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Spengler Spengler-Zitate Spengler
„NEUE FORMEN DER WELTPOLITIK“, 1924
(in: „Politische Schriften“, 1919-1926)
Zitate
Ein Vortrag (Hamburg, 28.04.1924)
Zitate

NACH OBEN Zitate aus dem Vortrag in Hamburg (28.04.1924):

„Frankreich war während des Krieges der Staat, der am meisten von dem guten Willen seiner Verbündeten abhängig war, der unbedingt verloren gewesen wäre, wenn ihn nicht die Bajonette und die unerschöpflichen Milliarden der angelsächsischen Welt immer und immer wieder aus der letzten Gefahr gerettet hätten. Das französische Volk war schon vor dem Kriege infolge des Mangels an Geburten längst dasjenige, das seiner Zahl nach unter den Großmächten den vorletzten Platz einnahm und in sehr kurzer Zeit – wie es heute der Fall ist – bei weitem den letzten einnehmen mußte. Greisenhaft, müde, nur von dem Wunsche beseelt, seine Rente in Sicherheit zu verzehren und dabei ein wenig Liebe und Literatur zu treiben, war es dazu bestimmt, wie Spanien mit dem Ende des 18. Jahrhunderts, so mit dem Ende des 19. aus der Reihe der lebendigen großen Mächte auszuscheiden. Kluge Franzosen, schon Renan, Flaubert und Zola, haben das längst geahnt und ausgesprochen. Das französische Volk hat seit Waterloo nicht einen neuen politischen Gedanken hervorgebracht. Während alle andern Großmächte und selbst kleinere Völker mit neuen Ideen und Methoden in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts eintraten – man denke allein an den neuen Stil, den neuen Sinn der Kolonialpolitik, welche den Weltverkehr und damit den Seekrieg auf eine neue Basis stellten und die Küstengliederung ganzer Erdteile strategisch ausnützten – hat das französische Volk tatsächlich von einem einzigen, rein negativen Gefühl gezehrt: der Revanche. Aber das ist ein Gedanke, der durchaus rückschauend, senil und unfruchtbar ist, der zeigt, daß dieses Volk geistig angefangen hat in seiner eigenen Erinnerung zu leben, nicht für irgendeine Zukunft, sondern für das, was einmal dagewesen war. Schon die Zeit Napoleons III. war nichts als eine schlechte Wiederholung größerer Tage. Nun tritt ganz plötzlich das Ereignis vom Ende des Jahres 1918 ein und gibt diesem Volk einen Anstoß, der überraschend kommt und gerade in der altgewordenen französischen Seele überraschende Wirkungen hervorrufen mußte. Binnen einem Jahre hatte Frankreich vergessen, wer in Wirklichkeit der Sieger gewesen ist. (Aufrichtig gesagt: weiß das heute überhaupt schon jemand?)“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 160-161Spengler).

„Wo die Franzosen in fremden Erdteilen als Koloniegründer aufgetreten sind, haben sie mehr Blut vergossen als irgendeine andre Nation und kolonisatorisch weniger erreicht als irgendeine andere. Wo sie irgendwo auf dem Festland längere Zeit einen Erfolg in der Hand behielten, haben sie Spuren hinterlassen, von denen keine einzige aufbauender Natur gewesen ist.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 163Spengler).

„Seit dem Kriege ist eine ungeheure und immer noch wachsende Masse von Farbigen im Heerdienst ausgebildet worden, und diese hat damit als Ganzes gelernt, in europäischer Taktik zu denken und sich darüber klar zu werden, wo die Grenze der Wirkung weißer Truppen liegt, wenn sie es mit schwarzen in der Überzahl und in gleicher Ausbildung zu tun hat. Es kommt hinzu, daß der Nationalismus unter den Farbigen Afrikas nicht nur durch diese französische Militärpolitik – ohne Rücksicht auf deren Folgen – heraufbeschworen wird, sondern noch von zwei anderen Seiten her mit Bewußtsein unterstützt wird, allerdings mit sehr verschiedenem Ziel. Von den Negern der Vereinigten Staaten her wird vor allem über Liberia eine ganz außerordentliche Propaganda mit dem Schlagwort: »Afrika den Afrikanern« getrieben, eine Propaganda, die man bis zum Nil und in die Bergwerksgebiete Südafrikas hinein spürt. Auf der anderen Seite treibt der Islam eine ebenso wirksame Propaganda dadurch, daß er zugleich mit der Bekehrung großer Massen von Negern weit über den Äquator hinaus auch das Bewußtsein verbreitet, welches der moderne, aktiv politisch gewordene Islam seinen Bekennern gibt, die Zusammengehörigkeit im Kampf gegenüber den weißen Völkern. Dazu kommt die bolschewistische Agitation hauptsächlich von Indien her über Ostafrika und ihre Vorbereitung durch die christliche Mission, vor allem die englische puritanische, die den Negern die Gleichheit aller Menschen vor Gott predigt.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 166-167Spengler).

„Jedenfalls ist damit etwas erreicht worden, worauf Napoleon noch nicht rechnen konnte und woran er niemals gedacht hat, daß nämlich Afrika als Ganzes aufgehört hat, bloßes Objekt der Politik zu sein, und mehr und mehr sich auch als mögliches Subjekt der Politik zu empfinden beginnt. Wenn das Netz von strategischen Bahnen und Autolinien, das von französischer Seite geplant ist, sich weiter ausbreitet und von Westafrika her über den Tschadsee in die Gebiete des Nil und Kongo eindringt, also auch in einer Richtung, die in Faschoda einmal beinahe zum Krieg zwischen Frankreich und England geführt hatte (1898), dann ist gar nicht abzusehen, welche Richtung die eigene Stoßkraft dieser ungeheuren Masse erwachter Farbiger nehmen wird. Und wenn sie sich bei irgendwelchen künftigen Auseinandersetzungen zwischen weißen Mächten auf die eine oder andre Seite schlagen, eine Möglichkeit, die man ihnen zum erstenmal im Weltkrieg als Tatsache vorgeführt hat, dann kann unter Umständen die Entscheidung allein von der Stellungnahme dieses strategisch unendlich wichtigen Raumes und seiner Bevölkerung abhängen, die im Begriff ist sich als Nation zu fühlen. Es ist eines der großen Beispiele dieser Tage dafür, daß eine europäische Macht eine Waffe schmiedet, die ihr in Zukunft[167] aus der Hand gleiten und von anderen aufgehoben werden kann.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 167-168Spengler).

„Darin kann möglicherweise eine überraschende Wendung eintreten, wenn ein Kampf wieder beginnt, der uns seit dem Kriege aus dem Blick entschwunden ist, der vor dem Kriege aber schon in voller Unerbittlichkeit entbrannt war: der schweigende, zähe Kampf ohne Gnade zwischen der politischen Führung der Staaten und der internationalen Hochfinanz, die sie unterwerfen will. Es ist der Versuch, der auch in der römischen Welt vom zweiten punischen Kriege an bis in die Tage Cäsars den Kennern der Verhältnisse sehr fühlbar war und ist, die großen politischen Entscheidungen scheinbar zugunsten einzelner Völker stattfinden zu lassen, tatsächlich aber im Interesse einer nicht an Länder und Völker gebundenen Geldmacht, die, je nachdem sie den Staaten Kredit gewährt oder nicht, die Verschuldung der Staaten anerkennt und steigert oder nicht, die Macht der Staaten an der Börse unterwühlt oder hebt, die große Politik allmählich zu einem Gegenstand bankmäßiger Überlegungen und börsenmäßiger Spekulationen macht, die Kreditgewährung in eine Art von finanziellem Protektorat verwandelt und damit die Politik selbst in ein Geschäftsunternehmen.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 170-171Spengler).

„Ich brauche auf diese Dinge nicht weiter einzugehen, aber es ist sehr wichtig gerade für die allernächste Zeit, wenn die Politiker sich darüber klar werden, daß die Vereinigten Staaten niemals wirkliche Politik getrieben haben, sowenig sie ein eigentlicher Staat sind, sondern daß ihre Politik seit 1865 ohne Ausnahme von finanziellen Mächten im Hintergrunde gesteuert worden ist, vor dem Kriege, während des Krieges und vor allem jetzt, wo es sich darum handelt, das Ergebnis des Krieges in eine finanzielle Form zu bringen. Nicht die Industrie beherrscht die Politik, die Hochfinanz beherrscht sie beide. Es besteht die Tatsache, daß eine Verlagerung des Reparationsproblems aus einem Kampf zwischen politischen Mächten in einen Kampf zwischen politischen und finanziellen Mächten mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft plötzlich möglich und selbst wahrscheinlich geworden ist.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 171Spengler).

„Die Frage der Seebeherrschung ist die geheime und drückende Frage des ganzen 19. Jahrhunderts gewesen. Das ist um so merkwürdiger, als durch die ungeheuren Zahlen der stehenden Heere die Entscheidung offenbar auf dem Lande gesucht wurde. Aber gerade weil die Entscheidung dem leitenden Staatsmann hier eine so außerordentliche Verantwortung auflud, weil ihre Entwicklung völlig dunkel war und niemand mehr die Folgen einer Kriegserklärung übersehen konnte, begann seit 1870 die Neigung, dieser Tatsache dadurch auszuweichen, daß man die Entscheidung zur See in irgendeiner Form gewissermaßen vorwegnahm. Zunächst geschah es in der Weise, daß die schlagfertigen Flotten – ebenfalls eine Erscheinung, die diesem Jahrhundert eigentümlich ist – einander durch die Zahl der Einheiten zu überflügeln versuchten. Wir waren bei Ausbruch des Weltkrieges dahin gelangt, daß alle großen Staaten der Welt nicht nur durch fortgesetzte Vermehrung der Landformationen, sondern auch durch fortgesetzte Verstärkung der Schlachtgeschwader sich gegenseitig im Tempo der Rüstung zu überwinden suchten, die Entscheidung also nicht in den Kampf, sondern in die Vorbereitung desselben, in technische Erfindung und finanzielle Leistungsfähigkeit verlegten. Ich bin überzeugt, daß es im Grunde keiner Macht mit dem Gedanken an eine Seeschlacht so ernst gewesen ist, wie es beim Landheer mit den Operationsplänen der Generalstäbe selbstverständlich war. Denn kaum hatten die modernen Flotten die Ausrüstung erhalten, welche sie heute in den Grundzügen noch besitzen, als eine ganz andere Art von Wettbewerb auf dem Meere einsetzte. Die Wendung liegt in der Zeit des nordamerikanischen Bürgerkrieges. Damals sind im Kampf zwischen Nord- und Südstaaten binnen drei Jahren die Segelschiffe durch Dampfschiffe, die hölzernen Schiffe durch Panzer ersetzt worden, die leichte durch schwere und schwerste Artillerie, und zuletzt trat das Torpedoboot als neue Waffe hinzu. Gegen Ende des Krieges (1865) war die Schlachtflotte im wesentlichen so, wie sie 1914 noch war: mit schwersten Geschützen besetzte Panzerschiffe einheitlichen Typs.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 173-174Spengler).

„Aber inzwischen hatte der Wettlauf begonnen, von dem eben die Rede war, um die außerordentlich gefährliche und fragwürdige, nie recht erprobte Waffe nicht aufs Spiel zu setzen, sondern sie in einer Weise auszunützen, daß auch ohne Schlacht die Entscheidung sicher war. (Der Sieg Amerikas über Spanien und Japans über Rußland war zur See lediglich die Vernichtung einer minderwertigen und veralteten Flotte.) Es beginnt ein Wettrennen in allen Erdteilen um die Besetzung und Befestigung von Küstenstrecken, die sichere Stützpunkte für eine derartige Flotte bilden konnten, um Punkte also wie Malta, Aden, Singapur, Hongkong, Port Arthur, Hawaii, Panama, die Bermudas, aus der einfachen Überlegung, daß, wenn eine Macht in einem Meere diese Punkte sicher in der Hand hat, ein Seekrieg im voraus entschieden ist. Eine feindliche Flotte kann sich in diesen Gewässern überhaupt nicht halten. Das heißt, der Seekrieg wird vor Kriegsbeginn dadurch entschieden, daß man die Stützpunkte gegeneinander ausspielt. Das ist seit 1870 ein sehr wesentlicher Zug europäischer Kolonialpolitik gewesen.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 174-175Spengler).

„Bis dahin etwa konnte man sagen, daß bei der Besetzung von Küstenstrecken, namentlich Afrikas, wirtschaftliche Gesichtspunkte allein in Betracht kamen. Es handelte sich um die Gewinnung von Rohstoff- und Absatzgebieten. Daneben aber ging immer entschiedener und zielbewußter der Wille dahin, zunächst die Küstenpunkte in die Hand zu bekommen, welche im Fall eines Krieges strategisch in Betracht kamen, und als man in den neunziger Jahren sich mit dem Gedanken vertraut machte, China in Interessensphären europäischer Staaten aufzuteilen, spielten wirtschaftliche Erwägungen bei der Wahl der zu besetzenden Gebiete zunächst überhaupt keine Rolle mehr, der Gewinn von strategischen Punkten die einzige. In diesen Jahren sind Namen wie Port Arthur, Weihaiwei und Kiautschou wichtiger gewesen als die Kohlengebiete und die großen Handelsstädte. Das Ganze beruht auf einer strategischen Tatsache, die jetzt nicht mehr vorhanden ist, daß nämlich für den, der die Küste hat, das Hinterland ebenfalls ein gesicherter Besitz ist, denn es gab in Afrika und Asien keine einzige Macht, welche die Küsten vom Hinterland aus in ihrer Gewalt haben oder halten konnte. Afrika war wie gesagt ein bloßes Objekt der Politik, auch die Burenstaaten und Ägypten. Die Besetzung von Küsten bedeutete also den Besitz eines entsprechenden Einflußgebietes im Innern und damit war die Frage der wirtschaftlichen Bedeutung von selbst erledigt.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 175Spengler).

„Inzwischen hat sich hier eine Wandlung vollzogen. In demselben Maße, wie das Innere Afrikas eigene politische Ziele und Neigungen zu zeigen beginnt, wie in Südafrika, wo es erst jetzt wieder der Sturz des General Smuts durch Hertzog gezeigt hat, wie Indien immer deutlicher die Absicht erkennen läßt, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, und wie von Rußland her durch bolschewistische Agitation das ganze Innere Chinas aufgewühlt wird, in demselben Maße ist die Beherrschung der Küsten von beiden Seiten aus möglich geworden, der See oder dem Hinterland. Dann aber ist das Festland unter allen Umständen im Vorteil. Die Zeit der Seegeltung Englands neigt sich dem Ende zu. Und nun steht plötzlich, seit einer ganz kurzen Zahl von Jahren, die Möglichkeit vor uns, daß die größte Landmasse der Erde, der Block Europa-Asien-Afrika, das Schicksal der Welt militärisch in die Hand bekommt, und zwar durch binnenländische Machtlinien, so daß die angrenzenden Meere als die alten Herrschaftsgebiete Englands nicht mehr Träger der Entscheidung sind, sondern unter Umständen deren bloße Objekte.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 175-176Spengler).

„Die englische Seeherrschaft während des 19. Jahrhunderts beruhte darauf, daß der, welcher die See hatte, auch das Land besaß. Die Grenzen Englands waren tatsächlich die Küsten aller großen Meere. Es ist möglich, daß schon in der Mitte dieses Jahrhunderts das Verhältnis sich umgekehrt hat, daß also das Zeitalter der stehenden Flotten und des Wettbewerbs um die Küstenpunkte abgelöst wird durch ein andres, in welchem es sich darum handelt, die Küsten vom Binnenland aus mit Hilfe von Flugzeuggeschwadern und Unterseebootstationen unter Kontrolle zu halten und damit den Sinn einer Schlachtflotte aufzuheben. Der Begriff der Seeherrschaft würde damit von der Flotte auf das Festland verlegt werden.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 175-176Spengler).

„Vom Schicksal des inneren Asien läßt sich das Schicksal Rußlands nicht trennen, das heute wieder seelisch wie politisch zu Asien gehört, und auch hier zeigt sich, daß alle weltpolitischen Formen sich grundlegend geändert haben. Die russische Politik, wie wir sie vor dem Kriege als selbstverständlich empfanden, beruhte auf einem Gedanken, der ausschließlich im Kopfe Peters des Großen entstanden ist und der allem widerspricht, was bis dahin und darüber hinaus seelische Tradition des russischen Volkes gewesen war.3 Peter der Große wendete die Richtung der russischen Politik von Sibirien, dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer ausschließlich nach Westeuropa und der Ostsee hinüber. Von da an ist für zwei Jahrhunderte das ganze System der russischen Außenpolitik in den großen Gesandtschaftsposten der Weststaaten verankert. Was die Botschafter in Berlin, Wien, Paris und London ausführten, war die russische Politik. Es ist die Verwendung der Mittel »Asiens« für Ziele, die in Westeuropa lagen, und das System führt zu seinem größten Triumph gerade mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft, als Alexander I. als Protektor Europas in Paris einzieht und die heilige Allianz begründet, das heißt, die europäische Staatenwelt hinsichtlich ihrer Tradition unter russischen Schutz stellt.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 176-177Spengler).

„Der Bolschewismus in seiner ältesten Form, die man heute mit dem Namen Lenin bezeichnen darf und die nach meiner Überzeugung mit dem Tode Lenins abgeschlossen ist, hat daran nichts geändert. Der ursprüngliche Bolschewismus ist seiner ganzen Gedankenwelt nach und auch nach der Herkunft eines großen Teils seiner Träger europäisch, das heißt westeuropäisch. Er hat nichts daran geändert, daß Asien weiterhin als Mittel zu europäischen Zwecken eingesetzt wird. An Stelle der großen Botschafterposten, mit denen Petersburg arbeitete, ist die Gruppe der kommunistischen Parteien getreten, mit denen die Regierung in Moskau arbeitet, und der Gedanke der heiligen Allianz setzt sich fort im Gedanken einer Allianz des Proletariats der Westländer unter dem Sowjetstern. Es handelt sich nach wie vor darum, Westeuropa in irgendeiner Form russischen Interessen zu unterstellen und russische Ideen für dessen Völker nutzbar zu machen. Ich glaube, daß diese Richtung mit dem Tode Lenins abgeschlossen ist. Ich bin überzeugt, daß das russisch-asiatische Reich, so wie es sich 1917 geformt und wie es sich sechs Jahre lang gehalten hat, nicht weiter zu halten ist, und daß wir nicht, wie man vorübergehend annehmen mußte, mit einer langsamen Entwicklung von innen heraus zu rechnen haben, die aus dem heutigen Zustand eine tragfähige Ordnung macht, sondern daß neue Erschütterungen, religiöse, militärische, politische, wirtschaftliche, die man in Rußland nie voneinander trennen darf, über die russisch-asiatische Erde fortschreiten werden, Erschütterungen, die ebenso tief und vielleicht blutiger sind als die ersten, denn es taucht nun ganz leise eine Macht auf, die bis jetzt geschwiegen hat und deshalb nicht gesehen worden ist: das russische Bauerntum, das vor Peter dem Großen da war, das während der petrinischen Zeit schlief und wartete, während der Zeit Lenins schlief und wartete und heute in einer sehr tiefen religiösen Gärung erscheint, eine unabsehbare Menschenmasse, die im Begriff ist aufzuwachen. Es ist darunter nicht nur die Bauernschaft zu verstehen, die auf der schwarzen Erde sitzt, sondern das gesamte Volkstum, das seit vielen Jahrhunderten von der Weichsel bis nach Indien und China hin lebt, mag man es russisch, tartarisch oder mongolisch nennen, und über das alle geschichtlichen Ereignisse und Kulturen seit Dschingiskhan wie Schatten hinweggeglitten sind. Bis jetzt haben die russischen Heere mit ihr machen können, was sie wollten, aber man sah doch schon von Zeit zu Zeit eine religiöse Erregung aufleuchten, die im Auftreten heiliger Bauern und Propheten ihren Ausdruck fand und von der Regierung nach Möglichkeit unterdrückt worden ist.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 177-178Spengler).

„Man wird das Gefühl nicht los, daß diese im tiefsten antibolschewistische Regung dadurch, daß die Sowjetideen politisch und wirtschaftlich den Zauber eingebüßt haben, der ursprünglich an ihnen haftete, und noch mehr dadurch, daß man das furchtbare Leiden dieser sechs Jahre nicht mehr als Opfer für eine Sache, sondern als nutzloses Opfer zu empfinden beginnt, gestärkt wird und immer mehr Gestalt gewinnt, daß eine Explosion metaphysischer Inbrunst durch einen Führer, der irgendwie und irgendwo auftaucht, ganz plötzlich zu einer politischen Welle werden kann, die in wenigen Jahren das Antlitz Asiens unwiderstehlich und für immer verändert. Man muß sich darüber klar sein, daß die Zeit aufgehört hat, wo infolge des Gleichgewichts der Großmächte auch in Asien nur Heere europäischen Stils im Stande waren, wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Heute ist auf der ganzen Erde jede Art von politischer Macht und Tradition derartig zersetzt, daß verhältnismäßig sehr kleine Kräfte in der Lage sind, ganz außerordentliche Umwälzungen hervorzurufen.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 178-179Spengler).

„Eine derartige Möglichkeit hat einmal sehr nahe gelegen durch das Auftreten des Barons von Ungern-Sternberg in Turkestan, der 1920 eine gegen den Bolschewismus gerichtete Armee zusammenbrachte, mit der er nach kurzer Zeit Mittelasien fest in der Hand gehabt hätte. Dieser Mann hat die Bevölkerung weiter Gebiete bedingungslos an sich gefesselt, und wenn er gewollt hätte und den Bolschewisten seine Beseitigung nicht geglückt wäre, so läßt sich nicht absehen, wie das Bild Asiens sich heute bereits ausnehmen würde. Wenn in diesen Jahren ein solches Heer begeisterter Anhänger eines geborenen Führers, Abenteurers und Eroberers, wie auch Enver Pascha einer war, mit der Parole »Asien den Asiaten« aufbräche, so ist es gewiß, daß es weder in China noch in Indien ernsthafte Hindernisse fände. Uns klingt das märchenhaft, weil wir selbst Ähnliches nie erlebt haben, aber dergleichen hat es in der Geschichte mehr als einmal gegeben und der Zusammenbruch des Zarismus in dieser grauenhaften Form würde als Prophezeiung drei Jahre vorher der ganzen Welt wie der Traum eines Irrsinnigen erschienen sein.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 179Spengler).

„Wir haben zu bedenken, daß das einzige Hindernis für derartige Umwälzungen, das System der stehenden Heere, erschüttert und im Verschwinden begriffen ist. Die revolutionäre Stimmung aller Länder hat den Geist dieser Heere verwandelt.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 179Spengler).

„Im Weltkrieg haben nun die revolutionären Elemente der großen Städte reiche Erfahrungen darüber sammeln können, wie das Ergebnis einer bewaffneten Auseinandersetzung ausfallen würde. Der Krieg mit den zahlreichen Beschießungen und Eroberungen großer Städte ist die Probe dafür gewesen, wo die Grenzen der Wirkung regulärer Truppen im Straßenkampf liegen. Er hat jedermann gezeigt, daß unsre steinernen Großstädte bei geschickter Verteidigung auch durch schwächere Kräfte Objekte sind, die einem mit allen modernen Machtmitteln kämpfenden Heer zu erobern schwer und fast unmöglich ist, und damit ist plötzlich und zwar ohne Ausnahme in allen Ländern in den Köpfen der Menschen, die sich als revolutionär bezeichnen, wieder die Überzeugung aufgetaucht, daß man eine Revolution auf revolutionärem Wege durchführen kann.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 180Spengler).

„Wir treten jetzt in ein Zeitalter, wo auch die Außenpolitik in der Gestalt, die überpersönlich und seit Jahrhunderten herangewachsen ist und die wir irgendwie mit den Worten Legitimität, Verfassung, politische Tradition, diplomatischer Stil bezeichnen können, in Formen übergeht, die dem Charakter einzelner Persönlichkeiten entspringen. Von Rußland darf man sagen, daß die Sowjetrepublik die persönliche Form Lenins gewesen ist. In Südafrika war schon lange vor dem Krieg der Aufbau der Staatengruppe ein ganz persönlicher Ausdruck der Arbeitsweise von Cecil Rhodes gewesen. Und das heutige Italien entspricht dem persönlichen Geschmack Mussolinis. Es ist der Cäsarismus der Zukunft, der sich in diesen Erscheinungen meldet. Es beweist den tiefen Blick Metternichs in die Zukunft, wenn er im Jahre 1820 schrieb: »Ich bin entweder zu früh oder zu spät auf die Welt gekommen; jetzt fühle ich mich zu nichts gut. Früher hätte ich die Zeit genossen, später hätte ich dazu gedient, wieder aufzubauen; heute bringe ich mein Leben zu, die morschen Gebäude zu stützen. Ich hätte im Jahre 1900 geboren werden und das zwanzigste Jahrhundert vor mir haben sollen.« Und: »Mein geheimster Gedanke ist, daß das alte Europa am Anfang seines Endes ist. Ich werde, entschlossen, mit ihm unterzugehen, meine Pflicht zu tun wissen. – Das neue Europa ist andrerseits noch im Werden; zwischen Ende und Anfang wird es ein Chaos geben.«“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 182Spengler).

„Aber dies Schwinden der Tradition war in der Zeit Bismarcks und Gladstones noch nicht zur Katastrophe gereift. Damals hatte selbst die stärkste Persönlichkeit den ganz überwiegenden Teil ihrer Arbeitskraft und Energie darauf verwenden müssen, in den Fesseln und gegen die Widerstände einer Form zu arbeiten, die als solche unerschütterlich war, um trotz aller Hindernisse das angestrebte Ziel zu erreichen. Diese Widerstände sind heute nicht mehr vorhanden. Würde Bismarck heute regieren, so würde er seine Arbeitskraft wahrscheinlich ganz für sein Ziel und nicht vorwiegend für die Überwindung widerstrebender Traditionen einzusetzen haben. Die künftige Politik wird, ob man nun an England oder Rußland oder Japan oder andere Länder denkt, geführt werden, indem einzelne Menschen von Rang entweder vorhanden sind, und dann so arbeiten, wie es ihrem privaten Willen entspricht, oder nicht vorhanden sind; in diesem Falle wird trotz aller Machtmittel und aller verfassungsmäßigen Formen des Regierens das Schicksal eines Landes sich außerordentlich ernst gestalten.“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 182-183Spengler).

„Damit besteht für Deutschland in Zukunft eine wachsende Möglichkeit, durch das Auftauchen entscheidender Persönlichkeiten über alles, was jetzt hoffnungslos erscheint, hinweggeführt zu werden. In einem Zeitalter, wo es einzelne sind und nicht unpersönliche Formen, welche das Schicksal darstellen, kann auch ein besiegtes und halbvernichtetes Land über Nacht zu gewaltiger Bedeutung aufsteigen. Aber darüber läßt sich nur mit einem Worte Hamlets sprechen:
In Bereitschaft sein ist alles.
“ (Oswald Spengler, Neue Formen der Weltpolitik, 1924, in: Politische Schriften, S. 183Spengler).

 

NACH OBEN Anmerkungen:


NACH OBEN Quos Jupiter vult perdere dementat: „Wen Jupiter verderben will, dem raubt er den Verstand“.

 

 

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