»Postdemokratie«
ist mittlerweile als Begriff so geläufig, daß ein entsprechender Artikel
in Wikipedia existiert. Es häufen sich die Analysen, die vom Beginn eines
neuen »post-«, also »nachdemokratischen« Zeitalters ausgehen.
Sollten sie zutreffen, dann wird die Vorstellung von der segensreichen Herrschaft
des Volkes nach zwei Jahrhunderten abgelöst, und es tritt eine andere Art
von Legitimitätsglauben an deren Stelle.Selbstverständlich
hat es immer Einwände gegen die Demokratie gegeben, solche, die seit der
Antike, und solche, die seit der französischen Revolution vorgetragen
wurden »Barbarei der Zahl« (Goncourt), »zusammengezählte
Nullen« (Nietzsche), die Stimme des Bürgers als »Kartoffel in
einem Kartoffelsack« (Marx) , und dann solche, die man erst angesichts
der Entstehung von Massenstaaten äußerte. Aber noch die großen
totalitären Bewegungen sahen sich gezwungen, nach außen »demokratisch«
aufzutreten, und dasselbe gilt für die Fundamentalismen und für die
Mehrzahl der Diktaturen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Keine Berufung auf
Tradition oder Religion konnte im 20. Jahrhundert leisten, was die Berufung auf
den demos, das Volk, zu leisten vermochte, und nach dem Kollaps des sowjetischen
Systems schien es tatsächlich so, als gebe es gar keinen Einwand mehr gegen
die universale Geltung des demokratischen Prinzips.Dabei wurde übersehen,
daß dessen Anziehungskraft ganz wesentlich mit dem wirtschaftlichen Erfolg
des Westens und den inakzeptablen Verhältnissen im Ostblock zusammenhing.
Die »feindlose Demokratie« (Ulrich Beck), die nach dem Ende des Kalten
Krieges entstand, mußte ihre Legitimität aus eigener Kraft beweisen,
und das fiel ihr schwer. Pascal Bruckner schrieb schon 1990: »Wir sind
in eine Epoche der demokratischen Melancholie eingetreten, denn in unser Gefühl
des Triumphes mischt sich der Verdacht, etwas verloren zu haben: den Antrieb,
uns und anderen die Demokratie zu wünschen, denn künftig wird sie nur
von wenigen angefochten. Mit anderen Worten, da niemand dagegen ist, fehlt uns
fast gänzlich die Kraft, dafür zu sein. Zwar haben wir das unbestimmte
Gefühl, die ganze Arbeit liege noch vor uns, doch sind wir willenlos, da
uns kein Gegner motiviert. Die großen Schlachten sind geschlagen, doch ist
unsere Vollkommenheit dem Tode nahe.«Bruckner gehörte zu jener
Linken, die sehr früh und sehr klar gesehen hat, daß nach dem Ende
der Blockkonfrontation Globalisierung und Neoliberalismus Rahmenbedingungen schufen,
die mit den üblichen Methoden politischer Kontrolle nicht zu bändigen
waren, daß der Bedeutungsverlust der Nationalstaaten und der Bedeutungszuwachs
internationaler Konzerne zur Entstehung von Machtballungen neuer Qualität
führte, die jenseits des bekannten Rahmens lagen. Wenn man es bei Bruckner
zum Teil mit dem sattsam bekannten antikapitalistischen Affekt zu tun hat, so
wird man dieser Kritik doch ein gewisses Maß an Hellsichtigkeit nicht abstreiten
können. Das ist in bezug auf die vorgeschlagenen Alternativen aber nicht
zu behaupten. Denn der Gedanke, dem Problem sei durch eine weitergehende Demokratisierung
zu begegnen, verkennt die prinzipiellen Schwierigkeiten, und die seit den sechziger
und siebziger Jahren gemachten Erfahrungen sprechen dafür, daß »mehr
Demokratie wagen« vor allem die Zermürbung der Mitbestimmungsbereitschaft
und das Übergreifen von Inkompetenz im Namen der »Betroffenen«
zur Folge hat.Daß die alten Rezepte nicht helfen, hat sich auch
sonst herumgesprochen. Das ist etwa dem gerade erschienenen Buch des us-amerikanischen
Politikwissenschaftlers Colin Crouch über Postdemokratie zu entnehmen, das
im Grunde nur das Dilemma beschreibt und die Beschreibung mit einem Plädoyer
für mehr Bürgernähe verknüpft, aber keine utopischen Entwürfe
einer basisdemokratischen Weltrepublik enthält. Crouchs Position nähert
sich der linken Mitte an, wo der Ton sowieso weniger alarmierend ist, eher nüchtern
angesichts der Sachzwänge oder erfreut wegen der komfortablen Stellung, in
der man die Transformation beobachtet. Zu den Vordenkern dieser Richtung gehört
der Franzose Jean-Marie Guéhenno, der Anfang der 1990er Jahre zuerst die
Auffassung vertrat, daß nicht das »Ende der Geschichte«
(**|**)
und die finale Durchsetzung von Freiheit und Kapitalismus bevorstünden, sondern
das »Ende der Demokratie«. Wir befänden uns so Guéhenno
in einer Phase des Übergangs, weg von der Epoche der Nationalstaaten,
hin zu neuen imperialen Bildungen. Das Zukunftsszenario blieb in vielem diffus,
auf Andeutungen beschränkt, zeichnete sich aber doch durch die Vorstellung
aus, daß für die Bewältigung der Krise kein Rückgriff auf
die Vergangenheit möglich sei. Weder lasse sich der alte Glauben restaurieren,
noch die alte Politik. Die Geschichte biete keine Modelle, nur noch schwache Analogien.
Guéhenno meinte jedenfalls, daß die Alternative zur Demokratie nicht
zwangsläufig Diktatur und Terror bedeute, sondern im besten Fall eine Reichsbildung
wie in der Zeit des humanitären Kaisertums: »Das neue imperiale Zeitalter
sollte am ehesten dem Römischen Reich Hadrians und Mark Aurels gleichen:
Es dürfte keinen Anspruch auf überirdische Größe erheben
und sich auch nicht göttliche Befugnis zur Erfüllung irdischer Bedürfnisse
aneignen wollen. Es müßte sich damit begnügen, lediglich eine
Funktionsweise zu sein, und diese Erkenntnis akzeptieren.«Reduziert
man das Gesagte auf seinen Kern, also die Legitimation der nachdemokratischen
Ordnung durch Funktionstüchtigkeit, trifft man auf einen Vorstellungszusammenhang,
der heute vielen akzeptabel erscheint. So schrieb Josef Joffe, Mitherausgeber
der Zeit, in bezug auf die Europäische Union: »Die EU ist ein
freiheitliches, freundliches und fürsorgliches Gebilde, aber eine Demokratie
im klassischen Sinne? Nennen wir es eine Geschäftsführer-
oder Ostdemokratie, in der der Bürger das Herrschen den Räten
und Kommissionen überläßt. Und zwar freiwillig.« Das ist
mit Wohlwollen gemeint, ein Plädoyer für eine sanfte Erziehungsdiktatur
und jedenfalls verknüpft mit dem Drohbild des Volkes als »großem
Lümmel«, der schon der Einführung des Euro seine Zustimmung verweigert
hätte und insofern disqualifiziert ist, weil er dem »Fortschritt«
im Wege steht.Auch wenn das nicht ganz offen gesagt wird, legt man hier
ein neues Kriterium für die Beurteilung politischer Ordnungen fest, das sich
nicht mehr an irgendwelchen wolkigen »Werten« ausrichtet, sondern
an härteren, wirklichkeits- und das heißt heute wirtschaftsnäheren
Maßstäben. »Sind Demokratien ineffizient?« Unter
dieser Überschrift brachte die Neue Zürcher Zeitung unlängst
einen Leitartikel aus der Feder Reinhard Meyers. Meyer weist in seinem Text darauf
hin, daß die Demokratien des Westens mit den »Halbdemokratien«
(Rußland, Indien) oder den offen autoritären Systemen (China) kaum
noch Schritt zu halten vermögen. Deren Wirtschaftswachstum sei ungleich stärker,
deren Möglichkeit, rasch auf neue Entwicklungen zu reagieren, besser entwickelt,
jedenfalls nicht behindert durch langwierige Abstimmungsvorgänge oder die
Suche nach Kompromissen. Der eigentliche Ausgangspunkt von Meyers Überlegungen
war allerdings das Ergebnis des irischen Referendums über den Vertrag von
Lissabon, das heißt der konkrete Fall eines Volkes, das über eine Schicksalsfrage
demokratisch abstimmte, und das in einem Sinn, der seiner Obrigkeit mißfiel
und einen Prozeß blockierte, der nicht nur von dieser, sondern vom europäischen
Establishment insgesamt befürwortet wurde. Meyer hielt sich bei der Beurteilung
zurück, wies aber darauf hin, daß es eine Debatte über die Zukunft
des demokratischen Prinzips gebe, die sich aus solchen unliebsamen Erfahrungen
nähre. Leider nennt Meyer keine Namen der Debattenteilnehmer, aber vielleicht
hat er an das Buch von Fareed Zakaria, des Chefredakteurs von Newsweek International,
gedacht, das mit dem deutschen Titel Das Ende der Freiheit? Wieviel Demokratie
verträgt die Welt? erschien und zu den einflußreichsten politischen
Essays der letzten Jahre gehört, in siebzehn Sprachen übersetzt wurde
und eine Art Generallinie für die Argumentation gegen die Demokratie enthält:
Die, so Zakaria, ist zu träge, schwächt die Institutionen, verabsolutiert
das Mehrheitsprinzip und droht qualifizierte Minderheiten zu unterdrücken.
Historisch gesehen, habe sich die ältere Demokratie nur in Kleinstaaten bewährt
und sei nach kurzem in Chaos oder Diktatur umgeschlagen; auch nach ihrem ersten
Siegeszug im Gefolge des Triumphs der Entente von 1918 erwies sie sich
als instabil, in Zukunft könnten ähnliche Belastungsproben bevorstehen,
und es scheine fraglich, ob sie die Prüfung nun besser bestehe, und schließlich:
»Beim gegenwärtigen Trend steuert die Demokratie geradewegs auf eine
Legitimitätskrise zu, die ihr womöglich den Boden entzieht.«Die
Argumentation Zakarias ist nicht neu, aber längere Zeit zurückgetreten.
Er will keine Anknüpfung an die klassische Demokratiekritik, eher greift
er auf Vorstellungen zurück, wie sie in der Nachkriegszeit Liberale genauso
wie Technokraten und einige »Neokonservative« vorgetragen hatten,
die alle an der Fähigkeit der Demokratie zweifelten, einen modernen Industriestaat
zu steuern oder im Ernstfall zu bestehen. Wenn solche Thesen jetzt wieder ins
Feld geführt werden, ist das kein Zufall und keine Nostalgie. Zakaria hat
seine Thesen zuerst 1997 in einem Artikel für Foreign Affairs entwickelt,
jener Zeitschrift, von der alle großen Weltanschauungsdebatten der letzten
beiden Jahrzehnte um das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama
[**])
wie den »Kampf der Kulturen« (Samuel Huntington [**])
angestoßen wurden, und auch die Veröffentlichung seines neuesten
Buches The Post-American World hat er mit dem Abdruck einer Art Zusammenfassung
in Foreign Affairs vorbereitet. Er stärkt darin die Position jener
»Zentristen«, die weder der Linie der Bush-Regierung folgen, noch
einen linken oder rechten Isolationismus vertreten. Obwohl ein relativer Machtverlust
der USA unausweichlich sei und der Aufstieg von Konkurrenten wie China, Indien,
Rußland, Brasilien bevorstehe, glaubt Zakaria, daß die Vereinigten
Staaten auch im 21. Jahrhundert die Weltpolitik beherrschen. Um diese Aufgabe
bewältigen zu können, sei es aber entscheidend, die Illusionen einer
bewaffneten Ausbreitung des demokratischen Systems aufzugeben. Dabei stehen ihm
nicht nur die militärischen Fehlschläge Washingtons vor Augen, sondern
auch die unkalkulierbaren Konsequenzen bei erfolgter Demokratisierung, die etwa
in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und allgemein in islamischen Ländern
zur Stärkung us-amerikakritischer oder us-amerikafeindlicher Kräfte
geführt hätten. In diesen Fällen sieht Zakaria die Demokratie als
»delegitimiert« an, weil sie als »illiberale Demokratie«
den prowestlichen Tendenzen entgegenstehe. Damit wird das Problem der Legitimität
verschoben. Demokratie im Sinne von Zakaria ist nur die gezähmte oder »liberale
Demokratie«, in der die Folgen einer Wahl möglichst minimiert werden
und ein durchdachtes System den Bürgerwillen so kanalisiert, daß er
sich nicht schädlich auswirken kann, sondern der Bestätigung der Politischen
Klasse, ihres Führungsanspruchs, ihrer wirtschaftlichen und sozialen
Macht, dient. Das ist nicht zynisch gemeint, denn die Elite nutzt ihre Macht,
wenn nicht direkt, dann doch indirekt, zugunsten des Gemeinwesens. Was wiederum
erklärt, warum Zakaria ein Bündnis zwischen liberaler Demokratie und
jenem »neuen Nationalismus« für denkbar hält, den er als
die bestimmende Kraft im System globaler Konkurrenz betrachtet. Dieser Nationalismus
ist weniger ausgearbeitete Ideologie als Konsequenz einer Lage, in der es um das
Formieren politischer, militärischer, diplomatischer und ökonomischer
Kräfte geht.Zakaria urteilt dabei ganz nüchtern, daß
es verschiedene Möglichkeiten gibt, um deren Effizienz zu steigern: Man kann
sich autoritärer, illiberaler, aber auch liberaler Verfassungen bedienen.
Im us-amerikanischen Fall sei die Verknüpfung mit der liberalen Demokratie
empfehlenswert, weil das die Integration jener Einwanderer ermögliche, die
der größten Volkswirtschaft der Welt ihren Vorsprung erhalten, indem
die USA die besten Köpfe aus allen Regionen anziehen und zügig us-amerikanisieren.
Damit lasse sich eine Synergie bewirken, für die es kein Vorbild gebe. Die
Vereinigten Staaten könnten den Fehler älterer Imperien vermeiden, die
aus der Trennung von Reichsvolk und Unterworfenen entstanden. Das mache sie fähig,
den globalen Wettbewerb zu gewinnen: US-Amerika habe die wirtschaftliche Globalisierung
erfunden, indem es nach zwei Weltkriegen und dem Zusammenbruch der Sowjetunion
die Öffnung aller Märkte erzwang, und nun schließt es diesen Prozeß
ab durch eine »innere Globalisierung«. An der Konzeption Zakarias
besticht vor allem die Unvoreingenommenheit. Er ist kein Anhänger der manifest
destiny und kein naiver Befürworter eines Multikulturalismus. Wenn er
an einer Stelle seines Textes auf Singapur als Musterbeispiel einer »meritokratischen«
also einer auf Verdienst beruhenden Ordnung zu sprechen kommt, enthüllt
er wohl den Kern seiner Anschauung: die Vorstellung, daß das kommende Zeitalter
»sozialdarwinistisch gestimmt« (Rudolf Augstein) sein werde und bei
verschärfter Konkurrenz nur diejenigen bestehen, die alle Kräfte nutzen,
die ihnen zur Verfügung stehen. Sein Abschied von der Demokratie als Idee
der Volksherrschaft ist ohne Ressentiment und frei von der Vorstellung, eine perfekte
Alternative zu haben; es geht ihm aber auch nicht um die defensiven Argumente
einer Politischen Klasse, die sich Konkurrenz vom Hals halten will, sondern
um ein Modell, das dynamischer ist als das bisherige. Natürlich kann man
nicht davon absehen, daß Zakaria selbst zu jenen gehört, die er als
wesentlichen Teil der kommenden Elite betrachtet: Er ist einer jener hochbegabten
Einwanderer, beziehungsweise US-Amerikaner der ersten Generation, die, vornehmlich
aus Asien stammend, schon jetzt einen Teil der tonangebenden Schicht stellen,
und das Unbehagen, das die schwindende weiße Mehrheit empfindet, ist ihm
fremd. Sollte die Entwicklung tatsächlich in die von ihm erwartete Richtung
gehen, bleiben drei denkbare Reaktionen: a) Nachahmung, eingedenk der Tatsache,
daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts noch jede Tendenz der us-amerikanischen
»Kultur« Modellcharakter angenommen hat; b) Ablehnung im Namen von
Basisdemokratie und Antikapitalismus; c) Modifikation.Die zweite Alternative
ist die populärste und gleichzeitig die aussichtsloseste. Ganz gleich, ob
man sie internationalistisch oder nationalistisch aufmacht, es bleibt im Kern
dabei, daß der Versuch, auf Graswurzelmitbestimmung oder eine Variante des
Sozialismus zu setzen, an den Machtverhältnissen scheitern wird. Aussichtsreicher
ist die erste. In Europa haben wir es längst mit Kopierversuchen zu tun.
Die kurzlebige »Green Card« war nur der sichtbare Teil des Bemühens,
hier zu wiederholen, was in den USA dauernd geschieht, wenn aus rein wirtschaftlichen
Erwägungen hochqualifizierte Einwanderer angeworben werden. Daß das
Projekt gescheitert ist, hat nicht nur mit der Unentschlossenheit der Verantwortlichen
zu tun, sondern auch mit der europäischen Neigung, Politik und Sentimentalität
zu verwechseln. Bestenfalls fürchtete man die negativen Begleiterscheinungen
des us-amerikanischen Konzepts, das heißt die wachsende ethnische, religiöse
und kulturelle Fraktionierung der Bevölkerung, die Notwendigkeit, immer größeren
Aufwand zu treiben, um das management of diversity zu gewährleisten,
sei es durch positive Diskriminierung der Anderen, negative der Eigenen, finanzielle
Ruhigstellung, Indoktrination und Gesinnungskontrolle. Denn Zakarias Absage an
die Demokratie hat ihre Berechtigung vor allem darin, daß Volksherrschaft
ohne Volk nicht möglich ist, wenn man darunter eine hinreichend klar erkennbare
politische Gemeinschaft versteht, die nicht nur infolge subjektiver
Willensentscheidung zusammentritt, sondern auch durch objektive
Merkmale verbunden wird. Solche Erkennbarkeit setzt immer, ausgesprochen oder
unausgesprochen, die Einheitlichkeit des demos voraus. In Athen wurden
bei der letzten Ausdehnung des Wahlrechts die Bürgerlisten geschlossen und
den Fremden dauerhaft die politische Beteiligung verweigert. In der Neuzeit hingen
der Aufstieg des Nationalstaatsgedankens und der des demokratischen Gedankens
unmittelbar zusammen. Seither war es für jeden Staat von entscheidender Bedeutung,
»wieviel als gemeinsamer organischer Willensgehalt in jedem
Augenblick wirklich vorgegeben ist, und wieviel rational vereinheitlicht, herrschaftlich
organisiert werden kann und muß« (Hermann Heller). Für
unseren Fall bedeutet das, daß je weiter der »organische Willensgehalt«
zurückgeht, in Folge wachsender ethnischer, sprachlicher, religiöser
Heterogenität, desto nachhaltiger muß »organisiert« werden,
da immer weniger Volk angenommen werden kann, das sich als »Willenseinheit«
betätigt. Interessanterweise hat Crouch in seinem erwähnten Essay über
die Postdemokratie dieses Problem so charakterisiert, daß der demos
die Fähigkeit verliere, ein »Bild« von sich zu entwerfen, das
ihm erlaube, politisches Selbstverständnis und politische Zielsetzung zu
entwerfen. Man könnte auch von einem Verfall der Repräsentanz sprechen,
einem Virulentwerden jenes Schlüsselproblems aller staatlichen Ordnung, die
klären muß, warum die vielen meinen sollen, daß sie eins sind.
Zakaria hält das bestenfalls für eine Frage der Propaganda, tatsächlich
geht es aber um den Kern der Sache, wenigstens für die Europäer, die
ihr Selbstverständnis niemals nur auf den Besitz von Macht und die Anziehungskraft
eines bestimmten way of life gegründet haben. Sie müßten
sich aufgefordert sehen, eine Alternative im Sinn der Modifikation zu entwickeln:
eine politische Verfassung, die nicht nur die Selbstbehauptung erlaubt, sondern
auch die Integration des »organischen Willensgehaltes«. Das wird um
so schwerer, als man weder guten Gewissens »Demokratisierung« fordern
kann, noch den Apologeten des neuen aufgeklärten Absolutismus folgen darf.
(Ebd., August 2008). |