Morgenröte (Gedanken
über die Moral als Vorurteil), 1881 
Vorrede
»Es
gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben.« (Rigveda).
(Ebd., 1881, Leitspruch).In diesem Buche findet man einen »Unterirdischen«
an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt,
daß man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat , wie er langsam,
besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne daß die
Not sich allzusehr verriete, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit
sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen.
Scheint es nicht, daß irgendein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt?
Daß er vielleicht seine eigne lange Finsternis haben will, sein Unverständliches,
Verborgenes, Rätselhaftes, weil er weiß, was er auch haben wird: seinen
eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Morgenröte?
Gewiß, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will,
er wird es euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische,
wenn er erst wieder »Mensch geworden« ist. Man verlernt gründlich
das Schweigen, wenn man so lange, wie er, Maulwurf war, allein war. (Ebd.,
1881, Vorrede, S. 5).Es ist bisher am schlechtesten über Gut
und Böse nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefährliche Sache.
Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei
erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben,
wie angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden:
hier wird gehorcht! So lang die Welt steht, war noch keine Autorität
willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisieren,
die Moral als Problem, als problematisch nehmen: wie? war das nicht
ist das nicht unmoralisch? (Ebd., 1881, Vorrede, S. 6-7).Aber
die Moral gebietet nicht nur über jede Art von Schreckmitteln, um sich kritische
Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten: ihre Sicherheit liegt noch
mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht,
sie weiß zu »begeistern«. Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen
Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulocken,
ja es gibt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiß: so daß
er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht.
(Ebd., 1881, Vorrede, S. 7).Die Moral versteht sich eben von alters
her auf jede Teufelei von Überredungskunst: es gibt keinen Redner, auch heute
noch, der sie nicht um ihre Hilfe anginge (man höre zum Beispiel selbst unsere
Anarchisten reden: wie moralisch reden sie, um zu überreden! Zuletzt heißen
sie sich selbst noch gar »die Guten und Gerechten«.) Die Moral hat
sich eben von jeher, so lange auf Erden geredet und überredet worden ist,
als die größte Meisterin der Verführung bewiesen und, was
uns Philosophen angeht, als die eigentliche Circe der Philosophen.
(Ebd., 1881, Vorrede, S. 7).Woran liegt es doch, daß von
Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben? Daß
alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und
ernsthaft für aere perennius hielten? Oh wie falsch ist die Antwort,
welche man jetzt noch auf diese Frage bereithält, »weil von ihnen allen
die Voraussetzung versäumt war, die Prüfung des Fundamentes, eine Kritik
der gesamten Vernunft« jene verhängnisvolle Antwort Kants, der
damit uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger
trüglichen Boden gelockt hat! ( und nachträglich gefragt, war
es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, daß ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit
und Tauglichkeit kritisieren solle? daß der Intellekt selbst seinen Wert,
seine Kraft, seine Grenzen »erkennen« solle? war es nicht sogar ein
wenig widersinnig? ) Die richtige Antwort wäre vielmehr gewesen, daß
alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben, auch Kant ,
daß ihre Absicht scheinbar auf Gewißheit, auf »Wahrheit«,
eigentlich aber auf »majestätische sittliche Gebäude«
ausging: um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kants zu bedienen, der es
als seine eigne »nicht so glänzende, aber doch auch nicht verdienstlose«
Aufgabe und Arbeit bezeichnet, »den Boden zu jenen majestätischen sittlichen
Gebäuden eben und baufest zu machen« (Kritik der reinen Vernunft,
II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht gelungen, im Gegenteil! wie man
heute sagen muß. Kant war mit einer solchen schwärmerischen Absicht
eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andre das Jahrhundert
der Schwärmerei genannt werden darf: wie er es, glücklicherweise, auch
in bezug auf dessen wertvollere Seiten geblieben ist (zum Beispiel mit jenem guten
Stück Sensualismus, den er in seine Erkenntnistheorie hinübernahm).
Auch ihn hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke
des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich
ein andrer Jünger Rousseaus fühlte und bekannte, nämlich Robespierre
(vgl. Rede vom 7. Juni 1794). Andrerseits konnte man es ... nicht tiefer, gründlicher,
deutscher treiben ..., als es Kant getrieben hat: um Raum für sein »moralisches
Reich« zu schaffen, sah er sich genötigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen,
ein logisches »Jenseits«, dazu eben hatte er seine Kritik der
reinen Vernunft nötig! Anders ausgedrückt: er hätte sie nicht
nötig gehabt, wenn ihm nicht eins wichtiger als alles gewesen wäre,
das »moralische Reich« unangreifbar, lieber noch ungreifbar für
die Vernunft zu machen, er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen
Ordnung der Dinge von seiten der Vernunft zu stark! Denn angesichts von Natur
und Geschichte, angesichts der gründlichen Unmoralität von Natur und
Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von alters her, Pessimist; er glaubte
an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern
trotzdem daß ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen
wird. Man darf sich vielleicht, um dies »trotzdem daß« zu verstehen,
an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern großen Pessimisten,
der es einmal mit der ganzen lutherischen Verwegenheit seinen Freunden zu Gemüte
führte: »wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott
gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu
brauchte man dann den Glauben?« Nichts nämlich hat von jeher einen
tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, nichts hat sie mehr »versucht«,
als diese gefährlichste aller Schlußfolgerungen, welche jedem rechten
Romanen eine Sünde wider den Geist ist: credo quia absurdum est:
mit ihr tritt die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogmas
auf: aber auch heute noch, ein Jahrtausend später, wittern wir Deutschen
von heute, späte Deutsche in jedem Betrachte etwas von Wahrheit, von
Möglichkeit der Wahrheit hinter dem berühmten realdialektischen Grund-Satze,
mit welchem Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf
»Der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend«
: wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten. (Ebd.,
1881, Vorrede, S. 7-8).Aber nicht die logischen Werturteile
sind die untersten und gründlichsten, zu denen die Tapferkeit unsres Argwohns
hinunterkann: das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gültigkeit dieser
Urteile steht und fällt, ist, als Vertrauen, ein moralisches Phänomen
.... Vielleicht hat der deutsche Pessimismus seinen letzten Schritt noch zu tun?
Vielleicht muß er noch einmal auf eine furchtbare Weise sein credo und
sein absurdum nebeneinanderstellen? Und wenn dies Buch bis in die Moral
hinein, bis über das Vertrauen zur Moral hinweg pessimistisch ist,
sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein? Denn es stellt in der Tat
einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral
das Vertrauen gekündigt warum doch? Aus Moralität! Oder
wie sollen wirs heißen, was sich in ihm in uns begibt? denn
wir würden unsrem Geschmacke nach bescheidenere Worte vorziehn. Aber es ist
kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein »du sollst«, auch wir noch
gehorchen einem strengen Gesetze über uns, und dies ist die letzte
Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu leben wissen,
hier, wenn irgendworin, sind auch wir noch Menschen des Gewissens: daß wir
nämlich nicht wieder zurückwollen in das, was uns als überlebt
und morsch gilt, in irgend etwas »Unglaubwürdiges«, heiße
es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe; daß wir
uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; daß wir von
Grund aus allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte; feind
jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb-und Halben aller
Romantik und Vaterländerei; feind auch der Artisten-Genüßlichkeit,
Artisten-Gewissenlosigkeit, welche uns überreden möchte, da anzubeten,
wo wir nicht mehr glauben denn wir sind Artisten ; feind, kurzum,
dem ganzen europäischen Feminismus (oder Idealismus, wenn man's lieber
hört), der ewig »hinanzieht« und ewig gerade damit »herunter
bringt«: allein als Menschen dieses Gewissens fühlen wir uns
noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden,
wenn auch als deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten,
wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstande, als deren Erben, als
Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt,
der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit Lust
verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt daß ihr eine Formel wollt,
die Selbstaufhebung der Moral. (Ebd., 1881, Vorrede, S. 9-10).
1. Buch
Nachträgliche
Vernünftigkeit. Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich
so mit Vernunft durchtränkt, daß ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch
unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung
für das Gefühl paradox und frevelhaft? Widerspricht der gute
Historiker im Grunde nicht fortwährend? (Ebd., 1881, S. 12).Vorurteil
der Gelehrten. Es ist ein richtiges Urteil der Gelehrten, daß
die Menschen aller Zeiten zu wissen glaubten, was gut und böse, lobens- und
tadelnswert sei. Aber es ist ein Vorurteil der Gelehrten, daß wir es jetzt
besser wüßten als irgendeine Zeit. (Ebd., 1881, S. 12).Alles
hat seine Zeit. Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte
er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: den
ungeheuren Umfang dieses Irrtums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht
noch nicht ganz eingestanden. Ebenso hat der Mensch allem, was da ist,
eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung
über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebensoviel und nicht mehr
Wert haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit
der Sonne hat. (Ebd., 1881, S. 12).
Gegen die erträumte Disharmonie der Sphären.
Wir müssen die viele falsche Großartigkeit wieder
aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle
Dinge vor uns Anspruch haben! Und dazu tut not, die Welt nicht disharmonischer
sehen zu wollen, als sie ist! (Ebd., 1881, S. 13).
Umlernen des Raumgefühls. Haben die wirklichen
Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück beigetragen?
Gewiß ist, daß die Weite des Raumes zwischen höchstem
Glück und tiefstem Unglück erst mit Hilfe der eingebildeten
Dinge hergestellt worden ist. Diese Art von Raumgefühl wird folglich,
unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert: so wie wir von
ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem
als Punkt zu empfinden. (Ebd., 1881, S. 13-14).
Begriff der Sittlichkeit der Sitte.
Im Verhältnis zu der Lebensweise ganzer Jahrtausende der Menschheit
leben wir jetzigen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit: die Macht
der Sitte ist erstaunlich abgeschwächt und das Gefühl der Sittlichkeit
so verfeinert und so in die Höhe getragen, daß es ebensogut
als verflüchtigt bezeichnet werden kann. Deshalb werden uns, den
Spätgeborenen, die Grundeinsichten in die Entstehung der Moral schwer,
sie bleiben uns, wenn wir sie trotzdem gefunden haben, an der Zunge kleben
und wollen nicht heraus: weil sie grob klingen! Oder weil sie die Sittlichkeit
zu verleumden scheinen! So zum Beispiel gleich der Hauptsatz: Sittlichkeit
ist nichts anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam
gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind
die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen. In
Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, gibt es keine Sittlichkeit; und je
weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so kleiner wird der
Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in allem
von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen
ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet »böse«
so viel wie »individuell«, »frei«, »willkürlich«,
»ungewohnt«, »unvorhergesehen«, »unberechenbar«.
Immer nach dem Maßstab solcher Zustände gemessen: wird eine
Handlung getan nicht weil das Herkommen sie befiehlt, sondern aus
anderen Motiven (zum Beispiel des individuellen Nutzens wegen), ja selbst
aus eben den Motiven, welche das Herkommen ehemals begründet haben,
so heißt sie unsittlich und wird so selbst von ihrem Täter
empfunden: denn sie ist nicht aus Gehorsam gegen das Herkommen getan worden.
Was ist das Herkommen? Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht,
nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie
befiehlt. Wodurch unterscheidet sich dies Gefühl vor
dem Herkommen von dem Gefühl der Furcht überhaupt? Es ist die
Furcht vor einem höheren Intellekt, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen,
unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem, es ist
Aberglaube in dieser Furcht. Ursprünglich gehörte
die ganze Erziehung und Pflege der Gesundheit, die Ehe, die Heilkunst,
der Feldbau, der Krieg, das Reden und Schweigen, der Verkehr untereinander
und mit den Göttern in den Bereich der Sittlichkeit: sie verlangte,
daß man Vorschriften beobachtete, ohne an sich als Individuum
zu denken. Ursprünglich also war alles Sitte, und wer sich über
sie erheben wollte, mußte Gesetzgeber und Medizinmann und eine Art
Halbgott werden: das heißt, er mußte Sitten machen,
ein furchtbares, lebensgefährliches Ding! Wer ist der
Sittlichste? Einmal der, welcher das Gesetz am häufigsten
erfüllt: also, gleich dem Brahmanen, das Bewußtsein desselben
überallhin und in jeden kleinen Zeitteil trägt, so daß
er fortwährend erfinderisch ist in Gelegenheiten, das Gesetz zu erfüllen.
Sodann der, der es auch in den schwersten Fällen erfüllt.
Der Sittlichste ist der, welcher am meisten der Sitte opfert: welches
aber sind die größten Opfer? Nach der Beantwortung dieser Frage
entfalten sich mehrere unterschiedliche Moralen; aber der wichtigste Unterschied
bleibt doch jener, welcher die Moralität der häufigsten Erfüllung
von der der schwersten Erfüllung trennt. Man täusche
sich über das Motiv jener Moral nicht, welche die schwerste Erfüllung
der Sitte als Zeichen der Sittlichkeit fordert! Die Selbstüberwindung
wird nicht ihrer nützlichen Folgen halber, die sie für
das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen
herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vorteil:
der einzelne soll sich opfern, so heischt es die Sittlichkeit der
Sitte. Jene Moralisten dagegen, welche wie die Nachfolger der sokratischen
Fußtapfen die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit dem
Individuum als seinen eigensten Vorteil, als seinen persönlichsten
Schlüssel zum Glück ans Herz legen, machen die Ausnahme
und wenn es uns anders erscheint, so ist es, weil wir unter ihrer
Nachwirkung erzogen sind: sie alle gehen eine neue Straße unter
höchlichster Mißbilligung aller Vertreter der Sittlichkeit
der Sitte, sie lösen sich aus der Gemeinde aus, als Unsittliche,
und sind, im tiefsten Verstande, böse. Ebenso erschien einem tugendhaften
Römer alten Schrotes jeder Christ, welcher »am ersten
nach seiner eigenen Seligkeit trachtete«, als böse.
Überall, wo es eine Gemeinde und folglich eine Sittlichkeit
der Sitte gibt, herrscht auch der Gedanke, daß die Strafe für
die Verletzung der Sitte vor allem auf die Gemeinde fällt: jene übernatürliche
Strafe, deren Äußerung und Grenze so schwer zu begreifen ist
und mit so abergläubischer Angst ergründet wird. Die Gemeinde
kann den einzelnen anhalten, daß er den nächsten Schaden, den
seine Tat im Gefolge hatte, am einzelnen oder an der Gemeinde wieder gut
mache, sie kann auch eine Art Rache am einzelnen dafür nehmen, daß
durch ihn, als angebliche Nachwirkung seiner Tat, sich die göttlichen
Wolken und Zorneswetter über der Gemeinde gesammelt haben,
aber sie empfindet die Schuld des einzelnen doch vor allem als ihre
Schuld und trägt dessen Strafe als ihre Strafe : »die
Sitten sind locker geworden, so klagt es in der Seele eines jeden, wenn
solche Taten möglich sind.« Jede individuelle Handlung, jede
individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen,
was gerade die seltneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister
im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, daß
sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja
daß sie sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der
Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses
Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch
dadurch verdüsterter, als er sein müßte. (Ebd.,
1881, S. 14-17).
Gegenbewegung zwischen Sinn der Sittlichkeit und Sinn der Kausalität.
In dem Maße, in welchem der Sinn der Kausalität zunimmt,
nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab: denn jedesmal, wenn
man die notwendigen Wirkungen begriffen hat und gesondert von allen Zufällen,
allem gelegentlichen Nachher (post hoc) zu denken versteht, hat
man eine Unzahl phantastischer Kausalitäten, an welche als
Grundlagen von Sitten bisher geglaubt wurde, zerstört die
wirkliche Welt ist viel kleiner als die phantastische und jedesmal
ist ein Stück Ängstlichkeit und Zwang aus der Welt verschwunden,
jedesmal auch ein Stück Achtung vor der Autorität der Sitte:
die Sittlichkeit im großen hat eingebüßt. Wer sie dagegen
vermehren will, muß zu verhüten wissen, daß die Erfolge
kontrollierbar werden. (Ebd., 1881, S. 17).
Volksmoral und Volksmedizin. An der Moral, welche
in einer Gemeinde herrscht, wird fortwährend und von jedermann gearbeitet:
die meisten bringen Beispiele über Beispiele für das behauptete
Verhältnis von Ursache und Folge, Schuld und Strafe hinzu,
bestätigen es als wohlbegründet und mehren seinen Glauben: einige
machen neue Beobachtungen über Handlungen und Folgen und ziehen Schlüsse
und Gesetze daraus: die wenigsten nehmen hie und da Anstoß und lassen
den Glauben an diesen Punkten schwach werden. Alle aber sind einander
gleich in der gänzlich rohen, unwissenschaftlichen Art ihrer
Tätigkeit; ob es sich um Beispiele, Beobachtungen oder Anstöße
handelt, ob um den Beweis, die Bekräftigung, den Ausdruck, die Widerlegung
eines Gesetzes, es ist wertloses Material und wertlose Form, wie
Material und Form aller Volksmedizin. Volksmedizin und Volksmoral gehören
zusammen und sollten nicht mehr so verschieden abgeschätzt werden,
wie es immer noch geschieht: beides sind die gefährlichsten
Scheinwissenschaften. (Ebd., 1881, S. 18).
Die Folge als Zutat. Ehemals glaubte man, der Erfolg
einer Tat sei nicht eine Folge, sondern eine freie Zutat nämlich
Gottes. Ist eine größere Verwirrung denkbar? Man mußte
sich um die Tat und um den Erfolg besonders bemühen, mit ganz verschiedenen
Mitteln und Praktiken! (Ebd., 1881, S. 18).
Zur neuen Erziehung des Menschengeschlechts. Helft,
ihr Hilfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem einen Werke mit, den Begriff
der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen!
Es gibt kein böseres Unkraut! Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen
hat man ihn gelegt und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon
dies, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen!
aber man hat mehr getan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens
um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst
des Straf-Begriffs. Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz
selber als Strafe empfinden zu heißen, es ist, als ob die
Phantasterei von Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts
geleitet hätte! (Ebd., 1881, S. 18-19).
Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität.
Wenn trotz jenem furchtbaren Druck der »Sittlichkeit
der Sitte«, unter dem alle Gemeinwesen der Menschheit lebten, viele
Jahrtausende lang vor unserer Zeitrechnung und in derselben im ganzen
und großen fort bis auf den heutigen Tag (wir selber wohnen in der
kleinen Welt der Ausnahmen und gleichsam in der bösen Zone):
wenn, sage ich, trotzdem neue und abweichende Gedanken, Wertschätzungen,
Triebe immer wieder herausbrachen, so geschah dies unter einer schauderhaften
Geleitschaft: fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen
Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und
Aberglaubens bricht. Begreift ihr es, weshalb es der Wahnsinn sein mußte?
Etwas in Stimme und Gebärde so Grausenhaftes und Unberechenbares
wie die dämonischen Launen des Wetters und des Meeres und deshalb
einer ähnlichen Scheu und Beobachtung Würdiges? Etwas, das so
sichtbar das Zeichen völliger Unfreiwilligkeit trug, wie die Zuckungen
und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt als
Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien? Etwas, das
dem Träger eines neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor
sich und nicht mehr Gewissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet
und Märtyrer desselben zu werden? Während es uns heute
noch immer wieder nahegelegt wird, daß dem Genie, anstatt eines
Kornes Salz, ein Korn Wahnwurz beigegeben ist, lag allen früheren
Menschen der Gedanke viel näher, daß überall, wo es Wahnsinn
gibt, es auch ein Korn Genie und Weisheit gäbe, etwas »Göttliches«,
wie man sich zuflüsterte. Oder vielmehr: man drückte sich kräftig
genug aus. »Durch den Wahnsinn sind die größten Güter
über Griechenland gekommen«, sagte Plato mit der ganzen alten
Menschheit. Gehen wir noch einen Schritt weiter: allen jenen überlegenen
Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgendeiner Sittlichkeit
zu brechen und neue Gesetze zu geben, blieb, wenn sie nicht wirklich
wahnsinnig waren, nichts übrig, als sich wahnsinnig zu machen
oder zu stellen und zwar gilt dies für die Neuerer auf allen
Gebieten, nicht nur auf dem der priesterlichen und politischen Satzung:
selbst der Neuerer des poetischen Metrums mußte durch den
Wahnsinn sich beglaubigen. (Bis in viel mildere Zeiten hinein verblieb
daraus den Dichtern eine gewisse Konvention des Wahnsinns: auf welche
zum Beispiel Solon zurückgriff, als er die Athener zur Wiedereroberung
von Salamis aufstachelte.) »Wie macht man sich wahnsinnig,
wenn man es nicht ist und nicht wagt, es zu scheinen?« diesem entsetzlichen
Gedankengange haben fast alle bedeutenden Menschen der älteren Zivilisation
nachgehangen; eine geheime Lehre von Kunstgriffen und diätetischen
Winken pflanzte sich darüber fort, nebst dem Gefühle der Unschuld,
ja Heiligkeit eines solchen Nachsinnens und Vorhabens. Die Rezepte, um
bei den Indianern ein Medizinmann, bei den Christen des Mittelalters ein
Heiliger, bei den Grönländern ein Angekok, bei den Brasilianern
ein Paje zu werden, sind im wesentlichen dieselben: unsinniges Fasten,
fortgesetzte geschlechtliche Enthaltung, in die Wüste gehen oder
auf einen Berg oder eine Säule steigen, oder »sich auf eine
bejahrte Weide setzen, die in einen See hinaussieht« und schlechterdings
an nichts denken als das, was eine Verzückung und geistige Unordnung
mit sich bringen kann. Wer wagt es, einen Blick in die Wildnis bitterster
und überflüssigster Seelennöte zu tun, in welchen wahrscheinlich
gerade die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten geschmachtet haben! Jene
Seufzer der Einsamen und Verstörten zu hören: »Ach, so
gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, daß ich endlich an
mich selber glaube! Gebt Delirien und Zuckungen, plötzliche Lichter
und Finsternisse, schreckt mich mit Frost und Glut, wie sie kein Sterblicher
noch empfand, mit Getöse und umgehenden Gestalten, laßt mich
heulen und winseln und wie ein Tier kriechen: nur daß ich bei mir
selber Glauben finde! Der Zweifel frißt mich auf, ich habe das Gesetz
getötet, das Gesetz ängstigt mich wie ein Leichnam einen Lebendigen:
wenn ich nicht mehr bin als das Gesetz, so bin ich der Verworfenste
von allen. Der neue Geist, der in mir ist, woher ist er, wenn er nicht
von euch ist? Beweist es mir doch, daß ich euer bin; der Wahnsinn
allein beweist es mir.« Und nur zu oft erreichte diese Inbrunst
ihr Ziel zu gut: in jener Zeit, in welcher das Christentum am reichsten
seine Fruchtbarkeit an Heiligen und Wüsten-Einsiedlern bewies und
sich dadurch selber zu beweisen vermeinte, gab es in Jerusalem große
Irrenhäuser für verunglückte Heilige, für jene, welche
ihr letztes Korn Salz darangegeben hatten. (Ebd., 1881, S. 19-21).
Die ältesten Trostmittel. Erste Stufe: der
Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Mißgeschick etwas, wofür
er irgend jemand anderes leiden lassen muß, dabei wird er
sich seiner noch vorhandenen Macht bewußt, und dies tröstet
ihn. Zweite Stufe: der Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Mißgeschick
eine Strafe, das heißt die Sühnung der Schuld und das Mittel,
sich vom bösartigen Zauber eines wirklichen oder vermeintlichen Unrechtes
loszumachen. Wenn er dieses Vorteils ansichtig wird, welchen das
Unglück mit sich bringt, so glaubt er einen anderen nicht mehr dafür
leiden lassen zu müssen, er sagt sich von dieser Art Befriedigung
los, weil er nun eine andere hat. (Ebd., 1881, S. 21-22).
Erster Satz der Zivilisation. Bei rohen Völkern
gibt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt
zu sein scheint: peinliche und im Grunde überflüssige Bestimmungen
(wie zum Beispiel die unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von
den Schuhen mit dem Messer abzuschaben, niemals eine Kohle mit dem Messer
zu spießen, niemals ein Eisen ins Feuer zu legen und der
Tod trifft den, welcher in solchen Stücken zuwiderhandelt!), die
aber die fortwährende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang,
Sitten zu üben, fortwährend im Bewußtsein erhalten: zur
Bekräftigung des großen Satzes, mit dem die Zivilisation beginnt:
jede Sitte ist besser als keine Sitte. (Ebd., 1881, S. 22).
Die gute und die böse Natur. Erst haben die
Menschen sich in die Natur hineingedichtet: sie sahen überall sich
und ihresgleichen, nämlich ihre böse und launenhafte Gesinnung,
gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubtieren, Bäumen und
Kräutern: damals erfanden sie die »böse Natur«.
Dann kam einmal eine Zeit, da sie sich wieder aus der Natur herausdichteten,
die Zeit Rousseaus: man war einander so satt, daß man durchaus einen
Weltwinkel haben wollte, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual:
man erfand die »gute Natur«. (Ebd., 1881, S. 22-23).
Die Moral des freiwilligen Leidens. Welcher Genuß
ist für Menschen im Kriegszustande jener kleinen, stets gefährdeten
Gemeinde, wo die strengste Sittlichkeit waltet, der höchste? Also
für kraftvolle, rachsüchtige, feindselige, tückische, argwöhnische,
zum Furchtbarsten bereite und durch Entbehrung und Sittlichkeit gehärtete
Seelen? Der Genuß der Grausamkeit: so wie es auch zur Tugend
einer solchen Seele in diesen Zuständen gerechnet wird, in der Grausamkeit
erfinderisch und unersättlich zu sein. An dem Tun des Grausamen erquickt
sich die Gemeinde und wirft einmal die Düsterkeit der beständigen
Angst und Vorsicht von sich. Die Grausamkeit gehört zur ältesten
Festfreude der Menschheit. Folglich denkt man sich auch die Götter
erquickt und festlich gestimmt, wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit
anbietet, und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt, daß
das freiwillige Leiden, die selbsterwählte Marter einen guten
Sinn und Wert habe. Allmählich formt die Sitte in der Gemeinde eine
Praxis gemäß dieser Vorstellung: man wird bei allem ausschweifenden
Wohlbefinden von nun an mißtrauischer und bei allen schweren schmerzhaften
Zuständen zuversichtlicher; man sagt sich: es mögen wohl die
Götter ungnädig wegen des Glücks und gnädig wegen
unseres Leidens auf uns sehen, nicht etwa mitleidig! Denn
das Mitleiden gilt als verächtlich und einer starken, furchtbaren
Seele unwürdig; aber gnädig, weil sie dadurch ergötzt
und guter Dinge werden: denn der Grausame genießt den höchsten
Kitzel des Machtgefühls. So kommt in den Begriff des »sittlichsten
Menschen« der Gemeinde die Tugend des häufigen Leidens, der
Entbehrung, der harten Lebensweise, der grausamen Kasteiung, nicht,
um es wieder und wieder zu sagen, als Mittel der Zucht, der Selbstbeherrschung,
des Verlangens nach individuellem Glück, sondern als eine
Tugend, welche der Gemeinde bei den bösen Göttern einen guten
Geruch macht und wie ein beständiges Versöhnungsopfer auf dem
Altare zu ihnen empordampft. Alle jene geistigen Führer der Völker,
welche in dem trägen furchtbaren Schlamm ihrer Sitten etwas zu bewegen
vermochten, haben außer dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter
nötig gehabt, um Glauben zu finden und zumeist und zuerst,
wie immer, den Glauben an sich selber! Je mehr gerade ihr Geist auf neuen
Bahnen ging und folglich von Gewissensbissen und Ängsten gequält
wurde, um so grausamer wüteten sie gegen das eigene Fleisch, das
eigene Gelüste und die eigene Gesundheit, wie um der Gottheit
einen Ersatz an Lust zu bieten, wenn sie vielleicht um der vernachlässigten
und bekämpften Gebräuche und der neuen Ziele willen erbittert
sein sollte. Glaube man nicht zu schnell, daß wir jetzt von einer
solchen Logik des Gefühls uns völlig befreit hätten! Die
heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich befragen.
Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich
gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern
erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor allem
das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen
Märtyrer nötig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden
Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie
gewohnt, von »Weltgeschichte«, von diesem lächerlich
kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet; und selbst in dieser
sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lärm um die letzten
Neuigkeiten ist, gibt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als die uralte
Tragödie von den Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten.
Nichts ist teurer erkauft als das Wenige von menschlicher Vernunft und
vom Gefühle der Freiheit, welches jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser
Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird,
mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der »Sittlichkeit der Sitte«
zu empfinden, welche der »Weltgeschichte« vorausliegen, als
die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter
der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit
als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung
der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wißbegier
als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden
als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit,
die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung
war! Ihr meint, es habe sich alles dies geändert, und die
Menschheit müsse somit ihren Charakter vertauscht haben? Oh, ihr
Menschenkenner, lernt euch besser kennen! (Ebd., 1881, S. 23-25).
Sittlichkeit und Verdummung.
Die Sitte repräsentiert die Erfahrungen früherer Menschen über
das vermeintlich Nützliche und Schädliche, aber das Gefühl
für die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen
als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiskutabilität der
Sitte. Und damit wirkt dies Gefühl dem entgegen, daß man neue Erfahrungen
macht und die Sitten korrigiert: das heißt, die Sittlichkeit wirkt der Entstehung
neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt. (Ebd., 1881, S. 25).
Freitäter und Freidenker. Die Freitäter
sind im Nachteil gegen die Freidenker, weil die Menschen sichtbarer an
den Folgen von Taten als von Gedanken leiden. Bedenkt man aber, daß
diese wie jene ihre Befriedigung suchen, und daß den Freidenkern
schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung
gibt, so ist in Ansehung der Motive alles eins: und in Ansehung der Folgen
wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, daß
man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit
das heißt: nicht wie alle Welt urteilt. Man hat viel von der Verunglimpfung
wieder zurückzunehmen, mit der die Menschen alle jene bedacht haben,
welche durch die Tat den Bann einer Sitte durchbrachen, im allgemeinen
heißen sie Verbrecher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf,
hat bisher zuerst immer als schlechter Mensch gegolten: aber wenn
man, wie es vorkam, hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und
sich damit zufrieden gab, so veränderte sich das Prädikat allmählich;
die Geschichte handelt fast nur von diesen schlechten Menschen,
welche später gutgesprochen worden sind! (Ebd., 1881, S. 25-26).
»Erfüllung des Gesetzes.« Im Falle,
daß die Befolgung einer moralischen Vorschrift doch ein anderes
Resultat ergibt, als versprochen und erwartet wird, und den Sittlichen
nicht das verheißene Glück,[1028] sondern wider Erwarten Unglück
und Elend trifft, so bleibt immer die Ausflucht des Gewissenhaften und
Ängstlichen übrig: »es ist etwas in der Ausführung
versehen worden.« Im allerschlimmsten Falle wird eine tief leidende
und zerdrückte Menschheit sogar dekretieren: »es ist unmöglich,
die Vorschrift gut auszuführen, wir sind durch und durch schwach
und sündhaft und der Moralität im innersten Grunde nicht fähig,
folglich haben wir auch keinen Anspruch auf Glück und Gelingen. Die
moralischen Vorschriften und Verheißungen sind für bessere
Wesen, als wir sind, gegeben.« (Ebd., 1881, S. 26).
Werke und Glaube. Immer noch wird durch die protestantischen
Lehrer jener Grundirrtum fortgepflanzt: daß es nur auf den Glauben
ankomme, und daß aus dem Glauben die Werke notwendig folgen müssen.
Dies ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verführerisch,
daß es schon andere Intelligenzen als die Luthers (nämlich
die des Sokrates und Plato) betört hat: obwohl der Augenschein aller
Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste Wissen oder
Glauben kann nicht die Kraft zur Tat, noch die Gewandtheit zur Tat geben,
es kann nicht die Übung jenes feinen, vielteiligen Mechanismus ersetzen,
welche vorhergegangen sein muß, damit irgend etwas aus einer Vorstellung
sich in Aktion verwandeln könne. Vor allem und zuerst die Werke!
Das heißt Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige
»Glaube« wird sich schon einstellen, dessen seid versichert!
(Ebd., 1881, S. 27).
Worin wir am feinsten sind. Dadurch, daß man
sich viele tausend Jahre lang die Sachen (Natur, Werkzeuge, Eigentum jeder
Art) ebenfalls belebt und beseelt dachte, mit der Kraft zu schaden und
sich den menschlichen Absichten zu entziehen, ist das Gefühl der
Ohnmacht unter den Menschen viel größer und viel häufiger
gewesen, als es hätte sein müssen: man hatte ja nötig,
sich der Sachen ebenso zu versichern, wie der Menschen und Tiere, durch
Gewalt, Zwang, Schmeichelei, Verträge, Opfer, und hier ist
der Ursprung der meisten abergläubischen Gebräuche, das heißt
eines erheblichen, vielleicht überwiegenden und trotzdem vergeudeten
und unnützen Bestandteils aller von Menschen bisher geübten
Tätigkeit! Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und der
Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war, hat
sich das Gefühl der Macht in solcher Feinheit entwickelt,
daß es jetzt hierin der Mensch mit der delikatesten Goldwaage aufnehmen
kann. Es ist sein stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man
entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte
der Kultur. (Ebd., 1881, S. 27-28).
Der Beweis einer Vorschrift. Im allgemeinen wird
die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift, zum Beispiel der,
Brot zu backen, so bewiesen, daß das in ihr besprochene Resultat
sich ergibt oder nicht ergibt, vorausgesetzt, daß sie genau ausgeführt
wird. Anders steht es jetzt mit den moralischen Vorschriften: denn hier
sind gerade die Resultate nicht zu übersehen, oder deutbar und unbestimmt.
Diese Vorschriften ruhen auf Hypothesen von dem allergeringsten wissenschaftlichen
Werte, deren Beweis und deren Widerlegung aus den Resultaten im Grunde
gleich unmöglich ist: aber einstmals, bei der ursprünglichen
Roheit aller Wissenschaft und den geringen Ansprüchen, die man machte,
um ein Ding für erwiesen zu nehmen, einstmals wurde
die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift der Sitte ebenso festgestellt
wie jetzt die jeder anderen Vorschrift: durch Hinweisung auf den Erfolg.
Wenn bei den Eingeborenen in Russisch-Amerika die Vorschrift gilt: du
sollst keinen Tierknochen ins Feuer werfen oder den Hunden geben,
so wird sie so bewiesen: »tue es und du wirst kein Glück auf
der Jagd haben.« Nun aber hat man in irgendeinem Sinne fast immer
»kein Glück auf der Jagd«; es ist nicht leicht möglich,
die Güte der Vorschrift auf diesem Wege zu widerlegen, namentlich
wenn eine Gemeinde und nicht ein einzelner als Träger der Strafe
gilt; vielmehr wird immer ein Umstand eintreten, welcher die Vorschrift
zu beweisen scheint. (Ebd., 1881, S. 28).
Sitte und
Schönheit. Zugunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, daß
bei jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeging an
unterwirft, die Angriffs- und Verteidigungsorgane die körperlichen
und geistigen verkümmern: das heißt, er wird zunehmend schöner!
Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es,
welche häßlich erhält und häßlicher macht. Der alte
Pavian ist darum häßlicher als der junge, und der weibliche junge Pavian
ist dem Menschen am ähnlichsten: also am schönsten. Hiernach
mache man einen Schluß auf den Ursprung der Schönheit der Weiber!
(Ebd., 1881, S. 29).Die Tiere und die Moral. Die
Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfältige
Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen, des Anmaßenden, das
Zurückstellen seiner Tugenden sowohl wie seiner heftigeren Begehrungen, das
Sich-gleichgeben, Sich-einordnen, Sich-verringern, dies alles als die gesellschaftliche
Moral ist im groben überall bis in die tiefste Tierwelt hinab zu finden,
und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen
Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute
begünstigt sein. Deshalb lernen die Tiere sich beherrschen und sich in der
Weise verstellen, daß manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung
anpassen (vermöge der sogenannten »chromatischen Funktion«),
daß sie sich tot stellen oder die Formen und Farben eines anderen Tieres
oder von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen annehmen (das, was die
englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). So verbirgt sich der einzelne
unter der Allgemeinschaft des Begriffes »Mensch« oder unter der Gesellschaft,
oder paßt sich an Fürsten, Stände, Parteien, Meinungen der Zeit
oder der Umgebung an: und zu allen den feinen Arten, uns glücklich, dankbar,
mächtig, verliebt zu stellen, wird man leicht das tierische Gleichnis finden.
Auch jenen Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit
ist, hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam: man will sich nicht täuschen
lassen, sich nicht durch sich selber irreführen lassen, man hört dem
Zureden der eigenen Leidenschaften mißtrauisch zu, man bezwingt sich, und
bleibt gegen sich auf der Lauer; dies alles versteht das Tier gleich dem Menschen,
auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche
(aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die
Vorstellung anderer Tiere ausübt, es lernt von dort aus auf sich zurückblicken,
sich »objektiv« nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntnis. Das
Tier beurteilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigentümlichkeiten
auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen einzelne einer bestimmten Gattung
gibt es ein für allemal den Kampf auf und ebenso errät es in der Annäherung
mancher Arten von Tieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge
der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit,
kurz alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen,
ist tierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und
den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, daß auch der höchste
Mensch sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriff dessen, was
ihm alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt
sein, das ganze moralische Phänomen als tierhaft zu bezeichnen. (Ebd.,
1881, S. 29-30).Der Stolz auf den Geist. Der Stolz
des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Tieren sträubt
und zwischen Natur und Mensch die große Kluft legt, dieser Stolz
hat seinen Grund in einem Vorurteil über das, was Geist ist: und dieses
Vorurteil ist verhältnismäßig jung. In der großen
Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht
daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegenteil das Geistige
(nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein
gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Tieren oder Bäumen abzustammen
(die vornehmen Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und
sah in dem Geiste das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr
abscheidet. So erzog man sich in der Bescheidenheit, und ebenfalls
infolge eines Vorurteils. (Ebd., 1881, S. 34).Die
Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit. Jene bösen
Zufälle, welche eine Gemeinde treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten
oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, daß Verstöße
gegen die Sitte begangen sind oder daß neue Gebräuche erfunden werden
müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen.
Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren
natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache
als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des
menschlichen Intellekts: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso
grundsätzlich den wahren natürlichen Folgen einer Handlung ein
viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten
Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für
bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil
es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit
fliehen, sondern das vermeintliche Mißfallen der Götter an der Versäumnis
eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es
müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben,
man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und
die Lust am Wirklichen und hält dies zuletzt, nur insofern es Symbol sein
kann, noch für wertvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit
der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit,
und spinnt alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit,
des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an:
die sogenannte höhere Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl
eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel.
Es ist traurig: aber einstweilen müssen dem wissenschaftlichen Menschen alle
höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn
und Unsinn verquickt. Nicht daß sie es an sich oder für immer sein
müßten: aber gewiß wird von allen allmählichen Reinigungen,
welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle
eine der allmählichsten sein. (Ebd., 1881, S. 35-36).Triebe
durch die moralischen Urteile umgestaltet. Derselbe Trieb entwickelt
sich zum peinlichen Gefühl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels,
den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der
Demut, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich ans Herz gelegt und
gut geheißen hat. Das heißt: es hängt sich ihm entweder ein gutes
oder ein böses Gewissen an! An sich hat er, wie jeder Trieb, weder
dies noch überhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine
bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust: er erwirbt dies alles erst,
als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf Gut und Böse getauften
Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon
moralisch festgestellt und abgeschätzt sind. So haben die älteren
Griechen anders über den Neid empfunden als wir; Hesiod zählt ihn unter
den Wirkungen der guten, wohltätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstößiges,
den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zustande
der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut festgestellt
und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der
Abschätzung der Hoffnung: man empfand sie als blind und tückisch;
Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar
etwas so Befremdendes, daß kein neuerer Erklärer es verstanden hat,
denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christentum her an die
Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen dagegen, welchen
der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gänzlich verschlossen schien, und
denen in zahllosen Fällen eine Anfrage um die Zukunft zur religiösen
Pflicht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoffnung begnügen, mußte
wohl, dank allen Orakeln und Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradiert werden
und ins Böse und Gefährliche hinabsinken. Die Juden haben den
Zorn anders empfunden als wir und ihn heilig gesprochen: dafür haben
sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich
zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein Europäer nicht
vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen Jehova nach ihren zornigen
heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die großen Zürner
unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand. (Ebd.,
1881, S. 38-39).Das Vorurteil vom »reinen Geiste«.
Überall, wo die Lehre von der reinen Geistigkeit geherrscht
hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstört: sie lehrte
den Körper geringschätzen, vernachlässigen oder quälen, und
um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen;
sie gab verdüsterte, gespannte, gedrückte Seelen, welche noch
überdies glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie
vielleicht heben zu können! »Im Körper muß sie liegen! er
blüht immer noch zu sehr!« so schlossen sie, während tatsächlich
derselbe gegen seine fortwährende Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache
über Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Übernervosität
war endlich das Los jener tugendhaften Reingeistigen: die Lust lernten
sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns
kennen und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das
Höheziel des Lebens und als den verurteilenden Maßstab für
alles Irdische nahm. (Ebd., 1881, S. 40).Zur Wertbestimmung
der vita contemplativa . Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa
nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen
der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist,
kurz, welche Gegenrechnung die vita activa uns zu machen hat, wenn wir
allzu stolz mit unseren Wohltaten uns vor ihr brüsten. Erstens: die
sogenannten religiösen Naturen, welche der Zahl nach unter den Kontemplativen
überwiegen und folglich ihre gemeinste Spezies abgeben, haben zu allen Zeiten
dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen
womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen,
die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerten, die tätige Hand lähmen,
das haben sie verstanden, ebenso wie sie für elende Zeiten und Empfindungen
ihre Tröstungen, Almosen, Handreichungen und Segenssprüche gehabt haben.
Zweitens: die Künstler, etwas seltener als die Religiösen, aber
doch immer noch eine häufige Art von Menschen der vita contemplativa
, sind als Personen zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich
gewesen: diese Wirkung ist von den erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer
Werke in Abzug zu bringen. Drittens: die Philosophen, eine Gattung, in
der sich religiöse und künstlerische Kräfte beisammen vorfinden,
doch so, daß etwas Drittes, das Dialektische, die Lust am Demonstrieren,
noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Übeln nach der Weise der Religiösen
und der Künstler gewesen und haben noch dazu durch ihren dialektischen Hang
vielen Menschen Langeweile gemacht; doch war ihre Zahl immer sehr klein. Viertens:
die Denker und die wissenschaftlichen Arbeiter; sie waren selten auf Wirkungen
aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslöcher. So haben sie wenig Verdruß
und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand des Spottes und Gelächters sogar,
ohne es zu wollen, den Menschen der vita activa das Leben erleichtert.
Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nützliches für alle geworden:
wenn dieses Nutzens halber jetzt sehr viele zur vita activa Vorherbestimmte
sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen, im Schweiße ihres Angesichts und
nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwünschungen, so trägt doch an solchem
Ungemach die Schar der Denker und wissenschaftlichen Arbeiter keine Schuld; es
ist »selbstgeschaffene Pein«. (Ebd., 1881, S. 41-42).»Erkenne
dich selbst« ist die ganze Wissenschaft. Erst am Ende der Erkenntnis
aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur
die Grenzen des Menschen. (Ebd., 1881, S. 47).Das neue
Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit. Ehemals
suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man
auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg
geworden, denn an seiner Tür steht der Affe, nebst anderem greulichen Getier,
und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter
in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung:
der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit
und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es nichts! Am Ende dieses Weges
steht die Graburne des letzten Menschen und Totengräbers (mit der
Aufschrift »nihil humani a me alienum puto«). Wie hoch die
Menschheit sich entwickelt haben möge und vielleicht wird sie am Ende
gar tiefer als am Anfang stehen! es gibt für sie keinen Übergang
in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer
»Erdenbahn« zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das
Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen
Schauspiele eine Ausnahme für irgendein Sternchen und wiederum für ein
Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten! (Ebd.,
1881, S. 47-48).Wo sind die neuen Ärzte der Seele?
Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen
leidvollen Grundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die größte
Krankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden,
und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als
das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntnis hielt man die augenblicklich
wirkenden, betäubenden und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen,
für die eigentlichen Heilkräfte, ja man merkte es nicht einmal, daß
man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung
des Leidens bezahlte, daß die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später
an der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesamtgefühl
von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem
gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, dafür sorgten die
Ärzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. Man sagt
Schopenhauer nach, und mit Recht, daß er die Leiden der Menschheit endlich
einmal wieder ernst genommen habe: wo ist der, welcher endlich auch einmal die
Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei
an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit
ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist? (Ebd., 1881, S. 49-50).Mißbrauch
der Gewissenhaften. Die Gewissenhaften und nicht die Gewissenlosen
waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Bußpredigten und Höllenängsten
zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist
gerade denen das Leben am meisten verdüstert worden, welche Heiterkeit und
anmutige Bilder nötig hatten nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung
von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und
von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinübernehme. Oh, wie viel
überflüssige Grausamkeit und Tierquälerei ist von jenen Religionen
ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben! Und von den Menschen, welche
durch sie den höchsten Genuß ihrer Macht haben wollten! (Ebd.,
1881, S. 50).Gedanken über die Krankheit! Die
Phantasie des Kranken beruhigen, daß er wenigstens nicht, wie bisher, mehr
von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat als von der Krankheit
selber, ich denke, das ist etwas! Und es ist nicht wenig! Versteht ihr
nun unsere Aufgabe? (Ebd., 1881, S. 50-51).Die Verzweifelnden.
Das Christentum hat den Instinkt des Jägers für alle die, welche
irgendwodurch überhaupt zur Verzweiflung zu bringen sind, nur eine
Auswahl der Menschheit ist deren fähig. Hinter ihnen ist es immer her, ihnen
lauert es auf. Pascal machte den Versuch, ob nicht mit Hilfe der schneidendsten
Erkenntnis jedermann zur Verzweiflung gebracht werden könnte; der
Versuch mißlang, zu seiner zweiten Verzweiflung. (Ebd., 1881, S. 57).Brahmanen-
und Christentum. Es gibt Rezepte zum Gefühle der Macht, einmal
für solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits
dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind; sodann für solche,
welchen gerade dies fehlt. Für Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanentum
Sorge getragen, für Menschen der zweiten Gattung das Christentum. (Ebd.,
1881, S. 57).Preis der Gläubigen. Wer solchen
Wert darauf legt, daß an ihn geglaubt werde, daß er den Himmel
für diesen Glauben gewährleistet, und jedermann, sei es selbst ein Schächer
am Kreuze, der muß an einem furchtbaren Zweifel gelitten und jede
Art von Kreuzigung kennen gelernt haben: er würde sonst seine Gläubigen
nicht so teuer kaufen. (Ebd., 1881, S. 58).Der erste Christ.
Alle Welt glaubt noch immer an die Schriftstellerei des »heiligen
Geistes« oder steht unter der Nachwirkung dieses Glaubens: wenn man die
Bibel aufmacht, so geschieht es, um sich zu »erbauen«, um in seiner
eigenen, persönlichen großen oder kleinen Not einen Fingerzeig des
Trostes zu finden, kurz, man liest sich hinein und sich heraus. Daß
in ihr auch die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen
und eines ebenso abergläubischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht,
die Geschichte des Apostels Paulus, wer weiß das, einige Gelehrte
abgerechnet? Ohne diese merkwürdige Geschichte aber, ohne die Verwirrungen
und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe es keine
Christenheit; kaum würden wir von einer kleinen jüdischen Sekte erfahren
haben, deren Meister am Kreuze starb. Freilich: hätte man eben diese Geschichte
zur rechten Zeit begriffen, hätte man die Schriften des Paulus nicht als
die Offenbarungen des »heiligen Geistes«, sondern mit einem redlichen
und freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persönliche Not dabei
zu denken, gelesen, wirklich gelesen es gab anderthalb Jahrtausend
keinen solchen Leser , so würde es auch mit dem Christentum längst
vorbei sein: so sehr legen diese Blätter des jüdischen Pascal den Ursprung
des Christentums bloß, wie die Blätter des französischen Pascal
sein Schicksal und das, woran es zugrunde gehen wird, bloßlegen. Daß
das Schiff des Christentums einen guten Teil des jüdischen Ballastes über
Bord warf, daß es unter die Heiden ging und gehen konnte, das hängt
an der Geschichte dieses einen Menschen, eines sehr gequälten, sehr bemitleidenswerten,
sehr unangenehmen und sich selber unangenehmen Menschen. Er litt an einer fixen
Idee, oder deutlicher: an einer fixen, stets gegenwärtigen, nie zur
Ruhe kommenden Frage: welche Bewandtnis es mit dem jüdischen Gesetze habe?
und zwar mit der Erfüllung dieses Gesetzes? In seiner Jugend hatte
er ihm selber genugtun wollen, heißhungrig nach dieser höchsten Auszeichnung,
welche die Juden zu denken vermochten, dieses Volk, welches die Phantasie
der sittlichen Erhabenheit höher als irgendein anderes Volk getrieben hat
und welchem allein die Schöpfung eines heiligen Gottes, nebst dem Gedanken
der Sünde als eines Vergehens an dieser Heiligkeit, gelungen ist. Paulus
war zugleich der fanatische Verteidiger und Ehrenwächter dieses Gottes und
seines Gesetzes geworden und fortwährend im Kampfe und auf der Lauer gegen
die Übertreter und Anzweifler desselben, hart und böse gegen sie und
zum äußersten der Strafen geneigt. Und nun erfuhr er an sich, daß
er hitzig, sinnlich, melancholisch, bösartig im Haß, wie er
war das Gesetz selber nicht erfüllen konnte, ja, was ihm das
Seltsamste schien: daß seine ausschweifende Herrschsucht fortwährend
gereizt wurde, es zu übertreten, und daß er diesem Stachel nachgeben
mußte. Ist es wirklich die »Fleischlichkeit«, welche
ihn immer wieder zum Übertreter macht? Und nicht vielmehr, wie er später
argwöhnte, hinter ihr das Gesetz selber, welches sich fortwährend als
unerfüllbar beweisen muß und mit unwiderstehlichem Zauber zur
Übertretung lockt? Aber damals hatte er diesen Ausweg noch nicht. Vielerlei
lag ihm auf dem Gewissen er deutet hin auf Feindschaft, Mord, Zauberei,
Bilderdienst, Unzucht, Trunkenheit und Lust an ausschweifenden Gelagen
und wie sehr er auch diesem Gewissen, und noch mehr seiner Herrschsucht, durch
den äußersten Fanatismus der Gesetzes-Verehrung und -Verteidigung wieder
Luft zu machen suchte: es kamen Augenblicke, wo er sich sagte: »Es ist alles
umsonst! die Marter des unerfüllten Gesetzes ist nicht zu überwinden.«
Ähnlich mag Luther empfunden haben, als er der vollkommene Mensch des geistlichen
Ideals in seinem Kloster werden wollte: und ähnlich wie Luther, der eines
Tages das geistliche Ideal und den Papst und die Heiligen und die ganze Klerisei
zu hassen begann, mit einem wahren tödlichen Haß, je weniger er ihn
sich eingestehen durfte, ähnlich erging es Paulus. Das Gesetz war
das Kreuz, an welches er sich geschlagen fühlte: wie haßte er es! wie
trug er es ihm nach! wie suchte er herum, um ein Mittel zu finden, es zu vernichten,
nicht mehr es für seine Person zu erfüllen! Und endlich leuchtete
ihm der rettende Gedanke auf, zugleich mit einer Vision, wie es bei diesem Epileptiker
nicht anders zugehen konnte: ihm, dem wütenden Eiferer des Gesetzes, der
innerlich dessen totmüde war, erschien auf einsamer Straße jener Christus,
den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte, und Paulus hörte die Worte: »warum
verfolgst du mich?« Das Wesentliche, was da geschah, ist aber dies:
sein Kopf war auf einmal hell geworden; »es ist unvernünftig,«
hatte er sich gesagt, »gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja
der Ausweg, hier ist ja die vollkommene Rache, hier und nirgends sonst habe und
halte ich ja den Vernichter des Gesetzes!« Der Kranke des gequältesten
Hochmutes fühlt sich mit einem Schlage wieder hergestellt, die moralische
Verzweiflung ist wie fortgeblasen, denn die Moral ist fortgeblasen, vernichtet,
nämlich erfüllt, dort am Kreuze! Bisher hatte ihm jener
schmähliche Tod als Hauptargument gegen die »Messianität«,
von der die Anhänger der neuen Lehre sprachen, gegolten: wie aber, wenn er
nötig war, um das Gesetz abzutun! Die ungeheuren Folgen dieses
Einfalls, dieser Rätsellösung wirbeln vor seinem Blicke, er wird mit
einem Male der glücklichste Mensch, das Schicksal der Juden, nein,
aller Menschen scheint ihm an diesen Einfall, an diese Sekunde seines plötzlichen
Aufleuchtens gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlüssel der
Schlüssel, das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich fürderhin
die Geschichte! Denn er ist von jetzt ab der Lehrer der Vernichtung des Gesetzes!
Dem Bösen absterben das heißt, auch dem Gesetz absterben; im
Fleische sein das heißt, auch im Gesetze sein! Mit Christus eins
geworden das heißt, auch mit ihm der Vernichter des Gesetzes geworden;
mit ihm gestorben das heißt, auch dem Gesetze abgestorben! Selbst
wenn es noch möglich wäre, zu sündigen, so doch nicht mehr gegen
das Gesetz, »ich bin außerhalb desselben«. »Wenn ich jetzt
das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so würde ich
Christus zum Mithelfer der Sünde machen«; denn das Gesetz war dazu
da, daß gesündigt werde, es trieb die Sünde immer hervor, wie
ein scharfer Saft die Krankheit; Gott hätte den Tod Christi nie beschließen
können, wenn überhaupt ohne diesen Tod eine Erfüllung des Gesetzes
möglich gewesen wäre; jetzt ist nicht nur alle Schuld abgetragen, sondern
die Schuld an sich vernichtet; jetzt ist das Gesetz tot, jetzt ist die Fleischlichkeit,
in der es wohnt, tot oder wenigstens in fortwährendem Absterben, gleichsam
verwesend. Noch kurze Zeit inmitten dieser Verwesung! das ist das Los des
Christen, bevor er, eins geworden mit Christus, aufersteht mit Christus, an der
göttlichen Herrlichkeit teilnimmt mit Christus und »Sohn Gottes«
wird, gleich Christus. Damit ist der Rausch des Paulus auf seinem Gipfel,
und ebenfalls die Zudringlichkeit seiner Seele, mit dem Gedanken des Einswerdens
ist jede Scham, jede Unterordnung, jede Schranke von ihr genommen, und der unbändige
Wille der Herrschsucht offenbart sich als ein vorwegnehmendes Schwelgen in göttlichen
Herrlichkeiten. Dies ist der erste Christ, der Erfinder der Christlichkeit!
Bis dahin gab es nur einige jüdische Sektierer. (Ebd., 1881, S. 58-62).Unnachahmlich.
Es gibt eine ungeheure Spannung und Spannweite zwischen Neid und Freundschaft,
zwischen Selbstverachtung und Stolz: in der ersten lebte der Grieche, in der zweiten
der Christ. (Ebd., 1881, S. 62).Wozu ein grober Intellekt
nütze ist. Die christliche Kirche ist eine Enzyklopädie von
vorzeitlichen Kulten und Anschauungen der verschiedensten Abkunft und deshalb
so missionsfähig: sie mochte ehemals, sie mag jetzt kommen, wohin sie will,
sie fand und findet etwas Ähnliches vor, dem sie sich anpassen und dem sie
allmählich ihren Sinn unterschieben kann. Nicht das Christliche an ihr, sondern
das Universal-Heidnische ihrer Gebräuche ist der Grund für die
Ausbreitung dieser Weltreligion; ihre Gedanken, die zugleich im Jüdischen
und im Hellenischen wurzeln, haben von Anbeginn an über die nationalen und
rassemäßigen Absonderungen und Feinheiten, gleich als über Vorurteile,
sich zu erheben gewußt. Man mag diese Kraft, das Verschiedenste ineinander
wachsen zu lassen, immerhin bewundern: nur vergesse man auch die verächtliche
Eigenschaft dieser Kraft nicht, die erstaunliche Grobheit und Genügsamkeit
ihres Intellekts in der Zeit der Kirchenbildung, um dergestalt mit jeder Kost
fürlieb zu nehmen und Gegensätze wie Kieselsteine zu verdauen.
(Ebd., 1881, S. 63-63).Die christliche Rache an Rom.
Nichts ermüdet vielleicht so sehr als der Anblick eines beständigen
Siegers, man hatte Rom zweihundert Jahre lang ein Volk nach dem andern
sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt, alle Zukunft schien am Ende, alle
Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet ja, wenn das Reich baute,
so baute man mit dem Hintergedanken des »aere perennius«;
wir, die wir nur die »Melancholie der Ruinen« kennen, können
kaum jene ganz andersartige Melancholie der ewigen Bauten verstehen, gegen
welche man sich zu retten suchen mußte, wie es gehen wollte, zum
Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens. Andere suchten andere Trostmittel gegen
die an Verzweiflung grenzende Müdigkeit, gegen das tötende Bewußtsein,
daß alle Gedanken- und Herzensgänge nunmehr ohne Hoffnung seien, daß
überall die große Spinne sitze, daß sie unerbittlich alles Blut
trinken werde, wo es auch noch quelle. Dieser jahrhundertalte wortlose
Haß der ermüdeten Zuschauer gegen Rom, so weit nur Rom herrschte, entlud
sich endlich im Christentum, indem es Rom, die »Welt« und die
»Sünde« in eine Empfindung zusammenfaßte: man rächte
sich an ihm, indem man den plötzlichen Untergang der Welt sich in der Nähe
dachte; man rächte sich an ihm, indem man wieder eine Zukunft vor sich stellte
Rom hatte alles zu seiner Vorgeschichte und Gegenwart zu machen
gewußt und eine Zukunft, in Vergleich zu welcher Rom nicht mehr als
das Wichtigste erschien; man rächte sich an ihm, indem man vom letzten Gericht
träumte, und der gekreuzigte Jude als Symbol des Heils war der tiefste
Spott auf die prachtvollen römischen Prätoren in der Provinz, denn nun
erschienen sie als die Symbole des Unheils und der zum Untergange reifen »Welt«.
(Ebd., 1881, S. 90).Das »Nach-dem-Tode«.
Das Christentum fand die Vorstellung von Höllenstrafen im ganzen römischen
Reiche vor: über ihr haben die zahlreichen geheimen Kulte mit besonderem
Wohlgefallen gebrütet, als über dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht. Epikur
hatte für seinesgleichen nichts Größeres zu tun geglaubt, als
die Wurzeln dieses Glaubens auszureißen: sein Triumph, der am schönsten
im Munde des düsteren und doch hellgewordenen Jüngers seiner Lehre,
des Römers Lukretius, ausklingt, kam zu früh, das Christentum
nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen Schrecknisse in seinen
besonderen Schutz, und tat klug daran! Wie hätte es ohne diesen kühnen
Griff ins volle Heidentum den Sieg über die Popularität der Mithras-
und Isiskulte davontragen können! So brachte es die Furchtsamen auf seine
Seite, die stärksten Anhänger eines neuen Glaubens! Die Juden,
als ein Volk, welches am Leben hing und hängt, gleich den Griechen und mehr
als die Griechen, hatten jene Vorstellungen wenig angebaut: der endgültige
Tod als die Strafe des Sünders, und niemals wieder auferstehen als äußerste
Drohung, das wirkte schon stark genug auf diese sonderbaren Menschen, welche
ihren Leib nicht loswerden wollten, sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Ägyptizismus,
in alle Ewigkeit zu retten hofften. (Ein jüdischer Märtyrer, von dem
im zweiten Buche der Makkabäer zu lesen ist, denkt nicht daran, auf seine
herausgerissenen Eingeweide Verzicht zu leisten: bei der Auferstehung will er
sie haben, so ist es jüdisch!) Den ersten Christen lag der
Gedanke an ewige Qualen ganz fern, sie dachten »vom Tode« erlöst
zu sein und erwarteten von Tag zu Tag eine Verwandlung, und nicht mehr ein Sterben.
(Wie seltsam muß der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben!
Wie mischten sich da Verwunderung, Frohlocken, Zweifel, Scham, Inbrunst!
wahrlich ein Vorwurf für große Künstler!) Paulus wußte nichts
Besseres seinem Erlöser nachzusagen, als daß er den Zugang zur Unsterblichkeit
für jedermann eröffnet habe, er glaubt noch nicht an die
Auferstehung der Unerlösten, ja infolge seiner Lehre vom unerfüllbaren
Gesetze und vom Tode als Folge der Sünde argwöhnt er, im Grunde sei
bisher niemand (oder sehr wenige, und dann aus Gnade und ohne Verdienst) unsterblich
geworden; jetzt erst beginne die Unsterblichkeit ihre Tore aufzutun,
und zuletzt seien auch für sie sehr wenige auserwählt: wie der Hochmut
des Auserwählten nicht unterlassen kann hinzuzufügen. Anderwärts,
wo der Trieb nach Leben nicht gleich groß war, wie unter Juden und Judenchristen,
und die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht ohne weiteres wertvoller erschien als
die Aussicht auf einen endgültigen Tod, wurde jener heidnische und doch auch
nicht ganz unjüdische Zusatz von der Hölle ein erwünschtes Werkzeug
in der Hand der Missionäre: es erhob sich die neue Lehre, daß auch
der Sünder und Unerlöste unsterblich sei, die Lehre vom Ewig-Verdammten,
und sie war mächtiger als der nunmehr ganz verbleichende Gedanke vom endgültigen
Tode. Erst die Wissenschaft hat ihn sich wieder zurückerobern müssen,
und zwar indem sie zugleich jede andere Vorstellung vom Tode und jedes jenseitige
Leben ablehnte. Wir sind um ein Interesse ärmer geworden: das »Nach-dem-Tode«
geht uns nichts mehr an! eine unsägliche Wohltat, welche nur noch
zu jung ist, um als solche weit- und breithin empfunden zu werden. Und
von neuem triumphiert Epikur! (Ebd., 1881, S. 64-66).Nicht
europäisch und nicht vornehm. Es ist etwas Orientalisches und
etwas Weibliches im Christentum: das verrät sich in dem Gedanken »wen
Gott lieb hat, den züchtigt er«; denn die Frauen im Orient betrachten
Züchtigungen und strenge Abschließung ihrer Person gegen die Welt als
ein Zeichen der Liebe ihres Mannes und beschweren sich, wenn diese Zeichen ausbleiben.
(Ebd., 1881, S. 67).Böse denken heißt böse machen.
Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse
und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christentum gelungen, aus Eros
und Aphrodite großen idealfähigen Mächten höllische
Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen
der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ.
Ist es nicht schrecklich, notwendige und regelmäßige Empfindungen zu
einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend bei
jedem Menschen notwendig und regelmäßig machen zu wollen! Noch
dazu bleibt es ein geheimgehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend: denn
nicht alle haben den Mut Shakespeares, ihre christliche Verdüsterung in diesem
Punkte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten getan hat. Muß
denn etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder
sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse
heißen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse
zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen
wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, daß hier der
eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohltut, man
trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur!
Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben!
Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern! Zuletzt
hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen: der »Teufel«
Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen
geworden, dank der Munkelei und Geheimtuerei der Kirche in allen erotischen Dingen:
sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte
das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, in
einer dem Altertum unbegreiflichen Übertreibung, der später einmal auch
noch das Gelächter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei,
vom Größten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit,
mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und
mehr als gezeichnet: vielleicht daß ihrethalben die Nachwelt urteilt, auf
der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Kultur liege etwas Kleinliches
und Verrücktes. (Ebd., 1881, S. 67-68).Die strafende
Gerechtigkeit. Unglück und Schuld, diese beiden Dinge sind
durch das Christentum auf eine Waage gesetzt worden: so daß, wenn das Unglück
groß ist, das auf eine Schuld folgt, jetzt immer noch unwillkürlich
die Größe der Schuld selber danach zurückbemessen wird. Dies aber
ist nicht antik, und deshalb gehört die griechische Tragödie,
in der so reichlich und doch in so anderem Sinne von Unglück und Schuld die
Rede ist, zu den großen Befreierinnen des Gemüts, in einem Maße,
wie es die Alten selber nicht empfinden konnten. Sie waren so harmlos geblieben,
zwischen Schuld und Unglück keine »adäquate Relation« anzusetzen.
Die Schuld ihrer tragischen Heroen ist wohl der kleine Stein, über welchen
diese stolpern und deswegen sie wohl den Arm brechen oder sich ein Auge ausschlagen:
die antike Empfindung sagte dazu: »Ja, er hätte etwas bedachtsamer
und weniger übermütig seinen Weg machen sollen!« Aber erst dem
Christentum war es vorbehalten, zu sagen: »Hier ist ein schweres Unglück
und hinter ihm muß eine schwere, gleichschwere Schuld verborgen
liegen, ob wir sie schon nicht deutlich sehen! Empfindest du Unglücklicher
nicht so, so bist du verstockt, du wirst noch Schlimmeres zu erleben haben!«
Sodann gab es im Altertum wirklich noch Unglück, reines, unschuldiges
Unglück; erst im Christentum wird alles Strafe, wohlverdiente Strafe: es
macht die Phantasie des Leidenden auch noch leidend, so daß er bei allem
Übel-ergehen sich moralisch verwerflich und verworfen fühlt. Arme Menschheit!
Die Griechen haben ein eigenes Wort für die Empörung über
das Unglück des andern: dieser Affekt war unter christlichen Völkern
unstatthaft und hat sich wenig entwickelt, und so fehlt ihnen auch der Name für
diesen männlicheren Bruder des Mitleidens. (Ebd., 1881, S. 71).»In
hoc signo vinces.« So vorgeschritten Europa auch sonst sein mag:
in religiösen Dingen hat es noch nicht die freisinnige Naivität der
alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, daß in Indien vor vier Jahrtausenden
mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt
unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, daß die Priester
mächtiger seien als die Götter, und zweitens, daß die Bräuche
es seien, worin die Macht der Priester begriffen liege: weshalb ihre Dichter nicht
müde wurden, die Bräuche (Gebete, Zeremonien, Opfer, Lieder, Metren)
als die eigentlichen Geber alles Guten zu preisen. Wie viel Dichterei und Aberglaube
hier auch immer dazwischengelaufen sein mag: die Sätze sind wahr!
Einen Schritt weiter: und man warf die Götter beiseite, was Europa
auch einmal tun muß! Noch einen Schritt weiter: und man hatte auch die Priester
und Vermittler nicht mehr nötig, und der Lehrer der Religion der Selbsterlösung,
Buddha, trat auf: wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Kultur!
Wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die
Macht der Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also
die Moral im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt ja was kommt dann?
Doch raten wir nicht herum, sondern sehen wir zunächst zu, daß Europa
nachholt, was in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden
als Gebot des Denkens getan wurde! Es gibt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen
Menschen unter den verschiedenen Völkern Europas, welche nicht mehr »an
Gott glauben«, ist es zu viel gefordert, daß sie einander ein
Zeichen geben? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch
zu erkennen geben, sie werden sofort eine Macht in Europa sein und, glücklicherweise,
eine Macht zwischen den Völkern! Zwischen den Ständen! Zwischen Arm
und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und
den ruhigsten, beruhigendsten Menschen! (Ebd., 1881, S. 81-82).
2. Buch
Es
gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. »Die Sittlichkeit
leugnen« das kann einmal heißen: leugnen, daß
die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren
Handlungen getrieben haben, es ist also die Behauptung, daß die Sittlichkeit
in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei)
der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten
am meisten. Sodann kann es heißen: leugnen, daß die sittlichen
Urteile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, daß sie Motive des
Handelns wirklich sind, daß aber auf diese Weise Irrtümer, als
Grund alles sittlichen Urteilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen
treiben. Dies ist mein Gesichtspunkt: doch möchte ich am wenigsten verkennen,
daß in sehr vielen Fällen ein feines Mißtrauen nach Art
des ersten Gesichtspunktes, also im Geiste des Larochefoucauld, auch im Rechte
und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. Ich leugne also
die Sittlichkeit wie ich die Alchimie leugne, das heißt ich leugne ihre
Voraussetzungen: nicht aber, daß es Alchimisten gegeben hat, welche
an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. Ich leugne
auch die Unsittlichkeit: nicht, daß zahllose Menschen sich unsittlich
fühlen, sondern daß es einen Grund in der Wahrheit gibt,
sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht
vorausgesetzt, daß ich kein Narr bin , daß viele Handlungen,
welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls,
daß viele, die sittlich heißen, zu tun und zu fördern sind
aber ich meine: das eine wie das andere aus anderen Gründen als bisher.
Wir haben umzulernen, um endlich, vielleicht sehr spät, noch
mehr zu erreichen: umzufühlen. (Ebd., 1881, S. 85-86).Unsere
Wertschätzungen. Alle Handlungen gehen auf Wertschätzungen
zurück, alle Wertschätzungen sind entweder eigene oder angenommene,
letztere bei weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht,
das heißt: wir halten es für ratsamer, uns so zu stellen, als ob sie
auch die unsrigen wären und gewöhnen uns an diese Verstellung,
so daß sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Wertschätzung: das will
besagen, eine Sache in bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem
anderen Lust oder Unlust macht, etwas äußerst Seltenes!
Aber wenigstens muß doch unsre Wertschätzung des anderen, in der das
Motiv dafür liegt, daß wir uns in den meisten Fällen seiner Wertschätzung
bedienen, von uns ausgehen, unsere eigene Bestimmung sein? Ja, aber als
Kinder machen wir sie und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens
die Narren kindlicher angewöhnter Urteile in der Art, wie wir über unsre
Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit)
urteilen und es nötig finden, vor ihren Wertschätzungen zu huldigen.
(Ebd., 1881, S. 86).Der Schein-Egoismus. Die allermeisten,
was sie auch immer von ihrem »Egoismus« denken und sagen mögen,
tun trotzdem ihr Leben lang nichts für ihr ego, sondern nur für
das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung über
sie gebildet und sich ihnen mitgeteilt hat; infolgedessen leben sie alle
zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen
und willkürlichen, gleichsam dichterischen Wertschätzungen, einer immer
im Kopfe des andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen: eine wunderliche
Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen Anschein zu geben
weiß! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt
fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt; in ihm liegt die
ungeheure Wirkung allgemeiner Urteile über »den Menschen«,
alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstraktum
»Mensch«, das heißt an eine Fiktion; und jede Veränderung,
die mit diesem Abstraktum vorgenommen wird, durch die Urteile einzelner Mächtiger
(wie Fürsten und Philosophen), wirkt außerordentlich und in unvernünftigem
Maße auf die große Mehrzahl, alles aus dem Grunde, daß
jeder einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von
ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiktion entgegenzustellen
und sie damit zu vernichten vermag. (Ebd., 1881, S. 86-87).Gegen
die Definitionen der moralischen Ziele. Man hört allerwärts
jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt: es sei die Erhaltung und Förderung
der Menschheit; aber das heißt eine Formel haben wollen, und weiter nichts.
Erhaltung, worin? muß man sofort dagegen fragen, Förderung,
wohin? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin?
und Wohin? in der Formel ausgelassen? Was läßt sich also mit ihr für
die Pflichtenlehre festsetzen, was nicht schon, stillschweigend und gedankenlos,
jetzt als festgesetzt gilt! Kann man aus ihr genügend absehen, ob man eine
möglichst lange Existenz der Menschheit ins Auge zu fassen habe? Oder die
möglichste Enttierung der Menschheit? Wie verschieden würden in beiden
Fällen die Mittel, das heißt die praktische Moral, sein müssen!
Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit
geben: dies hieße gewiß nicht ihr die höchste ihr mögliche
Dauer verbürgen! Oder gesetzt, man dächte an ihr »höchstes
Glück« als das Wohin und Worin: meint man dann den höchsten Grad,
den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten? Oder eine, übrigens
gar nicht zu berechnende, letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit
aller? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin? Ist nicht
durch sie, im großen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen
aufgetan worden, daß man eher urteilen könnte, mit jeder Verfeinerung
der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und
mit seinem Lose des Daseins unzufriedener geworden? Ist nicht der bisher
moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen
im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit? (Ebd., 1881,
S. 87-88).Es ist nicht wahr, daß die Moralität, wie
das Vorurteil will, der Entwicklung der Vernunft günstiger sei als die Unmoralität.
Es ist nicht wahr, daß das unbewußte Ziel in der Entwicklung
jedes bewußten Wesens (Tier, Mensch, Menschheit usw.) sein »höchstes
Glück« sei: vielmehr gibt es auf allen Stufen der Entwicklung ein besonderes
und unvergleichbares, weder höheres noch niederes, sondern eben eigentümliches
Glück zu erlangen. Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwicklung
und weiter nichts. Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel
hätte, könnte man vorschlagen »so und so soll gehandelt werden«:
einstweilen gibt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral
nicht in Beziehung zur Menschheit setzen, es ist dies Unvernunft und Spielerei.
Der Menschheit ein Ziel anempfehlen ist etwas ganz anderes: dann
ist das Ziel als etwas gedacht, das in unserem Belieben ist; gesetzt, es
beliebte der Menschheit so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich darauf
hin auch ein Moralgesetz geben, ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher
sollte das Moralgesetz über dem Belieben stehen: man wollte dies Gesetz sich
nicht eigentlich geben, sondern es irgendwoher nehmen oder irgendwo es auffinden
oder irgendwoher es sich befehlen lassen. (Ebd., 1881, S. 120).Sokrates
und Plato, in diesem Stücke große Zweifler und bewunderungswürdige
Neuerer, waren doch harmlos gläubig in betreff jenes verhängnisvollsten
Vorurteils, jenes tiefsten Irrtums, daß »der richtigen Erkenntnis
die richtige Handlung folgen müsse«, sie waren in diesem
Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dünkels: daß
es ein Wissen um das Wesen einer Handlung gebe. »Es wäre ja schrecklich,
wenn der Einsicht in das Wesen der rechten Tat nicht die rechte Tat folgte«,
dies ist die einzige Art, wie jene Großen diesen Gedanken zu beweisen
für nötig hielten, das Gegenteil schien ihnen undenkbar und toll
und doch ist dies Gegenteil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und
stündlich bewiesene Wirklichkeit! Ist es nicht gerade die »schreckliche«
Wahrheit: daß, was man von einer Tat überhaupt wissen kann, niemals
ausreicht, sie zu tun, daß die Brücke von der Erkenntnis zur Tat in
keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist? Die Handlungen sind niemals
das, als was sie uns erscheinen! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen,
daß die äußeren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen,
nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso! (Ebd., 1881, S.
102-103).Was ist denn der Nächste! Was begreifen
wir denn von unserm Nächsten als seine Grenzen, ich meine das, womit er sich
auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt ? Wir begreifen nichts
von ihm als die Veränderungen an uns, deren Ursache er ist,
unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen geformten Raume. Wir legen ihm
die Empfindungen bei, die seine Handlungen in uns hervorrufen, und geben ihm so
eine falsche, umgekehrte Positivität. Wir bilden ihn nach unsrer Kenntnis
von uns, zu einem Satelliten unsres eigenen Systems: und wenn er uns leuchtet
oder sich verfinstert, und wir von beidem die letzte Ursache sind, so glauben
wir doch das Gegenteil! Welt der Phantome, in der wir leben! Verkehrte, umgestülpte,
leere, und doch voll und gerade geträumte Welt! (Ebd.,
1881, S. 105).»Ursache und Wirkung!«
Auf diesem Spiegel und unser Intellekt ist ein Spiegel geht etwas
vor, das Regelmäßigkeit zeigt, ein bestimmtes Ding folgt jedesmal wieder
auf ein anderes bestimmtes Ding das nennen wir, wenn wir es wahrnehmen
und nennen wollen, Ursache und Wirkung, wir Toren! Als ob wir da irgend etwas
begriffen hätten und begreifen könnten! Wir haben ja nichts gesehen
als die Bilder von »Ursachen und Wirkungen«! Und eben diese
Bildlichkeit macht ja die Einsicht in eine wesentlichere Verbindung, als
die der Aufeinanderfolge ist, unmöglich! (Ebd., 1881, S. 109).Die
Zwecke in der Natur. Wer, als unbefangener Forscher, der Geschichte
des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das
ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muß zu dem großen Ergebnis
kommen: daß das Sehen nicht die Absicht bei der Entstehung des Auges
gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als der Zufall den Apparat
zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel: und die »Zwecke«
fallen uns wie Schuppen von den Augen! (Ebd., 1881, S. 110).Vernunft.
Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist? Wie billig auf eine unvernünftige
Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn erraten müssen wie ein Rätsel.
(Ebd., 1881, S. 110).Was ist Wollen! Wir lachen über
den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren
tritt, und sagt: »ich will, daß die Sonne aufgehe«; und über
den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: »ich will, daß
es rolle«; und über den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und
sagt: »hier liege ich, aber ich will hier liegen!« Aber, trotz
allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders als einer von diesen dreien,
wenn wir das Wort gebrauchen: »ich will«? (Ebd., 1881,
S. 110).Vom »Reiche der Freiheit«. Wir
können viel, viel mehr Dinge denken, als tun und erleben, das heißt
unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja
es merkt sie nicht. Wäre unser Intellekt streng nach dem Maße unserer
Kraft und unserer Übung der Kraft entwickelt, so würden wir den
Grundsatz zu oberst in unserem Denken haben, daß wir nur begreifen können,
was wir tun können, wenn es überhaupt ein Begreifen gibt.
Der Durstige entbehrt des Wassers, aber seine Gedankenbilder führen ihm unaufhörlich
das Wasser vor die Augen, wie als ob nichts leichter zu beschaffen wäre,
die oberflächliche und leicht zufriedengestellte Art des Intellektes
kann das eigentliche notleidende Bedürfnis nicht fassen und fühlt sich
dabei überlegen: er ist stolz darauf, mehr zu können, schneller zu laufen,
im Augenblick fast am Ziele zu sein, und so erscheint das Reich der Gedanken
im Vergleich mit dem Reiche des Tuns, Wollens und Erlebens als ein Reich der
Freiheit: während es, wie gesagt, nur ein Reich der Oberfläche und
der Genügsamkeit ist. (Ebd., 1881, S. 110-111).Vergessen.
Daß es ein Vergessen gibt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen,
ist allein, daß die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorläufig
haben wir in diese Lücke unserer Macht jenes Wort »Vergessen«
gesetzt: gleich als ob es ein Vermögen mehr im Register sei. Aber was steht
zuletzt in unserer Macht! Wenn jenes Wort in einer Lücke unserer Macht
steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lücke unseres Wissens
um unsere Macht stehen? (Ebd., 1881, S. 111).Nach
Zwecken. Von allen Handlungen werden wohl am wenigsten die nach Zwecken
verstanden, weil sie immer als die verständlichsten gegolten haben und für
unser Bewußtsein das Alltäglichste sind. Die großen Probleme
liegen auf der Gasse. (Ebd., 1881, S. 111).Der Traum und
die Verantwortlichkeit. In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur
nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit welcher Mangel
an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume! Nichts
mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer in diesen Komödien
seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor
euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich Trost aus
dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können,
was wir träumen! Ich schließe daraus: daß die große Mehrzahl
der Menschen sich abscheulicher Träume bewußt sein muß. Wäre
es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den
Hochmut des Menschen ausgebeutet haben! Muß ich hinzufügen,
daß der weise Ödipus recht hatte, daß wir wirklich nicht für
unsere Träume aber ebensowenig für unser Wachen verantwortlich
sind, und daß die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl
des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage dies vielleicht zu oft:
aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrtum. (Ebd., 1881, S. 112).Die
moralischen Moden. Wie sich die moralischen Gesamt-Urteile verschoben
haben! Diese größten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel
Epiktet, wußten nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens
an andere, des Lebens für andere; man würde sie nach unserer moralischen
Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften
für ihr ego und gegen die Mitempfindung mit den anderen (namentlich
mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht daß sie uns
antworten würden: »habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder
häßlichen Gegenstand, so denkt doch ja an andere mehr als an euch!
Ihr tut gut daran!« (Ebd., 1881, S. 120).Aus dem allen
folgt, daß, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes
und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Überlegenheit-Gebendes liegt;
was beide Empfindungen auf ewig voneinander trennt. (Ebd., 1881, S. 125).Angeblich
höher! Ihr sagt, die Moral des Mitleidens ist eine höhere
Moral als die des Stoizismus? Beweist es! aber bemerkt, daß über »höher«
und »niedriger« in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen
abzumessen ist: denn es gibt keine absolute Moral. Nehmt also die Maßstäbe
anderswo her und nun seht euch vor! (Ebd., 1881, S. 126).Wehe,
wenn dieser Trieb erst wütet! Gesetzt, der Trieb der Anhänglichkeit
und Fürsorge für andere (die »sympathische Affektion«) wäre
doppelt so stark, als er ist, so wäre es gar nicht auf der Erde auszuhalten.
Man bedenke doch nur, was jeder aus Anhänglichkeit und Fürsorge für
sich selber an Torheiten begeht, täglich und stündlich, und wie
unausstehlich er dabei anzusehn ist: wie wäre es, wenn wir für andere
das Objekt dieser Torheiten und Zudringlichkeiten wür den, mit denen sie
sich bisher nur selber heimgesucht haben! Würde man dann nicht blindlings
flüchten, sobald ein »Nächster« uns nahe käme? Und
die sympathische Affektion mit ebenso bösen Worten belegen, mit denen wir
jetzt den Egoismus belegen? (Ebd., 1881, S. 130).»Unegoistisch!«
Jener ist hohl und will voll werden, dieser ist überfüllt und
will sich ausleeren, beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das
ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt
man beidemal mit einem Worte: Liebe, wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches
sein? (Ebd., 1881, S. 131).Dürfen wir unsern Nächsten
nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln? (Ebd., 1881, S. 132).Gesetzt,
wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten,
den Nächsten mit aufzuopfern? (Ebd., 1881, S. 132).Warum
sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen
Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? so daß ihr Gram, ihre
Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nötig
befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar
für alle machen solle? (Ebd., 1881, S. 132).Endlich:
wir teilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er sich als
Opfer fühlen kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für
die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch über
unser Mitleid hinweg gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist dies nicht
eine höhere und freiere Haltung und Stimmung als jene, bei der man sich sicher
fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten wohl
oder wehe tut? Wir dagegen würden doch durch das Opfer in welchem
wir und die Nächsten einbegriffen sind das allgemeine Gefühl
der menschlichen Macht stärken und höher heben, gesetzt auch,
daß wir nicht mehr erreichten. Aber schon dies wäre eine positive Vermehrung
des Glücks. Zuletzt, wenn dies sogar doch hier
kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden. (Ebd.,
1881, S. 132-133).Ausblick in die Ferne. Sind nur
die Handlungen moralisch, wie man wohl definiert hat, welche um des anderen willen
und nur um seinetwillen getan werden, so gibt es keine moralischen Handlungen!
Sind nur die Handlungen moralisch wie eine andere Definition lautet ,
welche in Freiheit des Willens getan werden, so gibt es ebenfalls keine moralischen
Handlungen! Und was ist also das, was man so nennt und das doch
jedenfalls existiert und erklärt sein will? Es sind die Wirkungen einiger
intellektuellen Fehlgriffe. Und gesetzt, man machte sich von diesen Irrtümern
frei, was würde aus den »moralischen Handlungen«? Vermöge
dieser Irrtümer teilten wir bisher einigen Handlungen einen höheren
Wert zu, als sie haben: wir trennten sie von den »egoistischen« und
den »unfreien« Handlungen ab. Wenn wir sie jetzt diesen wieder zuordnen,
wie wir tun müssen, so verringern wir gewiß ihren Wert (ihr
Wertgefühl), und zwar unter das billige Maß hinab, weil die »egoistischen«
und »unfreien« Handlungen bisher zu niedrig geschätzt wurden,
auf Grund jener angeblichen tiefsten und innerlichsten Verschiedenheit.
So werden gerade sie von jetzt ab weniger oft getan werden, weil sie von nun an
weniger geschätzt werden? Unvermeidlich! Wenigstens für eine
gute Zeit, solange die Waage des Wertgefühls unter der Reaktion früherer
Fehler steht! Aber unsere Gegenrechnung ist die, daß wir den Menschen den
guten Mut zu den als egoistisch verschrienen Handlungen zurückgeben und den
Wert derselben wiederherstellen, wir rauben diesen das böse
Gewissen! Und da diese bisher weit die häufigsten waren und in alle Zukunft
es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde der Handlungen und des Lebens seinen
bösen Anschein! Dies ist ein sehr hohes Ergebnis! Wenn der Mensch
sich nicht mehr für böse hält, hört er auf, es zu sein!
(Ebd., 1881, S. 133-134).
3. Buch
Kleine
abweichende Handlungen tun not! In den Angelegenheiten der Sitte auch
einmal wider seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und
sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie alle und damit allen
eine Artigkeit und Wohltat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für
das Abweichende unserer Meinungen: das gilt bei vielen leidlich freigesinnten
Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als »honett«, »human«,
»tolerant«, »nicht pedantisch«, und wie die schönen
Worte lauten mögen, mit denen das intellektuelle Gewissen in Schlaf gesungen
wird: und so bringt dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei
Atheist, und jener tut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhaß
verdammt, und ein dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es
eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne
sich zu schämen. »Es ist nicht wesentlich, wenn unsereiner auch
tut, was alle immerdar tun und getan haben« so klingt das grobe Vorurteil!
Der grobe Irrtum! Denn es gibt nichts Wesentlicheres, als wenn das
bereits Mächtige, Altherkömm liche und vernunftlos Anerkannte durch
die Handlung eines anerkannt Vernünftigen noch einmal bestätigt wird:
damit erhält es in den Augen aller die davon hören, die Sanktion der
Vernunft selber! Alle Achtung vor euren Meinungen! Aber kleine abweichende
Handlungen sind mehr wert! (Ebd., 1881, S. 135).Der
Zufall der Ehen. Wäre ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott,
so würden mich die Ehen der Menschen mehr als alles andere ungeduldig
machen. Weit, weit kann ein einzelner vorwärts kommen, in seinen siebenzig,
ja in seinen dreißig Jahren es ist zum Erstaunen, selbst für
Götter! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermächtnis dieses
Ringens und Siegens, den Lorbeer seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort
aufhängt, wo ihn ein Weiblein zerpflückt: sieht man, wie gut er zu erringen,
wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, daß
er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten könne:
so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich »es kann aus der Menschheit
auf die Dauer nichts werden, die einzelnen werden verschwendet, der Zufall der
Ehen macht alle Vernunft eines großen Ganges der Menschheit unmöglich
hören wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels
ohne Ziel zu sein!« In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Götter
Epikurs in ihre göttliche Stille und Seligkeit zurück: sie waren der
Menschen und ihrer Liebeshändel müde. (Ebd., 1881, S. 135-136).Hier
sind neue Ideale zu erfinden. Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande
der Verliebtheit einen Entschluß über sein Leben zu fassen und einer
heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein für allemal festzusetzen:
man sollte die Schwüre der Liebenden öffentlich für ungültig
erklären und ihnen die Ehe verweigern: und zwar, weil man die Ehe
unsäglich wichtiger nehmen sollte! so daß sie in solchen Fällen,
wo sie bisher zustande kam, für gewöhnlich gerade nicht zustande käme!
Sind nicht die meisten Ehen der Art, daß man keinen dritten als Zeugen wünscht?
Und gerade dieser dritte fehlt fast nie das Kind und ist mehr als
ein Zeuge, nämlich der Sündenbock! (Ebd., 1881, S. 136).Eidformel.
»Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch
mehr, und jeder soll es mir ins Gesicht sagen dürfen.« Diese
Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der üblichen Anrufung
Gottes dabei: sie ist stärker. Auch der Fromme hat keinen Grund, sich
ihr zu widersetzen: sobald nämlich der bisherige Eid nicht mehr hinreichend
nützt, muß der Fromme auf seinen Katechismus hören, welcher vorschreibt
»du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht unnützlich führen!«
(Ebd., 1881, S. 137).Ein Unzufriedener. Das ist einer
jener alten Tapferen: er ärgert sich über die Zivilisation, weil er
meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge, Ehren, Schätze, schöne
Weiber auch den Feigen zugänglich zu machen. (Ebd., 1881, S.
137).Trost der Gefährdeten. Die Griechen, in
einem Leben, welches großen Gefahren und Umstürzen sehr nahe stand,
suchten im Nachdenken und Erkennen eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes
refugium. Wir, in einem unvergleichlich sichreren Zustande, haben die Gefährlichkeit
ins Nachdenken und Erkennen getragen und erholen und beruhigen uns von ihr am
Leben. (Ebd., 1881, S. 138).Erloschene Skepsis.
Kühne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener als in der alten und
mittelalterlichen wahrscheinlich deshalb, weil die neue Zeit nicht mehr
den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das heißt:
wir sind dazu unfähig geworden, an eine uns bestimmte Zukunft zu glauben,
so wie die Alten glaubten, welche anders als wir in Beziehung auf
das, was kommt, viel weniger Skeptiker waren als in Beziehung auf das,
was da ist. (Ebd., 1881, S. 138).Aus Übermut
böse. »Daß wir uns nur nicht zu wohl fühlen!«
das war die heimliche Herzensangst der Griechen in der guten Zeit. Deshalb
predigten sie sich das Maß. Und wir! (Ebd., 1881, S. 138).Kultus
der »Naturlaute«. Wohin weist es, daß unsre Kultur
gegen die Äußerungen des Schmerzes, gegen Tränen, Klagen, Vorwürfe,
Gebärden der Wut oder der Demütigung, nicht nur geduldig ist, daß
sie dieselben gut heißt und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet?
während der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah
und ihnen durchaus keine Notwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie
Plato das heißt: keiner von den unmenschlichsten Philosophen
von dem Philoktet der tragischen Bühne redet. Sollte unsrer modernen Kultur
vielleicht »die Philosophie« fehlen? Sollten wir, nach der Abschätzung
jener alten Philosophen, vielleicht samt und sonders zum »Pöbel«
gehören? (Ebd., 1881, S. 138).Klima des Schmeichlers.
Die hündischen Schmeichler muß man jetzt nicht mehr in der Nähe
der Fürsten suchen diese haben alle den militärischen Geschmack,
und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der Nähe der Bankiers und
Künstler wächst jene Blume auch jetzt noch. (Ebd., 1881, S. 139).Die
Totenerwecker. Eitle Menschen schätzen ein Stück Vergangenheit
von dem Augenblick an höher, von dem an sie es nachzuempfinden vermögen
(zumal wenn dies schwierig ist), ja sie wollen es womöglich jetzt wieder
von den Toten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die
Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der
Tat nicht gering: es wird zu viel Kraft an alle möglichen Toten-Erweckungen
weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten
aus diesem Gesichtspunkte. (Ebd., 1881, S. 139).Eitel,
begehrlich und wenig weise. Eure Begierden sind größer als
euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch größer als eure Begierden
solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus recht viel christliche
Praxis und dazu ein wenig Schopenhauersche Theorie anzuraten! (Ebd., 1881,
S. 139).Schönheit gemäß dem Zeitalter.
Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so
müssen sie die Schönheit gedunsen, riesenhaft und nervös bilden:
so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maßes, die Schönheit
als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich häßlich
nennen! Aber die albernen »Klassizisten« haben uns um alle Ehrlichkeit
gebracht! (Ebd., 1881, S. 150).Die Ironie der Gegenwärtigen.
Augenblicklich ist es Europäer-Art, alle großen Interessen mit
Ironie zu behandeln, weil man vor Geschäftigkeit in ihrem Dienste keine Zeit
hat, sie ernst zu nehmen. (Ebd., 1881, S. 150).Gegen Rousseau.
Wenn es wahr ist, daß unsre Zivilisation etwas Erbärmliches
an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschließen »diese
erbärmliche Zivilisation ist Schuld an unsrer schlechten Moralität«,
oder gegen Rousseau zurückzuschließen »unsere gute Moralität
ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Zivilisation. Unsere schwachen, unmännlichen,
gesellschaftlichen Begriffe von Gut und Böse und die ungeheure Überherrschaft
derselben über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach
gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen,
die Pfeiler einer starken Zivilisation, zerbrochen: wo man der schlechten
Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser
Pfeiler.« So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier
die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von
beiden? Man prüfe. (Ebd., 1881, S. 150-141).Vielleicht
verfrüht. Gegenwärtig scheint es so, daß unter allerhand
falschen, irreführenden Namen und zumeist in großer Unklarheit, von
seiten derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden
halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisieren und damit sich
ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker,
Unsittliche, Bösewichte verschrien, unter dem Banne der Vogelfreiheit und
des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend lebten. Dies sollte man im ganzen
und großen billig und gut finden, wenn es auch das kommende
Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und jedem das Gewehr um die Schulter
hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, daß
es keine allein-moralisch-machende Moral gibt und daß jede ausschließlich
sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tötet und der Menschheit
zu teuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen
und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal
mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Taten und
Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht
werden; es soll eine ungeheure Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft
werden diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden
anerkannt und gefördert werden! (Ebd., 1881, S. 141).Welche
Moral nicht langweilt. Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich
immer wieder lehren und vorpredigen läßt, stehen in Beziehung zu seinen
Hauptfehlern, und deshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen
die Mäßigung, der kalte Mut, der gerechte Sinn und überhaupt die
Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier
sokratischen Tugenden denn man hatte sie so nötig und doch
gerade für sie so wenig Talent! (Ebd., 1881, S. 142).Scheidewege.
Pfui! Ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muß,
voll und ganz, oder unter die Räder gerät! Wo es sich von selber versteht,
daß jeder das ist, wozu er von oben her gemacht wird! Wo das Suchen
nach »Konnexion« zu den natürlichen Pflichten gehört! Wo
keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam
gemacht wird »er kann Ihnen einmal nützen«! Wo man sich nicht
schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten!
Wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in
solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferware der Natur bezeichnet
hat, welche andre verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür
verantwortlich zu fühlen; gleich als ob man sagte: »an solcher Art,
wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstände!«
(Ebd., 1881, S. 150).Die unbedingten Huldigungen.
Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehörtesten deutschen
Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke: so muß ich
mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der unbedingten Gefühle,
jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen großen Männern.
Es gibt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen: jedesmal einen Strom,
in seinem eignen, selbstgegrabenen Strombette, und so mächtig bewegt, daß
es öfter scheinen könnte, als wollte er den Berg hinaufströmen.
Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben möge: wer möchte
nicht gern andrer Meinung sein als Schopenhauer, im ganzen und großen!
Und wer könnte jetzt einer Meinung mit Richard Wagner sein, im ganzen
und im kleinen? so wahr es auch sein mag, was jemand gesagt hat, daß überall,
wo er Anstoß nimmt und wo er Anstoß gibt, ein Problem vergraben
liegt, genug, er selber bringt es nicht an das Licht. Und endlich,
wie viele möchten von ganzem Herzen mit Bismarck einer Meinung sein, wenn
er selber nur mit sich einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es
fürderhin zu sein! Zwar: ohne Grundsätze, aber mit Grundtrieben,
ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben deshalb ohne Grundsätze
das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben, vielmehr
als das Rechte und Naturgemäße gelten; aber leider war es bisher so
durchaus nicht deutsch! ebenso wenig als Lärm um Musik und Mißklang
und Mißmut um den Musiker, ebenso wenig als die neue und außerordentliche
Stellung, welche Schopenhauer wählte: nämlich weder über den Dingen,
noch auf den Knien vor den Dingen beides hätte noch deutsch heißen
können , sondern gegen die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich
in eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guter Letzt gar
als der Gegner seiner selber! was kann der unbedingte Verehrer mit einem
solchen Vorbilde anfangen! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern,
die untereinander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein
Gegner der Musik Wagners, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarcks, und Bismarck
ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu tun! Wohin sich
mit seinem Durste nach der »Huldigung in Bausch und Bogen« flüchten!
Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Takte
guter Musik auslesen, die sich einem ans Herz legen und denen man sich gern ans
Herz legt, weil sie ein Herz haben, könnte man mit diesem kleinen
Raub beiseite gehen und den ganzen Rest vergessen! Und ein eben solches
Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen
auslesen, sich ans Herz legen und namentlich den Rest vergessen! Ja, wenn
nur das Vergessen nicht so schwer wäre! Da gab es einen sehr stolzen Menschen,
der durchaus nur von sich selber etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als
er aber das Vergessen nötig hatte, konnte er es sich selber nicht
geben, sondern mußte dreimal die Geister beschwören; sie kamen, sie
hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie: »nur dies gerade steht
nicht in unserer Macht!« Sollten die Deutschen sich die Erfahrung Manfreds
nicht zunutze machen? Warum erst noch die Geister beschwören! Es ist unnütz,
man vergißt nicht, wenn man vergessen will. (Ebd., 1881, S. 142-144).Ein
Vorbild. Was liebe ich an Thukydides, was macht, daß ich ihn
höher ehre als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude
an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, daß zu jedem
Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu
entdecken. Er hat eine größere praktische Gerechtigkeit als Plato;
er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen
oder die ihm im Leben wehe getan haben. Im Gegenteil: er sieht etwas Großes
in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht;
was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen,
was nicht typisch wäre! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene
Kultur der unbefangensten Weltkenntnis zu einem letzten herrlichen Ausblühen,
welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates
ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Kultur, welche auf den
Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, getauft zu werden verdient und leider
von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blaß und unfaßbar
zu werden beginnt, denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr
unsittliche Kultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen
Schulen kämpfte! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, daß
es Widerwillen macht, sie aufzudröseln: so laufe der alte Irrtum (error
veritate simplicior) seinen alten Weg! (Ebd., 1881, S. 145).Das
Griechische uns sehr fremd. Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder
Europäisch: im Verhältnis zum Griechischen ist diesem allen die Massenhaftigkeit
und der Genuß an der großen Quantität als der Sprache des Erhabenen
zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und Athen und vor der ganzen
griechischen Architektur so erstaunt darüber wird, mit wie kleinen Massen
die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen lieben.
Ebenfalls: wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber
in ihrer Vorstellung! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntnis!
Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsre Vorstellungen
von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur
nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) so müßte
das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende
Musik läßt es schon erraten! (In der Musik nämlich lassen sich
die Menschen gehen, weil sie wähnen, es sei niemand da, der sie selber unter
ihrer Musik zu sehen vermöge.) (Ebd., 1881, S. 146).Andere
Perspektive des Gefühls. Was ist unser Geschwätz von den
Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele die Leidenschaft
für die männliche nackte Schönheit ist! Erst von da aus
empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine
völlig andere Perspektive als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe
zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders. (Ebd., 1881, S.
146).Tragödie und Musik. Männer in einer
kriegerischen Grundverfassung des Gemüts, wie zum Beispiel die Griechen in
der Zeit des Äschylus, sind schwer zu rühren, und wenn das Mitleiden
einmal über ihre Härte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und
gleich einer »dämonischen Gewalt«, sie fühlen sich
dann unfrei und von einem religiösen Schauder erregt. Hinterher haben sie
ihre Bedenken gegen diesen Zustand; solange sie in ihm sind, genießen sie
das Entzücken des Außer-sich-seins und des Wunderbaren, gemischt mit
dem bittersten Wermut des Leidens: es ist das so recht ein Getränk für
Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und Bittersüßes, das einem
nicht leicht zuteil wird. An Seelen, die so das Mitleiden empfinden, wendet
sich die Tragödie, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt,
sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nütze ist, von
Zeit zu Zeit erweicht zu werden: aber was soll die Tragödie denen,
welche den »sympathischen Affektionen« offenstehen wie die Segel den
Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer geworden waren, zur Zeit Platos
ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit unserer Groß-und
Kleinstädter! aber doch klagten schon die Philosophen über die
Schädlichkeit der Tragödie. Ein Zeitalter voller Gefahren wie
das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit im Preise
steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen wieder so hart machen, daß
tragische Dichter ihnen not tun: einstweilen aber waren diese ein wenig überflüssig,
um das mildeste Wort zu gebrauchen. So kommt vielleicht auch für
die Musik noch einmal das bessere Zeitalter (gewiß wird es das bösere
sein!) dann, wenn die Künstler sich mit ihr an streng persönliche, in
sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden
haben: aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen,
halbpersönlichen, neugierigen und nach allem lüsternen Seelchen des
verschwindenden Zeitalters! (Ebd., 1881, S. 147-148).Moralische
Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. Hinter dem Grundsatze der
jetzigen moralischen Mode: »moralische Handlungen sind die Handlungen der
Sympathie für andere« sehe ich einen sozialen Trieb der Furchtsamkeit
walten, welcher sich in dieser Weise intellektuell vermummt: dieser Trieb will,
als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, daß dem Leben alle Gefährlichkeit
genommen werde, welche es früher hatte, und daß daran jeder und mit
allen Kräften helfen solle: deshalb dürfen nur Handlungen, welche auf
die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen,
das Prädikat »gut« bekommen! Wie wenig Freude müssen
doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit
ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos
anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden
Notstand, für jedes Leiden anderwärts Luchsaugen zu haben! Sind wir
denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen
und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen?
Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde
der sympathischen Affektionen? Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet,
ob man dem andern mehr nützt, indem man ihm unmittelbar fortwährend
beispringt und hilft was doch nur sehr oberflächlich geschehen
kann, wo es nicht zu einem tyrannischen Übergreifen und Umbilden wird
oder indem man aus sich selber etwas formt, was der andre mit Genuß
sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher
hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstraßen, aber auch
eine gastfreundliche Pforte hat. (Ebd., 1881, S. 149-150).Grundgedanke
einer Kultur der Handeltreibenden. Man sieht jetzt mehrfach die Kultur
einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebensosehr
die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die ältern
Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende
versteht alles zu taxieren, ohne es zu machen, und zwar zu taxieren nach dem Bedürfnisse
der Konsumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse;
»wer und wie viele konsumieren dies?« ist seine Frage der Fragen.
Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinktiv und immerwährend an: auf
alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften,
der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien,
der ganzen Zeitalter: er fragt bei allem, was geschaffen wird, nach Angebot und
Nachfrage, um für sich den Wert einer Sache festzusetzen. Dies zum
Charakter einer ganzen Kultur gemacht, bis ins Unbegrenzte und Feinste durchgedacht
und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des
nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: wenn die Propheten der handeltreibenden
Klasse Recht haben dieses in euren Besitz zu geben! Aber ich habe wenig Glauben
an diese Propheten. Credat Judaeus Apella mit Horaz zu reden.
(Ebd., 1881, S. 150).Unser Zeitalter, soviel es von Ökonomie
redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist.
(Ebd., 1881, S. 153).Regieren. Die einen regieren,
aus Lust am Regieren; die andern, um nicht regiert zu werden: diesen ist
es nur das geringere von zwei Übeln. (Ebd., 1881, S. 153).Die
sogenannte klassische Erziehung. Zu entdecken, daß unser Leben
der Erkenntnis geweiht ist; daß wir es wegwerfen würden, nein! daß
wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte;
jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorspreche gibt:»Schicksal,
ich folge dir! Und wollt ich nicht, ich müßt' es doch und unter
Seufzen tun!« | (Ebd., 1881, S. 163).Nichts
wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als daß alles griechische und antike
Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich,
ja kaum zugänglich ist, und daß die übliche Leichtigkeit, mit
der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter
erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. (Ebd., 1881, S. 165).Bei
manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der Tat als Verbrecher behandelt,
als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgendeines dämonischen Wesens,
welches sich ihm infolge einer Schuld einverleibt hat, da heißt es:
jeder Kranke ist ein Schuldiger! Und wir sollten wir noch nicht reif für
die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dürfen:
jeder »Schuldige« ist ein Kranker? Nein, die Stunde dafür
ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor allem die Ärzte, für welche
das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst
und Heilwissenschaft umgewandelt haben muß; noch fehlt allgemein jenes hungrige
Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten
religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird; noch sind die
Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre
von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen
und höheren Schulen; noch gibt es keine stillen Vereine solcher, welche sich
untereinander verpflichtet haben, auf die Hilfe der Gerichte und auf Strafe und
Rache an ihren Übeltätern zu verzichten; noch hat kein Denker den Mut
gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen,
wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer,
welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte:
»willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneußt dein
der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, es geneußt
dein alle Kreatur.« (Ebd., 1881, S. 173-174).
4. Buch
Gewissensfrage.
»Und in summa: was wollt ihr eigentlich neues?«
Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sündern und die Folgen zu Henkern machen.
(Ebd., 1881, S. 185).Die Nützlichkeit der strengsten Theorien.
Man sieht einem Menschen viele Schwächen der Moralität nach und
handhabt dabei ein grobes Sieb, vorausgesetzt, daß er sich immer zur strengsten
Theorie der Moral bekennt! Dagegen hat man das Leben der freigeistischen
Moralisten immer unter das Mikroskop gestellt: mit dem Hintergedanken, daß
ein Fehltritt des Lebens das sicherste Argument gegen eine unwillkommene Erkenntnis
sei. (Ebd., 1881, S. 185).Moral der Opfertiere.
»Sich begeistert hingeben«, »sich selber zum Opfer bringen«
das sind die Stichworte eurer Moral, und ich glaube es gerne, daß
ihr, wie ihr sagt, »es damit ehrlich meint«: nur kenne ich euch besser,
als ihr euch kennt, wenn eure »Ehrlichkeit« mit einer solchen Moral
Arm in Arm zu gehen vermag. Ihr seht von der Höhe derselben herab auf jene
andere nüchterne Moral, welche Selbstbeherrschung, Strenge, Gehorsam fordert,
ihr nennt sie wohl gar egoistisch, und gewiß! ihr seid ehrlich gegen
euch, wenn sie euch mißfällt, sie muß euch mißfallen!
Denn indem ihr euch begeistert hingebt und aus euch ein Opfer macht, genießt
ihr jenen Rausch des Gedankens nunmehr eins zu sein mit dem Mächtigen, sei
es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr euch weiht: ihr schwelgt in dem Gefühle
seiner Macht die eben wieder durch ein Opfer bezeugt ist. In Wahrheit scheint
ihr euch nur zu opfern, ihr wandelt euch vielmehr in Gedanken zu Göttern
um und genießt euch als solche. Von diesem Genusse aus gerechnet
wie schwach und arm dünkt euch jene »egoistische« Moral des Gehorsams,
der Pflicht, der Vernünftigkeit: sie mißfällt euch, weil hier
wirklich geopfert und hingegeben werden muß, ohne daß der Opferer
sich in einen Gott verwandelt wähnt, wie ihr wähnt. Kurz, ihr
wollt den Rausch und das Übermaß, und jene von euch verachtete Moral
hebt den Finger auf gegen Rausch und Übermaß ich glaube euch
wohl, daß sie euch Mißbehagen macht! (Ebd., 1881, S. 188).Das
»Erhebende« am Unglück des Nächsten. Er ist im
Unglück, und nun kommen die »Mitleidigen« und malen ihm sein
Unglück aus endlich gehen sie befriedigt und erhoben fort: sie haben
sich an dem Entsetzen des Unglücklichen wie an dem eignen Entsetzen geweidet
und sich einen guten Nachmittag gemacht. (Ebd., 1881, S. 192).Kettenträger.
Vorsicht vor allen Geistern, die an Ketten liegen! Zum Beispiel vor den
klugen Frauen, welche ihr Schicksal in eine kleine, dumpfe Umgebung gebannt hat,
und die darin alt werden. Zwar liegen sie scheinbar träge und halb blind
in der Sonne da: aber bei jedem fremden Tritt, bei allem Unvermuteten fahren sie
auf, um zu beißen, sie nehmen an allem Rache, was ihrer Hundehütte
entkommen ist. (Ebd., 1881, S. 193).Furcht
und Intelligenz. Wenn es wahr ist, was man jetzt des Bestimmtesten
behauptet, daß die Ursache des schwarzen Hautpigments nicht im Lichte zu
suchen sei: könnte es vielleicht die letzte Wirkung häufiger und durch
Jahrtausende gehäufter Wutanfälle sein (und Blutunterströmungen
der Haut)? Während bei anderen intelligenteren Stämmen das ebensohäufige
Erschrecken und Bleichwerden endlich die weiße Hautfarbe ergeben hätte?
Denn der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz: und
sich oft der blinden Wut überlassen das Zeichen davon, daß die Tierheit
noch ganz nahe ist und sich wieder durchsetzen möchte. Braun-grau
wäre also wohl die Urfarbe des Menschen etwas Affen- und Bärenhaftes,
wie billig. (Ebd., 1881, S. 199).Der Dämon der Macht.
Nicht die Notdurft, nicht die Begierde - nein, die Liebe zur Macht ist
der Dämon der Menschen. Man gebe ihnen alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung,
Unterhaltung - sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon
wartet und wartet und will befriedigt sein. Man nehme ihnen alles und befriedige
diesen: so sind sie beinahe glücklich - so glücklich, als eben Menschen
und Dämonen sein können. Aber warum sage ich dies noch? Luther hat es
schon gesagt, und besser als ich, in den Versen: »Nehmen sie uns den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin - das Reich muss uns doch bleiben!«
Ja! Ja! Das »Reich«! (Ebd., 1881, S. 207).Das
Theater hat seine Zeit. Wenn die Phantasie eines Volkes nachläßt,
entsteht der Hang in ihm, seine Sagen sich auf der Bühne vorführen zu
lassen, jetzt erträgt es die groben Ersatzstücke der Phantasie
aber für jenes Zeitalter, dem der epische Rhapsode zugehört, ist das
Theater und der als Held verkleidete Schauspieler ein Hemmschuh anstatt ein Flügel
der Phantasie: zu nah, zu bestimmt, zu schwer, zu wenig Traum und Vogelflug.
(Ebd., 1881, S. 208).Zwei Freunde. Es waren Freunde,
aber sie haben aufgehört, es zu sein, und sie knüpften von beiden Seiten
zugleich ihre Freundschaft los, der eine, weil er sich zu sehr verkannt glaubte,
der andere, weil er sich zu sehr erkannt glaubte, und beide haben sich
dabei getäuscht! denn jeder von ihnen kannte sich selber nicht genug.
(Ebd., 1881, S. 216).Griechisches Ideal. Was bewunderten
die Griechen an Odysseus? Vor allem die Fähigkeit zur Lüge und zur listigen
und furchtbaren Wiedervergeltung; den Umständen gewachsen sein; wenn es gilt,
edler erscheinen als der Edelste; sein können, was man will; heldenhafte
Beharrlichkeit; sich alle Mittel zu Gebote stellen; Geist haben sein Geist
ist die Bewunderung der Götter, sie lächeln, wenn sie daran denken :
dies alles ist griechisches Ideal! Das Merkwürdigste daran ist, daß
hier der Gegensatz von Scheinen und Sein gar nicht gefühlt und also auch
nicht sittlich angerechnet wird. Gab es je so gründliche Schauspieler!
(Ebd., 1881, S. 223).Furcht und Liebe. Die Furcht
hat die allgemeine Einsicht über den Menschen mehr gefördert als die
Liebe, denn die Furcht will erraten, wer der andre ist, was er kann, was er will:
sich hierin zu täuschen wäre Gefahr und Nachteil. Umgekehrt hat die
Liebe einen geheimen Impuls, in dem andern so viel Schönes als möglich
zu sehen oder ihn sich so hoch als möglich zu heben: sich dabei zu täuschen,
wäre für sie eine Lust und ein Vorteil und so tut sie es.
(Ebd., 1881, S. 224).Die Gutmütigen. Die Gutmütigen
haben ihr Wesen durch die beständige Furcht erlangt, welche ihre Voreltern
vor fremden Übergriffen gehabt haben, sie milderten, beschwichtigten,
baten ab, beugten vor, zerstreuten, schmeichelten, duckten sich, verbargen den
Schmerz, den Verdruß, glätteten sofort wieder ihre Züge
und zuletzt vererbten sie diesen ganzen zarten und wohlgespielten Mechanismus
auf ihre Kinder und Enkel. Diesen gab ein günstigeres Geschick keinen Anlaß
zu jener beständigen Furcht: nichtsdestoweniger spielen sie beständig
auf ihrem Instrumente (Ebd., 1881, S. 224-225).Schwache
Sekten. Die Sekten, welche fühlen, daß sie schwach bleiben
werden, machen Jagd auf einzelne intelligente Anhänger und wollen durch Qualität
ersetzen, was ihnen an Quantität abgeht. Hierin liegt keine geringe Gefahr
für die Intelligenten. (Ebd., 1881, S. 226).Das Urteil
des Abends. Wer über sein Tages- und Lebenswerk nachdenkt, wenn
er am Ende und müde ist, kommt gewöhnlich zu einer melancholischen Betrachtung:
das liegt aber nicht am Tage und am Leben, sondern an der Müdigkeit.
Mitten im Schaffen nehmen wir uns gewöhnlich keine Zeit zu urteilen über
das Leben und das Dasein, und mitten im Genießen auch nicht: kommt es aber
einmal doch dazu, so geben wir dem nicht mehr recht, welcher auf den siebenten
Tag und die Ruhe wartete, um alles, was da ist, sehr schön zu finden,
er hatte den besseren Augenblick verpaßt. (Ebd., 1881, S. 227).Gastfreundschaft.
Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist: das Feindliche
im Fremden zu lähmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind
empfindet, nimmt die Gastfreundschaft ab; sie blüht, so lange ihre böse
Voraussetzung blüht (Ebd., 1881, S. 227).Womöglich
ohne Arzt leben. Es will mir scheinen, als ob ein Kranker leichtsinniger
sei, wenn er einen Arzt hat, als wenn er selber seine Gesundheit besorgt. Im ersten
Falle genügt es ihm, streng in bezug auf alles Vorgeschriebene zu sein; im
andern Falle fassen wir das, worauf jene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit,
mit mehr Gewissen ins Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbieten uns
viel mehr, als auf Veranlassung des Arztes geschehen würde. Alle Regeln
haben diese Wirkung: vom Zwecke hinter der Regel abzuziehen und leichtsinniger
zu machen. Und wie würde der Leichtsinn der Menschheit ins Unbändige
und Zerstörerische gestiegen sein, wenn sie jemals vollkommen ehrlich der
Gottheit als ihrem Arzte alles überlassen hätte, nach dem Worte »wie
Gott will«! (Ebd., 1881, S. 229).Der Wohltätige.
Der Wohltätige befriedigt ein Bedürfnis seines Gemüts, wenn
er wohltut. Je stärker dieses Bedürfnis ist, um so weniger denkt er
sich in den andern hinein, der ihm dient, sein Bedürfnis zu stillen, er wird
unzart und beleidigt unter Umständen. (Dies sagt man der jüdischen Wohltätigkeit
und Barmherzigkeit nach: welche bekanntlich etwas hitziger ist als die andrer
Völker.) (Ebd., 1881, S. 234).Redefreiheit.
»Die Wahrheit muß gesagt werden, und wenn die Welt in Stücke
gehen sollte!« so ruft, mit großem Munde, der große Fichte!
Ja! Ja! Aber man müßte sie auch haben! Aber er meint,
jeder solle seine Meinung sagen, und wenn alles drunter und drüber ginge.
Darüber ließe sich mit ihm noch rechten. (Ebd., 1881, S. 240).Keine
Utilitarier. »Die Macht, der viel Böses angetan und angedacht
wird, ist mehr wert als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfährt«,
so empfanden die Griechen. Das heißt: das Gefühl der Macht wurde von
ihnen höher geschätzt als irgendein Nutzen oder guter Ruf. (Ebd.,
1881, S. 242).Gefährliche Tugenden. »Er
vergißt nichts, aber er vergibt alles.« Dann wird er doppelt
gehaßt, denn er beschämt doppelt, mit seinem Gedächtnis und mit
seiner Großmut (Ebd., 1881, S. 252).Die Ängstlichen.
Gerade die ungeschickten ängstlichen Wesen werden leicht zu Totschlägern:
sie verstehen die kleine zweckentsprechende Verteidigung oder Rache nicht, ihr
Haß weiß aus Mangel an Geist und Geistesgegenwart keinen andern Ausweg
als die Vernichtung. (Ebd., 1881, S. 256).Ohne Haß.
Du willst von deiner Leidenschaft Abschied nehmen? Tue es, aber ohne
Haß gegen sie! Sonst hast du eine zweite Leidenschaft. Die Seele
des Christen, die sich von der Sünde freigemacht hat, wird gewöhnlich
hinterher durch den Haß gegen die Sünde ruiniert. Sieh die Gesichter
der großen Christen an! Es sind die Gesichter von großen Hassern
(Ebd., 1881, S. 256).Remedium amoris. Immer noch
hilft gegen die Liebe in den meisten Fällen jenes alte Radikalmittel: die
Gegenliebe. (Ebd., 1881, S. 257).Grenze aller Demut.
Zu der Demut, welche spricht: credo quia absurdum est, und ihre
Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl schon mancher: aber keiner, so viel
ich weiß, bis zu jener Demut, die doch nur einen Schritt davon entfernt
ist und welche spricht: credo quia absurdus sum. (Ebd., 1881, S.
258).
5. Buch
Für
wen die Wahrheit da ist. Bis jetzt sind die Irrtümer die trostreichen
Mächte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten dieselbe Wirkung
und wartet ein wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade dies
zu trösten nicht zu leisten vermöchten? Wäre dies
denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zuständen
leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, daß sie gerade
ihnen nützlich sein müßten? Es ist doch kein Beweis gegen die
Wahrheit einer Pflanze, wenn festgestellt wird, daß sie zur Genesung
kranker Menschen nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom
Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, daß man ohne weiteres
annahm, es könne auch durch die Erkenntnis nichts aufgedeckt werden, was
nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es könne, es dürfe
gar keine anderen Dinge geben. Vielleicht folgt aus alledem der
Satz, daß die Wahrheit als Ganzes und Zusammenhängendes nur für
die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedenvollen Seelen (wie
es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur imstande sein
werden, sie zu suchen: denn die anderen suchen Heilmittel für
sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellekt und dessen Freiheit
denken, sie suchen nicht die Wahrheit. Daher kommt es, daß diese
anderen so wenig echte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit
und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist dies das Urteil der Kranken über
die Spiele der Gesunden. Auch die griechischen Götter verstanden nicht
zu trösten; als endlich auch die griechischen Menschen allesamt krank wurden,
war dies ein Grund zum Untergang solcher Götter. (Ebd., 1881, S. 261-262).
Farbenblindheit der Denker. Wie
anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen, wie man sich eingestehen
muß, das Auge für Blau und Grün blind war, und sie statt
des ersteren ein tieferes Braun, statt des zweiten ein Gelb sahen (wenn
sie also mit gleichem Worte zum Beispiel die Farbe des dunklen Haares,
die der Kornblume und die des südländischen Meeres bezeichneten,
und wiederum mit gleichem Worte die Farbe der grünsten Gewächse
und der menschlichen Haut, des Honigs und der gelben Harze: so daß
ihre größten Maler bezeugtermaßen ihre Welt nur mit Schwarz,
Weiß, Rot und Gelb wiedergegeben haben), wie anders und wie
viel näher an den Menschen gerückt mußte ihnen die Natur
erscheinen, weil in ihrem Auge die Farben des Menschen auch in der Natur
überwogen, und diese gleichsam in dem Farbenäther der Menschheit
schwamm! (Blau und Grün entmenschlichen die Natur mehr, als alles
andere.) Auf diesem Mangel ist die spielende Leichtigkeit, welche
die Griechen auszeichnet, Naturvorgänge als Götter und Halbgötter,
das heißt als menschartige Gestalten zu sehen, großgewachsen.
Dies sei aber nur das Gleichnis für eine weitere Vermutung.
Jeder Denker malt seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, als
es gibt, und ist gegen einzelne Farben blind. Dies ist nicht nur ein
Mangel. Er sieht vermöge dieser Annäherung und Vereinfachung
Harmonien der Farben in die Dinge hinein, welche einen großen
Reiz haben und eine Bereicherung der Natur ausmachen können. Vielleicht
ist dies sogar der Weg gewesen, auf dem die Menschheit den Genuß
im Anblick des Daseins erst gelernt hat: dadurch, daß ihr dieses
Dasein zunächst in einem oder zwei Farbtönen und dadurch harmonisiert
vorgeführt wurde: sie übte sich gleichsam auf diese wenigen
Töne ein, bevor sie zu mehreren übergehen konnte. Und noch jetzt
arbeitet sich mancher einzelne aus einer teilweisen Farbenblindheit in
ein reicheres Sehen und Unterscheiden hinaus: wobei er aber nicht nur
neue Genüsse findet, sondern immer auch einige der früheren
aufgeben und verlieren muß. (Ebd., 1881, S. 262-263).
Die Verschönerung der Wissenschaft.
Wie die Rokoko-Gartenkunst entstand, aus dem Gefühl »die Natur
ist häßlich, wild, langweilig auf! wir wollen sie verschönern!«,
so entsteht aus dem Gefühl »die Wissenschaft ist häßlich,
trocken, trostlos, schwierig, langwierig auf! laßt uns sie verschönern!«
immer wieder etwas, das sich die Philosophie nennt. Sie will, was alle
Künste und Dichtungen wollen, vor allem unterhalten: sie will
dies aber, gemäß ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und höheren
Art, vor einer Auswahl von Geistern. Für diese eine Gartenkunst zu schaffen,
deren Hauptreiz wie bei jener »gemeineren« die Täuschung der
Augen ist (durch Tempel, Fernblicke, Grotten, Irrpfade, Wasserfälle,
um im Gleichnisse zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei
wunderbaren und plötzlichen Beleuchtungen vorzuführen und so viel Unbestimmtheit,
Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, daß man in ihr »wie
in der wilden Natur« und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne,
das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, träumt sogar davon, auf
diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen
die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat. Dies geht
nun seinen Gang und erreicht eines Tages seine hohe Flut: jetzt schon beginnen
die Gegenstimmen gegen die Philosophie laut zu werden, welche rufen »Rückkehr
zur Wissenschaft! Zur Natur und Natürlichkeit der Wissenschaft!«
womit vielleicht ein Zeitalter anhebt, das die mächtigste Schönheit
gerade in den »wilden, häßlichen« Teilen der Wissenschaft
entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des
Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat. (Ebd., 1881, S. 263-264).Die
neue Leidenschaft. Warum fürchten und hassen wir eine mögliche
Rückkehr zur Barbarei? Weil sie die Menschen unglücklicher
machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten
mehr Glück: täuschen wir uns nicht! Sondern unser Trieb zur
Erkenntnis ist zu stark, als daß wir noch das Glück ohne Erkenntnis
oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten;
es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des
Entdeckens und Erratens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die
unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den
Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; ja vielleicht sind
wir auch unglücklich Liebende! Die Erkenntnis hat sich in uns zur
Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde nichts
fürchtet, als ihr eignes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, daß
die gesamte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft
sich erhabener und getrösteter glauben müßte als bisher, wo sie
den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch
nicht überwunden hat. Vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser
Leidenschaft der Erkenntnis zu grunde geht! auch dieser Gedanke vermag
nichts über uns! Hat sich denn das Christentum je vor einem ähnlichen
Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen
die Barbarei wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit als den
Rückgang der Erkenntnis! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer
Leidenschaft zugrunde geht, so wird sie an einer Schwäche zugrunde
gehen: was will man lieber? Dies ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein
Ende im Feuer und Licht oder im Sande? (Ebd., 1881, S. 265-266).Mit
neuen Augen sehen. Gesetzt daß unter Schönheit in der Kunst
immer die Nachbildung des Glücklichen zu verstehen ist und
so halte ich es für die Wahrheit , je nachdem eine Zeit, ein Volk,
ein großes in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen
vorstellt: was gibt dann der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler
über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine
Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu genießen
wissen. Folglich muß man wohl glauben, das jetzige uns eigene Glück
liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung
des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität?
So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, daß
die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern
der wissenschaftlichen »Seligkeiten« an sich geworden sind!
(Ebd., 1881, S. 267).Nicht unvermerkt zugrunde gehen.
Nicht einmal, sondern fortwährend bröckelt es an unserer Tüchtigkeit
und Größe; die kleine Vegetation, welche zwischen allem hineinwächst
und sich überall anzuklammern versteht, diese ruiniert das, was groß
an uns ist, die alltägliche, stündliche übersehene Erbärmlichkeit
unsrer Umgebung, die tausend Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmütigen
Empfindung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unsrer Geselligkeit,
unsrer Tageseinteilung herauswächst. Lassen wir dies kleine Unkraut unbemerkt,
so gehn wir an ihm unbemerkt zugrunde! Und wollt ihr durchaus zugrunde
gehn, so tut es lieber auf einmal und plötzlich: dann bleiben vielleicht
von euch erhabene Trümmer übrig! Und nicht, wie jetzt zu befürchten
steht, Maulwurfshügel! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen,
bescheiden wie vordem und zu erbärmlich selbst zum Triumphieren! (Ebd.,
1881, S. 268).Kasuistisch. Es gibt eine bitterböse
Alternative, der nicht jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist: als
Passagier eines Schiffes zu entdecken, daß Kapitän und Steuermann gefährliche
Fehler machen und daß man ihnen in nautischem Wissen überlegen sei,
und nun sich zu fragen: Wie! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest
und sie beide gefangen nehmen ließest? Verpflichtet dich deine Überlegenheit
nicht dazu? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du
den Gehorsams untergräbst? Dies ist ein Gleichnis für höhere
und bösere Lagen: wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere
Überlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fällen gewährleistet.
Der Erfolg? Aber da muß man eben schon das Ding tun, welches alle Gefahren
in sich trägt und nicht nur Gefahren für uns, sondern für
das Schiff. (Ebd., 1881, S. 268-269).Vorrechte.
Wer sich selber wirklich besitzt, das heißt, wer sich endgültig erobert
hat, betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen,
sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden: er braucht dies niemandem zuzugestehen,
er kann es aber auch einem andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde
zum Beispiel, aber er weiß, daß er damit ein Recht verleiht
und daß man nur aus dem Besitze der Macht heraus Rechte verleihen
kann. (Ebd., 1881, S. 269).Mensch und Dinge.
Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege: er verdeckt die
Dinge. (Ebd., 1881, S. 269).Die Regel. »Die
Regel ist mir immer interessanter als die Ausnahme« wer so empfindet,
der ist in der Erkenntnis weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.
(Ebd., 1881, S. 270).Zur Erziehung. Allmählich
ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung
aufgegangen: niemand lernt, niemand strebt darnach, niemand lehrt die
Einsamkeit ertragen. (Ebd., 1881, S. 271).Rangordnung.
Es gibt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker
solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen , drittens gründliche
Denker, die einer Sache auf den Grund gehen was sehr viel mehr wert ist
als nur in ihre Tiefe hinabsteigen! , endlich solche, welche den Kopf in
den Morast stecken: was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit
sein sollte! Es sind die lieben Untergründlichen. (Ebd., 1881, S. 271-272).Meister
und Schüler. Zur Humanität eines Meisters gehört, seine
Schüler vor sich zu warnen. (Ebd., 1881, S. 272).Die
Wirklichkeit ehren. Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Tränen
und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres
Jubels und würden noch immer so denken, wenn wir ihn nicht erlebt hätten!
Wozu können uns also die Erlebnisse fortreißen! Was sind unsere Meinungen!
Man muß, um sich nicht zu verlieren, um seine Vernunft nicht zu verlieren,
vor den Erlebnissen flüchten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte
die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen; er war voller Empfindung
und wußte, wie leicht die Wellen der Empfindung über seiner Vernunft
zusammenschlugen. So hätte sich demnach der Weise zu sagen: »ich
will die Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, weil
ich sie kenne und fürchte«? er müßte es machen wie
afrikanische Völkerschaften vor ihren Fürsten: welche ihnen nur rückwärts
nahen und ihre Verehrung zu gleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen? (Ebd.,
1881, S. 272).Die Lockung der Erkenntnis. Auf leidenschaftliche
Geister wirkt der Blick durch das Tor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber;
und vermutlich werden sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern:
so heftig ist ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch
nicht durch alle Sinne dieser Ton der süßen Lockung, mit dem
die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und
im hundert-ersten und schönsten: »Laß den Wahn schwinden! Dann
ist auch das Wehe mir! verschwunden; und mit dem "Wehe mir!"
ist auch das Wehe dahin.« (Mark Aurel.) (Ebd., 1881, S. 274).Wem
ein Hofnarr nötig ist. Die sehr Schönen, die sehr Guten,
die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend etwas die volle und
gemeine Wahrheit denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich
ein wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemäß
das, was man an Wahrheit mitteilen könnte, in der Form einer Anpassung
vorbringt (also Farben und Grade des Tatsächlichen fälscht Einzelheiten
wegläßt oder hinzutut und das, was sich gar nicht anpassen lassen will,
hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz alledem
und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren
halten ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen
zu können. (Ebd., 1881, S. 274).Moralisches Interregnum.
Wer wäre jetzt schon imstande, das zu beschreiben, was einmal
die moralischen Gefühle und Urteile ablösen wird! so sicher man
auch einzusehen vermag, daß diese in allen Fundamenten irrtümlich angelegt
sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit
muß von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft
nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen zu dieser
Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medizin, Gesellschafts- und
Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann
man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber)
entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges
Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und tun am besten, in diesem Interregnum
so sehr als nur möglich, unsre eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten
zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein! (Ebd., 1881,
S. 275).Die erste Natur. So wie man uns jetzt erzieht,
bekommen wir zuerst eine zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt
uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige wenige sind Schlangen genug, um
diese Haut eines Tages abzustoßen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre
erste Natur reif geworden ist. Bei den meisten vertrocknet der Keim davon.
(Ebd., 1881, S. 276).Seine gefährlichen Stunden ausnützen.
Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr
um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder
ihrer Bewegungen liegt: wie zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innre des
Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewußt
haben muß, als dem weisesten Historiker es auch nur möglich wäre.
Nun leben wir alle vergleichungsweise in einer viel zu großen Sicherheit,
als daß wir gute Menschenkenner werden könnten: der eine erkennt aus
Liebhaberei, der andere aus Langerweile, der dritte aus Gewohnheit; niemals heißt
es: »erkenne, oder geh zugrunde!« Solange sich uns die Wahrheiten
nicht mit Messern ins Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt
der Geringschätzung gegen sie: sie scheinen uns immer noch den »gefiederten
Träumen« zu ähnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben
könnten als ob etwas an ihnen in unserm Belieben stünde, als
ob wir auch von diesen unsern Wahrheiten erwachen könnten! (Ebd.,
1881, S. 278).Zweimal Geduld. »Damit machst
du vielen Menschen Schmerz.« Ich weiß es; und weiß auch
dies, daß ich doppelt dafür leiden muß, einmal durch Mitleid
an ihrem Leide und dann durch die Rache, die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem
ist es nicht weniger nötig, so zu tun, wie ich tue. (Ebd., 1881, S.
281).Das Reich der Schönheit ist größer.
Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die allem eigene Schönheit
zu entdecken und gleichsam auf der Tat zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein,
bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch
machen, jenes Stück Küste mit Felsen, Meerbuchten, Ölbäumen
und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und Meisterschaft kommt:
so sollten wir auch unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher,
Gutes und Böses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sich
offenbare, welche bei diesem sonnenhaft, bei jenem gewitterhaft und bei einem
dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn
verboten, den bösen Menschen als eine wilde Landschaft zu genießen,
die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn derselbe Mensch,
so lange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung
und Karikatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht? -Ja,
es ist verboten: bisher war es nur erlaubt, im Moralisch-Guten nach Schönheit
zu suchen, Grund genug, daß man so wenig gefunden und sich so viel
nach imaginären Schönheiten ohne Knochen hat umtun müssen! -So
gewiß es hundert Arten von Glück bei den Bösen gibt, von denen
die Tugendhaften nichts ahnen, so gibt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit:
und viele sind noch nicht entdeckt. (Ebd., 1881, S. 282).Die
Unmenschlichkeit des Weisen. Bei dem schweren, alles zermalmenden Gange
des Weisen, welcher, nach dem buddhistischen Liede, »einsam wandelt wie
das Rhinozeros«, bedarf es von Zeit zu Zeit der Zeichen einer versöhnlichen
und gemilderten Menschlichkeit: und zwar nicht nur jener schnelleren Schritte,
jener artigen und geselligen Wendungen des Geistes, nicht nur des Witzes und einer
gewissen Selbstverspottung, sondern selbst der Widersprüche, der gelegentlichen
Rückfälle in die herrschende Ungereimtheit. Damit er nicht der Walze
gleiche, welche wie das Verhängnis daherrollt, muß der Weise, der lehren
will, seine Fehler zu seiner Beschönigung gebrauchen, und indem er sagt »verachtet
mich!« bittet er um die Gunst, der Fürsprecher einer anmaßlichen
Wahrheit zu sein. Er will euch ins Gebirge führen, er wird euer Leben vielleicht
in Gefahr bringen: dafür überläßt er es euch willig, vorher
und nachher, an einem solchen Führer Rache zu nehmen es ist der Preis,
um den er sich selber den Genuß macht voranzugehen. Gedenkt
ihr dessen, was euch durch den Sinn ging als er euch einmal durch eine finstere
Höhle auf schlüpfrigen Wegen geleitete? Wie euer Herz, klopfend und
mißmutig, sich sagte: »dieser Führer da könnte Besseres
tun als hier herumzukriechen! Er gehört zu einer neugierigen Art von Müßiggängern;
ist es nicht schon zu viel Ehre für ihn, daß wir ihm überhaupt
einen Wert zuzuerkennen scheinen, indem wir ihm folgen?« (Ebd.,
1881, S. 282-283).Sich nicht rechtfertigen. A: Aber
warum willst du dich nicht rechtfertigen? B: Ich könnte es, hierin
und in hundert Dingen, aber ich verachte das Vergnügen, das in der Rechtfertigung
liegt: denn diese Dinge sind für mich nicht groß genug, und lieber
will ich Flecken an mir tragen, als jenen Kleinlichen zu ihrer hämischen
Freude zu verhelfen, daß sie sagen könnten: »er nimmt diese Dinge
doch sehr wichtig!« Dies ist eben nicht wahr! Vielleicht müßte
mir noch mehr an mir selber gelegen sein, um eine Pflicht zu haben, fehlerhafte
Vorstellungen über mich zu berichtigen, ich bin zu gleichgültig
und träge gegen mich und so auch gegen das, was durch mich gewirkt wird.
(Ebd., 1881, S. 284).Wo man sein Haus bauen soll.
Wenn du in der Einsamkeit dich groß und fruchtbar fühlst, so wird dich
die Geselligkeit verkleinern und veröden: und umgekehrt. Machtvolle Milde,
wie die eines Vaters: wo diese Stimmung dich ergreift, da gründe dein
Haus, sei es nun im Gewühl oder in der Stille. Ubi pater sum, ibi patria.
(Ebd., 1881, S. 285).Schwer werden. Ihr kennt ihn
nicht: er kann viel Gewichte an sich hängen, er nimmt sie doch alle mit in
die Höhe. Und ihr schließt, nach eurem kleinen Flügelschlage,
er wolle unten bleiben, weil er diese Gewichte an sich hänge!
(Ebd., 1881, S. 285).Am Erntefeste des Geistes. Das
häuft sich von Tag zu Tage und quillt auf, Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken
über sie und Träume über diese Gedanken ein unermeßlicher,
entzückender Reichtum! Sein Anblick macht schwindeln; ich begreife nicht
mehr, wie man die Geistig-Armen selig preisen kann! Aber ich beneide
sie mitunter dann, wenn ich müde bin: denn die Verwaltung eines solchen
Reichtums ist eine schwere Sache, und ihre Schwere erdrückt nicht selten
alles Glück. Ja, wenn es genügte, ihn nur anzublicken! Wenn man
nur der Geizhals seiner Erkenntnisse wäre! (Ebd., 1881, S. 285-286).Von
der Skepsis erlöst. A: Andre kommen mißlaunig und schwach,
zernagt, wurmstichig, ja halb zerfressen aus einer allgemeinen moralischen Skepsis
heraus ich aber mutiger und gesünder als je, mit wiedererworbenen
Instinkten. Wo scharfer Wind weht, die See hoch geht und keine kleine Gefahr zu
bestehen ist, da wird mir wohl. Zum Wurm bin ich nicht geworden, ob ich gleich
oftmals wie ein Wurm habe arbeiten und graben müssen. B: Du hast eben
aufgehört, Skeptiker zu sein! Denn du verneinst! A:
Und damit habe ich wieder Ja-sagen gelernt. (Ebd., 1881, S. 286).Liebe
und Wahrhaftigkeit. Wir sind aus Liebe arge Verbrecher an der Wahrheit
und gewohnte Hehler und Stehler, welche mehr wahr sein lassen, als uns wahr scheint,
deshalb muß der Denker immer wieder von Zeit zu Zeit die Personen,
welche er liebt (es werden nicht gerade die sein, welche ihn lieben), in die Flucht
jagen, damit sie ihren Stachel und ihre Bosheit zeigen und aufhören, ihn
zu verführen. Demnach wird die Güte des Denkers ihren ab- und
zunehmenden Mond haben. (Ebd., 1881, S. 287).Auch deshalb
Einsamkeit! A: So willst du wieder in deine Wüste zurück?
B: Ich bin nicht schnell, ich muß auf mich warten es wird
spät, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst ans Licht kommt,
und oft muß ich länger Durst leiden, als ich Geduld habe. Deshalb gehe
ich in die Einsamkeit um nicht aus den Zisternen für jedermann zu
trinken. Unter vielen lebe ich wie viele und denke nicht wie ich; nach einiger
Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele
rauben und ich werde böse auf jedermann und fürchte jedermann.
Die Wüste tut mir dann not, um wieder gut zu werden. (Ebd., 1881, S.
292).Das böse Prinzip. Plato hat es prachtvoll
beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft
als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muß: denn als Kritiker aller
Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit
bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung
der Menschen zurück als »das böse Prinzip«. Wir dürfen
hieraus erraten, wie die ziemlich freisinnige und neuerungssüchtige Stadt
Athen dem Rufe Platos bei seinen Lebzeiten mitgespielt hat: was Wunders, daß
er der, wie er selber sagt, den »politischen Trieb« im Leibe
hatte dreimal einen Versuch in Sizilien gemacht hat, wo sich damals gerade
ein gesamtgriechischer Mittelmeer-Staat vorzubereiten schien? In ihm und mit seiner
Hilfe gedachte Plato für alle Griechen das zu tun, was Mohammed später
für seine Araber tat: die großen und kleinen Bräuche und namentlich
die tägliche Lebensweise von jedermann festzusetzen. Möglich
waren seine Gedanken so gewiß die des Mohammed möglich waren: sind
doch viel unglaublichere die des Christentums, als möglich bewiesen worden!
Ein paar Zufälle weniger und ein paar andere Zufälle mehr und
die Welt hätte die Platonisierung des europäischen Südens erlebt;
und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so würde mutmaßlich
in Plato das »gute Prinzip« von uns verehrt werden. Aber der Erfolg
fehlte ihm: und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten die
härteren Namen sind mit dem alten Athen zugrunde gegangen. (Ebd., 1881,
S. 294).Das reinmachende Auge. Von »Genius«
wäre am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato,
Spinoza und Goethe, an den Charakter und das Temperament nur lose angeknüpft
erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und
sich dann weit über sie erheben kann. Dagegen haben gerade solche am lebhaftesten
von ihrem »Genius« gesprochen, welche von ihrem Temperament nie
loskamen und ihm den geistigsten, größten, allgemeinsten, ja unter
Umständen kosmischen Ausdruck zu geben wußten (wie zum Beispiel Schopenhauer).
Diese Genies konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich
vorzufinden, wiederzufinden, wohin sie auch nur flogen, das ist ihre
»Größe«, und kann Größe sein!
Die anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das reine, reinmachende
Auge, das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern
frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie
auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht
mit einem Male geschenkt: es gibt eine Übung und Vorschule des Sehens, und
wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen
Sehens. (Ebd., 1881, S. 295).Nicht fordern!
Ihr kennt ihn nicht! Ja, er unterwirft sich leicht und frei den Menschen
und den Dingen und ist gütig gegen beide; seine einzige Bitte ist, in Ruhe
gelassen zu werden, aber nur solange Menschen und Dinge nicht Unterwerfung
fordern. Alles Fordern macht ihn stolz, scheu und kriegerisch. (Ebd.,
1881, S. 295).Sterbliche Seelen! In betreff der Erkenntnis
ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft: daß der Glaube an die
unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat
sie nicht mehr nötig, sich zu überstürzen und halbgeprüfte
Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem mußte. Denn damals hing das
Heil der armen »ewigen Seele« von ihren Erkenntnissen während
des kurzen Lebens ab, sie mußte sich von heut zu morgen entscheiden
die »Erkenntnis« hatte eine entsetzliche Wichtigkeit! Wir haben
den guten Mut zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert
es ist alles nicht so wichtig! und gerade deshalb können Individuen
und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Großartigkeit ins Auge fassen,
welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen
sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentieren! Ja die Menschheit
darf es mit sich! Die größten Opfer sind der Erkenntnis noch nicht
gebracht worden ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben
des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu ahnen, wie sie unserm
Tun jetzt voranlaufen. (Ebd., 1881, S. 297).Freundschaft.
Jener Einwand gegen das philosophische Leben, daß man mit ihm seinen
Freunden unnützlich werde, wäre nie einem Modernen gekommen:
er ist antik. Das Altertum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht
und fast mit sich ins Grab gelegt. Dies ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben
wir die idealisierte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle großen Tüchtigkeiten
der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, daß Mann neben Mann
stand, und daß nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste,
Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, wie die Passion zu empfinden
lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Efeus und
der Weinreben daran. (Ebd., 1881, S. 298).Die Praktischen.
Wir Denker haben den Wohlgeschmack aller Dinge erst festzustellen
und nötigenfalls ihn zu dekretieren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich
von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich groß und das
lächerlichste Schauspiel der Welt, so wenig sie um dieselbe wissen und so
stolz sie über uns Unpraktische hinwegzureden lieben: ja sie würden
ihr praktisches Leben geringschätzen, wenn wir es geringschätzen wollten:
wozu uns hier und da ein kleines Rachegelüst reizen könnte.
(Ebd., 1881, S. 298-299).Nicht pathetisch nehmen.
Das, was wir tun, um uns zu nützen soll uns keinen moralischen Lobspruch
eintragen, weder von andern, noch von uns selber; ebensowenig das, was wir tun,
um uns an uns zu freuen. In solchen Fällen das Pathetisch-nehmen abweisen
und sich selber alles Pathetischen enthalten ist der gute Ton bei allen höheren
Menschen: und wer sich an ihn gewöhnt hat, dem ist die Naivität
wiedergeschenkt. (Ebd., 1881, S. 300).Die Versucherin.
Die Ehrlichkeit ist die große Versucherin aller Fanatiker. Was sich
Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schönen Weibes zu nahen schien
und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war wohl die Ehrlichkeit
und vielleicht, in seltneren Fällen, sogar die Wahrheit. (Ebd., 1881,
S. 301).An die Stärkeren. Ihr stärkeren
und hochmütigen Geister, nur um eins seid gebeten: legt uns anderen keine
neue Last auf, sondern nehmt etwas von unserer Last auf euch, da ihr ja die Stärkeren
seid! Aber ihr macht es so gerne umgekehrt: denn ihr wollt fliegen, und deshalb
sollen wir auch noch eure Last zu unsrer tragen: das heißt wir sollen kriechen!
(Ebd., 1881, S. 301-302).Zur Liebe verführen.
Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die
Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur
Liebe zu sich selber verführen! (Ebd., 1881, S. 302).Die
kleinen Dosen. Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe
gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf
weite Zeitstrecken hin! Was ist Großes auf einmal zu schaffen? So
wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind,
mit einer neuen Wertschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten
zu vertauschen, nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben
bis wir, sehr spät vermutlich, inne werden, daß die neue Wertschätzung
in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und daß die kleinen Dosen
derselben, an die wir uns von jetzt abgewöhnen müssen, eine neue
Natur in uns gelegt haben. Man fängt ja an, auch dies einzusehen,
daß der letzte Versuch einer großen Veränderung der Wertschätzungen,
und zwar in bezug auf die politischen Dinge die »große Revolution«
, nicht mehr war als eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche
durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoffnung auf plötzliche
Genesung beizubringen wußte und damit alle politischen Kranken bis
auf diesen Augenblick ungeduldig und gefährlich gemacht hat.
(Ebd., 1881, S. 309).Wie man versteinern soll. Langsam,
langsam hart werden wie ein Edelstein und zuletzt still und zur Freude
der Ewigkeit liegen bleiben. (Ebd., 1881, S. 313).Bis zum
Haß gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es! Ihr
müßt die Geschichte fälschen, damit sie für euch zeugt, ihr
müßt Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgötter und Ideale
nicht in Schatten stellen! (Ebd., 1881, S. 317).Das Christentum
war für eine andere Gattung antiker Sklaven gemacht, für die willens-
und vernunftschwachen, also für die große Masse der Sklaven.
(Ebd., 1881, S. 320).Der Wahn der sittlichen Weltordnung.
Es gibt gar keine ewige Notwendigkeit, welche forderte, daß
jede Schuld gebüßt und bezahlt werde es war ein schrecklicher,
zum kleinsten Teile nützlicher Wahn, daß es eine solche gäbe :
ebenso wie es ein Wahn ist, daß alles eine Schuld ist, was als solche
gefühlt wird. Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über Dinge,
die es gar nicht gibt, haben den Menschen so verstört! (Ebd., 1881,
S. 331-332).Dichter und Vogel. Der Vogel Phönix
zeigte dem Dichter eine glühende und verkohlende Rolle. »Erschrick
nicht!« sagte er, »es ist dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit
und noch weniger den Geist derer, die gegen die Zeit sind: folglich muß
es verbrannt werden. Aber dies ist ein gutes Zeichen. Es gibt manche Arten von
Morgenröten.« (Ebd., 1881, S. 333-334).Feld-Apotheke
der Seele. Welches ist das stärkste Heilmittel? Der Sieg.
(Ebd., 1881, S. 334).Das Leben soll uns beruhigen.
Wenn man, wie der Denker, für gewöhnlich in dem großen Strome
des Gedankens und Gefühls lebt, und selbst unsere Träume in der Nacht
diesem Strome folgen: so begehrt man vom Leben Beruhigung und Stille,
während andre gerade vom Leben ausruhen wollen, wenn sie sich der Meditation
übergeben. (Ebd., 1881, S. 334).Wir Luft-Schiffahrer
des Geistes! Alle diese kühnen Vögel, die ins Weite, Weiteste
hinausfliegen gewiß! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können
und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken und
noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte
daraus schließen, daß es vor ihnen keine ungeheure freie Bahn mehr
gebe, daß sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere
großen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und
es ist nicht die edelste und anmutigste Gebärde, mit der die Müdigkeit
stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und
dich an! Andre Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht
und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt
geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe
und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Scharen viel mächtigerer Vögel,
als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir strebten, und wo alles
noch Meer, Meer, Meer ist! Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über
das Meer ? Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr
gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher
alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns
einstmals nachsagen, daß auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu
erreichen hofften, daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit
zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? (Ebd., 1881, S. 335-336). |