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- Kulturelle Vererbung -
Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht
(
Hrsg.: Klaus Gilgenmann, Peter Mersch, Alfred K. Treml; 2010)

- Auszüge -

lVorwort
Theoretische Voraussetzungen
lDie Natur der Kultur (Alfred K. Treml)
lDie Evolution entläßt ihre Kinder - geht das überhaupt? (Gerhard Vollmer)
lSystemische Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunkation (Peter Mersch)
lLebenslanges Lernen - warum Menschen es immer schon konnten, aber erst in der modernen Gesellschaft auch dürfen und sollen (Klaus Gilgenmann)
Methodenprobleme
lEinfachheit und Wahrheit. Kritische Anmerkungen zum Gebrauch des Extremalprinzips in der Evolutionären Pädagogik (Holger Wille)
lEvolutionäre Pädagogik und Memtheorie (Lothar Frank)
lSind Archetypen Meme?  (Bettina Gerlitz)
l„Gibt es drei Welten?“  Knappe Bemerkungen zu einer Ontologie der Evolutionären Pädagogik (Roland Bätz)
Anwendungsbezüge
lEvolution und Ontogenese des Geistes. Wie Kinder es schaffen, 100000 Jahre auf 10 Jahre zu verkürzen (Rolf Oerter)
lKooperation im Gruppenunterricht. Soziale Arbeitsformen und evolutionäre Theorien der Didaktik (Daniel Scholl)
lWeglaufen, Erstarren oder Aufgreifen?  Evolutionäre Strategien von Lehramtstudierenden bei Fällen im Sportunterricht (Rolf Schwarz)

 

Die Natur der Kultur (Alfred K. Treml)

„Durch unser Denken zieht sich eine merkwürdige und folgenreiche dichotomische Unterscheidung: Natur- Kultur. Entweder ist etwas Natur oder es ist Kultur. Deshalb können wir heute noch selbst in wissenschaftlichen Standardwerken lesen »So ist alles Kultur, was nicht Natur ist« (Reinhart Maurer, Kultur, in: Handbuch philosophsicher Grundbegriffe, Hrsg.: Hermann Krings / Hans M. Baumgartner / Christoph Wild, 1973, S. 823). Diese Gegenüberstellung ist in ihrer radikalen disjunktiven Logik sowohl zeitlich als auch räumlich gesehen keineswegs universell. In anderen Kulturbereichen - etwa im ostasiatischen Raum - läßt sich diese Form des binären Denkens nicht entdecken. Und auch im europäischen Denken lassen sich, wenn wir nur weit genug zurückgehen, durchaus Spuren eines anderen Denkens finden. Noch in der Antike wurde differenzierter gedacht (auch deshalb sind Antike als apollinische Kultur mit dem Seelenbild »Einzelkörper« und Abendland als faustische Kultur mit dem Seelenbild »Unendlicher Raum« zu unterscheiden; HB): Für Aristoteles z.B. hat der Mensch mit Pflanzen und Tieren die Fähigkeit gemeinsam, sich zu ernähren und sich fortzupflanzen, mit den Tieren teilt er die Fähigkeiten der Sinneswahrnehmung und der Beweglichkeit. Eigentümlich ist dem Menschen nur das geistige Denkvermögen. Parallel dazu ist die andere Spur eines zweiwertigen Denkens unübersehbar; sie läßt sich von Platon über Augustinus und Luther bis zu Descartes verfolgen, der diese Differenzierung folgenreich in eine Dichotomisierung überführte und mit seiner Zweisubstanzenlehre auf die radikale Gegenüberstellung von Materie und Geist reduzierte.“ (Ebd., S. 11).

„Seit dieser Zeit hat man große Probleme damit, diese strikt getrennten Bereiche wieder zusammen zu führen und zu erklären, wie beides zusammenwirkt. Idealtypisch könnte man die Lösungsversuche auf zwei reduzieren und je nachdem, ob man sich bei der Seite des Geistes oder der Natur einklinkt, unterscheiden: Entweder ist die Verbindung das Ergebnis eines geistigen oder eines natürlichen Prozesses. Die erste Variante ist vor allem mit dem Namen »Leibniz« verbunden. Seine Antwort heißt: »prästabilisierte Harmonie«, und er versteht darunter eine Übereinstimmung zwischen Geistigem und Körperlichem durch die vorstellende Tätigkeit eines absoluten Geistes (also Gottes). Weil die binär codierte - Welt als eine Gewordene aus einer Einheit - der Geistmonade Gott - entstanden ist, könnte man dieses theologische Argument als schöpfungstheoretische Hypothese bezeichnen.“ (Ebd., S. 11).

„Die andere Möglichkeit, die Unterschiede zwischen Geistigem und Körperlichem, zwischen Natur und Kultur, zu erklären, ist vor allem mit dem Namen Darwin verbunden und könnte als evolutionstheoretische Hypothese bezeichnet werden. Sie erklärt die Unterschiede zwischen Geistigem und Körperlichem, zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen und auch zwischen Natur und Kultur - letztlich als Ausdruck der »poststabilisierten Harmonie« eines natürlichen Entwicklungsprozesses. Die Welt, so wie sie ist, wird wohl auch als ein Gewordenes interpretiert, aber nun nicht mehr als Produkt des Schöpfungsaktes eines singulären Geistes, sondern als Folge eines natürlichen Evolutionsprozesses, der nicht gesteuert verläuft, sondern durch Selektionen vererbbarer Varianten nach Maßgabe der Überlebensnützlichkeit als Anpassung erklärt werden kann (und damit immer nur eine Art »poststabilisierte« Ordnung m jederzeit änderbaren Zwischenstadium ist).“ (Ebd., S. 12).

„Die evolutionstheoretische Erklärung überwindet die traditionelle Dichotomisierung insofern, als sie in der Lage ist, eine Vielzahl von Emergenzniveaus zu erklären und dementsprechend die Differenz von Natur und Geist als nur eine, wenngleich wichtige, Stufe des Lebendigen zu begreifen. Aus naturalistischer Sicht sind alle diese Stufen als unterscheidbare emergente Systemebenen Produkte einer natürlichen Entwicklung (**). Auch Kultur. Die traditionelle Engführung auf die Alternative »Kultur versus Natur« wird damit überführt in die Perspektive »Kultur und Natur«.“ (Ebd., S. 12).


„Ich vertrete hier also keinen monistischen, sondern einen differenztheoretischen Ansatz im Rahmen einer Allgemeinen Evolutionstheorie. (Vgl. Alfred K. Treml, Evolutionäre Pädagogik, 2004, S. 56ff.). Dieser geht von einer Vielzahl von Emergenzebenen der Evolution aus, die alle nach Maßgabe der gleichen (darwinistischen) Logik entstanden sind: Variation, Selektion und Stabilisierung erfolgreicher Anpassungsmuster. Im Rahmen der Soziobiologie findet man gelegentlich einen monistischen Ansatz, der auch nicht mehr zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden erlaubt und beides - grau in grau - zu einer Einheit verschmilzt (Eckart Voland, Natur oder Kultur?,  in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S. 42-53).“ (Ebd.).

„Diese konjunktive Sichtweise ersetzt die disjunktive Unterscheidung von Natur und Kultur und überwindet damit unsere Neigung, binär zu denken und asymmetrisch zu bewerten. Bei Vergleichen neigen wir nämlich dazu, entweder die Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten hervorzuheben und sind nicht (oder nur mühsam) in der Lage, beide Seiten der Unterscheidung gleichermaßen zu beobachten und zu behandeln. Vermutlich handelt es sich hier um eine evolutionär erworbene denk- und sprachökonomische Disposition, die Erkenntnisse und ikre Kommunikation durch Kontrstverschärfungen erleichtert und optimiert. Wir können Kontraste einfach besser sehen und tendieren bei Birfurkationen dazu, uns der Einfachheit halber auf eine Seite zu schlagen.“ (Ebd., S. 12-13).

„Weil evolutonistheoretisch gesehen aber auch Erkenntnis im Dienste des Überlebens steht, neigen wir nicht nur zum binären Denken, sondern auch zum asymmetrischen Bewerten: Natur ist besser als Kultur ... oder ... Kultur ist besser als Natur .... “ (Ebd., S. 13).

„Selbst wenn wir uns die gesamte menschliche Kulturgeschichte vor Augen halten - und wer tut das heute noch? (ICH!HB) -, ist das nur ein winziger Bruchteik unserer Naturgeschichte. Die historische Zeit menschlicher Kulturgeschichte ist ein Zwei- bis Dreimillionstel der kosmischen und nur etwas mehr als ein Einmillionstel der biologischen Evolution, deren Teil wir sind. (Vgl. Albrecht Unsöld, Evolution kosmischer, biologischer und geistiger Strukturen, 1981, S. 65). Jedoch gilt hier Goethes Wort: »Das Abwesende wirkt auf uns durch Überlieferung« in einem doppelten Sinne, denn das Abwesende, das da wirkt, kann genetisch oder kulturell überliefert sein.“ (Ebd., S. 13).

„Die gentische Verwandtschaft zu Affen ist inzwischen präzise nachgewiesen, so daß Zoologen inzwischen dazu übergegangen sind, Mensch und Schimpanse taxonomisch zu einer Art zurechnen, denn schließlich läßt sich beim Vergelich der Kern-DNS zwischen Mensch und Schimpanse eine stärkere Übereinstimmung nachweisen als etwa zwischen Gorilla und Schimpanse. (Vgl. Eberhard May, Zum Kulturbegriff und seinem Stellenwert in der Humanbiologie,  in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S. 29-40).“ (Ebd., S. 14).

„Aus dieser Perspektive ist die verwegene Hypothese durchaus legitim, daß der Mensch auch in seinem Verhalten von seiner Naturgeschichte geprägt ist und angeborene Programme besitzt, die sensitiv nur für bestimmte Milieueigenschaften sind. Sein genetisches Entwicklungsprogramm - sagen wir es vorsichtig - schlägt ihm vor, sich in bestimmten Situationen so und nicht anders zu verhalten und begrenzt die Bandbreite möglicher Reaktionsformen. Auch kulturelles Verhalten ist - trotz seiner großen Varianz - im Durchschnitt an der Leine biologischer Fitneßimperative, oder mit Darwins Worten: »Der Mensch ist keine Ausnahme!«.“ (Ebd., S. 14).

„Diese Hypothese ist deshalb legitim, weil alle Lebewesen vor einer Vielzahl gleicher Probleme stehen und deshalb analoge Lösungsmuster wahrscheinlich sind. So stehen z.B. alle Säugetiere vor dem Problem, Nahrung zu beschaffen, Raubfeinden zu entgehen, Parasiten zu trotzen, sozialer Konkurrenz standzuhalten, Geschlechtspartner zu werben und Nachkommen großzuziehen. Deshalb lassen sich eine Vielzahl von menschlichen Verhaltensweisen entdecken, die homologe und analoge Funktionen bei Tieren erfüllen, wie z. B. Autorität, Hierarchie, Bindungsverhalten, Territorialität, Partnerwerbung, Paarbildung, Nepotismus, Kooperation, Spiel und Brutpflege resp. Nachwuchserziehung. (Vgl. Peter A. Corning, Biologische Grundlagen des sozialen Verhaltens, 1974; Bernhard Hassenstein, Verhaltensbiologie des Kindes, 1973; Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, 1987). Der Mensch ist hier - trotz deutlicher Unterschiede zu seinen tierlichen Verwandten -e in »kulturelles Tier« (Robert Fox). Er wäre ja auch geradezu dumm, wenn er hier alles neu erfinden hätte wollen, wenn es in der Evolution der Lebewesen doch schon eine ganze Reihe erprobter und erfolgreicher Programme gibt.“ (Ebd., S. 14).

„Das wäre vor allem deshalb dumm, weil die Evolution hier durch natürliche Selektion Effizienz belohnt und Nachlässigkeit - auf längere Sicht - mit Aussterben bestraft. Wer aber nicht von andern lernt, arbeitet nicht effizient, denn er muß alle Umwege des Lernens noch einmal gehen und alle Fehler noch einmal machen. Natur und Kultur unterscheiden sich hierbei nicht beim Prinzip, sondern nur bei der Form des Erwerbs und der Speicherung nützlicher Informationen. Die natürliche Evolution ermöglicht durch genetische Veränderungen und Stabilisierung jene arteigene Anpassungsoptimierung, die häufig mit dem - etwas unglücklichen - Schlagwort des »survival of the fittest« bezeichnet wird. Kulturelle Evolution ermöglicht zerebrale Lernprozesse in der Form von Anpassungsleistungen an spezifische Umweltbedingungen insbesondere durch Imitation. Am Anfang der Kulturgeschichte stand phylogenetisch gesehen deshalb der heimliche Imperativ: Beobachte die Erfolgreichen und lerne von ihnen! Das »survival ofthe fittest« wird damit ergänzt und optimiert durch ein »imitation ofthe fittest« (Eckart Voland, Natur oder Kultur?,  in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S. 42-53). (**).“ (Ebd., S. 14-15).


„Die große Bedeutung der Imitation für die Evolution einer »kulturellen Intelligenz« des Menschen (in Abgrenzung zum Affen) wird in der empirischen Anthropologie inzwischen auch experimentell bestätigt: Bei einem Test versuchen Kleinkinder ein Gefaß, in dem eine Belohnung ist, so zu öffnen, wie es ein Experimentator vorgemacht hat (d.h. sie imitieren!). Der Affe hingegen versucht auf eigene Faust, das Gefäß aufzubrechen (Science, Bd. 317, S. 1360).“ (Ebd.).

„Die Nützlichkeit dieses Prinzips ist unmittelbar einsichtig und deshalb nur schwer begreiflich, daß es immer noch viele - in Wissenschaft und Politik -g ibt, die schon den Blick auf die natürlichen, angeborenen Verhaltensprogramme scheuen, ja leugnen (so als ob dies etwas Unanständiges wäre), geschweige denn, aktiv mit ihnen zu arbeiten. Selbst und gerade dann, wenn man sie ablehnt und/oder die These von der Sonderstellung des Menschen vertritt, sollte man sie kennen, um nicht umsonst zu arbeiten, und wenn man in die gleiche Richtung will, ist es nützlich, mit ihnen zu rechnen und gewissermaßen auf dem »Schlitten« dieser natürlichen Neigungen zu fahren. In Anlehnung an Roger Bacon würde die Kultur sich der Natur dadurch bemächtigen, daß sie diese kennt und ihr nachgibt.“ (Ebd., S. 15).

„Ich will dies an den beiden Kulturbegriffen veranschaulichen, die derzeit gebräuchlich sind: dem Kulturbegriff im weiteren Sinne und im engeren Sinne (sprich: Hochkultur). Ich habe den Eindruck, daß derzeit - auch in vielen Wissenschaften - unisono der weite Kulturbegriff en vogue ist und Hochkultur, und nebenbei bemerkt: damit auch die Hochsprache des Deutschen und ihre Schrift, einen dramatischen Statusverlust erleidet. Wieder finden wir hier nicht nur eine Unterscheidung vor, sondern auch eine (asymmetrische ) Bewertung. Wenn man unter Kultur i.w.S. alle Glaubens-, Wissens-, Kommunikations-und Handlungsformen des einfachen Volkes versteht, also z.B. die populären Sitten und Gebräuche, religiöse Riten, Moralvorstellungen, Alltagsgewohnheiten, Dialekte und Erstsprache u.s.w., dann wird klar, daß jeder Mensch eine Kultur besitzt. Der weite Kulturbegriff, wie er etwa in der Volkskunde, der Empirischen Kulturwissenschaft (Bernd Jürgen Warneken, Zum Kulturbegriff der Empirschen Kulturwissenschaft, in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S. 207-214), der Interkulturellen Pädagogik (Clemens Niekrawitz, Interkulturelle Pädagogik im Überblick, 1990, S. 34ff.), üblich ist, betont also in den Unterschieden das Gemeinsame. Wahrscheinlich ist er deshalb so beliebt, ja geradezu »politisch korrekt« (**), beschwört man doch damit in einer multikulturell heterogenen Gesellschaft die Affiliation in eine fiktive Gemeinschaft (die im Zeitalter der Globalisierung ein einheitliches anglizistisches «Globalesisch« spricht).“ (Ebd., S. 15-16).

„Dagegen betont der Begriff der Hochkultur in den Unterschieden das Trennende, denn hier geht es um einzigartige und unvergleichliche kulturelle Hochleistungen. Jede Hochkultur hat ihre eigene Hochsprache und ein eigenes unverwechselbares kulturelles Gedächtnis. Beides ist nicht einfach sich anzueignen. Vielleicht wird deshalb dieser Begriff ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten -als »enger und bildungsbürgerlicher Kulturbegriff« abgewertet, ja denunziert, so daß Bildungspolitik und Kulturpolitik Mühe haben, nicht nur das nötige Geld, sondern auch die nötige Motivation dafür aufzubringen, so daß es fast einer Apologie der Hochkultur gleichkommt, wenn man deren Funktion herausarbeitet.“ (Ebd., S. 16).

„In der Tat lassen sich aus naturalistischer Sicht beide Kulturformen funktionalistisch begründen. Kultur i.w.S. bezeichnet Formen - und es ist deshalb besser von »Kulturen« im Plural zu sprechen - erprobter und bewährter Voranpassungen an sachliche, geographische oder historische Umweltbedingungen. Schon Hippokrates hatte einen ähnlichen Verdacht, als er in einer teilweise erhaltenen Schrift aus der Zeit kurz vor Jdem Peloponnesischen Krieg (also etwa um 450 v.Chr .) die auffälligsten Unterschiede zwischen Asien und Europa, insbesondere die Verschiedenheit der Völker sowohl in ihrer körperlichen Gestalt als auch in: ihren Charaktereigenschaften, Sitten und Gebräuchen durch unterschiedliche natürliche Umweltbedingungen erklärte und damit »nomos« zu einer von »physis« abhängigen Variablen machte. Nicht nur an sachliche, soziale, räumliche oder gar geographische, sondern auch an zeitliche, historische Formen der Umweltbedingungen passen sich Kulturen i.w.S. an und reduzieren dadurch Komplexität. In Anbetracht der natürlichen Bandbreite von Anpassungskontingenz erleichtert diese Reduktion das Leben der Menschen und macht es für den Einzelnen einfacher. (**).“  (Ebd., S. 16-17).


„Viele (philosophische) Anthropologen, wie z.B. Martin Heidegger, Helmuth Plessner und Amold Gehlen, haben diesen Vorgang als Kompensation eines grundlegenden anthropogenen Defizits interpretiert - als ob der Mensch nicht auf eine spezielle Umwelt hin von Natur aus angepaßt wäre. Er müsse deshalb den »Lastcharakter seines Daseins« mit und durch Kultur »entlasten«. Evolutionsbiologen interpretieren inzwischen überwiegend dies nicht mehr als Defizit, sondern - im Gegenteil - als eine dem Menschen spezifische (Sonder-)Ausstattung. Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen.“ (Ebd.).

„Einfacher wird es vor allem durch die Form der Vermittlung dieser Kontingenzregulierung. Sie verläuft i.a. latent durch Sozialisation bzw. Enkulturation und das heißt: ganz nebenbei ohne besonderen Aufwand gewissermaßen qua Prägung. Das neugeborene Kind wächst in seine Kultur i.w.S. durch funktionale Erziehung hinein. Das ist aus Sicht der Evolutionstheorie »billig«, weil es dem ökonomischen Sparprinzip der natürlichen Selektion entspricht. Es bedarf keiner zusätzlichen Lehrer, keiner Schulen, keiner Behörden, keiner vorbereitenden oder gar evoluierenden Gremien. Enkulturation spart Ressourcen, weil sie keine teuren Ressourcen verschlingt, und das ist es, was natürliche Selektion prämiert. Der Nachteil dieser kulturellen Prägungsprozesse ist allerdings ihre Veränderungsresistenz. Spätestens irn unmittelbaren Kontakt mit anderen, fremden oder gar exotischen kulturellen Entwürfen in einer multikulturellen Gesellschaft kann das (wie wir alle wissen) zum Problem werden.“ (Ebd., S. 17).

„Nun gibt es allerdings auch teure, ja sehr teure, Formen der Kultur, und wir nennen diese dann Hochkultur. Diese kann man nicht latent durch Sozialisation erwerben, sondern sie bedarf einer aufwendigen (intentionalen) Erziehung. Man kann die Hochkultur deshalb auch nicht mit der natürlichen Selektion erklären. Welchen Nutzen haben wohl riesige Pyramiden, kostbare Brillanten, viersätzige Sinfonien, fünfstündige Opern, sündhaft teure Armbanduhren, unbezahlbare Gemälde, filigrane Streichquartette, abstrakte Kunstwerke, dicke philosophische Bücher und aufwendige wissenschaftspolitische Tagungen wie diese? Ihre Herstellung ist ungemein teuer, verschlingt nicht nur viel Geld, sondern auch viel Lebenszeit. Um z.B. in einem Orchester mitspielen zu können, muß man nicht nur ein Instrument kaufen und viele Jahre des Lebens Tausende von Unterrichtsstunden nehmen und teuer bezahlen, sondern vor allem auch viele, unendlich viele, Stunden üben und üben (und damit einer der kostbarsten Ressourcen, nämlich Zeit, opfern), bis man auch nur die technischen Voraussetzungen dafür beherrscht. Die Aufführung selbst verlangt wiederum viele Proben u.s.w.. Oder ein anderes Beispiel: Um ein philosophisches Buch schreiben zu können, das vielleicht kaum jemand liest und wenn, dann nicht versteht, bedarf es vieler Jahre Schule und viele Tausende Stunden einsamer Studien, teuer von der begrenzten Lebenszeit erkauft und auf Kosten der Befriedigung anderer, ursprünglicher Bedürfnisse.“ (Ebd., S. 17-18).

„Wir sehen an diesen Beispielen: Hochkultur ist teuer, und es ist nicht zu erkennen, welche Überlebensfunktion sie - etwa in Form von Kunst und Musik - hat. Sie ist deshalb aus Sicht der natürlichen Selektion völlig , nutzlos, nicht nur überflüssig, sondern geradezu schädlich, weil sie Ressourcen verschleudert, die dann an anderer Stelle fehlen. Mit natürlicher Selektion kann man diese Verschwendung nicht erklären. Weil jedoch in jeder Kultur, wenngleich in sehr unterschiedlicher Ausprägung, Formen hochkultureller Verschwendung nachweisbar sind, muß es eine tiefsitzende Funktion erfüllen. Aus naturalistischer Sicht muß man hier die zweite, schon von Darwin bei seinen Tierforschungen aufgefallene Form evolutionärer Selektion in Betracht ziehen: Sexuelle Selektion.“ (Ebd., S. 18).

„Darwin hat schon (in einem kleinen Kapitel) seines Hauptwerkes »Über die Entstehung der Arten« eine zweite Selektionsform der Natur erwähnt, die sexuelle Selektion (»geschlechtliche Zuchtwahl«), und das Prinzip in Abgrenzung zu dem der natürlichen Selektion so beschrieben: »Diese Form der Zuchtwahl hängt nicht von einem Kampf ums Dasein mit anderen Lebewesen oder äußeren Umständen ab, sondern vom Kampf zwischen den Individuen eines Geschlechts, gewöhnlich des männlichen, um den Besitz des anderen (**). Das Schlußergebnis für den erfolglosen Mitbewerber ist nicht dessen Tod, sondern eine geringe oder gar keine Nachkommenschaft« (Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, 1859, S. 131). Inzwischen ist die Theorie der sexuellen Selektion theoretisch ausgebaut und vielfach empirisch bestätigt und mit einer Theorie des Handicap-Prinzips angereichert worden.“ (Ebd., S. 18-19).


„Die sexuelle Selektion wird von Darwin ausführlicher und erstaunlich differenziert in seinem (später erschienenen) Werk »Die Abstammung des Menschen« behandelt (Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, 1871, 2. Teil, S. 282ff.). Hier heißt es z. B.: die »geschlechtliche Zuchtwahl ...hängt von dem Vortheile ab, welchen gewisse Individuen über andere Individuen desselben Geschlechts und derselben Species erlangen in ausschließlicher Beziehung auf die Reproduction« (ebenda, S. 273).“ (Ebd.).

„Sexuelle Selektion erklärt zwei zunächst sehr unterschiedlich erscheinende Dinge bei zweigeschlechtlichen Lebewesen, nämlich einmal den harten und oft nicht ungefährlichen Konkurrenzkampf zwischen den Männchen um die Weibchen zwecks Abschreckung anderer Männchen und zum andern verschiedene Formen eines aufwendigen Leistungs- und Imponierverhaltens zwecks Anziehung der Weibchen. Beides ist funktional bezogen auf die Lösung des Grundproblems, das sich für Männchen in die Frage kleiden läßt: Wie erhalte ich unter Bedingungen der Knappheit der Ressourcen und der vielen Mitkonkurrenten Zugang zu befruchtungsfähigen Eizellen? Und für Weibchen: Wie erkenne ich den potenziell guten Vater meiner künftigen Kinder?“ (Ebd., S. 19).

„Weil für Weibchen aufgrund ihrer biologischen Ausstattung, insbesondere der Begrenztheit ihrer Eizellen und ihrer hohen Investition in Schwangerschaft und Geburt mehr auf dem Spiel steht, verwalten sie das knappere Gut und entscheiden letzten Endes über die gelingende sexuelle Selektion. Deshalb beobachten sie Männchen hinsichtlich bestimmter Kriterien, die inzwischen gut erforscht sind. Ein entscheidendes Kriterium ist die Fähigkeit des Männchens, großartigen Schmuck zu erzeugen, z. B. in Form bunter Schmuckgefieder mit aufwendiger Prachtfärbung, lautstarker Gesänge oder komplizierter Tanzrituale. Das Paradoxe dabei ist: Dieser auffällige und luxuriöse Schmuck muß bei der Herstellung und beim Gebrauch energetisch teuer und nutzlos, ja am besten möglichst hinderlich sein (**), denn nur dann signalisiert er im Rahmen der Signalselektion die ehrliche, weil teure Botschaft: Ich bin überdurchschnittlich fit! Ich kann mir diesen Überflüssigen und hinderlichen Schmuck leisten!“  (Ebd., S. 19-20).


„Und das ist er in der Regel, denn all diese Signale sind nicht nur bei der Herstellung energisch teuer, sondern bei der Ausführung im Rahmen der Signalselektion auch getahrlich, denn sie ziehen Feinde an und sind deshalb objektiv schädlich.“ (Ebd.).

„Es bedarf keines großen Analogieschlusses, um die Vermutung zu äußern, daß Kultur qua Hochkultur homolog wahrscheinlich in der sexuellen Selektion gründet. Hochkulturelle Formen sind eine Art großartiger Schmuck; sie sind vergleichbar mit aufwendigen Balzkleidern und ritualen, großartigen Gesängen und anderen Formen der Luxurierung bei Tieren. Kunst, Musik, Philosophie, Oper, Lyrik, Gesänge, Museen, Orchester, Tanz u.s.w.-all das ist aus naturalistischer Sicht nichts anderes als eine Ansammlung von Fitneßindikatoren, die gerade dadurch, daß sie nutzlos (**), aber teuer sind und gelegentlich geradezu Formen des freiwilligen Selbsthandicaps annehmen, ihren Nutzen in der sexuellen selektion haben, denn sie signalisieren nicht nur die überlegene Leistungsfähigkeit, sondern auch die Ehrlichkeit der Signale ( denn schließlich ist das, was sehr teuer ist, schwer zu fälschen [**]).“ (Ebd., S. 20).


„Bei seinem Versuch, im Kontext der Frage »Was ist ein Bild?«  die menschliche Fähigkeit des (Ab-)Bildens evolutionär zu bestimmen, arbeitet auch Hans Jonas die Nutzlosigkeit als zentrales Unterscheidungskriterium heraus, ohne allerdings dessen Funktion in der Sexuellen Selektion zu erkennen: »Was für Vermögen und Haltungen sind im Bildmachen am Werke? Für unsere spontane Überzeugung, daß kein bloßes Tier ein Bild hervorbringen würde und könnte, genügt zunächst die biologische Nutzlosigkeit jeder bloßen Repräsentation. Tierische Artefakte haben direkte physische Verwendung in der Verfolgung vitaler Zwecke, wie Ernährung, Fortpflanzung, Versteck, Überwinterung. Sie sind selber etwas im Bewirkungszusammenhang von etwas. Die Darstellung von etwas verändert aber weder die Umwelt noch den Zustand des Organismus selbst. Ein bildmachendes Wesen ist daher eines, das entweder dem Herstellen nutzloser Dinge frönt, oder Zwecke außer den biologischen hat ...« (Hans Jonas, Homo Pictor, in: Was ist ein Bild?,  Hrsg.: Gottfried Boehm, S. 107).“ (Ebd.).

„Am Anfang der Kultur war also nicht die Kunst - wie der SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 02.07.2007 (Nr. 27) verkündete (»Am Anfang war die Kunst«) -, sondern die Sexualität. Die Produktion von Dingen, die biologisch -d.h. im Sinne der natürlichen Selektion -nutzlos sind, wie etwa die bildende Kunst, ist eine (Neben- )Folge davon.“ (Ebd.).

Wenn diese Hypothese richtig ist, müßten eindeutige Indikatoren empirisch nachweisbar sein. Es müßte also bei der Produktion und bei der Konsumtion hochkultureller Güter eine deutliche geschlechtsspezifische Ungleichheit nachweisbar sein, und das heißt: Es müßte im statistischen Durchschnitt bei der kulturellen Produktion ein deutliches männliches Übergewicht und beim kulturellen Konsum ein deutliches weibliches Übergewicht nachweisbar sein, denn schließlich sind es letztlich die Frauen, die bei der sexuellen Selektion die letzte Entscheidung treffen (**). Die bisher gesammelten empirischen Daten bestätigen diese Vermutung. Ich will nur zwei Beispiele aufführen; das Erste bezieht sich auf die Produktion, das Zweite auf die Rezeption von Kultur:
 Untersucht man ein großes Konversationslexikon, dann ergibt sich, daß etwa 85,5% der dort aufgeführten Kulturgrößen (Dichter, Philosophen, Erfinder, Komponisten, Künstler u.s.w.) männlich und 14,5% weiblich sind. (Untersucht wurde das Bertelsmann Konversationslexikon [Das Wissen unserer Zeit von A-Z], 2001. Die Stichprobe umfaßt die Buchstaben A-D = 203 Seiten = 20%. Das Ergebnis: männlich 765 Nennungen = 85,5%, weiblich 130 Nennungen = 14,5%. [im Bereich der Technik und {Natur-}Wissenschaft u.s.w. dürfte das Verhältnis sogar 99,9% {männlich} zu 0,1% {weiblich} sein! HB]).
 Dagegen gibt es Anzeichen dafür, daß es bei der Kulturrezeption also bei den Beobachtern kultureller Produktionen ein deutliches weibliches Übergewicht gibt: »Es gehen in der Regel mehr Frauen in die kulturellen Veranstaltungen. Da müssen wir uns nichts vormachen. Die Männer werden höchstens mitgezogen« (**).
Wir sehen hier eine deutliche geschlechtsspezifische Asymmetrie, die den Schluß zuläßt: Die Produktion von Hochkultur ist primär männlich; Männer sind in allen Kulturen »kulturell produktiver« (G. Miller, Die sexuelle Evolution, 2001, S. 78f.) und das nicht deshalb, weil sie die Frauen dauerhaft unterdrückt haben, und auch nicht, weil sie klüger als die Frauen sind (**), sondern »weil sie zum größten Teil der Partnerwerbung dient (!), denn alle männlichen Säugetiere investieren mehr Energie in die Partnerwerbung. Männer malen mehr Bilder, nehmen mehr Jazzalben auf, schreiben mehr Bücher ... und vollbringen mehr ungewöhnliche Leistungen (**) ....« (G. Miller, Die sexuelle Evolution, 2001, S. 99).“ (Ebd., S. 20-22).


„Evolutionsbiologisch formuliert: »Es sind nämlich die Weibchen, welche die Männchen als Partner wählen. Als Auswahlkriterium gilt sicherlich die Vitalität der Männchen, die über solche ›Statussymbole‹ indirekt sichtbar wird. Denn diese Balzkleider, ausgiebige Gesänge oder andere Luxusmerkmale verursachen Kosten und nur ein gesundes und vitales Männchen ist in der Lage, solche Merkmale auszubilden. Kommen Tiere mit solchen ›Statussymbolen‹ vermehrt zur Fortpflanzung, dann werden sich auch die zugehörigen Merkmale (vorausgesetzt, daß sie genetisch vererbt werden) bevorzugt durchsetzen.« (Volker Storch / Ulrich Welsch / Michael Wink, Evolutionsbiologie, 2001, S. 312).“ (Ebd.).

„So der Intendant eines Hamburger Theaters in einem Interview (Kulturblatt für Bergedorf und Umgebung, Nr. 5, 2007, S. 4).“ (Ebd.).

„Mit Einschränkung! Empirisch nachweisbar ist eine deutliche männliche Dominanz bei überdurchschnittlich hoher Intelligenz: Bei einer schottischen Studie (an der Universität Edinburgh) zeigte sich, daß unter den intelligentesten zwei Prozent der Bevölkerung doppelt so viele Männer wie Frauen sind, während sich der Frauenanteil im Mittelfeld bewegt (vgl. Die Welt, 26.09.2007). Allerdings sind auch bei den 2% dümmsten Probanden mehr als doppelt so viel männlichen Geschlechts! Die Autoren der Studie vermuten, daß Männer im Verlaufe der Evolution einem Selektionsdruck in Richtung höherer Intelligenz ausgesetzt sind, weil diese Eigenschaft sie für das andere Geschlecht attraktiver macht. Es gibt deshalb mehr hochintelligente Männer als Frauen, und Männer überwiegen im produktiven, Frauen im reproduktiven Teil. Offen bleibt allerdings dann die Frage, warum der männliche Anteil auch bei den am wenigsten Intelligenten überwiegt. Eine Erklärung wäre m.E.: Weil Männer insgesamt riskanter leben, um in der sexuellen Selektion auffälliger zu sein; dies kann durch positive, aber auch durch negative Abweichung vom Mittelwert der Verteilung erreicht werden. Weil Männer riskanter leben, nutzen sie eine größere Bandbreite von Verhaltensweisen aus als Frauen. Das kann glücken, aber auch daneben gehen.“ (Ebd.).

„Baumeister weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die heute lebenden Menschen von doppelt so viel Frauen wie Männem abstammen, sich demnach etwa 80% der Frauen, aber nur etwa 40% der Männer fortgepflanzt haben und deshalb auf die Männer im Rahmen der sexuellen Selektion ein starker Selektionsdruck vorhanden war/ist, der zu einer hochriskanten und hochproduktiven Kulturleistung animiert (Roy F. Baumeister, Wie Kultur Männer benutzt, 2008, a.a.O., S. 10-13).“ (Ebd.).

„Aus naturalistischer Sicht ist der Kulturbetrieb eine riesige, kostspielige, Energie verschlingende Spielwiese rur unwahrscheinliche, teure Signale im Rahmen der sexuellen Selektion - zumindest ist das ihre homologe, d.h. ursprüngliche Funktion, die Kultur stabilisierte und wahrscheinlich auch heute noch proximat bestimmt. Das heißt natürlich nicht, daß sie immer und überall auch heute noch diese Funktion gar bewußt und absichtlich bedient. Das Programm wirkt unabhängig davon, ob dadurch im konkreten Fall eine größere Fitneß oder ein Fortpflanzungserfolg tatsächlich erreicht wird: »Menschen sind lebende Fossilien -Ansammlungen von Mechanismen, die durch den Selektionsdruck hervorgebracht worden sind, der auf eine lange und ununterbrochene Reihe von Vorfahren gewirkt hat. Heute aktivieren wir diese spezifischen Mechanismen und führen sie aus, doch wir folgen dabei weder bewußt noch unbewußt dem ... Ziel, die Vertretung unserer Gene im Verhältnis zu jener der Gene anderer zu maximieren« (David M. Buss, Evolutionspsychologie, 2003, in: Gene, Meme und Gehirne, Hrsg.: Alexander Becker, S. 166f.).“ (Ebd., S. 22).

„Möglicherweise bedient Hochkultur ultimat auch heute noch die Funktion, unwahrscheinliche Hochleistungen zu produzieren und damit nicht nur Selektionsvorteile im Rahmen der natürlichen Selektion zu erwerben, sondern auch im Rahmen der sexuellen Selektion wichtige Signale auszusenden. Wenn diese Vermutung richtig sein sollte, kann man daraus eine weitere interessante Schlußfolgerung ziehen: Hochkulturelle Leistungen im Rahmen der Signalselektion werden nicht produziert, um zu belehren, sondern um beobachtet zu werden. Deshalb ist Kultur qua Hochkultur Beobachtungskultur und braucht Konzertsäle, Museen, Theater, Klassenräume, Hörsäle und Fernsehkanäle u.s.w..“ (Ebd., S. 22-23).

„Gleichzeitig kann man mit der Theorie der sexuellen Selektion auch eine weitere geschlechtsspezifische Asymmetrie erklären, nämlich die der männlichen Dominanz in Politik und im produzierenden Bereich. Diese Dominanz ist in allen Kulturen nachweisbar, Ausnahmen wurden m.W. bisher nicht gefunden: Die »Suche nach Gesellschaften, in denen Frauen den öffentlich politischen Bereich dominieren« war »bislang ergebnislos« (Christoph Antweiler, Was ist den Menschen gemeinsam?,  2007, S. 9) oder in anderen Worten: »... männliche Dominanz ... ziemlich flächendeckend...: Patriarchat allüberall« (Volker Sommer, Von der Natur in der Kultur, 2000,  in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S. S. 36 [**]). Ein riskanter Wettkampf um Hochleistung, um Macht und Einfluß kann homolog als Konkurrenzkampf zwischen den Männem erklärt werden. Nur auf den ersten Blick scheint er glücklicherweise nicht mehr - wie bei vielen Tierarten oft - tödlich zu verlaufen (nämlich weil kulturelle Muster, etwa der Signale bei der einheitlichen grauen Kleidung unserer Politiker, eine aggressionsdämpfende Wirkung entfalten). Auf den zweiten Blick wird erkennbar, daß gleichwohl die Folgen dramatisch sind: Männer leben im statistischen Durchschnitt riskanter und damit stressiger, sie begehen mehr Morde und Selbstmorde, werden jedoch auch mehr Opfer von Gewaltverbrechen, und sie haben insgesamt gesehen eine deutlich kürzere Lebenserwartung als Frauen.“ (Ebd., S. 23).


„Allerdings konstruiert der Autor dann eine obskure, empirisch kaum nachweisbare Erklärung dafür, wenn er fortfährt: »Möglich war das nicht zuletzt, weil Männer den Frauen systematisch ihre stärkste Waffen entwanden: die Verwaltung der Götterwelt« (Volker Sommer, Von der Natur in der Kultur, 2000,  in: Kultur, Hrsg.: Siegfried Fröhlich, 2000, S.36).“ (Ebd.).

„Wenn man sich an diesen Beispielen vor Augen fuhrt, daß das, was wir wie selbstverständlich zur Kultur des Menschen rechnen, in Wirklichkeit durchwoben ist von proximaten und ultimaten Funktionen der Natur des Menschen, kann man auch deutlich die Verwerfungen entdecken, die dort entstehen, wo kulturelle Entwicklungen die vererbten Imperative der Natur unterlaufen oder konterkarieren. Wenn es beispielsweise unsere Gleichstellungspolitik - eine kulturelle Errungenschaft der »Postmoderne« (Spätmoderne [die »Postmoderne« ist lediglich eine sich nur so nennende, »künstlerische« Begleiterscheinung der Spätmoderne, also {noch} nicht wirklich eine Postmoderne]; HB) - fertigbringen sollte, Gleichheit am Anfang (qua Chancengleichheit) flächendeckend tatsächlich zu realisieren und das heißt: alle familialen und gesellschaftlichen Effekte vollständig auszuschließen, dann verstärkt sie paradoxerweise gerade die Unterschiede und biologisiert sie, denn auf der Basis von gesellschaftlicher Gleichheit können nun die biologischen Unterschiede um so deutlicher hervortreten. Wenn sie gar die Gleichheit am Anfang mit der Gleichheit am Ende verwechseit und eine Gleichheit der Lebensbedingungen durchsetzt, nimmt sie den Frauen jene entscheidende Distinktionen, an denen diese sich bisher (über Jahrmillionen hinweg) bei ihrer sexuellen Selektion orientieren konnten.“ (Ebd., S. 23-24).

„Man würde dabei wahrscheinlich etwas Wichtiges übersehen, nämlich daß Kultur Natur nicht steuern kann, sondern nur immer wieder die Bandbreite möglicher Reaktionsnormen austestet, ohne sich von der mal kürzeren, mal längeren Leine evolutionärer Fitneßprogramme letztlich befreien zu können. Gerade wenn man sich der vielen flüchtigen Moden unseres Kulturbetriebs, der »politischen Korrektheit« (**) und der Schnelligkeit, mit der sich Reformprogramme (insbesondere in der Bildungspolitik) abwechseln, vor Augen führt, ist es gelegentlich angebracht, auf eine theoretisch kontrollierte Distanz zu gehen und sich der großen natürlichen Zusammenhänge zu erinnern, in denen all unsere Wünsche und Anstrengungen eingebettet sind. Man wird dann möglicherweise zu einer Einsicht kommen, die Darwin ... so formulierte: »Wie unbestimmt sind die Wünsche und Anstrengungen des Menschen, wie knapp bemessen ist seine Zeit. Und wie armselig sind seine Erfolge im Vergleich zu denen, die die Natur im Laufe ganzer geologischer Perioden hervorgebracht hat« (Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, 1859, S. 125).“ (Ebd., S. 24).

„Im Bemühen, das Nächstliegende zu tun, neigen auch wir Pädagogen dazu, diese »Dunkelseite des Mondes« zu übersehen, also das, was der Situation nicht nur kulturell, sondern auch natural vorgegeben ist. Eine Aufklärung dieser im Dunkel liegenden Seite natürlicher Vorselektionen muß die im Hellen sichtbare Seite kultureller und individueller Bindungen nicht beleidigen. Im Gegenteil! »Ist auch der Mond nur halb zu sehen, ist er doch rund und schön« (Matthias Claudius).“ (Ebd., S. 24).

Die Evolution entläßt ihre Kinder - geht das überhaupt? (Gerhard Vollmer)

 –  Unsere kognitive Nische - der Mesokosmos (S. 35-36)
 –  Der soziale Mesokosmos (S. 36-38)
 –  Können wir unseren Mesokosmos erweitern?  (S. 38-40)
 –  Können wir unseren Mesokosmos verlassen?  (S. 40-43)
 –  Geht die Evolution des Menschen weiter?  (S. 43-44)

Unsere kognitive Nische - der Mesokosmos

„Die Evolutionäre Erkenntnistheorie betrachtet das menschliche Erkenntnisvermögen als eine Fähigkeit, die wir im Laufe der Evolution erworben haben. Auch mit diesem Vermögen haben wir uns an unsere Umwelt angepaßt. Den Ausschnitt der realen Welt, an den wir kognitiv angepaßt sind, nennen wir Mesokosmos. Er ist -in Analogie zur ökologischen Nische - die kognitive Nische des Menschen. Er ist räumlich dreidimensional; bei Entfernungen reicht er von Millimetern (»Haaresbreite«) zu Kilometern (Tagesmarsch), zeitlich vom subjektiven Zeitquant (etwa 1/20 Sekunde) zum eigenen Lebensalter, von Gramm zu Tonnen, von Stillstand zur Geschwindigkeit eines geworfenen Steins, von gleichförmiger Bewegung (Beschleunigung Null) zur Sprinter- oder Erdbeschleunigung, vom Gefrier- bis zum Siedepunkt des Wassers, von Komplexität Null (unzusammenhängender Staub) bis zu linearen Systemen und damit auch zu linearer Kausalität. Dagegen gehören elektrische und magnetische Felder nicht zum Mesokosmos: Sie sind zwar, wie das Erdmagnetfeld zeigt, makroskopisch; wir haben jedoch kein Sinnesorgan für sie und können sie deshalb nicht »unmittelbar« wahrnehmen.“ (Ebd., S. 35).

„Auf diesen Mesokosmos sind wir genetisch vorbereitet; auf ihn werden wir zusätzlich geprägt; dort finden wir uns leicht zurecht; hier können wir uns auf unsere Intuition verlassen. Außerhalb des Mesokosmos kann uns die Intuition leicht in die Irre führen. Zwar meint Rene Descartes (1596-1650):
»Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß es besser ist, nach dem Muster der in den großen Körpern durch unsere Sinne wahrgenommenen Vorgänge über die zu urteilen, die an den kleinen Körpern geschehen, aber wegen ihrer Kleinheit nicht wahrgenommen werden können, als zu ihrer Erkenntnis neue Dinge, ich weiß nicht welche, auszudenken, welche mit en wahrgenommenen keine Ähnlichkeit haben. (René Descartes 1644, Die Prinzipien der Philosophie, § 201).
Es mag eine vernünftige Maxime sein, zunächst einmal anzunehmen, die Welt sei überall so beschaffen wie im Mesokosmos. Doch wissen wir längst, daß diese Annahme oft genug falsch ist. Und sie ist desto häufiger falsch, je weiter die Systeme von unserem Mesokosmos entfernt sind.“ (Ebd., S. 35-36).

„Über die Rolle der Intuition wird in letzter Zeit viel diskutiert und zum Glück auch geforscht - oft mit Ergebnissen, die der Intuition widersprechen. Auf der einen Seite stellt sich heraus, daß unsere Intuition - unser »Bauchgefühl«, wie man heute gern sagt - oft eine gute Richtschnur bietet. “ (Ebd., S. 36).

„Auf der anderen Seite wird unsere Intuition viel kritisiert. So gibt es ganze Bücher über die Fehlleistungen unserer Intuition. Besonders leicht irren wir uns, wenn es um Wahrscheinlichkeit und Statistik geht. Mehrere Autoren versuchen, solche Fehlleistungen nicht nur darzustellen, sondern auch zu erklären. Einige von ihnen machen deutlich, daß wir viele unserer Fehler und Irrtümer der Evolution zu verdanken haben. Und natürlich gibt es auch Ratschläge, wie man solche Irrtümer vermeiden kann. “ (Ebd., S. 36).

„Allerdings sind einige Autoren der Meinung, daß solche Fehlleistungen, gerade wenn und weil sie evolutiv bedingt sind, nahezu ufivermeidlich seien. Tatsächlich ist es manchmal erschreckend, wie dieselben Fehler immer wieder gemacht werden. Dazu bieten gerade die Bücher von Frey viele eindrucksvolle Fallstudien. Auch die Pädagogik wird sich klugerweise nicht das (unerreichbare) Ziel setzen, alle üblichen Fehler, insbesondere die hartnäckigen, zu verhindern oder wenigstens abzufedern. Sie wird zufrieden sein müssen, wenn es ihr gelingtwenigstens einige Fehler und Fehlleistungen zu vermeiden. (Vgl. U. Frey, Der blinde Fleck, 2007; ders., Fallstricke, 2009).“ (Ebd., S. 36).

Der soziale Mesokosmos

„Neben dem Mesokosmos, also unserer kognitiven Nische, kann man auch einen sozialen Mesokosmos ins Auge fassen. Das ist dann jener Ausschnitt der sozialen Welt, an den wir als evolutionär entstandene Wesen angepaßt sind. Zwar läßt auch er sich aus fossilen Funden kaum rekonstruieren. Doch sind Verhaltensuniversalien gute Kandidaten für genetische Wurzeln. Vor allem können wir an menschlichem Fehlverhalten studieren, wo wir unseren sozialen Mesokosmos überfordern. Außerdem können wir hier vergleichende Forschung betreiben und uns mit Stammeskulturen (früher: Naturvölkern) einerseits, mit anderen Primaten andererseits vergleichen. Der soziale Mesokosmos besteht aus etwa 100 Stammesgenossen, die man alle persönlich kennt und mit denen man in der Regel auch näher verwandt ist. Mit ihnen hat man weit mehr soziale Kontakte als mit fremden Individuen. Mit ihnen zu koopefieren, begünstigt in der Regel auch die eigenen Gene: Entweder ich nütze meinen Verwandten und damit meinen Genen, soweit sie in ihnen stecken; oder ich nütze anderen Stammesgenossen, die dann über reziproken Altruismus wieder mir oder meinen Verwandten und damit ebenfalls meinen Genen nützen.“ (Ebd., S. 36-37).

„Unsere soziale Umwelt wird dem sozialen Mesokosmos il'nmer unähnlicher. Der Anthropologe Hans Zeier hat zahlreiche Situationen skizziert, die in unserer stammesgeschichtlichen Vergangenheit nicht vorgekommen, heute aber häufig sind. (Vgl. Hans Zeier, Evolution von Gehirn, Verhalten und Gesellschaft, 1978, a.a.O.). Wir stellen einige solche Bedingungen zusammen:
 Die Gruppen, in und mit denen wir leben, umfassen mehr als hundert Individuen.
 Wir haben mehr Kontakte mit fremden als mit vertrauten Individuen.
Wir haben mehr indirekte Kontakte über (technische) Hilfsmittel als persönliche Kontakte.
Der Anteil neuartiger Tätigkeiten ist vergleichsweise hoch.
Wir machen mehr passive Erfahrungen (Berichte, Lektüre, Medien, Computer) als aktive
Soziale und technische Veränderungen lassen die Erfahrungen einer Generation für die nächste unbrauchbar werden.
Wir lernen mit und an Maschinen statt an Menschen und entwickeln entsprechende Gewohnheiten und Denkmodelle.
Wir erleben weder unsere ökologischen Lebensvoraussetzungen noch die Folgen unserer Handlungen direkt genug, um individuell daraus zu lernen.
Viele Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf, lernen also das jeweils andere Geschlecht und die andere Hälfte der Familie kaum kennen.
Bei Einzelkindern über mehrere Generationen gibt es keine Großfamilie mehr: keine Onkel und Tanten, keine Kusinen und Vettern, keine Geschwister, keine Neffen und Nichten. Verwandt ist man nur noch mit Eltern und Kindern.
Offenbar gibt uns unser stammesgeschichtliches Erbe zwei verschiedene Verhaltensweisen mit: Verhalten gegenüber Stammesgenossen (in-group) und gegenüber Außenstehenden (out-group). Nach den Erkenntnissen der Soziobiologie hat uns die Evolution also mit einer Art »doppelter Moral« ausgestattet. Es leuchtet ein, daß das Modell des sozialen Mesokosmos große Bedeutung für die Ethik hat, insbesondere aber für eine Evolutionäre Ethik; denn jede einigermaßen anspruchsvolle Ethik legt Wert auf die Verallgemeinerbarkeit moralischer Normen. Ähnliches gilt für Psychologie, Psychiatrie und Pädagogik. So ist es kein Wunder, daß es inzwischen eine Evolutionäre Psychologie, eine Evolutionärei Psychiatrie und eben auch eine Evolutionäre Pädagogik gibt. Im folgenden befassen wir uns allerdings nur mit Pädagogik und nur mit unserer kognitiven Nische, also mit dem Mesokosmos. Was kann - angesichts unseres evolution ären Erbes - eine Erzieherin tun, um ihre Aufgabe zu erfüllen?“  (Ebd., S. 37-38).

Können wir unseren Mesokosmos erweitern?

„Wir wollen die Antwort vorwegnehmen: Ja, wir können unseren Mesokosmos erweitern, und zwar sowohl unseren kognitiven als auch unse. ren sozialen Mesokosmos. Die Grenzen des Mesokosmos liegen nicht genau fest. Sie sind nicht nur von Person zu Person verschieden, sondern können sich auch im Laufe eines Lebens verschieben. Das kann völlig unbeabsichtigt geschehen oder aber auch ganz gezielt angestrebt werden.“ (Ebd., S. 38).

„Wir erleben, wie Ärzte Aufnahmen mit Röntgenapparat, ultraschallgerät oder Mikroskop deuten, auf denen wir nur Chaos sehen. Wir beobachten LKW-Fahrer, die einen Lastzug mit Anhänger rückwärts lenken und auf 10 Zentimeter genau wissen, wie weit die äußersten Fahrzeugteile von einer Mauer entfernt sind. Wir bewundem Baggerfahrer, die mit Hand- und Fußhebeln einen Ausleger mit Schaufel steuern, als ob es ihre eigene Hand wäre. Wir können uns in Geräte, Hilfsmittel, Werkzeuge »hineinversetzen«, als ob sie eigene Gliedmaßen wären. Ich habe einen originellen Cartoon von Gerhard Glück, auf dem Arbeitselefanten Mikado spielen! Darin steckt eine große Bewunderung für die Feinfühligkeit dieser Urwaldriesen, der größten Landsäugetiere überhaupt. Man könnte den Cartoon aber auch als Anspielung deuten, daß wir Menschen für manche Aufgaben, die wir uns selbst stellen, eigentlich zu grob gebaut sind und uns regeImäßig überfordern.“ (Ebd., S. 39).

„Leider kann keiner von uns alles lernen. Auch vererben können wir diese Fähigkeiten nicht. Die Aufgabe, seinen Mesokosmos zu erweitem, stellt sich also für jedes Individuum immer wieder neu. Aber das war, evolutiv gesehen, »schon immer« so. Jeder Mensch bringt Lernfähigkeit mit, die er für ganz unterschiedliche Aufgaben einsetzen kann. Der Jäger wird sein Auge schärfen; die Musikerin ihr Gehör. Tabaksortiererinnen lernen, viele Tabakfarben zuverlässig zu unterscheiden, und die Inuit (Plural von »Inuk«, der Selbstbezeichnung der Eskimos (wenn die sich selbst so bezeichnen, müssen wir die aber nicht auch so bezeichnen - außerdem nennen die uns ja auch nicht »Deutsche«! HB) können mehr Arten von Schnee unterscheiden und benennen als Europäer. Ich erinnere mich gern an eine Alpenwanderung mit einem Eingeborenen aus Neuguinea, einem Trobriander. Lange vor uns sah er ein Reh oder eine Gams; sein Auge (oder besser: sein Gehirn) war geschulter im Wahrnehmen von Bewegung als unseres. Sein Mesokosmos war in dieser Richtung merklich weiter als unserer. Auch wenn wir eine Sportart einüben oder den Führerschein machen, werden unsere Sinne und unsere Motorik geschult, und die Kontrolle unserer Wahrnehmung und unserer Bewegungen werden zunehmend ins Unbewußte verlagert. Was unwillkürlich, spontan, intuitiv, automatisch passiert, geschieht dann viel schneller als unter bewußter Kontrolle; allerdings kann diese Intuition nicht auch schon allen Grenzsituationen gewachsen sein.“ (Ebd., S. 39).

„Daß wir unseren Mesokosmos erweitern können, liegt durchaus im Rahmen unserer genetischen Ausstattung. Wir sind gerade deshalb lernfähig, weil es sich im Laufe dei Evolution gelohnt hat, lernfähig zu sein. In diesem Sinne können wir den Mesokosmos erweitem; er wird dann unser persönlicher Mesokosmos - der allerdings nicht vererbt wird. Hierfür braucht die Evolution uns nicht zu entlassen; auch mit einem erweiterten Mesokosmos bleiben wir ihre Kinder. Und hier hat die Pädagogik eine dankbare und übersichtliche Aufgabe. Nun kommen wir aber zu einer schwierigeren Frage.“ (Ebd., S. 39-40).

Können wir unseren Mesokosmos verlassen?

„Manche halten das für unmöglich. So meint Hoimar von Ditfurth in seiner einprägsamen Sprache, es sei sicher, »daß die Gesamtheit dessen, was real existiert, unser Vorstellungsvermögen unermeßlich übersteigt« (Hoimar von Ditfurth, Wir sind nicht nur von dieser Welt, 1981, S. 224). Und zwar nach Ditfurth nicht nur unser Vorstellungsvermögen, sondern auch unser Erkenntnisvermögen. So wie der Mensch viel mehr von der Welt erkannt habe als die Ameise, so könne auch die tatsächliche Welt noch um Größenordnungen reicher sein als die Welt, wie wir sie zu kennen glauben.“ (Ebd., S. 40).

„Eines ist daran richtig: Unser Wissen ist vorläufig und fehlbar; unser Wissen über unser Nichtwissen erst recht. Wir können nicht wissen, was uns alles entgeht, erst recht nicht, was uns auch noch in naher oder ferner Zukunft entgehen wird. Diese Einsicht mag uns enttäuschen. Wir können sie aber auch positiv wenden: Da wir die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens nicht kennen, dürfen wir auch mit dem Gedanken spielen, daß es solche Grenzen gar nicht gibt.“ (Ebd., S. 40).

„Immerhin können wir den Mesokosmos verlassen. Das entscheidende Hilfsmittel dafür ist die menschliche Sprache. Wir können sie ein Denkzeug nennen. Wie ein Werkzeug uns hilft, etwas zu bewirken, so hilft uns ein Denkzeug beim Denken. In der Sprache können wir Sachverhalte formulieren, die wir uns nicht vorstellen können. Auch können wir einen Satz, der uns wahr erscheint, verneinen, also das Gegenteil formulieren, obwohl es uns falsch erscheint. Und ganz gleich, ob wir einen Satz nun für wahr oder für falsch halten -in beiden Fällen können wir Folgerungen ziehen und in der Erfahrung überprüfen. Dabei kann es geschehen, daß sich die Folgerungen aus dem vermeintlich wahren Satz als falsch, die Folgerungen aus dem vermeintlich falschen Satz als wahr herausstellen. So können wir Sätze, die uns wahr erschienen, fiber den Modus tollens als falsch erkennen. Auf diese Weise gewinnen wir Erkenntnis über die Welt jenseits des Mesokosmos, obwohl diese Bereiche unserer Vorstellung nicht zugänglich sind, obwohl sie für uns unanschaulich sind, obwohl sie unseren mesokosmischen Erwartungen widersprechen.“ (Ebd., S. 40-41).

„Die Sprache also ist die Leiter, auf der wir die Grenzen des Mesokosmos übersteigen. Das kann und muß sich die Wissenschaft, die Pädagogik, die Didaktik zunutze machen. Ob die Sprache ihrerseits wieder Grenzen setzt, ist schwer auszumachen. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«, meint Ludwig Wittgenstein (1889-1951) in seinem Tractatus logico-philosophicus (vgl. ebd., 1921, § 5.6). Das klingt, wenn er recht hat, nach einer starken Beschränkung.“ (Ebd., S. 41).

„Aber ist nicht auch unsere Sprache veränderbar? Können wir nicht in der Sprache mit der Sprache spielen, können wir nicht Erweiterungen erfinden und ausprobieren? Offenbar ist die Grenze, von der Wirtgenstein spricht, keine absolute Grenze. Er sagt eigentlich nur: »Die Grenze meinerjetzigen Sprache ist die Grenze meinerjetzigen Welt.« und damit mag er recht haben. Über meine und vor allem über unsere zukünftige Sprache sagt er nichts und kann er auch nichts sagen. Aber offensichtlich unterschätzt er das kreative Potential der Sprache.“ (Ebd., S. 41).

„Mathematiker wie Gauß (er war der Erste! HB) ... und Riemann formulieren nichteuklidische Geometrien; Physiker wie Einstein verwenden diese Geometrien zur Beschreibung und Erklärung der Welt und sind damit erfolgreich; daraufhin fühlen wir uns berechtigt, der Welt eine nichteuklidische Struktur zuzuschreiben. Andere Mathematiker erweitem den herkömmlichen dreidimensionalen Raumbegriff auf mehr als drei Dimensionen; Physiker versuchen, den physikalischen Raum mit solch mehrdimensionaler Geometrie zu beschreiben, sind dabei jedoch - wenigstens im makroskopischen Bereich - nicht erfolgreicher als mit drei Dimensionen, finden sogar Gründe, warum Planetenbahnen nur in einem dreidimensionalen Raum stabil sind; daraufhin sind wir erst recht überzeugt, daß unsere Welt räumlich dreidimensional ist. Nichteuklidische und mehrdimensionale Räume können wir uns beim besten Willen nicht vorstellen; aber wir können sie entwerfen, versuchsweise zur Beschreibung der Welt ver:yvenden und zu dem Ergebnis kommen, daß unsere Welt tatsächlich nichteuklidisch und dreidimensional ist. Im ersteren Falle haben wir unsere mesokosmische Raumvorstellung deutlich überschritten. Das verdanken wir der Mathematik, die ihrerseits auf der Sprache beruht; letztlich verdanken wir es also dem kreativen Charakter und Gebrauch unserer Sprache.“ (Ebd., S. 41-42).

„Ebenso unterschätzt Wittgenstein das kreative Potential der Evolution. »Die Darwinsche Theorie hat mit der Philosophie nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der Naturwissenschaft.« (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1921, § 4.1122). Auch hier irrt Wittgenstein. Die beiden Irrtümer hängen offenbar eng zusammen: Er übersieht, daß die Zukunft der Evolution und die Zukunft der Sprache offen sind. Daß wir nicht mehr denken können, als wir denken können (§ 5.61), das ist immer wahr, und daß wir -noch allgemeiner - nicht mehr können, als wir können, das bleibt ebenfalls wahr. Es ist aber durchaus möglich, daß wir in Zukunft mehr sagen können als jetzt, mehr denken können als jetzt, mehr können als jetzt.“ (Ebd., S. 42).

„Es gibt noch mehr Denkzeuge. Viele Kulturtechniken sind Denkzeuge: das Schreiben, das Rechnen, die Mathematik, Algorithmen aller Art. Aber auch Geräte: Rechenmaschinen, Computer (also programmierbare Rechen- und Denkmaschinen), Computersprachen, Computerprogramme. Sie alle helfen uns, den Mesokosmos zu verlassen. Dieser Schritt mag schwierig sein; er ist möglich und in vielfacher Weise nützlich. Deshalb pflegen wir unsere Denkzeuge und machen siei uns weiterhin zunutze.“ (Ebd., S. 42).

„Wenn wir den Mesokosmos verlassen, dann können wir sagen, daß uns die Evolution entläßt. Sie hat uns all die Fähigkeiten mitgegeben, die wir beim Verlassen des Mesokosmos nützen: Wir können verallgemeinern, abstrahieren, Begriffe bilden, sprechen, schließen, Erfahrungen machen, uns etwas merken, von Erfahrungen in der Vergangenheit übergehen zu Erwartungen an die Zukunft. Auf all diesen elementaren Fähigkeiten lagen evolutive Prämien. Sie waren nützlich; deshalb wurden sie, einmal entstanden, auch beibehalten. In diesem Sinne bleibeff wir natürlich immer »Kinder der Evolution«.“ (Ebd., S. 42).

„Aber in ihrer Gesamtheit, also im Verbund, dienen diese Fähigkeiten zu viel mehr, als in der Evolution zunächst gebraucht wurde. Wenn wir uns die eingängige teleologische Redeweise noch einmal erlauben, dann können wir auch sagen, diese Fähigkeiten dienten zu mehr, als von der Evolution »vorgesehen« war. Wir sehen das sofort, wenn wir uns vor Augen halten, daß alle oben genannten Kulturtechniken höchstens einige Jahrtausende alt sind. In dieser Zeit kann sich unser genetisches Erbe nicht wesentlich verändert haben. Die Erfindung der Schrift, die Entstehung und Weiterentwicklung weiterer Kulturtechniken, letztlich die gesamte kulturelle Evolution haben immer mehr Information angesammelt und gespeichert, immer mehr Fähigkeiten miteinander verbunden, immer mehr Möglichkeiten eröffnet. In diesem Sinne können wir tatsächlich sagen, die Evolution habe ihre Kinder in die Kultur »entlassen« - was natürlich wieder eine anthropomorphe Redeweise ist. “ (Ebd., S. 42-43).

Geht die Evolution des Menschen weiter ?

„An Wittgenstein haben wir kritisiert, daß er sowohl die Kreativität der Evolution als auch die Kreativität der Sprache unterschätzt. Wir haben dort aber nur festgestellt, daß sich unsere Sprache und unser Denken verändern könnten. Wir haben jedoch nichts darüber gesagt, ob das tatsächlich so sein wird. Dieser Frage wenden wir uns zuletzt zu. Dabei stehen wir vor einem Dilemma. “ (Ebd., S. 43).

Einerseits können wir mit vollem Recht sagen: »Natürlich geht die Evolution weiter; sie geht immer weiter. Wir wissen nur nicht, wohin sie uns bringt.« Wie viele andere hält auch Hoimar von Ditfurth es für möglich, daß unsere Abkömmlinge in einer femen Zukunft ein besseres Erkenntnisvermögen entwickeln. Habe die Evolution beim Menschen zur Entwicklung der Großhirnrinde und damit zu einem stark verbesserten Erkenntnisvermögen geführt, so dürften wir auch »an die Möglichkeit denken, daß ein gleichartiger evolutionärer Schritt sich in Zukunft wiederholen könnte. .... Der neuen und unvorstellbaren Fähigkeit des Gehirns würde sich ... eine neue, uns ebenfalls unvorstellbare Eigenschaft der Welt offenbaren. Und so fort bei beliebig häufigen Wiederholungen eines solchen Schritts.« (Hoimar von Ditfurth, Der Geist fiel nicht vom Himmel,1976, S. 312f.) Die Evolution geht dann also weiter, auch die Evolution unseres Gehirns und der menschlichen kognitiven Fähigkeiten.“ (Ebd., S. 43).

Andererseits schreitet die biologische Evolution sehr langsam voran. So wichtig die evolutive Vergangenheit des Menschen für Pädagogen auch sein mag, so unerheblich ist der künftige Verlauf der Evolution; denn sie und wir wollen jetzt etwas erreichen und nicht erst im Verlauf der nächsten 1000, 10 000 oder gar 100 000 Jahre! Aber selbst wenn wir Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ins Auge fassen könnten, so hätte das doch kaum praktische Konsequenzen: Weder die natürliche noch die künstliche Evolution wird die genetisch bedingte Lernfähigkeit merklich erhöhen. Dazu müßten ja Leute mit höherer (genetisch bedingter!)  Lernfähigkeit auch mehr Kinder bekommen, und danach sieht es im Augenblick eben einfach nicht aus. Ob allerdings durch genetische Manipulation Gene für höhere erbliche Lernfähigkeit oder gar entsprechende Neurochips implantiert werden könnten, wollen wir hier offenlassen.“ (Ebd., S. 43-44).

„Für die Evolutionäre Pädagogik spielt unsere evolutiv entstandene tatsächliche Lernfähigkeit die größte Rolle, nicht jedoch die denkbare erweiterte Lernfähigkeit künftiger Generationen. Was wir erreichen können, hängt davon ab, wie gut wir unsere genetisch bedingte Lernfähigkeit nützen, nicht davon, wie groß unsere Lernfähigkeit in ferner Zukunft einmal sein wird. Einer möglichen Veränderung unseres Erbguts braucht die Pädagogik also nicht Rechnung zu tragen, einer Veränderung unserer gesellschaftlichen und ökologischen Bedingungen dagegen schon.“ (Ebd., S. 44).

Systemische Evolutionstheorie und Gefallen-wollen-Kommunkation (Peter Mersch) **

  1)  Einführung (S. 47-48)
  2)  Darwinistische Evolutionstheorie (S. 47-51)
  3)  Systeme (S. 52)
  4)  Selbstreproduktive Systeme (S. 52-56)
  5)  Systemhierarchien (S. 56-58)
  6)  Methoden des Kompetenzerhalts (S. 58-61)
  7)  Kommunikationsarten (S. 61-67)
  8)  Objektorientierung (S. 67-70)
  9)  Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie (S. 70-75)
10)  Gültigkeit der Darwinschen Evolutionsprinzipien (S.75-78)
11)  Nichtbiologische Evolutionen (S.78-86)
12)  Evolution und Systembildung (S.86-88)

1) Einführung

„Der Artikel befaßt sich zunächst mit dem klassischen Darwinschen Evolutionsmodell und zeigt dafür verschiedene Defizite auf. Im Anschluß daran werden die Prämissen für ein alternatives, akteurbasiertes Evolutionsmodell herausgearbeitet. Dazu zählen:
 Die Natur hat zwei grundlegend unterschiedliche Selektionsweisen zur Erlangung von Ressourcen hervorgebracht: Dominanz und Gefallen-Wollen (Push und Pull).
 Im Rahmen der Evolution erfolgt eine Hierarchisierung »lebender« Systeme: einzellige Organismen (Einzeller), vielzellige Organismen (Vielzeller) und Superorganismen.
 Lebende Systeme zeichnen sich vor allen Dingen durch ihr Reproduktionsinteresse aus, das heißt durch ihr Bestreben, ihre Kompetenzen in bezug auf ihre Umwelt fortwährend zu erhalten.
Es wird eine auf der allgemeinen Systemtheorie fußende Systemische Evolutionstheorie formuliert und begründet, in deren Zentrum nicht mehr die natürliche Selektion, sondern der Evolutionsakteur mit seinen Reproduktionsinteressen steht.“ (Ebd., S. 47).

„Auf dieser Grundlage werden die folgenden Resultate erzielt beziehungsweise skizziert:
 Erfüllt eine biologische Population die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie, dann evolviert sie auch im Darwinschen Sinne.
 Die natürliche und sexuelle Selektion lassen sich auf die gleichen Evolutionsprinzipien zurückführen.
 Die Systemische Evolutionstheorie kann neben der biologischen auch die technische, wissenschaftliche und kulturelle Evolution beschreiben.
Abschließend wird die Vermutung geäußert, daß sich auf der Erde alle Evolutionen gemäß den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie ereignen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Gefallen-wollen-Kommunikation zu, auf deren Basis fortwährend neue evolutive Lebensräume entstehen können.“ (Ebd., S. 47-48).

2) Darwinsche Evolutionstheorie

„Die von Charles Darwin entwickelte biologische Evolutionstheorie - im folgenden Darwinsche Evolutionstheorie genannt - erklärt die eigendynamische Entwicklung des Lebens auf der Erde und die fortlaufende Anpassung von biologischen Populationen an ihren Lebensraum aus einigen wenigen Evolutionsprinzipien heraus. In ihrem Zentrum steht - neben den Prinzipien Variation und Vererbung - das Prinzip der natürlichen Selektion (natürliche Auslese) und damit der Fortpflanzungserfolg: Individuen, die aufgrund ihrer Erbanlagen besser an ihre Umgebung angepaßt (fitter) sind, hinterlassen durchschnittlich mehr Nachkommen als weniger gut angepaßte. Hierdurch sind ihre Erbanlagen in der Folgegeneration anteilsmäßig stärker vertreten als in der Parentalgeneration. Das hat zur Folge, daß Individuen mit in ihrer aktuellen Umwelt ungünstigeren Merkmalen in der Folgegeneration weniger häufig vertreten sind. Das Prinzip ist auch unter den Namen Selektionsprinzip, Survival of the Fittest beziehungsweise Überleben der Tauglichsten bekannt.“ (Ebd., S. 48).

„Man könnte die Darwinschen Evolutionsprinzipien als einen Optimierungsalgorithmus verstehen, der die fortlaufende Anpassung von biologischen Populationen an sich gleichfalls verändernde Umgebungen sicherstellt, ein von jeder Absichtlichkeit oder höheren Zweckmäßigkei freies Verfahren. Erst die natürliche Selektion verleiht der Evolution so etwas wie eine Richtung.“ (Ebd., S. 48).

„Für getrenntgeschlechtliche Populationen kennt die Darwinsche Evolutionstheorie neben der natürlichen Selektion einen zweiten Selektionsmechanismus, nämlich die sexuelle Selektion. Sie erklärt das evolutive Entstehen von Sexualdimorphismen (zum Beispiel die Schweife der Pfauenmännchen), bei denen zwar manche Ausprägungen einer optimalen Anpassung an den Lebensraum eher im Wege stehen, dennoch einer Erhöhung des Fortpflanzungserfolges führen. Die Darwinsche Evolutionstheorie benötigt folglich zwei unterschiedliche Selektionsmechanismen zur vollständigen Beschreibung des eigendynamischen Prozesses der biologischen Evolution.“ (Ebd., S. 48-49).

„Bis heute existiert keine allgemein akzeptierte Lehrbuchformulierung der Darwinschen Evolutionstheorie. Selbst der Begriff der Fitneß wird von verschiedenen Autoren unterschiedlich interpretiert und verwendet, und zwar einmal im Sinne der Anpassung an den Lebensraum, ein anderes Mal als relativer Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg. Bei einer Gleichsetzung von Fitneß mit relativem Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg würde das Selektionsprinzip jedoch zu einer Tautologie degenerieren. Ein weiteres Problem einer solchen Vorgehensweise ist: Der relative Fortpflanzungserfolg ist für Populationen, die sich auf andere Weise als per Fortpflanzung reproduzieren, nicht definiert und somit nicht verwendbar.“ (Ebd., S. 49).

„Eine kompakte Formulierung des Darwinschen Evolutionsgedankens ist etwa die folgende:
„Pflanzen und Tiere produzieren mehr Nachkommen, als die Umwelt ernähren kann. Folglich werden sie zu Konkurrenten, von denen nur einige überleben können. Welche überleben, hängt von den Eigenschaften der Individuen ab. Diejenigen, die aufgrund ihrer Ausstattung besser mit ihrer Umwelt zurechtkommen (besser angepaßt sind), werden überleben, die anderen zugrunde gehen. Dieser Prozeß bewirkt, daß sich die Lebewesen an ihre Umwelt anpassen. Verändert sich die Umwelt, werden sich dementsprechend auch die Arten verändern.“ (Manuela Lenzen, Evolutionstheorie in den Natur- und Sozialwissenschaften, 2003, S. 49).
Die Darstellung läßt jedoch unberücksichtigt, daß der individuelle Überlebenserfolg in sozialen Gemeinschaften maßgeblich von der sozialen Organisation und nicht nur den Eigenschaften der Individuen abhängen kann, wie bereits das in der Natur häufig anzutreffende Phänomen der Eusozialität zeigt. Dies soll an einem Beispiel mit einer fiktiven Population verdeutlicht werden, die sich rur eine arbeitsteilige Reproduktionsorganisation entschieden hat:
Die fitteren (besser an den Lebensraum angepaßten) Individuen übernehmen den überwiegenden Teil aller sozialen Aufgaben (Nahrungsbeschaffung, Feindabwehr u.s.w.), während die weniger fitten im Gegenzug den größten Teil der Nachwuchsarbeit leisten. »Fitneß« stellt also gegenüber der Umwelt einen unmittelbaren Anpassungsvorteil dar, aufgrund der arbeitsteiligen Organisation der fiktiven Population reduziert sie jedoch den Reproduktionserfolg.
Die beschriebene fiktive Population erfüllt gemäß Ernst Mayr (vgl. ders., Das ist Evolution, 2005, S. 148) alle Voraussetzungen (»Tatsachen«) der Darwinschen Evolutionstheorie; dennoch evolviert sie nicht (es stellt sich keine natürliche Selektion ein), und zwar aufgrund des mit der Fitneß zurückgehenden Reproduktionsinteresses der Individuen. Die Darwinschen Evolutionsprinzipien sind folglich - insbesondere wenn soziale Gemeinschaften im Spiel sind - für Evolution nicht hinreichend. Damit soll nun aber keineswegs behauptet werden, das Reproduktionsverhalten sozialer Gemeinschaften würde grundsätzlich nicht der Darwinschen Evolutionstheorie genügen, sondern lediglich, daß es entsprechende - der Theorie widersprechende - Gemeinschaften geben kann, für die so etwas gilt. Ein reales Beispiel dafür sind moderne menschliche Gesellschaften, in denen es zum Central Theoretical Problem of Human Sociobiology (**) kommt.“ (Ebd., S. 49-50).

„Der Begriff Reproduktionsinteresse (Fortpflanzungsinteresse) ist ein in der Soziobiologie häufig verwendetes Konzept (vgl. Eckart Voland, Grundriß der Soziobiologie, 1993), welches in der noch darzustellenden Systemischen Evolutionstheorie eine zentrale Rolle einnimmt. Der Ausdruck [nteresse sollte dabei jedoch keineswegs im Sinne bewußter Absichten mißverstanden werden:
„Nur durch die Fortpflanzung wird sichergestellt, daß Individuen auch in der nächsten Generation genetisch repräsentiert sind. Ihre Fortpflanzungsinteressen bestimmen daher das (soziale) Verhalten von Tieren und Menschen in ganz erheblichem Maße.“ (Franz M. Wuketits, Was ist Soziobiologie?,  2002, S. 35f.).
Der Ausdruck »Interesse« darf nicht mißverstanden werden. Er wird in der Soziobiologie in einem sehr allgemeinen Sinn verwendet. Niemand denkt dabei daran, daß ein Elefant oder gar eine Auster bewußte Interessen entwickeln und ihre Fortpflanzungsstrategien bewußt anwenden. Das gilt im übrigen auch für andere Ausdrücke, wie etwa »Egoismus« oder »egoistisch«, die vielfach als Metaphern verwendet werden. In der Natur folgt nichts, auch keine Verhaltensweise, einer bestimmten Absicht. Wichtig ist nur, daß die Reproduktion gewährleistet wird. Es ist aber nicht möglich, dafür Begriffe außerhalb unserer Sprachkonvention zu finden. Der Begriff des Reproduktionsinteresses ist folglich teleonomisch und nicht teleologisch zu verstehen. Vor dem Hintergrund einer zunehmend auch für den Menschen bestrittenen Willensfreiheit werden aber von einigen Autoren auch scheinbar »bewußte« menschliche Willensentscheidungen als dynamische, umweltangepaßte Selbstregulierungen lebender Systeme (Homöostase) aufgefaßt. “ (Ebd., S. 50-51).

„Die Darwinsche Evolutionstheorie geht -anders als die Systemische Evolutionstheorie -implizit von einem populationsweit einheitlichen Reproduktionsinteresse aus: Alle Individuen sind fortwährend bestrebt, sich (direkt oder indirekt) möglichst oft zu reproduzieren.“ (Ebd., S. 51).

„Die Soziobiologie nimmt an, daß die individuellen Reproduktionsinteressen das soziale Verhalten von Tieren und Menschen ganz wesentlich bestimmen, die Systemische Evolutionstheorie darüber hinaus, daß die individuellen Reproduktionsinteressen ganz erheblich durch die soziale Organisation beeinflußt werden (und nicht zwingend genetischer Natur sind).“ (Ebd., S. 51).

„Weitere Defizite der Darwinschen Evolutionstheorie stellen die darin enthaltenen Grundprämissen der Überproduktion von Nachkommen und des Kampfes ums Dasein dar. Getrenntgeschlechtliche Populationen können jedoch selbst bei unterbestandserhaltender Reproduktion evolvieren. (Vgl. Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 259ff. [**]). Die Überproduktion von Nachkommen ist folglich keine notwendige Evolutionsbedingung. Des weiteren erfolgt die Selektion bei der sexuellen Selektion nicht durch Dominanz (Push, Kampf ums Dasein), sondern per Gefallen-wollen-Kommunikation (Pull). Zwischen der natürlichen und sexuellen Selektion besteht somit ein Unterschied in der Art und Weise, wie die Selektion knapper Ressourcen zwischen den lndividuen verhandelt wird. Die Nichtberücksichtigung dieser Tatsache hat in der Vergangenheit zu zahlreichen Mißverständnissen (bis hin zum Sozialdarwinismus) bei der Interpretation und Anwendung der Darwinschen Evolutionstheorie geführt.“ (Ebd., S. 51).

3) Systeme

„Grundlage der Systemischen Evolutionstheorie ist die allgemeine Systemtheorie. Allerdings werden nur sehr wenige ihrer Grundannahmen verwendet, und zwar vor allem:
 Systeme setzen sich aus Elementen zusammen.
 Systeme grenzen sich gegenüber ihrer Umwelt ab (System-Umwelt-Differenz).
 Systeme können auf ihrer Makroebene spontan Eigenschaften ausbilden, die sich nicht (offensichtlich) auf Eigenschaften ihrer Elemente zurückführen lassen (Emergenz).
Unter einem System soll im folgenden eine relativ stabile, geordnete Menge aus Elementen und Beziehungen verstanden werden, die als Einheit begriffen wird, und die sich gegenüber ihrer Außenwelt (Umwelt) abgrenzt (System-Umwelt-Differenz). Beispiele für Systeme sind: Sonnensystem, Lebewesen (lebende Systeme), Unternehmen, technische Geräte.“ (Ebd., S. 52).

4) Selbstreproduktive Systeme

„Gemäß dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik kann in einem abgeschlossenen System die Entropie nicht abnehmen, sondern bestenfalls zunehmen. Anders gesagt: Ein abgeschlossenes System verliert bei Veränderungen kontinuierlich an Information (populärwissenschaftlich: an Ordnung). Zur Verringerung seiner Entropie benötigt ein offenes System deshalb eine Umwelt, die mit ihm zusammen ein abgeschlossenes System bildet. In diesem Fall ist eine Verringerung der Entropie des Systems möglich, jedoch auf Kosten einer Erhöhung der Entropie in der Umwelt (einer Belastung der Umwelt). Umgekehrt gilt: Ein System mit niedriger Entropie kann sich stärker selbst verändern, ohne seine Umwelt belasten zu müssen.“ (Ebd., S. 52).

Lebende Systeme (Lebewesen) sind entropiearme Systeme (mit hohem Informationsgehalt). Sie halten Energie konzentriert vor, wodurch sie als Freßfeinde interessant werden. Damit der unwahrscheinliche entropiearme Zustand aufrechterhalten werden kann, ist eine ständige Zufuhr von Energie (allgemeiner: Ressourcen) beziehungsweise negativer Entropie (Negentropie; vgl. Erwin R. J. A. Schrödinger, Was ist Leben?,  1989) bei gleichzeitiger Abgabe (Export) von Entropie erforderlich. Dies geschieht über den Stoffwechsel (Metabolismus). Lebende Systeme sind daher im thermodynamischen (**) Sinn offene Systeme. (Vgl. Bernd-Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer Information, 1987, S. 197).“ (Ebd., S. 52-53).

„Populärwissenschaftlich könnte man sagen: Lebende Systeme erhalten ihre innere Ordnung auf Kosten einer zunehmenden Unordnung in ihrer Umgebung (Umwelt, Lebensraum) aufrecht. Je mehr Energie ein lebendes System verbraucht (beziehungsweise aus seiner Umwelt bezieht), desto mehr Unordnung schafft es in seiner Umgebung. (Vgl. Jacques Neirynck, Der göttliche Ingenieur, 1994).“ (Ebd., S. 53).

„Um aus ihrer Umwelt fortlaufend Ressourcen beziehen zu können, müssen lebende Systeme an ihren Lebensraum ausreichend angepaßt (fit) sein, beziehungsweise ausreichende Kompetenzen in bezug auf ihre Umwelt besitzen. Sie müssen also nicht nur entropiearm (veränderungsfähig) sein, sondern zusätzlich über Kompetenzen in bezug auf ihre Umwelt verfügen, mit deren Hilfe sie ihre Entropie stets ausreichend niedrig halten können. Verliert ein lebendes System seine Kompetenzen gegenüber seiner Umwelt (wozu auch alle Wettbewerber zählen), so verliert es auch seine Fähigkeit, sich selbst (seine Informationen) zu erhalten. Umgekehrt setzen Kompetenzen innere Strukturen voraus, auf denen sie sich ausbilden können. Strukturverbesserungen können durchaus Kompetenzverbesserungen zur Folge haben. In diesem Sinne wäre ein Individuum, welches die gleichen Fähigkeiten in der Erlangung knapper Ressourcen wie ein anderes besitzt, die Ressourcen jedoch intem sparsamer verwendet, als kompetenter zu bezeichnen.“ (Ebd., S. 53).

„Kompetenzen (Fitneß, Anpassung) beziehen sich immer auf den jeweiligen Lebensraum. Ist ein Individuum im aktuellen Lebensraum nicht ausreichend lebens- und überlebensfähig, wird es möglicherweise in andere Lebensräume vorzudringen versuchen. Unter Umständen kommt es dabei zur Nischenbildung.“ (Ebd., S. 53).

„Anders als der allgemeine Begriff der Information besitzt der Begriff der Kompetenz eine unmittelbar wettbewerbsorientierte Bedeutung. Vorhandene Kompetenzen müssen nämlich auch immer in Relation zu anderen Individuen gesehen werden. Hohe Kompetenzen im Umgang mit dem Lebensraum können -ohne permanente Erneuerung und Verbesserung -morgen schon entwertet beziehungsweise veraltet sein, denn die Konkurrenz schläft nicht (Red-Queen-Hypothese). Es ist dieser gegenseitige Zwang zur permanenten Erneuerung und zum Hochrüsten in der Gruppe, der letztlich maßgeblich fur Evolution sorgt. Evolution bedarf also nicht unbedingt der ständigen Veränderung der Umwelt aller Individuen; es reicht bereits, wenn sich die individuelle Umwelt der Individuen, zu der auch alle anderen Mitglieder der Population zählen, ändert.“ (Ebd., S. 53-54).

„In einem abstrakten Sinne könnte man sagen: Ein lebendes System beinhaltet biologische Informationen, deren Semantik seine Kompetenzen gegenüber der Umwelt sind. (Vgl. Bernd-Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer Information, 1990, S. 30). Die Begriffe Informationen und Kompetenzen werden deshalb im folgenden überwiegend synonym verwendet.“ (Ebd., S. 54).

„Ein lebendes System weiß gewissermaßen etwas über seine Umwelt (es verfügt über Wissen, Kompetenzen). Bei der Evolution handelt es sich dementsprechend um den Prozeß des Entstehens biologischer Information. (Vgl. Manfred Eigen, Stufen zum Leben, 1987, S. 55; Bernd-Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer Information, 1990). In bezug auf einen solchen Informationsgewinnungsprozeß haben einige Autoren drei essenzielle (notwendige) Eigenschaften lebender Systeme hervorgehoben:
 Selbstreproduktion: Ohne Selbstreproduktion ginge die Information nach jeder Generation verloren.
 Mutagenese: Ohne Mutagenese wäre die Information nicht abwandelbar und somit erst gar nicht entstanden.
 Metabolismus: Ohne Metabolismus könnte eine Information nicht über einen längeren Zeitraum erhalten bleiben.
Allerdings wurde eingewendet, daß es nicht möglich ist, die genannten Eigenschaften zu einer vollständigen, alle notwendigen und hinreichenden Kriterien umfassenden Definition lebender Systeme zu erweitem (Vgl. Berd-Olaf Küppers, Leben = Physik + Chemie?,  1987, S. 13; ders., Der Ursprung biologischer Information, 1990, S. 200).“ (Ebd., S. 54).

„Biologen sind mehrheitlich der Auffassung, daß lebende Systeme die beiden Grundaufgaben Selbsterhalt und Fortpflanzung verfolgen. Dafür sind einerseits entsprechende Fähigkeiten (Kompetenzen, Fitneß) erforderlich, andererseits aber auch Interessen (ein wie auch immer geartet Streben danach, zum Beispiel mittels Homöostase), im Dienste der Aufgaben tätig zu werden.“ (Ebd., S. 54-55).

„Gemäß dem bisher Gesagten könnten die beiden Grundaufgaben des Lebens wie folgt zusammengeführt werden: Selbsterhalt = Kompetenzerhalt während des aktuellen Lebens; Fortpflanzung = Kompetenzerhalt über das eigene Leben hinaus.“ (Ebd., S. 55).

„Anders gesagt: Lebende Systeme verfolgen die Grundaufgabe des Kompetenzerhalts, und zwar während ihres Lebens (Selbsterhalt) und über ihr Leben hinaus (Fortpflanzung). Sie sind Akteure, die aus ihrer Umwelt Ressourcen (inklusive Informationen) aufnehmen und daraus Verhaltensweisen ableiten, die dem Erhalt (und gegebenenfalls der Steigerung) der vorhandenen Kompetenzen (Fitneß, Anpassung) gegenüber dem Lebensraum dienen sollen, das heißt, die im Interesse am Erhalt der Kompetenzen wirksam werden.“ (Ebd., S. 55).

„Für den Begriff Kompetenzerhalt soll im folgenden auch synonym der Begriff Reproduktion verwendet werden. Wir können dermieren: Ein selbstreproduktives System ist ein gegenüber seiner Umwelt energetisch offenes System, das
1.)in bezug auf seine Umwelt Kompetenzen (Fitneß, Anpassung) zur Erlangung von Ressourcen besitzt ( die für die Reproduktion benötigt werden),
2.) über Verfahren zur Reproduktion seiner Kompetenzen (zum Beispiel: interner/externer Metabolismus; interne/externe Fortpflanzungsfunktionalität) verfügt,
3.) ein Reproduktionsinteresse besitzt.
Die Punkte 1 und 2 repräsentierenFähigkeiten, der Punkt 3 steht für das dazugehörige Interesse, die Fähigkeiten in einem bestimmten Sinne zu nutzen.
Beispiele:
 Peter und Paul sind beide 25 Jahre alt. Peter hat vor einem Jahr seine Liebe zum Klavierspiel entdeckt. Jede freie Minute setzt er sich ans Piano und übt. Paul erhielt dagegen schon mit vier Jahren Klavierunterricht und beherrscht die Mondscheinsonate wie im Schlaf. Allerdings hat ihm der frühe Drill das Instrument verleidet. Nun spielt er nur noch, um Frauen zu beeindrucken. Peter hat folglich das deutlich höhere Reproduktionsinteresse in bezug auf die vorhandenen Klavierspielkompetenzen als Paul, der jedoch die größeren Klavi erspieIkompetenzen.
 Die beiden Unternehmen »Big Headache« und »Stop Headache« teilen sich den Markt der Kopfschmerzmittel. »Big Headache« hat einen Marktanteil von 70 Prozent und erzielt einen jährlichen Gewinn von 5 Milliarden Euro vor Steuern. In die Forschung & Entwicklung investiert es jährlich 200 Millionen Euro. »Stop Headache« hat dagegen einen Marktanteil von lediglich 30 Prozent. Sein Gewinn vor Steuern beträgt 500 Millionen Euro. In die Forschung & Entwicklung investiert es jährlich 1,2 Milliarden Euro. »Stop Headache« besitzt folglich die deutlich höheren Reproduktionsinteressen als »Big Headache«, dieses jedoch die aktuell größeren Marktkompetenzen.
Selbstreproduktive Systeme werden im Laufe der Arbeit auch synonym als Evolutionsakteure bezeichnet. Die emergente Eigenschaft Reproduktionsinteresse spezifiziert selbstreproduktive Systeme als Akteure, das heißt als Systeme, die ihre Evolution aktiv und eigendynamisch selbst betreiben. Lebende Systeme sind selbstreproduktive Systeme.“ (Ebd., S. 55-56).

„In der Natur sind bislang (mindestens) drei Hierarchieebenen an selbstreproduktiven Systemen (Evolutionsakteuren) entstanden:
 Einzellige Organismen (Einzeller- zum Beispiel Bakterien)
 Vielzellige Organismen (Vielzeller -Pflanzen und Tiere)
 Superorganismen (soziale Systeme, Gesellschaften, Organisationssysteme)
Neue Systemhierarchieebenen entstehen in aller Regel durch Kooperation von Systemen der darunterliegenden Hierarchieebenen. Ist die Kooperation eng genug, kann hieraus ein neuer Systemtypus entstehen, der ebenfalls wieder selbstreproduktiv ist.“ (Ebd., S. 56).

5) Systemhierarchien

„Zu den Superorganismen zählen insbesondere die Organisationssysteme, zum Beispiel moderne Unternehmen. Anders als vielzellige Org anismen binden Organisationssysteme einen Großteil ihrer Elemente Akteure wie Menschen und soziale Systeme (zum Beispiel weitere Organisationssysteme) -nicht fest und unveränderlich an sich, sondern . aller Regel locker über Kontrakte oder vergleichbare Mechanismen.“ (Ebd., S. 56).

„Wie noch gezeigt wird, ist eine entscheidende Voraussetzung für das flexible Entstehen von Organisationssystemen (das heißt von menschlichen Superorganismen) die externe Informationsspeicherungsfähigkeit des Menschen, die in der Natur ohneBeispiel ist.“ (Ebd., S.57).

„Gemäß Niklas Luhmann bestehen soziale Systeme ausschließlich aus Kommunikation. (Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984). Der vorliegende Artikel vertritt in der Hinsicht jedoch eine davon abweichende und sich eher an Maturana und Varela anlehnende Auffassung. (Vgl. Humberto Maturana / Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis, 1987). Demgemäß bestehen Organisationssysteme aus Akteuren (als ihren Elementen). Akteure bringen sich in eine Organisation unter anderem durch Eigeninteressen, Ressourcen und Kompetenzen, und nicht nur durch Kommunikationen ein.“ (Ebd., S. 57).

„Während vielzellige Organismen letztlich Aggregationen von Zellen sind, setzen sich Superorganismen aus lebenden Systemen der gleichen biologischen Art (und gegebenenfalls weiteren Sub-Superorganismen) zusammen. Lebewesen reproduzieren ihre eigene Struktur durch Zellteilung und -erneuerung, Superorganismen dagegen durch das Ersetzen ihrer Elemente. Superorganismen könnten deshalb rein theoretisch - und anders als Lebewesen - nahezu unbegrenzt lange fortbestehen, denn sie sind in der Lage, sich innerlich permanent selbst zu erneuern. Beispielsweise können Unternehmen neue Mitarbeiter mit anderen Genomen und Kenntnissen, das heißt, mit möglicherweise höheren Kompetenzen (verbesserten Adaptionen), einstellen. Vielzellige Organismen können ihre Genome dagegen nur mittels der Fortpflanzung variieren, denn ihre Zellen basieren alle auf dem gleichen Genom. Vielzellige Organismen sind deshalb auf das gleichzeitige Ersetzen aller Zellen angewiesen, und das geschieht bei der Fortpflanzung. Mit anderen Worten: Vielzellige Organismen müssen - anders als Superorganismen - regelmäßig sterben (und sich fortpflanzen), um genetisch evolvieren zu können. Die rigorose Aufteilung des Kompetenzerhalts in Selbsterhalt (Kompetenzerhalt während des aktuellen Lebens) und Fortpflanzung (Kompetenzerhalt über das eigene Leben hinaus) bei vielzelligen Organismen ist gewissermaßen ein Sonderfall, der aus der kurzen Lebensdauer der einzelnen Individuen resultiert. (Vgl. Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 1975, S. 63). Die begrenzte Lebensdauer der Individuen stellt einen evolution ären Vorteil im Rahmen der Organismenbildung dar. (Vgl. Manfred Eigen, Stufen zum Leben, 1987, S. 112f.).“ (Ebd., S. 57).

„Im Sinne der Definitionen von Maturana und Varela und gemäß den obigen Festlegungen sind vielzellige Organismen autopoietisch, Superorganismen dagegen nicht notwendigerweise. Auch in diesem Punkt besteht ein beträchtlicher Auffassungsunterschied zu Luhmann.“ (Ebd., S. 58).

6) Methoden des Kompetenzerhalts

„Damit biologische Informationen (Kompetenzen gegenüber der Umwelt) entstehen und dauerhaft erhalten werden können, müssen sie in igendeiner Form speicherbar sein. Mit anderen Worten: Es müssen Möglichkeiten zum Kompetenzerhalt bestehen.“ (Ebd., S. 58).

„Bei lebenden Systemen ist in diesem Zusammenhang zunächst ein Zielkonflikt zwischen dem Kompetenzerhalt während des aktuellen Lebens (Selbsterhalt) und dem über das eigene Leben hinaus (Fortpflanzung) auszumachen. Jedes Lebewesen steht beständig vor der Frage, ob es eher in Selbsterhalt oder Fortpflanzung investieren soll. Aus Sicht des Inlividuums ist der Selbsterhalt vorrangig egoistisch, die Fortpflanzung jedoch altruistisch, denn sie geschieht im Dienste anderer (den Nachkommen). Das Bestreben, dieses offenkundige Dilemma aufzulösen, hat letztlich zur Theorie der egoistischen Gene geführt. (Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976).“ (Ebd., S. 58).

„Neben dem bereits genannten Zielkonflikt besteht ein weiterer, nämlich zwischen den verschiedenen Ebenen des Kompetenzerhalts. Jablonka und Lamb sprechen in diesem Zusammenhang von einer Evolution in vier Dimensionen: »Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in the History of Life« (Eva Jablonka / Marion J. Lamb, Evolution in Four Dimensions, 2006). Biologische Informationen sind solchen Vorstellungen gemäß in einem Bootstrap-Verfahren entstanden:
Genetische Vererbung 
  Dies ist die unterste Ebene der biologischen Informationsgewinnung (das heißt, der Bootstrap selbst). Die Speicherung der Kompetenzen geschieht in der DNS (in den Genen), und deren Weitergabe erfolgt im Rahmen der Fortpflanzung ausschließlich zwischen Eltern und Kindern. Eine Vererbung erworbener Kompetenzen ist ausgeschlossen. Der Informationsgewinnungsprozeß ist somit darwinistisch.
Epigenetische Vererbung
  Hierbei handelt es sich um die nächsthöhere Ebene der biologischen Informationsgewinnung. Die Speicherung der Kompetenzen geschieht vermutlich durch Methylierung der DNS und deren Weitergabe erfolgt im Rahmen der Fortpflanzung ausschließlich zwischen Eltern und Kindern. Dabei können auch erworbene Kompetenzen vererbt werden. In diesem Sinne ist der Informationsgewinnungsprozeß lamarckistisch.
Kompetenzspeicherung in Gehirnen
  Die Speicherung der Kompetenzen erfolgt in den Gehirnen (statt wie zuvor ausschließlich in den Genen). Eine Weitergabe der Kompetenzen ist zwischen beliebigen Individuen einer Population möglich (und nicht nur zwischen Eltern und Kindern) und zwar mittels Imitar tion, Lernen, Erziehung, Sozialisation u.s.w.. Dabei werden ausschließlich erworbene Kompetenzen vererbt. Der Informationsgewinnungsprozeß ist folglich lamarckistisch. Man könnte gewissermaßen sagen, daß die Natur mit dem Gehirn ein die DNS ergänzendes Medium zur schnellen und flexiblen Speicherung komplexer erworbener Kompetenzen erfunden hat. Das Verhältnis von Genom und Gehirn dürfte dabei in etwa vergleichbar mit dem Verhältnis von Hardware und Software im Computerbereich sein.
Die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Erforschung der Weitergabe solcherkomplexen erworbenen Kompetenzen (das heißt, mit der Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung) beschäftigt, ist die Pädagogik beziehungsweise die Erziehungswissenschaft. Ihr kommt die Aufgabe zu, als Reflexionswissenschaft Bildungs- und Erziehungszusammenhänge zu erforschen, und als Handlungswissenschaft Vorschläge zu machen, wie Bildungs- und Erziehungspraxis gestaltet und verbessert werden kann.
Externe Kompetenzspeicherung
 Die Speicherung der Kompetenzen geschieht in symbolischer Form (Schrift, Datenbanken, Youtube-Video u.s.w.) und außerhalb der Körper von Lebewesen, was eine raum- und zeitübergreifende Weitergabe der Kompetenzenermöglicht (zum Beispiel an Menschen, die in 10000 km Entfernung leben oder erst in 100 Jahren geboren werden). Auch hier erfolgt die Kompetenzvennittlung mittels Imitation, Lernen, Erziehung, Sozialisation u.s.w. Es werden ausschließlich erworbene Kompetenzen vererbt. In diesem Sinne ist der Infonnationsgewinnungsprozeß lamarckistisch.
Der Mensch ist das bislang einzige Lebewesen, dem eine teilweise externe Kompetenzspeicherung gelungen ist. Insoweit ist er in der Natur einzigartig. Die externe Kompetenzspeicherungsfähigkeit des Menschen war die Grundvoraussetzung für das flexible Entstehen von Organisationssystemen, denn hierdurch können diese ihre Elemente (zum Beispiel Mitarbeiter) jederzeit austauschen, ohne ihre Kompetenzen in Gänze zu verlieren, da diese teilweise in Datenbanken, Arbeitsanweisungen, Dokumenten u.s.w. extern vorgehalten werden. Superorganismen sind letztlich selbstreproduktive Systeme mit eigenständigen Informationsgewinnungsprozessen.
Allerdings besitzen solchermaßen gespeicherte Kompetenzen kein Eigenleben, wie es im Grunde den Memen im Rahmen der Memetik zugesprochen wird. (Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976). Ihre begriffliche Existenz besteht in der Möglichkeit, in den Gehirnen lebender Wesen gedacht zu werden. Der Pädagogik kommt die Aufgabe zu, die für die Umwandlung von extern gespeicherten Kompetenzen in gedachte Objekte erforderlichen Transformationsprozesse zu gestalten und zu verbessern.
Die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen beschäftigen sich meist nur mit einigen wenigen der oben aufgeführten Kompetenzerhaltungsebenen. Üblicherweise beschränkt sich die Biologie auf die genetische und epigenetische Vererbung, das heißt, auf die niedrigeren Ebenen, wäh. rend sich die Humanwissenschaften auf die beiden höheren Ebenen konzentrieren. Ausnahmen stellen etwa die Soziobiologie, die Verhaltensgenetik oder die Evolutionäre Pädagogik dar.“ (Ebd., S. 58-60).

„Leider hat das zu einem gegenseitigen Ausschluß von Erkenntnissen und zum Teil auch zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt. Beispielsweise erklärt die Biologie die gesamte Evolution vorwiegend aus den Genen heraus (Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976). Gemäß solchen Auffassungen hat sich das Leben auf der Erde per natürlicher Selektion entwickelt. In modernen menschlichen Gesellschaften besteht jedoch in aller Regel eine negative Korrelation zwischen sozialem Erfolg und Kinderzahl, das heißt, eine zur natürlichen Auslese umgekehrte Relation, die in der Soziobiologie den Namen Central Theoretical Problem of Human Sociobiology (**) trägt. In den Humanwissenschaften vertritt man dagegen mehrheitlich die Auffassung, daß die Gene für den sozialen Erfolg von Menschen praktisch keine Rolle mehr spielen. In diesem Sinne wird dann behauptet, jeder Mensch sei mit geeigneten Bildungsmaßnahmen beliebig lern- und bildungsfähig, eine Aussage, die allerdings im Widerspruch zu zahlreichen Untersuchungen zur Erblichkeit der Intelligenz steht. (Vgl. Peter Borkenau, Anlage und Umwelt, 1993; Rainer Riemann / Frank M. Spinath, Genetik und Persönlichkeit, a.a.O. 2005, S. 616 ff.; David Shaffer / Katherine Kipp, Developmental Psychology, 2007, S. 105ff.; Volkmar Weiss, Die IQ-Falle, 2000; Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, 2003, S. 110ff.). Für die meisten Sozialwissenschaftler stellt das Central Theoretical Problem of Human Sociobiology deshalb kein ernsthaftes Problem dar, da gemäß ihrer Auffassung menschliche Evolutionsprozesse fast ausschließlich auf den beiden höchsten Kompetenzerhaltungsebenen stattfinden. Dieser Sichtweise scheinen sich in der Zwischenzeit auch viele Soziobiologen angeschlossen zu haben, denn dort ist man mehrheitlich der Auffassung (vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S. 41 ), daß alle Mitglieder einer Population eine »genetische Äquipotenz« aufweisen, und der soziale und damit letztlich reproduktive Wettbewerb ohne evolutionsgenetische Folgen ist. Der Anthropologe C. van Schaik resümiert ganz in diesem Sinne, daß wir Menschen die genetische Evolution mehr oder weniger aufgehoben haben. (Vgl. C. van Schaik, Kultur ist der Motor der Evolution, 2005, a.a.O., S. 35). Darüber hinaus erwartet er beim Menschen keine großen biologischen Veränderungen mehr. So gesehen hätte sich das biologische Evolutionsgeschehen mit dem Menschen selbst ausmanövriert, ein Gedanke, der von Eckart Voland jedoch als nicht wirklich befriedigend bezeichnet wird. (Vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S. 12).“ (Ebd., S. 60-61).

„Eine noch offene wissenschaftliche Frage ist, ob und inwieweit Evolutionen auf den höheren Kompetenzerhaltungsebenen unabhängig von und gegebenenfalls sogar konträr zu den Entwicklungen auf den niedrigeren Ebenen möglich sind. “ (Ebd., S. 61).

7) Komuinkationsarten

7.1)  Dominante Kommunikation (Push) (S. 63)
7.2)  Gefallen-wollen-Kommunikation (S. 63-67)

Kommunikation wird im folgenden als eine Interaktion zwischen Systemen aufgefaßt, die primär der Verhandlung von Interessen (zum Beispiel bei der Erlangung von Ressourcen) dient. Oie beiden in diesem Abschnitt erläuterten Kommunikationsarten unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht, sehr wohl aber in der Methode, das angestrebte Ziel zu erreichen. Damit soll nun aber keineswegs behauptet werden, daß dies die beiden einzigen Interaktionsmuster zwischen Individuen sind, sehr wohl aber, daß es sich hierbei um die wichtigsten Kommunikationsarten handelt, mit denen die Verteilung knapper Ressourcen unter konkurrierenden Individuen verhandelt werden kann und die Ressourcengewinner »selektiert« werden können. Und darauf kommt es bei Evolution an. Auch die Selektion im Darwinschen Sinne basiert letztlich auf dem häufigen : Erfolg beim Wettbewerb um die knappen Ressourcen des Lebensraums.“ (Ebd., S. 61-62).

„Unter Selektion wird im Rahmen der Arbeit - und in Abweichung zu j den üblichen Auffassungen der Evolutionsbiologie - die Auswahl von Kommunikationspartnern verstanden. Auch eine Ressource, die es zu erlangen gilt, kann in einem abstrakten Sinn als Kommunikationspartner aufgefaßt werden, der selektierbar ist. Oft ist es jedoch so, daß der Kommunikationspartner nicht selbst die Ressource ist, sondern lediglich eine Ressource besitzt, an der ein Interesse besteht. Oer Kommunikationspartner wäre dann ein Ressourceninhaber.“ (Ebd., S. 62).

„Bevor ein System mit einem zweiten auf direkte Weise interagieren kann, muß es dieses als Kommunikationspartner selektieren. Oas ausgewählte System kann dabei ein positives, negatives oder auch neutrales Selektionsinteresse besitzen.“ (Ebd., S. 62).

„Charles Darwin lehnte sich bei seiner Formulierung des Prinzips der natürlichen Selektion vorstellungsmäßig an die künstliche Zuchtwahl an: So wie Züchter einzelne Tiere nach bestimmten Kriterien selektieren, so würde dies auch die Natur im Laufe der Evolution tun. Der Begriff der Selektion wird im vorliegenden Artikel dagegen wieder so verwendet, wie er auch dem üblichen Sprachgebrauch entspricht. Selektion ist dementsprechend ein von Akteuren ausgelöster aktiver Vorgang, bei dem aus verschiedenen Optionen eine oder mehrere ausgewählt werden. Der Selektion ist somit immer ein selektierendes Subjekt inne. Ein Selektionsinteresse steht dagegen für etwas Passives, nämlich dem Wunsch, als eine von verschiedenen Alternativen gewählt (selektiert) zu werden oder auch nicht.“ (Ebd., S. 62).

„Ganz entsprechend werden die beiden in diesem Abschnitt diskutierten Verfahren zur Verteilung knapper Ressourcen unter konkurrierenden Individuen nicht Selektionen, sondern Kornmunikationen genannt. Auch wenn sie im Darwinschen Sinne letztlich beide eine »Selektion« von Ressourcengewinnern unter den im Wettbewerb um die Ressourcen stehenden Individuen bewirken, so wird eine solche passive Verwendung des Begriffs der Selektion im Zusarnmenhang mit der Systemischen Evolutionstheorie in aller Regel vermieden.“ (Ebd., S. 63).

7.1) Dominante Kommunikation (Push)

„Im folgenden soll eine Kommunikation, die keine Rücksicht auf die Selektionsinteressen der Kommunikationspartner nimmt, als dominant (Push-Kommunikation) bezeichnet werden. Beispiele für dominante Interaktionen sind die Nahrungswahl in der Natur (Fressen-oder-Gefressen-Werden) und die Haremsbildung im Tierreich (Recht des Stärkeren). Beispiel aus der Pädagogik:
Eine Lehrerin (= knappe Ressource) stellt ihrer Klasse die Frage »Wer ist der ›Vater der Evolutionstheorie‹?«  Ein Schüler ruft spontan in die Klasse: »Darwin!« Dies ist Dominanz.
Die dominante Kommunikation bewirkt beim Wettbewerb um knappe Ressourcen eine »Selektion« des Ressourcengewinners mittels des Rechts des Stärkeren.“ (Ebd., S. 63).

7.2) Gefallen-wollen-Kommunikation (Pull)

„Mit der Einführung der sexuellen Selektion gelang der Natur eine ganz entscheidende Neuerung: Sie erfand den Markt und damit die sogenannte Gefallen-wollen-Kommunikation (Pull-Kommunikation). Denn aufgrund der bei der sexuellen Fortpflanzung üblicherweise sehr unterschiedlichen potenziellen Fruchtbarkeit von männlich versus weiblich (vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S. 49) und der damit verbundenen unterschiedlichen Aufteilung der Elterninvestments zwischen den Geschlechtern, kam es auf seiten der Männchen zu einer künstlichen Ressourcenverknappung bei den Fortpflanzungspartnern. Die Männchen gerieten hierdurch unter einen erheblichen zusätzlichen Selektionsdruck, und zwar selbst dann, wenn sich der Lebensraum regelrecht als Schlaraffenland erwies.“ (Ebd., S. 63).

„In der Folge konkurrierten die Männchen um die Ressource Fortpflanzungspartner, während die Weibchen die Wahl hatten. Bei vielen Arten etablierte sich daraufhin ein Paarungsverhalten, was vorrangig darin besteht, daß die Männchen den Weibchen zu imponieren versuchen, und letztere dann bevorzugt jene Exemplare wählen, die ganz besonders ihren Gefallen finden. Mit anderen Worten, es kristallisierte sich ziemlich genau das auf modernen Marktplätzen vorherrschende Verhältnis zwischen Verkäufern und Käufern heraus. Bei anderen Arten erfolgte die Selektion im männlichen Geschlecht allerdings nicht durch sexuelle Selektion, sondern durch dominante Haremsbildung. Die dominante Entsprechung zur sexuellen Selektion ist deshalb nicht die natürliche Selektion - wie man vermuten könnte -, sondern die Haremsbildung.“ (Ebd., S. 64).

„Insgesamt kann der Ablauf einer Gefallen-wollen-Kommunikation wie folgt beschrieben werden:
1.Der Empfänger (Käufer, Weibchen, Ressourceninhaber) signalisiert seine Bereitschaft zur Entgegennahme von Selektionsinteressen.
2.Verschiedene Sender (Verkäufer, Männchen, Ressourceninteressenten) übermitteln ihre Selektionsinteressen an den Empfänger.
3.Der Empfänger (Käufer, Weibchen, Ressourceninhaber) selektiert einen Sender (Verkäufer, Männchen, Ressourcengewinner).
Im ersten Schritt betritt der Empfänger zunächst einen bestimmten Kontext, der in der Folge eine sinnhafte Gefallen-wollen-Kommunikation ermöglicht.
Beispiel aus der Pädagogik:
1.Eine Lehrerin (= knappe Ressource) stellt ihrer Klasse die Frage »Wer ist der Vater der Evolutionstheorie?« und signalisiert damit ihre Bereitschaft zur Entgegennahme von Selektionsinteressen.
2.Einige Schüler heben ihre Hände und bekunden hierdurch ihr Selektionsinteresse (sie wollen der Lehrerin gefallen).
3.Die Lehrerin wählt einen Schüler aus.
Die Gefallen-wollen-Kommunikation bewirkt beim Wettbewerb um knappe Ressourcen eine »Selektion« des Ressourcengewinners mittels des Rechts des Besitzenden.“ (Ebd., S. 64).

„Die Gefallen-wollen-Kommunikation hat neben der Selektion von Kommunikationspartnern beziehungsweise -auf indirekte Weise -der Ressourcengewinner noch eine weitere wesentliche Funktion: Sie kann evolutive Lebensräume erzeugen, das heißt, Populationen und ihre dazugehörigen Umwelten entstehen lassen, in denen ganz ohne Dominanz (Kampf ums Dasein) selektiert wird. In ihnen gilt das Recht des Besitzenden und nicht des Stärkeren. Einmal auf den Weg gebracht, entwickelt sich in ihnen alles gemäß den Prinzipien der noch darzustellenden Systemischen Evolutionstheorie. Daß auf diese Weise tatsächlich neue evolutive Lebensräume geschaffen werden, zeigt sich unmittelbar bei einer Betrachtung der System-Umwelt-Differenzen: Bei der natürlichen Selektion ist die Umwelt die Natur, bei der sexuellen Selektion dagegen die Population. Wir haben es also bei der natürlichen und sexuellen Selektion mit völlig unterschiedlichen Evolutionen in verschiedenen Lebensräumen zu tun, die sich zwar anhand von Fitneßindikatoren synchronisieren mögen, jedoch ansonsten nichts miteinander zu tun haben.“ (Ebd., S. 65).

„Während es bei der natürlichen Selektion vorrangig um die optimale Anpassung an ein Milieu und den möglichst effizienten dominanten Zugriff auf die Ressourcen (»fressen und gefressen werden«) beziehungsweise das Überleben der Tauglichsten innerhalb einer wilden Natur geht, so steht bei der sexuellen Selektion und ihrer Gefallen-wollen-Kommunikation die Adaption an den Geschmack und die Bedürfnisse einer Schar von Abnehmern (Selektierern) im Vordergrund. Und deren Bedürfnisse sind alles andere als statisch: Mit viel Geschick können sie geweckt oder vielleicht sogar ganz neu erzeugt werden.“ (Ebd., S. 65).

„Die Evolution hat folglich nicht nur Arten, sondern auch (die Arten übergreifende) Kommunikationsweisen, Selektionsmechanismen und Verhaltensmuster (zum Beispiel Kooperation und Altruismus) hervorgebracht. Das dei sexuellen Selektion innewohnende Interaktionsmuster der Gefallen-wollen-Kommunikation war die Voraussetzung für viele spätere evolutionäre Entwicklungen. Auf der Gefallen-wollen-Kommunikation beruhen unter anderem die modernen Märkte, die Wissenschaften, und die Demokratie. Es läßt sich argumentieren, daß der Prozeß der Zivilisation im Sinne von Norbert Elias im Grunde nichts anderes als die sukzessive Umstellung (fast) aller dominanten Kommunikationen in die Gefallen-wollen-Kommunikation ist. (Vgl. Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 353ff. [**]). Eine Gesellschaft kann dementsprechend als umso zivilisierter bezeichnet werden, je höher der Anteil der Gefallenwollen-Kommunikation bei der Verteilung knapper Ressourcen unter konkurrierenden Individuen ist.“ (Ebd., S. 65-66).

„Im Rahmen der sexuellen Selektion mußten die Männchen erstmalig ihre Triebe beherrschen können, und zwar so lange, bis sie ein Weibchen von sich überzeugt hatten. Mit der sexuellen Selektion und damit der Gefallen-wollen-Kommunikation kam die Zivilisation in die Welt. Nun waren die Rechte eines Kommunikationspartners (Selektionsinteresse, Ressourcenbesitz, Leben u.s.w. ) zu respektieren und den eigenen quasi gleichzustellen. Davor gab es nur das egoistische Fressen-und-Gefressen-werden beziehungsweise das Recht des Stärkeren.“ (Ebd., S. 66).

„Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:
Eine Frau hat in einem Wäldchen mehrere Stunden lang Früchte gesammelt und befindet sich nun mit einem ganzen Korb reifer Beeren auf dem Weg nach Hause. In der Wildnis könnte sie dabei einem stärkeren Bären (oder Menschen) begegnen, der die gesammelte Nahrung nicht als ihr Eigentum akzeptiert, sondern von seinem Recht des Stärkeren Gebrauch macht (Dominanz). In Zivilisationen ist ein solches Verhalten nicht erlaubt. Allerdings könnte hier ein Entgegenkommender der Sammlerin ein attraktives Angebot machen (zum Beispiel 10 Euro), um aufdiese Weise doch noch in den Besitz der Früchte zu gelangen (Gefallen-wollen; Recht des Besitzenden).
Sozialdarwinismus steht für die Übertragung von Charles Darwins Lehre der natürlichen Auslese (Selektionstheorie) auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften (vgl. Brockhaus, 2002, S. 13/153). Eine solche Übertragung ist auf Zivilisationen jedoch nicht möglich (doch! HB), da in ihnen praktisch alle Selektionen mittels der Gefallen-wollen-Kommunikation und nicht der dominanten natürlichen Auslese erfolgen. (Nein! Das das so nicht stimmt, ist auch leicht zu belegen! HB). Die unmittelbare Anwendung von Dominanz und Gewalt gilt in Zivilisationen sogar generell als unzivilisiert und unzulässig. (Das gilt nur gemäß Papier! Die Wirklichkeit sieht genau umgekehrt aus! HB). Es existiert dort kein Recht des Stärkeren. (Doch! HB). Aus dem gleichen Grund kann man die dominante natürliche Selektion auch nicht auf Pfauenpopulationen übertragen, um damit deren Erscheinungsbild und Sozialverhalten zu erklären. Dies erkannte bereits Charles Darwin, was ihm - gemäß seinen eigenen Worten Kopfzerbrechen bereitete. Infolgedessen fand er die sexuelle Selektion beziehungsweise die Gefallen-wollen-Kommunikation als Erklärung der von ihm beobachteten Phänomene im Tierreich.“ (Ebd., S. 66).

8) Objektorientierung

„Wie bereits erwähnt wurde, handelt es sich bei den Evolutionsprinzipien letztlich um einen Optimierungsalgorithmus, der für fortlaufende Anpassungen von Populationen an ihren Lebensraum sorgt.“ (Ebd., S. 67).

„In der Softwareindustrie hat in den letzten Jahrzehnten ein Wandel hin zur sogenannten objektorientierten Programmierung stattgefunden. Stand zuvor die Programmlogik im Vordergrund, so sind es nun die Objekte, die über ihre Eigenschaften und die auf ihnen anwendbaren Methoden (Operationen) definiert werden. Wird beispielsweise bei einem Objekt Girokonto festgelegt, daß es nur zweistellige Zahen beinhalten kann, und auf seine Inhalte nur die Operationen Addition und Subtraktion angewendet werden können, dann kann das Programm darauf nicht unmittelbar multiplizieren oder ihm den Wert (die Farbe) »Grün« zuweisen. So etwas wäre ein Programmfehler, der bereits bei der Entwicklung (Übersetzung) auffallen würde. Ein weiterer Vorteil dabei ist: Es ist jederzeit klar, wovon das Programm handelt, denn ein Girokonto ist etwas anderes als ein Auto.“ (Ebd., S. 67).

„Evolutionstheorien beschäftigen sich mit eigendynamischen, selbstorganisatorischen Entwicklungen, die keinen externen Schöpfer benötigen. Charles Darwin lieferte mit der biologischen Evolutionstheorie ein erstes überzeugendes Modell, welches die Entwicklung des Lebens auf der Erde ohne den Eingriff einer externen höheren Intelligenz erklären konnte. Im Zentrum stand das Prinzip der natürlichen Auslese: Besser an ihre Umwelt angepaßte Individuen einer Population hinterlassen mehr Nachkommen als andere.“ (Ebd., S. 67).

„Doch was sind in diesem Zusammenhang Individuen ?  Für Charles Darwin wäre eine solche Fräge töricht gewesen, denn er beschäftigte sich ausschließlich mit dem Leben. Für ihn standen die Objekte des Wandels von vornherein fest: Es waren lebende Systeme.“ (Ebd., S. 67-68).

„Dabei ist es jedoch nicht geblieben. Längst wird im Rahmen von Evolutionstheorien über Gene, Meme, Entscheidungen, Theorien, Hypothesen, technische Geräte, Gesellschaften, Kunstwerke, Melodien, Kulturen, Augen u.s.w. gesprochen, und alle sollen angeblich evolvieren können.“ (Ebd., S. 68).

„Entfernt man aus der Darwinschen Evolutionstheorie die Grundannahme, daß die darin vorkommenden Individuen Lebewesen sind, wird sie unmittelbar inhaltsleer. Für Mobiltelefone treffen ihre Prinzipien jedenfalls nicht zu. Man wird deshalb nicht umhin kommen, zunächst einmal die Objekteigenschaften evolvierender Individuen zu beschreiben. Glücklicherweise gibt die Darwinsche Evolutionstheorie dazu eine ganze Reihe an Hilfestellungen:
Individuen sind mehr oder weniger gut an ihre Umwelt angepaßt. Es existiert folglich eine System-Umwelt-Differenz. Anders gesagt: Individuen sind Systeme.
Individuen sind regelmäßig auf die Zufuhr von Energie und anderen lebensnotwendigen Ressourcen angewiesen, damit sie am Leben bleiben können. Individuen sind also offene Systeme. Verfügt ihre Umwelt über weniger Ressourcen, als die gesamte Population zum Leben benötigt, kommt es unter den Individuen zum Kampf ums Dasein. Mit anderen Worten: Individuen »wollen« sich selbst erhalten: Sie sind bestrebt, ihre Kompetenzen während ihrer Lebenszeit zu erhalten.
Individuen produzieren mehr Nachkommen, als die Umwelt ernähren kann. Anders gesagt: Individuen »wollen« sich fortpflanzen: Sie sind bestrebt, ihre Kompetenzen über ihr Leben hinaus zu erhalten.
Dieses Bestreben, die vorhandenen Kompetenzen fortwährend zu erhalten, kann in der Stärke von Individuum zu Individuum und natürlich auch im Laufe des Lebens eines Individuums variieren. In der noch darzustellenden Systemischen Evolutionstheorie wird deshalb den Individuen (den Objekten) die Eigenschaft Reproduktionsinteresse zugewiesen. Hierbei handelt es sich um eine Variable, die unterschiedliche Werte annehmen kann, ähnlich wie etwa der Kontostand eines Bankkontos. Menschen sind beispielsweise unterschiedlich ehrgeizig (Selbsterhalt) oder wollen mehr oder weniger viele Kinder haben (Fortpflanzung).“ (Ebd., S. 68-69).

„Damit soll nun aber nicht behauptet werden, daß die genannten Eigenschaften vollstän~ig quantifizierbar sind. Das ist die Intelligenz eines Menschen auch nicht, obwohl IQ-Messungen manchmal etwas anderes suggerieren. In beiden Fällen wird man quantitative Indikatoren finden oder entwickeln können, mehr jedoch nicht. Beim Menschen läßt sich beispielsweise das Reproduktionsinteresse in einer ersten Annäherung recht gut über den aktuellen Kinderwunsch erfragen.“ (Ebd., S. 69).

„Im Rahmen der Fortpflanzung kommt es zu einer Duplizierung von Individuen. Die auf Individuen anwendbare Operation (Methode) ist deshalb die Reproduktion. Allerdings sind je nach Evolutionsumgebung ganz unterschiedliche Reproduktionsprozesse denkbar. Ich werde im Laufe der weiteren Ausführungen Reproduktionsprozesse vorstellen, die nur auf den Erhalt der inneren Strukturen und Kompetenzen abzielen, und die die in der Natur üblichen Duplikationen nicht kennen.“ (Ebd., S. 68).

„Auf die gerade beschriebene Weise habe ich die in der Darwinschen Evolutionstheorie versteckte Logik in die eigentlichen Evolutionsobjekte transferiert. Die ursprüngliche Ablauflogik wurde hierdurch in eine objektorientierte Beschreibung umgewandelt.“ (Ebd., S. 69).

„Die Kernaussage ist dann: Eigendynamisch evolvieren können nur Populationen, deren Individuen allesamt offene Systeme sind, die (1.) Kompetenzen gegenüber ihrer Umwelt zur Erlangung von Ressourcen besitzen, (2.) auf einen Reproduktionsvorgang Zugriff haben, (3.) eigenständige Reproduktionsinteressen besitzen, mit anderen Worten, deren Individuen allesamt selbstreproduktive Systeme sind. Solche Populationen werden im Laufe der Arbeit gelegentlich auch als evolutionsfähig bezeichnet. Da Gene, Meme, Entscheidungen, Hypothesen, technische Geräte, Kunstwerke, Äpfel u.s.w. die genannten Eigenschaften nicht besitzen, scheiden sie als Gegenstand der Evolution von vornherein aus, ganz im Gegensatz zu den Lebewesen oder den Superorganismen (Organisationssysteme, Unternehmen). Eine Diskussion über die Evolution wissenschaftlicher Hypothesen erübrigt sich folglich von selbst. Bei der versuchten Zuweisung einer wissenschaftlichen Hypothese zum Evolutionsobjekt Individuum handelt es sich dann nämlich - softwaretechnisch gesprochen - um einen Programmierfehler.“ (Ebd., S. 69-70).

9) Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie

„Und damit komme ich zur Formulierung der Systemischen Evolutionstheorie.“ (Ebd., S. 70).

„Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie sind:
Eine Population besteht aus lauter selbstreproduktiven Systemen (Individuen), die sich allesamt voneinander unterscheiden, und die unterschiedliche Kompetenzen in bezug auf ihre Umwelt besitzen. Das Prinzip heißt Variation.
Die Individuen der Population besitzen (eventuell unterschiedlich starke) Reproduktionsinteressen. Die Reproduktionsinteressen korrelieren nicht negativ mit den Kompetenzen der Individuen in bezug auf ihre Umwelt. Aufgrund ihrer Reproduktionsinteressen konkurrieren die Individuen um den Zugriff auf die zumindest teilweise knappen Ressourcen der Umwelt. Die Verteilung der Ressourcen erfolgt dabei dominant (Push) und/oder per Gefallen-wollen-Kommunikation (Pull). Das Prinzip heißt Reproduktionsinteresse.
Es existieren variationserhaltende Reproduktionsprozesse, die die Kompetenzen der Individuen in bezug auf ihre Umwelt aufbauen, modifizieren oder replizieren können, wobei das Ergebnis von Modifikation oder Replikation gegenüber dem Ausgangszustand zwar verändert ist, in der Regel aber auch erkennbare Ähnlichkeiten aufweist. Für die Reproduktion werden Ressourcen aus der Umwelt benötigt. Das Prinzip heißt Reproduktion.“ (Ebd., S. 70).

„Anmerkungen:
 Bei der Darwinschen Evolutionstheorie steht der Reproduktionserfolg im Vordergrund, bei der Systemischen Evolutionstheorie dagegen das Reproduktionsinteresse. Reproduktionsinteresse ist eine Systemeigenschaft, deren Status gegebenenfalls abgefragt werden kann, was für den Reproduktionserfolg nicht gilt. Man kann zum Beispiel jüngere erwachsene Personen befragen, wie viele Kinder sie sich in ihrem Leben wünschen, nicht jedoch, wie viele Kinder sie in ihrem Leben haben werden.
 Die moderne Synthetische Evolutionstheorie nimmt an, daß Individuen, die aufgrund ihres Genotyps besonders gut an ihre Umwelt angepaßt sind (eine hohe Fitneß besitzen; über hohe Kompetenzen in bezug auf den Lebensraum verfügen), ihre Gene in größerem Maße an die Folgegeneration vererben, als Individuen, die im Vergleich dazu schlechter angepaßt sind. Ihre Gene erfahren demzufolge im Laufe der Zeit eine Steigerung ihrer anteilsmäßigen Vertretung im Genpool der Population.
Das Problem an dieser Auffassung ist, daß in sozialen Gemeinschaften das individuelle Reproduktionsinteresse - trotz seiner außerordentlichen Bedeutung für den individuellen Reproduktionserfolg - keineswegs auf genetischen Faktoren beruhen muß, sondern maßgeblich durch die sozialen Verhältnisse oder die soziale Organisation bestimmt sein kann. Es muß dann nicht einmal auf nichtgenetische Weise (Imitation, Erziehung, Bildung, Sozialisation u.s.w.) »vererbt« werden, wie moderne menschliche Gesellschaften demonstrieren. Gemäß der ökonomischen Theorie der Fertilität der modernen Demografie (vgl. Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 302ff. [**]) fallen Fertilitätsentscheidungen heute primär auf Basis von Kosten/Nutzen-Abwägungen der potenziellen Eltern. Das individuelle Reproduktionsinteresse (der Kinderwunsch) richtet sich dabei sehr stark an den Opportunitätskosten von Kindern aus.
Das Reproduktionsinteresse kann also nicht einfach der Fitneß zugerechnet werden. Fitneß und Kompetenzen besagen etwas über das dem Individuum in Hinblick auf den Lebensraum zur Verfügung stehende Wissen, das Reproduktionsinteresse dagegen nicht unbedingt.
 In modernen menschlichen Wohlfahrtsstaaten hängt der Reproduktionserfolg fast ausschließlich vom individuellen Reproduktionsinteresse (Kinderwunsch) und kaum mehr von der Fitneß beziehungsweise der genetischen Ausstattung des Individuums ab. Richard Dawkins drückt dies wie folgt aus:
»Nun ist, was den modernen, zivilisierten Menschen betrifft, folgendes geschehen: Die Größe der Familie ist nicht mehr durch die begrenzten Mittel beschränkt, die die einzelnen Eltern aufbringen können. Wenn ein Mann und seine Frau mehr Kinder haben, als sie ernähren können, so greift einfach der Staat ein, das heißt der Rest der Bevölkerung, und hält die überzähligen Kinder am Leben und bei Gesundheit. Es gibt in der Tat nichts, was ein Ehepaar, welches keinerlei materielle Mittel besitzt, daran hindern könnte, so viele Kinder zu haben und aufzuziehen, wie die Frau physisch verkraften kann. (Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 309f.).
In der die natürliche Selektion repräsentierenden Price-Gleichung könnte man deshalb für moderne Wohlfahrtsstaaten den Reproduktionserfolg durch das Reproduktionsinteresse ersetzen. Aus der Price-Gleichung läßt sich dann folgern, daß solche sozialstaatlichen Populationen (bei wenig veränderten Umweltbedingungen) ihre Lebensraumkompetenzen konservieren oder gar steigern können (evolvieren können), wenn Cov(r,f) >= O ist (r = Reproduktionsinteresse, f = Fitneß, Cov = Kovarianz), das heißt, wenn eine nicht negative Korrelation zwischen Fitneß und Reproduktionsinteresse besteht. Dies ist exakt eine der zentralen Bedingungen der Systemischen Evolutionstheorie, die sich somit auch über die Price-Gleichung begründen läßt.
 Die Evolutionsbiologie definiert Altruismus als ein Verhalten, welches den Reproduktionserfolg anderer auf Kosten des eigenen Reproduktionserfolges erhöht. In der Terminologie der Systemischen Evolutionstheorie übersetzt sich das in: Altruismus ist ein Verhalten, welches das Reproduktionsinteresse anderer auf Kosten des eigenen Reproduktionsinteresses erhöht. Ein Absenken des eigenen Reproduktionsinteresses unterhalb Größen, die der individuellen Fitneß entsprechen, setzt dann in arbeitsteiliger Weise Kräfte und Ressourcen frei, die anderen zur Erhöhung derer Reproduktionsinteressen und damit gegebenenfalls auch derer Reproduktionserfolge zur Verfügung gestellt werden können.
 Bei der Variable Reproduktionsinteresse der Systemischen Evolutionstheorie geht es deshalb letztlich auch darum, auf welche Weise soziale Gemeinschaften in bezug auf die Fortpflanzung arbeitsteilig ( eusozial) organisiert werden können, ohne ihre Evolutionsflihigkeit zu verlieren. Anders gesagt: Welches Verhältnis muß zwischen Altruisten (sie sind weniger stark an der eigenen Fortpflanzung interessiert) und Egoisten (sie sind stärker an der eigenen Fortpflanzung interessiert) bestehen, damit die Population noch immer evolvieren kann?
Die aus der Price-Gleichung beziehungsweise dem Kriterium Reproduktionsinteresse der Systemischen Evolutionstheorie ableitbare Antwort lautet: Cov(r,t) >= 0. Evolutionär stabile soziale Gemeinschaften sollten folglich so organisiert sein, daß in ihnen der Fortpflanzungsaltruismus nicht systematisch mit der Fitneß zunimmt. Dies ist eine Bedingung, die in den meisten modernen menschlichen Gesellschaften aufgrund diverser organisatorischer Entscheidungen (vgl. Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 297ff. [**]) nicht erfüllt ist (vgl. D. Klein, Zum Kinderwunsch von Kinderlsoen in Ost- und Westdeutschland, 2006, S. 76). Hierdurch läßt sich das Central Theoretical Problem of Human Sociobiology (**) erklären. Das Gleiche gilt für die eusoziale Organisation der Insektensozialstaaten, die sich sehr leicht ökonomisch und damit soziologisch begründen läßt, ohne dabei auf die biologische Hamilton-Regel Bezug nehmen zu müssen. Wären nämlich alle Arbeiterinnen darum bemüht, einen möglichst hohen eigenen Reproduktionserfolg zu erzielen (Egoismus, hohes Reproduktionsinteresse), würde der Sozialstaat schon bald in eine Opportumtätskostenfalle laufen und daran zugrunde gehen.
Mit der Systemischen Evolutionstheorie klärt sich also gewissennaßen die aus darwinistischer Sicht völlig unterschiedliche Situation in der Natur bzw. in Sozialstaaten auf: In der Natur hängt der individuelle Reproduktionserfolg - gemäß Darwinismus - primär von den genetischen Merkmalen eines Individuums (Variable Fitneß) ab, in einem Sozialstaat dagegen von dessen (nichtgenetischen) sozialen Rolle und der sozialen Organisation des Staates (Variable Reproduktionsinteresse).
Ein Sozialstaat könnte folglich die eigene Weiterentwicklung durch geeignete organisatorische Maßnahmen unmittelbar selbst beeinflussen. Demzufolge könnte man sagen: Bei der natürlichen Selektion ist die Natur der «Züchter«, bei der sexuellen Selektion sind es die Weibchen und in Sozialstaaten der Sozialstaat selbst (soziale Selekttion).
Zusammenfassend läßt sich sagen: Anders als die individualistische Darwinsche Evolutionstheorie besitzt die Systemische Evolutionstheorie ein integriertes soziobiologisches Konzept.
 Der Begriff Reproduktionsprozeß ist bewußt sehr weit gefaßt und bedarf möglicherweise einer zusätzlichen Erläuterung und Spezifizlerung.
Bei der Fortpflanzung vielzelliger Organismen handelt es sich um eine Möglichkeit, die vorhandenen (genetischen/epigenetischen) Kompetenzen in vergleichbarer Qualität zu erneuern, so daß die Ressourcen des Lebensraumes durch die Nachkommen wieder ähnlich gut verwertet werden können. Die Effizienz der Population bleibt dann erhalten. Beim Menschen erfolgt die Reproduktion der Kompetenzenjedoch nicht nur mittels der Fortpflanzung, sondern auch ganz entscheidend durch die sich daran anschließenden langjährigen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen. Die Kompetenzen des Nachwuchses besitzen dann sowohl genetische als auch kulturelle Anteile, die in unterschiedlichen Reproduktionsprozessen vermittelt werden, und die einmal das Genom und das andere Mal das Gehirn adressieren.
Unternehmen reproduzieren ihre Kompetenzen durch Forschung & Entwicklung, Personalentwicklung, Investitionen u.s.w.. Eine der Fortpflanzung von vielzelligen Organismen entsprechende Replikation kennen sie dagegen üblicherweise nicht.
Aus Sicht eines Individuums ist die Erbringung der aufwendigen und kräftezehrenden Nachwuchsarbeit alles andere als selbstverständlich; schließlich stirbt es irgendwann, und dann hat es von seinen Kindern nichts mehr. Damit sich die Individuen dennoch auf diese für sie kostenintensive Aufgabe einlassen, muß ihr Reproduktionsinteresse ein biologisches Fundament besitzen.
Offenbar drückt sich dieses bei vielen Arten zu erheblichen Anteilen in der sexuellen Lust aus, denn seitdem es moderne Verhütungsmittel gibt, lassen sich für den Menschen Paarungs- und Fortpflanzungsinteressen präzise voneinander trennen: Das Reproduktionsinteresse wird dann zu einer ökonomisch abschätzbaren Größe, die sich der Konkurrenz anderer Interessen des Individuums stellen muß. (Vgl. Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 297ff. [**]). Der Zusammenhang macht deutlich, daß in biologischen Populationen keineswegs einheitliche Reproduktionsinteressen bestehen müssen. Evolutionsbiologen gehen aber meist implizit von einer solchen Annahme aus. (Vgl. Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 2008, S. 254f.)
Die Darwinsche Evolutionstheorie macht eine Unterscheidung zwischen natürlicher und sexueller Selektion. Für beide Evolutionsmechanismen geht sie sogar von unterschiedlichen Prämissen aus. Die Systemische Evolutionstheorie kennt demgegenüber keine uneinheitlichen Evolutionsmechanismen, höchstens unterschiedliche Evolutionsräume mit eigenständigen Kommunikationsmechanismen (Dominanz versus Gefallen-Wollen). Die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie sind - anders als bei der Darwinschen Evolutionstheorie - für alle Evolutionen gleich: Variation, Reproduktionsinteresse und Reproduktion.“ (Ebd., S. 70-75).

10) Gültigkeit der Darwinschen Evolutionsprinzipien

„Für biologische Populationen lassen sich die Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie aus den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie ableiten. Mit anderen Worten: Sind in einer biologischen Population die Grundprinzipien der Systemischen Evolutionstheorie erfüllt, dann evolviert sie auch im Darwinschen Sinne.
Variation
Lebewesen sind selbstreproduktive Systeme. Für biologische Populatio nen sind die Formulierungen des Variationsprinzips der Systemischen und Darwinschen Evolutionstheorie folglich deckungsgleich.
Vererbung
 Der Reproduktionsprozeß biologischer Populationen ist die Fortpflanzung, zu der beim Menschen noch der aufwendige Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozeß hinzukommt. Die Fortpflanzung ist in der Lage, die Kompetenzen der Eltern in bezug auf den Lebensraum (Adaptionen) in den Nachkommen zu erneuern. Die aus den Eltern er zeugten Replikate (Nachkommen) sind zwar einerseits gegenüber i.~en Originalen verändert, weisen in der Regel aber auch erhebliche Ahnlichkeiten auf. Ein Teil der Unterschiede betrifft den Genotyp, ein anderer ausschließlich den Phänotyp.
Für biologische Populationen sind folglich die Prinzipien Reproduktion der Systemischen Evolutionstheorie und Vererbung der Darwinschen Evolutionstheorie deckungsgleich.
Selektion 
Damit sich ein Lebewesen fortpflanzen kann, muß es ein reproduktionsfahiges Alter erreichen und in der Lage kin, eine ausreichende Menge an Ressourcen zum Erhalt des eigenen Lebens und seiner Nachkommen zu erlangen. Es muß also ausreichende Kompetenzen in bezug auf den Lebensraum besitzen.
Bei sexueller Fortpflanzung benötigt es zusätzlich noch einen Fortpflanzungspartner. Für die Gewinnung von Sexualpartnern haben sich in den verschiedenen Spezies zum Teil ganz unterschiedliche Strategien durchgesetzt. Dominiert in einer Spezies beim Paarungsverhalten die sexuelle Selektion (Gefallen-wollen-Kommunikation), muß ein Männchen wenigstens ein Weibchen zu einer Paarung mit ihm überzeugen können. Anders gesagt: Es muß ausreichende Kompetenzen zur Erlangung von Weibchen besitzen.
Lebewesen können sowohl in bezug auf die Ressourcen des Lebensraums als auch die Erlangung von Fortpflanzungspartnern unterschiedliche Kompetenzen aufweisen: Beispielsweise könnte ein Individuum länger leben, mehr Nahrung erlangen und mit natürlichen Feindenbesser fertig werden als ein anderes und somit höhere Kompetenzen in bezug auf den Lebensraum besitzen. Ein weiteres könnte den weiblichen Partnerwahlpräferenzen deutlich mehr genügen als das in bezug auf den Lebensraum besonders kompetente Individuum. In Hinblick auf die Darwinsche Evolutionstheorie könnte man dann sagen: Im ersten Fall genügt das erstgenannte Individuum besonders gut den Bedingungen der natürlichen Selektion und im zweiten Fall der sexuellen Selektion.
Bei vielen biologischen Arten selektieren die Weibchen geeignete Fortpflanzungspartner anhand sogenannter Fitneßindikatoren, die ihnen Aufschluß über die Kompetenzen der Männchen in bezug auf den Lebensraum geben. Die beiden Darwinschen Selektionen synchronisieren sich dann von ihrer Zielrichtung her, weswegen ich mich in den weiteren Ausführungen einfachheitshalber auf die Kompetenzen in bezug auf den Lebensraum beschränken kann (natürliche Selektion).
Dann läßt sich aber folgern: Korreliert das Reproduktionsinteresse in einer Population nicht negativ mit den Kompetenzen der Individuen in bezug auf den Lebensraum, werden Individuen, die mehr Kompetenzen besitzen (besser an ihre Umgebung angepaßt sind), im Mittel einen größeren Reproduktionserfolg haben als andere. Mit anderen Worten: Die natürliche Selektion setzt sich von ganz alleine durch.“ (Ebd., S. 75-77).

„Wir können somit insgesamt folgern:
Evolviert eine biologische Population gemäß der Systemischen Evolutionstheorie, dann evolviert sie auch gemäß Darwin. Die systemische Evolutionstheorie kann die biologische Evolution erklären.
Das Prinzip der natürlichen Selektion war sicherlich die entscheidende Idee zur Erklärung der auf einem Vererbungsmechanismus beruhenden biologischen Evolution als fortschrittsblinden Prozeß. Die Erkenntnis war für die Evolutionsbiologie und das Selbstverständnis des Menschen von solch fundamentaler Bedeutung, daß Zweifel an der ausschließlichen Fortschrittsblindheit evolutiver Prozesse heute meist umgehend als Lamarckismus und damit als Verrat an der Darwinschen Lehre diskreditiert werden. Dabei mehren sich längst die Hinweise, daß sowohl die nichtbiologischen Evolutionen als auch ein Teil der biologischen Evolution lamarckistische Züge tragen. (Vgl. Eva Jablonka / Marion J. Lamb, Evolution in Four Dimensions, 2006; Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 203ff.). Darüber hinaus kennen die meisten nichtbiologischen Evolutionen keine natürliche Selektion. Beispielsweise stehen bei der technischen Evolution - wie noch gezeigt wird - ganz andere Reproduktionsprozesse als die der Fortpflanzung im Vordergrund. All dies läßt vermuten, daß es sich bei der natürlichen Auslese keineswegs um ein grundlegendes Evolutionsprinzip handelt, sondern um einen spezifischen Mechanismus der biologischen Evolution zur Konservierung biologischer Informationen (mittels der Ausbreitung gut angepaßter Gene innerhalb der Population).“ (Ebd., S. 77-78).

„Gemäß der Systemischen Evolutionstheorie ist die Triebfeder der Evolution nicht die natürliche Selektion (vgl. Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 2008, S. 66), sondern es sind die (gegebenenfalls unterschiedlich starken) Reproduktionsinteressen (Eigeninteressen) der Individuen, die sie zu Akteuren im selbstorganisatorischen Prozeß der Evolution machen. Wenn es schon keinen externen Schöpfer gibt, dann muß die Evolution durch etwas anderes vorangetrieben werden. Die Systemische Evolutionstheorie behauptet: Die selbstreproduktiven Systeme treiben mit ihren Reproduktionsinteressen die Evolution eigendynamisch an. Sie folgt damit Vorstellungen, die auch im Rahmen der Komplexitätstheorie (zum Beispiel im Zusammenhang mit komplexen adaptiven Systemen) vertreten werden.“ (Ebd., S. 78).

„Eine Konsequenz daraus ist: Will man eine evolutionäre Entwicklung (zum Beispiel die technische Evolution) verstehen und beschreiben, sollte man sich zunächst auf'die Suche nach den die Evolution antreibenden selbstreproduktiven Systeme machen. Evolutionsreplikatoren sind demgegenüber von nachrangiger Bedeutung.“ (Ebd., S. 78).

11) Nichtbiologische Evolutionen

11.1)   Technische Evolution (S. 78-83)
11.2)   Meme (S. 84-86)

„Es hat zahlreiche Versuche gegeben, die Darwinsche Lehre auf nichtbiologische Evolutionen (Technik, Wissenschaft, Kultur, Soziales) anzuwenden, die aber bislang allesamt entweder gescheitert oder auf erhebliche Einwände gestoßen sind. Die Anwendung der Darwinschen Evolutionstheorie auf gesellschaftliche Phänomene mündete gar in den Sozialdarwinismus.“ (Ebd., S. 78).

Die Systemische Evolutionstheorie ist in der Lage, sowohl die biologische, technische, wissenschaftliche, kulturelle als auch soziale Evolution einheitlich aus den gleichen Prinzipien heraus zu beschreiben (Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung, 2008, S. 163ff. [**]). Dies soll beispielhaft an der Evolution der Technik veranschaulicht werden. Im Anschluß daran erfolgt eine Abgrenzung zur Memetik.“ (Ebd., S. 78).

11.1) Technische Evolution

„Um die technische Evolution beschreiben und erklären zu können, sollte man sich zunächst auf die Suche nach den sie vorantreibenden selbstreproduktiven Systemen machen. Dies sind jedoch nicht die technischen Geräte selbst, sondern die sie entwickelnden Unternehmen. Mit anderen Worten: Nicht die Technik evolviert, sondern die sie konstruierenden Unternehmen, bei denen es sich um Organisationssysteme und damit um selbstreproduktive Systeme handelt. Die technischen Geräte sind im Grunde nur deren Kompetenzen.“ (Ebd., S. 78-79).

„Es ergibt sich das folgende Bild:
Umwelt
Umwelt Unternehmen bieten ihre Waren und Dienstleistungen auf Märkten an, wo sie auf Konkurrenten, aber auch auf potenzielle Käufer treffen.
Der Markt stellt den Lebensraum (die Umwelt) der Marktanbieter (Individuen) dar. Mit ihren Kompetenzen (insbesondere Produkte und Dienstleistungen) sind sie mehr oder weniger gut an dessen Anforderungen angepaßt.
Als Beispiel wird im folgenden der Markt der Mobiltelefone gewählt, wobei aus Einfachheitsgründen Zwischenhandel, Finanzdienstleister, Anteilseigner u.s.w. ausgeblendet werden. Im Lebensraum Markt treffen also die Hersteller (Nokia, Motorola, Samsung, Sony Ericsson, ...) als Marktanbieter direkt auf die Kunden (Käufer, Endverbraucher). Mit anderen Worten: Ein Kunde ersteht sein neues Nokia-Handy direkt bei Nokia.
Population
Evolutionstheoretisch gesprochen könnte man sagen: Die Population besteht aus einer Menge sich unterscheidender Individuen, nämlich den verschiedenen Marktanbietern (Herstellern). Dominiert ein einzelner Wettbewerber den Markt (Monopol), wird das Kriterium der Variation verletzt. Eine Evolution der Marktanbieter (Individuen) ist dann kaum mehr möglich.
In unserem Beispiel gehören zur Population die Marktanbieter Nokia, Motorola, Samsung, Sony Ericsson u.s.w.. Die Kunden sind Teil der Umwelt.
Ressourcen
Unternehmen (Marktanbieter) sind selbstreproduktive Systeme: Sie sind bestrebt, ihre Kompetenzen (und damit sich selbst) permanent zu erhalten. Irgendwelche sachlichen Ziele sind demgegenüber sekundär. Die Erfüllung des unternehmerischen Reproduktionsinteresses dient indirekt den Eigeninteressen seiner Akteure.
Zur Finanzierung des Kompetenzerhalts werden fortwährend Ressourcen benötigt, und zwar Geld. Die Ressourcen, um die die verschiedenen Individuen (Marktanbieter) der Population (Nokia, Motorola, Samsung, Sony Ericsson, ...) in ihrem Lebensraum (Mobiltelelefonmarkt) konkurrieren, ist das Geld der Kunden.
Wettbewerbskommunikation
Auf den Märkten herrscht eine Gefallen-wollen-Kommunikation vor: Die Anbieter preisen ihre Produkte an, und die Abnehmer treffen ihre Wahl, ganz so, wie in der Natur die Partnerwahl im Rahmen der sexuellen Selektion vonstattengeht (dem Modell aller späteren Märkte). Viele Kunden wählen Produkte gemäß echten Fitneßindikatoren. Dazu vergleichen sie zum Beispiel die Spezifikationen verschiedener infrage kommender Geräte oder lassen sich von Testberichten leiten. Oft spielt aber bereits die Marke bei der Kaufentscheidung eine ausschlaggebende Rolle, denn schließlich erwirbt der Kunde einen Teil der Kompetenzen eines konkreten Unternehmens. In vielen Fällen wird die Marke aufgrund eines positiven Images auf der Konsumentenseite gewählt.
Damit die potenziellen Käufer von den Produkten und ihren vermeintlich phänomenalen Eigenschaften auch erfahren, versuchen die Hersteller und sonstigen Marktanbieter mittels Werbung (Gefallenwollen-Kommunikation) auf sich aufmerksam zu machen, ganz so, ) wie dies in der Natur bei der Partnerwerbung (zum Beispiel Brunftgeschrei, Vogelgesang) auch geschieht.
Variation
Leistungsfähige Marktwirtschaften implementieren üblicherweise Verfahren zur Erleichterung des Markteintritts neuer Anbieter. Dazu gehören Regelwerke und leistungsfahige FinanzierungsmÖglichkeiten, zum Beispiel über die Börse. Da immer wieder einzelne Unternehmen aus Wettbewerbsgründen aus dem Marktgeschehen ausscheiden, sollte der Reproduktionsprozeß auch über variationserneuemde Komponenten verfügen. Ferner wird in Marktwirtschaften üblicherweise verhindert, daß einzelne Anbieter marktbeherrschende .Stellungen erlangen können (Verbot von Monopolen, Oligopolen, Preisabsprachen u.s.w.).
Kompetenzen
Auf den Märkten (Umwelt) versuchen die Unternehmen Ressourcen (Geld) zu erlangen, indem sie ihre Kompetenzen zur Geltung bringen, das heißt ihre Produkte und Dienstleistungen anbieten. Die Kompetenzen der Individuen (Marktanbieter) in bezug auf den Lebensraum (Markt) sind also in erster Linie ihre Produkte und Dienstleistungen. Zu den Kompetenzen können auch das Marktverständnis, die Marktdurchdringung und gegebenenfalls der Markenname gezählt werden. Wer etwa ein Nokia-Handy erwirbt, entscheidet sich für einen Teil der Kompetenzen des Herstellers. Kein einzelner Mensch könnte ein solch komplexes und innovatives Gerät entwickeln, ein Unternehmen kann das aber sehr wohl.
Reproduktionsinteresse
Die verschiedenen anbietenden Marktteilnehmer werden normalerweise versuchen, einen möglichst hohen Marktanteil zu erzielen, das heißt, möglichst oft von den Kunden gewählt zu werden.
Mit jedem Verkauf erzielt der Anbieter Einnahmen, das heißt, er gewinnt Ressourcen (Geld). Wer mehr Produkte oder Dienstleistungen gewinnbringend verkauft, erlangt folglich mehr Ressourcen (Geld). Wenn die Einnahmen pro Verkauf größer sind als die dafür getätigten Ausgaben, macht das Unternehmen bei jeder Transaktion Gewinn. Die Gewinne können aufsummiert und für verschiedene andere Aufgaben verwendet werden.
Hat das Unternehmen ein ernsthaftes Reproduktionsinteresse, wird es einen mehr oder weniger großen Teil des Gewinns in die Forschung & Entwicklung und in sonstige Erneuerungsmaßnahmen (Investitionen) stecken. Ähnlich wie bei Lebewesen wird ihm das auf Dauer aber nur gelingen, wenn es einen entsprechend großen Überschuß erwirtschaftet, aus dem die Reproduktion finanziert werden kann.
Haben alle anbietenden Marktteilnehmer ein ähnlich gelagertes Reproduktionsinteresse, welches sich etwa darin ausdrückt, daß sie einen relativeinheitlichen Prozentsatz ihres Gewinnes in die Forschung & Entwicklung stecken, können Unternehmen mit höheren Gewinnen auch mehr Mittel in ihre zukünftigen Produkte und Kompetenzen investieren. Sie dürften dann recht gute Chancen besitzen, auch in Zukunft am Markt zu bestehen. Eine Garantie dafür gibt es allerdings - ähnlich wie in der Natur - nicht.
Reproduktion
Da auf dem Markt Konkurrenz vorherrscht, entwerten sich die unter- nehmerischen Kompetenzen mit der Zeit. Anders gesagt: Sie veralten und damit das Unternehmen auch. Es müßte sich also regelmäßig erneuern (reproduzieren). Dazu dient in erster Linie die Produkt-Reproduktion, die in der Unternehmenswelt den Namen Forschung & Entwicklung (F&E) trägt. Allerdings müßte das Unternehmen auch regelmäßig seine Anlagen und Humanressourcen erneuern und an die Markterfordernisse anpassen, sich also gleichfalls strukturell reproduzieren. Bei beiden Aktivitäten handelt es sich um reproduktive Tätigkeiten, die dem Kompetenzerhalt dienen.
Gelingt die Reproduktion, ist das Unternehmen weiterhin konkurrenzfähig und kann am Markt bestehen (es tritt dann mit verbesserten Produkten und Dienstleistungen an), andernfalls wird es Marktanteile verlieren.
Erlischt das Reproduktionsinteresse des Unternehmens, werden die Gewinne möglicherweise eher für Konsumzwecke (zum Beispiel repräsentative Verwaltungsgebäude oder Firmenwagen) verwendet oder an Investoren ausgeschüttet. Ein solches Unternehmen dürfte aber über kurz oder lang seine Wettbewerbsfähigkeit verlieren und dann auch sehr bald für immer seine Tore schließen. Es wäre im Laufe der Evolution ausgeschieden, und zwar primär durch sein unzureichendes Reproduktionsinteresse.
Evolution
Ist der Selektionsdruck auf einem Markt groß (das heißt, die verschiedenen Anbieter stehen im scharfen Wettbewerb miteinander und könnten zusammen ein Vielfaches von dem absetzen, was der Markt aufzunehmen in der Lage ist), dürfte es in der Regel zu einer schnellen technischen Weiterentwicklung kommen, ganz anders als auf Märkten, die fast vollständig von einem Anbieter dominiert werden.
Ist der Selektionsdruck für einen Anbieter zu groß, so daß er auf dem Markt keine Gewinne mehr erzielen kann, könnte er sich auch für alternative Strategien entscheiden, zum Beispiel das Ausweiten des Geschäftsfeldes auf andere, lukrativere beziehungsweise weniger umkämpfte Märkte, das Wecken neuer Bedürfnisse bei den Abnehmern oder das Besetzen einer Marktnische.
Hat beispielsweise der Marktanbieter Nokia mit seinen Mobiltelefonen einen sehr hohen Marktanteil, könnte er seine Produkte aufgrund der höheren Stückzahlen preisgünstiger anbieten als die Konkurrenz (Skaleneffekte). Der Wettbewerber Motorola sähe nun keine Chancen, mit Nokia über den Preis zu konkurrieren. Also müßte er sich etwas anderes einfallen lassen, zum Beispiel die Integration einer neuen Funktionalität, wie die eines Rundfunkempfängers. Damit könnte er vielleicht einen nennenswerten Anteil der Kunden für sich gewinnen, obwohl sein Angebot preislich über dem der Konkurrenz liegt. Es ist dann aber zu erwarten, daß Nokia sehr bald ebenfalls Mobiltelefone mit integriertem Rundfunkempfänger anbieten wird, möglicherweise nun wieder etwas preisgünstiger als Motorola, und zusätzlich etwas flacher und mit einer Videokamera ausgestattet. Auf diese Weise wird modernes Leben auf evolutive Weise erzeugt. Es werden Bedürfnisse geweckt, die es vorher nicht gab, und es werden Funktionalitäten bereitgestellt, die kein Kunde verlangt hatte, die kurze Zeit später jedoch unverzichtbar sind.
Die Ausführungen zeigen, daß die Evolution der Technik (zum Beispiel der Mobiltelefone) lediglich ein Nebeneffekt der überlagernden eigendynamischen Evolution der selbstreproduktiven Technikhersteller (Marktanbieter) ist. Die Situation ist vergleichbar mit dem Verhältnis von Äpfeln und Apfelbäumen. Selbstreproduktiv sind nur die Apfelbäume, die in der Natur eigendynamisch evolvieren. Auch bei den Äpfeln wird man über längere Zeiträume hinweg Veränderungen in Form, Farbe und Geschmack feststellen können. Solche Entwicklungen sind jedoch nicht das Ergebnis einer eigendynamischen Evolution der Äpfel, songern eine Begleiterscheinung der eigendynamischen Evolution der Apfelbäume, deren Produkte die Äpfel sind.“ (Ebd., S. 79-83).

11.2) Meme

„Richard Dawkins erläutert die von ihm konzipierte Memetik anhand der Melodienevolution bei den Neuseeland-Lappenstaren. (Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 316f.). Die Vorstellung ist in etwa die: Hin und wieder erfindet ein Lappenstar-Männchen eine neue Melodie, die eventuell von anderen Männchen imitiert und gegebenenfalls leicht modifiziert wird. Auf diese Weise ändert und erweitert sich mit der Zeit der Melodienpool der Population. In der Vorstellung der Memetik sind Melodien Meme.“ (Ebd., S. 84).

„Meme sind zwar etwas grundsätzlich anderes als Gene, sollen sich aber dennoch nach einem ähnlichen Schema als Überlebensmechanismus deuten lassen. Auch für die Meme gilt gemäß Memetik der evolutionstheoretische Dreiklang aus Variation, Selektion und Vererbung.“ (Ebd., S. 84).

„Meme vermehren sich - anders als Gene - nicht über die biologische Vererbung, sondern durch Imitation. Wann immer jemand etwas per Nachahmung von jemand anderem übernimmt - zum Beispiel Wörter und Wendungen, Theorien, Techniken, Moden und Melodien -, wird ein Mem repliziert (Vererbung). Der genetischen Mutation entsprechen dabei die Abwandlungen oder Neukombinationen von Memen, wie sie im Prozeß der Imitation unweigerlich geschehen (Variation). Und schließlich findet sich auch so etwas wie eine Selektion von Memen. Meme stehen nämlich in Konkurrenz zueinander. Sie brauchen gemäß Mem-Theorie zur Replikation das Gehirn als Ressource. Es kommt dann zum Survival of the Fittest, denn nur wenige Theorien, Geschichten oder Melodien werden sich über einen längeren Zeitraum in viele Gehirne einnisten können.“ (Ebd., S. 84).

„Was die Gene für die Lebewesen sind, sind gemäß Memetik die Meme für die Kultur. Die eigentlichen Evolutionsakteure sind die Meme, während die Lebewesen als deren vermeintliche Autoren bloß Transportvehikel sind. Bei Memen handelt es sich also um Einheiten, die ähnlich wie Gene danach streben, sich zu verbreiten und zu vermehren. (Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1976, S. 321). “ (Ebd., S. 84).

„Die Systemische Evolutionstheorie erklärt die kulturelle Evolution auf eine ganz ähnliche Weise, wie es bei der Evolution der Technik geschah. Dies soll am Beispiel der Melodienevolution bei den Neuseeland-Lappenstaren verdeutlicht werden:
Die Umwelt ist die Gesamtheit der in einer bestimmten natürlichen Umgebung zusammenlebenden Lappenstarmännchen und -weibchen. Die Population (aus Evolutionsakteuren) besteht dagegen nur aus den (singenden) Männchen, die die weiblichen Fortpflanzungsressourcen (Ressourcen) zum Zwecke des genetischen Kompetenzerhalts erlangen möchten (das heißt, die Männchen besitzen ein Fortpflanzungsinteresse). Die Wettbewerbskommunikation ist die Gefallen-wollen-Kommunkation: Die Männchen werben mit ihrem Gesang um das Gefallen der Weibchen. Die Variation unter den Männchen besteht einerseits aufgrund einer genetischen Variation, andererseits ist sie aber auch nichtgenetischer, phänotypischer Art (unterschiedlicher Melodienpool). Die Kompetenzen der Männchen gegenüber ihrer Umwelt (primär den Weibchen) sind in erster Linie ihr Gesang, der zwar eine genetische Komponente besitzt (Lautstärke, Ausdauer, Modulationsfähigkeit u.s.w.), zu einem großen Teil aber auch erworben ist (Melodienimitation). Das Reproduktionsinteresse der Männchen umfaßt sowohl ihr Fortpflanzungsinteresse, als auch ihr Interesse am Erhalt der Gesangskompetenzen. Ein an der Fortpflanzung interessiertes Männchen wird deshalb beständig darum bestrebt sein, seine Gesangskompetenzen zu erhalten und zu erneuern (imitieren und üben). Die Reproduktion setzt sich folglich einerseits aus dem Fortpflanzungsvorgang (zwecks genetischem Kompetenzerhalt) und andererseits aus der Imitation bzw. dem Ausprobieren neuer Melodien (zwecks kulturellem Kompetenzerhalt) zusammen.
Hat ein Männchen eine Melodie gefunden, die bei den Weibchen großen Anklang findet, werden die anderen Männchen aus dem eigenen Fortpflanzungsinteresse (Reproduktionsinteresse) heraus nichts Eiligeres zu tun haben, als die Erfolgsmelodie zu imitieren und gegebenenfalls noch um den einen oder anderen Schlenker zu ergänzen. Dies bringt die Evolution der Melodien bei den Neuseeland-Lappenstaren hervor, und zwar als eine Begleiterscheinung de! eigendynamischen Evolution der ihren Reproduktionsinteressen folgenden Lappenstare.
Analog läßt sich die wissenschaftliche Evolution erklären. Die Evolutionsakteure sind in diesem Fall die sozialen Systeme Wissenschaftler, die sich in ihren Lebensräumen (den wissenschaftlichen Disziplinen) im Wettbewerb um soziale (Reputation, Titel, Preise u.s.w.) und ökonomische Ressourcen (Geld) befinden. Ihre Wettbewerbskommunikation ist die Gefallen-wollen-Kommunikation, allerdings in diesem Fall in einer einzigartigen Ausprägung: Wissenschaftler präsentieren ihre Kompetenzen (zum Beispiel ihre Publikationen) nicht einer neutralen Selektionsinstanz (Weibchen, Kunden u.s.w.), sondern untereinander. Wähler und Gewählte fallen dabei zusammen. Dies dürfte in den Wissenschaften den Aufbau von Dominanzhierarchien erforderlich machen. (Vgl. Eckart Voland, Die Natur des Menschen, 2007, S. 39). Die Reproduktion in den Wissenschaften setzt sich einerseits aus der Forschung (aufgrund der Kompetenzerhaltungsinteressen der Wissenschaftler), andererseits aus den Ausbildungsprozessen (Erzeugung neuer Variation) zusammen.“ (Ebd., S. 85-86).

Evolution und Systembildung

„Die Evolution auf der Erde kann gemäß der im Artikel dargelegten Theorie als ein Prozeß der Hierarchisierung von Systemen (Systemelemente strukturieren sich zu übergeordneten Systemen) beschrieben werden:
Auf der untersten Ebene entstanden zunächst reproduktionsfähige und über Reproduktionsinteressen verfügende einzellige Organismen. Die Evolution beschränkte sich zu Beginn auf diese Systemebene.
Zu einem späteren Zeitpunkt bildeten sich mit den vielzelligen Organismen komplexere Systeme, in denen oftmals viele Billionen Zellen zusammenarbeiten. Solche Systeme besitzen gleichfalls eigenständige Reproduktionsinteressen und sind in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Die Evolution der vielzelligen Organismen brachte die Artenvielfalt hervor.
Auf Basis der Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit des Menschen und seiner externen Kompetenzspeicherungsfähigkeiten entstanden schließlich die Superorganismen (soziale Systeme, Organisationssysteme, Unternehmen). Sie binden Menschen per Kontrakte oder anderen Mechanismen zu größeren Einheiten zusammen. Die auf diese Weise gebildeten Systeme entwickeln bei entsprechender Ausreifung ebenfalls eigenständige Reproduktionsinteressen. Anders als die beiden bislang genannten Systemtypen reproduzieren sie sich jedoch nicht durch das Erstellen von Kopien, sondern durch die interne Erneuerung ihrer Elemente, Strukturen und Kompetenzen. Die Evolution der Superorganismen bringt maßgeblich das moderne Leben hervor (technische, soziale, kulturelle, wissenschaftliche Evolution). Aus einer Makrosicht betrachtet dürfte diese Evolution nun alle anderen evolutiven Entwicklungen dominieren. Anders gesagt: Der Mensch ist nicht mehr die Krone der Schöpfung, die Superorganismen sind es jetzt.
Die biologische Evolution beschränkt sich auf ein- und vielzellige Organismen, das heißt auf die beiden unteren Systemebenen, während die technische, soziale, kulturelle und wissenschaftliche Evolution primär eine Sache der Superorganismen und damit der dritten Systemebene ist. Die Evolution bringt folglich nicht nur immer komplexere Organismen (Arten) hervor, sondern auch zunehmend höhere Systemebenen, die in eigenständigen Lebensräumen evolvieren.“ (Ebd., S. 86-87).

„Im Grunde kann der Prozeß der Systemhierarchisierung auch als eine Abfolge von sich abwechselnden konkurrierenden und kooperativen Phasen verstanden werden:
Konkurrenzphase: Zunächst konkurrieren Systeme in einem Lebensraum um Ressourcen.
Kooperationsphase: Verschiedene Systeme beginnen zum Zwecke der Erfüllung gemeinsamer Bedürfnisse miteinander zu kooperieren. Die verschiedenen Subsysteme (Elemente) der Kooperationsgemeinschaften schließen sich in der Folge immer enger zusammen, so daß Einzelsysteme ihnen gegenüber erheblich im Nachteil sind. Die Kooperationen werden schließlich so eng, daß sich die Elemente zu eigenständigen, selbstreproduktiven Systemen ( einer neuen Systemebene) verbinden.
Konkurrenzphase: Nun konkurrieren die neu gebildeten Systeme (einer höheren Systemebene) untereinander um die Ressourcen ihres Lebensraums.“ (Ebd., S. 87).

„Der Prozeß der Evolution auf der Erde könnte zusammenfassend annäherungsweis wie folgt dargestellt werden:
Der Prozeß der Evolution auf der Erde könnte zusammenfassend annäherungsweis wie folgt dargestellt werden: Zunächst evolvierten ausschließlich ein- und vielzellige Organismen. Das vorherrschende Selektionsprinzip war die dominante Kommunikation: Fressen und gefressen werden. Alle Arten optimierten sich gemäß dieses Paradigmas.
Mit der sexuellen Fortpflanzung kam die Gefallen-wollen-Kommunikation, auf deren Basis eigenständige, marktmäßige Evolutionsräume entstanden. Nun bildeten sich bei den Lebewesen erstmalig Merkmale aus, die zwar den spezialisierten Marktanforderungen genügten, einer optimalen Anpassung an den sonstigen Lebensraum jedoch eher im Wege standen. Beispiele dafür sind die Pfauenschweife, aber auch viele Funktionen des menschlichen Gehirns.
Die ungeheure Kooperationsfähigkeit des menschlichen Gehirns und die externe Kompetenzspeicherungsfähigkeit des Menschen erlaubte dann das flexible Entstehen von Superorganismen, die sich wiederum in eigenständigen Evolutionsumgebungen - meist Märkten auf Basis der Gefallen-wollen-Kommunikation - weiterentwickelten. Dabei brachten sie unter anderem die Evolution der Technik, der Wissenschaften und der Kultur hervor.“ (Ebd., S. 87-88).

„Insgesamt darf vennutet werden: Auf der Erde entsteht letztlich alles durch Evolution, also nicht nur Bakterien, Pflanzen und Tiere, sondern Autos, Mobiltelefone, Banken, Technologiekonzerne, Religionen, Moralvorstellungen, Hypothesen, Wahrheiten und erhabene Ideen ebenso, und zwar gemäß den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie. Angetrieben werden die verschiedenen Evolutionen aber stets von selbstreproduktiven Systemen, das heißt von Evolutionsakteuren mit eigenständigen Reproduktionsinteressen. Während ihre Populationen eigendynamisch evolvieren, entwickeln sich auch ihre Merkmale und Produkte weiter, als wenn sie ebenfalls einer eigenständigen Evolution unterlägen.“ (Ebd., S. 88).

 

Zitate: Hubert Brune, Februar 2010 (zuletzt aktualisiert: März 2010).

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- Literaturverzeichnis -