihren Ansätzen zu Diagnose und Therapie zu gewinnen, denn es sollte ja darum gehen, nicht mehr nach hinter den Dingen liegenden Erklärungen für psychiatrische Erkrankungen zu suchen, sondern diese ausgehend vom Verstehen des gesunden und kranken Gesamtdaseins des Menschen zu begreifen. Heideggers Analysen des Daseins boten hierfür die nötige Erkenntnis, den Menschen in seinem Gesamtsein als verstehendes Ganzes zu betrachten, der die Ursache der Subjekt-Objekt-Spaltung selber ist und die ihm selber nicht zugrunde liegt, und somit dem traditionellen mechanistisch kausalen Verständnis der modernen Wissenschaften ein neues, dem Wesen des Menschen gerecht werdendes Verstehen entgegenzusetzen. Heidegger zufolge unterscheidet sich die Daseinsanalyse von Boss letztendlich auch wissenschaftlich vom Ansatz Binswangers (vgl. die von Heidegger von 1959 bis 1969 gehaltenen, später unter dem Titel veröffentlichten „Zollikoner Seminare“). Krankheit wird gemäß diesem Ansatz als Ausdruck der wesensmäßigen Endlichkeit des Daseins verstanden. Heilung wird demnach als Begegnung im Sinne des Mit-Seins mit Anderen verstanden; der Arzt oder Therapeut ist als Partner in das Krankheitsgeschehen eingebunden (vgl. „Übertragung“) und soll dem Kranken aus der Enge der durch die Begrenztheit des Daseins vorgegebenen Einschränkung helfen. Die Daseinsanalyse - als psychotherapeutische Richtung auch „Daseinsanalytik“ genannt - ist ein prominentes Beispiel für die Einflußnahme von Heideggers Phislosophie auf ein angewandt-therapeutisches Feld. Ähnlich wie in der Logopädie und anderen therapeutischen Richtungen ist auch die Daseinsanalytik nicht das Unbewußte, sondern das Bewußte der Leitfaden, genauer: die sich bewußt bestimmende Existenz, d.h. das sich bewußt bestimmende Dasein in den verschiedenen Horizonten seines In-der-Welt-Seins.


Wissenschaft und Technik.

Der Entwurfscharakter der Wissenschaft bedeutet Heidegger zufolge - aber nicht nur Heidegger zufolge (!) - zunächst einmal eine Vereinzelung in spezifische Gegenstandsbereiche und ihre Verfahren. Damit wurde die Wissenschaft zur Forschung. Der Wissenschaft ist ihr eigenes Wesen bis heute verborgen geblieben. Sie hat bis heute nicht erkannt, auf welche Grundbegriffe sie eigentlich ausgelegt ist. Heidegger hat dies in einer seiner Vorlesungen auf eine einfache Formel gebracht: „Die Wissenschaft denkt nicht.“ (Gedruckt erschienen in: Was heißt Denken, S. 9. **) Später sagte Heidegger in einem Gespräch mit Richard Wisser, das als Film festgehalten worden ist: „Und dieser Satz »Die Wissenschaft denkt nicht«, der viel Aufsehen erregte, als ich ihn in einer Freiburger Vorlesung aussprach, bedeutet: Die Wissenschaft bewegt sich nicht in der Dimension der Philosophie, sie ist aber, ohne daß sie es weiß, auf diese Dimension angewiesen. Zum Beispiel: Die Physik bewegt sich im Bereich von Raum und Zeit und Bewegung; was Bewegung, was Raum; was Zeit ist, kann die Wissenschaft als Wissenschaft nicht entscheiden. Die Wissenschaft denkt also nicht, d.h. sie kann gar nicht denken im Sinne mit ihren Methoden. Ich kann z.B. nicht physikalisch oder mit physikalischen Methoden sagen, was die Physik ist; sondern das, was die Physik ist, kann ich nur denkend, philosophierend sagen. Der Satz »Die Wissenschaft denkt nicht« ist kein Vorwurf, sondern ist nur eine Feststellung der inneren Struktur der Wissenschaft, daß zu ihrem Wesen gehört, daß sie einerseits auf das, was die Philosophie denkt, angewiesen ist, sie selbst aber das vergißt und nicht beachtet.“ (In: Im Denken unterwegs **) Keine Wissenschaft kann mit ihren eigenen Mitteln etwas über sich, über ihr Tun und über ihre Grundbegriffe oder auch Stammbegriffe (Kategorien) aussagen, ist aber unbedingt auf die Philosophie angewiesen, weil die Philosophie nämlich die einzige Disziplin ist, die das kann.

„Die Naturwissenschaft macht zwar notwendig von einer bestimmten Vorstellung von Kraft und Bewegung und Raum und Zeit Gebrauch, aber sie kann niemals sagen, was Kraft, Bewegung, Raum, Zeit sind, weil sie solches nicht fragen kann, solnage sie Naturwissenschaft bleibt und nicht unversehens den Übertritt in die Philosophie vollzieht. Daß jeder Wissenschaft als solcher, d.h. als der Wissenschaft, die sie ist, ihre Grundbegriffe und das, was diese begreifen, unzugänglich bleiben, hängt damit zusammen, daß keine Wissenschaft je mit ihren eigenen wissenschaftlichen Mitteln etwas über sich aussagen kann. Was Mathematik sei, läßt sich niemals mathematisch ausmachen; was Philologie sei, läßt sich niemals philologisch erörtern; was Biologie sei, kann niemals biologisch gesagt werden. Was eine Wissenschaft sei, ist schon als Frage keine wissenschaftliche Frage mehr. In dem Augenblick, wo die Frage nach der Wissenschaft überhaupt, d.h. immer zugleich nach den bestimmten möglichen Wissenschaften gestellt wird, tritt der Fragende in einen neuen Bereich mit anderen Beweisansprüchen und Beweisformen, als die sind, die in den Wissenschaften für geläufig gelten. Es ist der Bereich der Philosophie. Sie ist den Wissenschaften nicht angeklebt und aufgestockt, sie liegt im innersten Bereich der Wissenschaft selbst verschlossen, so daß der Satz gilt: Eine bloße Wissenschaft ist nur so weit wissenschaftlich,d.h. über eine bloße Technik hinaus echtes Wissen, als sie philosophisch ist. Man kann von hier aus das Ausmaß des Widersinns und Unsinns abschätzen,der in einem Streben liegt, das die »Wissenschaften« angeblich erneuern und gleichzeitig die Philosophie abschaffen will.“ (In: Nietzsche I, S. 332-333. **)

Ernst Jünger, „Der Arbieter“, 1932
Heidegger hat immer wieder ausdrücklich nach dem Wesen der Technik gefragt. Das Wesen der Technik ist selbst nichts Technisches, sondern resultiert aus einer metaphysischen Grundstellung. Diese hat er als Endpunkt der neuzeitlichen Metaphysik spezifiziert. Aus dem Paradigma der Vorstellung des cartesischen „Ego cogito“ ist der Bestand geworden, so daß die elaborierte, entfesselte Technik die Welt nicht mehr Welt sein läßt, sondern ausschließlich in ihrer Präpariertheit, als „Gestell“ eben thematisch macht. Die Vernutzungen in ihrer Wiederholungsstruktur zeichnen die Technik aus. Damit ist im technischen Paradigma die pragmatische Gebrauchsdimension verunmöglicht. Das Dasein ist selbst in das technische Gestell einbezogen. Nachdem Nietzsches Wille zur Macht die letzte Ausprägung einer Metaphysik gewesen ist, entfesselt sich die Technik als „Wille zum Willen“ und als Form der Selbstermächtigung. Für die Generierung dieses Technikbegriffs spielt Ernst Jüngers Begriff des Arbeiters eine Schlüsselrolle (vgl. z.B.: Zu Jünger, in: Gesamtausgabe, Band 90). Das technische Weltverhältnis bedeutet Bestandssicherung und Wachstum. Das rechnende Denken reduziert sich auf die kybernetische Operation der Unterscheidung von 0 und 1.

In dem Gestell also zeigt sich das Wesen der modernen Technik. Da das Wesen der Technik selbst nichts Technisches ist, kann man es auch bezeichnen als ein „seinsgeschichtliches Geschick der in der Vergessenheit ruhenden Wahrheit des Seins“ (In: Brief über den Humanismus, a.a.O., S. 340 **). Die Technik stammt nicht nur dem Namen nach, sonder auch wesensgeschichtlich „aus der tecnh als einer Weise des alhqenein, das heißt des Offenbarmachens des Seienden“ (ebd. **). Darum gründet die Technik Heidegger zufolge im „Ereignis“ selbst (das „Ereignis“ ist eng mit dem Sein verknüpft!), der Ermöglichung der Metaphysik. Obwohl Heidegger die Technik mit der Seinsverlassenheit bzw. Seinsverwahrlosung gleichgesetzt und sie als Machenschaft herausgehoben hat, hat er auch in ihr selbst die „Kehre“ auf das Ungedachte in der Seinsgeschichte sich vollziehen gesehen: „Ich sehe also im Wesen der Technik den ersten Vorschein eines sehr viel tieferen Geschehnisses, was ich das Ereignis nenne.“ (In: Im Denken unterwegs **) Die Technik hat die Tendenz ins „Riesenhafte“, in ein Wachstum, das an natürlichen Ressourcengrenzen nicht mehr gebunden ist. Daher übergreift die Technik auch alle politischen Systeme. Ethische Maximen erweisen sich angesichts der autopoietsichen Macht der Technik als hinfällig. Sie kann nur durch eine grundlegende Umkehrung der Denkart und des Seinsverständnisses berichtigt werden.

Heideggers Technikphilosophie geht über eine herkömmliche Entfremdungsanalyse ebenso entschieden hinaus wie über anthropologische oder kulturphilosophische Technikphilosophien.

Die neuzeitliche Technik entspricht einer vollständigen Seinsverlassenheit und einem Seinsentzug. Heidegger hat aber eben auch, wie schon angedeutet, gerade aus der seinsgeschichtlichen Lage der Technik eine mögliche Rückkehr des bislang ungeborgenen Seins des Seienden erwartet.

„In diesen Tagen sind wir selbst Zeugen eines geheimnisvollen Gesetzes der Geschichte, daß ein Volk eines Tages der Metaphysik, die aus seiner eigenen Geschichte entsprungen, nicht mehr gewachsen ist und dies gerade in einem Augenblick, da diese Metaphysik sich in das Unbedingte gewandelt hat. Jetzt zeigt sich, was Nietzsche (angeblich der »Antimetaphysiker« [**|**]; HB) bereits metaphysisch erkannte, daß die neuzeitliche »machinale Ökonomie«, die maschinenmäßige Durchrechnung alles Handelns und Planens in ihrer unbedingten Gestalt ein neues Menschentum fordert, das über den bisherigen Menschen hinausgeht. Es genügt nicht, daß man Panzerwagen, Flugzeuge und Nachrichtengeräte besitzt; es genügt auch nicht, daß man über Menschen verfügt, die dergleichen bedienen können; es genügt nicht einmal, daß der Mensch die Technik nur beherrscht, als sei diese etwas an sich Gleichgültiges, jenseits von Nutzen und Schaden, Aufbau und Zerstörung, beliebig von irgendwem zu beliebigen Zeiten Zwecken nutzbar. - Es bedarf eines Menschentums, das von Grund aus dem einzigartigen Grundwesen der neuzeitlichen Technik und ihrer metaphysischen Wahrheit gemäß ist, d.h. vom Wesen der Technik sich ganz beherrschen läßt, um so gerade selbst die einzelnen technischen Vorgänge und Möglichkeiten zu lenken und zu nützen (oder von ihnen gelenkt und genutzt zu werden; HB). Der unbedingten »machinalen Ökonomie« ist im Sinne der Metaphysik Nietzsches nur der Über-mensch gemäß, und umgkehrt: dieser bedarf jener zur Errichtung der unbedingten Herrschaft über die Erde (oder umgekehrt: die Maschinen bedürfen der letzten Menschen zur Errichtung der unbedingten Herrschaft über die Erde; HB).“ (In: Nietzsche II, S. 146-147. **)

„Die Philosophie löst sich in selbständige Wissenschaften auf. Sie heißen: Logistik, Semantik, Psychologie, Anthropologie, Soziologie, Politologie, Poetologie, Technologie. Zugleich mit der Auflösung in die Wissenschaften wird die Philosophie abgelöst durch eine neuartige Einigung aller Wissenschaften. Die Übermächtigung der Wissenschaften durch einen in ihnen selbst waltenden Grundzug vollzieht sich im Heraufkommen dessen, was sich unter dem Titel Kybernetik auszubauen versucht. Dieser Vorgang wird dadurch gefördert und beschleunigt, daß ihm die moderne Wissenschaft zufolge ihres Grundcharakters selbst entgegenkommt.“ (In: Rede am Vorabend des 60. Geburtstags von Eugen Fink **).

Mit „Gestell“ (auch „Ge-stell“) hat Heidegger den Grundzug der neuzeitlichen und modernen Technik benannt, dabei einen Doppelcharakter des Gestells expliziertend, denn es zeigt sich als „äußerste Vergessenheit und zugleich als Wink in das Ereignis“. Das Gestell steht im Zusammenhang mit dem „Stellen“, einer „herausfordernden“ Grundhaltung gegenüber dem Sein des Seienden, das sich im Wesen der modernen Technik manifestiert. Die Seinsvergessenheit erfährt im Gestell ihre höchste Zuspitzung, denn alles Seiende wird in den Bestand einbezogen. Daß sich gerade im Gestell eine Wendung bzw. Umkehrung auf das Sein vollzieht, ist das oft übersehene Mysterium der Seinsgeschichte. Deshalb hat Heidegger bemerken können, daß das Gestell ein Vorspiel des Ereignisses sei. „Dieses verharrt jedoch nicht notwendig in seinem Vorspiel. Denn im Er-eignis spricht die Möglichkeit an, daß es das bloße Walten des Gestells in ein einfacheres Ereignen verwindet.“ (In: Identität und Differenz, a.a.o, S. 45 f.. **) Heidegger hat auch den nachstellenden, einholenden Charakter des Gestells notiert, weshalb er als dessen Wesenszug „die Gefahr“ bestimmt hat. Abstände und Entfernungen werden im Gestell getilgt.


Humanismus.

In diesem Text soll es in erster Linie um Heideggers 1947 erschienenen Brief über den Humansimus (**) und seine Folgen gehen. 50 Jahre nach dem Erscheinen dieses „dicken“ Briefes hielt Peter Sloterdijk aus Anlaß dieses Jubiläums am 15. Juni 1977 seine Rede „Regeln für den Menschenpark“ in Basel. Im Juli 1999 wiederholte er in Elmau diese Rede und bekam anschließend eine „Sloterdijk Debatte“ (**) um die Ohren gehauen. Diese Rede erschien noch 1999 als Buch - mit dem Untertitel: „Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus“. Darin ist eine von Sloterdijk selbst als „Epochenfrage“ genannte Frage gestellt: „Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben ist, wer oder was als Erzieher wozu erzieht?“ (**). In Heideggers Brief über den Humanismus ist u.a. zu lesen:

„Substanz« ist, seinsgeschichtlich gedacht, bereits die verdeckende Übersetzung von ousia, welches Wort die Anwesenheit des Anwesenden nennt und meistens zugleich aus einer rätselhaften Zweideutigkeit das Anwesende selbst meint. Denken wir den metaphysischen Namen »Substanz« in diesem Sinne, der in »Sein und Zeit« der dort vollzogenen »phänomenologischen Destruktion« gemäß schon vorschwebt (vgl. S. 25), dann sagt der Satz »die ›Substanz‹ des Menschen ist die Ek-sistenz« nichts anderes als: die Weise, wie der Mensch in seinem eigenen Wesen zum Sein anwest, ist das ekstatische Innestehen in der Wahrheit des Seins. Durch diese Wesensbestimmung des Menschen werden die humanistischen Auslegungen des Menschen als animal rationale, als »Person«, als geistig-seelisch-leibliches Wesen nicht für falsch erklärt und nicht verworfen. Vielmehr ist der einzige Gedanke der, daß die höchsten humanistischen Bestimmungen des Wesens des Menschen die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren. Insofern ist das Denken in »Sein und Zeit« gegen den Humanismus. Aber dieser Gegensatz bedeutet nicht, daß sich solches Denken auf die Gegenseite des Humanen schlüge und das Inhumane befürworte, die Unmenschlichkeit verteidige und die Würde des Menschen herabsetze. Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt. Freilich beruht die Wesenshoheit des Menschen nicht darin, daß er die Substanz des Seienden als dessen »Subjekt« ist, um als der Machthaber des Seins das Seiendsein des Seienden in der allzu laut gerühmten »Objektivität« zergehen zu lassen.“ **

Heideggers Grundgedanke seines „Denkens ist ja gerade der, daß das Sein beziehungsweise die Offenbarkeit des Seins den Menschen braucht und daß umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, insofern er in der Offenbarkeit des Seins steht.“ (**). Und darum ist es nur folgerichtig, die Aufgabe des Menschen als das Hüten des Seins zu denken:

„Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins »geworfen«, daß er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins. Für den Menschen aber bleibt die Frage, ob er in das Schickliche seines Wesens findet, das diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäß hat er als der Ek-sistierende die Wahrheit des Seins zu hüten. Der Mensch ist der Hirt des Seins. Darauf allein denkt »Sein und Zeit« hinaus, wenn die ekstatische Existenz als »die Sorge« erfahren ist (vgl. §44a, S.226ff.).“ **

Die künftigen Denker müssen das Sein lernen.

Peter Sloterdijk auf dem Brocken
Steht das Wort „Humanismus“ in seiner tiefsten Bedeutung nicht viel mehr für das Böse als für das Gute in den Menschen oder, anders gesagt, mehr für das den Menschen entweder umzingelnde Böse - versinnbildlicht durch den Teufel, der z.B. „die Räume eng macht“ und auf die Angst setzt, weil er selbst sich einst verengt hat und seitdem verängstigt ist - als das ansonsten in den Menschen zu findende Gute? Kommt dieses Böse eher von außen, oder ist es gar „mitten in der Welt“ - der Teufel als erster mitten in der Welt - und beeinflußt die Menschen von innen heraus, z.B. vom Kern der Erde aus? Der kosmologische Raum ist Aristoteles und dem späteren Christentum zufolge so aufgeteilt, daß „unterhalb des Mondes“ die „unvollkommenen“, weil dem Bösen direkt ausgesetzten Wesen und „oberhalb des Mondes“ die „vollkommenen“ Wesen des Guten sich aufhalten. Und wenn dies alles auch nur ein Bild ist, dem man zwar möglicherweise, aber doch nicht notwendigerweise, in der Wirklichkeit vielleicht nur gemäß einer Wahrscheinlichkeit und also vielleicht gar nicht ausgesetzt ist, dann kann es doch auch eine „Zeit vor dem Bösen gegeben haben“, wofür ja auch die Geschichte des Teufels selber spricht: er war anfangs ein Engel, wollte sein wie Gott, konnte es aber nicht, wurde trotzig und begann, alles um ihn herum „anzustecken“. Darum war Heidegger auch in dieser Hinsicht einfach nur konsequent, als er davon ausging, daß der Mensch als „Dasein“, das sein „Da“ deuten kann und darum ein „In-der-Welt-Sein“ ist, sich der Angst oder der tiefsten Langeweile auszusetzen hat, wenn es frei vom Uneigentlichen, also eigentlich werden, sein Selbstsein verstehen will. Der Mensch muß sich der Gefahr um seiner selbst willen stellen oder, wie Peter Sloterdijk sagte, als er mit Rüdiger Safranski zusammen auf dem Brocken saß und dem Morgengrauen des 1. Mai 1999 entgegenphilosophierte:
„Die Welt hat kein Geländer in der Heideggerschen ekstatischen Lehre vom Ort - von dorther glaube ich, daß er trotz
allem das Anliegen der klassischen Metaphysik mit den Mitteln unseres Jahrhunderts sehr wohl weitergedacht hat.“
Muß nicht jeder Mensch selber etwas oder gar viel dafür tun, das Böse - in welcher Gestalt auch immer - von sich fern zu halten? Ist es nicht so, daß Wörter oder Begriffe wie „Gottvertrauen“, „Optimismus“ „Menschlichkeit“ und eben oder gar besonders „Humanismus“ die Menschen eher dazu verleiten, die Gefahr wegen vermeintlicher „Gutheit“, vermeintlichen „Gutmenschentums“ gar nicht mehr zu erkennen, das Böse mit dem Guten zu verwechseln und mit einer um so höheren Wahrscheinlichkeit Opfer bzw. Mittäter des Teufels zu werden?

Heideggers Geburtshaus

Peter Sloterdijk zufolge muß man, „wenn Heidegger im Brief an den jungen Franzosen im Jahr 1946 das Etikett Humanismus zurückweist mit der Bemerkung, solche Begriffe hätten schon genug Unheil angerichtet, ... die historische Szene mitbedenken - dieses Bilanzziehen nach dem Schlimmsten und dieses Hinwirklen auf eine tiefere Diagnose hinsichtlich der modernen Menschenwelt, die in ihren Massenvernichtungsorgien gewissermaßen ihre Selbstdarstellung vollzogen hätte. Man müßte eher in den Blitz der Katastrophe schauen, um zu erfahren, wie es um die Sache des Seins und des Menschen wirklich steht. ....
Hütte im Schwarzwald
Man kann weder unverwandt in die Sonne blicken noch in den Tod. Nach Heidegger wäre hinzuzufügen, man kann auch nicht in den Menschen oder in die Lichtung blicken. .... Heidegger regt an, daß man nicht nur das anschaut, was im Licht liegt, sondern daß man darüber nachdenkt, wie das Licht und die Dinge zusammenkommen, anders gesagt, man soll die Lichtung als solche meditieren. Die Lichtung ist gleichsam der weltgebende Blitz, und diesen sollten wir jetzt eigens vergegenwärtigen. Aber wer direkt in ihn schaut, wird geblendet. Wenn man es recht überlegt, geht es Heidegger darum, eine Art von anonymer Religion zu stiften, abseits der klassischen Metaphysik und doch auf eine konservative Weise, eine Religion der Lichtung. Deren Grundsatz lautet, daß die Menschen noch verhaltener und noch gesammelter zu werden haben, als sie es waren. Sie sollen nicht nur die Zehn Gebote beachten oder auf dem achtfachen Pfad wandeln, was gut und ehrenhaft bleibt, eins wie das andere, und für immer unverzichtbar. Sie sollen zusätzlich ein elftes, ein ontologisches Gebot beachten und einen neunten Zweig des Pfads betreten, wenn man so sagen dürfte. Voraussetzung dafür ist, daß sie den Blitz bedenken und sich in seinem Licht selber als die Unheimlichen fürchten lernen. Der Mensch kennt sich selber noch gar nicht, weil er noch nie richtig nach sich selbst gefragt hat. Wenn er sich konventionell als animal rationale definiert, fügt er nur zwei scheinbar vertraute Größen zusammen: Er bildet sich ein, zu wissen, was Tiere sind, und er glaubt zu verstehen, was die Ratio ist, und indem er die beiden Trivialitäten addiert, meint er zu guter Letzt, er habe Übersicht hergestellt und sei bei sich zu Hause.
Haus in Freiburg
Auf dieser Ebene argumentieren auch heute noch oder schon wieder all diejenigen, denen die Ungewißheiten und Unübersichtlichkeiten, alt oder neu, zu viel geworden sind und sich in einem »neuen Humanismus« retten wollen, zum Beispiel die reaktionären Neokantianer in Frankreich, die das angeblich antihumane Denken von 1968 zuerst verhunzt und dann in seiner Verhunzungsgestalt scharf abgelehnt haben. Human, da weiß man, was man hat: Der Humanismus ist der Fundamentalismus unserer Kultur, er ist die politische Religion des globalisierten okzidentalen Menschen, der sich für so gut und klarsichtig hält, daß er sich gern überall nachgeahmt sähe. -
Hütte im Schwarzwald
Heidegger ist ein Ontologe der Unheimlichkeit des Menschen bei sich selbst, wenn er darauf hinweist, daß der Mensch den Ort im Seienden innehat, wo sich die Seinsfrage überhaupt erst stellt. Durch den Menschen hindurch geschehen all diese explosiven Ereignisse wie der Weltkrieg als planetarische Projektion der Machtfrage und die Totalbenutzung der Erde und des Lebendigen für die Produktion, den Verkehr, den Konsum. Wo so gefragt wird, ist es mit der Erbaulichkeit des Humanismus in Schule und Sonntagspolitik vorbei. .... - Versuchen wir, die ontologische Exzentrik der menschlichen Situation, dieses Hinausstehen ins Offene, näher zu charakterisieren. Die Natur wird von der modernen Wissenschaft beschrieben als eine sich selbser bauende Hypermaschine. Der gängige Ausdruck für Selbstbau heißt Evolution. Innerhalb des großen physikalischen Maschinenbaus, von dem die Kosmologie und die Geologie handeln, finden zwei Prozesse des Sondermaschinenbaus statt: Zum einen werden Lebensmaschinen gebaut, und zwar autoplastisch oder autopoietisch. Das ist schon unheimlich: daß es da auch noch lebt und nicht nur »ist«, daß es spürt und treibt, daß in die Welt punktuell so etwas wie beginnende Weltoffenheit eingebaut wird, durch organismische Sensibilität, durch Pflanzlichkeit, durch Tierwerdung. Seltsam, daß die leidlosen Atome so leichtsinnig waren, sich auf Nervlichkeit, auf Schmerz und Gedächtnis einzulassen, lange vor dem Menschen. Ist das nicht eine Unfaßbarkeit für sich? 
Haus in Freiburg
Das ist sie ohne Zweifel, aber nur, wenn der Mensch da ist, dem sie auffällt. Sie kann ihm freilich nur auffallen vor dem Hintergrund seiner eigenen, noch größeren Ungeheuerlichkeit, seiner noch enormeren Auffälligkeit, seiner ontologischen Ekstase, die man diskret mit dem Allerweltswort Existenz bezeichnet. Damit kommen wir zu dem zweiten Sonderaspekt: daß beim Menschen zusätzlich zur Lebensmaschine evolutionär so etwas wie eine Geistmaschine enststanden ist als die Möglichkeit, zu denken und im Denken die Welt als Welt aufgehen zu lassen.
Hütte im Schwarzwald
Heidegger hat in einem quasi-naturwissenschaftlichen Passus der Grundbegriffe der Metaphysik, 1929-1930, nach dem berühmten Langeweile-Abschnitten, die Differenzen zwischen der Weltlosigleit der Steine, der Weltarmut des Tieres und dem weltbildenden Wesen des Menschen herausgearbeitet, im übrigen mit einer Darstellungskraft, die kaum ihresgleichen hat, zugleich professoral und dämonisch. Das läßt sich auch so lesen, als sei beim Menschen zu allem Bisherigen eine Art von ontologischem Organ hinzugekommen, ein Welt-Sinn oder eine Totalitätsfühligkeit, wie sie kein Tier besitzen konnte - vorausgesetzt, der Mensch »macht auf« und hebt den Kopf und existiert. Ansonsten bliebe auch für Mitglieder der Menschengattung wahr, was Heidegger bemerkt: »der vulgäre Verstand sieht vor lauter Seiendem die Welt nicht«. Diese potenzierte Unheimlichkkeit der Seinsfrage, als Menschenfrage oder besser als Sein-durch-Menschen-Frage gestellt, macht den enormen Angriffswert der scheinbar so betulichen Heideggerschen Reflexionen aus. Manche Zeitgenossen haben gespürt, daß Fragestellungen von einer ähnlichen Mächtigkeit nur in den Zeiten der Schöpfung der Hochreligionen aufgekommen waren. So umfassend, wie ein Religionsstifter nach dem Heilsweg fragt, fragt Heidegger nach der Wahrheit über den Menschen oder vermittels des Menschen. Man versteht ihn besser, wenn man ihn mit Lehrern der zurückgezogenen Weisheit wie Lao-Tse, mit indischen Denkmeistern wie Shankara und Nagarjuna oder Religionsgründern wie Paulus, Mani oder Luther in eine Linie stellt. Bei Gestalten dieses Ranges geht es um Neufassungen des modus vivendi.
Martin Heidegger
Bei Heidegger wird es für uns deswegen so unheimlich, weil uns die Zurückführung seiner Gedanken auf die mystischen Muster und die christlichen Analogien letztlich nichts nützt.
Hütte im Schwarzwald
Wir können nicht sagen, bei Meister Eckhart steht das alles schon, denn Meister Eckhart hat die Atombombe nicht erlebt, aber Heidegger hat sie erlebt, und mehr noch als das, er hat sie gedacht. Im Herbst 1946, als er den Humanismus-Brief redigierte, ... da waren seit einem Jahr die beiden amerikanischen Bomben über Japan abgeworfen .... Die Blitze von Hiroshima und Nagasaki waren so etwas wie Offenbarungen des Stands der Dinge auf der Linie seiner Betrachtungen. Die beiden Atompilze kamen, seiner Sicht gemäß, aus dem Kern des Humanozentrismus, sie waren Menschenwitz-und-Kunst in quintessentieller Form, sie waren Gestell und Explosion in einem, sie waren Offenbarungseid der modernen Physik und in gewisser Hinsicht die deutlichste Selbsterklärung nicht nur der amerikanischen, sondern der modernen Stellung zur Welt überhaupt. - Deswegen hat es keinen Sinn, Heidegger nach rückwärts zu lesen, als habe er dasselbe gesagt wie die deutschen Mystiker, nur angepaßt an den Geist der Zeit. Die Versuche, Heidegger vor den Blitzen unseres Jahrhunderts zu trennen, verarmen die Diskussion und verkleinern die Sicht. Er war in seiner Zeit der stärkste Interpret des historischen Ereignisses, daß die Menschen Herren über das nukleare Feuer geworden sind .... Ihm war klar, daß sich die Seinsfrage durch die Macht- und Technikfrage hindurch stellt. Und wie richtig das gesehen ist, bemerken wir heute nicht zuletzt daran, daß die Spitzentechnologie in den life sciences sich daran machen, die Codes des Lebendigen umzuschreiben.“ (Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 112-118).

Peter Sloterdijk, „Nicht gerettet - Veruche nach Heidegger“, 2001

In Sloterdijks 2001 veröffentlichten Buch Nicht gerettet (Versuche nach Heidegger) ist ein Kapitel mit dem Titel Domestikation des Seins (Die Verdeutlichung der Lichtung) belegt, in dem es u.a. heißt, daß das „ontologisch Monströse“ darin bestehe, „daß um ein nichtgöttliches Wesen herum alles Welt wird. Welt werden heißt sich in wahrheitsrelevanter Weise enthüllen. Was Heidegger die Lichtung nennt, bezeichnet nichts anderes als dieses Grundverhältnis. ....
Die stärksten Lektionen in der modernen Selbstinstruktion des Menschen gehen von den beiden Nukleartechnologien aus, mit denen im 20. Jahrhundert der Einbruch in den Tresor der Naturgeheimnisse geschah. Für die philosophischen Betrachtung taucht unweigerlich die Frage auf, ob und wie diese Natureröffnungstechniken mit dem Menschenwesen »zusammengehören«. Die Epoche, in der sich die Menschen in eine Unbelangbarkeit durch das Monströse absentieren zu können meinen, klingt aus. Weil sie Monstrotechniker geworden sind, wiederholen sie mit aktuellen Mitteln die Position der alten Theurgen oder Gott-Macher. Auch das allgemeine Bewußtsein nimmt etwas wahr vom unheimlichen und epochalen Charakter der neu ins Dasein getretenen Möglichkeiten. Das kollektive Gedächtnis hatte recht, den August 1945 mit den beiden Atombombenzündungen über japanischen Städten als das Datum der physikalischen Apokalypse und den Februar 1997 mit der Publikation der Existenz des Klonschafes als das Datum einer beginnenden biologischen Apokalypse festzuhalten. Es sind zwei Schlüsseldaten im Prozeß des Technik-Menschen gegen sich selbst, zwei Daten, die bezeugen, daß der Mensch weniger denn je vom Tier her, das er war und das zu sein er zuweilen noch vorgibt, verstanden werden kann. Sie beweisen, daß der Mensch - wir bleiben bis auf weiteres bei dem verdächtigen Singular - nicht im Zeichen des Göttlichen, sondern des Monströsen existiert. Mit seine avancierten Technik führt er einen Menschenbeweis, der unmittelbar in einen Monstrositätsbeweis übergeht. ....
Wir müssen die Erkundigung nach dem Menschen so führen, daß verständlich wird, wie er in die Lichtung heraustrat und wie er dort für »Wahrheit« empfänglich wurde. Es ist dieselbe Lichtung, in der vorzeiten der Mensch aufgehört hat, Tier in einer Umwelt zu sein, und in der jetzt das Blöken der menschengemachten Tiere zu hören sind. Es ist weder unser Fehler noch unser Verdienst, wenn wir in einer Zeit leben, in der die Apokalypse des Menschen etwas Alltägliches ist. ....
Wir lassen uns die Schlüsselworte für die neue Konfigurierung von Anthropologie und Seinsdenken wieder von Heidegger, dem Gegner aller bekannten Formen von Anthropologie, vorgeben. Wir finden sie erneut - wie bei der Rede Regeln für den Menschenpark - im dem Brief über den Humanismus (**), im Zusammenhang mit Sätzen und Wendungen, in denen die Rolle der Sprache bei der Lichtung des Seins erörtert wird.
»Die Sprache ist in ihrem Wesen nicht Äußerung eines Organismus, auch nicht Ausdruck eines Lebewesens. (**) .... Der Mensch ist der Hirt des Seins (**) .... Das Sein ist das Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen am fernsten. (**) ....
Diese Nähe west als die Sprache selbst. (**) .... Der Mensch aber ist nicht nur ein Lebewesen, das neben anderen Fähigkeiten auch die Sprache besitzt. Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch eksistiert. (**) .... So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz. Die Dimension jedoch ist nicht das bekannte Räumliche. Vielmehr west alles Räumliche und aller Zeit-Raum im Dimensionalen, als welches das Sein selbst ist. (**) ....
Ob dieses Denken ... sich noch als Humanismus bezeichnen läßt? Gewiß nicht, ... wenn er Existentialismus ist und den Satz vertritt, den Sartre ausspricht: precisement nous sommes sur un plan ou il y a seulement des hommes (L'Existentialisme est un humanisme, p. 36). Statt dessen wäre, von »S. u. Z.« her gedacht, zu sagen: precisement nous sommes sur un plan ou il y a principalement l'Être. Woher aber kommt und was ist le plan? L'Être et le plan sind dasselbe. (**) .... »Ek-sistenz« ist .... das ek-statische Wohnen in der Nähe des Seins. (**) .... Die Heimat dieses ... Wohnens ist die Nähe zum Sein. (**
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, 1946, a.a.O..)
Hülle
Feuer
Feuer
Höhle
Hütte
Die ... Termini ... - wenn sie denn Termini sind - Haus, Heimat, Nähe, Nächstes, Wohnen, Aufenthalt lassen erkennen, daß das menschliche Ek-sistieren eher im Zeichen von Räumlichkeit als von Zeitlichkeit gedacht wird, zumal wenn man das etymologische Pathos Heideggers respektiert, mit dem er Ek-sistenz und Ek-stase als Hinaus-Stehen oder Hinein-Gehaltenwerden in eine nicht näher bezeichnete räumliche und zeiträumliche »Dimension« oder Offenheit verstanden haben möchte. - Wir verwenden die Metapher vom Wohnen im Haus des Seins als Wegweiser für die anthropologische Denkbewegung und fargen also, auf welche Weise ein noch ganz vormenschliches Lebe-Wesen, ein Herdentier, das in paläontologischer Sicht irgendwo im Spektrum der Arten zwischen Nach-Affe und Vor-Sapiens angesiedelt werden muß, sich auf den Weg gemacht haben kann, der ins »Haus des Seins« führte. ....
Man kann plausibel zeigen, wie aus einem tierischen Im-Umwelt-Treibhaus-Sein ein menschliches In-der-Welt-Sein hat werden können. - Mit dem Sphärenkonzept wird eine Lücke im Feld der Raumtheorien geschlossen, die, bisher weitgehed unbemerkt, zwischen dem Umweltbegriff und dem Weltbegriff aufklafft. Wenn Umwelt-Haben ontologisch als Umschlossensein von einem Ring aus relevanten Umständen und Mit-Bedingungen für organisches Leben verstanden werden kann - vor allem von »Phänomenen« mit Nahrungs-, Kopulations- und Gefahren-Sinn -, In-der-Welt-Sein hingegen als ekstatisches Hinausragen ins Offene-Gelichtete zu deuten ist, so muß man annehmen, daß es eine Mittel-Welt-Lage oder ein Zwischen gibt, das weder Einschluß im Umwelt-Käfig ist noch purer Terror der Hineingehaltenheit ins Unbestimmte. Der Übergang von Umwelt in Welt zeigt sich in den Sphären als Zwischen-Welten. Sphären haben den Status einer »Zwischenoffenheit«. Sie sind Membranhüllen zwischen Innerem und Äußerem und somit Medien vor allen Medien. Auf diese mittlere »Zone« deutet Heidegger ... mit hoch auffälligem Nachdruck hin, wenn er Wörter wie Nähe, Heimat, Wohnen, Haus ins Feld führt - Ausdrücke, die Anheimelungswerte auf ontologischer Ebene anzeigen. Das Sphärische ist der Mittelwert zwischen der dichten animalischen Umringung und der lichten Apokalypse des Seins; es erlaubt seinen Bewohnern, sich zugleich in der Nähedimension und im Ungeheuren der Weltoffenheit und Weltäußerlichkeit zu lokalisieren. Es richtet die ursprüngliche räumliche »Struktur« von Wohnverhältnissen ein. Zugleich können Sphären als Austauscher zwischen Formen der animalisch-körperhaften und der menschlich-symbolischen Koexistenz fungieren, weil sie die physischen Berührungen, einschließlich des Stoffwechsels und der Fortpflanzung, ebenso wie die Fern-Intentionen auf Unberührbares wie den Horizonte und die Gestirne umgreifen. ....
Archäologische Funde in der Oldovai-Schlucht deuten darauf hin, daß vor mehr als anderthalb Millionen Jahren vormenschliche Wohnplätze der Homo-habilis-Stufe (bedeutet »Homo« nicht bereits »Mensch«? HB) durch Windpalisaden umgeben wurden. Damit wäre das Prinzip Wand als Klimamanipulator schon für eine Periode lange vor der Ausbildung des Sapiensmenschen nachgewiesen. Wollen wir die Menschwerdung und die Lichtung ausgehend vom »Haus« interpretieren, so muß es bereits bei den noch überwiegend tierischen Präsapienten etwas geben, was einer Interieurbildung und einem Häuserbau vor der Erfindung des Hauses im architektonischen Sinn des Wortes gleichkommt. ....
Ausgehend von spontanen Insulationen (**|**), die gewissermaßen Schutzräume in der Natur gegen die Natur vorzeichnen, bildet sich in der Evolution auf den Menschen zu bei gewissen Prä-Hominiden eine neue Dimension der Naturdistanzierung auf der Linie von zuerst zufälligem, dann elaboriertem und chronischem Werkzeuggebrauch. ....
Der Mensch stammt weder vom Affen ab ..., noch stammt er vom Zeichen ab ..., sondern er kommt vom Stein her, allgemeiner gesprochen vom harten Mittel, sofern wir uns zu der Ansicht verstehen, daß es der Steingebrauch war, der den Horizont der Prototechnik eröffnete.
Entwicklung
Entwicklung
Entwicklung
Als primitiver Steintechnologe, als Werfer und als Operateur von Schlag-Zeug, wird der Präsapiens zum Praktikanten des harten Mittels. Die Menschwerdung geschieht unter der Protektion der Lithotechnik. Denn im Einsatz von Steinen zum Werfen, Schlagen, Schneiden kommt das Prinzip der Technik: die Entlastung vom Körperkontakt mit Präsenzen in der Umwelt, erstmals zum Zuge. Das erlaubt dem werdenden Menschen, die Körperberührung auszuschalten und durch Steinberührung zu ersetzen. ....
Andere Forscher sehen das Kriterium in der Hegung des Feuers, das seit vielleicht anderthalb bis zwei Millionen Jahren, wie der Fund in der Höhle von EScale zeigt, bei Vormenschengruppen in Gebrauch ist. Es ist in seiner Mächtigkeit als Nischen- und Sphärenbildner und damit als Emanzipationsmitel für Menschengruppen gegenüber klimatischen und biogeographischen Hintergründen nie zu überschätzen. ....
Die Lichtung ist ein Werk der Steine, die zu anderen Steinen, zu entstehenden Händen und zu bearbeitbaren oder treffbaren Dingen passend werden. Der erfolgreiche Schlag ist die Vorform des Satzes.
NACH OBEN
Der treffende Wurf ist die erste Synthesis aus Subjekt (Stein), Kopula (Aktion) und Objekt (Tier oder Feind). Der durchgehende Schnitt präfiguriert das analytische Urteil. Sätze sind Wurf-, Schlag- und Schnittmimesis im Zeichenraum, wobei Affirmationen Wurf-, Schlag- und Schnitterfolge nachvollziehen, während Negationen aus der Beobachtung von fehlgehenden Würfen, mißglückten Schlägen und gescheiterten Schnitten geboren werden. Die ältesten Steinartefakte sind Werkzeug und Zeigzeug in einem. Sie sprechen von Anfang an von der Macht, die aus dem Gegenüber-Sein-Können folgt. ....
Man könnte versucht sein, den gesamten Vorgang unter dem Titel »Naturgeschichte der Naturdistanzierung« oder auch »Naturgeschichte der Verfeinerung« zusammenzufassen - das einzige, was gegen diese Formulierungen spräche, ist die Tatsache, daß das im englischen Emiprismus verankerte Konzept von natural history immer noch zu sehr an die Vorgaben einer habituell kultur- und technikblinden Biologie gebunden bliebe. In Wahrheit geht es schon bei diesem scheinbar einfachen, sprengmächtigen Vorgängen um nicht weniger als die Lichtung. Der Gebrauch des harten Mittels während der gesamten Dauer der altsteinzeitlichen Anthropogenese erzeugt eine evolutionär einzigartige Situation, in der die Organismen der Präsapienten von dem Zwang zu nur körperlichen Anpassung an die äußere Umwelt zunehmend freigesetzt werden. ....
Die Sapiens-Wesen weisen, wie die paläo-anatomische Forschung unmißverständlich gezeigt hat, eine Reihe von Merkmalen auf, die sich nur als Aufbewahrung von juvenilen, ja sogar von fötalen Bildungen bis in die Erwachsenenstufe verstehen lassen. Es ist das Proprium der Sapienten, daß sich bei ihnen dank des Treibhausprivilegs monströse Verwöhnungserfolge langfristig stabilisieren konnten: dies geht bis zur Beibehaltung intrauteriner Morphologien in der extrauterinen Situation - als könne sich dieses dissidente Tier es sich erlauben, den Gesetzen der Reifung zu entgehen. - Das alles deutet darauf hin, daß das »Haus des Seins«, in dem der Mensch zu wohnen eingeladen sein wird, nicht allein und nicht einmal in erster Linie durch die lichtende Kraft der Zeichen errichtet wird. Vor der Sprache sind es umweltdistanzierende Gesten des harten (wurf-, schlag- und schneidetechnischen) Typs, die den Menschenbrutkasten erzeugen und sichern. Der spezifische Ort des werdenden Menschen besitzt also funktional die Qualitäten eines technisch eingeräumten externen Uterus, in dem die Geborenen zeitlebens Ungeborenenprivilegien genießen. Danach reproduzieren sich die Lebe-Wesen, die eines Tages Menschen sein werden, zunächst und ausschließlich in einer Schonung, die sich am passendsten als autogener Park bezeichnen läßt. Die Schonung, in der es Menschen gibt, ist ein Effekt der primitiven Technik. Was Heidegger als das »Ge-stell« benennen und als fatales Seinsgeschick verstehen wird, ist zunächst nichts anderes als das Ge-Häuse, das Menschen beherbergt und durch Beherbergung unmerklich herstellt. (Heidegger kommt dem Begriff des Ge-Häuses sachlich zur Zeit des Kunstwerk-Aufsatzes, 1935, am nächsten, als er an dem Konzept eines guten Ge-stells [»das Kunstwerk stellt eine Welt auf«] arbeitete. ....
Beim modernen Menschentypus ist davon auszugehen, daß das traditionelle anthropogonische Treibhaus schon ganz die Eigenschaften eines Brutkastens übernimmt. Die uterusmimetischen Qualitäten des Menschen-»Ge-Häuses« erstrecken sich in der Folge auf die Adoloszenten und die erwachsenen Mitglieder der Gruppen und setzen auch bei ihnen Tendenzen zur Verspätung der reinen Fromen frei. ....
Gerade weil die menschlich riskanten Körper es sich aufgrund der langfristig stabilen und erfolgreichen Gruppenbrutkastentechnik haben leisten können, Züge ihrer fötalen und frühkindlichen Vergangenheit in die Gegenwart mitzunehmen, mußten sie lernen, ihren eigenen Brutkasten - in anderer Terminologie: ihre »Gesetze« - zunehmend explizit zu hüten. Die Verwöhnung erzwingt die Vorsorge, die Vorsorge stabilisiert die Verwöhnung. Was Heidegger die Sorge nennt, ist die Selbstabsicherung des Verwöhnungszusammenhangs. Diese Rückkopplung wird nötig, weil die Unwahrscheinlichkeit des luxurierenden Zustandes einen Gefährdungssinn freisetzt; sie wird möglich, weil dem verwöhnten Tier »werdender Mensch« mit seinem Hochleistungsgehirn, seinen angeborenen Werferqualitäten und seiner quasi universalen Hand die Mittel zur Verteidigung seiner Verwöhnung mitgegeben sind. Aus dem Verwöhnungsprozeß entsprungen, müssen diese evolutionär erworbenen Begabungen der weiteren Verwöhnung dienen. Die Zukunft ist zunächst nichts anderes als die Dimension, in der die Unwahrscheinlichkeit eines biologisch nahezu unmöglichen Zustandes mit technischer List stablilisiert werden will. In diesem Sinn sind die Menschen a priori luxuskonservativ. - Nur weil der Mensch zur Luxusvorsorge verdammt ist, kann Sein als Zeit verstanden werden. Heidegger kommt dieser Einsicht mit seiner Sorge-Theorie in Sein und Zeit ganz nahe ....
Der Mensch luxuriert ontologisch, weil er physiologisch luxuriert, und er luxuriert physiologisch, weiler in einem Treibhaus lebt, das offensiv stabilisiert werden muß. Eines Tgaes wird man diese Menschengruppen-Treibhäuser »Kulturen« nennen - man könnte das mit Selbstsorgesysteme übersetzen ....
Will man ... erklären, wie das Ge-Häuse als das »Haus des Seins« entstand und wie es bezogen und klimatisiert wurde, so ist hervorzuheben, daß es vor allem eine Wiederholung von Uterusleistungen im Öffentlichen, Gemeinsamen und »Objektiven« darstellt. Das Ge-Häuse ist ein offener Brutkasten. Nur durch den Einsatz grobtechnischer Mittel zur Umweltdistanzierung kann er erzeugt und auf Dauer gestellt werden. ....
Angesichts dieser Zusammenhänge kann man behaupten, daß alle Technik ursprünglich - und die längste Zeit unbewußt - Treibhaustechnik und ipso facto indiekte Gentechnik gewesen ist. Unter Perspektiven der Evolutionstheorie ist die umweltdistanzierende Praxis der Vormenschen und erst recht der beginnenden Menschen immer schon eine spontane Genmanipulation - Selbstbehausungstechnik mit der Nebenwirkung Menschwerdung. Ihr Starteffekt besteht in der Freigabe von evolutionärer Plastizität beim Einwohner des bizarren Raumes, der in dem Maß aufgeht, wie er durch eine Art von ekstatischer Einwohnung geöffnet und gedehnt wird. Weil Menschen nur als Geschöpfe des Wohnens vorkommen, sind sie instabiler, flüssiger, ihrer Art untreuer als je ein Tier vor ihnen.
Nur weil Menschen seit jeher in (wandernden oder lokal improvisierten) Gruppen-»Häusern« leben, können sie schon in einer relativ frühen Phase Windpalisaden und Hütten, in einer späten Phase ihrer Geschichte auch ortsfeste Häuser bauen ....
Um mit den Selbstgefährdungen fertig zu werden, die den Sapiens-Wesen aus ihrer biologischen Sonderstellung zuwuchsen, haben sie das Inventar von Selbstformungsprozeduren hervorgebracht, die wir heute unter dem Sammelbegriff Kultur diskutieren - ein Ausdruck, in dem normative Momente zusammenfließen mit der Einladung zum Vergleich von anderen Möglichkeiten. (Vgl. Dirk Baecker, Wozu Kultur?, 2000, S. 46.) Zu den kulturwirksamen Formungstechniken am Menschen gehören symbolische Institutionen wie die Sprachen (Sprache ist der Überbegriff zum Begriff Symbol - nicht umgekehrt! HB), die Grndungsgeschichten, die Heiratsregeln, die Verwandtschaftslogiken, die Erziehungstechniken, die Normierung der Geschlechts- und Altersrollen, nicht zuletzt die Vorbereitungen zum Krieg sowie die Kalender und die Teilung der Arbeit - all jene Ordnungen, Techniken, Rituale und Üblichkeiten, mit denen die Menschengruppen ihre symbolische und disziplinarische Formung selbst »in die Hand« genommen haben - mit besserem Recht könnte man sagen, in deren Hand sie selbst erst zu Menschen geworden sind. Diese Ordnungen und Formkräfte sind es, die der sinngerecht verwendete Ausdruck Anthropotechniken bezeichnet. ....
Wir haben ... die Menschwerdung als Effekt einer Hyper-Insulation (**|**) interpretiert. Auch hoch-insulierte Gruppen stehen weiterhin unter Außendruck, ja gerade sie bauen wegen ihrer internen Verfeinerung ein hohes Gefälle nach außen hin und geraten im Ernstfall unter erhöhte Spannung. Die Einbrüche der Umwelt in die prähuman-humanen Gruppenhüllen erreichen bereits früh ein fatale Dramatik. Wenn bei den Sapiensgruppen die Jäger wieder zu Gejagten werden; wenn Naturkatastrophen den Insulationsschutz aufheben; wenn äußere Gewalten in Tier- und Menschengestalt bis in den Mutter-Kind-Raum durchschlagen; wenn Feinde die Lagerstellen verwüsten, ganze Gruppen verletzen und verschleppen: dann treten Verhältnisse ein, in denen die Menschenwesen den höchsten Preis für ihre biologischen Verfeinerung und ihre ontologische Ekstase zahlen. ....
Als Heidegger die Sprache als das »Haus des Seins« bezeichnete, bereitete er die Einsicht in die Sprache als das allgemeine Organon der Übertragung vor. Mit ihr navigieren die Menschen in den Ähnlichkietsräumen. An ihr ist nicht nur wichtig, daß sie die nahe Welt aneignet, indem sie Dingen, Personen und Qualitäten zuverlässige Namen zuordnet und sie in Gecshichten, Vergleiche, Serien verstrickt. Entscheidend ist: Sie »nähert« das Fremde und Unheimliche, um es in eine bewohnbare, verstehbare, mit Einfühlung auskleidbare Sphäre einzubeziehen. Sie macht die menschliche Heraussetzung an die offene Welt lebbar, indem sie die Ekstase in Enstase übersetzt. Die »Tendenz auf Nähe« (**) setzt sich in der menschlichen Rede vom ersten Wort an durch: Sprache ist immer schon Nähe-Dichtung. Sie assimiliert das Unähnliche dem Ähnlichen - wie bei der Bildung von Metaphern besonders deutlich wird. Man könnte umgekehrt auch sagen, daß sie die Enstase im Gewohnten »hinaus«trägt in die Ekstase beim Ungewohnten. Ihre wesentliche Leistung besteht darin, wie Heidegger bemerkt, daß sie das Seiende im Ganzen verhäuslicht ....
Es ist weder unser Fehler noch unser Verdienst, wenn wir in einer Zeit leben, in der die Apokalypse des Menschen etwas Alltägliches ist. Wir brauchen nicht im Stahlgewitter, unter der Folter, im Auslöschungslager zu sein oder uns in der Nähe zu solchen Exzessen aufzuhalten, um zu erfahren, wie der Geist der äußeren Situationen im Innersten des Zivilisationsprozesses aufbricht. Die Vertreibung aus den Gewöhnungen des humanistischen Scheins ist das logische Hauptereignis der Gegenwart, dem man sich nicht durch Flucht in den guten Willen entzieht. Ihre Folgen reichen weiter als die Verteidiger der Bestände vermuten: Sie zerrüttet alle Illusionen des Bei-sich-Seins. Sie rückt nicht nur den Humanismus weg, sondern unterwandert das Gesamtverhältnis, das Heidegger als »Wohnen« des Menschen in der Welt angesprochen hatte. ....
»Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal. Darum ist es nötig, dieses Geschick seinsgeschichtlich zu denken. (**) ....
Die Technik ist in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches Geschick (**) ....
Als eine Gestalt der Wahrheit gründet die Technik in der Geschichte der Metaphysik. (**) .... «
(Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, 1946, a.a.O..)
Hütte im Schwarzwald
Daß zwischen Wahrheit und Schicksal ein Zusammenhang besteht, der über die metaphysische Zuflucht zum Zeitlosen hinausweist, gehört seit Hegel zu den großen Intuitionen des modernen europäischen Denkens. ....
Heidegger ... würde einen späten Helden seine Hütte bauen lassen in den Hügeln, um dort abzuwarten, wie die Geschichte weitergeht. Für ihn war evident, daß die Irre im großen andauert. .... “
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Veruche nach Heidegger, 2001, S. 165, 165-166, 166, 169, 169-170, 171, 173, 174-175, 178-179, 180, 182, 183, 185-186, 188-189, 191, 192, 193, 196-197, 197-198, 200, 201-202, 207, 210, 212, 213, 214).

Martin HeideggerHeidegger und Augstein, 1966

 

•   „Absturz und Kehre“ - Auszüge aus Sloterdijks „Rede über Heideggers Denken in der Bewegung“  •

„Absturz und Kehre“ - Auszüge aus Sloterdijks „Rede über Heideggers Denken in der Bewegung“

„Absturz“
„Erfahrung“
„Kehre“
Mein Fazit

Absturz.
Ich möchte ... eine Formel vorschlagen, die Heideggers spirituelle Physiognomie und sein philosophisches projekt in einem kompakten Ausdruck zu sammenfaßt: Heidegger ist der Denker in der Bewegung. Sein Urgedanken oder quasi seine Tathandlung ist der Sprung oder das Sichloslassen in eine Befindlichkeit, bei der er in sich selbst und »unter seinen Füßen« nichts anderes mehr findet als Bewegtheit. .... Die Bewegung ist sein Fundamment. Der Impuls seiner Rede ist es, Bewegtheit auszusagen - oder vielmehr: mit der Rede-Bewegung der wirklichen und unumgänglichen Bewegtheit »nachzukommen«. Mithin hat er wie kein Philosoph vor ihm verdient, durch diese ungewohnte und nicht nach allen Seiten ausgeleuchtete Formel charakterisiert zu werden: der Denker in der Bewegung. ....
Es gibt in Heideggers Denken und im allgemeinen ... drei universelle und allem zuvorkommende Bewegtheiten, drei kinetische Seinszüge, die sich in der menschlichen Existenz zu jeder Zeit, doch je verschieden nach kulturellen und epochalen Töungen auswirken. Diese Züge nenne ich hier: zum ersten den Absturz, zum zweiten die Erfahrung, zum dritten die Umwendung (Kehre! HB). Ihr Durchgriff durch die Existenz oder ihr Überfall auf diese geschieht »immer schon«, jeweils und überall, ohne daß er je, die klassischen Hermeneutiken des Schicksals eingerechnet, in hinreichend klarer Beleuchtung betrachtet worden wäre - es sei denn eben, beginnend, bei Heidegger. (Wir lassen die Frage beiseite, inwiefern die Logokinetik des Neoplatonikers Proklos, insbesondere seine Lehre von der Kreisstruktur des Geistes und den Kreisgängen der Seele, als Vorläugfer von Heideggers Ontokinetik angesehen werden kann [wenn diese Frage beiseite gelassen werden soll, wieso wird sie dann erwähnt? HB]). Dieser Denker war es, der wie niemand vor ihm Ausdrücklichkeit in den Sachverhalt legte, daß Dasein immer schon in Bewegung »gesetzt« und von Bewegung durchwirkt ist und es durch nichts vor der durchgreifenden Bewegtheit in Sicherheit gebracht werden kann. Seine Bewegtheit ist der Grund seiner Geschichtlichkeit und seines Bezugs zum Offenen. Man könnte, in Abwandlung der berühmten Formel aus dem Vortrag (gemeint ist die Antrittsvorlesung vom 24.07.1929; HB) Was ist Metaphysik? sagen: Dasein heißt in den Überfall der Bewegung hineingehalten sein. ....
So setzt alles für uns mit dem »Dasein« ein, das als »In-der-Welt-Sein« ausgelegt wird, und dies zu Recht, vorausgesetzt wir lesen diese Formel so: durch den Überfall der Bewegung auf uns den »Ort« erreicht zu haben, an dem wir uns meistens zerstreuen und ausnahmsweise sammeln. Philosophie ist Lagebesprechung. - Der erste Zug von Bewegtheit aus der bezeichneten Dreiheit - das Im-Fall-Sein oder das Abstürzen - geht, der Reihe wie der Sache nach, den beiden anderen Zügen, Erfahrung und Umwendung oder Kehre, voran. ....
Es bedeutet den Unterschied ums Ganze - zumindest ist das Heideggers frühe Wette - , ob das Dasein seinen Fall ungesammelt fortsetzt und damit seiner Zerstreuung ins Irgendwie-Sein verfällt, ..., oder ob das Dasein seines Sturzes inne wird, sich vom Bewußtsein der Bodenlosigkeit und Bestimmtheit zugleich durchdringen und schließlich aus dem erlittenen einen übernommenen Sturz, ja vielleicht sogar einen eigenen Wurf macht, aus dem Fall ein Projekt, aus dem Überfallensein das entschiedene Entsprechen zu einem Schicksal. Halten wir fest, daß für den Heidegger von Sein und Zeit diese Selbstübernahme vor allem als »Entschlossenheit« doer »Sich-anrufen-lassen aus der Verlorenheit des Man« (**) zu verstehen ist »... das verschwiegene angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein - nennen wir die Entschlossenheit.« (**). ....
Die Feststellung am Platz, daß Heideggers Umwandlung der Metaphysik in Ontokinetik - die Erhellung der Bewegtheiten, die den Sinn von Sein berühren - unmöglich ausmünden kann in ein kriterienloses Mitmachen bei allem, was historisch im Gang ist. (Heideggers Option von 1933 gibt Anlaß, dies zu betonen. Denn alles »Sicheinfügen und Sicheinstellen in das ganze Walten und Schicksal der Welt überhaupt«, von dem Heidegger bereits in der großen Metaphysik-Vorlesung des Winters 1929-1930 spricht, ist ohne Mehrdeutigkeit, Wahl und Entscheidung nicht zu denken. Auch das »Waltende« kann nur als mehrfach wirkendes und nichteindeutig ergreifendes Spiel aufgegriffen werden.) ....
Das Verfallen nivelliert die Differenz zwischen der Seinsart der Existenz und der des Vorhandenen. Es ist die anfängliche Tendenz des Menschen, sich selbst als Menschenmaterial und Umweltfaktor zu erfassen. Angesichts dieser immer schon angetretenen Flucht in die Indifferenz sind das anarchistische Sichgehenlassen und das gehorsame Funktionieren dasselbe. Vor Heidegger hat nur Johann Gottlob Fichte einen ähnlich aufgefaßten Sachverhalt mit vergleichbarer Radikalität formuliert, wenn er, in einem polemischen Zusatz zu seiner Grundlehre der gesamten Wissenschaftslehre (§ 4), schrieb:
»Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Larva im Monde, als für ein Ich zu halten.“ (**).
Dem würde der frühe Heidegger zugestimmt haben, unter der Bedingung, daß zwei Modifikationen an Fichtes These anzubringen sind: zum einen die Bemerkung, daß dieses verfallen unter die Dinge und Abläufe das spontane Resultat des gewöhnlichen Daseins ist; denn etwas Lava-Geschmack haftet an allem, was »geworfen« ist. Weil unsere Existenz immer von fremder Seite her angefangen ist, kommt sie in gewisser Weise stets zu spät; sie tritt zum Vorhandensein hinzu und muß sich überall mit Früherem und Fremdem auseinandersetzen. ....
Erfahrung.
In diesem (welchem? HB) Sinn ist Heidegger ein Neutheologe, und Theologen, die von neuen, sei es verhüllten oder abgewandten Göttern reden, haben es mit ihrer Botschaft unvermeidlich eilig. Alttheologen erkennt man daran, daß sie Zeit haben und der Gott sie nicht mehr drängt. Heidegger hat es eilig, von der vorherrschenden falschen zerstreuenden Bewegung zu der wahren sammelnden zu kommen. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang meditiert der Denker die Grundbewegtheiten des Daseins und bleibt in dieser ganzen Sturm- und Ruhe-nach-dem-Sturm-Zeit seinem kinetischen Apriori treu. In immer neuen Anläufen, in modifizierten Stimmungen, in veränderten Begriffsaufstellungen wiederholt er die Frage: Wie kommt das Dasein aus seinem anfänglichen Absturz unter die Dinge in die entschiedene Selbstheit, von der flachen Geworfenheit in die vertiefende Wiederholung, vom Unwesen des Zufälligen ins Unumgängliche, von der Fehlgeburt in die Zerstreutheit zur Wiedergeburt in der engsten Gesammeltheit, von dem vorläufigen Anfang zum anderen Anfang? Wer in alldem einen Hinweis auf Heideggers Modernität vermißt, könnte sich dieser dem Umstand vergewissern, daß sich nach ihm das Entschiedene und Schicksalhafte auch und vor allem als übernommenes Scheitern manifestieren kann. - Daß diese Figuren etwas Bewegendes haben und noch in ihrer kahlen Abstraktheit nicht ohne Zauber sind, das zuzugeben, fällt nicht schwer. Ich werde Heideggers Reden von Absturz und Kehre gleich noch einmal aufgreifen, indem ich sie ins Profil setze gegen analoge Figuren bei Platon und Augustinus. ....
Kehre. **
Platon
Augustinus
Martin Heidegger
Wo der mittlere Heidegger (gemeint ist Heidegger während seiner Denkperiode mit dem Schwerpunkt der Seins- bzw. Seynsgeschichte: 1930-1945 [**]; HB) die Bewegtheit des Daseins in der Umwendung oder der Kehre zu denken beginnt, da tritt er in einen Dialog mit den beiden einzigen Ebenbürtigen der westlichen Tradition ein: er findet sich, jenseits von Neuzeit und Mittelalter, allein mit Platon und allein mit Augustinus. ....
Tatsächlich, nur im Gespräch mit Platon läßt sich die Frage nach der Wendung zur Wahrheit wiederholen, die der Gründer der Akademie in seiner Lehre exponiert hatte, und nur im Gespräch mit Augustinus läßt sich wiederholend klären, warum unser Herz ein unruhiges sein muß, bis es Ruhe fände in dem großen Anderen. Platon, Augustinus und Heidegger sind die Denker, die sich als einzige mit grundbegrifflichem Ernst Rechenschaft darüber gegeben haben, daß im Sein selbst »Revolution« stattfindet. Der Zusammenhang von Sein und Revolution ist für sie ein so tiefer, daß es ihnen unmöglich ist zu sagen, was Wahrheit ist, ohne zuvor gesagt zu haben, was Revolution, was Umkehrung, was Bekehrung ist. Ohne eine Umwälzung des Gesamtsinns von Sein kann weder bei Platon noch bei Augustinus noch bei Heidegger von einer Wendung in der Wahrheit oder eine Zuwendung zur Wahrheit die Rede sein. - So ist die Feststellung gerechtfertigt, daß für diese Denker der Sinn von Sein nicht ohne Rücksicht auf eine »gegenwendige« oder »revolutionäre« Bewegtheit aussagbar ist. Platon wie Augustinus und Heidegger gehen davon aus, daß die Menschen »zunächst und zumeist« von der Wahrheit weg leben und in einer unvordenklichen Drift in den Irrtum und die Verdunkelung befangen sind. Das Irren ist in ihren Augen die ursprünglichste Möglichkeit des Daseins, und das nicht nur in dem Sinn, daß Menschen in diesem oder jenem Sachbezug »doxisch« auf dem falschen Weg sein können und von den meisten Dingen nichts verstehen, sondern so, daß sie sich insgesamt in einer Fehlstellung befinden und sie gewissermaßen mit dem Rücken zur eigentlichen Wirklichkeit und Wahrheit stehen. ....
Platons Höhlengleichnis
Platons Revolution heißt Umdrehung oder Herumführung der Seele - altgriechsich: periagogé. Sie impliziert nichts geringeres als die Gesamtumdrehung der Lebensfahrtrichtung. Wer sich an Platons Höhlengleichnis erinnert, weiß, was gemeint ist.
Das Höhlengleichnis zielt auf Befreiung durch Erkenntniskritik. ...
Wenn der Philosoph nach Platon auch den Pädagogen spielt, so will er eigentlich ein Seelenumdreher sein; die gewöhnlichen Kinderführer, die Lehrer und andere, die auch Geld nehmen, bringen junge Leute dorthin, wohin sie meistens ohnedies wollen, auf Laufbahnstufen und Rednerbühnen. Der philosophische Kinderumdreher lenkt sie zu einem Ziel, das sie zunächst nicht anstreben, weil sie aus Eigenem nicht ahnen konnten, was dort für sie zu gewinnen wäre. ....
Die Grundlage für die „Erbsünde“ lieferte Paulus’ Lehre: „daß durch einen Mann (Adam) die Sünde in die Welt kam“, so daß „durch die Übertretung dieses einen die vielen starben“ (Römer, 5, 12). Dies gipfelte in Augustinus' Formulierung, daß Adams Sünde von den Eltern auf die Kinder durch „sinnliche Begierde“, in diesem Fall die sündige sexuelle Erregung, die die Zeugung begleitet, übertragen worden und das Menschengeschlecht damit zu einer „Masse von Sünden“ („massa damnata“) geworden sei, wie z.B. durch die Praxis, selbst neugeborene Kinder mit Exorzismus zu taufen.
Als Theologe und auch als Bischof war Augustinus maßgeblich an der inneren Reorganisation der Kirche beteiligt. Er stellte z.B. eine Regel für Frauen und Männer auf, die von verschiedenen Orden als Augustinusregel verwendet werden sollte und heute noch wird. Außerdem versammelte er eine Gruppe von Klerikern (Priester, Diakone etc.) um sich, die ein gemeinsames Leben führten und so zu den ersten Kanonikern wurden. Die Kanoniker des Augustinus waren, wie damals üblich, zum Enthaltsamkeitszölibat angehalten, was durch das gemeinsame Leben unterstützt wurde.
Für Augustinus ist die Menschwerdung Gottes inmitten der Lawine der Völker und Reiche der Revolutionspunkt; nur er gibt der triebhaften und mörderischen Parade potentiell eine andere Richtung vor. ....
Die Weltgeschichte ist nach Augustinus die Resultierende aus allen lokalen Teufelsbewegungen oder Selbstbezüglichkeiten der Einzelnen, die den Ersten Egoisten nachahmen. Wer von der anfänglichen Fehlbewegung erst einmal erfaßt wurde, und das ist nach Meinung des Kirchenvaters die natürlich gezeugte Menschheit im ganzen, bleibt kraft der Urperversion in einer übermächtigen Bewegung von Gott weg befangen. ....
Entscheidend ist nun für Augustinus, daß diese Sezession vom gefallenen Menschen aus eigener Kraft nicht mehr überwunden werden kann. ....
Die Gnade ist Ausfluß einer göttlichen Subjektivität, die den menschlichen Willen überholt oder mediatisiert, indem sie ihm schenkt, was dieser aus Eigenem nicht erreichen kann: sie läßt geschehen, was das Menschenkönnen und -wollen nicht vermag. Sie löst die Gegenbewegung aus, die in der Tendenz der ersten Bewegtheit als solcher nie mehr hätte zustande kommen können. ....
Heideggers Geburtshaus
Der Begriff (oder das Modell) der Gnade kehrt bei Heidegger - in das kinetische Schema Gelassenheit verwandelt - wieder. So wenig die Gnade vom bloßen Verlangen nach ihr erzwungen werden kann, so wenig steht es im Ermessen des Menschen, sich selbst willentlich gelassen zu machen. Nichtsdestoweniger kann weder die Gnade ohne eine geeignete menschliche Bemühung um sie gewährt werden, noch ist die Gelassenheit erreichbar ohne eine intensive Abspannung des Subjekts (hier wäre das Wort »Selbst« angemessener gewesen; HB). Ihr widmet Heidegger eine Fülle monotoner Gedanken, die um das Motiv des »Übergangs« in die andere Einstellung kreisen. Somit kehrt nicht allein die Gnade bei Heidegger wieder - auch die theozentrische Bewegungsfigur: Gott läßt die Konversion geschehen, wird als das Herzstück der Heideggerschen Lehre von der Kehre neu geschrieben. Nur die Kehre kehrt, die Gegenbewegung hat ihren Drehpunkt im Sein. Allein die sich zur Verfügung haltende Mitgenommenheit durch die gewährte Gegenbewegung läßt den Menschen in die »eigenste Möglichkeit« gelangen: in die Entschiedenheit, die gültige Ergriffenheit, in die Sammlung, in die Revolution, ins Werk, in die eigentliche Dichtung, in die ursprüngliche Innigkeit des Streits, in den »Gegenschwung im Seyn«, zuletzt sogar in die Schonung, ins »Spiegel-Spiel des Gevierts« und in die »eigentliche Bewegung« - die Namen der umwendenden Motive sind so zahlreich, weil Heidegger bis zuletzt immer neue Deutungen der Bewegung, die den Sturz kompensiert, in Betracht zieht. Er bleibt fortwährend auf der Suche nach etwas, was tiefer, umfassender und seinsgerechter wäre als jede profan verstandene Revolution. Das Motiv der Gegenwendung ist, wie gesehen, formal schon im Spiel, seit der junge Heidegger auf Vereigentlichung drängt. Es wird auf politisch nachtwandlerische Weise aktualisiert, solange der Denker glaubt, sein eigenes Drängen auf Mitgenommenwerden durch ein bejahbares Weltschicksal in die »nationale Revolution« hineinlegen zu können. Es gewinnt an Volumen und Radikalität, als der von der NS-Bewegung enttäuschte Denker zu dozieren beginnt, es komme nicht mehr darauf an, einem »festgefahrenen Menschenbetrieb« vorhersehbar vergeblich neue Direktiven vorzusagen, sondern es gelte, eine integrale »Verrückung des Menschen« (**) vorzubereiten - wobei für eine Weile die Geste des »Sprungs« anzeigen sollte, wie das Sichlosmachen zum Mitgenommenwerden durch ein Wendegeschehen bewirkt werden könnte. Die Meditation der Gegenwende erreicht ihre abgeklärteste Gestalt im Spätwerk, wo die Existenz nichts anderes mehr wollen soll als ihre gelassene Übereignung an das »Ereignis«. Der Ausdruck Gelassenheit steht jetzt für eine geführte und angehörige Freiheit, die der Beliebigkeit entgeht. Sie wäre jene Freiheit, die nicht in ironischer Unterergriffenheit und hohler Selbstreferenz neben oder über allem verharrt, sondern sich vom Umgreifend-Verbindlichen gesagt sein läßt, was zu tun ist. Daher kann nun behauptet werden, das eigentliche Denken sei auf dem »Weg in das ›Unterwegs‹« (vgl. »Unterwegs zur Sprache«, in: GA, Band 12, S. 45). Zuweilen redet Heidegger so, als sei ihm in eigener Sache die »Einkehr in die eigentliche Bewegung« geglückt (vgl. ebd., S. 209). Auf dieser Stufe ist auch die Philosophie als solche überwunden - sofern sie immer noch im Betrieb des Willens, Gründe aufzuweisen, gefangen bleibt. Die Wende zur Kinetik als »Erster Theorie« - im Werk des Denkers von Anfang an latent - ist explizit vollzogen. Diese zeigt auf oder sagt an, wie der Mensch mit seinem gesamten Befund einem Spiel angehört, das gibt und nimmt, zerstreut und sammelt, lichtet und verbirgt. (Von diesem Angehören wird später Levinas eine ethisch betonte Version vorstellen, die vor allem die »Zugehörigkeit« zum Appell des Fremden in Not herauskehrt.) Wenn der durch Heidegger selbst gepflegte und durch Exegeten wie Texthistoriker nachgesprochene Mythos von seinem »Denkweg« doch einen gewissen Anhalt im Werkprozeß besitzt, dann in der progressiven Preisgabe des Willens als Agens der Umwendung - beginnend mit der anfangs geforderten heroischen Selbstergreifung, vermittelt durch den »Sprung« in die »Zugehörigkeit in das Ereignis«, zugespitzt durch den Willen zum Nichtwollen, endend bei der Eingefügtheit in das sich eigengesetzlich hin und her wendende Spiel des »Gevierts« und in die sammelnde Kraft der »Gegend«. Wo zunächst die Umwendung durch eine entschiedene Selbstverwendung für die revolutionäre Eigentlichkeit erzwingbar schien, wird später zunehmend nachdrücklich herausgestellt, daß nie der Mensch als Täter der Umwendung in Frage kommt. Denn wenn der Täter am Ruder wäre, bliebe die Ironie an der Macht als die eigentliche Herrin, die sich ihren »gesetzten« Aufgaben zufällig zuwendet, um sich von ihnen ebenso zufällig abzuwenden. Auch bei Heidegger sollen schließlich, wie bei dem afrikanischen Kirchenvater, der menschliche Eigensinn und der Wille abspannen und sich auf ein vom Sein zugelassenes Lassen umstellen. Heideggers Pastorale hat hier ihren Ort: Um zum Hirten des Seins zu werden, muß sich der Mensch vor seiner eigenen Ungelassenheit hüten. Erst nach der Überwindung der Selbstbehauptung kann er dem Sein, das sich in seine Hut gibt, entsprechen. Auch bei dem Philosophen geschieht das Rettende - wenn es denn rettet - wesenhaft verzögert, so daß er eines Tages auf seine dezisionistischen Jahre zurückblicken wird wie Augustinus auf seine unbekehrte Jugend - war dies alles nicht nur eine von weit her verfügte praeparatio philosophica? Wie Augustinus im Drehpunkt der eigenen Lebensgeschichte den epochalen Übergang vom Heidentum zum Christentum erkennt, so sieht Heidegger in seinem irrtumsschwangeren und doch erlesenen »Denkweg« den Angelpunkt der Kehre von der Epoche der Seinsvergessenheit zur Vorbereitung einer erneuten Seinserinnerung. Was Lebensgeschichte war, wird hier wie dort in eine heils- oder seinsgeschichtliche Totale versetzt, zum Unbehagen derer, denen solche Höchststellungen von Sichbescheidengeben vermessen vorkommen. Immerhin hat Augustinus Heidegger voraus, daß er die Retraktionen seiner Schriften coram Deo et publico vollzog, während der letztere eher zur Umdichtung als zur Überprüfung seiner Ambiguitäten neigte. Gleichwohl, das »Eigene« kann nach allem, was durchlaufen wurde, nur erreichen, wer zu warten versteht, bis es »zugeschickt« wird. Allein Ursprünglicheres als der Mensch, so die zuletzt herausgefilterte Gewißheit, vermag die Gegenbewegung gegen die schicksalhafte Drift im Menschengemachten zustande zu bringen.
Heideggers Spätstil läßt keinen Zweifel daran zu, daß er sich selbst als einen Günstling der vom Sein gesandten Umwendung ansieht. Auch wo er sich hartnäckig als bloßen Vorbereiter und Sekundanten präsentiert, verrät ihn seine Sprache als einen, der in eigener Person gefunden hat und gefunden wurde. Aus dem geworfenen In-der-Welt-Sein ist der Aufenthalt in einem erwählten Reservat geworden. Und so wie schon Augustinus die christliche Frage beantwortet hatte, in welcher Weise inmitten der Heimatlosigkeit des Menschen in der Welt doch etwas wie Heimat möglich sei, indem er am Rande des römischen Imperiums eine Mönchsgemeinschaft ins Leben rief, die bis heute existiert, stiftet der späte Heidegger als Wanderer und Meditierer einen besinnlichen Habitus, der die Ordensregeln des sogenannten Gevierts festlegt - Regeln eines an geschonter Natur orientierten Ordens, der die »Gegend« für seinen geheilt-heilenden Aufenthalt in ihr reklamiert. Ginge es nach dem Gründer, müßten sich auch die Dinge und die Götter an das Gesetz dieser strengen Idylle halten. Hier kann sich die Tendenz zu einem reinen Ministrieren erfüllen. Im besinnlichen Reservat geben die Menschen sich freiwillig so schwach, wie sie vor der Einführung der großen Technik waren. Die zweite Ohnmacht kommt, wie ihre Darsteller glauben, der neuen Zuwendung des Seyns entgegen. Nun läßt sich verstehen, warum es zuletzt doch wieder die katholischen Theologen sind, die in Heideggers späten Schriften eine Formalisierung ihres Glaubensmodus finden.“
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 29-30, 30-31, 32, 35, 36, 39, 41-42, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 68-71, 71-72.)

Mein Fazit.
Nietzsche, Heidegger, Sloterdijk
Wenn Sloterdijks Analogie zwischen Platon, Augustinus und Heidegger zutrifft, trifft dann vielleicht auch z.B. die Analogie zwischen Pythagoras, Paulus und Nietzsche zu? Oder, anders gefragt, sind nicht Nietzsche und Heidegger gleichermaßen zu nennen, wenn es um solche „Theologen“ philosophischer Herkunft geht, die mit dem Apostel Paulus und dem Theologen und Bischof Augustinus einerseits sowie dem Philosophen, Mathematiker, Astronom und Religionsstifter (Gründer eines Bundes für sittlich-religiöse Lebensform) Pythagoras und dem Philosophen und Akademiegründer Platon andererseits vergleichbar sein sollen?
Jesus verkündet das Evagelium
Jesus verkündet
das Evangelium
War Nietzsche nicht ganz besonders stolz auf seinen „Zarathustra“, dessen Botschaft er in der Welt verkündete, so wie Paulus es mit seinem „Jesus“ getan hatte? Hatte der im Grunde konservative und dennoch auf eigenartige Weise konservativ gebliebene Nietzsche nicht der religiös-kulturellen Wertegemeinschaft genauso den Rücken zugekehrt, wie es seinerzeit Pythagoras mit der seinigen auf eine zumindest in gewisser Hinsicht ähnliche Weise getan hatte? Ich selber betrachte Analogien eher gemäß der Spenglerschen Morphologie, lehne aber deswegen Sloterdijks Platon-Augustinus-Nietzsche-Analogie nicht ab, denn Analogien findet man viele, und da sie eine Angelegenheit der Relativität sind, findet man auch häufig, daß sie stimmig (weil eben: relativ stimmig) sind. Hatte nicht Sloterdijk zufolge Nietzsche seinen Zarathustra ein fünftes Evangelium verkünden lassen (vgl. Peter Sloterdijk, „Über die Verbesserung der guten Nachricht - Nietsches fünftes Evangelium“, 2000), so wie zuvor Paulus seinen Jesus jenes eigentliche Evangelium, das anschließend in vier Versionen von den vier Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes) verbreitet werden sollte, verkünden lassen und es als seine eigene Botschaft gebraucht (mißbraucht?), so wie eben später Nietzsche dasjenige seines Zarathustra? Und zuletzt gefragt: Gibt es nicht andersartige, aber dennoch ebenfalls überzeugende Analogien zwischen Nietzsche, Heidegger und Sloterdijk? **
Wird Nietzsches „Zarathustra“-Religion (-„Übungssystem“, um mit Sloterdijk zu sprechen) zum „Übermenschen“ führen oder doch nur „den letzten Menschen“ bestätigen? Wird Heideggers „Seyns“-Religion (-„Übungssystem“, um mit Sloterdijk zu sprechen) zur Eigentlichkeit des Daseins (Menschen) in der geschonten Welt, zur „Wächterschaft des Seyns“, zum „letzten Gott“ und zum Bezug des umgekehrten Verhältnisses zwischen dem Seyn und dem Seienden führen oder doch nur das immer riesiger werdende „Riesenhafte“ und die immer mächtiger werdende „Machenschaft“ der Technik (des „Gestells“) sowie die damit verbundenen dumpfen „Erlebnisse“ bestätigen? Wird Sloterdijks „Zur-Welt-Kommens“-Religion (-„Übungssystem“, um mit Sloterdijk zu sprechen) zu den „Zur-Welt-Gekommen“ führen oder doch nur den altbekannten Trott von Weltflucht und Weltsucht bestätigen? Lauter „letzte Menschen“ inmitten eines riesenhaften „Gestells“ der „Machenschaft“ mit „Erlebnissen“, u.a. dadurch gekennzeichnet, daß Weltflucht und Weltsucht trotz ihrer exponentiell gewachsenen Ausmaße überhaupt nicht mehr bemerkt werden? Menschengemachte „Entropie“?


Anmerkungen.

Zur „Kehre“
Zur „Unbrauchbarkeit und Unverwertbarkeit des Denkens im Blick auf die Gesellschaft“


Zur „Kehre“:

Eine Anmerkung zur „Kehre“ sei noch erlaubt. Es ist verlockend, den Begriff „Kehre“ als Legitimation für einen „Heidegger-vor-der-Kehre“ und einen „Heidegger-nach-der-Kehre“ - dazwischen nicht zu vergessen: einen „Heidegger-in-der-Kehre“ - zu unterscheiden. Diese Unterscheidung paßt aber nicht so genau zu dem Umstand, daß Heideggers Begriff der „Kehre“ sehr komplex zu verstehen ist, so daß die Unterscheidung im Zusammenhang mit einer von Heidegger persönlich vollzogenen „,Kehre“ nicht ganz richtig sein kann. „Kehre“ im Heideggerschen Sinne ist eher sachlich als persönlch zu verstehen.

„Man mißt Heidegger mit Maßen, die man selbst gesetzt hat.“ (Film => 32:25 ff.). Heidegger selbst jedenfalls hat sich seit der Zeit, als er in die Nähe einer möglichen „Bekehrung“ gerückt worden war, entschieden gegen solch eine aufgeblähte Rede von der „Kehre“ ausgesprochen. Auch im Kontext der Nietzsche-Vorlesungen Heideggers ist der Begriff der „Kehre“ sachlich gemeint, nämlich als Geschehnis einer „Drehung“: „Die Drehung ist keine Umkehrung, sie ist: Eindrehen in den anderen Grund als Ab-grund. Die Grund-losigkeit der Wahrheit des Seins wird geschichtlich zur Seinsverlassenheit, die darin besteht, daß die Entbergung des Seins als solche ausbleibt. Dies ergibt die Seinsvergessenheit, sofern wir das Vergessen nur im Sinne von einem Ausbleiben des Andenkens verstehen. In diesem Bereich ist anfänglich der Grund für die Ansetzung des Menschen als des bloßen Menschen, ist der Grund für die Vermenschlichung des Seienden zu suchen.“ (In: Nietzsche I, S. 590 **).

Prägnant faßte Heidegger den Begriff der Kehre im Zusammenhang der Hölderlin-Ausdeutugen auf: „Heimkunft ist die Rückkehr in die Nähe zum Ursprung“ (in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtungen, 1936 ff., S. 23 f.). Das Zurückgehen in den Ursprung ist demnach erforderlich, um zu erfahren, „was das Zu-Suchende sei, um dann als der Suchende erfahrener zurückzukommen“ (ebd.). Mit Bezug auf die Seinssuche gesagt: „Was Heidegger die Kehre im Denken nennt, ist weder eine Umkehr Heideggers noch eine Bekehrung, sonder Ausdruck dessen, daß der Weg zum Sein hin immer schon Weg vom Sein her ist.“ (Film => 40:43 ff.). Darin liegt eine Kehre, die sachlich zu verstehen ist, also keine Kehre in oder an der Person, sondern eine Kehre im oder am Weg selbst bedeutet. Wenn dieser Weg begangen wird, kann, aber muß nicht eine persönliche Kehre im Sinne einer persönlichen „Bekehrung“, „Umkehr“ oder gar „Revolution“ geschehen.

Seinsgeschichtlich weist die Kehre auf die innere Wendung im Seinsereignis selbst hin, das gerade aus der Gefahr und der Not der Notlosigkeit hervorgeht. „In der Gefahr waltet dieses noch nicht bedachte Sichkehren. Im Wesen der Gefahr verbirgt sich darum die Möglichkeit einer Kehre, in der die Vergessenheit des Wesens des Seins sich so wendet, daß mit dieser Kehre die Wahrheit des Wesens des Seins in das Seiende eigens einkehrt.“ (In: Identität und Differenz, S. 118 **).

Allerdings vollzieht sich zwischen dem existential-horizontalen Weg von „Sein und Zeit“ und der Seinsgeschichte auch dadurch eine Kehre, daß zunächst die Frage nach dem Wesen des Daseins auf den Horizont der ekstatischen Zeitlichkeit bezogen wird, die Kehre zum seinsgeschichtlichen Denken besagt. Die Kehre zum seinsgeschichtlichen Denken besagt dann in einer Umkehrung, daß Sein als Horizont der Zeitlichkeit des Daseins aufgefaßt werden soll. Hinsichtlich der Semantik der Kehre ist Heidegger von Parmenides’ Bahauptung ausgegangen, daß Hinweg und Rückweg der gleiche Weg seien. Insofern bezeichnet die Kehre also eine Richtungswendung um 180 Grad, die im Falle des Grundverhältnisses von Dasein und Sein die Richtung umkehrt und vom Dasein als Ursprung auf das Sein zurückkommt.

Im seinsgeschichtlichen Zusammenhang bedeutet dies, daß das Seinsereignis selbst „sein innerstes Geschehen und seinen weitesten Ausgriff in der Kehre“ hat (vgl. Beiträge zur Philosophie, S. 407 **). Genauer gesagt ist dieses Geschehen der Kehre das „Seyn als solches“ (in: Identität und Differenz, S. 151). In der Struktur der Kehre komme dabei der Zusammenhang zwischen Sein und Zeit, Zeit und Sein selbst zur Entfaltung (vgl. ebd.). Die Kehre vollzieht sich seinsgeschichtlich auch zwischen der äußersten Gefahr der Not der Notlosigkeit einerseits und dem Rettenden im Seinsdenken andererseits. Gerade in der äußersten Seinsverlassenheit des Gestells (**|**) kann die Kehre vollzogen werden. Dabei ist aber bemerkenswert, daß Heidegger zufolge die Kehre niemals nur als Anzeiger eines Richtungswechsels, sondern aben auch und besonders als immanentes Geschehen zu verstehen ist. Das Geschehen des Kehre ist, wie schon gesagt, das Seyn als solches. Das Seyn als solches läßt sich „nur aus der Kehre denken“. Die Kehre ist Heidegger zufolge gar keine „besondere Art von Geschehen“, sondern bestimmt sich vielmehr selbst als eine Schwingung im Zwischen, „aus dem, wie ES-Sein, wie ES Zeit gibt“ (ebd.). Der Heraushebung einer einzelnen Kehre hat Heidegger dabei widersprochen. Jene Kehre, die im Ereignis west, sei vielmehr „der verborgene Grund aller anderen, nachgeordneten, in ihrer Herkunft dunkel, ungefragt bleibenden, gern an sich als »Letztes« genommenen Kehren, Zirkel und Kreise“ (in: Beiträge zur Philosophie, S. 407 **).  –  Die Heideggersche Kehre bezieht sich also nicht auf die Person Heideggers oder auf andere Personen, sondern auf eine Sache, die im Ereignis des Seins west und als Seyn geschieht.

Martin Heidegger
„Besucher, die ins Arbeitszimmer Heideggers geladen waren - was eine besondere Auszeichnung bedeutete -, mußten eine geschwungene Holztreppe zum ersten Stock hinaufsteigen, wo sich neben einem riesigen Familienschrank die Tür zum Arbeitszimmer öffnete. Ein von umlaufenden Bücherregalen verdunkelter Raum, der durch ein efeuumranktes Fenster Licht empfing. Davor der Schreibtisch. Von ihm aus sah man auf den Turm der Zähringer Burgruine. Neben dem Schreibtisch ein Ledersessel, worin Generationen von Besuchern gesessen hatten.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 470 [**]).
• Turm der Zähringer Burgruine •
Turm der Zähringer Burgruine
• Zähringer Burg um 1500 •
Zähringer Burg um 1500
„SEIN UND ZEIT war ein Torso. Zwei Teile waren geplant. Noch nicht einmal der erste wurde fertig, obwohl Heidegger unter Termindruck zuletzt Tag und Nacht daran arbeitete. Es war wohl das einzige Mal in seinem Leben, daß er sich tagelang nicht mehr rasierte. Doch er hat alle Themen der in SEIN UND ZEIT angekündigten, aber nicht aufgeführten Kapitel nach und nach bearbeitet. Eine Skizze des fehlenden dritten Abschnitts des ersten Teils zum Thema Zeit und Sein trägt er noch im Sommer 1927 vor im Rahmen der Vorlesung DIE GRUNDPROBLEME DER PHÄNOMENOLOGIE. Den noch ausstehenden großen zweiten Teil von SEIN UND ZEIT - vorgesehen war die Destruktion exemplarischer Ontologien bei Kant, Descartes und Aristoteles - arbeitet Heidegger in den folgenden Jahre zu Einzelschriften oder Vorlesungen aus: 1929 erscheint KANT UND DAS PROBLEM DER METAPHYSIK, 1938 wird der WELTBILD-Vortrag gehalten (später wird dieser unter dem Titel »Die Zeit des Weltbildes« erscheinen; HB) mit der Kritik des Cartesianismus; die Auseinandersetzung mit Aristoteles führt er in Vorlesungen weiter.  –  In diesem Sinne ist SEIN UND ZEIT weitergeführt und auch abgeschlossen worden.  –  Auch die sogenannte Kehre, von der Heideggerschule später so mystifiziert, wird noch im Rahmen dieses Projektes anvisiert. In der LOGIK-Vorlesung vom Sommersemester 1928 (der genaue Titel: »Metpahysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz; HB) wird sie zum ersten Mal als Aufgabe genannt: Die temporale Analytik ist zugleich die Kehre (in: GA, 26, 201 [**]). Diese Kehre bedeutet: Die Analytik des Daseins »entdeckt« zuerst die Zeit, kehrt sich dann aber zurück auf das eigene Denken - unter dem Gesichtspunkt der begriffenen Zeit. Das Denken der Zeit bedenkt die eigene Zeitlichkeit des Denkens. Dies nun allerdings nicht im Sinne einer Analyse der historischen Umstände - darin liegt für Heidegger nicht der Kern der Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit des Daseins vollzieht sich, wie wir schon wissen, in der Sorge. Sorgend lebt das Dasein in seinen offenen Zeithorizont hinein, besorgend und versorgend auf der Suche nach Haltepunkten und Verläßlichkeiten im Fluß der Zeit. Solche Haltepunkte können sein: Arbeit, Rituale, Institutionen, Organisationen, Werte. Solche Haltepunkte aber müssen für eine Philosophie, die sich zum Bewußtsein ihrer eigenen Zeitlichkeit »gekehrt« hat, alle subtsanzhafte Würde verlieren. Indem die Philosophie den Strom der Zeit entdeckt, kann sie nicht mehr anders, als sich selbst als Teil davon zu begreifen. Ihrer universalistischen, zeitenthobenen Prätentionen beraubt, entdeckt diese »gekehrte« Philosophie, daß, wenn der Sinn des Seins die Zeit ist, es auch keine Flucht aus der Zeit in ein verläßliches Sein geben kann. Die Fluchtwege sind abgeschnitten; Philosophie gibt keine Antworten mehr, sie kann sich nur noch verstehen als besorgtes Fragen. Philosophie ist nichts anderes als Sorge in Aktion, Selbstbekümmerung, wie Heidegger sagt. Philosophie hat wegen ihrer Weisheisprätentionen eine besonders schwer duchschaubare Art, sich etwas vorzumachen. Philosophierend will Heidegger der Philosophie auf die Schliche kommen. Was kann sie denn überhaupt leisten? Heidggers Antwort: Sie kann, indem sie die Zeit als Sinn entdeckt, die Sinne schärfen für das pochende Herz der Zeit - für den Augenblick. Die Kehre: nach dem Sein der Zeit nun also die Zeit des Seins. Die aber balanciert auf der Spitze des jeweiligen Augenblicks.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 197 [**|**]).

„Heidegger aber begnügt sich nicht mit der Aussicht, daß besinnliches Denken die blühenden Bäume da und dort stehen und sein lassen könnte, daß sich im Denken da und dort ein anderes In-der-Welt-Sein ereignet, sondern er projiziert die sich im Denken vollziehende Einstellungsänderung in die Geschichte. Aus der Kehre im Kopf des Philosophen wird eine Vermutung über eine Kehre in der Geschichte. Und so findet Heidegger für die Dramaturgie seines Festvortrages ein gutes Ende, das die Zuhörer mit dem feierlichen Gefühl entläßt, Ernstes, aber auch irgendwie Erbauliches gehört zu haben. Heidegger zitiert Hölderlin: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch ....«“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442 [**]).

„Gewiß ist das Denken, das den Verhängniszusammenhang des Gestells bedenkt, eben dadurch schon einen Schritt darüber hinaus, es eröffnet einen Spielraum, in dem überhaupt erst zu sehen ist, was gespielt wird. Insofern steckt im Denken tatsächlich schon eine »Kehre«. Es ist die Haltung der Gelassenheit, die Heidegger bei einem Vortrag in Meßkirch 1955 einmal so beschrieben hat: Wir lassen die technischen Gegenstände in unsere tägliche Welt herein und lassen sie zugleich draußen, d. h. auf sich beruhen als Dinge, die nichts Absolutes sind, sondern selbst auf Höheres angewiesen bleiben. Ich möchte diese Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt mit einem alten Wort nennen:  die Gelassenheit zu den Dingen. (G, 23). Aber diese Gelassenheit zu den Dingen, verstanden als Kehre des Denkens, macht die Vermutung einer realgeschichtlichen Kehre nicht plausibel.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442 [**]).

„Auf den Vorwurf mangelnder Plausibilität würde Heidegger erwidern, daß »Plausibilität« eine Kategorie des technisch-berechnenden Denkens sei; wer in »Plausibilitäten« denke, bleibe im Gestell - auch beim Versuch, aus ihm herauszufinden. Es gibt für Heidegger ganz einfach keine »machbare« Lösung des Problems der Technik. Kein menschliches Rechnen und Machen kann von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch seiner Herr werden? (24. 12. 1963, BwHK, 59). Die Wende wird als ein Ereignis des Geschicks geschehen, oder sie wird gar nicht geschehen. Dieses Ereignis aber wirft seine Schatten voraus - ins besinnliche Denken. Von der eigentlichen Kehre gilt, was Paulus über die Wiederkehr Christi gesagt hat: sie kommt wie ein Dieb in der Nacht. Die Kehre der Gefahr ereignet sich jäh. In der Kehre lichtet sich jäh die Lichtung des Wesens des Seins. Das jähe Sichlichten ist das Blitzen. (TK, 43).“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 442-443 [**]).


Zur „Unbrauchbarkeit und Unverwertbarkeit des Denkens im Blick auf die Gesellschaft“:

Man hat Heideggers Philosophie „Unbrauchbarkeit und Unverwertbarkeit des Denkens im Blick auf die Gesellschaft“ (Film => 32:07 ff.) vorgeworfen. Den Vorwerfenden sei hier vorgeworfen, was ich oben im Zuammenhang mit der „Kehre“ (**), die von vielen falsch oder gar nicht verstanden worden ist, schon gesagt habe: „Man mißt Heidegger mit Maßen, die man selbst gesetzt hat.“ (Film => 32:25 ff.). Die Maße bzw. die Werte, die man - fast immer in Äbhängigkeit vom „Man“ - gesetzt hat, sind zumeist materialistische, jedenfalls aber solche der Brauchbarkeit, der Verwertbarkeit und also der Zweckdienlichkeit (Finalität). Das wundert nicht angesichts der Tatsache, daß diese Maße bzw. Werte im Zeitalter der im Abendland schon seit Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr (erst langsam, danach schneller [exponentiell eben]) zunehmenden Entwertung der höchsten Werte diese immer mehr verdrängen, um selbst die höchsten zu werden sowie da und bei denen, wo sie es schon sind, zu verteidigen und zu erweitern und möglichst noch weiter zu erhöhen. Konservative oder gar „reaktionäre“ Philosophen bzw. Denker sind in solchen Zeiten nicht gefragt, werden in die Ecke abgedrängt, verspottet, beschimpft, diskriminiert, verfolgt. Heidegger z.B. wurde als „Denkwebel“ und „alemannische Zipfelmütze“ (Film => 32:01 ff.) sowie „schwäbischer Taoist“ (**) verspottet, Sloterdijk „Geschwurbel“ und „Geschwafel“ vorgeworfen und „Sloterdijk-Debatten“ zur Last gelegt. Ist nicht gerade dann, wenn konservative oder gar „reaktionäre“ Philosophen bzw. Denker mundtot gemacht werden sollen, das Werk der wahren Reaktionäre im Gange? Ist nicht die „Revolution“ geschichtlich so alt, daß die durch sie Profitierenden längst ein riesiges Interesse an der Reaktion haben müssen? Ist es nicht eine historische Tatsache, daß alle bisherigen sogenannten „Revolutionäre“ nach sehr kurzer Zeit selbst zu Reaktionären geworden sind, wenn sie es nicht schon vorher waren, daß ihre „revolutionären“ Masken ihnen geholfen haben, sich und die von ihnen angeblich „Vertretenen“ als „Opfer“ darstellen zu können und dadurch an die Macht zu kommen und diese anschließend noch schlimmer zu mißbrauchen, als alle anderen Mächtigen vor ihnen? Nannte nicht in der Endphase der kommunistischen Sowjetunion das Volk seine angeblich „revolutionären“ Herrscher „reaktionäre Betonköpfe“, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand, weil die Angst vor dem Tod, den Konzentrationslagern und anderen „Maßnahmen“ ebenfalls regierte, mächtig real existierte?

Noch zu Lebzeiten Heideggers sagte Richard Wisser: „Heidegger macht niemandem das Geschäft streitig; man sollte seinen Beruf nicht unterschätzen“ (Film => 32:29 ff.). Fast alle Herrschenden sehen aber ihre mächtigen „Geschäfte“ auch dann in Gefahr, wenn ein Philosoph bzw. Denker nicht genau die Gedanken verkündet, die er dem Willen der Herrschenden zufolge verkünden soll.

 

Martin HeideggerMartin HeideggerMartin Heidegger

„Wenn die Rätsel einander drängten und kein Ausweg sich bot, half der Feldweg.“ **

 

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