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Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900)

Friedrich Wilhelm Nietzsche, 1899
1899

NACH OBEN Aus dem Nachlaß (u.a. auch: Nachgelassene Fragmente; herausgegeben von Karl Schlechta) Nietzsche

„Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben.“ (Friedrich Nietzsche, 1870).

„Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“ (Friedrich Nietzsche, 1870/’71, IX, 190).

„Die Kultur kann immer nur von der zentralisierenden Bedeutung einer Kunst oder eines Kunstwerkes ausgehn.“ (Friedrich Nietzsche, X, 188).

„Das ganz und gar Subjektive ist es, vermöge dessen wir Menschen sind. Es ist das angehäufte Erbgut, an dem alle Theil haben.“ (Friedrich Nietzsche, 1873, X).

„Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt zu einer gewissen Männlichkeit des Geschmacks; der Mann ist nämlich, mit Verlaub, »das unfruchtbare Tier«.“ (Friedrich Nietzsche, 1880).

„Wer sehr abweichend denkt und empfindet, geht zugrunde, er kann sich nicht fortpflanzen. Somit könnte es für den Grad der Individuation eine Grenze geben. In Zeiten, wo sie peinlich empfunden wird, wie in unserer (und wie in aller bisherigen moralischen Geschichte der Menschheit), vererbt sich der Trieb dazu schlecht. In Zeiten, wo sie lustvoll empfunden wird, übertreibt sie sich leicht und macht die äußerste Isolation (und verhindert dadurch die allgemeine Fruchtbarkeit der Menschheit). Je ähnlicher, desto mehr nimmt die Fruchtbarkeit zu, jeder trifft auf ein genügendes Weibchen: also Übervölkerung im Gefolge der Moral. Je unähnlicher, desto –“ (Friedrich Nietzsche, 1880).

„Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine kleine Sünde begeht: zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblickend, ob es Jemand bemerkt und daß es Jemand bemerkt ....“ (Friedrich Nietzsche, 1880).

„Grundsatz: das, was im Kampf mit den Tieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Tier.“ (Friedrich Nietzsche, Frühjahr 1884, 25 [428], KSA, 11, 125).

„Die verfluchte Volksseele! Wenn wir von deutschem Geiste reden, so meinen wir die deutschen grossen Geister, Luther, Goethe, Schiller und einige Andere, nicht den mythologischen Phantom der vereinigten Ungeistermasse, in der .... Besser wäre es schon, von lutherartigen Menschen usw. zu reden. Wir wollen vorsichtig sein, etwas deutsch zu nennen – zunächst ist es die Sprache, diese aber als Ausdruck des Volkscharacters zu fassen, ist eine reine Phrase und bis jetzt bei keinem Volke möglich gewesen, ohne fatale Unbestimmtheiten und Redensarten. Griechische Sprache und griechisches Volk! Das bringe Einer zusammen! Überdies steht es ähnlich wie bei der Schrift: das allerwichtigste Fundament der Sprache ist eben nicht griechisch, sondern wie man jetzt sagt, indogermanisch. Schon besser steht es mit Stil und Mensch. Von einem Volke Prädikate auszusagen, ist immer sehr gefährlich: zuletzt ist alles so gemischt, dass erst immer später eine Einheit wieder an der Sprache sich einfindet oder eine Illusion der Einheit sich an ihr einstellt. Ja Deutsche! Deutsches Reich! Das ist etwas, Deutschsprechende ist auch etwas. Aber Race-Deutsche! Das Deutsche als künstlerische Stileigenschaft ist erst noch zu finden, wie bei den Griechen der griechische Stil erst spät gefunden ist: eine frühere Einheit gab es nicht, wohl aber eine schreckliche krasiV.“ (Friedrich Nietzsche, 29 [47]).

„Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.“ (Friedrich Nietzsche, S. 194-195).

„Das Perspektivische ist die Grundbedingung alles Lebens.“ (Friedrich Nietzsche, VII, 4).

„Der Wahrhaftige endet damit, zu begreifen, daß er immer lügt.“ (Friedrich Nietzsche, XII, 293).

Viertes Buch: Dithyrambisch-umassend: ›Annulus aeternitas‹. Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben.« »Sils Maria, 26. August 1881.“ (Friedrich Nietzsche, XII, 427).

Gerechtigkeit als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise, aus den Wertschäzungen heraus: höchster Repräsentant des Lebens selber.“ (Friedrich Nietzsche, XIII, 42).

„Es gibt verhängnisvolle Worte, welche eine Erkenntnis auszudrücken scheinen und in Wahrheit eine Erkenntnis verhindern, zu ihnen gehört das Wort »Schein«, »Erscheinung«.“ (Friedrich Nietzsche, XIII, 50).

„»Schein«, wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge.“ (Friedrich Nietzsche, XIII, 50).

„Ich setze also nicht »Schein« in Gegensatz zur »Realität«, sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginigative »Wahrheits-Welt« widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre der Wille zur Macht, nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus.“ (Friedrich Nietzsche, XIII, 50).

„Das Wesentliche der organischen Wesen ist eine neue Auslegung des Geschehens: die perspektivische innere Vielheit, welche selber ein Geschehen ist.“ (Friedrich Nietzsche, XIII, 63).

„In der organischen Welt beginnt der Irrtum. Dinge, »Substanzen«, Eigenschaften, Tätig»keiten« - das alles soll man nicht in die organische Welt hineintragen! Es sind die spezifischen Irrtümer, vermöde deren die Organismen leben.“ (Friedrich Nietzsche, XIII, 69).

„Daß der Wille zur Macht es ist, der auch die unorganische Welt führt, oder vielmehr, daß es keine unorganische Welt gibt ....“ (Friedrich Nietzsche, 1885, XIII, 204 f.).

„Grundfrage, ob das Perspektivische zum Wesen gehört? und nicht nur eine Betrachtung, eine Realtion zwischen verschiedenen Wesen ist? Stehen die verschiedenen Kräfte in Relation, so daß diese Relation gebunden ist an Wahrnehmungs-Optik? Dies wäre möglich, wenn alles Sein essentiell etwas Wahrnehmendes wäre.“ (Friedrich Nietzsche, XIII, 227 f.).

„Mit der organischen Welt beginnt die Unbestimmtheit und der Schein.“ (Friedrich Nietzsche, XIII, 228).

„Über das Verhältnis der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt.“ (Friedrich Nietzsche, XIV, 368).

„Wille zur Wahrheit ist bereits ein Symptom der Entartung.“ (Friedrich Nietzsche, XIV, 368).

„Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, »metaphysischer« (d.h. dem Wesen des Seins entsprechender) als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein.“ (Friedrich Nietzsche, XIV, 369).

NACH OBEN Umwertung aller Werte (aus dem Nachlaß zusammengestellt; herausgegeben von Friedrich Würzbach) Nietzsche

1. BUCH. KRITIK DER HÖCHSTEN WERTE; GEMESSEN AM LEBEN.

5. Kapitel. Das christliche Ideal.

b. Das jüdische Ressentiment
(341)
Zum psychologischen Problem des Christentums. - Die treibende Kraft bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand de( Schlechtweggekommenen. (Mit dem Buddhismus steht es anders: er ist nicht geboren aus einer Ressentiments-Bewegung. Er bekämpft dasselbe, weil es zum Handeln antreibt.) Diese Friedenspartei begreift, daß Verzichtleisten auf Feindseligkeit in Gedanken und Tat eine Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist. Hierin liegt die psychologische Schwierigkeit, welche verhindert hat, daß man das Christentum verstand: der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung seiner selber.
Nur als Friedens- und Unschuldspartei hat diese Aufstandsbewegung elne Möglichkeit auf Erfolg: sie muß siegen durch die extreme Milde, Süßigkeit, Sanftmut, ihr Instinkt begreift das Kunststück: den Trieb, dessen Ausdruck man ist, leugnen, verurteilen, das Gegenstück dieses Triebes durch die Tat und das Wort beständig zur Schau tragen.
(342)
Das »christliche Ideal«: jüdisch klug in Szene gesetzt. Die psychologischen Grundtriebe, seine »Natur«: der Aufstand gegen die herrschende geistliche Macht; Versuch, die Tugenden, unter denen das Glück der Niedrigsten möglich ist, zum richterlichen Ideal aller Werte zu machen, - es Gott zu heißen: der Erhaltungs-Instinkt der lebensärmsten Schichten; die absolute Enthaltung von Krieg und Widerstand aus dem Ideal zu rechtfertigen, - insgleichen den Gehorsam; die Liebe untereinander, als Folge der Liebe zu Gott. Kunstgriff: alle natürlichen mobilia ableugnen und umkehren ins Geistlich-Jenseitige ..., die Tugend und deren Verehrung ganz und gar für sich ausnützen, schrittweise sie allem Nicht-Christlichen absprechen.
(343)
Die Realität, auf der das Christentum sich aufbauen konnte, war die kleine jüdische Familie der Diaspora, mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit, mit ihrer im ganzen römischen Reiche unerhörten und vielleicht unverstandenen Bereitschaft zum Helfen, Einstehen füreinander, mit ihrem verborgenen und in Demut verkleideten Stolz der »Auserwählten«, mit ihrem innerlichsten Neinsagen ohne Neid zu allem, was obenauf ist und was Glanz und Macht für sich hat. Das als Macht erkannt zu haben, diesen seligen Zustand als mitteilsam, verführerisch, ansteckend auch für Heiden erkannt zu haben - ist das Genie des Paulus: den Schatz von latenter Energie, von klugem Glück auszunützen zu einer »jüdischen Kirche freieren Bekenntnisses«, die ganze jüdische Erfahrung und Meisterschaft der Gemeinde-Selbsterhaltung unter der Fremdherrschaft, auch die jüdische Propaganda - das erriet er als seine Aufgabe. Was er vorfand, das war eben jene absolut unpolitische und abseits gestellte Art kleiner Leute: ihre Kunst, sich zu behaupten und durchzusetzen, in einer Anzahl Tugenden angezüchtet, welche den einzigen Sinn von Tugend ausdrückten (»Mittel der Erhaltung und Steigerung einer bestimmten Art Mensch«).
Aus der kleinen jüdischen Gemeinde kommt das Prinzip der Liebe her: es ist eine leidenschaftlichere Seele, die hier unter der Asche von Demut und Armseligkeit glüht: so war es weder griechisch, noch indisch, noch gar germanisch. Das Lied zu Ehren der Liebe, welches Paulus gedichtet hat, ist nichts Christliches, sondern ein jüdisches Auflodern der ewigen Flamme, die semitisch ist. Wenn das Christentum etwas Wesentliches in psychologischer Hinsicht getan hat, so ist es eine Erhöhung der Temperatur der Seele bei jenen kälteren und vornehmeren Rassen, die damals obenauf waren; es war die Entdeckung, daß das elendeste Leben reich und unschätzbar werden kann durch eine Temperatur-Erhöhung.
Es versteht sich, daß eine solche Uebertragung nicht stattfinden konnte in Hinsicht auf die herrschenden Stände: die Juden und Christen hatten die schlechten Manieren gegen sich, - und was Stärke und Leidenschaft der Seele bei schlechten Manieren ist, das wirkt abstoßend und beinahe Ekel erregend (- ich sehe diese schlechten Manieren, wenn ich das Neue Testament lese). Man mußte durch Niedrigkeit und Not mit dem hier redenden Typus des niederen Volkes verwandt sein, um das Anziehende zu empfinden .... Es ist eine Probe davon, ob man etwas klassischen Geschmack im Leibe hat, wie man zum Neuen Testament steht (vergl. Tacitus); wer davon nicht revoltiert ist, wer dabei nicht ehrlich und gründlich etwas von foeda superstitio empfindet, etwas, wovon man die Hand zurückzieht, wie um nicht sich zu beschmutzen: der weiß nicht, was klassisch ist. Man muß das »Kreuz« empfinden wie Goethe.
(344)
Man lese einmal das Neue Testament als Verführungs-Buch: die Tugend wird in Beschlag genommen, im Instinkt, daß man mit ihr die öffentliche Meinung für sich einnimmt, - und zwar die allerbescheidenste Tugend, welche das ideale Herdenschaf anerkennt und nichts weiter (den Schafhirten eingerechnet -): eine kleine, zärtliche, wohlwollende, hilfreiche und schwärmerisch-vergnügte Art Tugend, welche nach außen hin absolut anspruchslos ist, welche »die Welt« gegen sich abgrenzt. Der unsinnigste Dünkel, als ob sich das Schicksal der Menschheit dergestalt um sie drehe, daß die Gemeinde auf der einen Seite das Rechte und die Welt auf der andern Seite das Falsche, das ewig- Verwerfliche und Verworfene sei. Der unsinnigste Haß gegen alles, was in der Macht ist: aber ohne daran zu rühren! Eine Art von innerlicher Loslösung, welche äußerlich alles beim alten läßt (Dienstbarkeit und Sklaverei; aus allem sich ein Mittel zum Dienste Gottes und der Tugend zu machen wissen).
(345)
Im Neuen Testament, speziell in den Evangelien höre ich durchaus nichts »Göttliches« reden: vielmehr eine indirekte Form der abgründlichsten Verleumdungs- und Vernichtungswut - eine der unehrlichsten Formen des Hasses. Es fehlt alle Kenntnis der Eigenschaften einer höheren Natur. Ungescheuter Mißbrauch aller Art Biedermännerei; der ganze Schatz von Sprichwörtern ist ausgenützt und angemaßt; war es nötig, daß ein Gott kommt, um jenen Zöllnern zu sagen usw..
Nichts ist gewöhnlicher als dieser Kampf gegen die Pharisäer mit Hilfe einer absurden und unpraktischen Moral-Scheinbarkeit; an solchem tour de force hat das Volk immer sein Vergnügen gehabt. Vorwurf der »Heuchelei«! aus diesem Munde! Nichts ist gewöhnlicher als diese Behandlung der Gegner - ein Indizium verfänglichster Art für Vornehmheit oder nicht.
(346)
Nichts ist weniger unschuldig als das Neue Testament. Man weiß, auf welchem Boden es gewachsen ist. Dies Volk, mit einem unerbittlichen Willen zu sich selbst, das sich, nachdem es jeden natürlichen Halt verloren und sein Recht auf Dasein längst eingebüßt hatte, dennoch durchzusetzen wußte und dazu nötig hatte, sich ganz und gar auf unnatürliche, rein imaginäre Voraussetzungen (als auserwähltes Volk, als Gemeinde der Heiligen, als Volk der Verheißung, als »Kirche«) aufzubauen: dies Volk handhabte die pia fraus mit einer Vollendung, mit einem Grad »guten Gewissens«, daß man nicht vorsichtig genug sein kann, wenn es Moral predigt. Wenn Juden als die Unschuld selber auftreten, da ist die Gefahr groß geworden: man soll seinen kleinen Fond Verstand, Mißtrauen, Bosheit immer in der Hand haben, wenn man das Neue Testament liest.
Leute niedrigster Herkunft, zum Teil Gesindel, die Ausgestoßenen nicht nur der guten, sondern auch der achtbaren Gesellschaft, abseits selbst vom Geruche der Kultur aufgewachsen, ohne Zucht, ohne Wissen, ohne jede Ahnung davon, daß es in geistigen Dingen Gewissen geben könnte, eben - Juden: instinktiv klug, mit allen abergläubischen Voraussetzungen, mit der Unwissenheit selbst, einen Vorzug, eine Verführung zu schaffen.
(347)
Die tiefe Verachtung, mit der der Christ in der vornehm gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört ebendahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne, linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden.
Das Neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Wert zu haben, ja allen Wert zu haben, hat in der Tat etwas Empörendes, - auch heute noch.
(348)
Der Krieg gegen die Vornehmen und Mächtigen, wie er im Neuen Testament geführt wird, ist ein Krieg wie der des Reineke und mit gleichen Mitteln: nur immer in priesterlicher Salbung und in entschiedener Ablehnung, um seine eigene Schlauheit zu wissen.
(349)
Die jüdische Priesterschaft hatte verstanden, alles was sie beanspruchte, als eine göttliche Satzung, als Folgeleistung gegen ein Gebot Gottes zu präsentieren ..., insgleichen, was dazu diente, Israel zu erhalten, seine Existenz-Ermöglichung (z. B. eine Summe von Werken: Beschneidung, Opferkult als Zentrum des nationalen Bewußtseins) nicht als Natur, sondern als »Gott« einzuführen. - Dieser Prozeß setzt sich fort; innerhalb des Judentums, wo die Notwendigkeit der »Werke« nicht empfunden wurde (nämlich als Abscheidung gegen außen), konnte eine priesterliche Art Mensch konzipiert werden, die sich verhält wie die »vornehme Natur« zum Aristokraten; eine kastenlose und gleichsam spontane Priesterhaftigkeit der Seele, welche nun, um ihren Gegensatz scharf von sich abzuheben, nicht auf die »Werke«, sondern die »Gesinnung« den Wert legte.
Im Grunde handelte es sich wieder darum, eine bestimmte Art von Seele durchzusetzen: gleichsam ein Volks-Aufstand innerhalb eines priesterlichen Volkes, - eine pietistische Bewegung von unten (Sünder, Zöllner, Weiber, Kranke). Jesus von Nazareth war das Zeichen, an dem sie sich erkannten. Und wieder, um an sich glauben zu können, brauchen sie eine theologische Transfiguration: nichts Geringeres als »der Sohn Gottes« tut ihnen not, um sich Glauben zu schaffen. .... Und genau so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier umzufälschen, damit das Christentum als sein kardinalstes Ereignis erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judentums entstehen: dessen Haupttat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu reduzieren: davon ist das Christentum die zweite Potenz.
(350)
Dies war die verhängnisvollste Art Größenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: - wenn diese verlogenen kleinen Mißgeburten von Muckern anfangen, die Worte »Gott«, »Jüngstes Gericht«, »Wahrheit«, »Liebe«, »Weisheit«, »Heiliger Geist« für sich in Anspruch zu nehmen und sich damit gegen »die Welt« abzugrenzen, wenn diese Art Mensch anfängt, die Werte nach sich umzudrehen, wie als ob sie der Sinn, das Salz, das Maß und Gewicht vom ganzen Rest wären: so sollte man ihnen Irrenhäuser bauen und nichts weiter tun. Daß man sie verfolgte, das war eine antike Dummheit großen Stils: damit nahm man sie zu ernst, damit machte man aus ihnen einen Ernst.
Das ganze Verhängnis war dadurch ermöglicht, daß schon eine verwandte Art von Größenwahn in der Welt war, der jüdische (- nachdem einmal die Kluft zwischen den Juden und den Christen-Juden aufgerissen, mußten die Christen-Juden die Prozedur der Selbsterhaltung, welche der jüdische Instinkt erfunden hatte, nochmals und in einer letzten Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung anwenden -); andererseits dadurch, daß die griechische Philosophie der Moral alles getan hatte, um einen Moral-Fanatismus selbst unter Griechen und Römern vorzubereiten und schmackhaft zu machen .... Plato, die große Zwischenbrücke der Verderbnis, der zuerst die Natur in der Moral nicht verstehen wollte, der bereits die griechischen Götter mit seinem Begriff »gut« entwertet hatte, der bereits jüdisch-angemuckert war (- in Aegypten?).
(351)
Die psychologische Voraussetzung: die Unwissenheit und Unkultur, die Ignoranz, die jede Scham verlernt hat: man denke sich diese unverschämten Heiligen mitten in Athen;
: der jüdische »Auserwählten«-Instinkt: sie nehmen alle Tugenden ohne weiteres für sich in Anspruch und rechnen den Rest der Welt als ihren Gegensatz; tiefes Zeichen der Gemeinheit der Seele;
: der vollkommene Mangel an wirklichen Zielen, an wirklichen Aufgaben, zu denen man andere Tugenden als die der Mucker braucht, - der Staat nahm ihnen diese Arbeit ab: das unverschämte Volk tat trotzdem, als ob sie ihn nicht nötig hätten.
»So ihr nicht werdet wie die Kinder -«: oh wie fern wir von dieser psychologischen Naivität sind !
(352)
Die tiefe Unwürdigkeit, mit der alles Leben außerhalb des christlichen beurteilt wird: es genügt ihnen nicht, ihre eigentlichen Gegner sich gemein zu denken, sie brauchen nichts weniger als eine Gesamtverleumdung von allem, was nicht sie sind .... Mit der Arroganz der Heiligkeit verträgt sich aufs beste eine niederträchtige und verschmitzte Seele: Zeugnis die ersten Christen.
Die Zukunft: sie lassen es sich tüchtig bezahlen. .... Es ist die unsauberste Art Geist, die es gibt: Das ganze Leben Christi wird so dargestellt, daß er den Weissagungen zum Recht verhilft: er handelt so, damit sie Recht bekommen.
(353)
Das Christentum als emanzipiertes Judentum (in gleicher Weise wie eine lokal und rassenmäßig bedingte Vornehmheit endlich sich von diesen Bedingungen emanzipiert und nach verwandten Elementen suchen geht ...).
1. als Kirche (Gemeinde) auf dem Boden des Staates, als unpolitisches Gebilde;
2. als Leben, Zucht, Praxis, Lebenskunst;
3. als Religion der Sünde (des Vergehens an Gott als einziger Art der Vergehung, als einziger Ursache alles Leidens überhaupt), mit einem Universalmittel gegen sie. Es gibt nur an Gott Sünde; was gegen die Menschen gefehlt ist, darüber soll der Mensch nicht richten, noch Rechenschaft fordern, es sei denn im Namen Gottes. Insgleichen alle Gebote (Liebe): Alles ist angeknüpft an Gott, und um Gottes Willen wird es am Menschen getan. Darin steckt eine hohe Klugheit (- das Leben in großer Enge, wie bei den Eskimos, ist nur erträglich bei der friedfertigsten und nachsichtigsten Gesinnung: das jüdisch-christliche Dogma wendete sich gegen die Sünde, zum Besten des »Sünders« -).
(354)
Diese kleinen Herdentier-Tugenden führen ganz und gar nicht zum »ewigen Leben«: sie dergestalt in Szene setzen, und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für den, der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotz alledem das lächerlichste aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit gebracht hat; man bleibt damit, günstigen Falls, immer bloß ein kleines, liebes, absurdes Schaf mit Hörnern - vorausgesetzt, daß man nicht vor Eitelkeit platzt und durch richterliche Attitüden skandalisiert.
Die ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminiert werden - wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten !
Die natürliche Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich verschwiegen; sie ist nur in Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches Vorbild wertvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und geistliche Güter. (Prachtvoll : als ob sich’s ums »Heil der Seele« handelte: aber es war ein Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen »auszuhalten«).“ (Friedrich Nietzsche, ebd., Band 1, 206-212).

c. Das Christentum als Verfallsform der alten Welt
(355)
Die angebliche Jugend. - Man betrügt sich, wenn man hier von einem naiven und jungen Volks-Dasein träumt, das sich gegen eine alte Kultur abhebt; es geht der Aberglaube, als ob in diesen Schichten des niedersten Volkes, wo das Christentum wuchs und Wurzeln schlug, die tiefere Quelle des Lebens wieder emporgesprudelt sei: man versteht nichts von der Psychologie der Christlichkeit, wenn man sie als Ausdruck einer neu heraufkommenden Volks-Jugend und Rassen-Verstärkung nimmt. Vielmehr: es ist eine typische décadence-Form, die Moral-Verzärtlichung und Hysterie in einer müde und ziellos gewordenen, krankhaften Mischmasch-Bevölkerung. Diese wunderliche Gesellschaft, welche hier um diesen Meister der Volks-Verführung sich zusammenfand, gehört eigentlich samt und sonders in einen russischen Roman: alle Nervenkrankheiten geben sich bei ihnen ein Rendezvous ..., die Abwesenheit von Aufgaben, der Instinkt, daß alles eigentlich am Ende sei, daß sich nichts mehr lohne, die Zufriedenheit in einem dolce far niente.
Die Macht und Zukunfts-Gewißheit des jüdischen Instinkts, das Ungeheure seines zähen Willens zu Dasein und Macht liegt in seiner herrschenden Klasse; die Schichten, welche das junge Christentum emporhebt, sind durch nichts schärfer gezeichnet, als durch die Instinkt-Ermüdung. Man hat es satt: das ist das eine und man ist zufrieden, bei sich, in sich, für sich - das ist das andere.
(356)
Diese nihilistische Religion sucht sich die décadence-Elemente und Verwandtes im Altertum zusammen; nämlich:
a) die Partei der Schwachen und Mißratenen (den Ausschuß der antiken Welt: Das, was sie am kräftigsten von sich stieß ...);
b) die Partei der Vermoralisierten und Antiheidnischen;
c) die Partei der Politisch-Ermüdeten und Indifferenten (blasierte Römer ...), der Entnationalisierten, denen eine Leere geblieben war;
d) die Partei derer, die sich satt haben, - die gern an einer unterirdischen Verschwörung mitarbeiten.
(357)
Die große Lüge in der Historie: als ob es die Verderbnis des Heidentums gewesen wäre, die dem Christentum die Bahn gemacht habe! Aber es war die Schwächung und Vermoralisierung des antiken Menschen! Die Umdeutung der Naturtriebe in Laster war schon vorhergegangen !
(358)
Der Kampf gegen den »alten Glauben«, wie ihn Epikur unternahm, war, im strengen Sinne, der Kampf gegen das präexistente Christentum, - der Kampf gegen die bereits verdüsterte, vermoralisierte, mit Schuldgefühlen durchsäuerte, alt und krank gewordene alte Welt.
Nicht die »Sittenverderbnis« des Altertums, sondern gerade seine Vermoralisierung ist die Voraussetzung, unter der allein das Christentum über dasselbe Herr werden konnte. Der Moral-Fanatismus (kurz: Plato) hat das Heidentum zerstört, indem er seine Werte umwertete und seiner Unschuld Gift zu trinken gab. - Wir sollten endlich begreifen, daß, was da zerstört wurde, das Höhere war, im Vergleich mit dem, was Herr wurde! -Das Christentum ist aus der psychologischen Verderbnis gewachsen, hat nur auf verderbtem Boden Wurzel gefaßt.
(359)
Das Christentum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen die vornehme Religion bestand.
Tatsächlich ist diese ganze Umbildung eine Uebersetzung in die Bedürfnisse und das Verständnis-Niveau der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos, die »große Mutter« glaubte und welche von einer Religion verlangte: 1. die Jenseits-Hoffnung, 2. die blutige Phantasmagorie des Opfertiers (das Mysterium), 3. die erlösende Tat, die heilige Legende, 4. den Asketismus, die Weltverneinung, die abergläubische »Reinigung«, 5. die Hierarchie, eine Form der Gemeindebildung. Kurz: das Christentum paßt sich an das schon bestehende, überall eingewachsene Anti-Heidentum an, an die Kulte, welche von Epikur bekämpft worden sind ..., genauer, an die Religionen der niederen Masse, der Frauen, der Sklaven, der nichtvornehmen Stände.
Wir haben also als Mißverständnis:
1. die Unsterblichkeit der Person;
2. die angebliche andere Welt;
3. die Absurdität des Strafbegriffs und Sühnebegriffs im Zentrum der Daseins-Interpretation;
4. die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung, die Aufreißung der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder, nur die Prostration der tiefsten Selbstverachtung hinweghilft;
5. die ganze Welt der verdorbenen Imagination und des krankhaften Affekts, statt der liebevollen, einfältigen Praxis, statt eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes;
6. eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte;
7. das Wunder in allem und jedem, der Aberglaube: während gerade das Auszeichnende des Judentums und des ältesten Christentums sein Widerwille gegen das Wunder ist, seine relative Rationalität.
(360)
Das Christentum ist ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung, mitten aus dem eigentlichen Herde des Ressentiments heraus ..., aber durch Paulus zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen staatlichen Organisation vertragen lernt ..., und Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört, haßt.
Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfnis der großen, religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die uriio mystica mit dem »Opfer«.
Er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der Einzelseele) als Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer zu bringen (nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris). Er hat nötig, den Begriff Schuld und Sünde in den Vordergrund zu bringen, nicht eine neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte), sondern einen neuen Kultus, einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche Verwandlung (»Erlösung« durch den Glauben).
Er hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert, überall das Schwergewicht verlegt ..., er hat prinzipiell das ursprüngliche Christentum annulliert.
Das Attentat auf Priester und Theologen mündete, dank dem Paulus, in eine neue Priesterschaft und Theologie - einen herrschenden Stand, auch eine Kirche.
Das Attentat auf die übermäßige Wichtigtuerei der »Person« mündete in den Glauben an die »ewige Person« (in die Sorge ums »ewige Heil« ...), in die paradoxeste Uebertreibung des Personal-Egoismus.
Das ist der Humor der Sache, ein tragischer Humor: Paulus hat gerade das im großen Stile wieder aufgerichtet, was Christus durch sein Leben annulliert hatte. Endlich, als die Kirche fertig ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion.
(361)
Paulus: er sucht Macht gegen das regierende Judentum, - seine Bewegung ist zu schwach .... Umwertung des Begriffes »Jude«: die »Rasse« wird beiseite getan -: aber das hieß das Fundament negieren. Der »Märtyrer«, der »Fanatiker«, der Wert alles starken Glaubens.
Das Christentum ist die Verfalls-Form der alten Welt in tiefster Ohnmacht, sodaß die kränksten und ungesündesten Schichten und Bedürfnisse obenauf kommen.
Folglich mußten andere Instinkte in den Vordergrund treten, um eine Einheit, eine sich wehrende Macht zu schaffen - kurz eine Art Notlage war nötig, wie jene, aus der die Juden ihren Instinkt zur Selbsterhaltung genommen hatten.
Unschätzbar sind hierfür die Christen-Verfolgungen - die Gemeinsamkeit in der Gefahr, die Massen-Bekehrungen als einziges Mittel, den Privat-Verfolgungen ein Ende zu machen (- er nimmt es folglich so leicht als möglich mit dem Begriff »Bekehrung«).
(362)
Ueber das Christentum Herr geworden: der Judaismus (Paulus); der Platonismus (Augustin); die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des »Kreuzes«); der Asketismus (-Feindschaft gegen die »Natur«, »Vernunft«, »Sinne«, - Orient ...).
(363)
Das »Christentum« ist etwas Grundverschiedenes von dem geworden, was sein Stifter tat und wollte. Es ist die große anti-heidnische Bewegung des Altertums, formuliert mit Benutzung von Leben, Lehre und »Worten« des Stifters des Christentums, aber in einer absolut willkürlichen Interpretation nach dem Schema grundverschiedener Bedürfnisse: übersetzt in die Sprache aller schon bestehenden unterirdischen Religionen.
Es ist die Heraufkunft des Pessimismus (- während Jesus den Frieden und das Glück der Lämmer bringen wollte): und zwar des Pessimismus der Schwachen, der Unterlegenen, der Leiden. den, der Unterdrückten.
Ihr Todfeind ist 1. die Macht in Charakter, Geist und Geschmack; die »Weltlichkeit«; 2. das klassische »Glück , die vornehme Leichtfertigkeit und Skepsis, der harte Stolz, die exzentrische Ausschweifung und die kühle Selbstgenügsamkeit des Weisen, das griechische Raffinement in Gebärde, Wort und Form. Ihr Todfeind ist der Römer ebensosehr als der Grieche.
Versuch des Antiheidentums, sich philosophisch zu begründen und möglich zu machen: Witterung für die zweideutigen Figuren der alten Kultur, vor allem für Plato, diesen Antihellenen und Semiten von Instinkt. .... Insgleichen für den Stoizismus, der wesentlich das Werk von Semiten ist (- die »Würde« als Strenge, Gesetz, die Tugend als Größe, Selbstverantwortung, Autorität, als höchste Personal-Souveränität - das ist semitisch. Der Stoiker ist ein arabischer Scheich in griechische Windeln und Begriffe gewickelt).
(364)
Das christlich-jüdische Leben: hier überwog nicht das Ressentiment. Erst die großen Verfolgungen mögen die Leidenschaft dergestalt herausgetrieben haben - sowohl die Glut der Liebe, als die des Hasses.
Wenn man für seinen Glauben seine Liebsten geopfert sieht, dann wird man aggressiv; man verdankt den Sieg des Christentums seinen Verfolgern.
Die Asketik im Christentum ist nicht spezifisch: das hat Schopenhauer mißverstanden: sie wächst nur in das Christentum hinein: überall dort, wo es auch ohne Christentum Asketik gibt.
Das hypochondrische Christentum, die Gewissens-Tierquälerei und -Folterung ist insgleichen nur einem gewissen Boden zugehörig, auf dem christliche Werte Wurzel geschlagen haben: es ist nicht das Christentum selbst. Das Christentum hat alle Art, Krankheiten morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine Ansteckung zu wehren wußte. Aber eben das ist sein Wesen: Christentum ist ein Typus der décadence.“ (Friedrich Nietzsche, ebd., Band 1, 212-217).

d. Das Zerbrechen der Starken
(365)
Anti-Darwin. - Was mich beim Ueberblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehen von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zu Gunsten der Stärkeren, Besser-Weggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der untermittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zu Gunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statt hat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, die Ueberzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt der Welt der Wertezeigt, daß in den obersten Werten, die über der Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen, die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, - vielleicht gibt es nichts Interessanteres in der Welt, als dieses unerwünschte Schauspiel.
So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich-Belasteten. Will man die Realität zur Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren sind mehr wert, als die Ausnahmen; die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben - und das Gesamtziel ist, nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: »besser nicht sein, als sein«.
Gegen die Formulierung der Realität zur Moral empöre ich mich: deshalb perhorresziere ich das Christentum mit einem tödlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts, der Tugend, der Göttlichkeit zu geben.
Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als ihn die Schule Darwins lehrt, - nämlich ich sehe überall die obenauf, die übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren. - Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein, um gerade hier falsch zu sehen?
Daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt. Ich sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List im Uebergewicht sind, - ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für eine so lange Zeit: diese wäre wieder ein neues Motiv, zu erklären, warum eine zufällige Veränderung derartig stark geworden ist.
Ich finde die »Grausamkeit der Natur«, von der man so viel redet, an einer andern Stelle: sie ist grausam gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles.
In summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantiert, als durch die Präponderanz der mittleren und niederen Typen. .... In letzteren ist die große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung.
(366)
Ich liebe es durchaus nicht an jenem Jesus von Nazareth oder an seinem Apostel Paulus, daß sie den kleinen Leuten so viel in den Kopf gesetzt haben, als ob es etwas auf sich habe mit ihren bescheidenen Tugenden. Man hat es zu teuer bezahlen müssen: denn sie haben die wertvolleren Qualitäten von Tugend und Mensch in Verruf gebracht, sie haben das schlechte Gewissen und das Selbstgefühl der vornehmen Seele gegeneinander gesetzt, sie haben die tapfern, großmütigen, verwegenen, exzessiven Neigungen der starken Seele irregeleitet, bis zur Selbstzerstörung.
(367)
Wir haben das christliche Ideal wieder hergestellt: es bleibt übrig, seinen Wert zu bestimmen:
1. Welche Werte werden durch dasselbe negiert? Was enthält das Gegensatz-Ideal? - Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den Uebermut, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis-; das vornehme Ideal wird negiert : Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele setzende, det »zukünftige« Mensch (-hier ergibt sich die Christlichkeit als Schlußfolgerung des Judentums -).
2. Ist es realisierbar? -Ja, doch klimatisch bedingt ähnlich wie das indische. Beiden fehlt die Arbeit. - Es löst heraus aus Volk, Staat, Kulturgemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das Wissen, die Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den Handel ab ..., es löst alles ab, was den Nutzen und Wert des Menschen ausmacht - es schließt ihn durch eine Gefühls-Idiosynkrasie ab. Unpolitisch, antinational, weder aggressiv, noch defensiv, - nur möglich innerhalb des festgeordnetsten Staats- und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen Parasiten auf allgemeine Unkosten wuchern läßt.
3. Es bleibt eine Konsequenz des Willens zur Lust - und zu nichts weiter! Die »Seligkeit« gilt als etwas, das sich selbst beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht, - alles übrige (die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck.
Aber das ist niedrig gedacht: die Furcht vor dem Schmerz, vor er Verunreinigung, vor der Verderbnis selbst als ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen. .... Dies ist eine arme Denkweise. .... Zeichen einer erschöpften Rasse. .... Man soll sich nicht täuschen assen. (»Werdet wie die Kinder« -. Die verwandte Natur: Franz von Assisi, neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus.)
(368)
Der ganze christliche Buß- und Erlösungs-training kann aufgeaßt werden als eine willkürlich erzeugte folie circulaire: wie billig nur in bereits prädestinierten, nämlich morbid angelegten Individuen erzeugbar.
(369)
A. In dem Maße, in dem heute das Christentum noch nötig ercheint, ist der Mensch noch wüst und verhängnisvoll.
B. In anderem Betracht ist es nicht nötig, sondern extrem schädlich, wirkt aber anziehend und verführend, weil es dem morbiden Charakter ganzer Schichten, ganzer Typen der jetzigen Menschheit entspricht ..., sie geben ihrem Hange nach, indem sie christlich aspirieren - die décadents aller Art.
Man hat hier zwischen A und B streng zu scheiden. Im Fall A ist Christentum ein Heilmittel, mindestens ein Bändigungsmittel (- es dient unter Umständen, krank zu machen: was nützlich sein kann, um die Wüstheit und Roheit zu brechen). Im Fall B ist es ein Symptom der Krankheit selbst, vermehrt die décadence; hier wirkt es einem korroborierenden System der Behandlung entgegen, hier ist es der Kranken-Instinkt gegen das, was ihm heilsam ist.“ (Friedrich Nietzsche, ebd., Band 1, 217-220).

 

 

 

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